Google
Über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin¬
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nutzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
-h Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
-I- Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Eorm und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechts Verletzung kann schwerwiegende Eolgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter http : //books . google . com durchsuchen.
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
SAN FRANCISCO MEDICAL CENTER
LIBRARY
EX LIBRIS
Digitized by
Digitized by
Digitized by
Digitized by LjOOQle
Digitized by
^ZEITSCHRIFT
FÜR
ORTHOPÄDISCHE CHIRURGIE
EINSCHLIESSLICH DER
HEILGYMNASTIK UND MASSAGE
BEGRÜNDET VON
ALBERT HOFFA.
UNTER MITWIRKUNG VON
Dr. G. DREHMANN in Bre«lau, Prof. Dr. C. HELBING in Berlin, Prof.
Dr. L. HEUSNER in Bannen, Dr. H. KRUKENBERG in Elberfeld, Prof.
Dr. F. LANGE in München, Prof. Dr. A. LORENZ in Wien, Sanitäterat
Dr. A. SCHANZ in Dresden, Privatdoz. Dr. W, SCHULTHESS in Zürich,
Privatdoz. Dr. H. SPITZT in Graz, Prof. Dr. 0. VULPIUS in Heidelberg,
Privatdoz. Dr. G. A. WOLLENBERG in Berlin
HERAUSGEGEBEN VON
DR- G. JOACHIMSTHAL.
a. 0. PROFESSOR AN DER ÜNIVERSIT.ÄT UND DIREKTOR DER UNIVERSIT.ATS-
POLIKLINIK FÜR ORTHOPÄDISCHE CHIRURUIE IN BERLIN.
XXII. BAND.
MIT 315 IN DEN TEXT GEDRUCKTEN ABBILDUNGEN.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1908.
Digitized by A^ooQle
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
Digitized by L^ooQle
1
Inhalt,
Seite
I. Ferd. Schnitze: Zur Behandlung der Deformitäten der unteren
Extremität. Mit 35 Abbildungen. 1
n. Georg Joachimsthal: Die angeborene Hüftverrenkung als Teil-
erscheini^ng anderer angeborener Anomalien. Mit 89 Abbildungen 31
III. A. Schanz: Korrektionsresultate an schweren Skoliosen. Mit
21 Abbildungen. 57
IV. E. Gramer: Ueber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen
Assimilationswirbeln. Mit 15 Abbildungen ..68
V. - Wilhelm Schultheß:* Ueber eine Form von Berufsskoliose. Mit
1 Abbildung.90
VI. Otto Fischer: Ueber die Wirkung der Muskeln.94
VII. W. Böcker: Zur Frage der Entstehung uhd Behandlung der
Myositis ossificans traumatica. Mit 4 Abbildungen.106
VIII. J. Riedinger: Ueber Veränderungen an Kaninchenextremitäten
nach Darcbscbneidung des Intermediärknorpels. Mit 2 Abbildungen 117
IX. Robert Werndorff: Zur Frage der multiplen Sarkomatose des
jugendlichen Knochens und der Ostitis fibrosa-Recklinghausen. Mit
5 Abbildungen.122
X. Rudolf Ritter v. Aberle: Ueber einen eigentümlichen Knochen-
und Gelenkprozeß. Mit 6 Abbildungen.134
XF. J. G. Chrysospathes: Beitrag zu den intrauterin entstehenden
Frakturen resp. Knochenverbiegungen. Mit 5 Abbildungen . . 150
XII. K. Gramer: Ueber Heilung von Wunden jdes Gelenkknorpels.
Mit 7 Abbildungen.172
XIII. Karl Evler:- Ueber die Verwendbarkeit des Chromleders zu ortho¬
pädischen Apparaten, insbesondere zu Schienenhülsenstreckver¬
bänden, welche dem Körper ünniittelbar an- und nachzupassen
sind. Mit 7 Abbildungen.192
XIV. 0. Förster: Ueber eine neue operative Methode der Behandlung
spastischer Lähmungen mittels Resektion hinterer Rückenmarks¬
wurzeln .203
XV. Peter Bade: Zur Technik der Arthrodesenoperation .... 224
XVI. Peter Bade: Der orthopädische Operationstisch im hannover¬
schen Erüppelbeim Anna-Stift. Mit 14 Abbildungen.283
XVII. H. Gocht: Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen aus
dem Bereiche des kongenital verrenkten Hüftgelenks. Mit 15 Ab¬
bildungen .252
Digitized by Google
4 7 . ' •
IV
Inhalt.
Seite
XVIII. K. Ludloff, Zur blutigen Einrenkung der angeborenen Hüft*
luxation. Mit 2 Abbildungen.272
XIX. Froelich: Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverren¬
kungen werden kann.277
XX. Adolf Lorenz: Grundsätze der Behandlung veralteter traumati¬
scher Hüitgelenksverrenkungen. Mit 4 Abbildungen.287
XXL Carl Deutschländer: Zur Frage des traumatischen Plattfußes.
Mit 7 Abbildungen.304
XXII. V. Chlumsky: lieber den schlechten Einfluß der schwedischen
Gymnastik und ähnlicher Lockerungsverfahren auf die Skoliose.
Mit 3 Abbildungen ..317
XXIII. K. Biesalski: Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in
Deutschland.323
XXIV. Leonhard Rosenfeld: Rationelle Hilfe in der KrUppelfürsorge 344
XXV. Arnold Wittek: Bandagistenkurpfuscherei und Krüppelfürsorge 371
XXVI. Rudolf Ritter v. Aberle: lieber Krüppelfürsorge in Oester¬
reich-Ungarn .875
XXVII. Robert W. Lovett: Krüppelfüi-sorge in den Vereinigten Staaten
von Amerika.389
XXVIII. Izabella Czarnomska: Bericht über das 10jährige Bestehen
der „Werkstatt für Krüppel an der orthopädischen Abteilung der
Maximilian-Heilanstalt“ in St. Petersburg (Direktor: Prof.Wellia-
m in off). Mit 22 Abbildungen.401
XXIX. S. Kofmann: Die Erfahrungen über die Behandlung des spondy-
litischen Buckels nach Calot. Mit 2 Abbildungen.433
XXX. Michael Horvath: Beiträge zur Pathologie und Therapie der
angeborenen Hüftverrenkung. Mit 81 Abbildungen.441
XXXI. W. Röpke: Angeborener Klumpfuß, entstanden durch Einwirkung
amniotischer Fäden. Mit 2 Abbildungen.557
XXXII. Max Meyer: Ueber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten.
Mit 4 Abbildungen.563
XXXIII. Henning Waldenström: Die operative Behandlung von Tuber¬
kulose im Schenkelhals. Mit 2 Abbildungen.581
XXXIV. 0. V. Frisch: Zur Frage der Therapie des angeborenen Schief¬
halses .589
XXXV. Paul Glaessner: Ein Beitrag zur Frage der Vererbung der an¬
geborenen Hüftgelenksverrenkung.596
XXXVI. Siegfried Peltesohn: Zur Aetiologie und Pathologie des Genu
recurvatum und der Tibia recurvata. Mit 10 Abbildungen . . 602
Referate.628
Berichtigung. 707
Autorenregister.709
Sachregister. ...711
Digitized by L^ooQle
I.
Znr Behandlnng der Deformitäten der unteren
Extremität').
Von
Prof. Dr. Ferd. Schultze-Duisburg,
Chirurg. Oberarzt am St. Vipzenz-Hospital.
Mit 35 Abbildungen.
Die drei unblutigen Operationstypen in der Chirurgie sind die
Osteoklase, das Brisement force und das Redressement force. Alle
drei Methoden haben eins gemeinsam, sie erstreben die Korrektur
von Deformitäten.
Das Brisement und Redressement sind verwandte Ausdrücke,
welche sich fast decken. Mit Rücksicht darauf dürfte eine Verein¬
fachung der Nomenklatur berechtigt sein. Somit möchte ich den
Vorschlag machen, das Briseraent auszuschalten und durch Redresse¬
ment — das Geraderichten — zu ersetzen. Wir werden dann nur
zwei unblutige Operationstypen zu unterscheiden haben, die Osteoklase
und das Redressement.
Vor Beginn der antiseptischen Aera wurden diese Methoden
nicht geübt. In dieser früher gelegenen Zeitperiode suchte man
durch Apparatotherapie die Korrektur der Deformitäten zu erreichen.
Die in dem Sinne konstruierten Apparate, Reduktionsapparate ge¬
nannt, waren dazu bestimmt, durch allmähliche Geraderichtung im
Laufe von Monaten und Jahren die Heilung einer Deformität zu
erreichen. Trotz der verbesserten Operationsmethoden sind die
Anhänger der Reduktionsapparate noch nicht vom Plan verschwun¬
den und treten sogar dort auf, wo wir unter Ausnutzung unserer
modernen anerkannten Hilfsmittel rascher und sicherer zum Ziel
gelangen. So empfahl Guradze-Wiesbaden auf der Stuttgarter
*) Lichtbildervortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Ge¬
sellschaft für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 1
Digitized by CiOOQle
2
Ferd. Schultze.
Naturforscherversammlung 1906 die Schienenhülsenapparate zur Be¬
handlung des Genu valgum. In derselben Weise plädierte jüngst
Lange-München für eine Behandlung des Genu valgum mit Wider¬
standsgymnastik und Reduktionsapparaten.
Im allgemeinen jedoch dürfen wir wohl behaupten, daß den
Reduktionsapparaten eine immer engere Grenze gezogen wurde, daß
die Indikation von Guradze und die von Lange zu den Ausnahmen
gehören. Lange motiviert seine Rückkehr zu dem Reduktionsapparat,
resp. zu einer mit mediko-mechanischen üebungen verbundenen Be¬
handlung durch die vielen beobachteten Rezidive.
Nachdem ich die von Lange gehandhabte Methode als Rück¬
schritt bezeichnete und die unblutige resp. blutige Operation emp¬
fahl, als die Methode der Wahl, äußert sich Lange dahin, daß er
diese bereits hinter sich habe.
Meine Herren! Wenn dies der Fall ist, und Lange war nicht
mit seinen Resultaten zufrieden, so möchte ich glauben, daß er keine
genügenden üeberkorrekturen gemacht hat, ein erstes Erfordernis
zur Erlangung eines guten Resultates bei allen Deformitäten.
Bestärkt wurde ich in dieser Auffassung durch die letzte
Mitteilung Langes über Klumpfußbehandlung. Die jüngst im Archiv
für Orthopädie erschienene Arbeit enthält eine größere Anzahl von
Abbildungen. Die Mehrzahl der dort abgebildeten Klumpfu߬
korrekturen habe ich als Vollkorrekturen nicht bezeichnen können.
Unsere Stellung zur Therapie mittels Reduktionsapparaten soll
eine sehr reservierte sein. Nur für Ausnahmefälle ist dieser Apparat
zu bestimmen. Dies hindert uns nicht, voll und ganz das anzu¬
erkennen, was die Technik in früheren Jahren nach dieser Richtung
hin geleistet hat. Die vielen vorzüglichen Konstruktionen verschwin¬
den deshalb doch nicht vom Schauplatz orthopädisch-chirurgischer
Wissenschaft, es wird ihnen nur eine andere Indikation zudiktiert,
aus den Reduktionsapparaten werden Retentionsapparate. Dieselben
werden die Aufgabe übernehmen, das Resultat, welches wir durch
die unblutigen Operationen gewonnen haben, festzuhalten. Es soll
keineswegs verkannt werden, daß die Reduktionsapparate, in voll¬
wertiger Form angewandt, Gutes geleistet haben. Einen engeren
Indikationskreis zu ziehen, ist jedoch unsere Aufgabe, sobald wir
in der Lage sind, durch einfachere und sicherere Maßnahmen in kür¬
zerer Zeit eine Heilung herbeizuführen. Die moderne Richtung,
allenthalben orthopädische Werkstätten einzurichten, wirkt nach einer
Digitized by C^ooQle
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 3
Seite hin nicht segensreich, es werden noch viel zu viel Apparate
verordnet. Ich halte dies für einen Mißstand und kann die Not¬
wendigkeit derartiger Einrichtungen in dem gegenwärtigen Umfange
nicht anerkennen. Da wo sie zur Verbilligung beitragen, so bei
großen Krankenanstalten, sind sie indiziert.
Im übrigen glaube ich, daß man mit einem gut geschulten
Bandagisten voll und ganz das erreicht, was in der eigenen Werk¬
stätte fabriziert wird. Eins muß man vom Arzt verlangen, ein
volles Verständnis für die Anfertigung und Konstruktion von Appa¬
raten. Ich gebe zu, daß es schwierig ist, konstruktionsgerechte
Reduktionsapparate herzustellen. Diese verlangen eine volle Ein- und
Umsicht des Arztes, um den vielseitigen technischen Anforderungen
gerecht zu werden. Der Retentionsapparat jedoch ist wesentlich
einfacher, weil er der korrigierten normalen Form entspricht und
nur fixieren und nicht korrigieren soll.
Der Bandagist soll nur nach Angabe des Arztes arbeiten.
Ein selbständiges Verordnen von Apparaten ist absolut zu verwerfen.
Wie auch heute noch auf diesem Gebiete indikationslos gearbeitet
wird, konnte ich bei einem Patienten beobachten, welcher von Hessing
wegen eines paralytischen Klumpfußes behandelt worden war. Eine
Korrektur des Klumpfußes war nicht erreicht, trotz einer einjährigen
stationären Behandlung. Der Patient, im Besitz einer genügenden
Muskelkraft, sowohl im Unter- als im Oberschenkel, war nicht da¬
von zu überzeugen, daß er auch ohne seinen, das ganze Bein um¬
fassenden Apparat über einen guten Gang verfügen würde. Dies
war durch die Untersuchung des nunmehr 40jährigen Patienten
nachgewiesen. Sicherlich würde nach erreichter Vollkorrektur des
Fußes, welche leicht auszuführen wäre, die Leistungsfähigkeit nicht
unwesentlich erhöht worden sein. Dieser Fall war charakteristisch
für die nicht sachgemäße, sondern schematisch laienhafte Beurteilung
derartiger Krankheitsfälle, und für die schematische Verordnung
von Schienenhülsenapparaten.
Das Verdienst Hessings in der Konstruktion seiner technisch
vollendeten Stützapparate soll voll und ganz gewürdigt werden.
Nach diesem vorliegenden Fall beurteilt, ist Hessing ein Kurpfuscher
auf dem Gebiete d^r Orthopädie, welcher unendlich viel Schaden
anrichtet. Letzteres um so mehr, je mehr er dem Krüppel nach¬
jagt, bald in dieser, bald in jener Zentrale. In Bad Kissingen wird
wohl kaum ein Patient sein, der, wenn er nur Miene macht eine
Digitized by LjOOQle
4
Ferd. Schultze.
Deformität der Extremität zu verraten, nicht Gefahr läuft, ein Opfer
der Apparatotherapie zu werden.
Vollends ist es geradezu als grober Unfug zu bezeichnen, wenn
erstklassige Firmen, wie es bei uns im Rheinland der Fall ist, es
unternehmen, ohne Bestimmung des Arztes Korsette, Beinschienen
und Klumpfußschienen zu verordnen, wie ich dies wiederholt er¬
fahren habe.
Je weniger Apparate wir verordnen, desto mehr haben wir
geleistet. In der Beschränkung zeigt sich hier der Meister. Unser
Streben muß dahin gehen, uns tunlichst von den Apparaten los¬
zusagen, so lehren es die Fortschritte auf dem Gebiete der Lähmungen.
Die Reduktionsapparate können wir voll und ganz bei Behandlung
der Deformitäten der unteren Extremität entbehren. Als besseren
Ersatz haben wir dafür die zwei unblutigen Operationsmethoden
eingestellt, Redressement forcö und die Osteoklase.
Unter Redressement verstehen wir das Geraderichten einer nicht
normalen Stellung im Gelenkbezirk. Die Osteoklase bedeutet ein
Zerbrechen der Knochen ohne blutigen Eingriff.
Diese therapeutischen Maßnahmen können nun manuell und
maschinell vorgenommen werden. Gerade im Laufe der letzten
Jahre hat sich allenthalben das Bestreben bemerkbar gemacht, die
manuelle Therapie einzuschränken und durch die maschinelle zu er¬
setzen. Die Gesichtspunkte, bestimmend für diese Bestrebungen,
waren die Präzision, die Sicherheit und die größere Leistungsfähig¬
keit der Maschine. Der geschickteste Handgriff“ und die andauerndste
exakteste Assistenz sind nicht in der Lage, mit der Maschine zu kon¬
kurrieren. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Fixation durch die
eigene Hand oder durch die des Assistenten sehr viel zu wünschen
übrig läßt, oder überhaupt nicht in der gewünschten präzisen Form
ausführbar ist. Da finden wir eine willkommene Unterstützung in
der Maschine, welche nicht allein als Fixations-, sondern auch als
Präzisionsapparat arbeitet.
Für die Ausführung der in Frage stehenden Methoden ist von
größter Wichtigkeit die absolute Mobilisation des betreffenden Gliedes.
Letztere muß eben so ausgiebig gemacht sein, daß der stets anzu¬
wendende Gips- oder Schienenverband nur als Retentionsapparat zu
betrachten ist, welcher die durch die Operation gegebene Stellung
aufrecht erhält. Also eine Korrektur soll nicht durch den Kontentiv-
verband bewirkt werden, letzterer darf nur die erreichte Korrektur
Digitized by L^ooQle
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 5
stützen, er soll einen nach jeder Richtung genügend mobilisierten
Körperteil fesseln.
Unter Würdigung dieser Gesichtspunkte sind eine große An¬
zahl von Deformitäten sowohl der oberen als auch der unteren Ex¬
tremität zu behandeln. Eine bestimmte Auswahl ist zu treffen. Die
Indikation für blutige und unblutige Behandlung ist eingehend zu
erwägen. Eine genaue Grenze läßt sich nicht ziehen. Abgesehen
davon, da*ß stets von Fall zu Fall entschieden werden muß, dürfte
man daran festhalten, daß vorwiegend im L Dezennium der größte
Indikationskreis für die unblutige Behandlung der Deformitäten liegt.
Auch hier gibt es Ausnahmen. Jenseits des II. Dezenniums ist die
blutige Behandlung vorherrschend, hier wird die unblutige Me¬
thode zu den Ausnahmen gehören. Eine besondere Stellung nehmen
nun nach meiner Auffassung die Klumpfüße und Plattfüße ein.
Diese Deformitäten sind ausnahmslos für die unblutige Behandlung
reserviert.
Wir haben nun mehrere Apparate konstruiert, welche eine
maschinelle Bearbeitung der verschiedenen Deformitäten gestatten.
Ohne auf die vielen Konstruktionen näher einzugehen, will ich
doch die wirksamsten Apparate kurz erwähnen, das sind die Kon¬
struktionen von Lorenz, Hoffa-Stille, Graff, ferner die Kon¬
struktion von Heusner, welche den vielseitigsten Charakter hat.
Die Methode von Do Hing er war bisher bei der Korrektur der
Coxitis maßgebend.
Die Besprechungen über die Behandlung einzelner Deformitäten
erfolgt am besten an der Hand der zu diesem Zwecke konstruierten
Apparate. Die systematische Gruppierung der Deformitäten würde
zu Wiederholungen führen.
Beginnen wir mit dem Beckenfixator. Die Konstruktion des¬
selben ist eine sehr einfache. Auf einem kleinen Brett 30 : 60 cm
findet man am unteren Pol einen im Schlitten verschiebbaren Hebel,
welcher einen auf einer Platte montierten Riemen in T-Bindenform
trägt. Der Patient wird so aufgelegt, daß die T-Binde geschlossen
werden kann. Durch einen an der T-Binde angebrachten Zug wird
das Becken in der Weise festgelegt, daß eine Drehung um jede
Achse ausgeschaltet wird. Letzterer Zug wird reguliert durch eine
endwärts unterhalb des Brettes angebrachte Welle. Die Schlitten¬
führung des Hebels ermöglicht, das betreffende Hüftgelenk frei nach
außen zu bringen, so daß es nach allen Seiten bewegt werden kann.
Digitized by C^ooQle
6
Ferd. Schultze.
Fig. 1.
Erst erfolgt das Anlegen der T-Binde, dann die Einstellung des
Schlittens und zum Schluß das Anziehen der Welle.
Sie sehen hier den Beckenfixator (Fig. 1), welcher auf jedem
Tisch angebracht werden kann. Auf dem Bild (Fig. 2) erblickt
Digitized by L^ooQle
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität.
7
man eine im Apparat fixierte Flexionskontraktur der Hüfte, korri¬
giert durch langsames schonendes Redressement (Fig. 3). Dem letzten
Bilde entnehmen Sie die volle Korrektur, welche durch die in der¬
selben Ebene ruhenden Extremitäten charakterisiert ist.
Unter extremer Flexion der gesunden Hüfte wird das Becken
im Fixator gefesselt. Alsdann kommt die pathologische Stellung
präzise zum Ausdruck. Durch langsam sich steigernde Mobilisation
wird die Korrektur erledigt, welche vollendet ist, wenn beide Beine
Fig. 3.
in gleicher Höhe herabhängen. Dies erreicht man auch unter schwie¬
rigen Verhältnissen in relativ kurzer Zeit. Nach vollendeter Korrektur
wird ein Kontentivverband angelegt.
Auch bei Luxationen der Hüfte, der Luxatio congenita, Luxatio
paralytica, Luxatio destructiva, findet man durch die Fixation des
Beckens eine vorzügliche Stütze. Der Apparat gestattet bei Fixa¬
tion des Beckens eine volle Exkursion des Hüftgelenks. Für das
Einrenkungsmanöver ist dies von einer nicht zu unterschätzenden
Bedeutung.
Fig. 4 präsentiert das Bild einer Luxatio coxae paralytica in-
frapubica dextra, kompliziert mit Luxatio coxae sin. und ausgedehnter
Lähmung des rechten Beines mit hochgradiger Spitzfußstellung; links
besteht außerdem ein Klumpfuß. Bei dem 17jährigen Mädchen ge-
Digitized by
Google
8
Ferd. Schultze.
lang die unblutige Einrenkung der rechten Hüfte mit günstigen^
Dauerresultat. Erwähnt sei noch, daß die Arthrodese des rechten
Kniegelenks, die Korrektur des rechten Spitzfußes, sowie die des
linken Klumpfußes alles in einer Sitzung, zugleich mit der Einrenkung
der paralytischen Luxation erfolgte. Nach IV^stündiger Arbeit
waren die sämtlichen Pathologien beseitigt. Fig. 5 zeigt Ihnen die
Korrektur der von ihren Krücken befreiten Patientin.
Fig. 4.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich einen Fall von Destruktions¬
luxation, einen Fall von Pfannenwanderung auf tuberkulöser Basi»
(Fig. 6). Das Röntgenbild (Fig. 7) zeigt Ihnen deutlich, wie der
Kopf seine Pfanne verlassen hat. Nicht durch Extension wurde die-
Behandlung vorgenommen, sondern durch rechtwinkelige Stellung:
Digitized by L^ooQle
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität.
9
der Hüfte in Abduktion und Hyperextension des Gelenks (Fig. 8a);
Patient konnte nach 10 Monaten geheilt entlassen werden (Fig. 9).
Die Heilung des Hüftgelenks präsentiert sich auf dem Bilde Fig. 7 b.
Durch die Verbindung der Extension mit dem Beckenfixator
wird die Indikation des letzteren wesentlich erweitert. Die Ex¬
tension muß so eingerichtet Averden, daß sie zugleich jede Exkursion
des Hüftgelenks gestattet. Zu dem Zwecke verbinde ich ein Eisen-
Fig. 6.
rohr mit dem Beckenfixator und zwar so, daß dessen einfach ge¬
arbeitetes Kugelgelenk in Hohe des Hüftgelenks sich befindet. Am
Ende ist ein Extensionsschloß angebracht, welches in Verbindung
mit der Extensionsgamasche den Zug des Beines vermittelt.
Von dieser Verbindung des Beckenfixators mit der Extension
kann man erfolgreich bei Kontrakturen und Luxationen Gebrauch
machen, wie dies der ganzen Konstruktion leicht zu entnehmen ist.
Hinweisen will ich nur auf die Vorzüge bei Behandlung der kon¬
genitalen Luxation. Hier kann beim Redressionsmanöver bei jeder
Digitized by LaOOQle
10
Ferd. Schultze.
Stellung des Gelenks — Abduktion, Adduktion, Rotation — die
Extension wahrgenommen werden (Fig. 10, 11, 12).
Nicht allein bei Korrekturen der Hüfte, sondern auch bei
solchen des Femur leistet uns der Beckenfixator in Verbindung mit
der Extension besondere Dienste. Hierhin gehören die Femora vara
rhachitica mit den verschiedensten Formen. Die Korrektur vollzieht
Fi?. 7
sich unter horizontaler Extension und Abduktion im Beckenfixator.
Zwei Seitenzüge bewirken die Korrektur der Deformität z. B. im
oberen Drittel, von denen der wirksame auf den Kulminations¬
punkt eingestellt, angezogen wird, wohingegen der andere, direkt
unterhalb des ersten, angelegte Zug das Femur fixiert. Umgekehrt
ist die Anordnung der Züge bei Korrektur des Genu valgum, hier
ist der untere der wirksame und der obere der Fixationszug. Alle
diese Eingriffe erfolgen unter Ausnutzung des Beckenfixators (Fig. 13).
Bei diesem Manöver ruht die Hand des Operateurs stets auf der
Stelle, welche korrigiert werden soll. Das Kommando „Halt!“ er¬
folgt, wenn sich durch das stets fühlbare Einknicken die Korrektur
vollzogen hat.
Digitized by L^ooQle
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität.
11
Wir kommen nun zu einem zweiten Apparat, das ist der von
mir so benannte elastische „Osteoklast I“ (Fig. 14).
Die Konstruktion deckt sich im Prinzip mit der Mehrzahl der
bisherigen Konstruktionen, Lorenz, Hoffa-Stille, Heusner.
Der Unterschied besteht nur darin, daß in erster Linie die Presse
eine vielseitige Einstellung des betreflfenden Körperteils, auch des
Kig. 7 a.
kleinsten, gestattet. Dies wird möglich durch die Pelotten mit einer
selbständigen Führung. Dadurch wird einerseits ein Druckpunkt
in verschiedenen Ebenen erreicht, anderseits eine Verstärkung der
Einstellung und zwar eines bestimmten Teiles des in der Presse
befindlichen Gliedes. — Die Konstruktion ist folgende:
Zwei galgenförmig gebaute eiserne Stative tragen drei Schrauben,
jede mit selbständiger Führung. An jeder Schraube findet sich
eine Pelotte, welche nach der Mitte und nach oben hin ihre Ex¬
kursionsfähigkeit besitzt. Außerdem gestattet eines der galgen¬
förmigen Stative noch eine parallele Exkursion, so daß die Pelotten
eine wechselständige Stellung einnehmen können. Montiert ist das
Ganze auf einem festen Eichenbrett; seitwärts wird es mittels Klauen
Digitized by CaOOQle
n
Digitized by v^ooQle
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität.
13
an den Tisch befestigt. Die ausführende Kraft besorgt eine kleine
Welle mit Zahnrad und Sperrhaken (Knarre), ein Hanfseil mit Leder¬
riemen vermittelt den Zug. Um dies nun wirksam machen zu
Fig. 10.
können, habe ich ein 1 m langes Brett quer vor der Fußpresse fest¬
gelegt. Am äußersten Ende, rechts oder links, ist die Welle (Knarre)
durch eine Klaue fixiert. Durch diese Einrichtung wird jeder Wider¬
stand allmählich schonend überwunden, es ist ein in kurzen Inter-
Fig. 11.
vallen rückwärts, vorwärts sich bewegender Zug, welcher Schüttel¬
bewegungen auslöst. Diese Einrichtung ist bei Beseitigung der
Fußdeformitäten von einschneidender Bedeutung. Durch Vorschaltung
des 1 m langen Brettes kann außerdem ein Schrägzug erreicht werden.
Digitized by LjOOQle
14
Ferd. Schnitze.
Fig. 12.
Fig. 1.3.
Diesem Apparat fällt die Korrektur der Beugekontraktur im Knie¬
gelenk, der Genua vara, Genua valga, des Pas varus und valgus zu,
Zwecks Beseitigung einer Flexio genu ist Seitenlage erforderlich.
Genu vara et valga werden entweder gebogen, geknickt oder ge¬
knackt, ebenso wie beim Oberschenkel. Die Einstellung des Kul¬
minationspunktes ist das wesentliche, üeberkorrektur wie überall
ist auch hier besonders zu betonen (Fig. 15, 16).
Der Pes varus ist ein für diesen Apparat besonders geeignetes
Objekt, er gab mir die Veranlassung zu dieser Konstruktion. Diese
Digitized by
Google
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität.
15
Fiflr. 14.
Digitized by v^ooQle
16
Feld. Schultze.
Deformität wird nun besonders eingestellt. Die Presse wirkt auf
den Calcaneus und auf der anderen Seite auf den Buckel. Unter dieser
Einstellung beginnt die Welle ihre Tätigkeit durch Schüttelbewegung.
Es ist ganz erstaunlich, in welch kurzer Zeit sich hier die Korrektur
der Adduktionsstellung vollzieht. Bei der Einstellung des Fußes
in die Presse ist Eines zu beachten von größter Wichtigkeit, das
ist die Rotation des Kniegelenks nach außen. Hat man die
Adduktion des Fußes vermindert, so mindert man auch diese Rotation
nach außen und geht allmählich zur Rotation nach innen über. So
wird in kui*zer Sitzung die Adduktion beseitigt und der Fuß steht
in Spitzfußstellung. Liegt der Fall nun so, daß wesentliche Wider¬
stände in der Planta vorhanden sind, so halte ich hier stets eine
vorherige subkutane Tenotomie der Planta für notwendig. Gerade
um die allerdings stets harmlos hingestellten Einrisse der Fußsohle —
nach meiner Auffassung eine nicht wünschenswerte Zugabe — zu
vermeiden. Macht man die subkutane Plantartenotomie, so ist die
erwähnte Komplikation zu umgehen. Sollte jedoch trotzdem ein
wesentlicher Riß der Fußsohle sich zeigen, so bin ich für die Fort¬
setzung der Korrektur in einer Sitzung, da sonst bei jeder erneuten
Manipulation wieder die Fußsohle einzureißen pflegt. Geht die
Korrektur der Adduktion ohne diesen unangenehmen Zwischenfall
von statten, so begnüge ich mich mit der Spitzfußstellung in Ab¬
duktion. Es folgt dann noch eine 2. eventuell 3. Sitzung bis zur
vollendeten Korrektur (Fig. 17, 18). Auf diese Weise wird man mit
Sicherheit jedem Klumpfuß eine normale oder der Norm nahekommende
Konfiguration geben können. Der Grundsatz bei der Behandlung des
Pes varus muß lauten: Herstellung einer möglichst normalen Form
und nicht Korrektur des Klumpfußes. Den Klumpfuß bis zu einer
relativ günstigen Funktion zu korrigieren, ist also nicht unsere Auf¬
gabe, wir müssen die normale Form herzustellen suchen und dann
auch die Funktion der Norm zuführen. Die Pedes vari des I. De¬
zenniums und vielleicht auch einzelne des II. Dezenniums sollen bei
der Ausmusterung keine Veranlassung zur Ablehnung vom Militär¬
dienst geben. Die übrigen Patienten jenseits des II. Dezenniums
sollen über einen guten, nicht mehr normwidrigen Gang verfügen.
Nun, meine Herren, kommen wir zu einer dritten Konstruktion.
Das ist der Osteoklast II, welchen ich schon wiederholt als Klump¬
fußosteoklasten demonstriert habe. Einzig und allein mit diesem
Apparat läßt sich keine Korrektur vollenden, auch nicht ohne be-
Digitized by C^ooQle
Zur Behamllung der Deformitäten der unteren Extremität. 17
stimmte Vorschriften. Das Maßgebende sind die Gummikissen,
welche auch bei den oben erwähnten Apparaten als Polstermaterial
Fig. 17.
allein in Frage kommen dürften, hier aber als Conditio sine qua non
zu betrachten sind. Dies ist deswegen zu betonen, weil gerade dieser
Fig. 18.
Apparat das manuelle und maschinelle Prinzip verbindet. Der Ope¬
rateur übernimmt stets die Führung des Fußes, er arbeitet nicht mit
eigener Kraft, sondern läßt die Kraft durch den Osteoklasten ein wirken.
Die Konstruktion ist folgende: zwei Bretter sind buchförmig
durch Scharniere verbunden und gestatten Auf- und Niederklappen.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 2
Digitized by CiOOQle
18
Ferd. Schultze.
Das größere, Grundbrett genannt, mißt 30 : 80, das kleinere, Fu߬
brett genannt, 30 : 60. Diese Bretter sind am Fußende eines Ope¬
rationstisches angebracht, so daß die Scharniere am Fußende liegen.
Am zentralen Ende des Grundbrettes findet sich eine Welle mit
Zahnrad und Sperrhaken. Auf der Außenseite des Fußbrettes sind
zwei Extensionsschlösser angebracht. Als Bandagen sind bestimmt
eine Gamasche für den Unterschenkel, um zentrifugale Richtung
zu unterstützen und ein Fersenzug, um zentripetale Richtung zu
verhindern (Fig. 19, 20, 21, 22).
Fig. 19.
Fig. 20.
Digitized by L^ooQle
20
Ferd. Schultze.
Beim gewöhnlichen Klumpfuß benutze ich nun die Gamasche
und erreiche damit eine erstklassige Gewalteinwirkung unter abso¬
luter Schonung des Skeletts. Angenommen, die volle Spitzstellung
ist erreicht, so erfolgt nach 8 Tagen, wie dies gewöhnlich der Fall
ist, die Korrektur im Osteoklasten II. Entsprechend der Spitzstellung
wird das Fußbrett des Osteoklasten eingestellt (Fig. 20). Die Fu߬
sohle wird durch die Gamasche gegen das Fußbrett gezogen und
zwar unter Führung der Hand des Operateurs (Fig. 21). Ist dies
unter der notwendigen vielseitigen Polsterung erledigt, so beginnt
die Tätigkeit des Operateurs dadurch, daß das Fußbrett zugeklappt
wird und allmählich aus seiner stumpfwinkligen Stellung zur
spitzwinkligen übergeht. Die Bewegungen werden wippend gemacht,
unterstehen dem Kommando des Operateurs, welcher je nach der
Gewalteinwirkung kommandiert. Die Hand des Operateurs führt
Digitized by L^ooQle
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität.
21
den Fuß, stellt jeden Widerstand ein und hält den Druck aus. Nur
die Schlußkorrektur wird ohne Handführung erledigt. Man zieht
dann die Hand langsam zurück, unter Wahrung einer korrekten
Fußstellung und läßt für kurze Zeit die Gewalt wirken. Vorher
hat man stets unter Kommando die sich bietenden Widerstände ein*-
gestellt (Fig. 22).
Der Apparat, sachgemäß angewandt, leistet das, was andere
Konstruktionen bisher nicht zu leisten im stände waren, er bricht ^
jeden Widerstand unter größter Schonung (Fig. 23, 24, 25).
Digitized by L^ooQle
22
Ferd. Schnitze.
Ich demonstriere Ihnen hier die Korrektur eines 12jährigen
Mädchens (Fig. 23, 23 a), welches in zwei Sitzungen behandelt wurde,
sowie die eines Mannes von 30 bezw. 35 Jahren (Fig. 24, 24 a, 25, 25 a).
Fig. 25 a.
Die beiden letzten Fälle wurden in drei Sitzungen korrigiert, innerhalb
eines Zeitraumes von 4 Wochen. Der 30jährige hat noch ca. 8 Wochen,
der 35jährige nur 6 Wochen den Verband in Vollkorrekturstellung
getragen, um mit Schuhen zur Ambulanz entlassen zu werden.
Das folgende Bild zeigt Ihnen einen paralytischen Hohlfuß.
Die Schwierigkeiten, welche sich gerade hier der Behandlung ent¬
gegenstellen, sind allgemein bekannt. Innerhalb eines Zeitraumes
Digitized by L^ooQle
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität.
23
Fig. 26.
Fig. 27.
von 3 Wochen vollzog sich auch hier vollständige Geraderichtung
des Fußes.
Die Tenotomie der Achillessehne resp. Verlängerung derselben
beschließt die Korrektur, sowie ein gut gepolsterter Gipsverband.
Patienten in den ersten Lebensmonaten werden ohne Narkose
korrigiert.
Digitized by L^ooQle
24
Ferd. Schultze,
Der Gipsverband wird über Trikot angelegt. Letzteres dient
als Zügel zur Korrektur. Ein im Verband fixiertes Heftpflaster
geht auf den Oberschenkel über, um ein Ausziehen des Gipsstiefels
zu vermeiden.
Bei Erwachsenen ist in einer resp. drei Sitzungen die Korrek¬
tur erledigt, wohingegen bei kleinen Kindern nicht selten eine
wiederholte Korrektur notwendig ist. Die Intervalle zwischen den
einzelnen Korrekturen sollen 8—10 Tage nicht überschreiten.
Das rechtwinklige Brett (Fig. 26, 27) leistet bei der Anlage
des Gipsverbandes gute Dienste, um während Erstarrens des Gips¬
verbandes die Kraftleistung zu übernehmen.
Der letzte Apparat ist der Plattfußosteoklast (Fig. 28), Dieser dient
zur Korrektur des Plattfußes, welche manuell nicht so vollendet zu
Fig. 28.
erreichen ist. Auch hier ist die manuelle und maschinelle Methode
vereint. Die Konstruktion ist sehr einfach. Sie entspricht genau
dem Modell des Osteoklasten II; nur das Fußbrett ist verändert und
trägt an seiner Basis einen Einschnitt, welcher dem Fuße genügend
Digitized by LjOOQle
Zar Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 25
Passage gewährt. Der ganze Apparat wird umgekehrt auf den Tisch
gestellt, so daß die Welle am Fußende sich befindet. Als Fessel
Fig. 29,
Fig. 30.
für den Fuß dient ein Fersenzug, welcher seine Führung zentrifugal
nimmt und durch ein am Fußbrett befindliches Schloß in Spannung
gehalten wird.
Digitized by L^ooQle
Ferd. Schultze.
Fig. 81.
Fig. 32.
Digitized by
Google
Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität.
27
Die Hftüd des Operateurs übernimmt beim Redressement auch
hier die Führung. Jeder Plattfuß hat zur Beseitigung der Abduk¬
tion den ersten Akt im Osteoklasten I durchgemacht. Der zweite
Akt vollzieht sich in dem Plattfußosteoklasten. Der Oipsverband
wird in Klumpfußstellung angelegt (Fig. 28, 29).
Es geht also der Korrektur im Plattfußosteoklasten stets die
Behandlung im Osteoklasten I voran. Kurz skizziert ist der Gang
Fig. 33.
der Methode folgender: Primär wird die Verlängerung der Achilles¬
sehne gemacht, ein Hackenfußzug wird angelegt und der Fuß in
extremer Hackenfußstellung im Osteoklasten I fixiert (Fig. 30). Ein
Steigbügelzug beeinflußt nun den Vorderfuß im Sinne der Plantar¬
flexion und ein Seitenzug in Verbindung mit der Knarre im Sinne der
Adduktion. Diese einzeln sowohl als auch gemeinschaftlich wirkenden
Kräfte sind von ganz hervorragender Wirkung (Fig. 31, 32, 33).
Fig. 34, 35 zeigt Ihnen hochgradigsten Plattfuß. Die Leistungs¬
fähigkeit des Patienten war fast völlig aufgehoben. Die Korrektur
zeigt deutliche Hohlfüße. Letztere sinken im Laufe der Zeit mehr
ein und machen einem flachen Gewölbe Platz. Die Beschwerden
jedoch sind verschwunden und die Gehfähigkeit ist zur Norm zurück¬
gekehrt.
Digitized by L^ooQle
28
Ferd. Schultze.
Fij?. 34.
Fig. 35.
Z u s a ni ni e n f a s s u n g.
1. Die unblutigen Methoden, die Osteoklase und das Redresse¬
ment forcd kommen bei Behandlung der Deformitäten in erster Linie
in Frage.
2. Die Reduktionsapparate sind durch die Osteoklase und das
Redressement überholt worden.
3. Der Indikationskreis soll möglichst weit gesteckt werden.
Erreicht wird dies durch die entsprechenden modernen Hilfsmittel.
4. Die Hilfsmittel bestehen in bestimmten maschinellen Vor¬
richtungen, welche in Verbindung mit der manuellen Methode oder
ohne dieselbe zur Anwendung gelangen.
5. Die Maschine muß ein Präzisionsapparat sein, welcher sicherer
und exakter arbeitet, als die Hand. Durch Verbindung mit der
manuellen Methode wird der Wert der Maschine erhöht.
Digitized by L^ooQle
Zur BehandlUDg der Deformitäten der unteren Extremität.
29
6. Um eine Vollkorrektur zu erreichen, ist eine absolute Mo¬
bilisation und Üeberkorrektur erforderlich.
7. Der Beckenfixator entspricht den an ihn gestellten For¬
derungen, er bewirkt eine absolut sichere Fixation des Beckens.
Sein Wert wächst durch die Verbindung mit einer nach jeder
Richtung hin beweglichen Extensionsvorrichtung.
8. Bei Flexionskontrakturen der Hüfte, bei Luxatio congenitalis,
paralytica, destructiva, leistete der Beckenfixator gute Dienste, ebenso
bei rhachitiscber Verkrümmung des Oberschenkels.
9. Der Osteoklast I wirkt durch seine vielseitige Konstruktion
präziser, als die bisher gebräuchlichen Apparate. Indiziert ist der¬
selbe bei Korrektur der Flexio genu, des Genu varum und valgum,
des Pes equino-varus, Pes cavus und Pes valgus.
10. Ein für die Korrektur des Klumpfußes und Hohlfußes nicht
zu entbehrender Apparat ist der Osteoklast II.
Derselbe verbindet die maschinelle und manuelle Methode.
Letzteres ist nur möglich geworden durch die Einlage der Gummi¬
kissen.
Jeder Widerstand wird durch den Apparat ganz allmählich
und schonend beseitigt, so daß die schwersten und hartnäckigsten
Deformitäten der Füße keine Kontraindikation bedeuten.
Die Unterschenkelgamasche, sowie der Fersenzug sind unent¬
behrlich, und von erhöhter Bedeutung durch die regulierbare Zug¬
vorrichtung.
11. Die durch den Osteoklasten I und II begründete Behand¬
lung des Klumpfußes bedeutet eine neues Verfahren, welches darin
gipfelt, daß das manuelle Redressement durch die Kraft der Maschine
einen höheren Wert erhält, und zwar durch sichere, präzise Wirkung.
12. Der Plattfußosteoklast ist ebenso wirksam und garantiert
in Verbindung mit dem zentrifugal wirkenden Hackenfußzug eine
volle Rekonstruktion des Gewölbes.
Auch hier ist das manuelle Redressement, verbunden mit dem
maschinellen, von ausschlaggebender Bedeutung.
13. Jeder Plattfußkorrektur ist stets die Verlängerung der
Achillessehne sowie die Behandlung im Osteoklasten I vorauszu¬
schicken.
Von Bedeutung ist hier:
a) die Hackenfußstellung unter Hackenfußzug und deren
Fixation im Osteoklasten,
Digitized by L^ooQle
30
Ferd. Schultze. Zur Behandlung der Deformitäten etc.
b) die nun folgende Einwirkung des Steigbügelzuges,
c) die des Adduktionszuges, sowie die gleichzeitige Wirkung
der Züge b) und c).
14. Das Verfahren der Plattfußbehandlung bedeutet eine voll¬
ständig neue Methode.
15. Jeder Klumpfuß, sowie jeder Plattfuß ist zu
rekonstruieren. Die unblutige Methode ist hier allein
die Methode der Wahl. Die blutige Behandlung zer¬
stört den anatomischen Aufbau, ohne ihn zu ersetzen.
Die Indikation für die blutige Behandlung der
Pedes eq. vari et valgi ist durch die Verbesserung der
modernen Technik vollständig ausgeschaltet.
Nach meiner Auffassung ist die blutige Behand¬
lung des Pes varus und valgus stets ein Kunstfehler.**;
Digitized by L^ooQle
11 .
Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscbeinung
anderer angeborener Anomalien').
Von
Prof. Dr. Georg Joachimsthal in Berlin.
Mit 39 Abbildungen.
Meine Herren! Die im Gegensatz zu den in der Literatur vor¬
liegenden spärlichen analogen Mitteilungen verhältnismäßig große Zahl
von Fällen meiner Beobachtung, in denen sich angeborene Hüft¬
verrenkungen mit anderen während des intrauterinen
Lebens entstandenen Verbildungen kombinierten, gibt mir
die Veranlassung dazu, Ihnen diese Fälle mit kurzen Worten vorzu-
führen. Bei dem großen Interesse, das im Augenblick der Aetio-
logie der angeborenen Hüftverrenkung entgegengebracht wird, er¬
schiene es verlockend, gerade an der Hand unserer Beobachtungen
der Frage der Entstehung der kongenitalen Luxationen näher zu
treten; doch möchte ich mich bei der Kürze der mir für meine
Demonstration zur Verfügung stehenden Zeit an dieser Stelle ledig¬
lich auf das tatsächliche Material beschränken.
Hervorheben möchte ich nur eins. Man sollte a priori an¬
nehmen, daß die mit anderen angeborenen Anomalien kombinierten
Hüftverrenkungen hochgradigere Verunstaltungen der Gelenkkörper
resp. der das Gelenk bildenden Weich teile zeigen würden, als dieses
bei den für sich bestehenden Luxationen der Fall ist, daß damit die
Schwierigkeiten der Behandlung wachsen und die Aussichten auf eine
vollständige Wiederherstellung ungünstigere werden würden. Das
trifft nun aber, wie Sie sich bei der Betrachtung der Bilder und der
Untersuchung der Patienten überzeugen werden, wenigstens für die
Fälle meiner Beobachtung nicht zu. Bei den von mir behandelten
*) Nach einem Projektionsvortrage auf dem VI1. Kongreß der Deutschen
Oesellschaft für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908.
Digitized by
Google
32
Georg Joacbimsthal.
Fig. 1,
Beckenbild eines 4jilhrigen Mädchens mit rechtsseitigem Schiefhals und rechtsseitiger
angeborener Hüftverrenkung.
Fig. 2.
Beckenbild derselben Patientin li Monate nach der Einrenkung der rechtsseitigen Hüft¬
verrenkung.
Digitized by L^ooQle
Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc.
33
Kranken, soweit dieselben mir in einem verhältnismäßig günstigen Alter
zugeführt wurden, sind die durch die unblutige Reposition erzielten
Resultate nicht nur in funktioneller, sondern auch in anatomischer
Beziehung günstig gewesen, so daß ich nicht anstehe, den mit an¬
deren Anomalien kombinierten Hüftluxationen — natürlich abgesehen
von monströsen Bildungen, bei denen schon von Anfang an die Lebens¬
fähigkeit ausgeschlossen erscheint — eine wenigstens nicht ungünstige
Heilungstendenz zuzuschreiben. So wird es sich vielfach bei Indi-
Fig. 3. Fig. 4.
4jälirige Patientin mit rechtsseitigem Schiefhals und rechtsseitiger angeborener Hüftvei-
renkong (vgl. auch Fig. l n. 2) vor und l Jahr nach der operativen Beseitigung des Schiel-
halses.
viduen, deren sonstige Anomalien durch unsere Maßnahmen nicht
zur vollen Beseitigung gebracht werden können, wenigstens ermög-
hchen lassen, den durch das Vorhandensein der Hüftverrenkung be¬
dingten Defekt zu beheben, während in einer anderen Zahl von
Fällen durch die gleichzeitige Beseitigung auch der übrigen Stö¬
rungen die Betreffenden zu vollständig gleichwertigen Mitgliedern
unserer Gesellschaft gestaltet werden können.
Mit auffallender Häufigkeit ist in den letzten Jahren das gleich¬
zeitige Vorkommen der Luxatio coxae congenita mit dem angeborenen
Caput obstipum beschrieben worden. Ich selbst habe diese Kom¬
bination bisher 4mal beobachtet. Zwei von diesen Kranken, ein
Zeitschrift für orthopftdisohe Chirurgie. XXII. Bd. 8
Digitized by L^ooQle
34
Georg Joachimethal.
2 V* jähriger Knabe mit linksseitigem Schief hals und linksseitiger
Hüftverrenkung, sowie eine 12jährige Patientin mit linksseitigem
Schiefhals und rechtsseitiger Hüftluxation sind bereits von mir in
dem Handbuch der orthopädischen Chirurgie abgebildet worden.
Ich möchte Ihnen daher heute nur die Bilder der beiden anderen
Patientinnen zeigen, zunächst das Beckenbild eines 4jährigen Mäd¬
chens mit rechtsseitigem Schiefhals und rechtsseitiger angeborener
Fig. 5.
ßeckenbild eines ejahrigeu MiiJcliens mit linksseitigem Schiefhals und linksseitiger an¬
geborener Hmtverrenkung.
Hüftverrenkung (Fig. 1). Das darunter befindliche, 11 Monate nach der
unblutigen Einrenkung angefertigte Bild (Fig. 2) zeigt zwar noch ein
schräges Pfannendach und eine Differenz in der Größe beider Kopf¬
epiphysen, im übrigen aber eine anatomische Reposition, der auch
die tadellose Funktion des Hüftgelenks entspricht. Die erfolgreiche
Beseitigung des Schiefhalses durch offene Durchschneidung des Kopf¬
nickers hat nach Abschluß der Behandlung der Hüftverrenkung statt-
gefunden. Das Verhalten vor und nach der Operation wird in
Fig. 3 u. 4 veranschaulicht.
In dem folgenden Falle betreffend ein zu Beginn der Behand¬
lung fijiihriges Mädchen mit linksseitigem Schiefhals und linksseitiger
Hüftverrenkung (Fig. 5 zeigt das Beckenbild vor Beginn der Be-
Digitized by C^ooQle
Die angeborene HOftverrenkung als Teilerscheinung etc.
Fig. 6.
35
Beckenbild derselben Patientin im Alter von is Jahren, s Jahre nach der Einrenkung der
linksseitigen Hüftverrenkung.
Fig. 7.
Linkes Hüftgelenk derselben Patientin ira Alter von 15 Jahren, 9 Jahre nach deifReposition
, <ler linksseitigen Hüftverrenkung.
Digitized by
Google
36
Georg Joachimsthal.
Handlung) liegt die Einrenkung nunmehr 9 Jahre zurück. Der Kopf
steht, wie Sie sich an den Bildern überzeugen können, im Pfannen¬
niveau. Das Pfannendach hat sich durch eine osteophytenartige Bil¬
dung verbreitert und gewährt so dem Oberschenkel einen guten Halt.
Die Behandlung des Schiefhalses durch offene Durchschneidung des
verkürzten Kopfnickers hat gleichfalls den vollen Erfolg gebracht.
Relativ häufig findet sich bekanntlich die Hüftluxation gemein¬
sam mit angeborenen Verrenkungen anderer Gelenke. Ich
Fig. 8.
Röntgenbild des rechten Ellbogengelenkes eines löjilhrigen Knaben mit angeborener Luxa¬
tion beider Radiusköpfchen nach vorne und doppelseitiger angeborener Hüftverrenkung.
zeige Ihnen hier beispielsweise das Bild des rechten Ellbogengelenks
(Fig. 8) eines 15jährigen Knaben meiner Beobachtung mit beider¬
seitiger Luxation des Radiusköpfchens nach vorn, bei dem
von anderer Seite im Alter von 6 Jahren die blutige Behandlung
einer doppelseitigen Hüftluxation — leider ohne ein sehr günstiges
Resultat — durchgefübrt worden ist.
Die rechte Hüfte ist nach oben stark erweitert. Linkerseits
steht der Kopf außerhalb des Pfannenniveaus und ist durch Stalak¬
titen förmige Auswüchse deformiert. Beiderseits besteht eine fast
vollkommene Hüftankylose.
Digitized by C^ooole
Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc.
37
Das Zusammentreffen von Hüftluxationen mit einem Genu recur-
vatum congenitum resp. mit angeborenen Eniegelenks-
luxationen habe ich 3mal, in einem Falle doppelseitig, gesehen.
Die erste Patientin war ein Zwillingskind, bei dem die Störung am
rechten Kniegelenk sofort nach der Geburt aufgefallen war. Als ich
sie im Alter von 2 Monaten zuerst sah, stand der rechte Unter¬
schenkel in einem nach vorn offenen Winkel von ca. 130® hyper¬
extendiert. Im Sinne der Beugung war die Bewegung des ünter-
Fig. 9.
Röntgenbild des Beckens desselben Patienten.
Schenkels unter leichtem Druck nur bis zur Geradestellung des Beines
möglich. Aus dieser Stellung federte dasselbe nach Aufhebung des
Drucks in die Hyperextension zurück. In der Kniekehle sah und
fühlte man die hinteren Abschnitte der Kondylen des Femur vor¬
springen. Die Gelenkfläche der Tibia stand nach vorn vor der¬
jenigen des Oberschenkels, ohne vollständig von derselben abgeglitten
zu sein. Trotz der Unmöglichkeit, an dem damals gefertigten Skia-
gramm (Fig. 10) die Konturen der noch knorpeligen Gelenkenden zu
Digitized by L^ooQle
38
Georg Joachimsthal.
Fig. 10.
erkennen, ist doch aus der Stellung der diaphysären Teile des
Femur einerseits, der Tibia und der Fibula anderseits die Ver¬
schiebung des Gelenkes im Sinne eines Genu recurvatum zu beurteilen.
Nachdem wegen der schwächlichen
Konstitution der Patientin und einer von
mir in einem anderen Falle von Genu
recurvatum congenitum beobachteten
Spontanheilung zunächst von einer Be¬
handlung Abstand genommen worden
war, habe ich die Kranke erst 2 Jahre
später wieder gesehen und dabei die
erstaunliche Tatsache konstatiert, daß das
rechte Knie sich spontan zu einem voll¬
kommen normalen umgestaltet hatte.
Beugung und Streckung erfolgten nun¬
mehr in normalen Grenzen; eine Hyper¬
extension war auch passiv unmöglich.
Dagegen bestand jetzt eine Verkürzung
der rechten unteren Extremität um 2 cm,
als deren Ursache sich auch im Röntgen¬
bilde (Fig. 11) eine Luxation gleichfalls
der rechten Seite ergab. Die Einrenkung
nach Lorenz hat hier, wie Sie an den
l\2 (Fig. 12) und 5 Jahre nach der
Reposition gefertigten Bildern (Fig. 13)
sehen, ein auch in anatomischer Hin¬
sicht vollkommenes Resultat erbracht.
Ganz dieselbe Beobachtung habe
ich weiterhin bei einem Mädchen mit
rechtsseitigem Genu recurvatum machen
können. Auch hier kam es zur voll¬
kommenen Spontanheilung des Knielei¬
dens. An dem im Alter von 6 Monaten
gefertigten Bilde des rechten Kniegelenks
(Fig. 14) sehen Sie nur noch eine leichte Verschiebung des Unter¬
schenkels nach vorn, die sich weiterhin vollkommen ausgeglichen
hat. Auch hier habe ich die gleichseitige Hüftluxation, die ich
allerdings früher, da ich auf ihr Vorhandensein fahndete, entdeckt
hatte, im Alter von 2 Jahren reponiert und, wie Sie an den vor
RöiitgcnUilcl tleH rechten Kniege¬
lenks eines 2 Monate alten M.iil-
chens mit rechtsseitigem (ienii
recurvatum und spater festgestell¬
ter rechtssititiger angeborener
Hüftverrenkung.
Digitized by
Google
Röntgenbild des Beckens der in Fig. lo abgebildeten Patientin mit rechtsseitigem Genu
recurvatum congeuitum und rechtsseitiger angeborener Hüftverrenkung im Alter von 2 Jahren.
Fijf. 12a.
Fig. 12 b.
12 a u. b. Hüftbilder der in Fig. il abgebildeten Patientin im Alter von 31/2 Jahren,
1>,'2 Jahre nach der Einrenkung.
Digitized by L^ooQle
40
Georg Joachimsthal.
Fig. 13 a.
Fig. 13 b.
13a n. b. HUftbilder der in Fig. li abgebildeten Patientin im Alter von 7 Jahren,
5 Jahre nach der Einrenkung.
Digitized by
Google
Beckenbild eines 2jähngen Mädchens mit Genu recurvatum congenitum dextrnm and
rechtsseitiger angeborener Hüftverrenkung.
Fig. 16.
Böntgenbild der in Fig. 16 abgebildeten Patientin 5 Monate nach Einrenkung der rechts¬
seitigen HOftverrenkuug.
Digitized by
Google
42
Georg Joachimsthal.
(Pig. 15) und 5 Monate nach der Reposition (Fig. 16) hergestellten
Bildern sehen, eine anatomische Heilung erzielt.
Ganz besonderes Interesse bietet der folgende Fall, der viel
Analogie mit einer von Bade vor kurzem in der Gedenkschrift für
Hoffa publizierten Beobachtung darbietet. Es handelte sich um ein
Mädchen, zu dem ich schon am Tage nach der Geburt zugezogen
Fig. 17.
Röntpenbild des Beckens eines B Wochen alten Miidchens mit doppelseitiger angeborener
^ Hüftverrenkung, doppelseitiger Kniegelenksluxation und doppelseitigem Hackenfuß.
wurde. E.s bestand hier eine ausgeprägte Kniegelenksluxation auf
beiden Seiten mit so hochgradiger Ueberstreckung der Kniee,
daß Unter- und Oberschenkel mit ihrer Vorderfläche direkt
aneinander lagen. Die Kondylen des Femur standen in der Knie¬
kehle spitz hervor, während die Tibiakondylen direkt vor den unteren
Enden der Oberschenkel zu fühlen waren. Daneben bestanden hoch¬
gradige Pedes calcanei.
Es gelang mir nun mit Leichtigkeit unter einem deutlichen
Einschnappen die Reposition der verrenkten Unterschenkel zu be¬
werkstelligen und damit sofort die normalen Konturen wieder her¬
zustellen. Ich habe die Gelenke dann durch Heftpflastertouren in
Digitized by C^ooQle
Röntgenbild des in Fig. 17 abgebildeten Kindes im Alter von lo Monaten. Die rechte
ÜUfte ist spontan geheilt«
Fig. 19.
Röntgenbild der in den Fig. 17 u. 18 abgebildeten Patienten 4 Monate nach der Einrenkung
der linksseitigen Hüftverrenkung.
Digitized by LjOOQle
42
Oeorg Joachimsthal.
(Fig. 15) und 5 Monate nach der Reposition (Fig. 16) hergestellten
Bildern sehen, eine anatomische Heilung erzielt.
Ganz besonderes Interesse bietet der folgende Fall, der viel
Analogie mit einer von Bade vor kurzem in der Gedenkschrift für
Hoffa publizierten Beobachtung darbietet. Es handelte sich um eia
Mädchen, zu dem ich schon am Tage nach der Geburt zugezogen
Fig. 17.
Röntgenl)il(l des Beckens eines 5 Wochen alten Mädchens mit doppelseitiger angeborener
^ Hüftverrenkung, doppelseitiger Kniegelenksluxation und doppelseitigem Hackenfuß.
wurde. Es bestand hier eine ausgeprägte Kniegelenksluxation auf
beiden Seiten mit so hochgradiger Ueberstreckung der Kniee,
daß Unter- und Oberschenkel mit ihrer Vorderfläche direkt
aneinander lagen. Die Kondylen des Femur standen in der Knie¬
kehle spitz hervor, während die Tibiakondylen direkt vor den unteren
Enden der Oberschenkel zu fühlen waren. Daneben bestanden hoch¬
gradige Pedes calcanei.
Es gelang mir nun mit Leichtigkeit unter einem deutlichen
Einschnappen die Reposition der verrenkten Unterschenkel zu be¬
werkstelligen und damit sofort die normalen Konturen wieder her¬
zustellen. Ich habe die Gelenke dann durch Heftpflastertouren in
Digitized by C^ooQle
Röntgenbild dea in Fig. 17 abgebildeten Kindea im Alter von lo Monaten. Die rechte
Hüfte ist spontan geheilt.
Fig. 19.
1
Röntgenbild der in den Fig. 17 u. 18 abgebildeten Patienten 4 Monate nach der Einrenkung
der linksseitigen Hüftverrenkung.
Digitized by L^ooQle
44
Georg Joachimsthal.
Fig. 20. Fig. 22.
6 Jahre alter Knabe mit doppelseitigem Der in Fig 20 u. 2i abgebildete Patient in den
Klumpfuti und beiderseitiger Hüftver- nach dem Redressement der Klumpfüße ange-
renkung. legten Verbünden.
Fig. 21.
Der in Fig- 20 abgebildete Patient in seiner Lieblingsstellung.
Digitized by
Google
Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc.
45
starker Beugestellung fixiert und konnte bereits am 8. Tage nach
Entfernung derselben ihre vollkommene Stabilität feststellen, so daß
nach weiteren 8 Tagen von jedem weiteren Verband abgesehen
werden konnte.
Während sich nunmehr rechts die Patella an dem normalen
Standort befand, konstatierte ich links eine Luxation derselben
Fig. 23.
Fig. 24.
Fip. 23 ii. 24. 9 Tage altes Mädchen mit linkssei-
ti;;em angeborenem Klumpfuß, rechtsseitigem an¬
geborenem Hackenfuß und (später festgestelltei M
rechtsseitiger angeborener Hüftverrenkung.
Fig. 25.
Dieselbe Patientin im
Alter von 0 Jahren.
nach außen, die bei jedem Flexionsversiich eintrat und die sich
zunächst durch keinerlei Verbände oder anderweitige Maßnahmen
beseitigen ließ.
In der Erinnerung an meine beiden eben erwähnten Fälle, in
denen sich Knie- und Hüftluxationen miteinander kombinierten, unter¬
nahm ich am 8. Tage eine Untersuchung beider Hüften. Ich konnte
mich dabei nicht nur mit Leichtigkeit von der Existenz von
Verrenkungen überzeugen, sondern auch unter deutlich
sicht- und hörbarem Ein- und Ausschnappen die Reposi-
Digitized by LaOOQle
Röntgenbild des Beckens der in den Fig. 23—25 altgebildeten Patientin mit linksseitigem
angeborenem Klumpfuß, rechtsseitigem angeborenem Hackenfuß und linksseitiger au-
geborener Hüftverrenkung im Alter von 2 Jahren.
Fig. 27.
Beckenbild derselben Patientin im Alter von 6 Jahren. 4 Jahre nach Einrenkung der links¬
seitigen Hüftverrenkung.
Digitized by LaOOQle
Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc. 47
tion resp. Reluxation der Gelenke herbeiführen und dem Arzt
der Familie demonstrieren. Im Gegensatz zu Bade, der in seinem
Falle sofort nach der Geburt die Fixation der Hüften in der repo-
nierten Stellung mit Hilfe einer Schiene bewirkte, habe ich zunächst
Fig. 28.
Skia^amm eines 3 Monate alten Mädchens mit totalem Defekt der linken Fibula und links¬
seitiger angeborener Hüftverrenkung.
die Einrenkung der Hüften, an denen ich im Alter von 5 Wochen
auch durch ein Röntgenbild (Fig. 17) das Vorhandensein von Luxa¬
tionen nachweisen konnte, auf eine spätere Zeit verschoben. Als
ich dann im Alter von 10 Monaten ein neues Beckenbild des Kindes,
dessen Kniegelenke auch in Bezug auf die zuerst konstatierte Neigung
der Patella zur Verschiebung inzwischen vollkommen normal geworden
Digitized by CaOOQle
Deckenbild derselben Patientin im Alter von 2 Jahren.
Beckenbild derselben Patientin 4 Monate nach Einrenkung der linksseitigen Hüftverrenkang
Digitized by
Google
Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc.
Fig. 31.
49
Skiagramm derselben Patientin nach weiteren 6 Monaten.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd.
4
Digitized by L^ooQle
Digitized by
Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc. 51
10 Wochen die Reposition der linken Seite vollführt und hier, wie Sie
an dem 1 Monat nach Abnahme des benutzten Verbandes ge¬
wonnenen Bilde (Fig. 19) sehen, den Kopf in die Pfanne überführt.
Die Patientin wird weiter beobachtet werden müssen ^), doch glaube
ich schon jetzt annehmen zu dürfen, daß wir rechterseits einen der
Fig. 34.
22jührige Patientin mit linksseitiger angeborener Hüftverrenkung und Defekt des rechten
Oberschenkels.
Fälle von Spontanheilung einer angeborenen Hüftverrenkung vor uns
haben.
Die Pedes calcanei sind in diesem Falle, wie wir es ja viel¬
fach sehen, lediglich durch die Wirkung der Schwere des Vorder¬
fußes zur Ausheilung gekommen.
Die folgenden Fälle zeigen uns die Kombination der Hüft¬
verrenkung mit anderweitigen Fußverbildungen.
Der erste Knabe, der im Alter von 6 Jahren in die Behand¬
lung eintrat (Fig. 20), zeigte doppelseitige Hüftverrenkungen, doppel¬
seitige Klumpfüße, Bewegungsbeschränkungen in den Kniegelenken,
0 Anm. bei der Korrektur: Die Patientin zeigt jetzt, 1 Jahr nach der
Einrenkung, ein in funktioneller und anatomischer Beziehung tadelloses Ver¬
halten beider Hüftgelenke und läuft ohne jede Spur von Hinken.
Digitized by LaOOQle
52
Georg Joachimsthal.
die nur bis zum rechten Winkel gebeugt werden konnten, und Paresen
im Bereiche beider unteren Gliedmaßen. Die Stellung, in der er Nachts
zu liegen pflegte, die vielleicht noch eine Erinnerung an eine intra¬
uterine Zwangslage darstellt, veranschaulicht das zweite Bild (Fig. 21).
Ich habe die Füße redressiert (Fig. 22 zeigt den Knaben in den ihm
nach dem Redressement angelegten Verbänden) und die Hüften ein¬
gerenkt, kann Ihnen aber leider nicht über ein Ergebnis berichten,
da ich den Kranken aus der Beobachtung verloren habe.
Fig. 35.
Die in Fig. 34 ahgebildete Patientin in ihrer Prothese.
Bei dem Mädchen, das die folgenden Bilder zeigen, habe ich im
Alter von 9 Tagen die beiden ersten Aufnahmen hergestellt (Fig. 23
und 24). Sie zeigen Ihnen einen linksseitigen Pes varus und einen
rechtsseitigen Pes calcaneus, die sich genau ineinander fügen. Die
Behandlung mit redressierenden Verbänden wurde von mir innerhalb
des ersten Lebensjahres erfolgreich durchgeführt. Dasselbe Kind im
Alter von 0 Jahren mit der normalen Fußstellung beiderseits ver¬
anschaulicht das nächste Bild (Fig. 25).
Bei derselben Patientin wurde von mir im Alter von 2 Jahren
eine linksseitige Hüftluxation festgestellt. Im Röntgenbilde (Fig. 26)
konnte ich an der rechten Hüfte wiederum die vorhin erwähnten, von
Digitized by C^ooQle
Die aDgeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc.
53
Hoffa und Bade angegebenen Veränderungen konstatieren. Die Re¬
position der linken Seite hat ein in jeder Beziehung tadelloses Resultat
ergeben. An dem im Alter von 6 Jahren hergestellten Skiagramm
(Fig. 27) erkennen Sie auch, daß die Störungen der rechten Hüfte
sich in vollkommenster Weise zurückgebildet haben.
Fig. 36.
Skiagramm des Beckens der in Fig. S4 abgebildeten Patientin.
Ich zeige Ihnen dann noch einige Fälle von Kombination der Hüft¬
verrenkung mit Defekt-resp. Spaltbildungen einzelner Knochen.
In dem ersten Falle haben wir es, wie es das im Alter von
3 Monaten angefertigte Skiagramm (Fig. 28) zeigt, bei einem Mädchen
mit einem Defekt der ganzen linken Fibula und einem Fehlen
zweier Zehen und der entsprechenden Fußknochen zu tun. Daneben
besteht, wie Sie es schon an diesem Bilde erkennen werden, wieder
eine Hüftluxation derselben Seite, die Sie deutlicher an dem im Alter
von 2 Jahren aufgenommenen Bilde (Fig. 29) wiederfinden. Ich habe
zu dieser Zeit die unblutige Reposition vollführt. Sie sehen 3 Monate
später nach Abnahme des Verbandes den Kopf, dessen Epiphyse im
Digitized by L^ooQle
54
Georg Joachimsthal.
Vergleich zur anderen Seite noch sehr klein erscheint, in der Pfanne
(Fig. 30). Das V* später gefertigte Skiagramm (Fig. 31) zeigt
dann eine wesentliche Zunahme auch in der Ossifikation des Kopfes.
Zur Bekämpfung des sehr hochgradigen Pes valgus (Fig. 32) wurde
zunächst im Alter von 3 Monaten eine Tenotomie der Achillessehne
vollführt, es wurden dann Verbände und Schienenhülsenapparate an¬
gelegt. Zur Zeit habe ich den erfolgreichen Versuch unternommen,
das Kind mit einem festen, lediglich die Verkürzung von 5 cm aus¬
gleichenden Stiefel herumgehen zu lassen. Fig. 33 zeigt die Patientin
pjg 37 in sitzender und stehender Position.
^ y zweiten Fall, den ich der
f / Freien Vereinigung der Chirurgen Ber-
I lins am 8. Mai 1905 vorgestellt habe,
\ handelte es sich um eine Kombination
t einer linksseitigen Hüftverrenkung mit
1 einer Defektbildung an dem rechten
I Oberschenkel und der rechten
t y' 1 Beckenhälfte bei einer 22jährigen
f Patientin (Fig. 34). Am Becken (siehe
/ das Röntgenbild Fig. 36) fehlt auch
m S linkerseits der horizontale Schambein-
I I ast, rechterseits ist eigentlich von den
einzelnen Knochen nur das Sitzbein
S‘fum^>airu^d”lW®’l‘eU vollkorumea vorhanden. Dasselbe hat
luxcitiou. gedreht, daß das Tuber
ischii vollkommen nach außen gerichtet ist. Das Darmbein fehlt
fast in der ganzen Ausdehnung des Darmbeintellers; es ist eigent¬
lich nur derjenige Teil des Os ilei vorhanden, der die Verbindung mit
dem Kreuzbein herstellt. Von dem Schambein können wir höchstens
Bjährige Patientin mit Spina bifida oc-
ciilta liimbalis und doppelseitiger Hüft-
luxatiou.
einen geringen Teil des absteigenden Astes als vorhanden annehmen.
Das Verbindungsstück zwischen Fuß und Becken enthält zwei Kno¬
chen, einen medial gelegenen, der eine nach innen konvexe Schwei¬
fung aufweist, nach oben mit einem abgerundeten Ende abschließt und
an der unteren Grenze des oberen Drittels einen nach innen gerichteten
Fortsatz zeigt, der in der Höhe des linksseitigen Tuber ischii abgeht
und in einer Entfernung von 4 cm frei endigt. An der lateralen Seite
liegt ein dünner Knochen, der zweifellos der Fibula entspricht, während
ich geneigt bin, den medial gelegenen als aus einer Verschmelzung
der Tibia mit einem Femurrudiment entstanden aufzufassen.
Digitized by L^ooQle
Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscbeinung etc.
55
Fig. 35 zeigt die Patientin in einer in meiner Werkstatt angefer-
tigien Prothese, in der ihr nicht allein das Herumgehen, sondern auch
das bequeme Sitzen ermöglicht wurde. Sie besteht aus einem einfachen
Beckengürtel, an dem mittels Kugelgelenks ein Schienenhülsenapparat
für die rechte untere Extremität befestigt ist. Dieser Schienenhülsen¬
apparat steht in Verbindung mit einem künstlichen Unterschenkel und
Fuß. ln der Höhe des Kniegelenks der linken Seite befindet sich ein künst¬
liches Kniegelenk, das automatisch in Streckstellung festgestellt wird.
Fig. 38.
Beckenbild einer 2jährigen Patientin mit Spina bifida occulta lambalis und linksseitiger
angeborener Uilftluxation.
Zum Schluß noch 2 Fälle der Kombination einer Hüftluxation
mit einer Spina bifida occulta.
Die Wirbelspalte ist in dem ersten Falle bei einer 5jährigen
Patientin mit doppelseitiger Hüftluxation, die ich der Berliner medi¬
zinischen Gesellschaft vorstellen konnte, durch eine Hypertrichose
gekennzeichnet (Fig. 37). Im Bereiche des 3. und 4. Lendenwirbel¬
bogens fand sich eine deutliche Lücke, in die man die Kuppe des
kleinen Fingers hineinlegen konnte. In dem 2. Falle wird sich die
bei der 2jährigen Patientin vorhandene Vorwölbung im Bereiche der
Lendengegend oberhalb der Wirbelspalte im Bilde kaum erkennen
lassen. Man fühlt an dieser Stelle deutlich eine Schwellung von der
Digitized by
Google
56 Joachimsthal. Die angeborene Hüftverrenkung als Teilet av iicii.uti^ etc.
Konsistenz eines Lipoms und das Röntgenbild (Fig. 38 u. 37) zeigt im
Bereiche des 1. Lendenwirbels eine breite Spaltbildung. Irgendwelche
Ausfallssymptome im Bereiche der unteren Gliedmaßen waren weder
in diesem noch in dem vorhergehenden Falle vorhanden.
Fig. 39.
Beckenbild derselben Patientin 1 Jahr nach der Reposition der linksseitigen Hüftverrenkung.
Die bei der letzten Patientin nachgewiesene linksseitige Hüftluxa-
tion (Fig. 38 zeigt das Röntgenbild des Beckens im Alter von 2 Jahren) ist
von mir wiederum nach dem Lorenzschen Verfahren reponiert worden.
An dem 1 Jahr nach der Reposition gefertigten Bilde (Fig. 39) fällt nur
das Zurückbleiben in der Ossifikation der Kopfepiphyse, sowie im
Bereich der ganzen linken Beckenhälfte auf. Im klinischen Bilde waren
irgendwelche Abweichungen von der Norm nicht mehr zu erkennen.
Digitized by L^ooQle
III.
(Aus der orthopädischen Heilanstalt des Sanitätsrat Dr. A. Schanz
in Dresden.)
Eorrektionsresultate an schweren Skoliosen’).
Von
A. Schanz-Dresden.
Mit 21 Abbildungen.
Meine Herren, ich habe Ihnen vor 2 Jahren im Anschluß an
den Vortrag über Resultate und Indikationen des Skoliosenredresse¬
ments eine Kollektion von stereoskopischen Photographien demon¬
striert, welche den Verlauf solcher Redressementskuren zur Dar¬
stellung brachten. Aus dieser Kollektion, welche inzwischen noch
weiter gewachsen ist, habe ich eine Anzahl von Projektionsbilderserien
herstellen lassen. Daraus möchte ich Ihnen die Bilder eines Falles
zunächst vorführen (Fig. 1—12).
Welche Einwendungen man gegen diese Bilder machen kann,
das habe ich bei meinem Vortrag vor 2 Jahren selbst ausgesprochen.
Dem Kundigen zeigen dieselben aber doch, zumal wenn man die
stereoskopischen Aufnahmen dagegen hält, daß man mit dem
Skoliosenredressement bedeutende Korrekturen erreichen
kann, und sie zeigen auch, daß es möglich ist, die mit
dieser Methode erzielten Resultate dauernd zu erhalten.
Nun, meine Herren, so sehr ich mich der Resultate, welche
mir das Skoliosenredressement gegeben hat, gefreut habe, und so
sehr ich mich derselben auch heute noch freue, so habe ich doch
bald erkannt, daß das Redressement nicht das letzte sein
kann. Dieser üeberzeugung habe ich auch schon Ausdruck ge¬
geben. Bei meinem Vortrag vor 2 Jahren habe ich z. B. an dieser
Stelle gesagt: „daß mit dem Skoliosenredressement noch nicht das
*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908.
Digitized by L^ooQle
Fig. 1.
Fig. 2.
0. B., 11 Jahre. Rückansicht vor dem
Redressement, Juli 1902.
Nach (1cm Redressement, November 1902
Fig. 3.
Kontrollaufuahme Marz 1903.
Fig. 4.
Koiitrollaufnahme August 1905.
Digitized by LaOOQle
Fig. 5.
Fig. 6.
G. B., Seitenansicht vor dem Nach dem Redressement, November 1902.
Redressement, Juli 1902.
Digitized by L^ooQle
Fig. 10.
Korrektionsresultate an schweren Skoliosen.
61
höchste Ziel erreicht ist, daß wir noch unendlich viel zu arbeiten
haben, um Methoden zu gewinnen für die Fälle, welche für die An¬
wendung des Redressements nicht geeignet sind, Methoden, welche
die Resultate des Redressements übertreffen, und Methoden, welche
leichter zu handhaben sind als das Redressement/
Dementsprechend habe ich nach anderen Methoden gesucht,
und ich will Ihnen heute kurz berichten, mit welchem Erfolg.
Ich habe mich leiten lassen von der Ueberzeugung, daß
Druck und Zug, in geeigneter Form und genügender Größe
an die Wirbelsäule herangebracht, die beabsichtigte Um¬
formung der Wirbelsäule zu stände bringen müßten, und
von der Ueberzeugung, daß dieser Druck und Zug nicht nur
in der Form plötzlicher mächtiger Gewalten, wie beim
Redressement, sondern auch durch minder kräftige, aber
langdauernd fortwirkende Einwirkungen erhalten werden
könne. So gut wie man einen Klumpfuß tatsächlich nicht
nur mit dem forcierten Redressement, sondern auch mit
langsam wirkenden, weniger starke Kräfte als das Re¬
dressement verwendenden Apparaten korrigieren kann,
ebensogut muß es doch schließlich auch möglich sein, mit
analogen Apparaten eine Skoliose zu korrigieren.
Wenn die bisherigen, dahinzielenden Versuche nicht die er¬
strebten Resultate gehabt haben, so muß es doch wohl daran liegen,
daß es nicht gelungen ist, die von unseren Apparaten gelieferten
Kräfte in wirksamer Weise an die Wirbelsäule heranzubringen. An
dieser Stelle muß der Fehler liegen.
Ich habe versucht, diesen Fehler zu finden. Bei meinen darauf
gerichteten Rechnungen bin ich zu der Ueberzeugung gekommen,
daß es die auf der Wirbelsäule ruhende Last ist, welche bewirkt,
daß der Korrektionsdruck, den wir durch Vermittlung der
Rippen an die Wirbelsäule zu bringen suchen, nicht dort¬
hin gelangen kann, sondern in unbeabsichtigten, ja schäd¬
lichen Deformierungen der Rippen verloren geht. Der Gang
meiner Rechnung ist niedergelegt in meiner Monographie der Stati¬
schen Belastungsdeformitäten der Wirbelsäule (Stuttgart,
Enke, 1904, S. 163 ff.). Unter Verweis darauf verzichte ich auf
Wiederholung an dieser Stelle.
Wenn diese Rechnung richtig ist, meine Herren, dann müßte
langsam wirkender Korrektionsdruck, der auf einen skoliotischen
Digitized by L^ooQle
Digitized by
Eorrektionsresultate an schweren Skoliosen.
63
im Dezember 1907. Die bis Ende Februar 1908 erreichte Aenderung
zeigt Fig. 16, das Resultat, das zu Ostern 1908 erreicht ist, zeigt Ihnen
das zweite Bild (Fig. 17). Es sind jetzt noch ganz geringe Reste
der Deformität Yorhanden, die hier auf dem Bild kaum noch zum
Ausdruck kommen. Es ist vor allem auch die obere Gegenkrümmung,
welche nach Korrektur der Hauptkrümmung schärfer als vorher zum
Ausdruck kam, beseitigt. Das Ziel der Kur kann als erreicht an¬
gesehen werden. Es stellt sich jetzt bei dem Knaben die Aufgabe,
Fig. 14 a. Fig. 14 b.
Fig. 14 a u. b. Streckkorsett.
das Korrektionsresultat zum Halten zu bringen. Wie das zu ge¬
schehen hat und welche Aussichten für den Erfolg dabei bestehen,
darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
Dieser Fall ist die einzige bisher ganz durchgeführte Kur.
Die anderen Fälle, welche sämtlich jünger in Behandlung sind, haben
sämtlich auch sehr gute Fortschritte aufzuweisen. Die Kuren sind
aber nicht so weit gediehen, daß sie geeignete Demonstrationsobjekte
wären. Nur einen Fall möchte ich daraus noch zeigen.
Es handelt sich hier um ein Kind mit einer schweren dorso-
cervikalen Skoliose (Fig. 18). Sie wissen, meine Herren, daß diese
Varietäten ganz besonders schwierige Korrektionsobjekte darstellen,
Digitized by LjOOQle
Korrektionsresultate an schweren Skoliosen.
65
auch dem Redressement gegenüber. Gerade deshalb habe ich an dem
Fall, den das Bild zeigt, einen Versuch mit der neuen Methode an«
gestellt. Aeußere Verhältnisse yerhinderten leider die volle Durch¬
führung desselben. Aber wenn Sie das zweite Bild (Fig. .19), das
ich Ihnen hier zeige, mit dem ersten vergleichen, so sehen Sie doch
Fig. 20. Fig. 21.
E. Sch., 12 Jahre, vor dem Re- Korrektar durch Redressement
dressement, September 1907. und Streckkur, Ostern 1908.
ganz deutlich einen Eorrektionseffekt, der tatsächlich an der Er¬
scheinung der Patientin noch viel besser hervortritt, als hier auf der
Photographie.
Nun noch einen Fall!
Als ich in die Versuche mit dieser neuen Methode eintrat,
hatte ich eine Patientin, an welcher ich das Redressement ausge¬
führt hatte, eben so weit, daß der Gipsverband abgenommen werden
sollte. Ich habe nun diese Patientin ebenfalls nach der Abnahme
des Verbandes in der geschilderten Weise weiterbehandelt. Das Re¬
sultat in diesem Fall war noch eine bedeutende Verminderung des
beim Redressement zurückgebliebenen Restes der Deformität. Die
Differenz, welche durch die kombinierte Kur bis heute erreicht
Zeitschrift fftr orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 5
Digitized by LjOOQle
66
A. Schanz.
werden konnte, veranschaulichen Ihnen die beiden nächsten Bilder
(Fig. 20 u. 21).
Betreffs der Qualität der Bilder will ich eine Bemerkung
einfügen. Wenn wir Skoliosenkorrekturen im Bilde darzustellen ver¬
suchen, so haben wir immer die Gefahr, daß Scbeinkorrekturen zur
Darstellung gebracht werden. Daraus können die folgenschwersten
Täuschungen entstehen und sind auch schon entstanden. Vor solchen
Täuschungen ist man bei der hier bekanntgegebenen Methode sicher,
wenn man dies sein will. Im ganzen Verlauf der Kur werden die
Patienten nicht dazu angehalten, «Selbstredressionen“ vorzunehmen.
Sie können sich darum auch im Moment der Untersuchung oder der
Photographie nicht unwillkürlich korrigieren. Die daraus entstehende
Täuschungsmöglichkeit ist somit ausgeschlossen.
Nun, meine Herren, werden sich dieKorrektionsresultate,
die auf dem geschilderten Weg erhalten werden, dauernd er¬
halten lassen? und welche Mittel sind für ihre Erhaltung
anzuwenden?
Diese Fragen sind durch einen Vergleich mit den Redresse¬
mentsresultaten zu beantworten.
Ebenso wie durch das Redressement wird natürlich auch durch
diese Korrektionskuren der skoliosierende Prozeß nicht ausgetilgt. Der
Effekt der Kur kann hier wie da nur zum Dauerresultat gemacht
werden, wenn nach der Korrektur der Deformität dieser Prozeß in
Angriff genommen wird und seine Ausschaltung gelingt. Der ein¬
zuschlagende Weg ist in beiden Fällen ganz genau der gleiche. Da
ich denselben vor 2 Jahren hier beschrieben habe, kann ich auf eine
Wiederholung verzichten. Nur auf eines möchte ich hinweisen,
nämlich darauf, daß die Korrektionsresultate, welche bei der neuen
Kur erhalten werden, sich durch ihre Standfestigkeit von den
Redressemeutsresultaten vorteilhaft unterscheiden.
Während man nach Abnahme eines Redressementsverbandes
zunächst stets ein sehr labiles Resultat findet, besonders bei bedeu¬
tenden Korrekturen, erscheinen die Resultate bei diesen langsam
fortschreitenden Korrektionskuren für die momentane Beobachtung
vollständig fest. Der Patient, dem man seinen Korrektionsapparat
abnimmt, zeigt niemals Schwierigkeiten, seinen Rumpf in der Kor¬
rektionsstellung aufrecht zu erhalten, wie man das nach der Ab¬
nahme des Redressementsverbandes so oft sieht.
Wenn es trotzdem möglich ist, Redressementsresultate
Digitized by L^ooQle
Eorrektionsresultate an schweren Skoliosen.
67
aufrecht zu erhalten — und das zeigt meine erste Bilderserie
doch unbestreitbar — dann muß es noch viel leichter mög¬
lich sein, die Korrektionsresultate zu bewahren, welche
mit meiner neuen Methode erzielt wurden.
Welche Stellung sich diese Methode nun erringen wird, ob sie
einen dauernden Platz in der Skoliosentherapie haben kann, welche
Leistungsfähigkeit, welche Entwicklungsfähigkeit dieselbe besitzt, in
welches Verhältnis zu den übrigen Methoden der Skolioseukorrektur
sie treten kann? — das alles ist nur durch langjährige Arbeit mit
der Methode festzustellen.
Ich vermeide es, darüber irgendwelche Vermutungen zu äußern.
Dafür möchte ich auf diesem Platze und zum Schluß meiner
Demonstrationen etwas anderes aussprechen. Die Skoliosen-
forschung, meine Herren, steht seit langer, langer Zeit vor
dem Problem der Korrektur der schweren Deformitäten.
Dieses Problem erweist sich als ein äußerst harter Stein. Aber setzen
wir unverzagt den abgeglittenen Meißel wieder und wieder an, lassen
wir uns durch die Stürme, welche, wie so oft, auch gegenwärtig
wieder, den ruhigen Fortschritt der Skoliosenforschung gefährden,
in unserer Arbeit nicht stören, so gibt der Stein schließlich doch
Splitter her. Der kleinste Erfolg aber, den wirerzielen, hat
seinen Wert, mindestens dadurch, daß er neuer Ansporn
wird zu neuer Arbeit,
Einen solchen Ansporn zu geben, war der Zweck meiner De¬
monstration.
Digitized by L^ooQle
IV.
(Akademie für praktische Medizin zu Köln a. Rh., orthopädisch¬
chirurgische Abteilung.)
Ueber RückgratsverkrünmiTmgen bei liunbosakralen
Assimilationswirbeln ‘).
Von
Dozent Dr. K. Cramer^ dirig. Arzt.
Mit 15 Abbildungen.
Rückgratsverkrümmungen, welche ihre Entstehung verdanken
kongenital veränderten sogen. Assimilationswirbeln mit abgeschrägten,
verdrehten Flächen sind den Orthopäden bisher nur sehr spärlich
bekannt geworden; wie denn überhaupt die Lehre von den kon¬
genitalen Skoliosen erst in allerneuester Zeit beginnt, aus den Kinder¬
schuhen herauszuwachsen. In den Lehrbüchern der Orthopädie
werden die lumbosakralen Uebergangswirbel nur ganz kurz oder
gar nicht besprochen. Hoffa erwähnt sie in seinem Handbuch mit
keinem Wort. Schultheß widmet in dem Handbuch von Joachims¬
thal den Varietäten der Lumbosakralwirbel einige Zeilen: er er¬
wähnt auch die Formfehler an der lumbosakralen Grenze, während
die Werke von Lorenz und Kirmisson die angeborene Rück-
gratsverkrümraung nur kurz berühren. Besser bekannt war die
Skoliose, besonders nach asymmetrischen Assimilationswirbeln an der
sakrolumbalen Grenze den Gynäkologen und Anatomen. Sie sind
von diesen öfters beschrieben worden, so z. B. von Dürr schon im
Jahre 1869 und von Frenkel im Jahre 1871, der ebenfalls schon
zu einer Zeit, als die wissenschaftliche Orthopädie noch gar nicht
existierte, auf Skoliosen bei Assimilationswirbeln mit ungleicher
Seitenhöhe hin wies. In den orthopädischen Fachzeitungen finden
9 Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908.
Digitized by LjOOQle
üeber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 60
sich nur zwei Arbeiten, die sich mit dieser Frage beschäftigten« Sie
gehören den letzten Jahren an. Es ist das der Vertrag von Böhm
auf dem Orthopädenkongreß 1907 und der Aufsatz von Peronne
aus dem Jahre 1906. Böhm bat 52 Wirbelsäulen mit numerischer
Varietät genau beschrieben und analysiert. Er kommt hierdurch
zu der Ueberzeugung, daß «diese Varietäten Teilerscheinungen sind
eines Phänomens, das mehr oder weniger das ganze Rumpfskelett
in seinen einzelnen Segmenten trifft und an dessen Grenzen in be«-
sonderer Weise zu Tage tritt. Das Wesen dieses Phänomens besteht
in der Assimilation von kostospinalen Segmenten, an ihre kaudalen
oder kraniellen Nachbarsegmente^. In dem klinischen Teile seiner
Arbeit schließt er, daß an der Hälfte aller Wirbelsäulenskelette mit
numerischer Variation Verkrümmungen leichteren Grades sich vor-»
finden. Ich lasse hier seine Worte folgen:. «Jene Entwicklungs-»
Störung des menschlichen Körpers, welche in der numerischen Varia¬
tion der Wirbelsäule ihren Ausdruck findet, führt unter bestimmten
Umständen zu jenen idiopathischen, seitlichen Verkrümmungen der
Wirbelsäule, welche ungefähr zu Beginn des 2. Lebensdezenniums
auftreten und scheint der hauptsächlichste Faktor der habituellen
Skoliose zu sein.* Jedenfalls ist es bei eingehendem Studium einer
größeren Reihe derartiger lumbosakraler Assimilations- oder Zwitter¬
wirbel ohne weiteres augenfällig, daß ihr Anteil an der Aetiologie
der Wirbelsäulendeformierung ein großer sein muß. Peronne
(1906) bezeichnet ganz allgemein das Vorkommen einer kongenitalen
Skoliose als eine Seltenheit. Eine Ansicht, mit der ich mich nicht
einverstanden erklären kann. Vielmehr bin ich meinen Beobachtungen
nach fest davon überzeugt, und kann es auch durch Röntgenplatten
beweisen, daß angeborene Rückgratsverkrümmungen und speziell die¬
jenigen, welche lumbosakralen asymmetrischen Assimilationswirbeln
ihre Entstehung verdanken, nicht selten sind. Bei achtsamer Unter*
Buchung und genauerem Studium der Röntgenplatten findet man
eine ziemlich große Anzahl Abnormitäten an den Wirbeln resp^
ihren Fortsätzen oder den Rippen, die kongenitaler Herkunft sein
müssen. Peronne beschreibt exakt drei Beckenpräparate derartiger
Skoliosen, die bedingt sind durch asymmetrische lumbosakrale
üebergangswirbel. «Die wirkliche Ursache der Skoliose ist bei ihnen
unzweifelhaft in der Abschrägung der Flächen des Körpers des
mifibildeten Wirbels zu sehen.*
Zum besseren Verständnis zunächst einige Worte zur fötalen
Digitized by
Google
70
K. Gramer.
Anatomie dieser Assimilationswirbel an der lumboskkralen Grenze^
die man auch kurz als Uebergangsformen an den Orenzwirbeln des
Kreuzbeins und der Lendenwirbelsäule definieren kann. Ueber die
Bildung des Kreuzbeines, über dessen erste Anlagen und deren
Einzelheiten in frühester Zeit seiner Entwicklung ist sehr wenig
Positives bekannt. Die drei obersten Kreuzbeinwirbel haben bekannt¬
lich in ihrer juvenilen Periode fünf Knochenkerne, die zwei unteren
Wirbel nur drei. Aus diesen Kernen entwickelt sich die Verknöcherung
des knorpelig präformierten Kreuzwirbels. Von den fünf Kernen der
oberen Sakralwirbel bildet einer den Wirbelkörper, je einer den
rechten resp. den linken Wirbelbogen mit Quer- und Gelenkfortsatz,
wobei die Verknöcherung vom seitlichen Teile der Bogenwurzel fort¬
schreitet, und weiter je einer den rechten resp. den linken Processus
eostalis. Letzterer macht hauptsächlich die Massa lateralis aus.
Erst im Pubertätsalter beginnen die Wirbel des Kreuzbeins zu ver¬
knöchern. Die vollständige Verschmelzung des 1. und 2. Sakral¬
wirbels tritt erst im 25.—30. Lebensjahre ein. Hierbei mache ich
auf die Bedeutung auch besonders in morphologischer Hinsicht der
KreuzbeinflUgel aufmerksam. Nach Gegenbaur muß man sie
streng trennen in einen ventralen Proc. eostalis und einen dorsalen
Proc. transversus. Der erstere entwickelt sich aus den beiden Ossi¬
fikationspunkten zu beiden Seiten des Wirbelkörpers, der letztere
aus den Knochenkernen für die Wirbelbögen. Diese Separierung
ist auch beim Erwachsenen nicht selten noch deutlich wahrzunehmen.
Der Proc. eostalis ist es auch, der nach Frenkel dem weiblichen
Becken seine weite charakteristische Form gibt, durch starke Ent¬
wicklung seiner Breitenausdehnung. Die Proc. costales allein ohne
Mitbeteiligung der Proc. transversus bilden die Facies auricularis und
zwar meist nur die drei obersten. Ihr Verhalten prägt zum größten
Teil den Charakter des Assimilationswirbels, je nachdem der Costalis
einseitig oder doppelseitig, vollkommen oder unvollkommen aus¬
gebildet ist und sich beteiligt an der Facies auricularis. Weiter ist
zu beachten die Stellung des Uebergangswirbels zum Becken; ob er
über, unter, oder im Beckeneingang sich befindet. So koqimt es,
daß sowohl sein kranieller als sein kaudaler Rand das Promontorium
bilden können. Normaliter befindet sich bekanntlich das Vorgebirge
zwischen Lumbalis V und Sacralis I. Ein doppeltes entsteht, wenn
der erste Kreuzwirbel frei oder nahezu frei ist und einen lumbalen
Charakter angenommen hat. Das doppelte Promontorium wird dann
Digitized by L^ooQle
lieber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assi milations wirb ein. 71
gebildet: Erstens von der Synchondrosis sacralis I und zweitens von
der Synchondrosis lumbosacralis. Waldeyer fand derartige Ver¬
hältnisse bei 265 Fällen 33mal. Der Assimilationswirbel kann
ferner ventral sich vordrängen oder dorsal Zurückbleiben. Alle diese
Stellungen sind von rückwirkendem Einfluß auf die spätere Form
oder Deformierung der Wirbelsäule. So ist besonders von Wichtig¬
keit der Stand des Promontoriums, die Neigung, die Krümmung,
des Sacrums, auf die anteroposterioren, normalen oder übernormalen
Verbiegungen der Wirbelsäule (flacher, hohler Rücken). Kurz sei
hier eine interessante Beobachtung von Raab angeführt. Er hat
bei Assimilation des 5. Lendenwirbels mit dem Kreuzbein ungleiche
Länge der unteren Extremitäten beobachtet, die natürlich eine sta¬
tische Skoliose im Gefolge haben mußten. Der Fall ist kurz folgender:
Leichenbefund: ,An der Wirbelsäule außer der Assimilation nichts
Besonderes. Becken asymmetrisch. Die Crista und Spina ossis ilei
stehen links höher als rechts. Das linke Ileum ist nach oben ver¬
schoben, das Becken schräg verengt. Es finden sich sechs Lenden¬
wirbel. Der Querfortsatz des 5.. Lendenwirbels ist massiger als an
den anderen Lendenwirbeln, übertrifflb diese um das zwei- oder drei¬
fache an Dicke; an seiner unteren Partie eine knopfartige Ver¬
dickung.Raab fand ferner, daß auf der Seite der abnormen
Partie des einseitig assimilierten Wirbels Crista und Spina des Ileum
höher stehen und damit durch nach Obenrücken der Pfanne eine
scheinbare Verkürzung eintritt.
Die numerische Stellung des Assimilationswirbels ist bedingt
durch die Höhe der Darmbeinanlage. „Findet die Anlage des Darm¬
beines in einer etwas anderen Höhe der embryonalen Wirbelsäule
statt, 80 daß sie im Laufe der Entwicklung nicht ganz wie gewöhn¬
lich auf Wirbel 25, 26, 27 fällt, sondern kommt sie etwas höher
oder tiefer an der Wirbelsäule zu stände, so wird dies auch dadurch
zum Ausdruck gebracht, daß entweder der 24. einen mehr oder
weniger vollkommenen Costalis akquiriert, oder der 25. Wirbel nicht
zur völligen Ausbildung eines solchen kommt oder ganz in lumbaler
Form bleibt* (Breuß und Kollisko). Nach Rosenberg findet
ontogenetisch eine Transformierung des Kreuzbeins statt, zugleich
nnt einer kraniellen Fortbewegung. „Im allgemeinen läßt sich also
sagen, daß bei Halbaffen und Affen Sacrum und untere Thoraxgrenze
uni so weiter distal stehen, je niedriger die Stellung ist, die dem
Tiere wegen seiner Gesamtorganisation in der Systematik angewiesen
Digitized by L^ooQle
72
K. Gramer,
wird. Hierbei sind die extremen Formen einesteils Formen der
Vergangenheit, andern teils Formen der Zukunft. Ein Kreuzbein, das
mit Wirbel 27 und 26 beginnt, ist Zukunftsform.“ Er findet den
Grund für . das häufige Vorkommen der Assimilationswirbel in dem
kraniellen Vorrücken der Beckenanlage in der Embryonalzeit. »Daß
bei der Entwicklung des menschlichen Sacrum ein Umbildungs¬
prozeß stattfindet, der mehr Wirbel betrifil, als in den einzelnen
Stadien des Prozesses im Sacrum enthalten sind, der deshalb ein
fortschreitender ist und sein Fortschreiten speziell dadurch zu stände
kommen Jäßt, daß er die am proximalen Ende des yon ihm be¬
herrschten Abschnittes befindlichen Wirbel nach Entfaltung ihres
kostalen Elementes ins Sacrum hinüberführt.“ Disse erkennt die
Rosenberg sehen Untersuchungen an. »Beim Eymbro hat, wie
Rosenberg fand, regelmäßig im frUhen Stadium die Bauch Wirbel¬
säule bei normaler Gesamtzahl der Wirbel 5 Stück. Der 21. Wirbel
ist der erste Bauchwirbel; der 26. Wirbel ist der embryonale
1. Kreuzwirbel. Dann wird der 25. dem Kreuzbein assimiliert. Das
Kreuzbein wandert nachweisbar während der embryonalen Lebens¬
zeit um einen Wirbel nach dem Schädel hin vorwärts.“ Dieser
fortschreitende Prozeß kann in einem embryonalen Stadium halt
machen, so daß man als 1. Sakralwirbel gefunden hat den 24.,
25., 26., 27. Wirbel. In den beiden Fällen von Varaglia wurde
sogar der 28. Wirbel als 1. Sakralwirbel gezählt. Ueber die Häufig¬
keit des Vorkommens geben die Arbeiten von Paterson, Adolphi
und Wald ey er Aufschluß. Adolphi untersuchte 84 Leichen, lauter
Erwachsene, und zwar 48 Männer und 35 Frauen. Bei den 35 Frauen
war einmal Wirbel 26 erster Sakralwirbel; die Krümmung des Sacrum
war wie gewöhnlich einfach. Einmal hatte Wirbel 25 auf der einen
Seite einen Querfortsatz von lumbalem Charakter, auf der anderen
Seite dagegen von sakralem Charakter, der mit dem Ileum artiku¬
lierte. Wirbel 25 war mit dem übrigen Kreuzbein nicht synostotisch
verbunden. Das Promontorium lag zwischen Wirbel 25 und 26.
Einmal war Wirbel 25 erster Sakralwirbel bei doppeltem Promon¬
torium. 32mal war Wirbel 25 erster Sakralwirbel bei einfacher
Sakralkrümmung, 5mal war Wirbel 25 erster Sakralwirbel bei dop¬
peltem Promontorium. 38mal war Wirbel 25 erster Sakral wirbel
bei einfacher Sakralkrüramung. Einmal beteiligte sich Wirbel 24
an der Pars lateralis des Kreuzbeins und hatte an der anderen Seite
einen Querfortsatz von lumbalem Charakter. Das Promontorium lag
Digitized by CjOOQle
lieber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 73
zwischen Wirbel 24 und 25. Zweimal war Wirbel 24 erster Sakral¬
wirbel bei doppeltem Promontorium. Im ganzen war in 3,6 ^/o
.Wirbel 25, in 92,8 ^/o Wirbel 24, in 3,6 ^/o Wirbel 23 der letzte
reine Lumbalwirbel, oder mit anderen Worten auf seiner kraniellen
Wanderung kann das Sacrum das übliche Ziel entweder nicht er¬
reichen oder über dasselbe hinausschießen und es entsteht so ein
Assimilationswirbel mit bald mehr sakralem, bald mehr lumbalem
Charakter. Auf diese Weise kommen natürlich die verschiedensten
Variationen, Spielarten und Abstufungen vor, je nachdem der Proc.
costalis, der ja den Typus des Uebergangswirbels bestimmt, voll¬
kommener oder unvollkommener ausgebildet ist. Die sakrale Form
dokumentiert sich in möglichst fehlerfreier Ausbildung des costalis,
die lumbale Form in gänzlichem oder fast gänzlichem Fehlen des¬
selben. So kommt es, daß man beidseitige symmetrische oder beid¬
seitige asymmetrische Assimilierung unterscheiden kann, je nachdem
beide Seiten mehr lumbal oder sakral, oder die eine Seite lumbal
und die andere sakral charakterisiert ist. Durch letzteren Vorgang
entstehen nicht selten Niveaufehler oder Abschrägungen in der
obersten Partie des Kreuzbeins als Grundlage für eine Skoliose, der
sich darauf schief oder verdreht aufbauenden Lendenwirbel und so
wird die Gestalt, räumliche Ausdehnung und Stellung des Kreuz¬
beins von maßgebendem Einfluß durch die sich entwickelnde Skoliose
auf die Form der Wirbelsäule und des Beckens. Bei symmetrischen
Assiroilationswirbeln muß ferner die Beckenneigung und damit der
Grad der physiologischen Lendenlordose variieren, je nachdem das
Sacrum verlängert oder verkürzt ist durch Fehlen des 5. oder Hin¬
zuziehung eines 6. Wirbels, oder der Höhenzunahme seiner einzelnen
Wirbel und der dadurch hervorgegangenen mehr oder weniger aus-
gebildeten Beckenneigung. Die Länge des Kreuzbeines ist ja be¬
kanntlich großen Schwankungen unterworfen; sie differiert zwischen
15, 5 und 9 cm (Hyrtl). Hierzu kommt noch, daß die gelenkige
Kommunikation des Darmbeins mit dem Sacrum in wechselnder
Höhe stattfindet, numerisch nicht immer dieselben Sakralvvirbel die
Facies auricularis bilden. Diesen Wirbel, dessen kostales Stück vor¬
zugsweise in Verbindung mit dem Darmbein steht, hat Holl seiner
.Wichtigkeit wegen mit einem besonderen Namen belegt; er nennt
ihn Fulcralis.
Die Assimilationswirbel sind streng zu trennen von denjenigen
mißbildeten Sakralwirbeln, deren Mißbildung zu suchen ist in einem
Digitized by LjOOQle
74
K. Gramer.
kongenitalen Ossifikationsdefekte oder mit anderen Worten in pri¬
mären Fehlern des anatomischen Aufbaues einzelner Sakralwirbel.
Hierbei kann deren knorpelige Anlage schon abnorm gewesen sein,
Defektbildung an den Ossifikationsherden gezeigt haben, oder die
eine oder die andere Verknöcherungsstelle ist zwar angelegt gewesen,
hat sich aber nicht zu ihrer Vollkommenheit entwickelt. Breuß
und Kollisko teilen sie ihrer Anatomie und Genese nach in
drei Gruppen:
1. Sacrum mit keilförmigen Wirbelrudimenten,
2. Sacrum mit Defekt eines ganzen Flügels,
3. Sacrum mit Defekt eines Querfortsatzes.
Die Einschiebung eines keilförmigen, rudimentären, nur halb¬
seitig entwickelten Wirbels in das Sacrum ist zuerst von Roki¬
tansky beschrieben worden. Sie bedingt eine Asymmetrie des
Kreuzbeines, die wiederum eine seitliche und rotatorische Ver¬
krümmung der Wirbelsäule nach sich ziehen muß. Der Assimi¬
lationswirbel zeigt im Gegensätze hierzu stets einen vollkommen aus¬
gebildeten Wirbelkörper, der allerdings Höhendifferenzen zwischen
rechts und links resp. seitliche Abschrägung zeigen kann. Im Roki¬
tansky sehen Falle ist Steiß und Kreuzbein zu einem Stücke ver¬
schmolzen, an dem die Zahl der Kreuzbeinlöcher rechts vier, links
fünf beträgt. Der 1. Kreuzbeinwirbel besteht nämlich in seiner linken
Hälfte infolge seiner Höhe und des gedoppelten Dorn- und Gelenk¬
fortsatzes aus zwei untereinander verschmolzenen Wirbelhälften. Der
5. Lendenwirbel ist rechts mit dem Kreuzbein zusammengeflossen,
d. i. „seine rechte Hälfte zu einem Kreuzwirbel entwickelt, wodurch
jene Höhe der linken Kreuzbeinhälfte ausgeglichen wird.“ v. Meyer
beschreibt ein Kreuzbein mit verkümmerter Ausbildung des 1. Kreuz¬
beinwirbels als Ursache der sakralen Asymmetrie. Ferner findet
man bei Paterson ein Kreuzbein mit Einschaltung keilförmiger
Wirbelrudiraente. Weiter ist ein Sacrum von Kuiidrat bei Br euß
und Kollisko erwähnt, bei dem kongenital rechts der ganze
Flügel des 1. Sakralwirbels fehlt. Das Kreuzbein stand schief, die
Lendenwirbelsäule zeigte eine rechtskonvexe Skoliose. Thomas
hat einen Fall beschrieben, der kongenitale Defekte aufweist, rechts
des Seitenflügels des ersten und links des dritten Sakralwirbels.
Einen sehr interessanten Fall schildern Breuß und Kollisko:
Beiderseits Fehlen des Proc. transversus des 1. Sakral Wirbels. Rechter-
seits ist die Pars costalis nach oben luxiert.
Digitized by L^ooQle
üeber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 75
Ich lasse jetzt die Beschreibungen meiner Beobachtungen folgen.
Die Präparate gehören der Anatomie in Marburg a. L. Sie sind noch
nicht publiziert worden.
Fig. 1.
Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 11,5 cm. Sagittaldurch-
messer 11,5 cm, Conjug. infer. 11 cm, Diam. obliqua 14,5 cm,
Diam. transversa 14 cm.
Beckenmitte: Conjug. 14 cm, Transversa 13 cm.
Fig. 1.
Beckenausgang: Conjug. 13 cm, Spina ischii 12,5 cm, Tubera
iscbii 12 cm.
Kreuzbein: Breite 10,5 cm, Höhe 10 cm, Gelenklänge 6,5 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 5,5 cm, Pars ilei 7 cm,
Pars pub. 7,5 cm. Höhe der Sjmphysis pubis 4,5 cm. Seitliche
Beckenwand 10 cm, Spinae 23 cm, Cristae 26,5 cm.
Alle Sakralwirbel sind untereinander verknöchert, die drei
unteren nach links abgewichen. Der Sacralis 1 zeigt links nor¬
male Verhältnisse. Rechts ist der Processus costalis nach oben er¬
höht und trägt eine Gelenkfläche. Der letzte Lumbalwirbel hat
rechts sakrale Assimilation, zeigt hier einen teilweise ausgebildeten
Proc. costalis, dessen Gelenkfläche mit dem erhöhten Proc. costalis
des 1. Sakralwirbels gelenkig verbunden ist. Sein Körper ist oben
Digitized by L^ooQle
76
K. Gramer.
nach links abgeschrägt; seine untere Fläche ist gerade. Seine stärkste
Höhe beträgt rechts 3,5 cm, links 2,5 cm. Es sind vier Sakralwirbel
vorhanden.
Fig. 2.
Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 11 cm, Conj. infer. 11cm,
Sagittaldurchmesser 11cm, Diam. obliq. 14 cm, Diam. transversa
13,5 cm.
Beckenmitte: Conjug. 14 cm. Transversa 13 cm.
Beckenausgang: Conjug. 9,5 cm, Spina ischii 12,5, Tubera
ischii 13 cm.
Kreuzbein: Breite 11cm, Höhe 8,5 cm, Gelenklänge 6 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 5,5 cm, Pars iliac. 7 cm,
Pars pub. 7,5 cm, Höhe der Symphysis pubis 4,5 cm, seitliche
Beckenwand 9 cm, Spinae 25 cm, Cristae 28,5 cm,
Fig. 2.
Zwei Promontorien sind vorhanden. Eines zwischen letztem
Lumbalis und erstem Sacralis; und ein zweites zwischen letztem und
vorletztem Lumbalis. Links hat der Costalis des ersten Sacralis eine
Erhöhung nach oben mit einer Gelenkfläche.
Die aurikuläre Gelenkfläche des Costalis des Sacralis I reicht
links höher nach oben wie rechts. Der letzte Lumbalis ist links
assimiliert, trägt einen deutlichen Costalis mit breiter nach unten
sehender Gelenkfläche. Er steht nicht in Verbindung mit der Facies
auricularis.
Digitized by LaOOQle
üeber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 77
Rechts reicht der Proc. transversus sehr nahe an den Sacralis I
heran. Durch die Verbindung des Costalis des letzten Lendenwirbels
mit dem Costalis des ersten Kreuzbeinwirbels entsteht links ein
fünftes Sakralloch. Die Wirbelbögen des letzten Lumbalis sind
asymmetrisch, schief, der rechte steht tiefer wie der linke. Der
Körper zeigt eine geringe Asymmetrie; seine obere Fläche ist nach
links abfallend abgeschrägt, seine untere gerade. Die anderen Lenden¬
wirbel bauen sich ziemlich gerade auf.
Fig. 3.
Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 9 cm, Conjug. inf. 9 cm,
Sagittaldurchmesser 9 cm, Diam. obliqua 12,5 cm, Diam. transversa
13 cm.
Beckenmitte: Conjug. 12 cm, Transversa 13 cm.
Fig. 3.
Beckenausgang: Conjug. 9,5 cm, Spina ischii 10 cm, Tubera
ischii 10,5 cm.
Kreuzbein: Breite 10,5 cm, Höhe 8 cm, Gelenklänge 6 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7,5 cm, Pars iliac. 6 cm,
Pars pub. 7 cm, Höhe von Symphysis pubis 3 cm, seitliche Becken¬
wand 9,5 cm, Spinae 24 cm, Cristae 25 cm.
Es bestehen zwei Promontorien. Eines zwischen erstem Sacralis
und letztem Lumbalis und ein zweites zwischen letztem und vor¬
letztem Lumbalis. Fünf Sakralwirbel. Das Sacruin ist stark nach
hinten konvex ausgebogen
Digitized by LaOOQle
78
K. Gramer.
Der letzte Lumbalis ist rechts assimiliert, hat hier einen
deutlichen Costalis, der mit dem Costalis des ersten Sacralis eine
knöcherne Masse bildet und so ein fünftes Sakralloch entstehen läßt.
Sein Costalis ist an der Facies auricularis beteiligt. Diese reicht
rechts höher hinauf wie links. Die Zwischenbandscheibe unter dem
Körper des Assimilationswirbels ist erhalten. Seine untere Gelenk-
flache ist gerade; die obere nach links abhängig. Die größte Höhe
des Wirbelkörpers beträgt rechts 2,8 cm, links 2,5 cm. Die Linea
terminalis ist rechts deutlich gedoppelt, links einfach. An dem
linken Gelenkfortsatz des Assimilationswirbels keine auffallenden Ab¬
normitäten.
Fig. 4.
Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 8,5 cm, Conjug. inf. 8,5 cm,
Sagittaldurchmesser 8,5 cm, Diam. obliqua 11 cm, Diam. transversa
11,5 cm.
Beckenraitte: Conjug, 11,5 cm. Transversa 11 cm.
Beckenausgang: Conjug. 9,5 cm, Spina ischii 9 cm, Tubera
ischii 7 cm.
Kreuzbein: Breite 9,5 cm, Höhe 8 cm, Gelenklänge 5 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 6,5 cm, Pars iliac, 5 cm,
Pars pub. 6 cm, Höhe der Symphysis pubis 3 cm, seitliche Becken¬
wand 9,5 cm, Spinae 22,5 cm, Cristae 24,5 cm.
Das Kreuzbein steht sehr tief. Das Promontorium befindet sich
zwischen letztem Lumbalis und erstem Sacralis, Ob noch ein zweites
Fig. 4.
Digitized by L^ooQle
üeber Rückgratsverkrümraungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 79
Promontorium vorhanden ist, läßt sich nicht positiv sagen, da die
anderen Lumbalwirbel fehlen. Wahrscheinlich handelt es sich nur
um ein Promontorium, welches 1 cm zu tief sitzt. Fünf Sakralwirbel,
die drei unteren sind nach links abgebogen. Das Sacrum ist stark
ausgehöhlt. Der letzte Lumbalwirbel hat rechts einen stark
ausgebildeten Costalis, ist hier sakral assimiliert. Dieser Costalis ist
mit dem Kreuzbein knöchern verbunden, bildet mit diesem morpho¬
logisch ein Ganzes. Die Zwischenwirbelscheibe zwischen Sacralis I
und letztem Lumbalis ist erhalten. Links ist ein normaler Proc.
transversus ohne jede Andeutung eines Costalis. Links vier, rechts
fünf Sakrallöcher. Die untere Fläche des letzten Lendenwirbelkörpers
ist gerade, die obere abgeschrägt. Seine Höhe beträgt rechts 2,7 cm,
links 1,8 cm. Der dritte Sacralis ist rechts höher wie links, während
der fünfte Sacralis links höher ist wie rechts.
Fig. 5.
Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 12 cm, Conjug. inferior
12 cm, Sagittaldurchmesser 12 cm, Diam. obliqua 14 cm, Diam.
transversa 14 cm.
Beckenmitte: Conjugata 13,5, Transversa 13 cm.
Beckenausgang: Conjug. 11,5 cm, Spina ischii 11,5 cm, Tubera
ischii 12 cm.
Kreuzbein: Höhe 8,5 cm, Breite 11,5 cm, Gelenklänge 6,5 cm.
Fig. 5.
Digitized by L^ooQle
80
K. Gramer.
Seitenbeckenknochen; Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 7 cm, Pars
pub. 7,5 cm, Höhe der Symphysis pubis 4,5 cm, seitliche Becken¬
wand 10 cm, Spinae 25 cm, Cristae 28 cm.
Das Kreuzbein steht gerade, ist symmetrisch. Von seiten des
Promontoriums nichts Besonderes. An der Hinterseite ziemlich nor¬
male Verhältnisse. Der letzte Lumbalwirbel ist stark verändert,
teilweise sakralisiert. Rechts ein unvollkommen ausgebildeter Co-
stalis, der in gelenkige Verbindung tritt mit dem Costalis des Sa¬
cralis I. In diesem Gelenk ein Schaltknochen. An dem Kreuzdarm¬
beingelenk beteiligt sich dieser Costalis nicht. Der linke Processus
transversus des letzten Lumbalis ist ziemlich normal geformt; er ist
mit dem Costalis des ersten Sacralis gelenkig verbunden. Die untere
Fläche des letzten Lumbalis ist gerade, die obere neigt sich von
rechts nach links. Die Höhe des Wirbelkörpers beträgt rechts 3 cm,
links 2,3 cm.
Fig. 6.
Maße: Beckeneingang: Conjugata vera 11 cm, Conjug. inferior
11,5 cm, Sagittaldurchmesser 11 cm, Diam. obliqua 11,5 cm, Diam.
transversa 12 cm.
Beckenmitte: Conjug. 12 cm. Transversa 11 cm.
Beckenausgang: Conjug. 10 cm, Spinae ischii 8 cm, Tubera
ischii 8 cm.
Kreuzbein: Breite 10 cm, Höhe 10 cm, Gelenklänge 5 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 6 cm,
Fig. 0.
Digitized by C^ooQle
Ueber Rückgratsverkrümraungen bei lurabosakralen Assimilationswirbeln. 81
Pars pub. 7 cra, Höhe der Syniphysis pubis 4 cm, seitliche Becken¬
wand 10,5 cm, Spina 22 cm, Cristae 24 cm.
Das Sacrum ist symmetrisch gebaut, ziemlich steil gestellt,
wenig ausgehöhlt. Der letzte Lendenwirbel hat links einen schön
ausgebildeten Costalis, ist hier sakralisiert. Dieser bedingt linker¬
seits eine Doppelung oder Gabelung der Linea terminalis. Das Pro¬
montorium steht 1 cm über dieser Linie. Die Zwischenbandscheibe
oberhalb des ersten Kreuzwirbels ist deutlich vorhanden. Die Co-
stales des letzten Lenden- und ersten Sakralwirbels sind knöchern
ankylosiert. Der lumbale Costalis beteiligt sich ebenfalls am Ileo-
sakralgelenk. Dieser reicht infolgedessen links höher hinauf wie
rechts. Seine obere Grenze befindet sich 1,5 cm über der recht¬
seitigen. Rechts beteiligen sich die Costales des ersten und zweiten
Sacralis an der Facies auricularis. Die untere Fläche des letzten
Lumbalwirbelkörpers ist gerade, die obere von links nach rechts ab¬
geschrägt. Höhe des Wirbelkörpers rechts 2 cra, links 3 cm. An
der Hinterseite des Beckens nichts Besonderes.
Fig. 7.
Maße: ßeckeneingang: Conjug. vera 11 cm, Conjug. inferior
11 cm, Sagittaldurchmesser 10,5 cm, Diam. obliqua 12 cm, Diam.
transversa 11 cm.
Beckenmitte: Conjug. 13,5 cm, transversa 11 cm.
Beckenausgang: Conjug. 12,5 cm, Spina ischii 11 cm, Tubera
ischii 11 cm.
Kreuzbein: Breite 9,5 cm, Höhe 10 cm, Gelenklänge 6 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 6,5 cm,
Pars pub. 6 cm, Höhe der Symphysis pubis 4 cm, seitliche Becken¬
wand 9 cm, Spinae 20 cra, Cristae 22 cm.
Das Sacrum steht gerade, ist stark gewölbt, schmal; beider¬
seits fünf vollkommen ausgebildete Sakrallöcher. Den obersten
Wirbel kann man als Sacralis I oder als letzten Lumbalis auffassen.
Jedenfalls ist er ein Assimilationswirbel. Rechts hat er einen voll¬
kommen sakralisierten Costalis, der sich am Kreuzdarmbeingelenk
beteiligt und mit dem übrigen Kreuzbein knöchern verschmolzen ist.
Links ein unvollkommen ausgebildeter Costalis, der sich ebenfalls
am Kreuzdarmbeingelenk beteiligt und mit dem unter ihm liegenden
Costalis gelenkig verbunden ist. Die Linea terminalis steht rechts
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 6
Digitized by C^ooQle
82
K. Gramer.
Fig. 7.
um einen Wirbel höher wie links. Der Körper des Assimilations¬
wirbels ist asymmetrisch, verdreht, so daß seine ventrale Fläche
links mehr nach hinten steht wie rechts. Die obere und untere
Fläche des Wirbelkörpers ist ungefähr parallel. Seine Höhe be¬
trägt rechts und links 2,8 cm.
Fig. 8.
Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 10 cm, Conjug. inferior
10 cm, Sagittaldurchmesser 10 cm, Diam. obliqua 13 cm, Diam. trans¬
versa 13,5 cm.
Beckenmitte: Conjugata 11 cm, Transversa 12 cm.
Fig. 8.
Digitized by CaOOQle
üeber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 83
Beckenausgang: Conjugata 9,5 cm, Spina ischii 11 cm, Tubera
ischii 10,5 cm.
Kreuzbein: Breite 11 cm, Höhe 9 cm, Gelenklänge 5 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 6 cm,
Pars pub. 7,5 cm, Höhe der Symphysis 4 cm, seitliche Beckenwand
9.5 cm, Spinae 19 cm, Cristae 24 cm.
Es besteht ein doppeltes Promontorium. Eines zwischen Sa¬
cralis I und letztem Lumbalis und ein zweites zwischen letztem und
vorletztem Lumbalis. Der Beckeneingang ist asymmetrisch; das
Kreuzbein ziemlich gerade, normal gekrümmt. Fünf ausgebildete
Sakrallöcher. Der letzte Lumbalis ist stark assimiliert, trägt beider¬
seits einen unvollkommen ausgebildeten Costalis. Dieser ist rechts
stärker entwickelt wie links. Die Costales beteiligen sich auf beiden
Seiten am Ileosakralgelenk, sind mit den darunterliegenden Costales
gelenkig verbunden. Rechterseits an diesem Gelenk ein Schalt¬
knochen. Dieses Gelenk steht tiefer als das linkseitige. Die untere
Fläche des Assimilationswirbelkörpers ist gerade, die obere abge¬
schrägt nach links. Höhe des Körpers rechts 2,7 cm, links 2,4 cm.
Fig. 9.
Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 11 cm, Conjug. inferior
12 cm, Sagittaldurchmesser 12 cm, Diam. obliqua 12 cm, Diam.
transversa 11,5 cm.
Beckenmitte: Conjugata 13 cm. Transversa 10 cm.
Beckenausgang: Conjugata 12 cm, Spina ischii 6,5 cm, Tubera
ischii 7,5 cm.
Kreuzbein: Breite 10 cm, Höhe 9 cm, Gelenklänge 7 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 6 cm,
Pars pub. 7 cm, Höhe der Symphysis pubis 4 cm, seitliche Becken¬
wand 10,5 cm, Spinae 23,5 cm, Cristae 24 cm.
Die linke Beckenhälfte steht 1 cm höher als die rechte. Das
Promontorium befindet sich 2 cm oberhalb der Linea terminalis.
Fünf Sakralwirbel. Die Gelenkfläche wird durch die Costales der
drei obersten Wirbel gebildet. Links hat der Proc. costalis des
ersten Kreuzbeinwirbels nach oben zu eine Gelenktläche für den
leicht sakralisierten Transversus des letzten Lumbalis. So entsteht
links ein sechstes Kreuzbeinloch. Keine deutliche Asymmetrie des
Assimilationswirbelkörpers; keine Abschrägung.
Digitized by
Google
84
K. Crainer.
Fig. 9.
Fig. 10.
Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 12,5 cm, Conjug. inferior
12,5 cm, Sagittaldurchmesser 12,5 cm, Diam. obliqua 14,5 cm, Diam.
transversa 14 cm.
Beckenmitte: Conjug. 14,5 cm. Transversa 13 cm.
Beckenausgang: Conjug. 13 cm, Spina ischii 11cm, Tubera
ischii 12 cm.
Kreuzbein: Breite 11 cm, Höhe 11,5 cm, Gelenklänge 6 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 7 cm,
Pars pub. 8 cm, Höhe der Symphysis pubis 4 cm, seitliche Becken¬
wand 10 cm, Spinae 22 cm, Cristae 25 cm.
Links befindet sich die Linea terminalis über der Massa late¬
ralis des Sacrums an gewöhnlicher Stelle; rechts rückt sie um die
Höhe eines Wirbelkörpers nach oben. An der Stelle, wo sie rechts
sein sollte, ein auffallend großes Kreuzbeinloch. Die Körper der
Sakralwirbel I, 11 und HI stehen gerade; IV und V sind nach rechts
konvex abgebogen. An der Gelenkbildung sind beteiligt rechts der
Costalis des Assimilationswirbels und des Sacralis I und II. Links
nur der Costalis I und II. Der assimilierte Wirbel dürfte dem letzten
Lumbalis entsprechen. Er ist rechts vollkommen sakralisiert, knö¬
chern mit dem Kreuzbein verschmolzen. Keine Spur einer Zwischen¬
bandscheibe. Der Costalis des Assimilationswirbels ist nur in seiner
unteren Hälfte mit dem Ileum artikuliert. Seine obere Gelenkfläche
Digitized by L^ooQle
I eher Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 85
Fig. 10.
ist stark nach links abgeschrägt, sein Körper torquiert asymmetrisch.
Seine Höhe beträgt rechts 3 cm, links 2,5 cm. Die rechte Körper¬
hälfte ist breiter als die linke, steht vor, die linke zurück. Rechts
fünf, links vier Kreuzbeinlöcher.
Fig. 11.
Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 9 cm, Conjug. inferior
9 cm, Sagittaldurchmesser 9 cm, Diam. obliqua 12,5 cm, Diam. trans¬
versa 12,5 cm.
Beckenmitte: Conjug. 10,5 cm. Transversa 12 cm.
Beckenausgang: Conjug. 9 cm, Spina ischii 9,5 cm, Tubera
ischii 10,5 cm.
Kreuzbein: Breite 10,5 cm, Höhe 9,5 cm, Gelenklänge 5 cm.
Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 5,5 cm,
Pars pubica 7 cm, Höhe der Symphysis pubis 3,5 cm, seitliche
Beckenwand 8 cm, Spinae 23 cm, Cristae 25 cm.
Das Promontorium steht sehr hoch, weit über der Linea ter-
rainalis. Sechs Kreuzbeinwirbel. Die Gelenkfläche wird von den
Costales der drei obersten Sacrales gebildet. Keine Asymmetrie.
Die Seitenfortsätze des letzten Lumbalis stehen sehr tief, sind in
abnormer Weise gestaltet, nach oben hin zugespitzt und geschweift,
den Costales der obersten Sacrales genähert.
Digitized by LaOOQle
8G
K. Gramer.
Fig. 11.
Fig. 12.
Kreuzbein 1: Jugendlicher Knochen. Länge 9 cm. Breite
8,5 cra. Zwischenwirbelscheiben deutlich erhalten. Fünf Kreuzbein¬
wirbel. Der letzte Lumbalis ist teilweise assimiliert resp. links un-
Fig. 12.
vollkommen sakralisiert, trägt hier einen Costalis, der mit seinen
Nachbarn vom ersten Sacralis gelenkig verbunden ist und ein sechstes
Kreuzbeinloch bildet. Der Körper des Assimilationswirbels ist nicht
asymmetrisch, nicht abgeschrägt. Die Kreuzbeinkrümmung ist sehr
gering. Rechts ist nur der erste Sacralis artikuliert, links außer
diesem noch der Costalis des Assirailationswirbels.
Kreuzbein 2: Den obersten Wirbel kann man bezeichnen
als ersten unvollkommen ausgebildeten Sacralis oder als stark sakral
assimilierten letzten Lumbalis. Bei der ersteren Benennung hätte
Digitized by LaOOQle
üeber Rückgrats Verkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 87
das Kreuzbein sechs Wirbel, fünf Sakrallöcher. Der Costalis des
obersten ist rechts unvollkommen gebildet. Beiderseits treten die
Costales mit den darunterliegenden in gelenkige Verbindung. An
beiden Gelenken Schaltknochen. Die Zwischenwirbelscheibe ist er¬
halten. Der vierte und fünfte Sakralwirbel ist stark nach vorne
konkav abgebogen. Das Promontorium befindet sich an der oberen
Kante des Assimilationswirbels. Keine Asymmetrie dieses Wirbels.
Länge des ganzen Knochens 10,5 cm, Breite 10,5 cm.
Fig. 13.
Kreuzbein 3: Der oberste Wirbel bietet deutliche Zeichen
der unvollkommenen Assimilation linkerseits. Hier hat er den Cha¬
rakter des Sacralis, rechts des Lumbalis. Links ist sein Costalis
vollkommen ausgebildet, knöchern mit seinen darunterliegenden Nach¬
barn verschmolzen. Der Wirbelkörper ist asymmetrisch; seine obere
Fig. 13.
Fläche fällt stark nach rechts ab, die untere ist gerade. Die Höhe
beträgt rechts 2,5 cm, links 3 cm. Zwischen dem ersten und zweiten
Wirbel eine Zwischenwirbelscheibe. Das Kreuzbein ist stark nach
hinten konvex ausgebogen. Die Sakrallöcher sind auffallend groß.
Wahrscheinlich zwei Promontorien. Die Gelenkfläche wird
gebildet rechts vom zweiten und dritten Costalis, links vom ersten
und zweiten.
Fig. 14.
Kreuzbein 4. Es bestehen zwei Promontorien.
Der oberste Wirbel ist ein Assimilationswirbel. Seine Costales
sind nicht vollkommen sakral und nicht beiderseits gleichmäßig aus-
Digitized by CaOOQle
88
K. Gramer.
gebildet. Sie artikulieren mit den darunterliegenden Costales. Das
linke Gelenk liegt höher als das rechte; seine Flüchen zeigen andere
Form und Verhältnisse als das rechte. Die Zwischen wir beischeibe ist
Fig. 14.
erhalten. Keine Asymmetrie des Wirbelkörpers. Beiderseits fünf
Sakrallöcher. Der Körper des Sacralis III ist von sehr geringer Höhe
(Fraktur?). Die Sacrales IV und V biegen sich beinahe rechtwinklig
nach hinten konvex ab. Breite des Kreuz¬
beines 10 cm, Höhe 8 cm.
Kreuzbein 5: Es ist auffallend
lang. Der oberste oder Assimilations¬
wirbel zeigt rechts vollkommene, links
unvollkommene Sakralisierung. Rechts
ist sein Costalis mit den darunterliegen¬
den knöchern, links gelenkig verbunden.
Die Gelenkfläche wird gebildet rechts
vom ersten und zweiten, links nur vom
zweiten Costalis. Beiderseits fünf Kreuz¬
beinlöcher. Der Körper des Assimi¬
lationswirbels ist nicht asymmetrisch. Das Kreuzbein ist stark kypho-
tisch gebogen. Seine Höhe beträgt 8,5 cm, seine Breite 10 cm.
Fig. 15.
Kreuzbein 6: Das typische Bild des sechs wirbeligen Kreuz¬
beines oder mit anderen Worten des vollkommen symmetrisch sakrali-
sierten letzten Lendenwirbels. Die Kreuzbeinhöhe beträgt 12,5 cm,
seine Breite 13 cm, die Gelenklänge 7 cm.
Digitized by L^ooQle
Ueber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswiibeln. 89
Dem Direktor der Marburger Anatomie, Herrn Geheimrat
Gasser, sage ich für die liebenswürdige Ueberlassung der Präparate
besten Dank.
Literatur.
Bergmann, Ueber dorsolumbule elc. Zeitschr. f. rationelle Medizin 1862,
Bd. 14 Heft 2.
Rokitansky, Handbuch der speziellen pathologischen Anatomie. Wien 1844.
W. Raab, Ueber das Zustandekommen etc. Wiener med. Jahrbücher 1880,
Heft 1.
Hoffa, Lehrbuch der orthopäd. Chirurgie.
Schultheß (im Handbuch der orthopäd. Chirurgie von Joachimsthal).
Holl, Ueber die richtige Deutung etc. Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie
der Wissenschaften Bd. 85 Heft 3. Wien 1882.
Hasse, Ungleichheit der beiden Hälften etc. Arch. f. Anatomie u. Physiologie,
Anat. Abteilg. 1891.
Waldeyer. Das Becken. 1899.
A. M. Paterson, The human Sacrum. 1893.
Luschka, Anatomie des Menschen. 1864.
Hyrtl, Ueber Anomalien des menschlichen Steißbeines. Wien 1886. Sitzungs¬
berichte der k. k. Akademie der Wissenschaften.
Petersen, Untersuchungen zur Entwicklung des menschl. Beckens. Arch. f.
Anatomie u. Entwicklungsgeschichte 1893.
Rosenberg, Ueber die Entwicklung der Wirbelsäule etc. Morphol. Jahrbücher
von Gegenbauer 1876, Bd. 1.
Gegenbauer, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 1899.
Bisse, Skelettlehre.
Dürr. Zeitschr. f. rationelle Medizin 1860.
Thomas, Das schräg verengte Becken. Leyden 1860.
Rokitansky, Beiträge zur Kenntnis der Rückgratsverkrümmungen etc. Med.
Jahrbücher. Wien 1839.
Hr. Meyer, Mißbildungen des Beckens. 1886.
H. Adolphi, Ueber dje Variationen des Brustkorbes etc. Gegenbauers Mor¬
phol. Jahrbuch 1905, Bd. 33.
Böhm, Kongreß f. Orthopädie J907.
Perönne, Ueber kongen. Skoliose. Zeitschr. f. Orthopädie.
Hr. Gegenbauer, Zur Bildungsgeschichte lumbosakraler Uebergangswirbel.
Jenaische Zeitschr. f. Medizin etc. 1871, Bd. 7.
Frankel, Beiträge zur anatom. Kenntnis etc. Jenaische Zeitschr. f. Medizin etc.
1871, Bd. 7.
Böhm, Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen. 1907.
Breuß und Kollisko, Pathologische Beckenformen.
Digitized by
Google
V.
(Mitteilungen aus dem orthopädischen Institut von Dr. A. Lüning
und Dr. W. Schultheß, Privatdozenten in Zürich.)
Ueber eine Form von Bernfsskoliose*).
Von
Dr. Wilhelm Schultheß.
Mit 1 Abbildung.
Während eines kurzen Aufenthaltes in Venedig ist mir dort die
eigentümliche Haltung der Gondolieri aufgefallen. Sie führen be¬
kanntlich meistens ihre Gondel mit einem Ruder, welches hinten an
der rechten Schiffsseite seinen Stützpunkt hat. Sie sind dabei ge¬
nötigt, eine vollständig asymmetrische Stellung einzunehmen und zwar
gerade im Momente der größten Kraftanstrengung. Der Gondoliere
faßt das lange Ruder mit der linken Hand am äußeren Ende, mit
der rechten 40—50 cm weiter unten und stellt den rechten Fuß auf
ein am hinteren Schiffsende vorhandenes, schief ansteigendes Brettchen.
Die Ruderexkursion wird nun wie bei allen Stehrudern nicht
nur durch Strecken der Arme, sondern auch durch eine Senkung
des Kumpfes unter Biegung im Hüftgelenk erreicht. Diese Beugung
geht so weit, daß sich der Rumpf bei kräftiger Arbeit fast horizontal
vorwärts legt, und weiter wird die Exkursionsgröße vermehrt durch
den Zehenstand des rechten zurückstehenden Beins. Der vorge¬
schobenste Punkt ist demnach die linke, das Ruder umfassende
Hand, der am weitesten zurückliegende der rechte im Zehenstand
befindliche Fuß.
Diese Stellung gibt nun ohne weiteres die Veranlassung zu einer
S-förmigen Biegung der Wirbelsäule und zwar zu einer rechtskon¬
vexen Abbiegung über dem Kreuzbein und zu einer linkskonvexen
im oberen Teile der Wirbelsäule, denn je mehr sich der Rumpf hori-
’) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908.
Digitized by e^ooQie
lieber eine Form von Berufsskoliosc.
91
zontal legt und die Beine ebenfalls eine Neigung nach vorn annehmen,
desto mehr äußert sich der ungleiche Stand der Füße in einer Wen¬
dung des Beckens nach rechts, und je weiter die Exkursion
des Ruders getrieben wird, desto mehr entsteht für den Ruderer das
Bedürfnis, mit allen Kräften die linke Schulter vorzuschieben bezw.,
wenn wir die horizontale Lage in die vertikale normale übersetzen,
emporzudrängen. Er wird zur Unterstützung den Thorax auf der
linken Seite und oben stärker wölben als rechts und in mehrfacher
Beziehung das allgemein gültige Gesetz an seiner Bewegung erkennen
lassen, wonach jeder Krafteinwirkung auf das Skelett womöglich ein
durch aktive Kräfte hergestelltes Gewölbe entgegengesetzt wird.
Aber nicht nur in dem erwähnten Punkte liegt die Veranlassung
zu der beschriebenen Biegungsform der Wirbelsäule. Man sieht bei
Beobachtung des Gondoliere, wie er durch die Führung des Ruders
im Momente des stärksten Vorstoßes durch seinen linken, am Ruder
fixierten Arm mit seinem Oberkörper über den Rand des Schiffes
hinausgeführt wird, umsomehr, je flacher das Ruder im Wasser faßt.
Der Oberkörper bekommt beinahe das Uebergewicht, und um nicht
das Gleichgewicht zu verlieren, bewegt er seinen Unterkörper durch
eine leichte Schwenkung der Beine im Fußgelenk nach rechts und
vermehrt dadurch die S-förraige Abbiegung der Wirbelsäule. Die Ab¬
wicklung der Ruderbewegung gewinnt dadurch etwas Schlangenartiges.
Eine so eigenartige. Tag für Tag sich wiederholende Bewegungs¬
form kann selbstverständlich nicht ohne Folgen für die Form des
Skelettes sein, umsoweniger, als gerade die typische Form der Aus¬
biegung der Wirbelsäule im oberen Teil nach links in dem Moment
am deutlichsten ist, in welchem das Skelett den größten Gegendruck
gegen die Arbeit der eigenen Muskulatur auszuhalten hat. Es wird
sich hier eine Prägung dieser Form nach und nach geltend machen
müssen. Die Betrachtung der Figuren der Gondolieri hat denn auch
meinen ersten Eindruck, daß es sich hier um eine typische Berufs-
forra handle, bestätigt.
Da ich mich leider nicht in der Lage befand, eine Massen¬
untersuchung vorzunehmen, so mußte ich mich damit begnügen, eine
der typischen Figuren photographisch zu fixieren. Man sieht an dem
Bilde (siehe Figur), daß hier wirklich eine linkskonvexe dorsale
Skoliose vorliegt, welche ziemlich weit hinab reicht, so daß in der
Gegend der rechtseitigen unteren Rippen noch eine deutliche Ein¬
ziehung, mit anderen Worten rechtseitige Konkavität vorhanden ist.
Digitized by
Google
92
Wilhelm Schultheß.
Links oben steht der Thorax hoch, das Schulterblatt ist nach außen
abgeschoben, man sieht, daß die Wölbung der linkseitigen Rippen
erheblich deutlicher ist als die der rechtseitigen. Der Schulterstand
ist dadurch auch in der Höhe ein sehr ungleicher geworden, was
sich unter anderem auch sehr gut an der ungleichen Höhe der beiden
Ellbogen ausspricht. Das kyphotische Moment ist bei dieser Form
der Skoliose ziemlich stark ausgeprägt, was damit Zusammenhängen
mag, daß das Objekt ein öOjähriger Mann war. Die Abknickung
der Wirbelsäule über dem Kreuzbein ist in unserem Bilde kaum
sichtbar. Sie macht sich nur durch den rechts etwas stärker ent¬
wickelten Muskelwulst der Lendengegend geltend.
Obwohl ich nun keine weiteren Untersuchungen zur Verfügung
hatte, so paßt die hier dargestelltc Skoliose so ganz und gar in den
Bewegungs- und Arbeitstypus des Gondoliere und ist bei so vielen,
so weit ich durch die Kleider entdecken konnte, vorhanden, daß ich
nicht anstehe, denselben als typisch zu bezeichnen. Wie meine Unter¬
haltung mit einzelnen Gondolieri ergab, ist ihnen übrigens selbst
bekannt, daß sie alle schief seien. Daß die Skoliose nicht sehr
auffällt, ist nicht zam mindesten der beliebten Pose zuzuschreiben,
welche diese Leute unter Vorstellung und Biegung des rechten Beins
Digitized by C^ooQle
lieber eine Form von Berufsskoliose.
93
im Kniegelenk einnehmen, welche sie beispielsweise auch dann öfters
innehalten, wenn sie, mit der linken Hand den Hut lüftend, die
rechte zum Empfang des Honorars ausstrecken.
Das Interesse dieser Berufsdeformität liegt darin, daß sie auf
dynamischem Wege entsteht und deshalb sehr geeignet ist, die
alten Ideen, wonach immer tote ruhende Belastung für die Entstehung
der Deformitäten beigezogen wird, zu durchbrechen. Die Muskel¬
arbeit in Kombination mit den zu überwindenden Wider¬
ständen und der durch dieselben gegebenen Führung der
Bewegung in bestimmter Bahn hat die Formveränderung zu
stände gebracht, und so ist hier, trotzdem auch die rechte Seite
kräftig mitarbeitet, eine Deformität entstanden. Sie ist entstanden
unter den Bedingungen, welche wir früher bei der Besprechung der
funktionellen Orthopädie als wesentlich für die Erreichung eines Re¬
sultats aufgestellt haben: unter Umkrümmung und Arbeit in
bestimmter Stellung. In der uingekrümmten, der Last
sich entgegenwölb enden Biegungsform der Wirbelsäule
und der Rippen stemmt sich die Muskelkraft des Gon¬
doliere gegen das Ruderende.
Ich will nicht unterlassen, auf die im allgemeinen sehr gut
entwickelte Muskulatur der Gondolieri aufmerksam zu machen. Bei
dieser Arbeit ist das nicht anders zu erwarten.
Der Freundlichkeit des Herrn Kollegen Bin da aus Mailand
verdanke ich einen Artikel von Professor Fabio Vitali aus Venedig,
in welchem derselbe sich am internationalen Kongreß für die Berufs¬
krankheiten, Mailand 1906, über die Veränderungen des Skeletts und
des Zirkulationsapparates der venezianischen Gondolieri und Barcajoli
ausläßt. Er erwähnt hier die eigentümliche hohe Kyphose der Dorsal¬
wirbelsäule bei den älteren Männern und bemerkt, daß öfters eine
leichte rechtskonvexe lumbale Deviation vorhanden sei. Die letztere
Beobachtung würde demnach mit der upserigen übereinstimmen. Im
übrigen findet aber Vitali, daß nur selten erhebliche Deformationen
des Skeletts nachweisbar seien und betrachtet die Muskelentwicklung
als eine gleichmäßige. Trotz seiner Beobachtung möchte ich aber
doch an meiner oben gegebenen Auseinandersetzung festhalten, es
handelt sich ja auch nicht um erhebliche Deformierung, aber doch
um eine außerordentlich charakteristische Ausprägung der
in nicht zu verkennendem Grade asymmetrischen Arbeits¬
form am Skelett.
Digitized by
Google
VI.
lieber die Wirkung der Muskeln’).
Von
Prof. Dr. Otto Fischer-Leipzig.
Der Aufforderung Ihres Herrn Vorsitzenden, Ihnen aus meinem
speziellen Arbeitsgebiet irgend einen Vortrag zu halten, leiste ich
um so lieber Folge, als dieselbe mir die erwünschte Gelegenheit
bietet, Ihnen zu zeigen, daß die Anwendung exakter mathematisch¬
physikalischer Methoden auch in manchen Zweigen der Medizin nicht
nur möglich, sondern vielmehr unentbehrlich ist, wenn man die
Funktion und Wirkungsweise bestimmter Bestandteile und Einrich¬
tungen im lebenden Körper richtig beurteilen, und Abweichungen
von der Norm auf ihre Ursachen zurückführen will. Um dies an
einem besonders einleuchtenden Beispiele zu erörtern, habe ich als
Thema die Wirkung der Muskeln gewählt.
Es kann natürlich nicht meine Aufgabe sein. Ihnen auch nur
von den wichtigeren Muskeln und Muskelgruppen des menschlichen
Körpers die Wirkung genau auseinander zu setzen und die Rolle
klarzustellen, welche einem jeden Muskel bei der Erzeugung be¬
stimmter Bewegungen des lebenden Menschen zufällt. Ich sehe mich
im Gegenteil genötigt die Illusion zu zerstören, als ob man nach
unserer heutigen Kenntnis der Muskeltätigkeit schon im stände wäre,
diese Aufgaben in allen Fällen zu lösen. Da, wie Sie erkennen wer¬
den, mit wenigen Worten überhaupt nicht die Wirkungsweise eines
Muskels beschrieben werden kann, sondern man über jeden Muskel
eine besondere Monographie schreiben müsste, um das Thema in
nur einigermaßen erschöpfender Weise zu behandeln, so würde auch
die mir zugemessene Zeit ein derartiges Eingehen auf spezielle Fälle
gar nicht zulassen.
’) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by
Google
üeber die Wirkung der Muskeln.
95
Ich muß mich vielmehr darauf beschränken, Ihnen in ganz
groben Zügen einige allgemeine Gesichtspunkte, Grundsätze, sowie
Flegeln und Gesetze anzuführen, welche für die Beurteilung der
Muskeltätigkeit in Rücksicht zu ziehen sind. Dabei werden Sie
selbst erkennen, inwiefern die verschiedenen Methoden, welche man
für die physiologische Untersuchung der Muskeln anzuwenden pflegt,
zu einem einwandfreien und erschöpfenden Resultate führen können.
Um Ihre Geduld nicht zu lange in Anspruch zu nehmen, werde
ich hauptsächlich nur solche Punkte hervorheben, welche vielfach
nicht in genügendem Maße berücksichtigt worden sind, und deren
Außerachtlassung in der Regel zu falschen Vorstellungen über die
Tätigkeit der Muskeln führen muß und auch tatsächlich geführt hat.
Ein erster Punkt, welcher für die Beurteilung der Muskel¬
wirkung fundamentale Bedeutung besitzt, ist die zweiseitige Kraft¬
entfaltung eines Muskels. Sobald ein Muskel zur Kontraktion ge¬
bracht wird, oder auch nur durch seine rein elastische Spannung
wirkt, übt er stets in zwei entgegengesetzten Richtungen Kräfte
aus. Er zieht nicht nur mit einer bestimmten Kraft am sogenannten
Ansatzpunkte, bezw. einem mittleren Punkte der Ansatzfläche, in der
Richtung nach dem Ursprung hin, sondern er zieht unter allen Um¬
ständen gleichzeitig mit einer gleich großen Kraft am Ursprung in
der Richtung nach dem Ansatz hin. Dieses Gesetz gilt ganz allgemein,
ohne irgend welche Ausnahme. Es verhält sich in dieser Beziehung
ein Muskel genau so wie ein über seine natürliche Länge ausgedehnter
Gummistrang, welcher auch stets seine beiden Enden einander zu
nähern sucht. Diese zweiseitige Kraftentfaltung ist auch ganz un¬
abhängig davon, welche Vorgänge im Innern des Muskels die Kon¬
traktion verursachen; sie ist im Grunde nur ein spezielles Beispiel
für das allgemein gültige Newton sehe Gesetz der Gleichheit von
Aktion und Reaktion.
Als unmittelbare Folge dieser doppelten Krafteinwirkung eines
Muskels ergibt sich, daß in der Regel beide Insertionsstellen in Be¬
wegung geraten, wenn ein Muskel allein zur Kontraktion gebracht
wird. Schon mit dieser Tatsache stehen die Angaben mancher Lehr¬
bücher über die Wirkung einzelner Muskeln insofern im Widerspruch,
als dieselben oft stillschweigend den Ursprung als feststehend an¬
nehmen und nur die Bewegung des Ansatzkörperteils berücksichtigen.
Wenn nun auch die im Ansatz und im Ursprung angreifenden
Muskelkräfte an Größe gleich und nur in der Richtung verschieden
Digitized by
Google
96
Otto Fischer.
sind, so ist damit doch keineswegs gesagt, daß auch der Umfang
der Bewegungen der beiden In.sertionsstellen gleich groß zu sein
braucht. Die unter dem Einfluß einer Kraft eintretende Bewegung
eines Körpers hängt ja nicht allein von der Größe dieser Kraft,
sondern auch von der Masse und der Massenverteilung innerhalb
des Körpers und den Bedingungen für die Beweglichkeit desselben
ab. So spielen auch die Masse und die Massenverteilung innerhalb
der einzelnen Abschnitte des menschlichen Körpers und die dieselben
verbindenden Gelenke eine bestimmende Rolle bei der Erzeugung
des Effektes der Kontraktion eines Muskels.
Stellen Sie sich ein frei im Raume schwebendes und der Schwere
nicht unterworfenes lebendes Wesen vor, welches nur aus zwei etwa
durch ein Kugelgelenk verbundenen Gliedern von gleicher Masse
besteht, und bei welchem beide Glieder in Bezug auf das Gelenk
symmetrische Gestalt und Massenverteilung besitzen, dann würde ein
in gleicher Entfernung vom Gelenk in entsprechenden Punkten der
beiden Glieder inserierender Muskel bei seiner Kontraktion dem
Ursprung eine gleich große Bewegung erteilen wie dem Ansatz, nur
mit dem Unterschied, daß die Richtungen beider Bewegungen ver¬
schieden wären. Denken Sie sich aber das Ursprungsglied von
größerer Masse, oder aus irgend einem Grunde schwerer beweglich
als das Ansatzglied, so ist vorauszusehen, daß der Ursprung eine
kleinere Bewegung ausführen würde als der Ansatz. An seiner Stelle
würde der Ursprung bei der Kontraktion des Muskels aber nur dann
verharren können, wenn sich entweder die Masse des Ansatzgliedes
verschwindend klein gegenüber der Masse des Ursprungsgliedes her¬
ausstellte, oder wenn durch besondere Kräfte das Ursprungsglied
festgestellt wäre.
Der Fall, daß die Masse eines Körperteils gegenüber der eines
anderen Teiles vernachlässigt werden darf, kann natürlich im mensch¬
lichen Körper nicht im strengen Sinne Vorkommen; immerhin findet
er sich aber bei manchen Muskeln, wie den Augenmuskeln, den
beiden Muskeln im Mittelohr und einigen anderen wenigstens an¬
nähernd verwirklicht. Daher begeht man in diesen Fällen keinen
nennenswerten Fehler, wenn man für die Untersuchung der Wirkung
der genannten Muskeln den Ursprung als feststehend annimmt. Ganz
anders gestalten sich aber die Verhältnisse, wenn man einen Ex¬
tremitätenmuskel in Betracht zieht. Hier hat man es in der Regel
nicht mehr mit einem auch nur annähernd unendlich großen Massen-
Digitized by C^ooQle
lieber die Wirkung der Muskeln.
97
Verhältnis der beiden Körperteile zu tun. Infolgedessen werden dann
im allgemeinen auch beide Körperteile bei alleiniger Kontraktion
des Muskels in Bewegung gesetzt, falls nicht etwa einer der beiden
durch besondere, dem Muskel fremde Kräfte an der Bewegung ge¬
hindert wird.
Eine zweite wichtige Tatsache, welche ebenfalls von grund¬
legender Bedeutung für die Wirkungsweise der Muskeln, insbeson¬
dere der Skelettmuskeln ist, besteht darin, daß ein Muskel nicht in
erster Linie die Gelenke, sondern die Körperteile selbst in Drehung
zu versetzen sucht ^). Die Wirkung auf die Gelenke ist erst eine
sekundäre Erscheinung. Bei einem eingelenkigen Muskel tritt dieser
Unterschied nicht so deutlich hervor wie bei den mehrgelenkigen
Muskeln. Denn ein eingelenkiger Muskel sucht bei seiner Kon¬
traktion in der Regel die beiden Körperteile, an denen er inseriert,
in entgegengesetztem Sinne zu drehen, d. h. also ihre Richtung im
Raume zu ändern; er wird daher auch gleichzeitig eine Bewegung
im Gelenk verursachen. Ein mehrgelenkiger Muskel kann dagegen
sehr wohl zwei benachbarte Körperteile im gleichen Sinne und um
den gleichen Winkel im Raume drehen; infolgedessen wird er in
diesem Falle überhaupt keine Aenderung in der Gelenkstellung her¬
vorbringen, also keine Wirkung auf das die beiden Körperteile ver¬
bindende Gelenk ausüben.
Eine Drehung eines Körpers kann nun niemals durch eine
Kraft allein hervorgebracht werden. Es ist dazu stets die Ein¬
wirkung eines sogenannten „Kräftepaares“ erforderlich, d. h. zweier
Kräfte, welche an Größe gleich, aber in ihrer Richtung entgegen¬
gesetzt sind, und dabei nicht in dieselbe Gerade hineinfallen, son¬
dern in parallelen Geraden wirken. Dieser Lehrsatz der Mechanik
findet sich überall bestätigt, wenn auch die beiden Kräfte des Paares
nicht immer ohne weiteres zu erkennen sind, indem sie zuweilen
erst durch einen Druck oder Zug, oder durch die Reaktion gegen
einen an irgend einer Stelle des Körpers verursachten Druck oder
Zug verursacht werden.
So läßt sich in der Tat in allen Fällen, in denen ein Muskel
einen Körperteil in Drehung zu versetzen sucht, nachweisen, daß er
durch Vermittlung des Gelenkdrucks auf denselben mit einem Kräfte¬
paar einwirkt ^). Auch die übrigen an einem Körperteil angreifenden
Um nicht falsch verstanden zu werden, will ich hier gleich hervor¬
heben, daß ich unter „Drehung“ wie es in der Mechanik üblich ist, die Rich-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 7
Digitized by CiOOQle
98
Otto Fischer.
\
I
f
Kräfte, wie z. B. die Schwerkraft, die Bänderspannungen und andere
wirken, wie sich im gegebenen Falle leicht ableiten läßt, mit Kräfte¬
paaren auf denselben ein, sobald sie ihn in Drehung zu versetzen
suchen. Dabei ist das sogenannte Moment eines jeden Kräftepaares,
d. h. das Produkt aus der Kraftgröße und dem Abstand der beiden
parallelen Geraden, maßgebend für das auf den Körperteil ausgeübte
Drehungsbestreben; man bezeichnet es deshalb auch als „Drehungs¬
moment“.
Hat man für einen Muskel die sämtlichen Drehungsmomente
bestimmt, mit welchen er die einzelnen Körperteile zu drehen sucht,
so ist damit die Wirkungsweise desselben klargestellt, so weit sich
der Muskel an der Hervorbringung von Ruhehaltungen und Gleich¬
gewichtsstellungen des ganzen Körpers oder einzelner Abschnitte des¬
selben beteiligt. Denn im Falle des Gleichgewichts ist nur erforder¬
lich, daß für jeden einzelnen Körperteil alle an ihm angreifenden
Kräftepaare sich gegenseitig in ihrer drehenden Einwirkung aufheben.
Für die Beurteilung der von einem Muskel hervorgerufenen Glieder¬
bewegungen reicht dagegen die Kenntnis seiner Drehungsmomente
allein nicht aus. Die Gesamtheit der Drehungsmomente eines Muskels
bildet daher nur ein statisches Maß für seine Wirkungsweise.
Aus der Tatsache, daß ein Muskel bei seiner Kontraktion, oder
auch nur infolge seiner rein elastischen Spannung, auf alle zwischen
seinen Insertionsstellen befindlichen Körperteile Drehungsmomente
ausübt, folgt unmittelbar das lange Zeit verkannte und auch heute
wohl noch nicht allgemein bekannte und richtig verstandene Resultat,
daß die Muskeln in der Regel nicht nur auf die Gelenke einzuwirken
suchen, über welche sie hinwegziehen, sondern auch auf Gelenke,
welche scheinbar ganz außerhalb ihres Wirkungskreises liegen.
Nehmen wir z. B. irgend einen Muskel, welcher wie der
Brachialis, der Brachioradialis, die eingelenkigen Köpfe des Triceps
brachii am Oberarm seinen Ursprung hat, so sucht derselbe nach
dem eben Gesagten mit einem Kräftepaar nicht nur den Unterarm,
sondern auch den Oberarm zu drehen. Die Drehung des Oberarms
wird keineswegs dadurch unmöglich gemacht, daß der Oberarm im
tungsänderung eines Körpers im Raume im Gegensatz zu der Parallelverschie¬
bung desselben, bei welcher alle Punkte konkruente Bahnen beschreiben, ver¬
standen wissen will. Tn der Anatomie ist es ja üblich, mit „Rotation“ nur eine
bestimmte Bewegung zu bezeichnen, nämlich die Drehung eines Körperteils um
seine Längsachse.
Digitized by
,y Google
üeber die Wirkung der Muskeln.
99
Schultergelenk an den Schultergürtel und den Rumpf geheftet ist.
Es wird daher ein jeder dieser Muskeln nicht nur im Ellbogengelenk,
sondern auch im Schultergelenk eine Drehung hervorzubringen suchen,
trotzdem er gar nicht über dasselbe hinwegzieht. Desgleichen werden
die drei eingelenkigen Teile des Quadriceps femoris und schließlich
auch der Gastrocnemius auf das Hüftgelenk einwirken, trotzdem sie
mit keiner Faser an demselben vorüberziehen. Daß das Schulter¬
gelenk im einen und das Hüftgelenk im anderen Falle wirklich in
Bewegung versetzt werden, sobald die betreffenden Muskeln nicht
bloß sich an der Sicherung einer Gleichgewichtsstellung beteiligen,
sondern eine Gliederbewegung hervorbringen, davon werden wir
nachher noch zu reden haben.
Von großer Wichtigkeit für die Untersuchung der Wirkung
eines Muskels, insbesondere für die Bestimmung seiner Drehungs¬
momente, und auch von nicht zu unterschätzender praktischer Be¬
deutung, z. B. für die Beurteilung des Erfolges einer Sehnentrans¬
plantation, ist ein weiterer Punkt, der sich auf den Einfluß bezieht,
den die Insertionsweise eines Muskels auf seine Wirkung ausübt.
Die wirklichen Inseiiiionspunkte bezw. Insertionsflächen eines
Muskels kommen nämlich nur dann für seine Funktion in Betracht,
wenn es dem Muskel gestattet ist, sich ungehindert zwischen den¬
selben auszuspannen. Ist er dagegen durch Knochenvorsprünge,
Rollen, Bänder, Bandschleifen, Sehnenscheiden oder auch unter ihm
liegende Muskeln aus dem geradlinigen Verlaufe abgelenkt, so ist
für die Wirkungsweise des Muskels stets nur der Verlauf und die
Richtung desjenigen Stückes maßgebend, welches sich frei von einem
Körperteil zum benachbarten erstreckt. An Stelle der wahren In¬
sertionen zeigen sich daher als ausschlaggebend für die Wirkung
diejenigen Punkte, welche das maßgebende Stück des Muskels be¬
grenzen. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob auf dieser Strecke
Muskelfasern vorhanden sind, oder ob, wie es vielfach der Fall ist,
der Muskel nur mit einem kleinen Teile seiner Endsehne sich ge¬
radlinig von einem Gliede zum anderen hinüberspannt.
Nehmen wir beispielsweise den Tibialis anterior, so braucht
man nur diejenigen Punkte des oberen und unteren medialen Schen¬
kels vom Ligamentum cruciatum cruris aufzusuchen, zwischen denen
seine Ansatzsehne sich von der Tibia nach der Fußwurzel erstreckt,
um die Drehungsmomente bestimmen zu können, mit denen er auf
den Unterschenkel einerseits und auf den Fuß als Ganzes anderseits
Digitized by e^ooQle
100
Otto Fischer.
einwirkt. Daß der Ursprung dieses Muskels über eine große Fläche
am Condjlus lateralis und der Facies lateralis der Tibia und außer¬
dem an der Membrana interossea cruris und der Fascia cruris aus¬
gedehnt ist, hat auf seine Wirkungsweise gar keinen Einfluß. Die
Wirkung des Tibialis anterior würde der Art nach dieselbe bleiben,
wenn er seine Ursprungsfläche etwa mit der des Tibialis posterior,
des Soleus, des Peronaeus longus oder irgend eines anderen am
Unterschenkel entspringenden Muskels vertauschte, sofern nur das
maßgebende Stück seiner Endsehne nicht geändert würde, und die
Längen der einzelnen Muskelfasern sich den veränderten Verkürzungs¬
möglichkeiten angepaßt hätten.
Welche Vereinfachung für die Untersuchung der Satz von der
maßgebenden Strecke eines Muskels mit sich bringt, geht vielleicht
bei keinem Muskel deutlicher hervor als bei den drei am Femur
entspringenden Teilen des Quadriceps femoris, nämlich dem Vastus
lateralis, Vastus intermedius und Vastus medialis, für deren Ge-
samtwirkung nur der Verlauf des zwischen der Patella und der
Tuberositas tibiae sich erstreckenden Ligamentum patellae in Frage
kommt. Es sind daher genaue Untersuchungen über die Lage der
Ursprungsflächen dieses dreiteiligen Muskels, über seine Gestalt und
den Verlauf seiner Fasern ganz belanglos für die Wirkungsart; von
Bedeutung ist nur die Anzahl der Muskelfasern, insofern von ihr
die Größe des physiologischen Querschnitts des Muskels abhängt.
Welchen Vorteil aber der Satz für die orthopädische Chirurgie,
insbesondere für die Sehnentransplantation darbietet, brauche ich Ihnen
nicht auseinanderzusetzen. Es ist im Prinzip durchaus möglich,
einen Muskel betreffs seiner Wirkungsart vollkommen durch einen
anderen zu ersetzen, wenn man nur durch geeignete Mittel, wie
Verlegen der Endsehne und Erzeugen künstlicher Bandschlingen,
das maßgebende Stück des zu ersetzenden Muskels richtig herstellt.
Die bisherigen Beispiele bezogen sich in der Hauptsache auf
eingelenkige Muskeln.
Handelt es sich nun um einen mehrgelenkigen Muskel, welcher
sich nicht ungehindert zwischen seinen Insertionsstellen ausspannen
kann, so findet man oft, daß derselbe durch Knochenvorsprünge
oder andere Einrichtungen in mehrere eingelenkige Muskeln zerlegt
erscheint. Die Wirkung des Muskels ist dann in der Tat die gleiche,
als ob er aus einzelnen, voneinander getrennten, eingelenkigen
Muskeln bestände. Der Zusammenhang zwischen denselben kommt
Digitized by
Google
üeber die Wirkung der Muskeln. 101
nur dadurch zum Ausdruck, daß stets alle Teile gleichzeitig dieselbe
Spannung besitzen.
Nehmen Sie als Beispiel den langen Kopf des Biceps brachii,
80 ergibt sich, daß derselbe durch den Humeruskopf, über welchen
sich seine lange ürsprungssehne hinweglegt, in zwei eingelenkige
Teile zerlegt wird, von denen der eine über das Schultergelenk und
der andere über das Humeroradialgelenk hinwegzieht. Trotzdem der
eine Teil überhaupt keine Muskelfaser enthält, so besitzt er doch
stets die gleiche Spannung wie der andere.
In ähnlicher Weise werden die langen Fingerbeuger und
-Strecker durch Bänder und Sehnenscheiden bezw. Knochenvor¬
sprünge in eine Reihe gleichgespannter eingelenkiger Muskeln zer¬
legt, welche in ihren wirksamen Stücken gar keine Muskelfasern
aufweisen.
Es ist, um einen naheliegenden Vergleich anzustellen, bei allen
diesen Muskeln so, als ob die Kraftmaschine in einem besonderen
Raume sich befände und die von derselben erzeugte Kraft durch
Transmissionen, als welche hier die langen Sehnen aufzufassen sind,
nach einer entfernten Stelle verlegt worden wäre.
Während man mit der Aufstellung der von einem Muskel aus¬
geübten Drehungsmomente die statische Wirkungsweise desselben
vollkommen klargelegt hat, läßt sich, wie gesagt, aus dieser Kennt¬
nis allein noch kein Schluß auf die bei alleiniger Kontraktion des
Muskels oder unter Mitwirkung anderer Kräfte eintretende Bewegung
ziehen. Denn diese hängt ja außerdem von der Masse und der
Massenverteilung innerhalb der einzelnen Körperteile, soweit sie in
der Lage des Schwerpunktes und der Größe der Trägheitsmomente
ihren Ausdruck findet, ab; sie wird außerdem nicht nur von der
Art der Gelenkverbindungen zwischen den einzelnen Gliedern und von
den bei der Kontraktion vorhandenen Gelenkstellungen, sondern auch
noch von anderen Bedingungen für die Bewegungen beeinflußt.
So ist es z. B. für den Effekt der Kontraktion eines Muskels
der unteren Extremität nicht gleichgültig, ob das betreffende Bein
auf dem Fußboden aufsteht oder ob es im Hüftgelenk frei hin und
her schwingen kann. Es lassen sich daher die mittels lokaler Fara-
disation eines Muskels im bestimmten Falle gefundenen Resultate
durchaus nicht ohne weiteres auf andere Ausgangsstellungen und
andere Bewegungsbedingungen übertragen oder gar als allgemein¬
gültig auffassen, wie es vielfach geschehen ist. Infolge der großen
Digitized by L^ooQle
102
Otto Fischer.
Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, unter denen ein Muskel sich kon¬
trahieren kann, und der Menge von Faktoren, von denen der Effekt
der Kontraktion abhängt, läßt sich unmöglich auf rein experimen¬
tellem Wege allein die Wirkungsweise eines Muskels in erschöpfender
Weise ableiten.
Ich bin weit davon entfernt, die Bedeutung der experimentellen
Forschung, insbesondere der Leistungen eines Duchenne und seiner
Mitarbeiter für die Bewegungsphysiologie zu gering anzuschlagen.
Zu vollkommen einwandfreien und umfassenden Ergebnissen kann
es aber auf diesem Gebiete nur kommen, wenn die experimentelle
Forschung mit der exakt mathematisch-physikalischen Untersuchung
Hand in Hand geht. Wenn man auch bei der letzteren nicht, wie
man zuweilen geglaubt hat, mit der Kenntnis des Hebelgesetzes und
einiger anderer elementarer Gesetze der Mechanik auskommt, so sind
doch die für eine derartige Untersuchung nötigen mathematischen
Hilfsmittel in vielen Fällen nicht gar zu schwierige. Es bricht sich
ja neuerdings immer mehr die Ueberzeugung Bahn, daß nicht
nur für den Physiker und Chemiker und die Vertreter anderer
Zweige der Naturwissenschaft, sondern auch für den Mediziner ein
gewisses Maß mathematischer Kenntnisse, insbesondere aus der
Differential- und Integralrechnung, notwendig ist, wenn er zum vollen
Verständnis aller auf seinem Gebiete ihm entgegentretenden Er¬
scheinungen und Gesetzmäßigkeiten gelangen will. Und ich glaube,
es ist nur eine Frage der Zeit, daß man von dem Studierenden der
Medizin einen gewissen Fonds von Kenntnissen in diesen Zweigen
der Mathematik verlangen muß. Wer aber im Besitze dieses mathe¬
matischen Rüstzeuges ist, der wird auch ohne Schwierigkeit zum
Verständnis der Beziehungen zwischen den von den Muskeln aus¬
geübten Kräften und den durch dieselben hervorgerufenen Be¬
wegungen gelangen.
Da ich in Anbetracht der großen Reihe von Vorträgen, welche
noch auf der Tagesordnung stehen, Ihre Geduld schon zu sehr in
Anspruch genommen habe, so muß ich es mir leider versagen, näher
auf den Gang einer derartigen Untersuchung einzugehen. Ich will
nur zum Schluß noch ganz kurz anführen, daß es im wesentlichen
zweierlei Aufgaben sind, welche sich dabei darbieten, und deren
Lösung für die Praxis besondere Bedeutung beanspruchen kann.
Die eine Gruppe von Aufgaben nimmt die Spannung eines
oder mehrerer Muskeln als bekannt an und fragt nach den Be-
Digitized by
Google
üeber die Wirkung der Muskeln.
103
wegungen, welche dieselben allein oder im Verein mit anderen
Kräften dem lebenden Körper erteilen. Auf diesen Fall beziehen
sich beispielsweise die Angaben der anatomischen Lehrbücher über
die Wirkung der einzelnen Muskeln. Inwieweit die in der Regel
anzutreffenden kurzen Angaben, wie „ein bestimmter Muskel beugt,
ein anderer abduziert, ein dritter rollt einen bestimmten Körperteil
oder gar nur ein bestimmtes Gelenk,^ richtig sein und die Tätigkeit
eines Muskels in erschöpfender Weise darstellen können, werden
Sie nach dem Gesagten selbst zu beurteilen im stände sein. Ich
will nur in dieser Beziehung noch einmal hervorheben, daß ein
Muskel in der Regel tatsächlich auch Gelenke in Bewegung setzt,
über welche er gar nicht hinwegzieht. Wenn derartige Angaben
nur einigermaßen vollständig sein sollen, so müssen sie sich also
auch auf Gelenke beziehen, welche man bisher gewöhnlich als ganz
außerhalb des Wirkungsbereiches des Muskels gelegen angenommen
hat. Diese Gelenkbewegung, welche durchaus nicht, wie man ge¬
meint hat, prinzipiell von der Bewegung auf das Zwischengelenk zu
unterscheiden ist, unterliegt für eingelenkige Muskeln, bei denen die
Wirkung auf das Zwischengelenk in der Regel nicht zweifelhaft
sein kann, im allgemeinen dem Gesetz, daß sie gerade im entgegen¬
gesetzten Sinne stattfindet wie die Bewegung im Zwischengelenk.
So stellen sich alle eingelenkigen Beuger des Ellbogengelenks gleich¬
zeitig als Rückwärtsstrecker des Schultergelenks heraus und umge¬
kehrt. In entsprechender Weise wird ein eingelenkiger Beuger des
Kniegelenks, wie z. B. der kurze Kopf des Biceps femoris, das Hüft¬
gelenk nach vorwärts beugen, während die drei Teile des Vastus
dasselbe rückwärts strecken u. s. w.
Bei den mehrgelenkigen Muskeln läßt sich ein so allgemeines
Gesetz nicht anführen; denn hier ist in vielen Fällen schon die
Wirkung auf die Zwischengelenke verschieden mit der Ausgangs¬
stellung, in welcher der Muskel zur Kontraktion gelangt. Dabei
kommt es gar nicht selten vor, daß ein Muskel bei einer Ausgangs¬
stellung gerade die entgegengesetzte Bewegung in einem Gelenk
hervorruft als bei einer anderen.
So ergibt, um nur noch ein Beispiel anzuführen, die Unter¬
suchung für den Rectus femoris das Resultat, daß er zwar in allen
Gelenkstellungen das Kniegelenk streckt, daß er dagegen das Hüft¬
gelenk bei nicht zu stark gebeugtem Knie nach rückwärts streckt,
trotzdem er auf der vorderen, d. h. also auf der Beugeseite über
Digitized by L^ooQle
104
Otto Fischer.
dasselbe hinwegzieht. Erst wenn das Knie über die rechtwinklige
Beugestellung hinausgebeugt ist, beugt der Muskel auch das Hüft¬
gelenk. Dazwischen gibt es eine Stellung, in welcher er gar nicht
auf das Hüftgelenk einwirkt. Diese Resultate gelten natürlich nur
so lange, als keins der beiden Gelenke in seiner Beweglichkeit durch
andere Einflüsse beeinträchtigt ist. Denkt man dagegen das Knie¬
gelenk unbeweglich gemacht, so kann der Rectus femoris im Hüft¬
gelenk natürlich nur Beugung hervorbringen.
Aus diesen kurzen Andeutungen können Sie sehen, daß in der
Tat mit zwei Worten die Wirkungsweise eines Muskels nicht er¬
ledigt werden kann.
Die andere Gruppe von Aufgaben der speziellen Muskelmechanik
setzt die durch einen Muskel oder eine Gruppe von Muskeln im
Verein mit anderen Kräften, wie z. B. der Schwere, verursachte Be¬
wegung in allen Einzelheiten als bekannt voraus und fragt nach
den hierzu nötigen Muskeln und Muskelspannungen.
Derartige Aufgaben lassen sich im Prinzip mit Hilfe der
Mathematik immer lösen. Es kommt nur darauf an, daß man sich
auf empirischem Wege die vorausgesetzte Kenntnis der Glieder¬
bewegungen mit genügender Genauigkeit verschaffen kann. Hierbei
leistet die Moraentphotographie, insbesondere die mehrseitige Chrono¬
photographie unschätzbare Dienste. Bei Verwendung derselben ist
es unter anderem gelungen, z. B. für die Schwingungsbewegung des
Beins beim Gehen die vielfach umstrittene Frage definitiv zu ent¬
scheiden, ob bei dieser Schwingung des Beins Muskeln in Aktion
treten, oder ob, wie es vor allen Dingen die Brüder Weber zuerst
angenommen haben, diese Bewegung wie die Schwingung eines
Pendels allein durch die Schwere hervorgebracht wird. Es hat sich
herausgestellt, daß dieselbe in noch stärkerem Maße der Einwirkung
der Muskeln als dem Einfluß der Schwere zuzuschreiben ist, und
es haben sich aus dem Ergebnis der mathematisch-physikalischen
Analyse der betreffenden Bewegung auch Schlüsse auf die Muskeln
ziehen lassen, welche hauptsächlich an der Hervorbringung der
Schwingungsbewegung beteiligt sind.
Es würde eine verlockende Aufgabe sein, nunmehr die haupt¬
sächlichsten Methoden, welche man für die Erforschung der Muskel¬
wirkung ausgebildet hat und auch heute noch vielfach verwendet, ein¬
gehend daraufhin zu prüfen, inwieweit dieselben zu einwandfreien
Digitized by C^ooQle
lieber die Wirkung der Muskeln.
105
Resultaten führen können. Ich sehe mich aber in Anbetracht der
vorgeschrittenen Zeit genötigt, zu schließen.
Wenn ich auch nur in ganz skizzenhafter Weise einiges heraus¬
greifen konnte, was mir nicht ganz unwichtig schien, so hoffe ich
doch, daß Sie aus meinen kurzen Ausführungen die üeberzeugung
gewonnen haben, daß zur Lösung des Problems der Muskelwirkung
die Hilfsmittel, welche uns die Mathematik und Physik an die Hand
geben, nicht entbehrt werden können.
Digitized by LjOOQle
VII.
(Aus Dr. W. Böckers chirurgisch-orthopädischer Klinik in Berlin.)
Zur Frage der Entstehimg und Behandlung der
Myositis ossificans traumatica‘).
Von
Dr. W. Böcker.
Mit 4 Abbildungen.
Meine Herren! üeber Muskelverknöcherungen ist im letzten
Dezennium viel gearbeitet, ohne daß über ihre Genese bisher eine
einheitliche Auffassung erzielt worden ist. In zwei Fragen ist man
sich noch nicht einig: 1. ob das Periost sich aktiv an der Muskel¬
verknöcherung beteiligt und 2. ob die als Tumor erscheinende Ver¬
knöcherung der Muskulatur als Entzündungsprodukt oder als wahre
Neubildung aufzufassen ist. Die meisten Autoren neigen der An¬
sicht Virchows zu, daß der Krankheitsprozeß auf der Grenze
zwischen Entzündung und Neubildung stehe und eine scharfe Ab¬
grenzung derselben unmöglich sei, während die neueren Lehrbücher
von Ziegler, Birch-Hirschfeld den geschwulstartigen Charak¬
ter der Erkrankung betonen. Damit erklärt sich auch der ganze
Zustand durch die Cohnheimsche Theorie der embryonalen Keim¬
anlagen umsomehr, als die Mikrodaktylie an embryonale Störungen
der Knochenanlage denken läßt (Virchow, Helferich). Doch
hat dies mehr theoretisches Interesse.
Wir unterscheiden drei Krankheitsbilder, die sich klinisch sehr
wohl voneinander trennen lassen:
1 . Die Myositis ossificans progressiva, die sich durch ihr multiples
Auftreten kennzeichnet und der eine angeborene Konstitutionskrank-
’) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by C^ooQle
I
Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. 107
heit zu Grunde liegt, die seit den anatomischen Untersuchungen
von Mays in einer leichteren Vulnerabilität und gesteigerten Pro¬
duktivität des gesamten Knochensystems und der Bindegewebs-
elemente des Lokomotionsapparates zu suchen ist.
2 . Die Myositis ossificans circumscripta, die durch wiederholte
traumatische Reize entsteht. Diese Entstehung erklärt man sich eben¬
falls durch eine besondere Anlage des Muskelbindegewebes, das die
Eigenschaft besitzt, Knochen zu produzieren. Hierher rechnet man
die Reit- und Exerzierknochen, Turner- und Bajonettierknochen.
3. Die Myositis ossificans traumatica im engeren Sinne, oder
traumatisches intramuskuläres Osteom genannt (Kienböck u. a.), das
durch ein einmaliges heftiges Trauma hervorgerufen wird, wie nach
schweren Kontusionen, Luxationen und Frakturen.
Während Virchow den Ossifikationsprozeß bei der ersten
Gruppe vom Knochen aus seinen Ausgang nehmen läßt und dem
Kapitel der Exostosis luxurians angliedert, haben die neueren histo¬
logischen Untersuchungen von Lexer, Stempel und Zöge
V. Manteuffel ergeben, daß die Verknöcherung sowohl nach
periostalem wie enchondralem Typus vor sich gehen kann bei
vollständigem Ausschluß periostaler Läsion. Sie haben in dem
Muskelgewebe zellreiches Keimgewebe, das eine knochenbildende
Fähigkeit besitzt, gefunden und ira Beginn dieser Zellwucherung
entzündliche Erscheinungen in Gestalt von kleinzelliger Infiltration
festgestellt. Damit ist der Beweis erbracht, daß sowohl vom Periost
als auch vom Muskelbindegewebe aus die Verknöcherung entstehen
kann. Die erste Gruppe unterscheidet sich nach Ansicht einiger
Autoren von der zweiten nur dadurch, daß die Verknöcherung
lediglich auf einen Muskel beschränkt bleibt, den wiederholte kleinere
Insulte treffen. Wir kommen jetzt zur dritten Gruppe, die uns hier
beschäftigen soll, weil sie dem Chirurgen das bei weitem größte
praktische Interesse bietet. Diese Gruppe ist die rein traumatisch
entstandene, die sich gewöhnlich nach einmaligem schweren Trauma
vorzugsweise im Musculus brachialis nach Ellbogenluxation und im
Quadriceps femoris nach starken Kontusionen (Hufschlag) entwickelt.
Nur einmal hat Strauß eine Verknöcherung ira M. subclavius nach
einer Schlüsselbein Verrenkung im Röntgenbild und Regnier eine
solche im M. subscapularis nach einer Schulterluxation durch Ope¬
ration festgestellt. Dreimal ist die Myositis ossif. träum, im Rectus
abdominis von Röpke und Fichtner beobachtet.
Digitized by LjOOQle
108
W. Böcker.
Die traumatische Form der Myositis ossificans ist in manchen
Fällen von den Knochenneubildungen, die aus einem Gallus luxurians
nach Fraktur oder einfacher Periostverletzung (Honseil, Schüler)
hervorgegangen sind, nicht mit absoluter Sicherheit zu trennen. Wie
aus der zahlreichen Literatur über diesen Gegenstand hervorgeht,
gehen, wie eingangs erwähnt, die Ansichten unter den Autoren
über den Ausgangspunkt der Erkrankung immer noch auseinander.
Die einen halten die Wucherung des Periosts für das Primäre, die
anderen die des intermuskulären Bindegewebes.
Lassen wir zunächst die Ansichten einzelner Autoren, die den
Verknöcherungsprozeß vom Periost ausgehen lassen, folgen:
1. Rasmussen beschreibt 2 Fälle von Verknöcherung im
Brachialis internus und nimmt an, daß dieselbe ihren Ursprung im
Periost genommen hat.
2 . Berthier kommt auf Grund seiner experimentellen Unter¬
suchungen zu dem Schlüsse, daß alle Muskelverknöcherungen nach
Trauma von einer gleichzeitigen Periostverletzung ihren Ausgang
nehmen.
3. Reg nie r nimmt ebenfalls für seine beiden Fälle von
Myositis ossificans traumatica im Brachialis periostalen Ursprung an.
4. Berndt sagt zum Schluß seiner interessanten Arbeit, daß
die nach einmaligem Trauma entstehenden Muskelverknöcherungen
bedingt sind durch eine aktive Tätigkeit des mitverletzten Periosts,
speziell der inneren zellreichen Schicht derselben.
5. Schulz, aus der Rostocker Klinik, kommt auf Grund
seiner histologischen Untersuchungen zu dem Resultat, daß er
den Fall von Rammstedt aus der Hallenser Klinik, der als einer
der ersten auf Grund des Operationsbefundes und der histologischen
Untersuchungen die interrauskuläre Entstehungsweise befürwortet hat,
nicht als Myositis ossificans traumatica anerkennen kann, und über¬
haupt das Vorkommen einer solchen verneint. Er will in allen
Fällen eines starken Traumas, wie man dies auch bei allen in der
Literatur niedergelegten Fällen verzeichnet findet, die Knochen¬
neubildung auf das Periost, das allein normalerweise Knochen
produziert, zurückführen, weil „überall typische periostale Ossi¬
fikation gefunden und es bis jetzt in keiner Weise erwiesen ist, daß
Muskelgewebe die Funktionen des Periosts haben kann, ausgenommen
die Myositis ossificans progressiva“.
Digitized by C^ooQle
Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. 109
6 . Honsell, aus der v. Brunsschen Klinik, hat darauf auf¬
merksam gemacht, daß auch nach einfacher Periostverletzung ohne
Fraktur eine exzessive Knochen Wucherung auftreten kann, und nennt
seine beiden Fälle, die eine unverkennbare Aehnlichkeit mit den
Schulzschen Fällen haben, „traumatische Exostosen“.
7. Schüler, aus derselben Klinik, hat 4 Jahre später in
4 Fällen die gleichen Befunde wie Honseil erhoben.
Von den Autoren nun, die die Existenz einer rein traumatischen
Muskelverknöcherung befürworten, möchte ich folgende anführen:
1 . Cahen hält die Erkrankung der Muskulatur im verletzten
Femurschaft für das Primäre, die Periostbeteiligung für das Sekun¬
däre, weil in seinen Fällen entweder die Geschwulstmasse leicht ab¬
gelöst werden, oder das Periost sogar erhalten werden konnte. Die
Mitbeteiligung des Knochens sei entweder auf ein direktes üeber-
greifen der Geschwulst auf das Periost oder als Folgezustand einer
traumatischen Periostitis anzusehen.
2 . Bremig will die in den Muskeln vorkommenden Ossi¬
fikationen in zwei Gruppen teilen: nämlich in die primär vom Periost
ausgehenden, sekundär in die Muskeln reichenden und in die primär
in den Muskeln entstehenden, die in gar keiner oder nur loser Ver¬
bindung mit dem Periost stehen. Er glaubt zur Unterscheidung
dieser beiden Gruppen die Röntgenstrahlen verwerten zu können;
eine vom Periost ausgehende Erkrankung (Exostose) ließe sich aus¬
schließen, wenn die Konturen des betreffenden Knochens scharf er¬
scheinen. Endlich betont er aber auch die Schwierigkeit, bei den
mit dem Periost verbundenen Tumoren zu entscheiden, ob sie
primär vom Periost ausgehen, oder erst nachträglich mit ihm in
Verbindung getreten sind. Ist die Verbindung mit dem Periost
keine knöcherne, sondern eine bindegewebige, ist ferner der ver¬
knöcherte Muskel leicht vom Periost abzuheben, so kann man dies
als gegen einen Ausgang vom Periost sprechend auffassen.
3. Rammstedt gibt für einzelne Fälle einen periostalen
Ursprung zu oder wenigstens eine Mitwirkung des Periosts bei dem
Verknöcherungsprozeß, meint aber für die Mehrzahl der Fälle einen
solchen ausschließen zu müssen, da meist die Verwachsung mit dem
Knochen nur lose und schmal, zuweilen gar nicht vorhanden war.
4. Rothschild ist der Ansicht, daß eine eigentlich primär
im Muskel entstehende Verknöcherung, die in gar keinem oder nur
losem Zusammenhang mit dem Periost steht, sich von einer vom
Digitized by C^ooQle
110
W. Böcker.
Periost ausgehenden, sekundär in den Muskel hineinreichenden
Knochengeschwulst im Röntgenbilde unterscheiden läßt, wenn ge¬
trennt vom Knochen im Muskel ein Knochenschatten sichtbar ist.
5. Frangenheim, aus der Lex ersehen Klinik, weist noch
kürzlich darauf hin, daß man der periostalen Genese der Muskel¬
verknöcherungen immer noch zu große Bedeutung beimesse, sagt
aber, daß, wenn die Muskelknochen fest mit dem Knochen des be¬
fallenen Gliedes verwachsen sind, eine Beteiligung des Periosts nicht
ganz auszuschließen ist, anderenfalls ist der Ursprung des neu¬
gebildeten Knochengewebes im intermuskulären Bindegewebe zu
finden und histologisch einwandfrei nachzuweisen.
Bei den Verknöcherungen ini Brachialis kann auch das Kapsel¬
gewebe als Ausgangspunkt für den neugebildeten Knochen ver¬
antwortlich gemacht werden (Cahier). In der Lexerschen Klinik
wurde bei einer veralteten Ellbogenluxation ausgedehnte Knochen¬
neubildung gefunden, die das ganze Gelenk umgab und auf Grund
der Röntgenbilder, des Operationsbefundes und der mikroskopischen
Untersuchungen zu der Annahme führte, daß diese periostitischen
Ossifikationen größtenteils von dem Kapselgewebe ausgehen. Auch
Bunge hat bei der blutigen Operation veralteter Ellbogenluxationen
mehrmals einen ähnlichen Befund erhoben.
Wenn man nun die oben angeführten Ansichten über die Ent¬
stehung der Muskelverknöcherung, ob vom Periost oder vom Muskel¬
bindegewebe ausgehend, näher prüft, so muß man zugeben, daß
beide ihre Berechtigung haben und daß der Ausgangspunkt sich in
einer Reihe von Fällen, sei es durch Röntgenbilder, sei es durch
Operation oder schließlich durch histologische Untersuchungen fest¬
stellen läßt.
Es ist aber kaum zweifelhaft, daß in manchen Fällen die
Beurteilung über den Ausgang der Verknöcherung großen Schwierig¬
keiten unterliegt, ja sogar eine bestimmte Entscheidung unmöglich
ist. Es ist wohl im allgemeinen richtig, daß, wenn die Verbindung
mit dem Periost keine knöcherne, sondern eine bindegewebige ist
und der verknöcherte Muskel leicht vom Periost abzuheben ist, dies
mehr für eine Entstehung im Muskel selbst, als für einen periostalen
Ursprung spricht, wie es teils im Röntgenbilde, teils durch die
Operation nachgewiesen worden ist. Für die Frage der Periost¬
beteiligung ist jedenfalls der Umstand von Bedeutung, daß der
Tumor dem Knochen fest aufsitzt und an der Anheftungsstelle das
Digitized by C^ooQle
Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. Hl
Periost fehlt. Solche Tumoren, sei es, daß sie breit oder gestielt auf¬
saßen, sind in der Literatur in größerer Anzahl als vom Periost
ausgehend beschrieben worden. Daß aber auch Fälle ohne Verbin¬
dung mit dem Knochen existieren, ist zweifellos, so ein Fall von
Rothschild, wo das Periost intakt war nach Abheblung des Tumors,
ein Fall von Meinhold, wo bei der Operation der Tumor mit
dem Knochenperiost nicht in Verbindung stand, ein Fall von Vulpius,
der bei der Exstirpation das Periost völlig unverletzt fand u, a. m.
An sich kann dies kein absoluter Beweis dafür sein, daß die Ver¬
knöcherung im Muskelbindegewebe entstanden ist, denn nach
Virchow steht fest, daß Muskelosteome, die ursprünglich mit dem
Knochen in Verbindung stehen, sich später loslösen und dann nur
noch im Muskel gefunden werden. Weiter hat Berndt bei der
Operation in seinen Fällen gefunden, daß der Tumor, der auf dem
Bilde keinen Zusammenhang mit dem Periost zeigte, mit demselben
in Verbindung stand, und er führt dies darauf zurück, daß der relativ
schmale, aus spongiösem Knochen bestehende Stiel der Muskel¬
verknöcherung keinen Schatten gibt.
So können denn in einem Teile der Fälle nur die histologischen
Untersuchungen eine sichere Entscheidung zulassen, deren Ergebnisse
Frangenheim bestimmt haben, als Ausgangspunkt wenigstens für
die Verknöcherungen im Musculus brachialis internus das inter-
muskuläre Bindegewebe anzusprechen.
Einen nicht unwillkommenen Beitrag zur Frage der Entstehung
der Muskelverknöcherung liefert uns ein Fall, über den ich Ihnen
hier kurz berichten möchte.
Der Fall betrifft einen jungen Mann, der Ende November 1905
durch Fall auf den rechten Ellbogen eine Luxation beider Vorder¬
armknochen nach hinten davongetragen hat, die aber ira Röntgen¬
bilde keine Knochenverletzung (Absprengung) erkennen läßt, worauf
Bar den heu er die so häufig auftretende Kallusbildung bei Ell¬
bogenluxationen zurtickführt (Fig. 1).
Die mehrere Male gemachten Repositionsversuche blieben ohne
Erfolg, und es wurde Anfang Januar 1906 die blutige Reposition
von zwei seitlichen Schnitten aus vorgenommen. Trotz einer kon¬
sequent durchgeführten Nachbehandlung mit gymnastischen Hebungen,
Massage und Heißluftbädem wurde eine Beweglichkeit im Ellbogen¬
gelenk nicht erreicht; vielmehr blieb der Arm in einem stumpfen
Winkel ankylotisch.
Digitized by LjOOQle
112
W. Böcker.
Im Juli 1906 untersuchte ich den Patienten zum ersten
Male und fand in der rechten Ellenbeuge eine brettharte An¬
schwellung, die die ganze vordere Kapsel einzunehmen, dem Verlauf
des Brachialis zu folgen schien und gegen die Unterlage nicht ver-
Fig. 1.
schieblich war. Gefäßstörungen fehlten; dagegen machte sich beim
Patienten von seiten der Nerven ein leichtes taubes Gefühl in den
Fingern bemerkbar, das sich bis zum heutigen Tage nicht ver¬
schlimmert hat. Die Finger können völlig gebeugt und gestreckt
Fig. 2.
werden. Das Röntgenbild zeigt neben einer knöchernen Verwachsung
des Gelenks die vordere Kapselpartie mit einer ausgiebigen Knochen¬
masse ausgefüllt, die, von mehreren Stellen des Knochenperiosts aus¬
gehend, sich nach oben in der Richtung des Brachialis internus
und nach unten bis zur Tuberositas ulnae hinzieht, deren Schatten
sich noch nicht überall vereinigt haben (Fig. 2).
Digitized by L^ooQle
Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. 113
Wenn man bei solchen Fällen in größeren Zwischenräumen wieder
Röntgenbilder anfertigen läßt, kann man sich davon überzeugen, ob
die Schatten sich vereinigt haben, ferner ob der Tumor an Ausdehnung
zugenommen bezw. sein Wachstum beendet hat oder ob regressive
Veränderungen eiugetreten sind. Zwei 1 Jahr später von verschie¬
denen Seiten angefertigte Bilder — einmal lag der Condylus internus,
das andere Mal der Condylus extemus der Platte auf — zeigen uns, daß
die Schatten sich wirklich vereinigt haben, die Enochenbildung wesent¬
lich zugenommen hat, und zwar nach dem Humerus zu, so daß es
den Anschein hat, als ob der Brachialis in seiner ganzen Ausdehnung
erfaßt ist, während nach abwärts
vom Gelenkspalt die Verknöcherung
fast dasselbe Bild zeigt und schlie߬
lich, daß die Ossifikationen, die
scharfe Konturen aufweisen, breit
dem Knochen aufsitzen und daß
sich oberhalb der Olekranonspitze
im Bereiche der hinteren Gelenk¬
kapsel Knochenwucherungen gebildet
haben (Fig. 3 u. 4).
Aus diesem Befunde können wir
mit Sicherheit schließen, daß die
Verknöcherungen primär vom Periost
ihren Ausgang genommen haben und
sekundär in den Muskel hineinge¬
wuchert sind.
Das ist prognostisch von großer
Wichtigkeit, weil erfahrungsgemäß
die vom Periost ausgehenden Ver¬
knöcherungen nach der Exstirpation
meist Rezidive geben, während die im Muskel entstandenen Ossi¬
fikationen ein gutes Resultat erwarten lassen.
Wenn ich nun noch mit ein paar Worten auf die Behandlung
eingehe, so können wir bestimmte Grundsätze nicht aufstellen.
Wissen wir doch, daß sowohl die Verknöcherungen sich spontan
zurückbilden (Nadler), als auch nach der Exstirpation Rezidive
eintreten können, worauf Sudeck in seinem Handbuch für soziale
Medizin, »Der Arzt als Begutachter“, besonders hinweist. Jeden¬
falls wird man sich zur Operation entschließen, wenn durch Druck
Zeitschrift fttr orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 8
Fig. 8.
Digitized by L^ooQle
114
W. Böcker.
des Tumors auf die Gefäße und Nerven stärkere Störungen, oder
wie dies meistens bei der Muskelverknöcherung in der Ellenbeuge,
nur ausnahmsweise bei der Verknöcherung im Quadriceps der Fall
ist, noch Bewegungsstörungen im Gelenk vorhanden sind, die allein
schon die Indikation für operative Maßnahmen abgeben können,
wenn nicht — was immer zu versuchen ist — durch Massage, Heißluft
und frühzeitige Bewegungen auf die behinderte Beweglichkeit im
Ellbogengelenk bezw. Kniegelenk ein günstiger Einfluß ausgeübt wird.
Wie günstig selbst schwere Bewegungsstörungen eines Gelenks nach
Muskelverknöcherung beeinflußt werden können, hatte ich Anfang
Fij?. 4.
dieses Jahres an einem Falle von traumatischer Muskelverknöcherung
im linken Quadriceps zu beobachten Gelegenheit, die allmählich nach
Verlauf von Jahren zu einer völligen Ankylose des Kniegelenks in
Streckstellung geführt hatte. Wie das Röntgenbild zeigte, nahm
die Ossifikation, die dem Verlauf der Muskelfasern gefolgt war, das
ganze untere Drittel des Quadriceps ein und ließ eine Verbindung mit
dem Knochengerüst erkennen. Die Kniescheibe ist durch einen
Strang mit dem Gelenk verwachsen, das übrige Gelenk schien von
jeglichen Adhärenzen frei zu sein. Dieser Fall bietet in therapeu¬
tischer Hinsicht ein gewisses Interesse. Da die Patientin einen blutigen
Eingriff ablehnte, versuchte ich durch physikalische und mechanische
Behandlung eine Beweglichkeit im Gelenk zu erreichen. Ich war
mir der Schwierigkeit meiner Aufgabe wohl bewußt. Zunächst wurde
der Oberschenkel massiert und Heißluftbäder wurden täglich zweimal
appliziert. Dann begann ich die Kniescheibe manuell zu lockern
Digitized by L^ooQle
Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. 115
und den Unterschenkel gegen den Oberschenkel zu beugen. Ich
konnte nun beobachten, wie allmählich eine gewisse Beweglichkeit
im Kniegelenk selbst, die auch die Patientin bemerkte, sich ein¬
stellte. Durch diesen Fortschritt ermutigt, machte ich in Narkose
in der 6. Woche in vorsichtiger Weise ein Brisement forcd, wobei
ohne größere Anstrengung durch Nachgiebigkeit der Ossifikation
dank der günstigen Einwirkung der Hitze eine Beugung bis zu einem
rechten Winkel erreicht wurde. Wenn nun auch diese ausgiebige
Beweglichkeit nicht erhalten blieb, so kann doch noch heute das
Gelenk fast bis zu einem halben Rechten gebeugt werden, und es
ist nicht anzunehmen, daß nach so langer Zeit wieder eine Ver¬
steifung eintritt. Nach einem solchen Resultat ist selbst bei einer
jahrelang bestehenden Kniegelenksankylose nach traumatischer Muskel¬
verknöcherung die unblutige Behandlungsweise wohl zu versuchen
und zu empfehlen.
Wann soll man aber operieren? Da haben nun die Erfahrungen
gelehrt, daß der Zeitpunkt der Operation dann gekommen ist, wenn
der Muskelknochen sein Wachstum beendet hat. Wenn man in
diesem Stadium den Muskelknochen gründlich entfernt, kann man
am sichersten ein Rezidiv verhüten (Helferieh). Wir werden
den Tumor in einem früheren Stadium bei einem raschen Wachs¬
tum nur dann operieren, wenn wir nicht mit absoluter Sicherheit
einen malignen Tumor (Sarkom) ausschließen können, der differential¬
diagnostisch in Frage kommen kann (Schüler). Zur Entfernung
der Geschwulst in der Ellenbeuge wird man meist mit zwei seitlichen
Schnitten auskommen, wie sie für die blutige Reposition empfohlen
sind, und man hat neuerdings gute Resultate erzielt.
Wie wir gestern auf dem Chirurgenkongreß an dieser Stelle
von Bunge gehört haben, soll man bei veralteten Luxationen des
Ellbogengelenkes der blutigen Reposition vor der Resektion den Vor¬
zug geben. Was sollen wir aber tun, wenn nach einer blutigen Re¬
position neben einer knöchernen Verwachsung des Gelenks aus¬
gedehnte Ossifikationen im Bereiche der ganzen Gelenkkapsel und
des Musculus brachialis, wie in diesem Falle vorzuliegen scheint,
aufgetreten sind? Ich glaube, man wird sich in solchen Fällen nur
dann zur Operation, d. h. Resektion entschließen, wenn unangenehme
Störungen von seiten der Gefäße und Nerven vorhanden sind. Ist
das nicht der Fall wie hier, so wird man besser tun, voraus¬
gesetzt, daß der Arm eine brauchbare Stellung einnimmt, von einem
Digitized by
Google
116 W. Böcker. Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc.
weiteren Eingriff abzusehen, da man für ein gutes Resultat nicht
garantieren, d. h. der Arm im Ellbogengelenk leicht wieder anky-
lotisch werden kann.
Literatur.
1. Bi rch-Hirschfeld, Lehrbuch der pathologischen Anatomie.
2. Berndt, Zur Frage der Beteiligung des Periosts bei der Muskelverknöche¬
rung nach einmaligem Trauma. Arch. f. klin. Chir. 1902, Bd. 65.
3. Berthier, Arch. de med. experim. 1894, T. 6.
4. Bremig, üeber Myositis ossificans. Inaug.-Diss. Greifswald 1897.
5. Bunge, Arch. f. klin. Chir. Bd. 60.
6. Cahen, lieber Myositis ossificans. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1891, Bd. 31.
7. Cahier, Sur les myosleomes traumatiques sur leur pathologie etc. Revue
de chir. XXIV, 3—6. Ref. Zentralbl. f. Chir. 1905, 6.
8. Fichtner, Myositis ossif. im Rectus abdom. (Dem.) mediz. Gesellsch. in
Leipzig 1906, ref. Münchener mediz. Wochenschr. 1906.
9. Frangenheim, Die Myositis ossificans im biachialis nach Ellbogenluxa¬
tion, ihre Diagnose und Behandlung. Deutsche med. Wochenschr. 1908,
Nr. 12.
10. Helferich, Kongreß Verhdlg. der Deutschen Gesellsch. f. Chir. 1887.
11. Honseil, Ueber traumatische Exostosen. Beitr zur klin. Chir. 1898, Bd. 22.
12. Kienböck, Münchener med. Wochenschr. 1900, Nr. 51.
13. Lexer, Das Studium der bindegewebigen Induration bei Myositis ossificans
progr. Arch. f. klin. Chir. Bd. 50. — Derselbe, Lehrbuch der allgem.
Chir. 1905, Bd. 2.
14. Mays, Ueber die sogenannte Myositis ossificans progr. Virchows Arch.
1878, Bd. 174.
15. Meinhold, Osteom im Muse. ext. cruris quadr. Deutsche militärärztl.
Zeitschr. 1883.
16. Nadler, Myositis ossificans träum, mit spontanem Zurückgang der Muskel¬
verknöcherung. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1904, Bd. 74.
17. Rammstedt, Ueber träum, Muskelverknöcherungen. Arch. f. klin. Chir.
1899, Bd. 61.
18. Rasmussen, Osteom im Muse, brachialis int. Deutsche militärärztl. Zeit¬
schrift 1883.
19. Regnier, Presse med. 1899, Nr. 47.
20. Röpke, Zur Kenntnis der Myositis ossif. träum. Langenbecks Arch. 82, 1.
21. Rothschild, Ueber Myositis ossificans träum. Beitr. zur klin. Chir. 1900,
Bd. 28.
22. Schüler, Ueber träum. Exostosen. Beitr. zur klin. Chir. 1902, Bd. 33.
23. Schulz, Zur Kenntnis der sogenannten Myositis ossificans träum. Beitr. zur
• klin. Chir. Bd. 33-
24. Stempel, Die sogenannte Myositis ossificans progr. Mitteilungen aus den
Grenzgebieten 1898, Bd. 3.
25. Strauß, Myositis ossif. träum, im M. subclavius nach Lux. claviculae supra
acromialis. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 89 S. 630. — Derselbe,
Zur Kenntnis der sogen. Myositis ossif. träum. Langenbecks Arch. 78, V.
26. Sudeck, Chirurgenkongreß 1901.
27. Virchow, Verh. der med. Gesellschaft 1894, und Geschwülste II, S. 80.
28. Vulpius. Zur Kenntnis der intramuskulären Knochenbildung nach Trauma.
Arch. f. klin. Chir. 1902.
29. Ziegler, Lehrbuch der pathologischen Anatomie.
30. v. Zoege-Manteuffel, Chirurgenkongreß, Verh. 1896 (l).
Digitized by L^ooQle
VIII.
Ueber Yerändemngeii an Kanincbenextremitäten
nach Dnrcbscbneidnng des Intemediärknorpels')-
Von
Prof. Dr. J. Biedinger ‘ in Würzburg.
Mit 2 Abbildungen.
Um den Heilungsvorgang kennen zu lernen und um die Frage
der Wachstumsstörungen nach blutiger Durchtrennung des Epiphysen¬
knorpels zu studieren, habe ich im Jahre 1904 die Trennung der
Epiphyse am unteren Ende der Ulna bei 6—8 Wochen alten
Kaninchen vorgenoramen. In verschiedenen Zeiträumen wurden die
Kaninchen getötet und Röntgenbilder von den beiden Extremitäten
angefertigt. Der untere Abschnitt der Ulna mit dem Intermediär¬
knorpel wurde sowohl an der operierten als an der nicht operierten
Seite den Präparaten entnommen und behufs mikroskopischer Unter¬
suchung konserviert. Herr Professor Borst in Würzburg war so
freundlich, die mikroskopische Untersuchung vorzunehmen. Um
Nebenverletzungen bei der Durchtrennung möglichst zu vermeiden,
um aber doch die ganze Epiphyse zu trennen, wählte ich als In¬
strument einen scharfen, schmalen und etwa die Breite der Knorpel¬
fuge einnehmenden Meißel, den ich nach der Freilegung der Knorpel-
fuge genau in der Mitte der Knorpelfuge eingesetzt zu haben
glaubte.
Es war für mich nun von großem Interesse, als mikroskopisch
zunächst für die meisten Fälle festgestellt wurde, daß der Schnitt
durch die Verkalkungszone an der Diaphysenbasis verlief. Infolge
des Verlaufes des Schnittes an der Basis der Diaphyse sind die
Präparate umso eher geeignet, einen Einblick in die Heilungsvor-
Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by L^ooQle
118
J, Riedinger.
gange beim Menschen zu gewinnen, da traumatische Epiphysen¬
trennungen in der Regel an eben dieser Stelle Vorkommen.
An den Präparaten vom 3., 6., 9., 12., 22., 28. und 80. Tag
läßt sich das Fortschreiten der Heilung leicht verfolgen. Es zeigen
sich zuerst Wucherungen, herrührend von der osteogenen Schicht
des Periosts, von den perichondralen Schichten und vom Mark her.
Gleichzeitig kommt es zur Ablagerung osteoider Massen und vom
6.—9. Tag ab zur Proliferation von Knorpel. Durch die vom
Knorpel und vom Mark ausgehende Gewebsneubildung und durch
Periostkallus schließt sich der Defekt allmählich. Der Prozeß kann
bis zum 28. Tag vollendet sein. Aber auch der Knochen der Epi¬
physe bleibt nicht immer untätig. Es wurde beobachtet, daß es
in der Epiphyse zur Auflösung des Knochens und zur Bildung
einer neuen Ossifikationszone kommen kann. Die unregelmäßige
Anordnung der Knorpel- und Osteoidwudierungen und die Un¬
regelmäßigkeit der Ossifikation erinnert äußerlich an das Bild der
Rhachitis.
Nach 3G0 Tagen hatte das Knochenwachstum aufgehört.
Das von diesem Tage stammende Präparat zeigt ebenso wie das vom
510. Tage stammende mikroskopisch keine Besonderheiten. Makro¬
skopisch sind zwei interessante Befunde zu konstatieren. Einige
Millimeter oberhalb der Epiphysenlinie findet sich nämlich an dem
Präparat vom 300. Tage an der Medianseite der Ulna ein exostosen¬
artiger, kegelförmiger Fortsatz. Ich führe diesen zurück auf osteoide
Massen, welche unter dem Einfluß der Belastung zungenartig nach
außen vorgedrängt wurden. Die Exostose deutet anderseits das
Auf hören der Wucherungsprozesse und den Beginn normalen Wachs¬
tums an. Am Bild des Präparates vom 510. Tage (Fig. 1) markiert
sich diese Grenze durch eine spindelförmige Auftreibung, die un¬
zweifelhaft erkennen läßt, daß von einem bestimmten Termin ab
die Extremität begonnen hat, von der Epiphyse aus gerade zu
wachsen.
Das Präparat vom 40. Tage zeigt starke Atrophie des Knorpels
und knöcherne Brücken zwischen Diaphyse und Epiphyse. Auch
das Präparat vom 210. Tage zeigte knöcherne Vereinigung. Es ist
anzunehmen, daß in beiden Fällen die Verletzung eine stärkere war.
Als ich im Anschluß an den Vortrag von Spitzy auf dem
di’itten Kongreß für orthopädische Chirurgie im Jahre 1904 einige
Röntgenbilder von meinen Präparaten demonstrierte, glaubte Reiner
Digitized by C^ooQle
Ueber Veränderungen an Kaninchenextremitäten etc.
119
die Veränderungen auf Infektion und chronische Osteomyelitis zurück¬
führen zu können. Die mikroskopische Untersuchung konnte wohl
gewisse Zustande einer traumatischen Degeneration, aber in keinem
einzigen Fall das Bestehen einer auf Infektion zurückzuführenden
Entzündung feststellen. Die Annahme einer Osteomyelitis ist auf
Grund dieser Untersuchung und wegen des ungestörten Verlaufes
während der Heilung mit Entschiedenheit abzulehnen. Die in allen
Fällen beobachtete Verkürzung der Ulna beruht nur auf Störung
Fig. 1.
im Längenwachstum, welches so lange sistiert, als der Prozeß der
knorpeligen, der osteoiden und knöchernen Wiedervereinigung und
die Unregelmäßigkeit der Verknöcherung andauert. Die Verkürzung
beginnt vom Moment der Verletzung ab und war am 22. Tage
makroskopisch zu erkennen. Der Grad der Verkürzung ist ein sehr
verschiedener, da er vor allem abhängt von dem Grad der Schädigung
des Knorpels.
Das Präparat vom 510. Tag orientiert auch über die Wachs¬
tumsverhältnisse nach Vollendung der Heilung der Läsion. Die
mechanische Störung war hier, wie aus der Wiederherstellung der
Funktion unzweifelhaft hervorgeht, eine unbedeutende, und doch ist
der Knochen in allen seinen Teilen in der Entwicklung zurück-
Digitized by
Google
120
J. Riedinger.
geblieben. Letzteres ist erwiesen durch Röntgenbilder, welche Yon
verschiedenen Seiten her aufgenommen worden sind, und nicht zum
geringsten Teil durch die" mikroskopische Untersuchung, da die
proximale Diaphyse der Ulna ohne strukturelle Abweichung als etwas
atrophisch befunden wurde.
Der Befund vom 510. Tag muß meines Erachtens so aufgefaßt
werden, daß bei Kaninchen auch im günstigsten Falle die Tren¬
nung der Diaphyse an der Knorpel¬
knochengrenze nicht ganz ohne Nachteil
auf die weitere Entwicklung des Knochens
bleibt. Alle bisherigen experimentellen
Untersuchungen hatten sich auf eine viel
zu kurze Zeit beschränkt.
Eine Schlußfolgerung für die Pro¬
gnose der traumatischen Epiphysentren¬
nung beim Menschen ist nicht ohne
weiteres möglich, da ja beim Menschen
das Knochenwachstum erheblich lang¬
samer vor sich geht und der Ausfall des
Längenwachstums während der Dauer
der Heilung der Epiphysenlösung ein
verhältnismäßig sehr geringer ist. Außer¬
dem ist das Wachstum bei der Rhachitis
an und für sich kein geordnetes. Wir
dürfen annehmen, daß die Gefahr der
Wachstumsstörungen eine geringe ist bei
glatter Durchtrennung, bei Schonung der
Epiphyse, bei aseptischem Verlauf und
Ausbleiben einer seitlichen Dislokation.
Gleichzeitig mit der Verkürzung
entwickelte sich an den operierten Ex¬
tremitäten eine Verkrümmung der Kno¬
chen. Während nämlich die Ulna im
Wachstum zurückbleibt, entwickelt sich
der Radius weiter und es entsteht so ein kürzerer und ein längerer
Bogeq, ähnlich wie beim angeborenen partiellen Defekt des Radius
oder der Ulna.
Die Aehnlichkeit mit rhachitischen Verkrümmungen ist eine
außerordentlich große (siehe Fig. 2, 80. Tag). Zu erwähnen ist be-
Fig. 2.
Digitized by L^ooQle
lieber Veränderungen an Kaninchen extrem i täten etc.
121
sonders die Verdickung der an die Epipliysenlinie angrenzenden
Partien, die Säbelscheidenform der Knochen, ferner die mikro¬
skopisch festgestellte Ausbuchtung der Markhöhle auf dem Scheitel
der Verkrümmung und die Abknickung an der Diaphysenbasis. Bei
der Betrachtung der spindelförmigen Verdickung am Präparat vom
510. Tage werden wir außerdem an den Heilungsvorgang bei der
Streckung rhachitischer Deformitäten erinnert.
Nähere Mitteilungen werden im Archiv für Orthopädie,
Mechanotherapie und Unfallchirurgie erscheinen.
Digitized by L^ooQle
IX.
(Aus dem k. k. Universitäts-Ambulatorium für orthopädische Chirurgie
des Prof. Dr. A. Lorenz in Wien.)
Zur Frage der multiplen Sarkomatose des
jugendlichen Knochens und der Ostitis fihrosa-
Recklinghausen').
Von
Dr. Robert Wemdorff, Assistent.
Mit 5 Abbildungen.
Wenn ich mir Ihre Aufmerksamkeit zu einem Thema erbitte, das
gerade in der letzten Zeit so oft und ausführlich besprochen wurde,
nämlich zur Frage der jugendlichen multiplen und primären Knochen-
sarkomatose, so geschieht dies in der Voraussetzung, durch die Mit¬
teilung meines Falles mit beizutragen zur Erklärung dieses in vielen
Punkten dunklen Krankheitsbildes. Bedarf doch unter anderem die
Beziehung, in welcher die primäre multiple Knochen sarkomatose zu
der von Recklinghausen so genannten Ostitis fibrosa steht,
durchaus einer Erklärung.
Ich will Sie, meine Herren, nicht bitten, mir auf einem litera¬
rischen Rückblicke über diese Frage zu folgen, ich will Sie nicht
von Czerny und Paget über Recklinghausen zu den vielen
namhaften Autoren führen, die in allerjüngster Zeit einschlägige
Fälle beschrieben haben, ich will nur kurz auf das klinische und
pathologisch-anatomische Substrat hinweisen, die Trias der Symptome,
Fraktur, Osteoraalacie und Tumorbildung hervorheben.
Die Fraktur oder die durch die Fraktur entstandene Deformität
des Knochens führt uns den Kranken zu, das Röntgenbild gibt uns,
‘) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by L^ooQle
Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 123
wie ich im folgenden zeigen will, die Wahrscheinlichkeitsdiagnose,
welche durch die mikroskopische Untersuchung sicherzustellen ist.
Auch in dem von mir beobachteten Falle hat die Fraktur und
die im Anschluß daran allmählich entstandene Deformität zur Beob¬
achtung des Kranken geführt. Die Abbildung (Fig. 1 und 2) zeigt
Fig. 1. Fig. 2.
die in ihrer Art wohl kaum noch beobachtete Deformität. Es macht
den Eindruck, als wenn das rechte Bein im Kniegelenke (Fig. 1)
rechtwinklig gebeugt wäre. Wie groß wird aber das Erstaunen,
wenn bei dem Versuche einer passiven Beugung handbreit unter dem
vermeintlichen Kniegelenk, ein zweites, diesmal das wirkliche Gelenk
zum Vorschein kommt. Tatsächlich hat die rechtwinklige Knickung
des Oberschenkels bei der Umgebung des Kindes diese unrichtige
Vorstellung und bei vielen Aerzten, die das Kind vorher untersucht
Digitized by
Google
124
Robert Wemdorff.
hatten, die unrichtige Diagnose einer tuberkulösen Kontraktur hervor-
rufen können.
Die genaue Untersuchung ergibt folgenden Befund; Ilsower, Karl, 9 Jahre,
Rseszow. Vier Geschwister sind gesund, ein Bruder leidet an Spondylitis
tuberculosa, Iroal hat die Mutter abortiert. Lues der Eltern entschieden in
Abrede gestellt. Der Patient war immer gesund. Von frühester Kindheit an
bemerken die Eltern eine Verkürzung des rechten Beines, die, als das Kind zu
laufen anfing, schon so beträchtlich war, daß ein Gehen ohne Krücke unmög¬
lich war. Der Knabe hat von jeher eine Krücke getragen, niemals mit dem
ahinaufgezogenen** Beine den Boden berührt. Niemals wurde von den Eltern
ein Trauma beobachtet, niemals Schmerzen.
Status: Die rechte untere Extremität ist stark atrophisch und stark ver¬
kürzt. Sie wird im Stehen suspendiert durch nahezu rechtwinklige Beugung
im Hüftgelenk und rechtwinklige Knickung des Oberschenkels, Im Liegen be¬
trägt die Knöcheldistanz bei gleichem Stand der Spinae anteriores superiores
17 cm. Die Knickung liegt handbreit über dem Kniegelenksspalt im unteren
Drittel des Oberschenkels. Sie bildet die Form eines Knies, darüber liegt ein
Schleimbeutel, der die Konturen der Patella vortäuscht. Das Kniegelenk ist
frei beweglich, durch maximale Beugung (Fig. 2) wird die Knickung anschaulich
zur Darstellung gebracht.
Der rechte Oberschenkel mißt in seinem oberen Fragment vom Trochanter
major bis zum Scheitel der Knickung 21 cm, in seinem unteren Fragment vom
Scheitel der Knickung bis zum Kniegelenksspalt 8 cm. Der linke Oberschenkel
mißt in symmetrischer Beugestellung des Hüftgelenkes vom Trochanter major bis
zum Kniegelenksspalt 31 cm. Der rechte Unterschenkel vom Gelenksspalt bis
zum Malleolus medialis 27 cm, der linke Unterschenkel 29 cm.
Der rechte Unterschenkel ist zwei Querfinger unter der Tuberositas tibiae
nach vorn konvex und verdickt. Das ganze obere Tibiadrittel säbelscheiden¬
förmig deformiert. Die Sehnen der Kniebeuger vorsijringend. Am Gesichts¬
skelett keine sichtbaren Veränderungen. Oberarme und Vorderarme gleich
lang. An den Phalangen und Metatarsen keine Veränderungen.
Die klinische Diagnose mußte wegen des langen Bestehens,
wegen der Wachstumsverkürzung und wegen der Deformierung des
oberen Tibiaendes auf Spontanfraktur des Oberschenkels bei multipler
Cystenbildung gestellt werden, wobei es dem Röntgenbilde Vor¬
behalten blieb, zu entscheiden, ob es sich um eine Chondrombildung
nach Art der sogenannten Ollierschen Wachstumsstörung oder um
eine multiple primäre Sarkomatose (Haberer) handelt.
Die radiologische Untersuchung des ganzen Skelettes ergab
hochgradige cystische Veränderungen im rechten Darmbein und an
mehreren Stellen des rechten Ober- und Unterschenkels, Verände¬
rungen, welche ein radiologisch charakteristisches Krankheitsbild liefern
und sich wohl unterscheiden lassen von den übrigen hier in Betracht
kommenden Knochenerkrankungen.
Digitized by L^ooQle
Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 125
Die radiologischen diflferentialdiagnostischen Eigentümlichkeiten
des periostalen oder medullären Sarkomes, des zentralen Knochen¬
abszesses, des tuberkulösen Granulationsherdes im Knochen sind zu
häufig beschrieben, um hier wiederholt werden zu müssen. Auch
die sogenannte Olli ersehe Wachstumsstörung gibt einen charak-
Fig. 3.
teristischen Röntgenbefund, der wohl kaum mit den Radiogrammen
des vorliegenden Falles verwechselt werden kann.
Röntgenbefund: Der rechte Oberschenkel hochgradig atrophisch
und in seinen metaphysären Anteilen, besonders aber in seiner unteren
Metaphyse hochgradig deformiert (Fig. 3, 4 und 5). Der Schenkel¬
hals (Fig. 3) ist stark verkürzt, nahezu um die Hälfte verschmälert.
Es besteht geringe Coxavarasteilung.
Das obere Ende des Oberschenkels ist in eine große multi¬
lokulare Cyste verwandelt. Diese liegt mehr in dem medialen Ober-
Digitized by L^ooQle
126
Robert Werndorff.
schenkelteile, so zwar, daß die mediale Oberschenkelcorticalis 1 cm
unterhalb des Trochanter minor beginnend, in der Mitte der unteren
Schenkelhalslinie endend, stellenweise ganz ausgelöscht, stellenweise
stark verdünnt erscheint. Die Cyste scheint also an der medialen Seite
eine papierdünne, stellenweise knochenfreie Begrenzung zu haben,
Fig. 4.
während sie sich gegen die äußere, übrigens verdünnte Oberschenkel¬
corticalis deutlicher abgrenzt, die Apophyse des Trochanter major
freilassend. Sie scheint durch einige Knochenleisten in einzelne
Höhlen zerlegt, die Trabekelu in ihrer Struktur undeutlich, wie
verwischt, ausgewaschen. Der ganze Innenraum der Cyste wolkig
verschleiert.
Der übrige der Cyste benachbarte Knochen, also das mittlere
Oberschenkeldrittel, zeigt eine stark verdünnte Corticalis medial und
Digitized by
Google
Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 127
lateral, die Spongiosa sehr deutlich, stellenweise wolkig getrübt mit
ausgelöschter Struktur und Andeutung von kleiner Vakuolenbildung.
Das untere Oberschenkeldrittel (Fig. 4) vier Querfinger Über
dem Gelenk rechtwinklig nach hinten umgebogen, der antero-
posteriore Durchmesser im Be¬
reiche der Knickung nahezu um
das Dreifache vergrößert. Das
ganze untere Drittel des Ober¬
schenkels ist verwandelt in eine
nach unten an der Knieepiphyse
begrenzte, nach oben drei Quer¬
finger über die Knickungsstelle
reichende multilokulare Cyste;
die hintere Wand bis zwei Quer¬
finger über die Epiphysenfuge
um das Dreifache verdickt, da¬
selbst eingeknickt, von hier an
ist die Corticalis undeutlich ver¬
wischt, schollig. Dem vorderen
Winkel der Knickung entspre¬
chend ist die Corticalis ein¬
gebrochen. Die ganze Cyste ist
durch Trabekeln in mehrere
Hohlräume zerlegt, die Struk¬
tur der Trabekeln verwaschen,
wie „verwackelt“. Der Haupt¬
anteil der Cyste läßt radiologisch
keinen Inhalt erkennen; dagegen
sind im vorderen Knickungs¬
winkel einige unregelmäßig be¬
grenzte , erbsengroße, verwa¬
schene Flecken. Die oberste,
oberhalb der Knickungsstelle ge¬
legene, etwa walnußgroße Kam¬
mer zeigt eine deutliche streifige
Architektur ihres Grundes. Die Spongiosa des die Cyste nach oben hin
begrenzenden Knochens ist deutlich streifig angeordnet, in ihrer Mitte
zwei scharf umgrenzte erbsengroße Höhlen umschließend. Hochgradige
Atrophie derKniegelenkskonstituentien. Die Gelenkkörper sonst normal.
Digitized by
Google
128
Robert Werndorff.
Bedeutende Atrophie des rechten Unterschenkels. Die oberen
und unteren Partien des Waden- und Schienbeines zeigen ähnliche
cystische Veränderungen, wie sie am Oberschenkel beschrieben wurden.
Die Tibia ist unterhalb der Tuberositas tibiae nach vorn konvex
gekrümmt. Sie ist im oberen Drittel im antero-posterioren Durch¬
messer vergrößert. Das ganze obere Drittel der Tibia ist von einer
Cyste substituiert, die nach oben die Epiphyse unberührt läßt, deren
vordere Wand stellenweise verdickt, deren hintere Wand stellenweise
papierdünn, stellenweise ausgelöscht erscheint. Teilung in einige
Kammern. Kein radiologisch nachweisbarer Inhalt; das obere Fibular-
ende im antero-posterioren Durchmesser vergrößert, die Corticalis
stark verdünnt, mehrere pflaumenkerngroße bis erbsengroße Höhlen¬
bildungen, die Spongiosa teils deutlich streifig, teils verwaschen,
schollig verändert.
Im mittleren Drittel der Tibia und Fibula zeigt die Spongiosa
deutlich streifige Architektur.
Das untere Tibia- und Fibuladrittel weist ähnliche Verände¬
rungen auf, wie das obere Drittel. Das Sprunggelenk ist frei.
Starke Atrophie des Fußskelettes. Im rechten Darmbeine eine über¬
walnußgroße zweikämraerige Höhle. Am übrigen Skelett, einschlie߬
lich des Schädels, fanden sich nicht die geringsten Veränderungen.
Charakteristisch ist also das multiple Auftreten von Cysten im
Skelette eines jugendlichen Individuums. Wir waren nach der
Röntgenuntersuchung nicht im Zweifel, daß diese Beobachtung dem
von Habe rer aufgestellten Typus der sogenannten sarkomatösen
Knochencysten jugendlicher Individuen zuzurechnen sei, umsomehr
als, wie aus Fig. ö hervorgeht, die bei Olli er scher Wachstums¬
störung verkommenden Cysten radiologisch leicht von Hab er er sehen
Cysten unterschieden werden können.
Die Frage der Knochencysten vom Hab er er sehen Typus ist in
der jüngsten Zeit so oft und ausführlich erörtert worden, daß der
literarische Tatbestand als bekannt vorauszusetzen ist. — Die deutlich
streifige Beschaffenheit der Spongiosa an einzelnen Stellen des cystisch
veränderten Knochens, besonders aber in dessen Nachbarschaft, mußte
den Gedanken nahe legen, daß der Fall unserer Beobachtung vielleicht
io Beziehungen zu der von Recklinghausen beschriebenen Osteo-
malacie des Knochens mit multipler Tumorbildung, Ostitis fibrosa, zu
bringen sei. — Auch die Schilderungen Recklinghausens und seiner
Epigonen müssen als bekannt vorausgesetzt werden, erinnert sei nur
Digitized by
Google
Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 129
an den großartigen Umbau des Knochens, der das Krankheitsbild
der Ostitis fibrosa charakterisiert, die Neubildung eines kalklosen
Knochens, die Halisterese des alten Knochens, die Umwandlung des
Knochenmarkes in Fasermark und endlich das Auftreten von Riesen¬
zellensarkomen in dem osteomalacisch veränderten Knochen; im An¬
schluß daran die Spontanfrakturen.
Zur Entscheidung der Frage, ob die multiple Sarkomatose des
jugendlichen Knochens als eine primäre Skeletterkrankung in unserem
Falle aufgetreten sei, oder ob sie in einem durch Osteomalacie im
Sinne Recklinghausens veränderten Knochen sich entwickelte,
kann nur durch eingehende mikroskopische Untersuchung entschieden
werden. Die Entscheidung dieser Frage erschien umso wichtiger,
als die bisher mitgeteilten und mikroskopisch erhärteten Fälle von
fibröser Ostitis mittleren oder höheren Alters waren, niemals aber
dem ersten Dezennium angehörten. Die mikroskopische Unter¬
suchung muß sich, wenn sie ein entscheidendes Wort sprechen will,
auf das ganze Skelett erstrecken. Wenige sind so glücklich, über
eine Autopsie zu verfügen. Die durch Operation und Probeexzision
gewonnenen Präparate müssen ein unbefriedigendes Resultat geben;
denn es hängt vom Zufall und vom Glück des Untersuchers ab, ob
er gerade die richtige Stelle trifft, und ausgedehnte Eingriffe am
Skelette zu diagnostischen Zwecken sind unausführbar und unerlaubt. In
dem vorliegenden Falle konnte ein beträchtliches Stück des Knochens
durch Operation entfernt werden: nahezu der ganze pathologisch
veränderte Knochen an der Knickungsstelle des Oberschenkels, dazu
das Knochenmark des benachbarten, anscheinend gesunden Knochens;
ferner ein 5 cm langer Knochenspan aus der Tibia, entsprechend
dem deformierten oberen Ende. Leider konnte die Einwilligung des
Vaters zur Entnahme eines Stückes aus der Mitte der Tibia und
Fibula nicht erhalten werden. Gerade diese Stelle hätte wegen der
streifigen Struktur im Röntgenbilde untersucht werden müssen.
Bei der am 20. März 1908 vorgenommenen Operation zeigte der durch
Längsschnitt an der Knickungsstelle freigelegie Knochen in Farbe und Konsistenz
keine Abweichung von der Norm. Der Knochen war an dem vorderen Scheitel
der Deformität eingeknickt, die Fragmente bindegewebig verwachsen. Beim
Durchtrennen dieses Bindegewebes stellten sich drei schrotkorngroße graue
Körner von derber Konsistenz in die Wunde ein. Nach Eröffnung des Knochens
präsentiert sich das Innere vollkommen ausgefüllt von einer braunrötlichen
festen Tumormasse, die leicht zerreiblich ist. Keine Höhlenbildung, kein flüs*
siger Inhalt; es wird nun möglichst im Gesunden die Tumormasse entfernt
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 9
Digitized by CiOOQle
130
Robert Wemdorff.
durch Entnahme eines Keiles mit vorderer Basis. Die Basis beträgt etwa 4 cm
im Längsdurchmesser und geht durch die ganze Breite des Knochens, der übrige
Knochen wird sorgfältig ausgekratzt, tief hinein bis ins gesunde Mark, nach
oben und unten.
Dann wird aus dem proximalen Tibiaende, entsprechend der Auftreibung
an der Tuberositas ein ca. 4 cm langer Knochenspan mit dem Periost entfernt, das
dieser Knochenpartie entsprechende Knochenmark, sowie das Mark der angren¬
zenden Partien nach oben und unten wird mit entfernt
Der folgende mikroskopische Befund wurde von Dr. Erd he im,
Assistenten am Wiener Institut für pathologische Anatomie, verfaßt.
,1. Querschnitt durch das resezierte Stück aus dem unteren Femurende.
Es handelt sich um einen zentral im Knochen sitzenden Tumor, der von innen
her den Knochen zerstört. Stellenweise ist der Tumor noch von einer mäch¬
tigen Schicht kompakter Knochensubstanz bedeckt, während an den anderen
Stellen der Tumor über sich keine Knochendecke mehr aufweist, sondern direkt
an das Periost grenzt, ohne an solchen Stellen sich besonders hervorzuwölben.
Das Tumorgewebe dringt nicht nur gegen die Knochenbalken, sondern zwischen
diesen durch in den Markräumen vor. Im Tumorgewebe finden sich daher
insbesondere peripher sehr oft Knochenbalken eingeschlossen.
Das Knochengewebe ist an verschiedenen Stellen sehr deutlich lamellar
gebaut und weist spärliche, schlanke, parallel liegende Knochenkörperchen auf.
An solchen Stellen sind Kittlinien recht häufig. An anderen Stellen wieder
handelt es sich um geflechtartigen Knochen. Eine lamelläre Struktur ist nicht
sichtbar, die Knochenkörperchen sind plump, groß, sehr zahlreich und liegen
regellos durcheinander. Hier sind Sharpeysche Fasern oft von beträchtlicher
Dicke sehr reichlich zu finden. Aber auch an solchen Stellen sind die Haversi-
schen Kanäle nicht selten von Knochenlamellen umgeben und das Knochen¬
gewebe ist gegen den Kanal hin von Osteoblasten eingesäumt. Die Markräume
sind zum Teil von einem feinfaserigen und dichten Bindegewebe mit mehr oder
weniger reichlichen zelligen Knochenmarkselementen, zum Teile von Fettzellen
erfüllt. Der Tumor ist seiner Hauptmasse nach aus großen, spindeligen Zellen
mit lichtem Kern zusammengesetzt (Fig. 6 a), die zwischen sich reichlich Binde¬
gewebsfasern führen. Recht reichlich sind in das Tumorgewebe auch Riesen¬
zellen eingetragen (Fig. Gc), die eine sehr verschiedene Form aufweisen und
von dichtstehenden ovalen mit je einem Kernkörperchen versehenen Kernen
fast ganz erfüllt sind. Sehr häufig begegnet man im Tumor Hämorrhagien
und ebenso auch großen Schollen eines grobkörnigen, sattgelbbraunen, häma¬
togenen Pigmentes. Das Turaorgewebe ist frei von elastischen Fasern.
Da, wo das Tumorgewebe gegen einen Knochenbalken vordringt, weist der
letztere zumeist schön ausgebildete Lakunen auf, in denen jedoch zumeist das
spindelzellige Turaorgewebe (bei a, Fig. 6) und nur selten Riesenzellen liegen
(Fig. 6d), die sich in nichts Wesentlichem von den anderen Riesenzellen des
Tumors unterscheiden.
II. Die schrotkornähnlichen Gebilde besitzen an ihrer Peripherie eine
dünne Schichte wohlerhaltenen Bindegewebes mit guter Kemfärbung. In ihrem
Innern weisen sie zahlreiche rundliche und unregelmäßig geformte Herde grob-
Digitized by L^ooQle
Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 131
faserigen und hyalinen Bindegewebes auf, dem die Kemfärbung vollkommen
fehlt. Zwischen diesen Herden ziehen bald schmälere, bald breitere Balken
von faserigem, kemfQhrenden Bindegewebe, das mit der haspelartigen Binde*
gewebsschicht kontinuierlich zusammenbängt. Ferner finden sich im Innern
dieser Gebilde kleine Herde von körnigem Detritus, der sich bei der van Gieson-
farbung gelb färbt. In einem dieser beiden Gebilde endlich liegt ein Stückchen
sehr deutlich lamellär gebauten Knochengewebes, das einen vollständig lakunär
zerfressenen Rand aufweist und nekrotisch ist. Die Knochenkörperchen nehmen
nämlich mit vereinzelten Ausnahmen keinen Kernfarbstoff mehr auf.
Fig. 6.
III. Der Span von der Tibia besteht im wesentlichen’aus einem Stück
normaler Knochenkompakta mit dem Periost. Im obersten Ende des Stückes
liegt im Knochengewebe ein Nest von Tumorgewebe, das der Hauptsache nach
mit dem oben beschriebenen übereinstimmt.“
Die mikroskopische Untersuchung hat also eindeutig das mul¬
tiple Auftreten von Riesenzellensarkomen festgestellt. Am Knochen
selbst, soweit er durch das Tumorgewebe nicht verändert wurde,
fanden sich nicht die geringsten Zeichen eines osteomalacischen
Prozesses, kein Fasermark, ein Befund, der zu Ungunsten der Be¬
strebungen spricht, die Habe rer sehen Riesenzellensarkome als eine
Teilerscheinung, als die letzte und höchste Entwicklungsstufe jener
Knochenveränderungen aufzufassen, die von Recklinghausen mit
Digitized by L^ooQle
132
Robert Wemdorff.
dem Namen Ostitis fibrosa bezeichnet wurden. Die Meinung, in
dem durch Osteomalacie vorher veränderten und durch diese Schädigung
prädisponierten Knochen entstünden die Riesenzellensarkome, steht
auf keinem festen Boden, wenn man in Erwägung zieht, daß in
meinem Fall in einem durchaus gesunden Knochen — Compacta und
Mark — ein Nest des Tumorgewebes eingebettet liegt. An dem
resezierten Stück aus dem Oberschenkel mag man den Einwand hin¬
nehmen, es sei im Tuniorgewebe reseziert worden und die benach¬
barten nicht entfernten Teile könnten die für Ostitis fibrosa charak¬
teristischen Veränderungen enthalten, die mikroskopische Untersuchung
des großen der Tibia entnommenen Spanes läßt darüber keinen Zweifel,
daß inmitten eines vollkommen gesunden Knochens, bei vollkommen
normaler Compacta, normalem Periost und Knochenmark ein Riesen¬
zellensarkom sich befindet. Leider konnte die mikroskopische Unter¬
suchung der im Röntgenbild so streifig erscheinenden Knochenpartien
nicht ausgeführt werden, sie hätte vielleicht eine Erklärung gebracht.
Nach den Untersuchungsergebnissen der mir zugänglichen Knochen¬
teile kann ich nur ein multiples Auftreten von Riesenzellensarkomen
im jugendlichen sonst unveränderten Knochen feststellen. Versuche,
diesen von Haber er so genau geschilderten Typus in Beziehungen
zur Re ckli ng hausen sehen Ostitis fibrosa zu bringen, endigen bei
Hypothesen, die umsoweniger Wert besitzen, je mehr Spielraum sie
der Phantasie lassen. Man erwäge folgende Fragen: Ist der Ver¬
lauf der Ostitis fibrosa im jugendlichen Knochen, bei der jugend¬
lichen Gefäßanordnung ein anderer wie im mittleren oder späteren
Alter? Tritt sie vielleicht lokalisiert, weniger ausgebreitet auf und
sind zur Zeit der Untersuchung dieosteomalacisch veränderten Knochen¬
partien von dem langsam aber konstant wachsenden Tumor sub¬
stituiert worden? Oder kann jemand die Frage entscheiden, ob die
osteomalacischen Veränderungen, die bei der Ostitis fibrosa im
zweiten und dritten Dezennium mit Riesenzellensarkomen beobachtet
wurden, nicht erst später in einem Knochen auftreten können, der
lange vorher von einer Sarkomatose im Sinne Haberers be¬
fallen war?
Die von Recklinghausen angenommene Entstehungsursache,
seine Meinung, die pathologischen Veränderungen entstünden an
Stellen des Skelettes, die mechanisch stark in Anspruch genommen
werden, an Stellen, die Druck- und Zugwirkungen am meisten aus¬
gesetzt sind, wird durch meine Beobachtung nicht bestätigt. Zu-
Digitized by C^ooQle
Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 133
nächst finden sich die Veränderungen an einem statisch unwichtigen
Knochen in derselben Ausdehnung, nämlich der Fibula, und dann
hat mein Patient niemals sein Bein benützt, sondern immer sus¬
pendiert getragen, es ist also hier das Gesetz von den Zug- und
Druckwirkungen nicht anwendbar. Hingegen scheint es, daß die
metaphysäre Gefäßanordnung zur Lokalisation in Beziehung gebracht
werden kann. Unterstützt wird diese Auffassung durch die Beob¬
achtung, daß bei der Olli ersehen Wachstumsstörung die chondro-
matösen Tumoren an eben denselben Stellen zur Entwicklung ge¬
langen.
Die weitere Beobachtung des Falles wird vielleicht noch manche
Aufklärung bringen.
Digitized by L^ooQle
X.
(Aus dem Universitäts-Ambulatorium für orthopädische Chirurgie
des Prof. Dr. A. Lorenz in Wien.)
lieber einen eigentümlichen Knochen- und
Gelenkprozeß‘).
Von
Dr. Rudolf Ritter v. Aberle,
Assistenten des Ambulatoriums.
Mit 6 Abbildungen.
Meine Herren! Ich erlaube mir Ihnen über einen Fall zu
berichten, den ich vor einigen Monaten im Ambulatorium des
Professors Lorenz zu beobachten Gelegenheit hatte. Es handelt
sich um einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß, der so¬
wohl beide rechte Vorderarmknochen, als auch das Ellbogen- und
Handgelenk dieser Seite betrifft. Bevor ich auf die Einzelheiten
des Falles näher eingehe, sei hier vorerst die Krankengeschichte
auszugsweise mitgeteilt.
M. Bernhard, 40 Jahre alt, Schuhmacher aus Turcz, ügocsa-
Konütat in Ungarn.
Aus der Anamnese ist hervorzuheben, daß Patient aus voll¬
kommen gesunder Familie stammt; sowohl die Eltern als auch alle
Geschwister leben und weisen keinerlei Mißbildungen auf. Auch
der Patient soll niemals krank gewesen sein, mit Ausnahme einer
Erysipelerkrankung im 17. Lebensjahre. Mit 13 Jahren trat er als
Schuhmacherlehrling in Dienst.
Im 24. Lebensjahre stellten sich angeblich nach einer Ver¬
kühlung Schmerzen im rechten Ellbogengelenke ein, die allmählich
begannen, später aber an Heftigkeit bedeutend Zunahmen. Patient
0 Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für ortliopüdische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by C^ooQle
lieber einen eigentümlichen Knochen* und Gelenkprozeß.
135
verlegte die Hauptschmerzen in die Olekranonspitze. Der ganze
Prozeß, der ohne jede Eiterung und offene Wunde vor sich ging,
dauerte ungefähr 1 Jahr. Während dieser Zeit bemerkte der Patient,
daß das Radiusköpfchen immer mehr und mehr hervortrat. Im
Gegensatz dazu schien es, als ob sich der distale Anteil des Humerus
immer stärker verschmälem würde. Patient war damals arbeits¬
unfähig. Nach Ablauf des Prozesses am Ellbogengelenke arbeitete
der Patient jedoch ohne besondere Störung 15 Jahre als Schuh¬
macher weiter. Er fühlte zwar hie und da noch unbestimmte
Schmerzen, ein „Ziehen" an der Dorsalseite des Unterarmes, hatte
aber im Ellbogengelenke selbst gar keine Schmerzempfindung. Un¬
gefähr im Mai 1906 trat spontan eine neuerliche Schwellung, dies¬
mal des rechten Handgelenkes, auf. Während bei Ruhestellung des
Gelenkes keine Schmerzen vorhanden waren, war die Bewegung des
Handgelenkes und die Berührung desselben ungemein empfindlich.
Schwellung und Schmerzhaftigkeit haben seither etwas abgenommen.
Andere Gelenksschwellungen waren nie vorhanden. Es ist noch zu
erwähnen, daß Patient mit 17 Jahren eine Gonorrhöe durchmachte.
Doch hing die Ellbogenschwellung damit zeitlich absolut nicht zu¬
sammen. Mit 20 Jahren soll Patient ein Ulcus molle akquiriert
haben, welches nach 8 Tagen unter Lapistouchierung glatt aus¬
heilte. Patient hat angeblich nie einen Ausschlag gehabt. Nach
Ausheilung des Ellbogenprozesses, also mit 25 Jahren, heiratete
Patient und hat vollkommen gesunde Kinder.
Status praesens am 27. Dezember 1906: Schwächlicher,
aber gesund aussehender Mann von grazilem Knochenbau und gering
entwickeltem Panniculus adiposus. Vollkommen normaler interner
Befund. Nervenbefund ebenfalls normal.
Linker Arm zwar mager, aber ziemlich muskulös und kräftig.
Rechter Arm zeigt sehr schwache, atrophische Muskulatur. Er
wird etwas im Ellbogengelenk gebeugt, der Vorderarm fast voll¬
kommen proniert gehalten. Es fehlen 40® auf die volle Streckung,
Beugung jedoch bis zum spitzen Winkel, bis zur Hemmung durch
die interponierten Weichteile möglich. Rollung des Vorderarmes
vollkommen gesperrt. Die Rotationsbewegungen werden mit dem
ganzen Arme ausgeführt. Bei der Inspektion des Ellbogengelenkes
fällt sofort an der lateralen Seite, entsprechend der Gegend des
Badiusköpfchens, eine kugelige Vorwölbung auf (Fig. 1), welche
auch, wie die Palpation ergibt, tatsächlich dem Capitulum radii ent-
Digitized by
Google
136
V. Aberle.
spricht. Dasselbe kann fast in vollem Umfange abgetastet werden,
ebenso ist die proximale Delle, welche de norma die Eminentia
capitata humeri aufnimmt, leer und deutlich fühlbar. Weiters er¬
scheint die ganze Ellbogengegend verbreitert, die Konturen derselben
verwischt. Die das Ellbogengelenk konstituierenden Teile des Humerus
und der Ulna sind aufgetrieben, undeutlich tastbar, nur an der
Streckseite des Gelenkes läßt sich das Olekranon genau differenzieren.
Fiff. 1.
Das rechte Handgelenk ist in toto geschwollen. Umfang, in
der Höhe des Processus styloideus radii gemessen, rechts 18 cm,
links 15 cm. Die Hand weist in ganz geringem Grade eine Ulnar¬
flexion auf. Alle Handgelenksbewegungen möglich, aber teilweise
bedeutend eingeschränkt. Die Palmarflexion ist rechts nur höchstens
im Umfange von 10®, links bis fast zum rechten Winkel ausführbar.
Die Dorsalflexion rechts nur wenig eingeschränkt, wenn auch nicht
in so vollkommenem Maße als links möglich. Die Radialflexion
beiderseits gleich, Ulnarflexion links stärker als rechts ausführbar
(links 50®, rechts nur 40®). Die Palpation ergibt den Hacken des
Hackenbeines besonders deutlich vorspringend. Proximalwärts davon
Digitized by L^ooQle
Ucber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß.
187
eine kleine Grube, welche die ganze Fingerkuppe des zweiten Fingers
eindringen läßt. In der Tiefe harter Widerstand, proximalwärts von
der Grube fühlt der tastende Finger deutlich die Diaphyse der Ulna.
Links ist das Grübchen viel seichter, man tastet sofort das rundliche
ülnaköpfchen mit dem Processus styloideus ulnae.
Die Verhältnisse der rechten Hand sind normal.
Die Haut der ganzen rechten oberen Extremität zeigt nicht die
geringste Veränderung in Farbe, Behaarung und Beschaffenheit, an
keiner Stelle eine Fistel oder eine Fistelnarbe bemerkbar.
Die linke obere Extremität ergibt einen vollkommen normalen
Befund.
Die Maße der beiden oberen Extremitäten ergeben vergleichs¬
weise:
Rechts . . ,
1 1 o i N Links
(kranke Seite)
Von der Akromionspitze bis zur Olekranon¬
spitze .82 cm, 32 cm.
Von der Olekranonspitze bis zum Processus
styloideus radii.-3 „ 25cm.
Vom Processus styl, radii bis zur Spitze der
Endphalanx des MittelHngers .... 17 „ 17 cm.
Länge der oberen Extremität von der Akro-
niionspitze bis zur Spitze der End¬
phalanx des Mittelfingers.72 cm, 74^/i cm.
Es besteht also eine Verkürzung der rechten oberen Extremität
von 2^/4 cm, welche ausschließlich den Unterarm betrifft.
Eine genaue Aufklärung der tatsächlichen Verhältnisse des
Ellbogen- und Handgelenkes, sowie der beiden Vorderarmknochen
ergaben erst die im Ambulatorium angefertigten Röntgenbilder, die
im Gegensatz zu dem namentlich am Handgelenke nicht besonders
auffallenden objektiven Befunde einigermaßen verblüfi'end wirkten.
Der Röntgenbefund (Fig. 2—5) ergibt nämlich neben einer
hochgradigen Atrophie des ganzen rechten Vorderarmes, grobe
destruktive Veränderungen, die sich hauptsächlich auf die Diaphyse
der Ulna und auf die Konstituentien des Ellbogen- und Handgelenkes
erstrecken. Die Metaphyse des Humerus ist verbreitert. Im Ellbogen¬
gelenk besteht eine Luxation des son.st normalen Radiusköpfcbens nach
oben und außen. Das untere kaum veränderte Humerusende scheint
wie in den Gelenkteil der Ulna hineingetrieben, der Gelenkspalt un-
Digitized by C^ooQle
138
V. Aberle.
deutlich, aber erhalten. Das Olekranon ist verbreitert, nach hinten
gedrängt, weit über die Fossa olecrani nach oben hinaufreichend
mit knöchernen Appositionen. Eine besonders auffallende osteo-
phytische Auflagerung verbindet das proximale Ulnaende entsprechend
der Tuberositas ulnae mit der Tuberositas radii. Der Ulnaschaft
ist im oberen und mittleren Drittel stark verdickt und hat zahlreiche
osteophytische Auflagerungen an dem der Membrana interossea zur
Insertion dienenden Rande.
Das untere Ulnadrittel ist stark verjüngt und so konsumiert,
Digitized by L^ooQle
Ueber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß.
139
daß der Gelenkteil im Ausmaße von etwa 3 cm vollkommen fehlt.
In dieser Höhe über der Gelenklinie endet die Ulna in einer scharfen
Spitze. In diesem Drittel fehlen die Osteophyten vollkommen.
Das karpale Ende des Radius stark destruiert. Es besteht
eine Luxation des Handgelenkes nach der ulnaren Seite. Der
Carpus scheint in den ulnaren, besonders stark konsumierten Anteil
der Kadiusepiphyse hineingepreßt.
Das ganze Handgelenk stark atrophisch, sonst unverändert.
Fig. 4.
Als Therapie wurde ein Stützapparat für die rechte Hand,
überdies Einreibungen mit Unguentum cinereum und innerliche Dar¬
reichung von Jodkali verordnet. Schon nach ca. 10 Tagen verließ
der Patient Wien, so daß eine längere Beobachtung unmöglich wurde.
Erfreulicherweise stellte sich der Patient jedoch am 14. Sep¬
tember 1907 wieder vor. Ueber den Verlauf der Krankheit läßt
sich berichten, daß der Patient durch 3 Wochen hindurch die Ein¬
reibungen mit Quecksilbersalbe in der Handgelenkgegend vornahm.
Innerhalb dieser Zeit schwoll das Handgelenk allmählicli ab, während
auch die Schmerzen abnahmen. Nach der Abschwellung kräftigte
sich die Hand wieder so weit, daß der Patient nach weiteren
3 Wochen die Arbeit wieder aufnehmen konnte. Da er aber bei
Digitized by CaOOQle
140
V, Aberle.
stärkerer andauernder Beschäftigung noch immer an leichten Schmerzen
leidet, gab er das Schuhmacherhandwerk vollkommen auf und ver¬
richtet seither nur leichte Arbeit.
Der Status praesens am 14. September 1907 ergab im
wesentlichen dieselben Verhältnisse wie vor 9 Monaten. Doch ist
das rechte Handgelenk nicht mehr geschwollen und kaum von dem
linken zu unterscheiden. Der Umfang des rechten Handgelenkes
beträgt über dem Processus styloideus radii gemessen jetzt nur
16^/2 cm (früher 18 cm), links 15 cm. Auch die Beschränkung der
Beweglichkeit ist die gleiche geblieben. Die Kraft der rechten Hand
Fig. 5.
ist abgeschwächt, doch ziemlich gut, so daß der Patient damit leicht
schwere Gegenstände aufzuheben im stände ist. Am Ellbogen keine
Veränderungen. Auch die neuerdings von uns angefertigten Röntgen¬
bilder zeigen keinerlei Veränderungen der Knochen Verhältnisse.
Da der ganze Krankheitsprozeß sowohl am Ellbogen- als am
Handgelenke trotz der ausgedehnten Defekte ohne jede Eiterung
und Fistelbildung verlief, sind von vornherein Osteomyelitis und
Tuberkulose auszuschließen. Es ist daher klar, daß man in diesem
Falle zunächst an Lues denken muß, doch muß zugegeben werden,
daß das Bild auch für einen luetischen Prozeß keineswegs charakte¬
ristisch ist. Während noch bis vor kurzem die Kenntnisse der lue-
Digitized by L^ooQle
lieber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß.
141
tischen Knochenerkrankungen sehr mangelhafte waren, ist durch die
ausführlichen Arbeiten von Chiari, R. Hahn und Deycke Pascha,
Holzknecht, Kienböck, Köhler, Hänisch, Reitter u. a.
ein genaues Bild dieser nicht zu seltenen Affektionen gegeben wor¬
den. Im vorliegenden Falle fehlen uns sowohl für die Annahme einer
luetischen Periostitis, als auch eines zentralen Markgumma, welches
vielleicht noch am ersten in Frage käme, die Hauptmerkmale. Wir
sehen nirgends eine periostitische Auflagerung, nirgends das besonders
von Hahn und Deycke Pascha, sowie von Hänisch hervor¬
gehobene Auftreten zirkulärer Periostitis, welche von ersterem
geradezu für pathognomonisch für Syphilis angesehen wird. Es
fehlt ferner das wichtigste Charakteristikon, das fast alle Autoren
übereinstimmend anführen, nämlich das gleichzeitige Bestehen
von Osteoporose und Hyperostose an ein und demselben Knochen
unmittelbar nebeneinander.
Namentlich in der vorwiegend in Betracht kommenden Region,
am distalen ülnaende, ist nicht die geringste Spur eines regenera¬
tiven Prozesses zu bemerken. Man müßte hier vielmehr reichliche
hyperplastische Vorgänge, Verdickung und Sklerosierung am Rande
des Gumma erwarten. Auch die Verknöcherungen im Ligamentum
interosseura, die zwar sehr häufig bei Lues anzutreffen sind, dürfen
keineswegs als für Lues allein beweisend angesehen werden. Solche
Verknöcherungen kommen bekanntlich auch bei anderen Prozessen
vor, namentlich sind sie oft dann anzutreffen, wenn eine erhöhte
Arbeitsleistung von dem betreffenden Knochen gefordert wird, wenn
dieselben also entweder auf Zug oder Druck mehr beansprucht
werden. Diese Knochenauswüchse sind dann als einfache statische
Bildungen aufzufassen. So kommen sie z. B. nicht selten nach Frak¬
turen und Luxationen vor. Auch in meinem Falle dürften die Ver¬
knöcherungen im Ligamentum interosseura, die hier von der Ulna
ausgehen, nicht anders zu deuten sein. Denn nicht nur durch die
Luxation des Radiusköpfchens, sondern auch ganz besonders durch
den Schwund des distalen Ulnaendes, wodurch die aus ihrer Ver¬
bindung mit dem Radius gebrachte Ulna ihren Stützpunkt teilweise
verloreu hatte, sind ganz andere statische Verhältnisse geschaffen
worden. Gegen die Annahme einer luetischen Affektion spricht
ferner die trotz ihrer Hochgradigkeit streng isolierte Erkrankung
der beiden Vorderarmknochen. Denn es finden sich am ganzen
übrigen Körper nicht die geringsten Spuren einer ähnlichen Er-
Digitized by
Google
142
V. Aberle.
krankung. Auch das Übrige Skelett, welches Ton Dozent Dr. Holz-
knecht aufs sorgfältigste unter dem Trochoskope abgesucht wurde,
zeigte Tollkommen normale Verhältnisse. Es fehlt daher auch das
bei syphilitischen Gelenkerkrankungen so häufige symmetrische Auf¬
treten der Aflfektion. Auch in den ausführlichen Arbeiten der oben
genannten Autoren fand sich kein einziges Bild, welches auch nur
annähernd mit dem meines Falles verglichen werden könnte. Ebenso
konnten sich die Wiener Fachradiologen, denen ich fast allen die
Bilder demonstriert hatte, an keinen ähnlichen Befund bei syphili¬
tischen Knochenerkrankungen erinnern. Ferner gab weder die
Anamnese noch die klinische Untersuchung einen Anhaltspunkt für
eine überstandene luetische Aflfektion. Leider wurde eine Probe¬
exzision nicht gestattet.
Auch der weitere Verlauf der Erkrankung war für Lues nicht
beweisend. Die Schwellung und die Schmerzhaftigkeit gingen zwar,
wie erwähnt, unter lokaler Behandlung mit Unguentum cinereum
innerhalb 3—4 Wochen vollständig zurück; doch muß dabei berück¬
sichtigt werden, daß erstens der Prozeß bei meiner ersten Unter¬
suchung bereits überhaupt im Abklingen war und daß zweitens Un¬
guentum cinereum bekanntlich auch andere Prozesse günstig beeinflußt.
Ebenso hatte der Ellbogenprozeß seinerzeit ohne Behandlung eben¬
falls dieselbe Zeit, ca. 1 Jahr zur Ausheilung benötigt. Schließlich
hätten die Röntgenbilder, die nach 9 Monaten angefertigt wurden,
nach erfolgter Ausheilung zum mindesten andere Knochenverhält¬
nisse bieten müssen. Doch ergaben sie keine wesentlichen Ver¬
änderungen.
Selbst Lues angenommen, hätten wir also hier einen einzig
dastehenden Befund.
Es drängt sich daher die Frage auf, ob es sich in diesem Falle
nicht doch um einen anderen, vielleicht noch selteneren Prozeß
handeln könnte, nämlich um eine trophone urotis che Störung
ohne nachweisbares Rückenmarksleiden. Denn der auf der psychia¬
trischen Klinik aufgenommene Nervenbefund des Patienten war voll¬
kommen negativ. Es fanden sich, trotzdem die Untersuchung eigens
darauf hin gerichtet war, keinerlei Symptome, die auf irgend eine
Affektion des Nervensystems schließen ließen. Temperatur- und
Tastsinn in keiner Weise gestört.
Doch erinnert das destruierte distale Ulnaende entschieden an
die bizarren Knochenformen bei Lepra, Syringomyelie und Tabes,
Digitized by
Google
lieber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß.
143
die alle bekanntlich auf trophischen Störungen von seiten der Nerven
beruhen und wenigstens bei Syringomyelie und Tabes stets ohne
primäre Eiterung verlaufen. Denn die Eiterungen und Sequestrie¬
rungen sind nach Graf stets als sekundär aufzufassen.
Die Annahme einer trophischen Störung gewinnt um so mehr
an Wahrscheinlichkeit, als ich in der Nouvelle Iconographie de la
Salpetri^re einen von Georges Gasne veröffentlichten Fall fand,
der die größte Aehnlichkeit mit meinem aufweist.
Prof. Gasne war so freundlich, mir die Reproduktion des in
diesem Werke abgebildeten Röntgenogrammes zu gestatten. Ich er¬
laube mir an dieser Stelle sowohl ihm, als auch der Verlagsbuch¬
handlung Masson et Cie. in Paris für ihr Entgegenkommen meinen
besten Dank auszusprechen.
Die Krankengeschichte des Falles, die ich hier auszugsweise
mitteile, war folgende:
B., 20jähriger Mann, Spezereihändler. Eintrittstag 25. Dezem¬
ber 1897 bei Professor Raymond.
Gut genährter Mann, Gesamteindruck eines rüstigen und in¬
telligenten Menschen. Vater an Lungentuberkulose gestorben, Mutter
und Geschwister leben und sind gesund. Der Patient soll stets ge¬
sund gewesen sein; keine Infektionskrankheit, keine Konvulsionen.
Die jetzige Krankheit begann ca. Anfang 1895. Erstes Symptom
war eine Anschwellung der rechten Hand, die zu einer Ungeschick¬
lichkeit derselben führte. Doch muß betont werden, daß eine In¬
fektionskrankheit, fieberhafte Ursache oder eine venerische Alfektion
auszuschließen war. Ohne jede Störung des Allgemeinbefindens
schwoll die Hand langsam immer mehr an und zwar durch min¬
destens 14 Monate; Höhepunkt der Schwellung ca. Januar 1896. Zu
dieser Zeit breitete sich die Geschwulst über den Vorderarm,
Oberarm und Schulter aus. Die Geschwulst war bedeutend, die
Finger waren wie dicke Würste aneinandergereiht. Der Handrücken
erschien infolge der Schwellung abgerundet. Die Konsistenz der
Schwellung war hart, der Fingereindruck blieb leicht sogar eine
Stunde lang bestehen. Keine Schmerzempfindung. Die Finger¬
gelenke, Hand-, Ellbogen- und Schultergelenk waren leicht und ohne
Schmerz frei beweglich. Das objektive Empfindungsvermögen war
normal. Das Oedem verschwand nach und nach und blieb seit
September 1896 stationär. Aber seit dieser Zeit ist die Beweglich¬
keit der Finger so eingeschränkt, daß das Schreiben zur Unmöglich-
Digitized by C^ooQle
144
V. Aberle.
keit wurde. Nicht wegen der Schmerzen, sondern wegen der Be¬
weglichkeitsstörungen suchte der Patient ärztlichen Rat auf. Erst
seit 6 Monaten bemerkte der Patient die Verkürzung der Finger.
Status praesens (Dezember 1897): Die genaueste Unter¬
suchung aller Organe negativ, kein Schmerz. Patient kann zwar
die Hand etwas bewegen, sie ist jedoch zu Verrichtungen vollkommen
unbrauchbar. Hochgradige Atrophie der ganzen rechten oberen
Extremität. Der rechte Vorderarm mißt in der Mitte um 7 cm
weniger als der linke und ist auch, vom Olekranon bis zur Spitze
des Mittelfingers gemessen, um 4 cm kürzer. Die Hand sowie die
Finger sind verkürzt, plump, die letzteren an der Basis verdickt.
Daumen und kleiner Finger scheinen ihren Metacarpus verloren zu
haben und in die Hohlhand eingedrungen zu sein. Man könnte
sagen, der letztere füge sich an die Mitte seines Metacarpus an,
während der Daumen direkt vom Vorderarm zu entspringen scheint.
Die Mcv^jsung vom Handgelenk bis zur
Interdigitalfalte ergibt.rechts 14 cm, links 18 cm,
von der Interdigitalfalte des Mittel- und
Ringfingers bis zur Fingerspitze . „ 6 „ „ 8 ,
so daß also Hand und Finger gleichmäßig je 2 cm an Länge ver¬
loren haben.
Fingerumtäng.rechts 7^/2 cm, links 6 cm.
Keine tropbische Störung der Epidermis, der Nägel und Haare.
Das Subkutangewebe ist infiltriert und zeigt ein Oedem, in welchem
ein Fingereindruck bestehen bleibt.
Die Muskeln der ganzen rechten oberen Extremität sind von
einer eigentümlichen Derbheit und unterscheiden sich auffallend von
den geschmeidigen Muskeln der anderen Seite. Die faradische und
galvanische Erregbarkeit ist nur in den Muskeln der rechten Hand
und des rechten Vorderarmes vermindert; keine Entartungsreaktion.
Die Bewegungen im rechten Ellbogengelenke sind begleitet von
feinen, zahlreichen Reibegeräuschen.
Die Bewegungen des Ellbogens, in der Extension begrenzt,
lassen sich vollkommen im Sinne der Flexion ausführen. Die Su¬
pinationsbewegung beschränkt. Die Bewegungen im Handgelenke
nur wenig ausgesprochen, die Hand hängt schlaff herab. Die Finger
können nur im Metacarpo-Phalangealgelenke spontan bewegt werden,
ausgenommen der Daumen, dessen sämtliche Gelenke beweglich
Digitized by C^ooQle
lieber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß.
145
blieben und willkürlich bewegt werden können; nur die Möglichkeit
der Opposition ist verloren gegangen. Die objektive Sensibilität
bei Berührung, Nadelstichen, gegen Wärme und Kälte ist vollständig
normal. Die Sehnenreflexe des kranken Gliedes sind vorhanden,
überall normal. Keine Störung der Sphinkteren.
Fig. 6.
Das Röntgenbild (Fig. 6) ergibt folgenden Befund :
Der Carpus ist vollstöndig verschwunden. Von diesem am
meisten betroffenen Anteile aus erstrecken sich die ossären Läsionen,
sowohl nach oben gegen den Unterarm, als nach unten gegen
die Phalangen zu. Der Rest des distalen Radiusendes ist in die
Palma der Hand eingedrungen und an dem ersten Metacarpus
vorbeigerutscht, so daß es nur 3 cm, statt 9 cm wie an der normalen
Hand von dem proximalen Ende der Grundphalanx des Zeigefingers
entfernt ist. Die Läsionen bestehen in einem wirklichen Schwund
der Knochen. Dieselben sind entweder ganz verschwunden oder
kleiner geworden, als wenn sie an einem Schleifstein abgeschliffen
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 10
Digitized by L^ooQle
146
V. Aberle.
oder vielmehr wie »Zuckerstangen von den Kindern abgelutscht*
wurden. Der Radius scheint an seinem unteren Ende plötzlich wie
abgeschnitten; nichts erinnert mehr an das frühere Aussehen des
ehedem polyedrischen, distalen Radiusendes. Keine Spur eines Pro¬
cessus styloideus radii. Uebrigens ist der Radius unter Beibehaltung
seiner natürlichen Richtung in die Palma vorgedrungen. Er scheint
direkt in den zweiten Metacarpus überzugehen, mit welchem er in
innigem Kontakt steht; der erste Metacarpus jedoch ist ganz außer
Verbindung mit ihm. Die Ulna ist noch mehr verkürzt, am Ende
aufgefasert und endet noch etwas oberhalb des Radiusendes, sozu¬
sagen frei in der Palma. Kein Knochen kommt zu einer normalen
Artikulation.
Das distale Ende des ersten Metacarpus ist normal und arti¬
kuliert auf dieser Seite mit den vollkommen gesunden Phalangen
des Daumens, aber sein proximales carpales Ende ist geschrumpft,
vollkommen geschwunden. Man sieht nur einen unbestimmten Fort¬
satz, der sich im Niveau der Handgelenksfalte bis zur Verbindung
mit dem Radius verliert. Die anderen Metacarpen sind viel mehr
beteiligt. Sie sind zu schlanken Knochenzylindern reduziert, die
plötzlich an der Grenze ihres oberen Drittels abgeschnitten, ohne Spur
von Epiphysenanschwellungen erscheinen und an ihrem distalen Ende
enorme Veränderungen auf weisen, wie man leicht aus dem Bilde
entnehmen kann. Diese sind am wenigsten am zweiten, am meisten
am vierten Finger ausgesprochen. Die distalen Enden der Meta¬
carpen sind zwar noch nicht so zerstört, daß man nicht noch die
Epiphysen sehen könnte, welche mit den Enden der Grundphalangen
artikulieren, aber es sind anormale Gelenkverbindungen, die nur
ganz entfernt an die normalen erinnern. Die Phalangen selbst sind
im allgemeinen schlanker als normal. Besonders ihr proximaler An¬
teil ist vollkommen zusammengeschmolzen; man sieht nicht mehr
ihre normalen Verbreitungen sondern nur unregelmäßige zuge¬
spitzte Enden, die mehr oder weniger über den entsprechenden
Enden der Metacarpen liegen. Die zweite und dritte Phalanx ist
ziemlich normal.
Im übrigen gewähren die Knochen im Röntgenbild den An¬
blick ganz gesunder Knochen; die Compacta gibt vollkommen klare
doppelte Kontur, sogar an den am meisten verschmälerten Stellen,
z. B. an dem Rest des distalen Ulnaendes. Es wäre sogar eher
ossäre Verdichtung am Radius und an der Ulna zu bemerken.
Digitized by LjOOQle
üeber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß.
147
Der Zustand blieb bis zum Austritt des Kranken im Ok¬
tober 1898 Tollkommen stationär. Es wurde neuerdings konstatiert,
daß absolut keine Störung der oberflächlichen oder tiefen Sensibilität
vorhanden war; ebenso waren sämtliche Reflexe erhalten. Interner
Befund vollkommen normal, gutes Allgemeinbeflnden.
Die beiden beschriebenen Fälle weisen ohne Zweifel eine sehr
große Aehnlichkeit mit einander auf, sowohl was den Beginn als auch
den Verlauf und das Endresultat betrifiFt. Der Unterschied liegt nur in
der verschiedenen Lokalisation der Krankheit. Es handelt sich um
eine Affektion, die anscheinend spontan mehr oder weniger aus¬
gedehnte Knochenpartien befällt und relativ schnell, in ungefähr
einem Jahre, zu einer höchstgradigen Destruktion, bis zum voll¬
kommenen Knochenschwund führt. Der Beginn der Erkrankung
ist schleichend, die Affektion nicht symmetrisch. Die Lokalisation
der Erkrankung scheint vorwiegend an die Gelenke der Knochen
gebunden zu sein, in meinem Falle an die Gegend der Meta- und
Epiphysen, ln keinem Falle konnte irgend eine veranlassende Ur¬
sache, ein Trauma oder eine Infektion nachgewiesen werden. Be¬
sonders zu betonen ist, daß alle Anzeichen einer Lues fehlen. Auch
ist kein Zeichen für irgend eine Nervenaffektion oder für ein be¬
stehendes Rückenmarksleiden vorhanden. Trotzdem ist auch Gasne
geneigt, in seinem Falle eine trophoneurotische Störung anzunehmen.
Diese müßte in beiden Fällen wohl in den peripheren Nerven selbst
liegen. Ob dabei die Beschäftigung — bei beiden Patienten han¬
delte es sich um die rechte Hand — eine Rolle spielt, kann wohl
nicht entschieden werden.
Vielleicht trägt die Veröffentlichung des Falles dazu bei, daß
nun auch andere vereinzelte Beobachtungen, über die man sich wegen
der großen Seltenheit nicht Rechenschaft zu geben wußte, zur Kennt¬
nis gelangen und so Aufklärungen über die noch sehr dunkle Er¬
krankung geben. Ich habe noch einige ähnliche Bilder in der
Literatur gefunden, die sich vielleicht in diesem Sinne deuten ließen,
doch würde mich dies hier zu weit führen.
Ich betone jedoch nochmals, daß natürlich die Diagnose Lues
nicht von der Hand zu weisen ist; doch würde der Fall auch dann,
wie ich glaube, wegen des ganz atypischen Verlaufes Interesse
verdienen.
Digitized by CjOOQle
148
V. Aberle.
Literatur.
Babe8, V.^ Die Lepra. Spezielle Pathologie und Therapie, Nothnagel, Bd. 24
Teil II.
Chiari, Hans, Zur Kenntnis der gummösen Osteomyelitis in den langen
Röhrenknochen. Vierteljahresschr. f. Dermatologie u. Syph., Jahrgang
1882, S. 389—401 Tafel V.
Cr eite, 0., Ueber Dactylitis syphilitica. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1908,
Bd. 92 Heft 1—3 S. 70—78.
Deycke Pascha, Knochen Veränderungen bei Lepra nervorum im Röntgen¬
bilde. Fortschr. auf d. Gebiete der Röntgenstrahlen 1905/1906, Bd. 9
S. 9-28 Tafel IV—VI.
Derselbe, Knochenveränderung bei Lepra tuberosa im Röntgenogramm. Ibidem
1906/1907, Bd. 10 S. 279-287 Tafel XXVII.
Fürnrohr, W., Die Röntgenstrahlen im Dienste der Neurologie. Berlin 1906,
Verlag Karger.
Gasne, Georges, Un cas rare d’osteo-arthropathie. Nouvelle Iconographie
de la Salpetriere 1900, Bd. 13 S. 404—410 Tafel LVII und LVIII.
Gnesda, M., Ueber Spontanfraktur bei Syringomyelie. Mitteil, aus d. Grenz¬
gebieten d. Med. u. Chir. 1897, Bd. 2 S. 275—288 Taf. V.
Graf, E., Ueber die Gelenkerkrankungen bei Syringomyelie. Beitr. z. klin.
Chir. 1893, Bd. 10 S. 517—550.
Hänisch, G. F., Beitrag zur Röntgendiagnostik der Knochensyphilis. Fort¬
schritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen 1907, Bd. 11 S. 449—452
Taf. XXIII Fig. 1-5.
Hahn, R., Einige syphilitische Erkrankungen im Röntgenbilde. Ibidem 1898/99,
Bd. 2 S. 132—135 Taf. XII Fig. 3-6.
Derselbe und Deycke Pascha, Knocliensyphilis im Röntgenbild. Ibidem
1907, Ergänzungsbd. 14.
Holzknecbt, G. und Kienböck, R., Ueber Osteochondritis syphilitica im
Röntgenbild. Ibidem 1900—1901, Bd. 4 S. 247-252 Taf. XX—XXIII
Fig. 1.
Isaak, J., Syphilitische Knochenerkrankungen am Handgelenk und Arm. Ver-
handl. der Berliner Dermal. Gesellschaft. Arch. f. Derm, u. Syphilis
1901, Bd. 56 S. 251-253.
Kienböck, R., Zur radiographischen Anatomie und Klinik der syphilitischen
Knochenerkrankungen an Extremitäten. Zeitschr. f. Heilk. Bd. 23 (neue
Folge Bd. 3) Jahrg. 1902, Heft 6 Abt. f. Chirurgie u. verw. Disziplinen.
Derselbe, Zur radiographischen Anatomie und Klinik der tuberkulösen Er¬
krankung der Fingerknochen „Spina ventosa* etc. Ibidem.
Koch, K., Die syphilitischen Finger- und Zehenentzündungen. Samml. klin.
Vorträge v. Volkmann 1890, Nr. 359 S. 3205—3244.
Kofend, A., Ueber einen Fall von Syringomyelie mit Spontanfraktur beider
Humerusköpfe und Resorption derselben. Wiener klin. Wochenschr. 1898,
Nr. 13 S. 314—318.
Digitized by i^ooQle
lieber einen eigentümlichen Enocben- und Gelcnkprozeß.
149
Köhler, A., Knochenerkrankungen im Köntgenbilde. Atlas der Knochenerkran¬
kungen im Röntgenbild 1901, Verlag Bergmann, Wiesbaden.
Derselbe, Lues-Arteriosklerose. Fortschr. auf dem Gebiete der Röntgen¬
strahlen 1902/03. Bd. 6 S. 247—251 Taf. XXVII.
Derselbe, Typische Röntgenogramme von Knochengummen. Ibidem 1906/07,
Bd. 10 S. 73—77 Taf. VII u. VIII.
Laese, Ein Beitrag zur Aetiologie und Symptomatologie der Syringomyelie.
Deutsche med. Wochenschr. 1898, Nr. 18 S. 279—282.
Lewin. Die syphilitischen Affektionen der Phalangen der Finger und Zehen
(Phalangitis syphilitica). Charite-Annal. 1879, IV, Jahrg. S. 618—683.
Mertens, lieber einen atypischen Fall von Syringomyelie mit trophischen
Störungen an den Knochen der Füße. Beitr. z. klin. Chir. 1901, Bd. 30
S. 121-158.
Nonne, Der gegenwärtige Stand der Lehre von der Lepra anaesthetica, mit
besonderer Berücksichtigung der nervösen Erscheinungen derselben und
ihrer Stellung zur Syringomyelie. Lepra 1904, Vol. V Fase. I.
Reitter, C., Zur differentiellen Diagnose der Knochenverdickungen. Wiener
klin. Wochenschr. 1907, Nr. 6 S. 162—165.
Rumpel, 0., lieber Geschwülste und entzündliche Erkrankungen der Knochen
im Röntgenbild. Fortschr. auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen 1908,
Ergänzungsbd. 16 Taf. XVII Fig. 86—87.
Sokoloff, N. A., Die Erkrankungen der Gelenke bei Gliomatose des Rücken¬
marks (Syringomyelie). Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1892, Bd. 34 S. 505—548.
Derselbe, Beiträge zur Kasuistik der Erkrankung der Gelenke bei der Glio¬
matose des Rückenmarkes (Syringomyelie). Ibidem 1899, Bd. 51 S. 506
bis 544.
Sonnenburg, E., Ein Fall von Erkrankung des Schultergelenks bei Glio¬
matose des Rückenmarks. Berliner klin. Wochenschr. 1893, Nr. 48 S. 1161
bis 1162.
Stadler, Ed., lieber Knochenerkrankung bei Lues hereditaria tarda. Fort¬
schritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen 1907, Bd. 11 S. 82—85
Taf. IX Fig. 1—5.
Tscherniawski, W. A., üeber einen Fall von Osteochondritis und Dactylitis
luetica hereditaria. Zeitschr. f. orthopäd. Chir. 1906, Bd. 16 S. 313.
Wieting, J., Zur Säbelscheidenform der Tibia bei Syphilis hereditaria tarda.
Beitr. z. klin. Chir. 1901, Bd. 30 S. 615—637.
Digitized by
Google
XI.
(Aus der chirurgisch-orthopädischen Privatheilanstalt von
Dr. J. G. Chrysospathes in Athen.)
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen
resp. Knochenverhiegungen‘).
Von
Dr. J. 0. Chrysospathes,
Dozent für Orthopüdie und Kinderchirurgie an der Universität zu Athen.
Mit 5 Abbildungen.
Anlaß zu dieser Mitteilung gab mir ein 15 Tage altes Mädchen^
an dessen Bild, wie Sie hier sehen, die ungewöhnlichen Verkrüm¬
mungen der unteren sowohl wie der oberen Extremitäten in die
Augen fallen.
Die Mutter des Kindes, den niederen Volksständen angehörig,
machte uns über dieses, sowie ihre Familienverhältnisse folgende
Angaben:
Sie sowohl wie ihr Mann, einander übrigens nicht verwandt,
stehen noch in jüngeren Jahren (25 und 38) und sind gesund, nicht
luetisch; nur ist der Mann ein starker Trinker. Ebenfalls sind in
ihren Familien, sowie in denen ihrer nächsten Anverwandten keine
Knochendeformitiiten, überhaupt Knochenerkrankungen, sowie Lues,
Tuberkulose oder Nervenerkrankungen, vorgekommen. Aborte hat
die Frau nicht gehabt.
Ihr erstes Kind, jetzt 5 Jahre alt, ist gesund. Davon konnten
wir uns persönlich überzeugen, indem wir dieses zu untersuchen
verlangten. Wir fanden bei diesem, übrigens blühend aussehenden
Knaben, Körper- speziell Knochenbau normal und ohne Zeichen
von Rhachitis.
*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by CjOOQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen.
151
Das zweite Kind, ein Mädchen, das 1 Jahr nach dem ersten
geboren wurde, zeigte an den Beinen und Armen, selbst an den
Fingern, dieselben Verbildungen wie das jetzige, und starb 46 Tage
nach seiner Geburt. Ein 1 Jahr später geborenes Mädchen war mit
denselben Deformitäten, sogar mit etwas mehr flektierten Beinen als
die anderen behaftet. Es kam blau zur Welt, ohne daß dafür ein
sichtbarer Grund von seiten der Hebamme gefunden wurde, und
starb, ohne sich von diesem Zustand zu erholen, 3 Stunden nach
seiner Geburt. Diese beiden letzten Kinder, sowie das jetzige sind
dick geboren, während das erste normale, mager zur Welt kam und
später zugenommen hat. Sie hatten alle größere Köpfe, ebenso
wie ihr Vater, mit Ausnahme des zweiten mißgebildeten, dessen Kopf
relativ klein gewesen sein soll.
Das erste und letzte mißgebildete Kind waren Steißlagen, das
zwischen diesen beiden war in Kopflage geboren. Alle Entbindungen
waren leicht und nicht vor dem Termin erfolgt. Die Hebamme,
die die Entbindungen der Frau besorgt hatte und welcher man eine ge¬
wisse Intelligenz nicht absprechen kann, versichert uns, keine amnio¬
tischen Stränge an den Neugeborenen oder ihren normalen Mutter¬
kuchen bemerkt zu haben. Was die bei den Geburten der Frau
abgegangene Fruchtwassermenge betrifft, so war sie bei der ersten
derselben nicht so groß, bei der zweiten und der letzten auffallend
wenig, dagegen bei der dritten sogar größer als bei der ersten.
Alle Schwangerschaften der Frau verliefen ohne jedwede Stö¬
rung. Ein Trauma hat während derselben nicht stattgefunden, nur
litt die Frau bei allen Schwangerschaften, bei welchen sie ein mi߬
gebildetes Kind trug, an Nasenbluten, was jeden zweiten Tag erfolgte
und unbedeutend war. Dadurch, daß sie das erste Kind selbst ge¬
stillt hat und mit jedem weiteren Jahre von neuem schwanger wurde,
hatte sie bis vor einigen Monaten, d. h. 3 volle Jahre, keine Periode
gehabt; sonst wird sie regelmäßig menstruiert.
Status: Wie aus der Photographie des Kindes ersichtlich (siehe
Fig. 1), handelt es sich um ein dick aussehendes Mädchen von kre-
tinistischem Gesichtsausdruck, dessen Kopf bedeutend größer als nor¬
mal ist, hinten aber nicht besonders weich sich anfühlt. Der Rumpf
desselben hält sich, abgesehen vom aufgetriebenen Bauch, in nor¬
malen Formen, auch sind an den Rippen keine Unebenheiten resp.
Auftreibungen zu fühlen.
Die hier in Frage kommenden Deformitäten betreffen ausschließ-
Digitized by CjOOQle
152
J. G. Chrysospathes.
lieh die Extremitäten, und zwar alle vier zusammen. Diese werden in
Flexion gehalten und fallen durch stärkere Verbiegungen der Unter¬
schenkel und Vorderarme und durch ihre Verkürzung in die Augen.
Die unteren Extremitäten, kürzer als normal imd von
plumpem Aussehen, sind, von der Seite betrachtet, in toto stark
konvex nach oben resp. vom gebogen, während sie von vorn be¬
trachtet im unteren Drittel der Unterschenkel eine mit der Spitze nach
außen gerichtete feste Knickung aufweisen (siehe Fig. 1) und zwar
Fig. 1.
ist die der Tibien nach vorn, während die der Fibulae eher nach
außen als nach vorn mit ihrer Spitze gerichtet ist.
An diesen Stellen, d. h. auf der Spitze jeder Knickung, befindet
sich je ein Hautgrübchen. Ueber der stärksten Knickung aber,
der rechten Fibula, ist statt eines Grübchens ein deutlich ausgebildetes
längliches Hautwärzchen zu sehen. Unmittelbar unter diesen Haut¬
veränderungen ist der spitze Knochen zu fühlen, ein Verwachsensein
aber desselben mit genannten Hautgrübchen resp. Wärzchen ist nicht
zu konstatieren. Die Oberschenkelknochen, und zwar der linke
mehr als der rechte, scheinen stark bogenförmig gebogen, jedoch
ohne daß die Haut, wie an den Unterschenkeln, über ihrer höchsten
Krümmung Veränderungen aufweist.
Versucht man die Kniee aus ihrer flektierten Stellung zu strecken^
Digitized by L^ooQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen.
153
so gelingt dies nur in mäßigem Grade, und zwar nicht etwa, weil
das Gelenk in seiner Beweglichkeit irgendwie gehindert ist, sondern
weil die Haut auf der unteren Seite der Extremität, besonders unter
dem Knie, bedeutend kürzer ist als auf der oberen (siehe Fig. 2 und 3).
Dieses Mißverhältnis ist links mehr ausgesprochen als rechts, daher
erscheint die linke untere Extremität kürzer als die rechte.
Die Füße werden beiderseits in ausgesprochener Spitzfußstel¬
lung gehalten und die Achillessehne spannt sich stark, wenn man
bei gestrecktem Knie den Spitzfuß auszugleichen versucht.
Die oberen Extremitäten, ebenfalls flektiert gehalten und
von kurzer, daher plumper Form wie die Beine, sind in der Mitte
der Vorderarme nach außen gebogen, wenn auch nicht in dem Maße
wie die unteren. Palpiert man dieselben an diesen Stellen, so findet
man die Vorderarmknochen, und zwar die Ulna mehr als den Radius,
nach außen geknickt und wie die ünterschenkelknochen daselbst
nicht pseudarthrotisch. Die Oberarmknochen scheinen in derselben
Richtung, aber nur leicht gebogen, nicht geknickt zu sein, üeber
den geknickten, spitz zu fühlenden Stellen der Vorderarmknochen
nehmen wir Andeutungen von Hautgrübchen wahr, die auch hier mit
den darunter liegenden Knochenspitzen nicht verwachsen sind.
Die Streckung in den Ellenbogen ist. wenn auch nicht völlig,
möglich, so doch etwas ausgiebiger als die der Kniee. Wie dort,
so auch hier liegt das Hindernis in der auf der Beugeseite des Ge¬
lenks, im Vergleich zu seiner Streckseite, kürzeren, d. h. weniger vor¬
handenen Haut.
An einigen Fingern findet man infolge derselben Ursache ähn¬
liche Streckungsbehinderungen, und zwar in dem ersten Interphalan-
gealgelenk des rechten dritten und vierten und des linken dritten,
weniger des linken vierten Fingers. Alle diese lassen sich in den
genannten Gelenken nicht über 135® strecken, besitzen aber nor¬
male gerade Phalangen.
Andere Abnormitäten, einige teleangiektatische Flecke ersten
Grades in der Mitte der Stirn, auf den oberen Augenlidern und über
der Nasenspitze (fissurale Angiome) ausgenommen, speziell amnio¬
tische Einschnürungen, sind an dem Kinde nicht zu sehen. Auch
ist an der Beschaffenheit seiner Haut, abgesehen von einer beson¬
deren Weichheit derselben, und einem reichlichen Unterhautzell¬
gewebe (siehe Fig. 2) nichts weiter Abnormes zu bemerken.
Das Kind, trotzdem es von der Mutter selbst gestillt wurde, wurde
Digitized by C^ooQle
154
J. G. Chrysoapathes.
von Sommerdiarrhöe befallen, erholte sich zwar von dieser, starb
aber im 6. Lebensmonat an Krämpfen ohne Fieber. Diese setzten
ziemlich plötzlich ein, nachdem das Kind angeblich einige Tage vorher
seine Augen zu verdrehen begann. Aehnlich sollen auch die anderen
mißgebildeten Kinder geendet haben.
Die Röntgenbilder der unteren Extremitäten zeigen uns
rechts (siehe Fig. 2) eine Verbiegung des Femurs mit der Konvexität
nach unten, während die rechte Tibia und Fibula nach oben geknickt
erscheint und zwar so stark, daß an ihren höchsten Knickungsstellen
Fig. 2.
je eine recht ansehnliche Spitze, an der Fibula mehr als an der
Tibia, ziemlich weit nach oben vorragt. Von Knochenkemen sieht
man hier bereits schön groß ausgebildet: den der unteren Epiphyse
des Femur, übrigens fast zur Hälfte in seine Diaphyse eingebettet,
dann den der oberen Epiphyse der Tibia, des Calcaneus, Talus und
selbst den des Cuboideum, endlich die der Metatarsen. An der
oberen Epiphyse des Femurs kann inan aus einem eben sichtbaren
schwachen Schatten den Knochenkern daselbst vermuten.
Wie aus dem Köntgenbild der linken unteren Extremität (siehe
Fig. 3j hervorgeht, scheinen, bis auf den hier nach oben geknickten,
nicht wie rechts nach unten gebogenen Femur, dieselben Verhält¬
nisse wie rechts vorzuliegen, nur werden sie auf diesem Bilde nicht
Digitized by CaOOQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen.
155
so schön wiedergegeben wie auf jenem, da das Kind bei dieser Auf¬
nahme sich bewegt hat. Schön ist dagegen auf dieser Figur der
ira Vergleich zur vorderen, groß geschweiften Kontur der unteren
Extremität, kurze, enge Bogen ihrer unteren Fläche zu sehen.
Die Röntgenbilder der oberen Extremitäten zeigen, wie
schon aus der klinischen Untersuchung zu entnehmen war, die Ulna
und den Radius nach außen geknickt, mit relativ stumpfer Spitzen¬
bildung auf der Höhe ihrer Knickungen, die rechterseits (siehe Fig. 4)
ausgesprochener erscheint als links (siehe Fig. 5). Ebenso sieht
Fig. 3.
man den linken Humerus nach außen etwas gebogen, während
der rechte fast gerade verläuft.
Von Knochenkernen ist auf der Röntgenplatte der deutlicheren
Figur des linken Armes der kleine, eben sichtbare Kern des Capi-
tatum, hinter- und etwas ulnarwärts von der Basis des dritten Meta-
carpus zu sehen.
Andere Abnormitäten an den hier in Betracht kommenden
Knochen sind, abgesehen von einer mäßigen Abplattung, besonders
der der unteren Extremitäten, nicht wahrzunehmen.
Die Knochenschatten im Röntgenbilde, von anderen (Lange)
schwach gefunden, sind es bei uns nicht, im Gegenteil erscheinen
sie eher kräftig und dabei so diffus, daß man deswegen eine bei
Digitized by e^ooQle
156
J. G. Chrysospathes.
ihnen dünn vorhandene Corticalis nur vermuten kann, da sie sich
von der übrigen Knochensubstanz nicht gut unterscheidet, lieber die
Fig. 4.
an Stelle der Knickungsfrakturen vorhandenen stärkeren Schatten
werden wir uns weiter unten des breiteren auslassen.
Fig. 5.
Wollen wir nach erfolgter Beschreibung unseres Falles die Er¬
krankung, zu welcher er gehört, nach den Hand- und Lehrbüchern,
selbst denen neueren Datums, über Kinderheilkunde, Knochenerkran-
Digitized by
Google
Beitrag zu den intrauterin entstebenden Frakturen.
157
kudgen, speziell fötale Enochenerkrankungen, näher zu bezeichnen
resp. zu präzisieren versuchen, so geraten wir angesichts der mannig¬
fachen Benennungen dieser Erkrankungen in eine gewisse Ver¬
legenheit. Diese große Mannigfaltigkeit in der Nomenklatur resp.
Einteilung der fötalen Knochenerkrankungen scheint besonders bei den
französischen Autoren vorzuherrschen. Wir finden z. B. im Buche
Aperts „Maladies familiales et maladies congenitales“ (1907), unter
den Dysostoses h^reditaires congenitales drei resp. vier voneinander
getrennte fötale Knochenerkrankungen: L'achondroplasie, la dysostose
cleidocranienne heröditaire, Posteopsathyrose et la dysplasie periostale.
Apert, welcher diese Trennung selbst auf pathologisch-anatomische
Unterschiede genannter Erkrankungen untereinander stützt, findet,
daß bei der Achondroplasie die periostale Ossifikation die enchon-
drale überwiegt und zwischen Diaphyse und Epiphyse ein binde¬
gewebiger Streifen (bande) sich interponiert. Die „Dysostose cläido-
cranienne“ hält er zwar für eine der Achondroplasie analoge, indes
dieser entgegengesetzte Erkrankung, da bei ihr umgekehrt als bei der
Achondroplasie die enchondrale Ossifikation der periostalen überwiegt,
und dies besonders an den membranös angelegten Knochen der Klavikel
und Schädelkapsel, woher auch ihr Name. Die Osteopsathyrosis
unterscheidet er von den beiden eben erwähnten Erkrankungen erstens
makroskopisch durch die multiplen intra- oder extrauterin entstan¬
denen Frakturen und dann mikroskopisch durch die mangelhafte
Umformung (rdmaniement) des Knochens durch die Osteoklasten, wor¬
aus Abwesenheit oder Unvollständigkeit der Hävers sehen Knochen¬
lamellen resultiert. Als letzte Variation der fötalen Knochenerkran¬
kungen fügt er die von Porak und Durante im Jahre 1905 be¬
schriebene „Dysplasie periostale“ provisorisch hinzu, da sie, wie er
sagt, intime Berührungspunkte bald mit der einen, bald mit der
anderen der beiden eben genannten Erkrankungen aufweist. Bei
dieser klinisch ebenfalls durch Brüchigkeit und dadurch bedingte
multiple Frakturierung der Knochen, sowie durch schlechte Ent¬
wicklung der Schädelkapsel charakterisierten Krankheit fanden Porak
und Durante die enchondrale Ossifikation nicht gestört, dagegen die
periostale, speziell die Betätigung der Osteoklasten, abnorm gesteigert.
Versucht man nun über das uns hier interessierende Thema in
einem anderen französischen Werke, dem von Mauclaire „Les maladies
des os“ (1908), sich zu orientieren, so findet man in diesem die
Achondroplasie als kongenitale und infantile, vom „Rhachitisme intra-
Digitized by
Google
158
J. G. Chrysospathes.
uterin“ getrennt und unter den Maladies trophonerveuses, speziell
unter den Vari^t^s atrophiantes derselben figurieren.
Die Osteopsathyrosis oder konstitutionelle Knochenbrüchigkeit,
wie er sie nennt, bringt Mauclaire unter die Rubrik der Rhachitis
und Osteomalacie und betrachtet sie als eine einesteils mit diesen
beiden Knochenkrankheiten, anderenteils aber mit den nervösen Osteo¬
pathien manche Berührungspunkte aufweisende Erkrankung. Er unter¬
läßt indes nicht zu erwähnen, daß viele kongenitale Varietäten der¬
selben unter die Achondroplasie oder die periostale Dysplasie ein¬
zureihen sind.
Einfacheren Verhältnissen begegnet man bei der Einteilung der
fötalen Knochenerkrankungen seitens der deutschen Autoren. So finden
wir in dem uns zur Verfügung stehenden Atlas und Grundriß der
Kinderheilkunde von Hecker und Trum pp (1905) unter den an¬
geborenen Knochenwachstiimsstörungen die fötale Rhachitis, die Osteo¬
genesis imperfecta, die Chondrodystrophia congenita und das fötale
Myxödem angegeben. Während nun Hecker und Trumpp die
Fälle von fötaler Rhachitis und die von fötalem Myxödem, wenigstens
was die pathologisch-histologischen Befunde an den Knochen betrifft,
als krankhafte Zustände betrachten, die meist entweder unter den
Begriff der Osteogenesis imperfecta oder der Chrondrodystrophie
fallen, halten sie die beiden letzten Erkrankungen strikt auseinander,
ohne die Osteopsathyrosis für sich zu erwähnen.
Von der Osteogenesis imperfecta sagen sie: „Die Kinder
kommen mit auffallend kurzen, plumpen und vielfach verbogenen und
frakturierten Extremitäten zur Welt, an den platten Schädelknochen,
den Kiefern, am Becken u. s. w. fühlt man deutliches Krepitieren.
Der übrige Körper zeigt in der Regel nichts Außergewöhnliches. Die
Kinder können am Leben bleiben. Die Ursachen sind unbekannt.“
Anatomie: „Die kurzen, plumpen Röhrenknochen zeigen dünne
Corticalis, spröde spärliche Spongiosa, erweiterte Markhöhle, mehr¬
fache Frakturen. Mikroskopisch: Die Zonen der Knorpelwucherung,
der vorläufigen Verkalkung und der primären Markraumbildung sind
im ganzen normal entwickelt, dagegen herrscht größte Unregel¬
mäßigkeit in der eigentlichen Knochenbildung: an Größe und Zahl
zurückstehende Knochenbalken ohne lamellöse Anordnung, mangel¬
hafte Ausbildung und Funktion der Osteoblasten, übermäßige Knochen¬
resorption. Die enchondrale Ossifikation ist meist stärker gestört als
die periostale; zellenarmes, gelatinöses, inaktives Mark. An den
Digitized by C^ooQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen.
159
Frakturstellen ungestörte Ossifikation und Callusbildung. Die Schild*
drUse ist normal.“
Die Chondrodystrophia congenita beschreiben Hecker und
Trumpp folgendermaßen: „Auffallend kurze, meist gerade, zuweilen
auch etwas verbogene Extremitäten. Keine Frakturen. Reine Form
des Zwergwuchses. Die Knochen sind hart, sklerosiert, an den Epi¬
physen verdickt. Mikroskopisch; Störung der enchondralen Ossi¬
fikation durch Hemmung der Knorpelwucherung (kein Säulenknorpel!)
und Eindringen von perichondralem Bindegewebe zwischen Knorpel
und Knochen, hiermit Behinderung des Längenwachstums. Durch
asymmetrisches Einschieben von Perioststreifen erfolgt unregelmäßiges
Wachstum nnd Bildung von Verkrümmungen.“
Ueberblickt man die über die fötalen Knochenerkrankungen
weiter oben erwähnten Ansichten, so muß man aus der Verschieden¬
heit derselben bei den einzelnen Beobachtern mit Recht auf die
große Unklarheit, die über die genannten Erkrankungen bis zur
Stunde herrscht, schließen.
Am deutlichsten beweist dies die verschiedene Benennung, die
zwei oder mehrere Autoren den gleichen Abbildungen geben. So
wird z. B. dasselbe Skelett, das in Fig. 45 des Atlas von Hecker
und Trumpp als Osteogenesis imperfecta (fötale Rhachitis) abge¬
druckt ist, in Fig. 47 des Buches von Apert als Osteopsathyrosis
(Osteogenesis imperfecta des Allemands) bezeichnet; und die in Fig. 42
bis 43 des Apertschen Buches abgebildeten Föten, die der Achon-
droplasie zugezählt werden, finden wir ira Atlas Heckers und
Trumpps in Fig. 47—48 unter der Chondrodystrophia foetalis
wieder. Dasselbe gilt für ein Skelett, das Apert in Fig. 40 seines
Werkes als einem Achondroplasten angehörig abbildet, und welches
wir im Atlas von Hecker und Trumpp in Fig. 46 mit der Be¬
zeichnung „Chondrodystrophia foetalis, Skelett eines mikroraelen
Zwerges,“ wiederfinden.
Schließlich bezeichnet Mauclaire in Fig. 92—93 seines Werkes
einen Fall von Porak als Achondroplasie, der nach den eigenen
daneben abgebildeten, durch Knickungsfrakturen verbildeten Unter¬
schenkeln und Oberschenkeln zu urteilen, eher als der Osteogenesis
imperfecta zugehörig zu betrachten wäre. Auch das in Fig. 95 des¬
selben Werkes abgebildete Skelett eines angeblich rhachitischen Kin¬
des, welches einige Stunden nach seiner Geburt starb, sieht, soweit
Digitized by
Google
160
J. 6. Chrysospathes.
man aus der Kleinheit der Figur beurteilen kann, einem solchen mit
Chondrodystrophie behafteten Kinde sehr ähnlich.
Entschließt man sich nun, in diesem stark verworrenen Kapitel
der Knochenerkrankungen eine gewisse Sichtung der verschiedenen
Ansichten vorzunehnien, so muß man zugeben, daß, was die fran->
zösischen Autoren als Achondroplasie bezeichnen, die deutschen als
Chondrodystrophia foetalis, resp. reine Form des Zwergwuchses be¬
nennen und umgekehrt^); was aber Apert mit anderen französischen
Autoren Dysostose clöidocranienne und Osteopsathyrose und Porak
mit Durante „Dysplasie periostale“ nennen, scheint wenigstens nach
den uns bekannten diesbezüglichen deutschen Arbeiten neueren Da¬
tums unter die Rubrik Osteogenesis imperfecta zusammenzufallen.
Allein völlige üebereinstimmung gibt es da, wenigstens in histo¬
logisch-pathologischer Beziehung auch nicht, und zwar nicht nur nicht
zwischen den Fremden und Deutschen, sondern auch selbst zwischen
den letzteren untereinander. Wenn Hecker und Trumpp z. B.
bei der Osteogenesis imperfecta eine größere Störung der enchon-
dralen Ossifikation im Vergleich zur periostalen annehmen, so be¬
tont Apert bei der Dysostose cldidocranienne gerade das Gegenteil,
nämlich eine ausschließliche Störung der periostalen gegenüber der
normal erhaltenen enchondralen Ossifikation. Für die Osteopsathy-
rosis dagegen nimmt Apert, wie weiter oben erwähnt wurde, nur
ein mangelhaftes Umformen des Knochens durch die Osteoblasten
an bei völlig ungestörtem Ossifikationsprozeß.
Aber selbst unter den Deutschen herrscht, wie schon angedeutet,
keine volle Einigung in diesem Punkte.
So bestreitet Loos er in einer „Zur Kenntnis der Osteogenesis
imperfecta congenita und tarda“ betitelten Arbeit^), daß, wie Hecker
und Trumpp annehmen, eine abnorme Knochenresorption bei dieser
Krankheit statthat, daß bei ihr die Osteoblasten mangelhaft ausge¬
bildet sind und die enchondrale Ossifikation stark gestört ist u. s. w.,
wie wir des näheren weiter unten sehen werden.
Letztgenannte Arbeit von Looser dürfte unserer Ansicht nach
Aehnliche Namenbezeiclinungen wie die deutschen Autoren, scheinen
auch die englischen für die beiden in Frage stehenden Krankheiten zu haben,
wie dies aus einigen Arbeiten von Ran kl in, Mackay, Lunn, C ranke und
Porter über Achondroplasie, in Brit. med. Journal 1907, Jan. 5, hervorgeht.
*) Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 1906,
Bd. 15.
Digitized by t^ooQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen.
161
nicht wenig zur Klärung dieser uns hier beschäftigenden Frage bei¬
tragen und erlauben wir una, die Befunde dieses Autors umso aus¬
führlicher hier anzuführen, als uns nicht vergönnt war, unseren
eigenen Fall pathologisch-histologisch auszunutzen.
Loos er war in der glücklichen Lage, beide amputierten Unter¬
schenkel eines an Osteopsathyrosis leidenden jungen Mannes einer
erschöpfenden histologischen Untersuchung zu unterziehen und zieht
hieraus den Schluß, daß es sich sowohl bei dieser wie bei der Osteo¬
genesis imperfecta congenita um einen und denselben Bildungsfehler
handle und daß es zu der bekannten Trennung dieser beiden Typen
nur deswegen gekommen ist, weil die meisten der Beobachter wich¬
tige und nebensächliche Befunde nebeneinander angeführt und von
solchen lokalen auf ähnliche allgemeine Befunde Rückschlüsse gezogen
haben.
Diesen Bildungsfehler findet Loos er, wio die meisten der Be¬
obachter, einzig und allein in der mangelhaften Funktion der Osteo¬
blasten, sowohl des Periosts wie des Marks, die eine mangelhafte Appo¬
sition zur Folge hat, welche wiederum zu einer hochgradigen Atrophie
der Knochen und einem mangelhaften Dickenwachstum derselben führt.
Diese mangelhafte Apposition bekundet sich im feineren Bau
der Knochensubstanz durch das dichte Beieinanderliegen der weiten,
plumpe Ausläufer sendenden, miteinander kommunizierenden Knochen¬
körperchen in den Bälkchen und durch die körnig-krümlige Ver¬
kalkung der Knorpelgrundsubstanz. Also die mangelhafte Funktion
der Osteoblasten überhaupt und nicht der Mangel an solchen, die
von einigen (Buday) sogar vermehrt gefunden wurden, oder eine
besonders abnorme Bildung derselben gibt nach Loos er das ur¬
sächliche Moment hierfür ab.
Auch die Resorption ist nach ihm im allgemeinen nicht ver¬
mehrt, wie einige, welche auf ein lokales oder vorübergehendes Vor¬
handensein derselben gestützt, angenommen haben. Die von einigen
gefundene Vermehrung der Hawshipsehen Lakunen bei nicht ver¬
mehrten Osteoblasten kann nicht als Zeichen einer gesteigerten Re¬
sorption betrachtet werden, sondern muß eher auf eine verminderte
Apposition zurückgeführt werden.
Die feineren Verhältnisse an den Epiphysenknorpeln sowie an
der vorläufigen Verkalkungszone etc. sind, w’ie alle Beobachter zu¬
geben, normal, nur persistieren, nach Looser, die in derselben
vorkommenden Pfeiler in einzelnen Fällen abnorm lange, so daß sie,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. H
Digitized by CiOOQle
162
J. G. Chrysospathes.
nur selten von feinen Knochenlamellen bedeckt, fast bis in die Mitte
der Diaphyse hinabreichen, während sie in anderen Fällen schon
einige Millimeter von der Verkalkungszone entfernt verschwunden
sind. Diese Abweichung von der Norm hält Loos er nicht für
wichtig, da sie, nach ihm, ihren Grund in kleinen Verschiedenheiten
der Resorption in den einzelnen Fällen hat.
Die Epiphysenknorpel sind zunächst normal, sagt er, in späteren
Stadien der Krankheit treten regressive Veränderungen in ihnen auf
infolge von Raumbeengung der normal in die Breite wachsenden
Epiphysenscheibe durch die mangelhaft wachsende, sie einschließende
Knochenschale. Die an die Epiphysenknorpel sich anschließende
Knochenbildung geschieht in normaler Weise, ist aber in ihrer
Intensität stark herabgesetzt.
Auch die von einigen beobachteten und beschriebenen Mark¬
veränderungen, wie fibröse Degeneration des Marks und nekrotische
Massen im Markraume, spielen, wie Looserbemerkt, keine wesent¬
liche Rolle, da sie erstens nicht von der Gesamtheit der Beobachter
angeführt werden und zweitens als Folge der in ihrer Nähe an¬
getroffenen Frakturen und Infraktionen aufgefaßt werden müssen.
Das Periost ist nach demselben Autor normal, und einige in
ihm beschriebene Knorpelinseln müssen ebenfalls als Folgen der
Frakturen, d. h. als multiple Kallusbildungen, angesehen werden.
Ihr Fehlen im Periost der traumatischen Insulten weniger aus¬
gesetzten Wirbelkörper und ihr ausschließliches Vorhandensein im
Periost der diesen Insulten stark ausgesetzten langen Röhrenknochen
beweist nach Looser diese seine Annahme. Dies veranlaßt ihn, die
bei der Osteogenesis imperfecta zuweilen vorkommenden Verkür¬
zungen und Verdickungen der langen Röhrenknochen als Folgen
von Frakturen und Zertrümmerungen, oder richtiger gesagt, Zer¬
quetschungen des Knochens, also als Kallusbildungen zu betrachten.
Diese Umstände sind es also, und nicht eine Störung der enchon-
dralen Ossifikation, die für die bei der Osteogenesis imperfecta an¬
getroffenen Verkürzungen zu beschuldigen wären. Letztere haben
auch bisher den Anlaß gegeben, die in Rede stehende Krankheit mit
der von ihr im Grunde verschiedenen Chondrodystrophia foetalis zu
verwechseln, bei welcher tatsächlich die enchondrale Ossifikation ge¬
stört ist.
Nach dem Vergleich also der pathologisch-anatomischen Be¬
funde der Osteogenesis imperfecta mit denen der Osteopsathyrosis,
Digitized by C^ooQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. Iß3
die sich nach Loos er als identisch erweisen, empfiehlt dieser,
die Bezeichnung ersterer Krankheit auch auf die sogenannte idio¬
pathische Osteopsathyrosis auszudehnen und, soweit das praktisch
nötig erscheint, eine Osteogenesis imperfecta congenita und tarda
zu unterscheiden.
Die Ursache unserer Erkrankung, in einer mangelhaften Funk¬
tion aller knochenbildenden Elemente gelegen, schließt nach Loos er
noch eine letzte kongenitale Ursache vorläufig nicht aus. Hin¬
gegen liegen nach ihm Ernährungsstörungen, insbesondere ver¬
ringerte Kalkeinfuhr, nicht vor, wie dies das Auftreten der Osteo¬
genesis imperfecta bei älteren Kindern, die die übliche Nahrung
genossen haben, und der Fall von Müller beweist, bei welchem nur
der eine von Zwillingen von Osteogenesis imperfecta befallen war.
Eine gestörte Kalkassimilation oder nervöse Störungen anzunehmen,
wie Moreau es tut, welcher in der Antezedenz zweier von Osteo¬
psathyrosis befallenen Schwestern Paralyse gefunden hat, dazu liegt
nach Looser vorläufig noch kein Grund vor.
So weit die Ausführungen Loosers, nach denen wir in der
Zukunft bei den fötalen Knochenwachstumstörungen mit nur zwei
Typen derselben zu rechnen hätten, nämlich der Osteogenesis imper¬
fecta und der Chondrodystrophia congenita s. reinen Form des Zwerg¬
wuchses. Daß aber vorläufig diese Trennung nicht so strikte durch¬
geführt werden kann, geht vor allem daraus hervor, daß neben
den beiden oben erwähnten Knochenerkrankungen fötales Myx¬
ödem und angeborene Rhachitis noch mitangeführt werden, wenn
auch mit der Bemerkung, daß die unter diesem Namen beschriebenen
Erkrankungen meist unter den Begriff der Osteogenesis imperfecta,
oder der Chondrodystrophia foetalis fallen. (Hecker und Tr um pp.)
Auch der Umstand, daß in dem Atlas letzterer Autoren zwei
äußerlich wenigstens verschiedene Skelette (Fig. 46 mit in toto stark
verdickten und verbogenen, Fig. 48 mit geraden, an den Diaphysen
sehr dünnen Knochen) unter eine und dieselbe Rubrik, nämlich der
Chondrodystrophia foetalis, gebracht werden, dürfte diese unsere An¬
sicht nur unterstützen, trotzdem genannte Autoren bei der Beschreibung
der äußeren Merkmale der Chondrodystrophia foetalis ausdrücklich
bemerken, daß bei ihr meist gerade, zuweilen auch etwas verbogene
Extremitäten Vorkommen ^).
’) Der Aufklärung resp. Sichtung bedürfen anderseits noch diejenigen
Fälle von intrauterin entstandenen Frakturen oder Verbiegungen, die einzig
Digitized by L^ooQle
164
J. G. Chrysospathes.
Ebenso muß man sich vorläufig fragen, warum bei einigen
Fällen von Zwergwuchs die Epiphysenlinien länger als normal per-
sistieren, während bei anderen eine prämature Synostose derselben
statthat ^), bei welch letzteren allerdings die Rhachitis mit im
Spiele zu sein scheint (Guleke, Apert).
Solange man sich aber über Ursache und Wesen der häufigeren
Rhachitis, sowie die sehr nahen Beziehungen, die die Funktion der
Schilddrüse mit der Entwicklung der Knochen (Myxödem) zu haben
scheint, im unklaren befindet, wird man sich erst recht über die
selteneren in Frage stehenden Erkrankungsformen nicht mit Sicher¬
heit aussprechen können.
Es ist daher umso bedauerlicher, daß nicht alle solche an sich
seltenen Fälle histologisch ausgeforscht werden konnten, wie es
mit unserem eigenen auch der Fall war. Wir wurden leider zu
spät vom Tode des Kindes in Kenntnis gesetzt, so daß wir mit
dem klinischen Bilde und vor allem mit den Röntgenogrammen
desselben vorlieb nehmen müssen.
Versuchen wir nun diesen, und zwar zuerst auf Grund seiner
anamnestischen Daten als kleinen Beitrag zu unserer Frage zu
verwerten, so müssen wir folgende Momente an ihm hervorheben.
Dadurch, daß es sich bei ihm um ein Kind von gesunden Eltern
handelt, dessen zwei Geschwister vor ihm mit den gleichen Deformi¬
täten zur Welt kamen, stempelt sich unsere Erkrankung von selbst
zu einer solchen angeborenen Ursprungs. Dieses hereditärfamiliäre
Auftreten ist in 15^0 der Fälle (Griffith) von Osteopsathyrosis
nachgewiesen. Gehört also aus diesem Grunde unser Fall letzterer
Krankheit an, so ist er anderseits durch seine abgeschwächte Lebens¬
fähigkeit und prompte Heilung der frakturierten Stellen von der
Osteogenesis imperfecta nicht auszuschließen, was ja auch auf die
Zusammengehörigkeit dieser beiden Erkrankungsformen hindeutet.
Von Interesse ist an unserem Falle, daß das erste Kind der
und allein die Unterschenkelknochen, eventuell einen von ihnen betreffen, mit
gleichzeitiger Defektbildung oder ohne dieselbe, soweit diese Fälle nicht zur
Osteogenesis imperfecta gehören (siehe Fall von Gas ne, in Revue d’orthop.
1907, Nr. 3).
*) V^gl. zwei Skelettfiguren, Fig. IIG u. 117 des Lehrbuches der speziellen
pathologischen Anatomie von Ziegler 1895, die je ein Skelett von 31 und
58 Jahren mit sämtlich erhaltenen resp. vorzeitig verknöcherten Knorpelfugen
darstellen.
Digitized by L^ooQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen.
165
Familie nicht wie die anderen mißgebildet geboren worden, und es
bis zur Stunde blühend und gesund geblieben ist. Die Ursache
dieser Tatsache zu ergründen, ist nicht einfach. Allein man wird
vermuten dürfen, daß hier eine Schwäche des Organismus der
Mutter während ihrer Schwangerschaften (ihre erste ausgenommen)
Vorgelegen hat, aus folgenden Gründen: Die ausnahmslos während
der Schwangerschaften aller mißgebildeten Kinder stattgehabten
Nasenblutungen der Mutter kommen hier nicht besonders in Be¬
tracht, da sie unbedeutend gewesen, dagegen deuten sie im Verein
mit den aufeinanderfolgenden Schwangerschaften und dem ununter¬
brochen besorgten Stillgeschäft seit dem ersten Kinde (weswegen
die Menstruation bei der Frau 3 volle Jahre ausgeblieben ist), wohl
auf einen abgeschwächten Organismus hin, der durch Mangel an
wichtigen Baumaterialien für die Knochen als Ursache für unsere
Mißbildungen in Betracht käme. Es wäre demnach von Interesse,
abzuwarten, ob ein nächstes Kind der Frau, die bis zur Stunde
nicht schwanger gewesen ist, daher auch ihre Periode seit geraumer
Zeit wieder bat, mit oder ohne frakturierten Knochen geboren
werden wird. Würde anderseits das erste, am Leben gebliebene,
bisher gesunde Kind der Familie später auch von spontan oder
leicht erfolgenden Frakturen befallen, worauf wir unser Augenmerk
gerichtet halten wollen, so wäre dadurch die Zusammengehörigkeit
unseres Falles, und hiermit der Osteogenesis imperfecta, mit der
Osteopsathyrosis idiopathica außer jeden Zweifel gesetzt.
Daß der krankhafte Prozeß bei unserem Falle im intrauterinen
Leben seinen Abschluß gefunden hat, beweist noch der Umstand,
daß das Kind bei der Geburt, die zwar leicht gewesen, aber doch
in Steißlage erfolgt ist, sich keine Frakturen zugezogen hat und
seine Knochen schon damals recht hart waren.
Das sind die Lehren, die wir aus den anaranestischen Daten
unseres Falles ziehen können.
Gehen wir zu dem klinischen Bilde unseres Falles über, wozu
wir auch, und nicht in letzter Linie, seine Röntgenbilder rechnen,
so nehmen wir an diesen außer den sehr deutlichen, weiter oben
ausführlich beschriebenen Knickungen der Knochen nicht die ge¬
ringste Verzögerung ihrer Ossifikation wahr. Im Gegenteil, hier
scheint eine abnorm frühe Ossifikation vorzuliegen, wie aus den
größer als normal ausgebildeten Kernen der in diesem Alter in
Betracht kommenden Knochen hervorgeht. Allein nicht nur die
Digitized by
Google
166
J. G. Chrysoepathes.
Größe jener Kerne, die die eines Neugeborenen stark übertrifiFt, über¬
rascht uns, sondern auch das, trotz des bekanntlich zeitlich nicht so
bestimmten Verhaltens des Auftretens derselben, doch noch zu frühe
Vorhandensein von Kernen, wie des vom Capitatum und der oberen
Femurepiphyse, die sich normaliter nicht vor dem Ende des 4. oder
5., resp. vor dem 10. Lebensmonat zeigen ^).
Vielleicht ließe sich dieser Umstand auf eine innere, zur Ent¬
wicklung unseres Leidens führende Ursache, vielleicht aber auch
auf eine Reizung infolge der Frakturen zurückführen. Ob aber das
eine oder das andere der Tatsache entspricht, das eine wird jeden¬
falls durch die Röntgenbilder unseres Falles bewiesen, nämlich die
durchaus normal erfolgte enchondrale Ossifikation bei demselben,
somit auch seine Zugehörigkeit zur Osteogenesis imperfecta.
Bei der Betrachtung der infolge der Frakturierung geknickt
erscheinenden Knochen der Unterschenkel und Unterarme, speziell
aus dem intensiveren Schatten dieser Stellen entnehmen wir, daß
hier eine stärkere Knochenbildung vorliegt. Diese ist so
stark, daß sie in Gestalt eines ziemlich niedrigen, d. h. breiten Drei¬
ecks die ganze Konkavität der Knickung ausfüllt, mit der Spitze bis
zu der ihr gegenüber gelegenen Konvexität reichend*).
An den Knochen der Oberarme gibt sich dieses Verhältnis
auch in Ausfüllung des ganzen Mittelstücks der Diaphyse kund, wo
auch der Schatten stärker.
Man wird unserer Ansicht nach nicht fehl gehen, wenn man
diese stärkeren Schatten als eine Art Kallusbildung betrachtet, die
') Daß einer der ersten Ossifikationskerne des Skeletts, nämlich der der
unteren Femurepiphyse, mit der zugehörigen Diaphyse schon in starke Berührung
gekommen ist (siehe Fig. 2), ist vielleicht mit dieser frühzeitigen Ossifikation
in Zusammenhang zu bringen.
Sperling, der in der Lage war eine ähnliche Stelle mikroskopisch
zu untersuchen, schreibt darüber: „Die mikroskopische Untersuchung ergab an
der Knickungsstelle eine osteoplastische, kallöse, subperiostale Auflagerung,
welche stärker an der konkaven Seite des Winkels auHag; das diese Stelle
überziehende Periost war besonders in seiner inneren zellenreicheren Zone
verdickt (siehe Fig. 3 der Arbeit Sperlings „Ueber die Aetiologie der so¬
genannten intrauterinen Frakturen etc.“ Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gyn. Bd. 24
Heft 2).
Nove-Josserand (Precis d’orthopedie, nach Gasne, Revue d’orthop.
1907, Nr. 3: Coudures et pseudarthroses de la jambe) fand dagegen die ge¬
knickte Stelle eburniert, fibröses inaktives Mai*k einschließend, mit allen den
Zeichen einer abgelaufenon Ostitis.
Digitized by LjOOQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen.
167
übrigens an den Fällen von Osteogenesis imperfecta keine Selten¬
heit ist. Diese gesteigerte lokale Knochenbildung, welche ausnahms¬
los an der Konkavität der gebrochenen oder geknickten, resp. in-
frangierten Stellen anzutreffen ist, wenn sie auch kein ungewöhn¬
liches Vorkommnis darstellt, wie aus den Befunden schlecht geheilter
Frakturen, rhachitischer Verkrümmungen etc. wohl bekannt, muß
angesichts der besonderen Verhältnisse unseres Falles immerhin her¬
vorgehoben werden. Erstens da sie an allen vier Extremitäten die
Stelle betrifft, welche bei der Haltung, die der Embryo in utero
annimmt, der größten Beanspruchung ausgesetzt wird, dann weil
die in Rede stehende Knochenbildung an genannten Stellen die all¬
gemeine Behauptung unterstützt, daß die Transformationskraft gerade
da einsetzt, wo die Gefährdung des Knochens am größten ist. Viel¬
leicht wird jene Knochenbildung angeregt durch eine größere Irri-
tierung des Periostes an den konkaven Knickungsstellen, in unserem
Falle aber, wo die Körperlast als ursächliches Moment wegfällt, muß
hierfür einzig und allein die Muskelkraft verantwortlich gemacht
werden.
Wir denken uns den Hergang der Sache folgendermaßen:
Durch die Haltung des Embryos in der Gebärmutter, sowie durch
die in unserem Sinne gekrümmten Extremitätenknochen während der
ersten Lebenswochen, wie wir dies z. B. vom unteren Drittel der
Tibia bestimmt wissen (Fricke, Henke, Reyher), wird eine abnorm
frühe Verknöcherung, die Persistenz dieser ursprünglichen Krüm¬
mungen eventuell Knickungen zur Folge haben. Diese Hypo¬
these scheint in unserem Falle durch die Tatsache gestützt, daß die
Ossifikation bei ihm eine abnorm vorgeschrittene ist. Allein diese
könnte, wie weiter oben schon bemerkt, ebensogut ihren Grund in
einem von den frakturierten Stellen ausgehenden Reiz haben, und
würde dann die Ursache der Verkrümmungen in einer abnormen
Enge der Amnionhülle liegen, was allerdings mit der normalen
Menge des bei der Geburt unseres Falles abgegangenen Amnion¬
wassers nicht gut in Einklang steht.
Anderseits würde man sich angesichts der Tatsache, daß
die Knochen bei der Osteogenesis imperfecta oft noch während der
Geburt weich angetroffen werden, zu der entgegengesetzten Annahme
hingezogen fühlen. Nämlich daß die länger als normal weich blei¬
benden Knochen, durch die Wirkung der, im Vergleich zu den Ex¬
tensoren, stärkeren Flexoren ihren normaliter zukommenden Wider-
Digitized by CjOOQle
168
J. G. Chrysospathes.
stand resp. ihre Aufrichtungsfähigkeit nicht mehr zu leisten ^ver¬
mögen und so von der Seite der Flexoren abgebogen werden, wie
wir dies ja an unseren Bildern sehr deutlich sehen. Am rechten
Oberschenkelknochen, wo dieses Verhältnis sich umkehrt, wird man
wohl annehmen müssen, daß hier die Muskelkraft einem stärkeren
mechanischen Hindernisse, vielleicht einer Interposition von Teilen
des Embryos oder seiner Adnexe weichen mußte, was zur Folge
hatte, daß der in Betracht kommende Knochen der größeren Kraft¬
entfaltung gemäß nach der hinteren Seite des Oberschenkels zu
verbogen würde.
Daß alle diese Verhältnisse in einer sehr frühen Zeit
des Embryonallebens sich abgespielt haben, beweist unter
anderem am deutlichsten die, im Verhältnis zur Streckfläche in ihrer
Entfaltung zurückgebliebene Hautfläche der Beugeseiten der Eniee,
Ellbögen, selbst einiger Fingergelenke, bei welch letzteren es wegen
der Kürze ihrer sie bildenden Knochen nicht zu Verbiegungen der¬
selben gekommen ist. Daß von den Beugeseiten besonders die der
unteren Extremitäten, und zwar von diesen die linke mehr als die
rechte, von der Hautverkürzung betroffen worden, muß besonders
mit der oben erwähnten Biegungsrichtung der Oberschenkelknochen
in Zusammenhang gebracht werden.
Kehren wir nun zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen
über die vermehrte lokale Knochenbildung an unserem Falle zurück,
so müssen wir nach den obigen Ausführungen zugeben, daß hier
die Tätigkeit des Periostes ebensowenig gestört ist wie die der
Epiphysen; ein Umstand, der die Zugehörigkeit unseres Falls zur
Osteogenesis imperfecta weiter bestätigt.
Ein weiterer Punkt, der an unserem Falle noch der Besprechung
bedarf, ist die Bildung von Hautveränderungen direkt über den
frakturierten, resp. geknickten Stellen. Diese, ursprünglich als direkte
Folgen der Frakturen allgemein angesehen, wurden unseres Wissens
zuerst im Jahre 1892 von Sperling ^), allerdings bei solchen Fällen,
wo sie solitär und verheilt, und mit anderen Mißbildungen, speziell
Defekten an Knochen vergesellschaftet Vorkommen, dem Einflüsse
amniotischer Verwachsungen zugeschrieben. Sperling schätzt das
gleichzeitige Vorkommen dieser Defekte auf 60 ^/o aller Fälle von
intrauterinen Frakturen, was nach ihm den Schluß gestattet, daß
9 Sperling 1. c.
Digitized by C^ooQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen.
169
die amniotischen Verwachsungen, die jene entstehen ließen, auch die
Knickungen der Blastemstümmelchen herbeifUhrten. Mit anderen
Worten, Sperling beschuldigt für die Defektbildung den Druck
genannter Verwachsungen auf den noch nicht entwickelten Knochen,
während ihre Wirkung auf den schon differenzierten nur die V^er-
biegungen desselben herbeiführt.
Daß unsere Beobachtung zu dieser Kategorie von Fällen nicht
gehört, geht aus dem Fehlen von Defekten, ebenso aus den multipel
und noch dazu symmetrisch frakturierten Stellen hervor. Schon aus
letzterem Grunde allein würde der weiter oben erwähnte Entstehungs¬
modus, den Sperling für seine Fälle annimmt, für unseren nicht
passen.
Auch die traumatische Ursache, durch Druck der Uteruswan¬
dungen, fällt bei unserem Falle weg, wenn man daran denkt, daß
bei ihm, besonders aber bei dem letzten der drei kranken Kinder,
die Menge des Fruchtwassers sogar reichlicher war als bei dem
ersten gesunden.
Unsere Hautveränderungen könnten wir wohl als Folgen von
Lädierungen der Haut durch die frakturierten Knochen ansehen.
Dafür sprechen die direkt den Hautveränderungen zustrebenden
Knochenspitzen, während die Haut über den nur bogenförmig ge¬
krümmten Oberschenkelknochen normal erscheint.
Diese Art der Entstehung der Hautveränderungen schließt aller¬
dings den amniogenen Ursprung derselben nicht aus, wenigstens in
den Fällen nicht, wo an den fraglichen Stellen Hautausziehungen,
resp. Wärzchen, jedenfalls nicht regelrechte Narbenreste sich vor¬
finden. Hier könnte man wohl an eine Beteiligung des normalen
oder vielleicht auch erkrankten Amnions denken, allerdings in der
Weise, daß dieses nicht die Frakturierung selbst herbeiführt, sondern
erst durch diese letztere zur abnormen Tätigkeit gereizt wird.
Man könnte sich diesen Vorgang folgendermaßen denken: die vor
der Abhebung des parietalen Blattes des Amnions entstandenen, stark
prominierenden Knickungsstellen der Unterschenkel- und Vorderarm¬
knochen hätten durch stärkere Reibung, resp. Wund werden ihrer
Berührungsflächen mit dem Amnion zu Verklebungen und Anlütungen
der Haut mit diesem daselbst geführt, die bei der späteren Ab¬
hebung des Amnions dieses zu Fäden ausgezogen hätten. Letztere
infolge ihrer nicht breiten Anheftungsfläche, einem größeren Wider¬
stand nicht gewachsen, reißen frühzeitig ab, als Reste Wärzchen,
Digitized by L^ooQle
170
J. G. Cfarysospathes.
resp. Grübchen auf der Haut hinterlassend. Man könnte hierbei
weiter annehmen, daß, wo die stärkste Knickung, da auch die größte
Reizung, folglich die breiteste Verklebung und naturgemäß der dickere
und widerstandsfähigere Amnionfaden. Dieser wäre aber dank seiner
letzten Eigenschaft am spätesten abgerissen und so würden wir an
seiner Stelle ein mehr oder weniger ausgebildetes Hautwärzchen
finden, wogegen an den anderen Stellen, wo die Verklebungsfläche
kleiner und infolgedessen der Amnionfaden dünner war, daher sein
Abreißen frühzeitiger erfolgte, auch die Hautveränderungen undeut¬
licher sich präsentieren.
Auf unseren Pall würde diese Vermutung insofern passen, als
über den spitzesten Knickungsstellen, z. B. des Unterschenkelknochens,
rechts ein längliches Hautwärzchen und links ein ausgesprochenes
Hautgrübchen vorzufinden ist, während über den weniger geknickten
Vorderarmknochen nur Andeutungen von letzteren sichtbar sind
und über dem nur gekrümmten Oberschenkel- und Oberarmknochen
keine Hautveränderungen wahrzunehmen sind.
Von Interesse ist schließlich an unserem Falle, daß, obwohl
es sich bei ihm um frakturierte Knochen handelt, keine Kallus¬
bildung eingetreten ist, wie wir sie bei Frakturen finden, sei es
auch daß sie, wie die unsrigen, durch Knickung entstanden sind.
Sieht man sich in der Literatur nach Fällen von möglichst
reinen Intrauterinfrakturen um, die von Kallusbildung begleitet
waren, so findet man in der umfangreichen, weiter oben zitierten
Arbeit von Sperling unter den bis 1892 veröffentlichten dies¬
bezüglichen Fällen nur 3 (Houel, Klein, Osiander), bei welchen
von einer Kallusbildung ausdrücklich die Rede ist. In der im Juli
1907 in der Revue d'Orthop^die erschienenen Arbeit vonGasne nCou-
dures et pseudarthroses congenitales de la jambe“ finden wir unter
59 meist einfach angeführten ähnlichen Beobachtungen nur eine von
Kirmisson, bei welcher die pseudarthrotisch geheilte Knickungs¬
stelle, wie deren Radiogramm zeigt, eine deutliche Kallusbildung
aufweist. Es handelt sich bei diesem Falle um eine 25jährige
Patientin, die mit dem stark deformierten unteren Teil des Unter¬
schenkels ohne Stütze herumgegangen ist ^).
Allein für die Kallusbildung an diesem Falle könnte man
Bei einem anderen Fall, von Kirmisson (siehe die gleiche Arbeit),
spricht dieser von einem bei der Operation an der Fibula gefundenen Kallus.
Digitized by L^ooQle
Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen.
171
Momente beschuldigen, die im späteren Leben sich geltend gemacht
haben. Ob das auch bei den Fällen von Houel, Klein und
Os i and er der Fall war, geht leider aus Sperlings Arbeit nicht
hervor.
Dieser Autor schließt ^aus dem Fehlen von Fibula- oder Zehen¬
defekten bei mit ausgesprochener Kallusbildung verbundenen soge¬
nannten intrauterinen Unterschenkelfrakturen auf die Entstehung der
Knickung in einer embryonalen Zeit, in der die Formanlage und
auch die Ossifikationsanfänge bereits gegeben waren“. Auch das
fast durchgängige Vorkommen von starker Kallusbildung bei intra¬
uterinen Frakturen der Klavikel (Gurlt, Gremse, Devergie,
Feist), eines Knochens, dessen Ossifikation schon in den ersten
7 Wochen des embryonalen Lebens beendet ist, bestärkt ihn in
dieser seiner Annahme.
Wir, die wir die Frakturen unseres Falles wegen der weiter
oben angeführten Gründe nicht durch amniotische Stränge, wie
Sperling es für seine Fälle tut, entstehen lassen, würden eben¬
falls aus dem Fehlen einer regelrechten Kallusbildung an den ge¬
knickten Stellen schließen, daß es deswegen nicht zu einer solchen
gekommen ist, weil das sie verursachende Moment zu einer Zeit
eingesetzt hat, wo von einer beendigten Ossifikation der in Betracht
kommenden Knochen nicht die Rede sein konnte, also schon in den
allerersten Lebensmonaten, wenn man überlegt, daß der Beginn der
Verknöcherung bei den Vorderarmknochen in die 8.—9. Woche, des
Femurs in das Ende der 2. und der Tibia und Fibula in den An¬
fang des 3. Monats fällt (Kölliker).
Sind demnach unsere Knickungsfrakturen als in einer sehr
frühen Periode des Lebens entstanden zu betrachten, so muß bei
ihnen mit der Wahrscheinlichkeit gerechnet werden, daß ihre Ur¬
sache in einer Störung des Organismus liegt, die, wenn sie sich auch
nicht in der allgemeinen Ernährung äußerlich kundgibt, so doch
mindestens die erste Knochenbildung betreffen muß. Daß eine solche
Störung in diesen Fällen vorliegt, geht schließlich aus der vermin¬
derten Lebensfähigkeit dieser Geschöpfe hervor.
Aus der Art des Todes solcher Kinder durch Krämpfe könnte
man an eine vielleicht der rhachitischen analoge Intoxikation denken,
was ja unsere eben ausgesprochene Ansicht eher unterstützt als
aufhebt.
Digitized by C^ooQle
XII.
(Akademie für praktische Medizin zu Köln a. Rh., orthopädisch¬
chirurgische Abteilung.)
Ueber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels‘).
Von
Dozent Dr. K. Cramer^ dirig. Arzt.
Mit 7 Abbildungen.
Die ältesten, wissenschaftlich in hervorragender Weise beob¬
achtenden Aerzte, deren Arbeiten wir noch zum Teil kennen, wie
Qalen, Hippokrates, Celsus, haben einer Heilung von Knorpel¬
wunden, ganz allgemein gesagt, sehr wenig Wert beigelegt. Ziem¬
lich verworren blieb dann die Lehre von der Knorpelregeneration
bis Anfang und Mitte des vorigen Jahrhunderts, und auch die in der
neueren und neuesten Zeit erschienenen Arbeiten haben das Dunkel
dieser Vorgänge noch nicht ganz gelichtet. Sie enthalten die wider¬
sprechendsten Ansichten und sind hierdurch nicht geeignet, diese
Frage endgültig zu klären.
Ehe ich meine Versuche und deren Resultate eingehender be¬
schreibe, möchte ich mit ein paar Worten die bisher bekannt ge¬
wordenen Ansichten über die Ernährung des Gelenkknorpels und
die Heilung seiner Wunden erwähnen, da ja bekanntlich die Frage
von der Ernährung der Knorpelzellen und deren Qrundsubstanz von
großer Wichtigkeit ist für die Art und Weise des Heilungsvorganges
der Knorpelwunden. Einzelne Autoren lassen die Ernährung zu
stände kommen durch Gefäße, so beschreibt Heitzmann in der
hyalinen Grundsubstanz ein weitverzweigtes, engmaschiges, mit vari¬
kösen Ausbuchtungen versehenes System von Kanälen. Durch diese
sollen die Ausläufer der Knorpelzellen miteinander in Verbindung
treten. Dieser Ansicht von dem Vorhandensein präformierter Kanälchen
*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by CjOOQle
lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels.
173
sind ferner Budge, Orth, Nykamp, Bubroff, Loew, Petrone,
V. Ewetzky, Henoque. Nach Lampe lassen sich Gefäße erst
zwischen dem 20. und 30. Lebensjahre nachweisen. In früherer
Zeit sei der Knorpel ohne Gefäße, mit Ausnahme der dem wachsenden
Knochen unmittelbar anliegenden Schichten, und infolgedessen nicht
primär erkrankungsfähig. Solger, Spina, Zuckerkandl nehmen
einen Saftstrom an, der längs der protoplasmatischen Fortsätze der
Knorpelzellen, die untereinander kommunizieren, hinfließe. Eine Er¬
klärung, der namhafte Gelehrte, wie z. B. Waldeyer, ron der
Stricht, Hertwig u. a. freundlich gegenüberstehen. Wolters
bildete ein System der Saftspalten ab, während Gerlach die Er¬
nährung auf dem Wege der DiflPusion stattfinden läßt.
Aus den hier kurz genannten Arbeiten geht mit Deutlichkeit
hervor, daß die Histologen sich in dieser Frage noch nicht geeinigt
haben. Ich selbst habe bei meinen zahlreichen, genau studierten
Präparaten von Gelehkknorpeln jugendlicher Kaninchen nie ein Ge¬
fäß oder auch nur die geringste Andeutung eines solchen im Knorpel
gesehen. Auch über den feineren histologischen Bau des Gelenk¬
knorpels bestehen Meinungsverschiedenheiten; so über die Grund¬
substanz und das Vorhandensein von besonderen Kapseln für die
Knorpelzellen. Diese werden z. B. von Aeby und Henle geleugnet.
Weiter fanden Heidenhain, Fürstenberg und Remack keine
Zwischensubstanz im Knorpelgewebe, diese werde vielmehr gebildet
durch die Verschmelzung aneinander grenzender Kapseln.
lieber ihre Ansicht von der Heilung von Knorpel wunden lassen
Kölliker und Rokitansky keinen Zweifel. Sie sagen mit ab¬
soluter Deutlichkeit, daß an der Heilung von Knorpel wunden die
Knorpelsubstanz sich nicht beteiligt und daß die Knorpel Wuche¬
rungsfähigkeit nicht besitzen.
Gurlt und Thiersch fanden bei Gelenkknorpeldefekten eben¬
falls nie Knorpelregeneration. Sie sahen niemals Ersatz durch
Knorpelsubstanz, sondern durch fibröses, ab und zu knorpelähnliches
Gewebe.
Dörner machte umfassende experimentelle Untersuchungen an
Knorpeln von Tieren. Die Knorpel zeigten weder nach Einschnitten
noch nach Abtragung Neigung zur Verheilung oder Regeneration
durch knorpeliges Gewebe. Die Wunden blieben entweder wie sie
waren, oder wurden durch fibröses, vom Perichondriura stammendes
Gewebe ausgefüllt. Hierbei ist zu betonen, daß viele Operations-
Digitized by
Google
174
K. Gramer.
wunden unter Eiterung heilten. Ich komme hierauf noch zurück,
da die Art der Heilung per primam oder per secundam intentionera
von großer Wichtigkeit ist.
Sieveking arbeitete an tierischem Netzknorpel. Er fand
ebenfalls nur appositioneile Reparatur, ausgehend vom Perichondrium.
Auch Pauli sah nach Exzisionen am Rippenknorpel von Hunden
noch nach Monaten keine Veränderung am Knorpel, sondern einen
dünnen Abschluß durch Bindegewebe.
Zu einer anderen Ansicht kam Redfern. Es sei außer Zweifel,
daß die Substanz des Knorpels fibröses Gewebe bilden könne.
Archangelsky nimmt an, daß die Heilung der Knorpel¬
wunden ausgehe vom Perichondrium, das sich umwandle zunächst
in Faserknorpel und später in Hyalinknorpel.
Ewetzky operierte am Skleralknorpel des Frosches. Er be¬
obachtete Beteiligung der Knorpelzellen bei der Heilung der In¬
zisionen. Die Knorpelzellen schwanden zunächst in der Nähe des
Schnittes, dann wucherten die Zellen in der Umgebung. Vom Peri¬
chondrium entwickelten sich spindelförmige Zellen in der Wunde,
die allmählich rundlich wurden. In der 9. Woche war die Narbe
durch neugebildete hyaline Knorpelsubstanz ersetzt.
Schklarefsky machte seine Studien an Hunden. Bei eiternden
Wunden bildete sich zunächst eine Bindegewebsnarbe vom Perichon¬
drium her. Nach 2—3 Wochen proliferierten die benachbarten
Knorpelzellen und wandelten sich später in Bindegewebe um. Bei
Heilung ohne Eiterung entstand zunächst eine Bindegewebsnarbe,
die sich nach 3 Monaten in Faserknorpel und dann in hyalinen
Knorpel umwandelte. Nach 1 Jahre war keine Narbe mehr zu sehen,
sondern nur Knorpelgewebe. Also ebenfalls eine Transformierung
des Bindegewebes in hyalinen Knorpel.
G e n z m e r sah ebenfalls eine Narbe, ausgehend vom Perichon¬
drium, deren Spindelzellen sich allmählich in Knorpelzellen um¬
wandelten.
Zu ähnlichen Resultaten kam Matsuoka. Die Arbeit ist
neueren Datums, sie stammt aus dem Institut Ribberts. Er operierte
an Kaninchenohren. Zunächst proliferierte das Perichondrium, welches
in die Wunde hinein wuchert. Die Zellen des Perichondriums ver¬
mehren sich. An dem neuen vorgeschobenen Perichondrium werden
viele längliche Spindelzellen mit Kernen deutlich. In einem späteren
Stadium treten in diesem Gewebe rundliche, den Knorpelzellen ähn-
Digitized by C^ooQle
Ueber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels.
175
liehe Zellen auf. Diese hält er für Anfänge der Knorpelkapseln.
Sie treten nach 23 Tagen in die Erscheinung. Das frische peri¬
chondrale Gewebe bedeckt die Wunde und wandelt sich in Knorpel
um, und zwar beginnt letzterer Prozeß zunächst in der Nachbar¬
schaft des verwundeten Knorpels. Teilungsformen oder Anhäufung
von Knorpelzellen sind nicht beobachtet worden. Nach 76 Tagen
ist die Wunde mit einem Knorpelkallus ausgefüllt.
F asoli machte ebenfalls an einer größeren Reihe von Kaninchen¬
ohren seine Studien über die Regeneration des elastischen Knorpels.
Die Untersuchungen stammen aus dem Jahre 1905. Er operierte
22 Kaninchen beidseitig und tötete die Tiere nach Ablauf von 4 bis
190 Tagen. Er sah folgendes: An den Wundrändern treten nekro-
biotische Erscheinungen auf. Aus dem Perichondrium und den an¬
grenzenden Geweben wuchert Bindegewebe in die Wunde und füllt
diese aus. Die Knorpelzellen bleiben unverändert, sind absolut passiv.
Nach 30 Tagen beginnt in diesem Bindegewebe, welches den Wund¬
spalt ausfüllt, eine Knorpelmetamorphose, und zwar zunächst in den
Schichten, die dem Wundrande des Knorpels anliegen. Der neue
Knorpel entsteht aus der neugebildeten Grundsubstanz ohne Beteili¬
gung der perichondralen Faserung und ohne Zutun des normalen
Knorpels. Sind die Substanzverluste sehr groß, so werden sie nur
mit retikulärem Bindegewebe bedeckt.
Burci und Anzilloti machten ihre Versuche an Rippen-,
Schild- und Schwertknorpel von jungen Kaninchen, 81 Experimente
an 26 Tieren unter strengster Asepsis. Die Tiere wurden in Zeit¬
räumen zwischen 6—137 Tagen getötet. Das Ergebnis war fol¬
gendes: der Defekt wird von einer bindegewebigen Narbe ausgefüllt
resp. bedeckt. In seiner Nähe bilden sich reaktive Vorgänge resp.
Knorpelneubildung, die ausgeht teils von der Knorpelhaut, teils von
den perichondralen, schon vorhandenen Knorpelzellen. Dieser neue
Knorpel kann sich charakterisieren als Faserknorpel und als Hyalin¬
knorpel. Der Uebergang von einer Form in die andere wird nicht
immer beobachtet. Vaskularisierung oder Ossifikationsprozesse treten
innerhalb der ersten 4 Monate post Operationen! in der Knorpelnarbe
nicht auf.
March an ds Arbeiten ergaben folgendes: Zunächst füllt sich
die Wunde mit Fibrin, dann wuchert das Perichondrium, füllt den
Wundspalt aus und liefert einen Knorpelkallus, an dessen Bildung
der Knorpel selbst nicht beteiligt ist.
Digitized by C^ooQle
176
K. Gramer.
Mori verletzte das Kaninclienohr nur durch Schnitt- und Stich¬
wunden. Nach 8 Tagen waren die Wunden angefüllt mit zahl¬
reichem faserigen Bindegewebe. Dieses entstand entweder aus der
Knorpelhaut oder, wenn diese entfernt wurde, aus weiter abliegenden
Ge websschichten. „Nach 19 Tagen sieht man schon deutliche Regene¬
ration von Knorpelzellen, welche von dem die Wundspalte aus¬
füllenden Granulationsgewebe ausgeht. Für die Entstehung dieses
jungen Knorpels ist es ganz gleichgültig, ob das Perichondrium bei
der Operation abgetragen war oder nicht. Die 13 Versuche haben
also dargetan, daß auch aus dem Granulationsgewebe, das nach Ent¬
fernung und ohne Beteiligung des Perichondriums die Wundspalten
des Knorpels aus füllt, Knorpel entsteht.“ Im Speziellen „zeigen die
meisten der der Wundlücke zunächst liegenden Knorpelzellen, deren
Kapseln bei der Operation eröffnet worden sind, Proliferationserschei¬
nungen.“ Diese lassen sich auf zweierlei Art deuten. Entweder
könne Granulationsgewebe in die leeren, mit der Wunde kommuni¬
zierenden Knorpelkapseln hineinwachsen oder die Knorpelzellen proli-
ferieren selbst. Doch ist er der Meinung, „daß die Anteilnahme der
Knorpelzellen an der Regeneration, wenn überhaupt vorhanden, sehr
gering ist.“
Penisi macht seine Versuche ebenfalls an jungen Kaninchen
und zwar an Knorpel mit und ohne Knorpelhautbedeckung, indem
er Gelenk, Schild, Ohr und Rippenknorpel verletzte. Bei letzteren
mit Knorpelhaut bedeckten Knorpeln wird die Knorpelwunde aus¬
gefüllt durch junges Bindegewebe, welches von dem Perichondrium
stammt. Dieses kann Bindegewebe bleiben oder in hyalines Knorpel¬
gewebe metaplasieren. Jores kam zu ähnlichen Resultaten. Er
operierte ebenfalls Kaninchenohren durch Setzung vielgestaltiger
Defekte. Der neue Knorpel bildet sich aus den inneren Schichten
der Knorpelhaut. „Die dort gelegenen länglich-schmalen Zellen,
welche in einem dichten Netzwerk elastischer Fasern liegen, werden
größer, protoplasmareicher, runden sich ab und vermehren sich.
Homogene Grundsubstanz tritt zwischen ihnen auf. Schon nach
21 Tagen bilden sie einen Knorpel mit etwas kleinen und zahlreichen
Knorpelzellen, die größtenteils schon eine Kapsel besitzen und von
reichlichem elastischen Gewebe umgeben sind.“
Aus diesen Berichten und Versuchen über die Regeneration
des Faserknorpels wird ohne weiteres augenfällig, daß das Haupt¬
interesse der Forscher beansprucht wird durch die Fragen nach der
Digitized by C^ooQle
lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels.
177
Beteiligung der Knorpelhaut und der Knorpelzellen bei dem Heilungs-
Torgang. lieber die Tätigkeit des Perichondriums bei der Heilung
der Knorpelwunden durch Lieferung von Bindegewebe ist man einig.
Different sind jedoch die Meinungen über die Aktivität oder Passivi¬
tät des Knorpels selbst bei dem Heilungsprozeß. Wie diese Vor¬
gänge sich abspielen an Wunden des Gelenkknorpels ist nicht so
eingehend bearbeitet worden. Wir besitzen hierüber aus den letzten
Jahren nur wenige Studien mit Schlußfolgerungen, die sich absolut
widersprechen; und gerade diese Fragen sind es, die den Orthopäden
in höherem Maße interessieren müssen als die Regeneration des Faser¬
knorpels, an den Rippen, dem Ohr oder dem Kehlkopf.
Tizzoni experimentierte im Jahre 1875. Er sah nach Ein¬
schnitten im Gelenkknorpel auf der einen Seite atrophische und
körnig degenerative Vorgänge in den Knorpelkapseln, auf der
anderen Seite beginnen die Zellen zu wuchern und wandeln die
Knorpel in Faserknorpel oder Bindegewebe um. Die Grundsubstanz
wird dabei aufgefasert. Es gibt eine Primärheilung, indem die
Knorpelzellen wuchern und sich aus dem vorhandenen Knorpel neues
Gewebe bildet. Anders sind die Vorgänge bei der Sekundärheilung.
Diese erfolgt durch Granulationsbildung aus dem Epiphysenmark oder
der Synovialis sowohl, als auch durch Proliferation der Knorpelzellen.
So entsteht zunächst eine Narbe aus Bindegewebe. Aus dieser bildet
sich durch Metamorphosierung der Zellen und Bildung einer zuerst
schleimigen, dann hyalinen Grundsubstanz hyaliner Knorpel.
Gies (1881) arbeitete ebenfalls an Gelenkknorpeln und zwar
von jungen Hunden. Er kam zu nachstehenden Schlüssen: „Rein
aseptische Knorpel wunden heilen niemals aus, sie bleiben bestehen.
Unter Anwesenheit von Mikroorganismen (Entzündungserregern) ge¬
setzte Knorpel wunden heilen auf die idealste Art und Weise aus,
so daß Spuren des einmal hier vorhandenen Traumas gar nicht oder
nur sehr schwer aufzufinden sind.“ Ein ganz auffallendes Ergebnis,
besonders wenn man daran denkt, wie schwierig es ist, die in das
Gelenk hineingebrachten Entzündungserreger richtig zu dosieren, so
daß eine Verödung des Gelenkes nicht eintritt.
Ich lasse hier weiter seine Worte folgen: „Während eine
lOtägige aseptische Knorpelverletzung Atrophie der der Schnittwunde
zunächst gelegenen Knorpelzellen, Wucherung der in weiter Ent¬
fernung gelegenen aufweist, der Wundspalt selbst ganz unverändert
ist, erkennen wir im scharfen Gegensätze hierzu bei einer erst Stägigen,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 12
Digitized by
Google
178
K. Gramer.
unter Anwesenheit von reizenden Stoffen gesetzten Knorpelwunde,
den Wundspalt bereits ganz und gar ausgefüllt von jungen Spindel- und
Rundzellen. Eine 75tägige, aseptische Verletzung zeigt das Bild der
Arthritis deformans, wogegen eine 78tägige unreine bereits Ueber-
gang des Ersatzgewebes in Knorpelgewebe erkennen läßt. Und nun
gar erst der Unterschied zwischen einer 119tägigen aseptischen und
einer 98tägigen unreinen Knorpelschnittwunde. Während die erste
eine zelllose, atrophische Zone, sodann eine Wucherungszone auf¬
weist, der Wundspalt nicht im geringsten ausgefüllt ist, vermag de
facto bei der zweiten „ohne mich der Anmaßung zeihen zu müssen —
nur der mit solchen Vorgängen Vertraute noch die Spuren eines
einmal hier gesetzten Traumas zu entziffern, so ideal, so vollkommen
der Norm entsprechend ist der Ersatz.“
Lefas (1902) fand den Gelenkknorpel nach einer Woche völlig
reaktionslos. Nach 14 Tagen war in den oberflächlichen Schichten
der Einschnitt noch zu erkennen, in den tieferen kaum. Nach
3 Wochen normale Verhältnisse. Dabei fand er keine Verände¬
rungen an den Knorpelzellen, nie Kernteilung, nie Degeneration.
Trotzdem nimmt er Vermehrung der benachbarten Zellen und Bil¬
dung von Grundsubstanz durch diese an. Die Inzision verschwinde
durch Ablauf des gewöhnlichen Bildungsprozesses des Knorpels. Er
spricht auch von einer Verklebung der Schnittwunden. Derartige
vollkommene Reparaturen sollen Vorkommen nur beim jungen, nicht
beim erwachsenen Tiere.
Fasoli (1905) machte in einer 2. Versuchsreihe Schnittwunden
in den Kondylenknorpel der Oberschenkel von Kaninchen. Die
Heilungsvorgänge wurden untersucht in Zeiträumen von 7 zu 250 Tagen.
Der aseptische Verlauf wurde durch Kulturproben bewiesen. Anfangs
trat an den Inzisionen auf: Nekrobiose, später Proliferation der
präexistierenden Knorpelzellen. Diese neuen Zellen gaben Veran¬
lassung zur Bildung von Grundsub.stanz. Nach kleinen Verletzungen
stellen sich so normale Verhältnisse wieder her, während ausgedehnte
Defekte ein anderes Verhalten zeigen. Hier tritt keine völlige
Restitution ein, sondern es bildet sich ein bindegewebiger Abschluß.
Auch können, wenn der Schnitt in die Nähe von Synovialis kommt,
Granulationen die Wunden ausfüllen, die sich allmählich in Knorpel
verwandeln. Die präexistierenden Knorpelzellen sind hierbei passiv.
Seggel (1904) operierte ebenfalls an Femurkondylen von
Kaninchen. „Erstreckt sich der Defekt in den Knochen hinein, so
Digitized by C^ooQle
lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels.
179
wandelt sich das Mark bindegewebig um und Fibroblastenzüge wachsen
nach oben empor, drängen dann die erst den Defekt ausfüllende
Fibrin- und Blutschicht vom Knorpel ab. Handelt es sich um einen
reinen Enorpeldefekt, so bleibt derselbe fast ganz reaktionslos, nur
ganz geringe Fibringerinnsel finden sich demselben aufliegend. Nur
wenn der Defekt nahe dem Kapselansatz liegt, schiebt sich sekundär
ein bindegewebiger Pannus über den Knorpeldefekt weg.“ Knorpel¬
neubildung mit Neubildung von Grundsubstanz sei nur in ganz
geringem Grade vorhanden und stehe unter dem Einflüsse der Gefäße
des Kapselansatzes. „Jedoch ist es ganz unmöglich eine bindende
Gesetzmäßigkeit im Verhalten des Knorpels nachzuweisen. Es
finden sich oft Widersprüche, die sich absolut nicht erklären
lassen.“
Die meisten dieser Forscher der neuesten Zeit sahen mehr oder
weniger direkte Anteilnahme des Knorpelgewebes an der Reparatur,
im Gegensatz zu ganz hervorragenden Namen wie Gurlt, Thierseh,
Kölliker, Rokitansky, welche niemals Beteiligung des Knor¬
pels am Heilungsprozeß von reinen Wunden sahen. Ich gebe hier
einige prägnante Aussprüche wörtlich wieder. „Wunden des Knorpels
werden ebensowenig mittels Knorpelsubstanz vereinigt, wie ein Sub¬
stanzverlust am Knorpel repariert wird“ (Rokitansky). „ Wucherungs-
lähigkeit besitzen die Knorpel nicht, Knorpelwunden heilen nicht durch
Knorpelsubstanz“ (Kölliker). Diese letzteren Arbeiten liegen aller¬
dings um ca. 50 Jahre zurück.
Meine eigenen Erfahrungen sind nachstehend genauer wieder¬
gegeben. Zunächst gab ich mir Mühe, primäre Heilungen zu er¬
reichen. Dies ist mir auch gelungen, und ich glaube nicht, daß
man bei Beherrschung des dem Chirurgen geläufigen aseptischen
Operierens hierbei auf Schwierigkeiten stoßen kann. Ich operierte
an wachsenden, jugendlichen Kaninchen im Alter von 2—5 Monaten.
Die Kniegelenksgegend wurde rasiert, abgeseift und mit Alkohol
und Sublimat längere Zeit abgewaschen. Also dieselbe Vorbereitung,
wie wir sie bei allen Operationen anzuwenden gewohnt sind. Das
Kniegelenk wurde unterhalb der Kniescheibe mit Querschnitt eröflhet
und der Unterschenkel gebeugt. Es präsentieren sich so gut die Femur-
kondylen. In diese wurden Verletzungen gesetzt, entweder in Form von
einfachen Schnittwunden oder in Form von Abtragungen kleiner Knor¬
pelscheiben. Schwer ist es hierbei, nur die Knorpelschicht zu treffen
und das darunter liegende Knochengewebe zu schonen. Ich benutzte
Digitized by C^ooQle
180
K. Gramer.
dazu in einzelnen Fällen gerade Hagedornsche Nadeln, die ja
bekanntlich an der Spitze säbelförmig zugeschliffen sind. Dann
wurde die Kapsel und die Quadricepssebne und schließlich die Haut
mit dünner Seide vernäht. Die Wunden wurden bedeckt mit einem
kleinen, glatten Stück Verbandmull, das mit reichlichem Kollodium
angeklebt wurde. Andere Verbände habe ich nie angewandt. Die
Tiere schleppten die operierte Extremität während der ersten 10 bis
14 Tage nach, zeigten im übrigen nach 2 Tagen post operationem
keine Störungen des Allgemeinbefindens. Narkotisiert wurde mit
Aether. Einige Male gingen in den ersten Tagen einige Hautnähte
auf, die Naht der Gelenkkapsel hat jedoch stets gehalten, so daß eine
Eiterung im Gelenk selbst nie eingetreten ist. Getötet wurden die
Tiere am 3., 5., 6., 7., 10 , 17., 51., 74., 96. und 98. Tage. Im
ganzen wurden operiert 20 Kaninchen; 2 gingen in der Narkose
zu Grunde. Nach der Tötung wurden die Kniegelenke angeschnitten
und dann extrakapsulär herausgenommen, in Formol gehärtet, in
10®/oiger Salpetersäure entkalkt, gewässert, mit 50,75^/o und ab¬
solutem Alkohol nachbehandelt, eingebettet und geschnitten. Die
Färbung erfolgte durch Hämatoxylin resp. Häraalaun van Gieson;
Hämatoxylin-Eosin; Hämatoxylin-Pikrinsäure; Borax-Karmin; Alaun-
Karmin.
Fall 1. 3 Monate alt, Abtragung je einer kleinen Knorpel¬
scheibe ohne Verletzung des Perichondriums von der Höhe der
Femurkondylen. Getötet nach 3 Tagen. Der Kollodium verband
liegt fest an; im Gelenk keine Entzündungserscheinungen, wenig
blutige Flüssigkeit. Mikroskopischer Befund: An der Gelenkseite
des Knorpels ein fiacher Defekt mit fibrinähnlicher Masse bedeckt,
in dieser ein rundlicher Kern. An den Knorpelzellen keinerlei Ver¬
änderungen.
Fall 2. 4 Monate alt. Abtragung von 4 kleinen Knorpel¬
scheibchen von den Femurkondylen ohne Mitverletzung der benach¬
barten Synovialis. Getötet nach 3 Tagen. Der Kollodiumverband
ist zur Hälfte abgerissen. Die Hautnaht hat nicht ganz gehalten;
die Naht der Gelenkkapsel schließt dicht ab. Mikroskopischer Be¬
fund: Die Verletzung geht bis in die Markhöhlen. Ihr aufgelagert
ist eine Masse mit vielen runden Kernen. Am Knorpel und Knochen
keine Veränderungen.
Digitized by C^ooQle
üeber HeiluDg von Wanden des Gelenkknorpels.
Fig. 1 (Fall 1).
181
/-M •; ii! f <
Fall 3. 3 Monate alt, operiert wie Fall 1. Getötet nach
7 Tagen. Der Eollodiumverband fehlt, einzelne Hautnähte sind ein¬
gerissen. Die Eapselnaht hat gehalten. Im Gelenk klare Flüssig¬
keit, keine Eiterung. Mikroskopisch: An Schnitten, wo die Ver¬
letzung nur den Enorpel getroffen hat, sieht man die Wunde so,
als wenn sie frisch gesetzt wäre, ohne jede Veränderung an den
Enorpelzellen.
Fall 4. 5 Monate alt, Abtragung von 5 kleinen Enorpel-
scheiben aus den Femurkondylen, extraperichondral. Getötet nach
7 Tagen. Heilung per primam intentionem. Im Gelenk klare
Flüssigkeit. Mikroskopisch: Dem Enorpeldefekt aufgelagert eine Fibrin-
masse mit abgeplatteten Eemen durchsetzt. Am Enorpel selbst
keine Veränderung.
FaU 5. 3 Monate alt. Abtragung von Enorpelscheibchen aus
der Höhe der Femurkondylen ohne Mitverletzung der Synovialis.
Getötet nach 10 Tagen. Völlige Verklebung der Operationswunde.
Im Gelenk klare Flüssigkeit. Mikroskopisch: In der Schnittfläche
des Enorpels eine fibrilläre Schicht mit kleinen rundlichen und läng¬
lichen Eernen. Der Enorpel ist kaum verändert. An einer Stelle
ist eine Markhöhle deutlich eröffnet. In ihrer Umgebung ist die
Auflagerung dichter, während sie in der Nähe des nicht verletzten
Enorpels dünn ist. Die Markräume unter der Abtragung sind
faseriger, zellenreicher auf Eosten der Fettzellen. Die Auflagerung
ist gefäßhaltig, sie wuchert aus dem mitverletzten Markraume heraus,
füllt bei einigen Präparaten den Enorpeldefekt fast vollkommen aus.
Digitized by L^ooQle
182
E. Gramer.
Fig. 2 (Fall 5).
Fall 6. 3 Monate alt. Abtragung yon kleinen Knorpel¬
scheiben ohne Knorpelhaut aus den Kondylen. Getötet nach 14 Tagen.
Die Operationswunde ist geheilt. Im Gelenk kein Zeichen einer
Entzündung. Mikroskopisch: An einzelnen Präparaten geht der
Knorpeldefekt bis in den Knochen hinein, dieser ist mitverletzt; an
anderen hat er nur den Knorpel getroffen. An letzteren zeigen die
Knorpelzellen keine Abnormitäten. Dagegen ist in den unter dem
Knorpel liegenden Markräumen das Bindegewebe vermehrt und mehr
mit Zellen ausgefüllt, als es der Norm entspricht. Die Präparate,
bei denen der Knochen mitverletzt wurde, zeigen einen Abschluß
der Knochen wunde durch dichtes Bindegewebe mit vielen Kernen.
Der Knorpel ist reaktionslos, der Knochendefekt durch Bindegewebe
abgeschlossen und überbrückt.
Fall 7. 3 Monate alt. Exzision von je einer Knorpelscheibe
aus der Kondylenhöbe mit Schonung der Knorpelhaut. Tod nach
51 Tagen. Das operierte Bein ist atrophisch: das Kniegelenk frei
beweglich, die Narbe unter den Haaren kaum sichtbar. Im Gelenk
klare Synovialflüssigkeit. Mikroskopisch: Von seiten des Knorpels
so gut wie keine Erscheinungen, auch nicht in seinen Zellen. Der
Schnitt geht bis in den Knochen, lieber der Knorpelschnittfiäche
eine Schicht Bindegewebe mit abgeflachten Kernen, die sich scharf
von jener trennen läßt. Bei Färbung mit Gieson werden die Kerne
Digitized by L^ooQle
lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels. 183
Fig. 8 (FaU 7).
schärfer rot wie die Enorpelzellen. An der Schnittfläche des Kno¬
chens sieht man deutlich, daß das Bindegewebe in die Markräume
übergeht, es ist gefaßhaltig und viel dichter wie das entsprechende
Oewebe in Fall 6.
Fall 8. 3 Monate alt, operiert wie Fall 7. Getötet nach
96 Tagen. Kniegelenk völlig beweglich. Geringe Atrophie des
Beines. Im Gelenk klare Flüssigkeit. Mikroskopisch: An Prä¬
paraten, an denen nur der Knorpel allein verletzt wurde, erscheinen
an einer kleinen Stelle die Knorpelzellen vermehrt, die Reihenstellung
ist nicht mehr vorhanden, die Knorpelzellen stehen in Nestern und
Haufen; aber es sind noch die rundlichen Knorpelzellen. Nirgends
Kallus oder Hyperplasie der Knorpelzellen, keine Spur von Repa¬
ratur oder Knorpelneubildung. An den Präparaten, wo die Ver¬
letzung bis in den Knochen geht, ist die Knorpelschnittwunde ab¬
geschlossen durch eine dichte, dünne Schiebt, die mit den Markräumen
in Verbindung steht. Letztere sind unter dem Defekt kern reicher.
Am Knorpel keine Veränderungen, auch keine Bedeckung desselben
in der Nähe der Knochenwunde mit Bindegewebe.
Fall 9. 3 Monate alt. Inzision in den Knorpel auf der Höhe
der Kondylen. Getötet nach 3 Tagen. Der Kollodium verband hat
gehalten. Die Gelenkflüssigkeit ist leicht getrübt. Mikroskopisch:
Der Inzisionsspalt geht bis in die Mitte der Knorpeldecke. Er ist
ausgefüllt mit einer feinkörnigen Masse, die sich mit Pikrin gelb
färbt; sie kann Fibrin sein, das aus der Synovia oder den ange¬
schnittenen Knorpelzellen stammt; in seiner obersten Schicht ein
Digitized by LjOOQle
184
E. Gramer.
rundlicher Kern, der möglicherweise
von einer angeschnittenen Enorpel-
zelle herrührt. Die an den Schnitt
grenzenden Knorpelzellen verhalten
sich normal.
Fall 10. 5 Monate alt. Ein¬
schnitte in die Kondylen. Getötet
nach 6 Tagen. Die Hautnaht klafft,
die Eapselnaht ist dicht. Mikroskopisch
finden sich ungefähr dieselben Bilder
wie in Fall 9. Die an die Inzisionen
grenzenden Knorpelpartien scheinen
^ etwas zellfreier. Die Knorpelzellen
scheinen leicht geschwunden zu sein.
Zu beiden Seiten des Schnittes im
? Bereiche einer 2 mm breiten Zone
^ bei starker Vergrößerung Andeutung
von Nekrobiose ? In der obersten Partie
der Wunde eine feinkörnige Masse,
die oben homogen ist. Der Knorpel¬
zellenschwund ist nur an einigen Prä¬
paraten sichtbar.
Fall 11. 5 Monate alt; ope¬
riert wie Fall 10. Tod nach 5 Tagen.
Haut- und Kapselnaht hat gehalten.
Im Gelenk klare Flüssigkeit. Mikro¬
skopisch : Man sieht unter dem Schnitt
im Knorpel, der fast gar nicht klafft,
keine Veränderungen. Die Knorpel¬
zellen sind absolut nicht verändert.
Bei einzelnen Präparaten befindet sich in der obersten Partie eine
strukturlose, homogene Masse.
Fall 12. 3 Monate alt. Schnittwunde in beide Kondylen.
Zwei Hautnähte eingerissen, im übrigen primäre Heilung. Tod nach
10 Tagen. Im Gelenk klare Gelenkfiüssigkeit. Mikroskopisch: Die
Inzision erstreckt sich bis in die Grenze von Knorpel und Knochen.
Digitized by L^ooQle
lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels.
Fig. 5 (Fall 10).
Fig. 6 (Fall 12).
V>‘- ' ‘"'Vf
N V. • •• j Ä
:v'h^‘V'w"- ■Av:‘<xv- /x.v' ,»
' %- ‘ \N Y V '
Digitized by
Google
185
186
K. Gramer.
Der Eiiochen klafft in der Peripherie, ist hier ausgefüllt mit einer
Masse, in der sich langgezogene und runde Kerne befinden, da¬
zwischen einige Fibrillen, die wie Bindegewebe aussehen. Dies kann
nicht aus der Tiefe kommen, weil der Schnitt hier leer ist und
klafft. Von seiten der angrenzenden Knorpelzellen keine Andeutung
von Beziehung zu dem ausfüllenden Gewebe. Die Schnittränder
des Knorpels sind glatt. Die Umgebung bietet keine Anhaltspunkte
über die Herkunft dieses Füllgewebes (wahrscheinlich Wucherung
der mitverletzten angrenzenden Gelenk- oder Knorpelhaut).
Fall 13. 3 Monate alt, operiert wie Fall 12. Getötet nach
7 Tagen: primäre Heilung. Normale Synovialflüssigkeit. Mikro¬
skopisch: Die Inzision verläuft tangential der Länge nach im
Knorpel; es ist also eine Knorpelscheibe teilweise abgetrennt, die
an einer Stelle noch breit mit dem Knorpel in Verbindung steht.
An einigen Präparaten geht der Schnitt bis in das Knochengewebe.
Die Knorpelscheibe scheint sich stellenweise wieder angelegt zu
haben. Zwischen beiden Knorpelschichten reihen sich längliche
Kerne, die möglicherweise die Verklebung bedingen, denn beim
Heben der Röhre scheinen die Knorpelzellenreihen ineinander über¬
zugehen. Ueber das Ganze nach dem Gelenk zu eine deutliche
Bindegewebsschicht, die wenig Kerne enthält. In der obersten
Schicht sind die Knorpelzellen etwas undeutlicher. Das Bindegewebe
scheint von außen zu kommen; keine Erscheinungen, die seine Ent¬
stehung aus dem Knorpel zulassen.
Fall 14. 4 Monate alt. Inzision in den Knorpel der Kon-
dylen mit Schonung des Perichondriums resp. der Synovialis. Ge¬
tötet nach 53 Tagen. Narbe in den Haaren kaum zu sehen. Leichte
Atrophie des Beines. Synovialflüssigkeit klar. Mikroskopisch: Man
sieht zwei Einschnitte, der eine geht bis zur Mitte der Knorpelzone,
der andere bis in die Markliöhle. Die Schnitte sind glatt; die an¬
liegenden Knorpelzellen scheinen normal erhalten. Keine Spur von
Verklebung, keine Wucherung der Knorpelzellen, keine Mitosen.
Im tiefsten Teile des Einschnittes setzt sich der Inhalt der an¬
geschnittenen Markhöhle fort. Seine Grundsubstanz besteht aus
faserigem Bindegewebe mit einigen Markzellen; sie ist hineinge¬
wachsen, nach der Peripherie zu kompakter.
Fall 15. 3 Monate alt. Abtragung von Knorpel mit Knochen
bis zur Grenze des Perichondriums. Tod nach 10 Tagen. Primäre
Digitized by CjOOQle
187
lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpeis.
Fig. 7 (Fall 14).
Verklebung, klarer Gelenkinhalt. Mikroskopisch: Der Defekt ist
ausgefüllt mit einer Schicht faserigen Bindegewebes, welches aus
dem angeschnittenen Knochenmark stammt und die angrenzenden
Knorpelwundränder noch eine Strecke weit überzieht. Die angren¬
zenden Markräume zeigen deutlichere Faserung des Bindegewebes als
die abstehenden. Ueber einer Partie mit unregelmäßig gelagerten
reichlichen Fasern eine Schicht regelmäßigen, in Längszügen liegenden
Bindegewebes mit viel länglichen Kernen, die sich nach dem Peri-
chondrium hin erstreckt. An den Knorpelzellen keine auffallenden
Erscheinungen.
Fall 16. 3 Monate alt. Abtragung einer Schicht Knorpel
mit Knochen und Perichondriura. Tod nach 14 Tagen. Operations¬
wunde völlig verheilt. Gelenkflüssigkeit klar. Mikroskopisch: Aus
den angeschnittenen Markräumen sieht man deutlich Bindegewebe
herauswachsen. Dieses schiebt sich über die Knorpelschnittfläche und
auch über die benachbarte nicht verletzte Knorpelpartie hinweg in
Form von ungefähr parallel liegenden Fasern mit einigen Zellen und
Digitized by L^ooQle
188
K. Craraer.
deutlichen Gefäßen. Das Bindegewebe setzt sich fort bis in das
Perichondriura; die Knorpelzellen zeigen keine Veränderungen.
Fall 17. 4 Monate alt. Abtragung von Knorpel mit Knochen
und Perichondrium. Tod nach 74 Tagen. Fast völlig primäre
Heilung. Gelenkflüssigkeit frei von abnormen Bestandteilen. Mikro¬
skopisch: Dem angeschnittenen Knochen liegt eine dichte, dünne
Bindege websschicht auf. Die Knochenschnittfläche ist glatt, das ihr
aufgelagerte Bindegewebe ist sehr dünn, an einzelnen Stellen liegt
glatter Knochen frei zu Tage. An den Knorpelzellen nichts Be¬
sonderes.
Fall 18. Das Präparat verunglückte bei der Härtung.
Das Ergebnis meiner Studien stimmt vollkommen überein mit
den Ansichten von Kolliker, Rokitansky, Thiersch und Gurlt,
die ich oben näher angeführt habe. Ich betone hierbei, daß ich
nur ganz kleine Wunden setzte und daß stets primäre Heilung ein¬
trat. Ich kann deshalb über die auffälligen Giessehen Befunde
von völliger Reparatur der Knorpelwunden infizierter Gelenke durch
Knorpelzellen nicht urteilen. Die Vorgänge im Gelenkknorpel nach
Setzung von Wunden, welche teils nur den Knorpel, teils diesen
und den darunterliegenden Knochen oder die benachbarte Synovial¬
haut oder die Knorpelhaut mitgetroflfen haben, sind meinen Prä¬
paraten nach folgende:
Wird der Knorpel allein verletzt, sei es durch Schnitt oder
durch Abtragung einer kleinen Scheibe, so sieht man in den ersten
Tagen Fibrin oder eine fibrinähnliche Masse mit einzelnen Kernen
der Wunde aufgelagert. Die Kerne mögen stammen aus durch¬
schnittenen Knorpelkapseln oder aus dem Blute. Die Knorpelzellen
an der Schnittwunde verändern sich meistens gar nicht, ab und zu
werden sie kernreicher und verlassen ihre Reihenstellung, als ob sie
einen Anlauf nehmen und sich verändern wollten. Hierbei bleibt es
aber auch. Nie habe ich Karyokinese gesehen, nie auch nur eine
Andeutung von Proliferation und deshalb auch nie einen Knorpel¬
kallus. Auch eine Verklebung des Knorpels konnte ich nicht ent¬
decken. Die Knorpelwunden bieten vielmehr nach 2—3 Monaten noch
genau denselben Befund wie am 3. Tage nach der Verletzung. Ich
stimme demnach in dieser einen Frage mit Gies und Seggel voll¬
kommen überein, die die aseptischen Knorpelwunden ebenfalls nicht
heilen sahen.
Digitized by L^ooQle
lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels.
189
Ganz andere Bilder bieten die Präparate von Wunden, bei
denen der Knochen mitverletzt wurde. Hierbei beobachtete ich in
den ersten Tagen ebenfalls eine dem Defekt oder Schnitte aufge¬
lagerte Fibrinschicht. Nach 6—10 Tagen ist diese verschwunden
und aus dem angeschnittenen Knochenmark wuchert Bindegewebe
in die Knorpelknochenwunde hinein. Dieses ist vaskularisiert. Die
Markräume in der Gegend der Verletzung, und zwar auch die nicht
angeschnittenen, enthalten mehr Zellen und Fibrillen, als es der
Norm entspricht, auf Kosten der Fettzellen. Das Bindegewebe füllt
den Defekt aus und wuchert noch etwas in dessen Umgebung über
den normalen Knorpel hinweg. Es ist anfangs locker, wird dann
immer straffer, legt sich der Wunde dichter und engumschließetider
an. Nach 3 Monaten bedeckt es nur noch die angeschnittenen
Markräume, läßt an anderen Stellen Knochenschnittflächen deutlich
in die Gelenkhöhle zu Tage treten. Niemals sah ich irgendwie
Neigung dieses Bindegewebes, sei es, daß es stamme aus dem
Knochen, der Knorpel- oder der Gelenkhaut, zur Metaplasierung des
Faserknorpels oder Hyalinknorpels. Auch die Knorpelzellen der In¬
zisionen verhalten sich absolut passiv. Niemals sah ich bei diesen
Präparaten Karyokinese, hier im Gegensätze zu S e g g e 1, der Knorpel¬
neubildung mit Neubildung von Grundsubstanz gesehen hat; aller¬
dings nur in ganz geringem Maße.
Für die liebenswürdige Unterstützung bei dieser Arbeit sage
ich meinem Freunde, Prof. Zumstein (Anatomie zu Marburg a. L.),
besten Dank.
Literatur.
1. Ecker, Arch. f. physiol. Heilkunde 1843, Heft 1.
2. Goodsir, Anatomical and pathological Observations. Edinburg 1845,
Heft 1.
3. Redfern, On the healing of wounds in the articular Cartilages. Monthly
Journal of medical Science. Vol. X, 185®, 214; Vol. XIII, 201, 1851.
4. Paget, Lectures on surgical pathology 1853, Vol. I, 262. Lecture XII.Healing
on injuries in various tissues.
5. Reitz, Untersuchungen über die künstlich erzeugte croupöse Entzündung
der Luftröhre. Sitzungsberichte der mathematisch-naturwissenschaftlichen
Klasse der kaiserlichen Akademie zu Wien. Jahrg. 1867, Bd. 55 Abt. II
S. 501.
Digitized by L^ooQle
190
K. Gramer.
6. Klopsch, lieber die Brüche der Rippenknorpel und ihre Heilung. Zeitschr.
f. klin. Medizin, herausg. von Dr. Friedrich, Günsburg, VII. Jahrg.
7. Boehm, Beiträge zur normalen und pathologischen Anatomie der Gelenke.
Inaug.-Diss. Würzburg 1868.
8. Kremiansky, Wiener med. Wochenschr. 1868, Nr. 1—6. Experimen¬
telle Untersuchungen über die Entstehung und Umwandlung der histo¬
logischen Entzündungsprodukte.
9. Archangelsky, Zentralbl. für die medizinischen Wissenschaften 1868.
Ueber die Regeneration des hyalinen Knorpels.
10. Legros, Gazette Medicale 1869, F4vrier, Nr. 66. Societe de Biologie, comtes
rendus des Seances p. Physiologie experimentale. Cicatrisation des carti-
lages: regenerations animales.
11. Zopp, Ueber Entzündung im Knorpelgewebe. Inaug.-Diss. Königsberg
1869.
12. Gudden, Virchows Arch. 1870, Bd. 5, 8 S. 457. Ueber den mikroskopi¬
schen Befund im traumatisch gesprengten Ohrknorpel.
13. Barth, Zentralbl. für die medizinischen Wissenschaften 1869, Nr. 4 S. 625.
Ueber die Regeneration des hyalinen Knorpels.
14. Gussenbauer, Arch. f. klin. Chir. 1871, Bd. 12 S. 791. Ueber die Heilung
per primam intentionem.
15. Ewetzky, Untersuchungen aus dem pathologischen Institut in Zürich,
herausg. von C. J. Eberth 1875. Entzündungsversuche am Knorpel.
16. Genzmer, Arch. f. pathol. Anatomie, Physiologie und klin. Medizin 1876,
Bd. 67. Ueber die Reaktion des hyalinen Knorpels auf Entzündungsreize
und die Vernarbung von Knorpelwunden nebst einigen Bemerkungen über
die Histologie des hyalinen Knorpels.
17. Schwalbe, Sitzungsberichte der Jenaischen Gesellschaft für Medizin und
Naturwissenschaften für das Jahr 1878, LXIII.
18. Tizzoni, Arch. per le Science mediche 1878, Teil II S. 28.
19. Gies, Arch. f. klin. Chir. 1881, Bd. 26 S. 848. Ueber Heilung von Knorpel-
wunden.
20. Kölliker, Gewebslehre 1869, Heft 1 S. 107—115.
21. Sieveking, Morphologische Arbeiten, herausg. von Dr. G. Schwalbe
1892, Bd. 1 S. 121. Beiträge zur Kenntnis des Wachstums und der Re¬
generation des Knorpels nach Beobachtungen am Kaninchen und Mäuse¬
ohr.
22. Ghillini, Arch. f. klin. Chir. 1893, Bd. 46 S. 845. Experimentelle Unter¬
suchungen über die mechanische Reizung des Epiphysenknorpels.
23. Solger, Arch. f. mikroskopische Anatomie, herausg. von 0. Hertwig
in Berlin 1893, Bd. 42 S. 648. Ueber Rückbildungserscheinungen im
Gewebe des hyalinen Knorpels.
24. March and, Deutsche Chirurgie 1901, Lieferung 16. Wundheilung.
25. Ribbert, Lehrbuch der allgemeinen Pathologie und pathologischen Ana¬
tomie 1901.
26. Schklarew'sky, Heilungsprozeß von Knorpelwunden. Diss. Zentralbl. f
Chir. 1875, Nr. 47.
Digitized by
Google
Ueber Heilung von Wunden dea Gelenkknorpela. 191
27. K ö 11 i k e r, Mikroakopiaclie Anatomie der Gewebelehre dea Menachen. Leipzig
1850.
28. Rokitanaky, Lehrbuch der pathologiachen Anatomie. Wien 1855.
39. Billroth, Beiträge zur pathol. Hiatologie. Berlin 1858.
30. Gurlt, Handbuch der Lehre von den Knochenbrüchen 1862.
31. K Öllik er, Handbuch der Gewebelehre dea Menachen. Leipzig 1867.
32. Dörner, De gravioribua quibuadam etc. Tubingae 1798.
33. Seggel, Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 75. Studien über Knorpelwunden.
34. Matauoka, Virchowa Arch. Bd. 175. Studien über Knorpelregeneration.
35. Mori, Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 76. Studien über Knorpelregeneration.
36. Penisi, Sali procesao etc. Policlinico. Sezione chir. 1904, Fase. 10, 11, 12.
37. Fasoli, Sul compartamento etc. Archivio per le Science mediche 1905.
38. Burci und Anzilotti, Memorie Chirurg, publ. in onose a. T.
39. Jo res, Zentralbl. f. allgem. Pathologie und pathologische Anatomie. Be¬
merkungen über die Regeneration des Knorpels. 1905.
Digitized by L^ooQle
XIII.
(Aus der chirurgisch-gynäkologischen Klinik des Stabsarztes a. D.
Dr. Evler in Treptow a. R.)
lieber die Verwendbarkeit
des Gbromleders zu ortbopädiscben Apparaten,
insbesondere zn Scbienenbülsenstreckverbänden,
welche dem Körper nnmittelbar an- nnd nacb-
znpassen sind').
Von
Dr. Karl Evler.
Mit 7 Abbildungen.
Das in der Automobilbranche benutzte Chromleder ist derart
zugfest, stützkräftig und schmiegsam, daß es sich wie kein anderes
Material zu orthopädischen Verbänden eignet; es ist leicht, reizt die
Haut nicht, seine Wärmeleitung ist zu derselben passend, durch
Feuchtigkeit wird ihm seine Gare nicht entzogen, es bleibt weich
und haltbar; auch nach ständigem Tragen durch 5 Monate hindurch
auf dem bloßen Körper ändert es seine Eigenschaften nicht, nur in
etwas seine Farbe (Demonstration). Ebenso wie am Hartleder lassen
sich im Chromleder Schienen unverrückbar befestigen. Wie sehr in
ihm Stahlnieten haften, zeigen den Druck eines Autos aushaltende
Gleitschutzriemen. Vor dem Hartleder hat das Chromleder den
überaus großen Vorteil, daß mit ihm dem Körper unmittelbar ohne
Gips- oder Holzmodelle Apparate anzupassen sind. Da es sich genau
den vorspringenden Knochen oder Muskeln anschmiegt, wird außer¬
dem schon mit verhältnismäßig schmalen Streifen selbst bei starker
Extension eine genügende Verteilung des unvermeidlichen Druckes
*) Vortrag zum VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für orthopädische
Chirurgie am 25. April 1908; abgekürzt vorgetragen.
Digitized by LjOOQle
üeber die Verwendbarkeit des Chromleders etc.
193
auf die Weichteile erreicht und Stauung, Druckbrand oder eine andere
Schnürschädigung, wie Furchenbildung und Abmagerung, bei einiger
Vorsicht vermieden; selbst wenn sich das Chromleder etwas auf die
Kante stellen sollte, verursacht es keinen schmerzhaften Druck. Es
hat demnach nicht die Nachteile von Gipshülsenverbänden, von den
ebenfalls knochenharten Manschetten aus Transparentleder mit Zellu¬
loidüberzug, oder von gepolsterten Blechbändern mitRiemenschnallung,
den Spangenapparaten der älteren Technik, und es bedeutet der
Uebergang von den breiten Hartleder- zu den schmalen Chromleder¬
hülsen keinen Rückschritt, sondern eine erhebliche Förderung der
orthopädischen Technik. Die Chromledermanschetten sitzen, trotz¬
dem sie nur eine kleine Fläche bedecken, besser als größere harte
Hülsen, da sie der Haut überall glatt anliegend den Körperteil fest
und sicher und doch weich wie Menschenhände umfassen und vor
allem die Volumenschwankungen der Gliedmassen bei Bewegungen
mitmachen, während ebenso eng anschließende starre Spangen diese
hindern würden; letztere können außerdem schon nach der Art der
Anfertigung des Modells in Mittelstellung zwischen den Extremen
der später beabsichtigten Bewegungen und bei dem Nacharbeiten
an dem Rohmodell nicht genau passend hergerichtet werden. Spangen
aus unnachgiebigem Material sind daher ebenso wie harte Hülsen
vorzugsweise für fixierende Verbände geeignet, für portative nur dann,
wenn von der Schnürlasche ausgiebige Anwendung gemacht wird.
Im Gegensatz zu der schwierigen Anfertigung der Hülsen¬
schienenapparate aus Hartleder, welche besonders darauf eingearbeitete
Handwerker und Tage erfordern, gestaltet sich die Herstellung der
Chromlederschienen verbände sehr einfach. Verwendet wird ca. 5 mm
dickes Chromleder, das als ganze Haut bezogen sich auf ca. 6 Mark
pro Kilogramm stellt und 2—3 mm dünnes, von dem der Quadrat¬
meter gegen 15 Mark kostet (Lederabfälle aus Sattlereien und Leder¬
fabriken, z. B. Reithosenbesatzabfälle stellen sich erheblich billiger);
letzteres kann durch 3mal billigeres, allerdings nicht so haltbares
Kunstleder ersetzt werden, sei es Pegamoid, Pantasote, Duro oder
Pluviusin; das letztgenannte wird zu demselben Preise auch in grauer
Farbe geliefert und erwies sich ziemlich widerstandsfähig.
Von dem dicken Chromleder werden mit einem Messer nach
den mittelst Meßband gewonnenen Zahlen die passenden Riemen zu¬
rechtgeschnitten.
Ein verstellbarer Schluß zu Hülsen erfolgt durch Schnallen,
Zeitschrift filr orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 13
Digitized by CiOOQle
194
Karl Evler.
Schnüren oder Knöpfen, als Lasche ist an den Streifen ein ent¬
sprechender Rand freizulassen; entweder greifen Haken in Blech¬
schnallenleitern ein, ähnlich den bei der Fußbekleidung verwendeten,
oder in hierzu durchlochte Chromlederriemen; beide werden auf¬
genäht, Als Schnürvorrichtung sind die gebräuchlichen Schnür-
haken oder Schnürösen zu benutzen; bei ersteren ist zum Umschlagen
in das Leder außer Hammer und Meißel noch ein den Haken ein¬
klemmendes Werkzeug notwendig, leicht gehen auch die metallenen
Schnürösen der Schnürschuhe in das Leder einzusetzen, sei es mit
einer besonderen Druckzange oder mit dem Kerner, einem unten
kreisrunden Meißel; bei ihrer Benutzung ist eine lose Lasche aus
weichem Chromleder vorzusehen oder auf der einen Seite ein Stück
Leder mit Oesen durch Pechdrahtnähte aufzusetzen. Auch das Be¬
festigen von Riemen an Druckknöpfen ist empfehlenswert.
Das genaueste Anpassen der Hülsen erhält man mit Schnür-
vorrichtungen; wenn es auf schnelles Anlegen ankommt, ist die be¬
schriebene Schnallung vorzuziehen. Unbefugtes Oeffnen kann durch
Schließen mit schmiegsamem Kupferdraht verhütet werden. Bei der
Befestigung der Schienen an das Leder sind möglichst breite An¬
griffsflächen zu erstreben und kugelartige Gebilde, die durch Hebel¬
wirkung Druck auf die Haut ausüben könnten, zu vermeiden.
Um für allgemeinere Anwendung gebrauchsfertige Chromleder¬
streifen zu erhalten, dienen zur Aufnahme der Schienen mittelst
Schrauben verstell- oder verschiebbare Blechösen oder scheidenartige
nebeneinander auFgenähte Fächer aus weichem Chromleder oder an¬
einander gereihte Blechhülsen bezw. plattgearbeitete Metallscheiden;
wenn diese, wie am Kniegelenk, zum Durchlässen der Schienen beider¬
seits olfen sind, werden sie zweckmäßig aufklappbar eingerichtet,
uni das sonst lästige Auseinandernehmen und Durchstecken der
Schienen beim Anpassen oder bei Aenderungen zu vermeiden.
Aber auch von Fall zu Fall sind Bleche zum Halten der
Schienen mit den üblichen Nieten leicht zu befestigen; diese sind
hierbei tief in das dicke Leder einzulassen und können nach Ab¬
feilen durch Herausschlagen entfernt werden.
Besser zur Selbstherrichtung geeignet sind selbstzubiegende
Oesen aus verzinntem Eisendraht von 1 mm Durchmesser; die in
vorgebohrte Löcher eingeführten Drahtenden werden so umgeschlagen,
daß die Spitzen sich zuerst etwas krümmen, um dann in dem dicken
Leder völlig zu verschwinden. Werden aus Draht mehrfach ge-
Digitized by C^ooQle
üeber die Verwendbarkeit des Chromleders etc.
195
wundene Oesen zurechtgebogen, so erhält man einen einfachen Er¬
satz der Schnürvorrichtung (Fig. 1). Auf dem Bilde befindet sich
ein Werkzeug, das mehrere der erforderlichen Instrumente, Hammer,
Pfriem, Schraubenzieher, Lochzange, zusammenfaßt.
Wird dünnes Chromleder genommen an Teilen, die schwer mit
dickem sich umgeben lassen, wie die Dammgegend, Achselhöhle und
Fußsohle, so sind diesem als Nietenträger Stücke von dickerem Leder
aufzusetzen.
Als Schienen bevorzuge ich Stahlrohre, um in dieselben, wenn
Fig. 1.
nach Lage des Falles irgend möglich, nach beiden Seiten wirkende,
richtig gehärtete, nach Länge und Federung abgepaßte Spiralfedern
einzusetzen und so die von Oberstabsarzt Herrmann-Potsdam an¬
gegebene Spiralfederextension zu erhalten. Durch diese wird ein
Haupteinwand, der gegen orthopädische Apparate mit Recht zu er¬
heben ist, sehr abgeschwächt, die atrophierende Wirkung.
Für die Gelenke benutze ich Scharniere, Drehung dieser wird durch
Anschrauben der das Scharniergelenk bildenden Stifte an die Rohre ver¬
mieden oder bei eingelegten Spiralfedern durch Regelung der Bewegung
mittelst Schlitzbildung in den Rohren. Aus demselben Grunde sind die
Blechhülsen viereckig gestaltet und die Rohre oben gekantet.
Digitized by LaOOQle
196
Karl Evler.
Die Stahlrohre werden als nahtlose bezogen, das Durchfeilen
geht schnell vor sich; es empfiehlt sich Vernickeln der Metallteile.
Gegenüber den bisher gebräuchlichen Apparaten erreiche ich
mit Hilfe des Chromleders, daß nicht nur vorspringende Knochen,
sondern noch am Umfang zunehmende Muskeln als Halt- und Stütz¬
punkte genommen werden können; es gelingt, die Rumpf last auf
die Beine anstatt auf den Boden zu übertragen und statt das Tuber
ischii wie bei den Reitapparaten zu belasten, die Chromlederhülsen
an den nach den Becken zu sich verbreiternden Oberschenkelmuskeln
genügenden Halt finden zu lassen.
Einen nach diesen Prinzipien konstruierten Apparat, der die
Huetersche Gehmaschine zum Vorbilde hat, kann ich Ihnen im Ge¬
brauch zeigen. Es kam bei der 23jährigen Patientin darauf an, die
Schädigungen, welche die linkseitige kongenitale Hüftgelenksluxation
zur Folge hat, möglichst zu verringern und auf der rechten Seite
das Resultat der wegen desselben Leidens vorgenommenen operativen
Methode, Schlottergelenk und Verkürzung, nach Wegnahme des
Schenkelkopfes zu verbessern.
Ohne Apparat ist die Haltung der Patientin zwergenhaft zu-
saramengesunken, die Lendenwirbelsäule ist sattelförmig eingebogen,
der Leib stark vorgetrieben, die Schultern sind zurückgezogen, Ober¬
und Unterschenkel stehen in Beugung, die Füße in Spitzfußstellung.
Der rechte Schenkelkopf war 1895 zum Teil, der Rest 1902 entfernt;
abgestorbene Knochenteile erforderten wegen Eiterung noch vor
3 Jahren eine Operation. Dadurch, daß längere Zeit rechts Hülsen¬
schienenapparate getragen waren, in denen das rechte Bein nur hing,
ist es erheblich abgemagert und kraftlos. Ein gegen die fehler¬
hafte Stellung der oberen Körperhälfte wirkender Geradehaltei* legt
die Rumpflast unter Ueberspringen der Hüftgelenke durch Beinstütz¬
apparate auf die Beine.
Im einzelnen ist die Zusammensetzung folgende: An dem chrom¬
ledernen Beckengürtel von 6 cm Breite und 5 mm Dicke, der durch
eine Schnalle mit Blechleiter geschlossen wird und rechts tiefer ge¬
stellt ist, sind die nach dem Körper gebogenen Stahlrohre des Ge¬
radehalters befestigt. Diese enthalten Spiralfedern und Stahlstäbe,
welche nach oben hin zu Achselstützen gabelförmig auslaufen. Durch
dickes Chromleder, das von dünnerem umgeben ist, sind die Arm¬
krücken hinreichend gepolstert. Der Leib wird mit einem hand¬
breiten dünnen Chromledergurt zurückzudrängen gesucht. Die Ge-
Digitized by
Google
Ueber die Verwendbarkeit des Chromleders etc.
197
radehalterstangen gehen über in die Außenschienen für die Beine.
Flexion im Hüftgelenk zum Hinsetzen ermöglichen kurz unterhalb
vom Beckengürtel angebrachte Scharniergelenke.
Die Fixierung der Hüftgelenke sowohl des rechtseitigen Schlotter-
gelenks als des linkseitigen verschiebbaren Schenkelkopfes wird durch
Fig. 2.
Fig. 3.
weiche Chromlederkapseln und deren Befestigung an die Ober¬
schenkelschienen erreicht. Die hierzu dienenden festanzuziehenden
Lederriemen wirken zugleich der Adduktionsstellung der Beine ent¬
gegen. Um das Einknicken der Kniegelenke zu verhindern, sind
Hoeftmansche Gelenke mit der Achse nach hinten angewendet, an-
Digitized by L^ooQle
198
Karl Evler.
fangs war das Tragen einer Kniekappe an der rechten Innenseite
erforderlich; bei der Verkürzung des rechten Beines um 5 cm gegen
links ist außer Tieferstellen des Beckengürtels an der rechten Seite
Erhöhung der Sohle um 1,5 cm nötig geworden.
In sämtliche Rohre sind Spiralfedern eingelegt, um die Muskel¬
tätigkeit zu heben und zu fördern. Patientin geht mit diesen leichter
als ohne und fühlt selbst die von denselben ausgehende Unterstützung.
Im Gegensatz zu den früheren Apparaten tritt eine Stärkung und
Zunahme der Beinmuskulatur durch das Gehen ein. Der Apparat
wird seit einigen Wochen getragen; Patientin legt mit demselben,
ohne daß sie sich auf einen Schirm stützt, bereits Wege bis zu
2 Stunden ohne Ermüdung zurück. Von systematischen Gehübungen
und ausgiebigem Massieren und Elektrisieren der Muskeln wird
weitere Besserung zu erhoffen sein, vielleicht auch der Apparat
durch Fortfall der ünterschenkelschienen vereinfacht werden können;
er wiegt 3 kg.
Wie wichtig die Beseitigung der Adduktion der Schenkel ist,
die durch Auswärtsbiegung der Schienen, Streckung der Kniegelenke
durch die Hoeft man sehen Scharniere und durch die Rotations¬
züge zu stände kommt, zeigen die beiden Röntgenogramme. Der
linke Schenkelkopf, der die Neigung hat, nach hinten oben abzu¬
weichen, wird durch den Apparat daran gehindert und gegen das
Becken angepreßt; er findet an diesem festeren Halt und wird sich
mit der Zeit eine bessere Pfanne bilden, ebenso wie Kräftigung der
vorderen Hüftmuskeln, welche nun die Hauptarbeit beim Gehen zu
leisten haben, zu erwarten ist. Wenn es sich in derartigen Fällen
auch nur um helfende, nicht um heilende Wirkung handeln kann,
so ist doch zu bedenken, daß mit der Hebung der Gehfähigkeit
auch die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit und die Lebensfreudigkeit
zunimmt.
Für veraltete traumatische Hüftgelenksluxationen und zur Nach¬
behandlung eingerichteter Hüftgelenksverrenkungen dürften sich ähn¬
liche Verbände zweckmäßig erweisen; auch können die von Hoeft-
man auf dem I. und H. Kongreß angegebenen Apparate^) mit dem
Chromleder hergestellt werden.
Bei tuberkulöser Coxitis habe ich den nebenstehend abgebildeten
Verhandlungen des 1. Kongresses I, 21, und Verhandlungen des IV. Kon¬
gresses I, 20.
Digitized by e^ooQie
üeber die Verwendbarkeit des Chromleders etc.
199
Verband angewendet, anfangs bis zu den Knöcheln gehend, später
nur bis zum Knie. Festlegung des Hüftgelenks in der gewünschten
abduzierten Stellung findet durch einen vorn von der Mitte des
Beckengürtels quer nach der Außenseite des Kniees als Sperr¬
schiene verlaufenden Eisenstab statt. Der Kranke, welcher die
ersten Wochen nach dem Redressement in Gips gelegt war, konnte
den Unterschied zwischen beiden fixierenden Verbänden würdigen.
Der Geradehalter an sich mit Spiral-
federextensioQ ist namentlich für das erste
Stadium bei beginnenden Skoliosen, bei denen
die Heilung noch aussichtsvoll ist, als porta¬
tiver Apparat empfehlenswert, ohne daß das
Heilmittel schlimmer ist als die Krankheit.
Die Wirbelsäule wird zwischen dem
unterhalb der Darmbeinstacheln umgelegten
dicken Chromlederriemen, dessen Tiefer¬
treten die nach unten zunehmende Glutäal-
gegend verhindert und den Achselstützen
extendiert. Damit diese den seitlichen Brust¬
wandungen genau anliegen und nach oben
ziehend wirken können, teilen sich die beiden
Geradehalterstangen oben in zwei gebogene
Schenkel zur Aufnahme dicker Chromleder¬
handhaben.
Durch die Spiralen werden die infolge
Ermüdung einsinkenden Muskeln nicht nur
aufgefangen, sondern auch gehoben und die
sonst entgegenwirkenden Drehungen, ein¬
seitiges Senken des Beckens, Ausweichen mit den Schultern, werden
ausgeglichen und verhütet. Die gegen Korsettbehandlung zu er¬
hebenden Vorwürfe, der Rumpf entziehe sich der gewünschten Re¬
dressionswirkung und es fände eine Atrophie der Weichteile statt,
bestehen infolgedessen nicht zu Recht. Bisher habe ich über 30 Fälle
mit diesem Geradehalter behandelt, außerdem gegen 20 mit Spiral¬
federextension und dem stählernen Hüftkorb^); ich habe Fälle be¬
obachtet, in denen sich der Körper nach einigen Monaten in den
Apparaten augenfällig gerade gewachsen hat.
’) Verhandlungen der orthopädischen Gesellschaft für Chirurgie 1906,
Bd. V, I S. 17.
Digitized by
Google
200
Karl Evler.
läßt sich derselbe für 25 Mark herstellen; eignet sich somit auch
für Krankenkassenmitglieder.
Bei tuberkulöser Spondylitis der unteren Brust- und Lenden¬
wirbel haben in sich verschiebbare und festzustellende Seitenschienen
als doppelte Strebepfeiler zur Entlastung und Fixierung der Wirbel
beizutragen; auch sind um den Gibbus Halteschlingen zu legen und
an die Seitenstäbe zu befestigen.
Zum Stützen der oberen Rücken- und der Halswirbel habe ich
den Fig. 7 abgebildeten Verband benutzt; in einem Falle konnten
der Jurymast und die Glisson sehe Schwebe wegen Fistelbildung
nicht angelegt werden. Zwischen dem Beckengürtel und einem über der
Stirn und unter dem Hinterkopf angelegten möglichst festgeschlossenen
dünnen Cliromlederstreifen werden die richtig abgebogenen Metall-
liolilschienen eingesetzt und eingestellt. Der Verband ist im Liegen
Meine Versuche mit einer in die Rückenschiene eingesetzten
Spiralfeder haben mich nicht befriedigt. Dieselbe wirkt nur in der
Richtung nach oben, zerscheuert die Kleider, trägt auf, ihre richtige
Stärke ist schwer auszuprobieren, es waren oft Reparaturen not¬
wendig, während diese bei dem den Rumpf bewegungen durch die
Spiralen folgenden Geradehalter fortfallen. Nach Material und Zeit
Fig. 5.
Fig. 6.
Digitized by L^ooQle
Ueber die Verwendbarkeit des Chromleders etc.
201
zu gebrauchen und kann im Umhergehen über den Kleidern ge¬
tragen werden. Aehnlichkeit hat mit ihm Beegers^) Brücken¬
gipsverband; wie mit diesem kann durch verschiedene Länge der
Schienen die Kopfstellung beeinflußt und der Apparat auch bei
Schiefhals benutzt werden, für diesen Fall mit Spiralen. Bei Schief¬
hals habe ich einem 1 ^/ 2 jährigen Kinde mit schwerer chronischer
monatelang sich hinziehender Broncho¬
pneumonie und ausgesprochener Rha-
chitis dem Wunsche der Eltern fol¬
gend, Abhilfe ohne Operation zu
schaffen, versuchsweise den im fol¬
genden beschriebenen Apparat ange¬
legt. Zwischen Schulter und der ver¬
kürzten Halsseite wird eine Spiral¬
feder ausgespannt, um ein mit Schienen
versteiftes Chromlederstück gegen den
Hals zu drücken. Die Befestigung
wird durch Schulter- und Achsel¬
riemen, auch durch einen vorderen
und hinteren Riemen und durch ein
den Apparat zugleich verdeckendes
Halstuch erzwungen. Der Erfolg war
aber nur gering. Der Kopf hatte das
üebergewicht und drückte die Schul¬
ter derselben Seite herab; also wäre
noch ein Geradehalter erforderlich gewesen. Die Unbequemlich¬
keit, die das Tragen von nicht unbedingt sicher und nur lang¬
sam wirkenden Apparaten verursacht, steht aber nicht im Verhältnis
zu der sicher und schnell zum Ziel führenden Sehnendurchschneidung.
Nach dieser dürfte die erwähnte Vorrichtung nur für die jahrelang
bestandenen Mißbildungen in Frage kommen, bei einfachen Fällen
genügt die Ueberkorrektur mit Watte oder die gepolsterte Papp¬
krawatte.
Um zu zeigen für wie mannigfache Zwecke sich die Chrom¬
lederapparate verwenden lassen, erwähne ich, daß ich bei Oberarm¬
und Oberschenkelvenenthrombose Ruhigstellung der Achselhöhle bezw.
Leistenbeuge unter Freibleiben derselben durch Sperrschienen er-
Schanz, Handbuch der orthopädischen Technik S. 136.
Digitized by
Google
202 Karl Evler. lieber die Verwendbarkeit des Chromleders etc.
zwungen habe; auch für Bruchbänder dürfte das dicke Chrom«
leder als Pelotte an sich, das dünnere als Umhüllung Bedeutung
gewinnen.
Der erste Fall, welchen ich im Chromlederstreckverbande be¬
handelte, war eine schwere rechtwinklige Kniegelenkskontraktur, die
auf entzündlichem Wege entstanden, 1^/2 Jahre bestanden und zu
Subluxation geführt hatte; die in den einzelnen Narkosen nach dem
Langeschen Verfahren erreichten Resultate konnten in dem Ver¬
bände fast völlig festgehalten werden und der Kranke, der vorher
an einer Krücke ging, mit abnehmbarem Schienengeh verband ent¬
lassen werden. In diesem Falle und auch sonst hat sich die Chrom¬
ledermanschette als brauchbarer Angriffspunkt für den Schrauben¬
zug erwiesen.
Für die Frakturenbehandluug sehe ich im Chromlederstreck¬
verbande nach meinen bisherigen Erfahrungen mit demselben ein
zukünftiges Normalverfahren; ich beziehe mich auf meine diesbezüg¬
liche Arbeit in Langenbecks Archiv, Bd. 85 Heft 4.
Wenn ich kurz noch einmal die Vorteile der Chromleder¬
verbände hervorheben darf, gegenübergestellt mit den heutzutage als
das technisch Vollkommenste geltenden Hülsenschienenapparaten, ins¬
besondere den Hessingschen, so ist es der Fortfall des Gips- oder
Holzmodells, das geringe Gewicht, das Freibleiben großer Stellen
des Körpers, die leichtere, sofortige, billigere Anfertigung auch ohne
besonders darauf geschulte Kräfte, die Einschränkung und Verein¬
fachung der Reparaturen, die Herstellung von Apparaten für all¬
gemeinere Verwendung, welche nur geringer Um- und Abänderung
bedürfen oder deren Teile sich wenigstens leicht zu passenden Ap¬
paraten zusammenstellen lassen, schließlich die Möglichkeit einer aus¬
reichenden Muskelbewegung im Verbände.
Nach allem glaube ich meine Ueberzeugung zum Ausdruck ge¬
bracht zu haben, daß durch Verwendung von Chromleder und Stahl
mannigfache Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten der bisherigen
orthopädischen Technik vermieden werden, und auch infolge der durch
die Apparate in einfacher Weise möglich gemachten aktiven und
passiven Mobilisation öfter und schneller Abhilfe und Nutzen zu
schaffen ist.
Digitized by C^ooQle
XIV.
(Aus der chirurgischen Abteilung des Allerheiligenhospitals [Prof.
Tietze] zu Breslau.)
lieber eine nene operative Methode
der Behandlung spastischer Lähmnngen mittels
Resektion hinterer Rtlckenmarkswurzeln’).
Von
Privatdozenten Dr. 0. Förster in Breslau.
Ich möchte mir erlauben, Ihnen über Ergebnisse zu berichten,
die Professor Tietze und ich bei der Behandlung spastischer
Lähmungen mittels Resektion hinterer Rückenmarkswurzeln erzielt
haben.
Allemal, wenn die von der Großhirnrinde zu dem Rückenmarks¬
grau absteigenden motorischen Leitungsbahnen (die corticospinalen
Bahnen), deren wesentlichste beim Menschen die Pyramidenbahn ist,
unterbrochen sind, resultiert daraus eine ganz charakteristische uni¬
forme Motilitätsstörung, einerlei, an welcher Stelle ihres langen
Verlaufs von den Zentralwindungen an bis zum Rückenmarksgrau die
Unterbrechung gelegen ist, einerlei, ob diese Unterbrechung ein-
oder doppelseitig ist, einerlei, in welchem Lebensalter sie einsetzt.
Erstens ist immer die Zuleitung motorischer Impulse von der Hirn¬
rinde zu den Muskeln aufgehoben oder vermindert, wodurch bestimmte
willkürliche Bewegungen nicht mehr oder nur schwach ausgeführt
werden können. Es ist das die paretische Komponente der
Motilitätsstörung. Auf Einzelheiten derselben kann ich hier nicht
eingehen. Anderseits geraten aber die Muskeln in einen abnormen
Zustand unwillkürlicher Erregung und Anspannung, durch
welchen die Glieder, oft in abnormen Stellungen, ganz abnorm stark
fixiert werden und infolgedessen sich die Muskeln ihrer Dehnung
energisch widersetzen, ein Zustand, den man als spastische Muskel¬
kontraktur bezeichnet. Es ist ohne weiteres klar, daß diese ab¬
norme Fixierung der Glieder durch Muskelspannung an sich ein
*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by L^ooQle
204
0. Förster.
bedeutendes ßewegungshindernis darstellt, welches sich zu der pare-
tischen Komponente der Motilitätsstörung hinzuaddiert. Die spasti¬
schen Muskelkontrakturen bei Pyramidenbahnerkrankung stehen in
enger Beziehung zu der gesteigerten reflektorischen Erregbarkeit der
Muskeln, welche ja bekanntlich ebenfalls aus der Pyramidenbahn¬
unterbrechung resultiert, und wenn man dem Wesen der spasti¬
schen Kontraktur nachgeht, so ergibt sich, daß auch ihr nur ein
pathologisch gesteigerter Reflex Vorgang zu Grunde liegt,
der seinen Ursprung nimmt in sensiblen Erregungen, die in der Haut,
den Gelenken, Bändern und vor allem in den Muskeln selbst ent¬
stehen, durch die sensiblen Nerven und die hinteren Wurzeln ins
Rückenmarksgrau geleitet und von diesem durch die Vorderhörner,
vorderen Wurzeln und motorischen Nerven in die Muskeln reflektiert
werden. Ein derartiger Reflexvorgang — nennen wir ihn der Kürze
halber Fixationsreflex —, durch welchen die Glieder in gewissem
Grade in ihrer Stellung fixiert werden und die Muskeln sich ihrer
Dehnung in einem bestimmten Maße widersetzen, ist bereits in der
Norm vorhanden und wird gemeinhin als normaler Bewegungswider¬
stand bezeichnet. Daß der Fixationsreflex sich in der Norm nur
auf dieser schwachen Höhe hält, rührt daher, daß der Cortex cerebri
durch die Pyramidenbahn fortwährend auf die spinale Reflextätigkeit
einen hemmenden Einfluß ausübt und dadurch die reflektorische Er¬
regbarkeit der Muskeln auf einer sehr geringen Stufe hält. Kommt
durch Pyraraidenbahnerkrankung dieser reflexhemmende Einfluß in
Wegfall, dann erreicht die spinale Reflextätigkeit denjenigen be¬
trächtlichen Grad, der ihr primär, wenn sie sich ganz selbst über¬
lassen ist, innewohnt, und wie die reflektorische Erregbarkeit der
Muskeln im allgemeinen, so erreicht auch der Fixationsreflex der
Muskeln im speziellen diejenige beträchtliche Stärke, welche wir in
der spastischen Muskelkontraktur vorfinden.
Den sichersten Beweis, daß sowohl die normale Fixation der
Glieder und der normale Bewegungswiderstand, als auch die ab¬
norme Fixation, die die Kontraktur darstellt, auf einem Refiexvor-
gang beruht, liefert die menschliche Pathologie: Erstens sinkt alle¬
mal, wenn die zur Vermittlung des Reflexes erforderlichen sensiblen
hinteren Wurzeln erkranken (Tabes dorsalis), bei sonst intaktem
Nervensystem der Fixationsreflex unter die Norm, der Bewegungs¬
widerstand wird vermindert, die Muskeln widersetzen sich ihrer
Dehnunof nicht. Zweitens — und das ist für unser Thema das
O D
Digitized by
Google
üeber eine neue operative Methode etc.
205
wichtigere —, wenn zu einer primären Erkrankung der Pyramiden¬
bahnen infolge von Seitenstrangserkrankung des Rückenmarks, die mit
schweren Muskelkontrakturen einhergeht, nachträglich eine Erkran¬
kung der Hinterstränge hinzukommt, so schwinden die vorher ent¬
wickelten Kontrakturen wieder. Dafür ist aber Voraussetzung, daß
derjenige Teil der Hinterstränge erkrankt sein muß, welcher die
spinale Refiexerregbarkeit der kontrakturierten Muskeln vermittelt, also
bei einer spastischen Paraplegie der Beine, das Gebiet der Wurzel¬
eintrittszonen im Lumbosakralmark; Erkrankung der Hinterstränge
oberhalb des Lumbosakralmarks, also im Halsmark, hebt die Kon¬
traktur der Beinmuskeln durchaus nicht auf, auch nicht die Erkran¬
kung der Gollschen Stränge. Umgekehrt habe ich des öfteren genau
verfolgt, daß, wenn zu einer primär vorhandenen Erkrankung der
Hinterstränge, also bei einer entwickelten Tabes dorsalis, später eine
Erkrankung der Pyramidenbahn, also z. B. eine Seitenstrangerkran¬
kung im Brustmark oder ein Herd in der inneren Kapsel hinzutritt,
dann zwar eine Parese der Beine, bezw. einer Körperhälfte auftritt,
daß aber sich keine Muskelkontrakturen entwickeln; ja es ist mir
dabei regelmäßig aufgefallen, daß die resultierende Bewegungsstörung,
die paretische Komponente, für sich auffallend gering war und daß
die vorher bestehende Ataxie etc. geringer wurde.
Meine Herren! Diesem Winke der menschlichen Pathologie
brauchen wir nur zu folgen. Wenn die spastische Muskelkontraktur
wirklich auf einem infolge der Pyramidenbahnunterbrechung unge¬
hemmt waltenden Reflexe beruht, so muß man sie dadurch aufheben
können, daß man ein Glied in der Kette des Reflexbogens
operativ durchtrennt. Der motorische Teil des Reflexbogens,
d. h. Vorderhorn, vordere Wurzel, motorischer Nerv, können natur¬
gemäß nicht in Frage kommen, da ihre Ausschaltung zwar die Kon¬
traktur aufheben, aber gleichzeitig vollkommene schlaffe Lähmung
der kontrakturierten Muskeln erzeugen würde. Von dem sensiblen
Anteil des Reflexbogens sind die peripheren sensiblen Nerven mit
den motorischen Fasern überall so innig gemischt, daß ihre isolierte
Ausschaltung unmöglich ist. Das von der Natur vorgeführte Ex¬
periment, die Ausschaltung der Hinterstränge im Bereich der Wurzel¬
eintrittszone, kann auch nicht in Betracht kommen, das Rückenmark
ist als ein Noli me tangere zu betrachten.
Bleibt als einzig wirklich isolierbares Stück des sensiblen Teils
des Reflexbogens die hintere Wurzel.
Digitized by CjOOQle
206
0. Förster.
Gegen den Gedanken der operativen Resektion hinterer Wur¬
zeln zum Zwecke der Beseitigung vorhandener spastischer Muskel¬
kontrakturen muß sich aber sofort ein gewichtiger Einwand erheben:
setzen wir nicht durch die Durchtrennung der hinteren Wurzeln
andere schwere Störungen, also erstens Sensibilit’ätsstörungen, und
erzeugen wir nicht dadurch zweitens eine neue Motilitätsstörung, wie
wir sie ja aus der menschlichen Pathologie als Folge der Erkran¬
kung der hinteren Wurzeln in der tabischen Ataxie kennen? Auf
die Frage der eventuell zu befürchtenden Sensibilitätsstörungen gehe
ich erst später ein.
Auf die Frage, ob wir nicht durch die Ausschaltung der hin¬
teren Wurzeln die reflektorische Erregbarkeit der Muskeln gänzlich
auf heben und Ataxie erzeugen, ist folgendes zu erwidern. Keine
Muskelgruppe — wählen wir einmal ein konkretes Beispiel, den
Quadriceps femoris — nimmt ihren Ursprung aus einem einzigen
Rückenmarkssegmente und für keine Muskelgruppe wird die reflek¬
torische Erregbarkeit durch ein einziges spinales Segment vermittelt,
sondern daran beteiligen sich mindestens drei, oft noch mehr spinale
Segmente. Für den Quadriceps femoris kommt sicher in erster Linie
das IV. Lumbalsegment in Frage, aber sowohl für seinen mo¬
torischen Ursprung wie für seine reflektorische Erregbarkeit kommen
auch noch das 111. und das V. Lumbalsegment in Betracht. Schalten
wir bei einer bestehenden Quadricepskontraktur, die also darauf be¬
ruht, daß der durch die drei genannten Segmente vermittelte Fixa¬
tionsreflex ungehemmt in seiner primären Stärke waltet, einen der
drei Reflexbögen, also etwa den mittleren, durch Resektion der IV.
hinteren Lumbalwurzel oder den oberen und den unteren durch Re¬
sektion der III. und V. hinteren Lendenwurzel aus, so wird dadurch
der Reflexvorgang nicht ganz aufgehoben, wohl aber vermindert
und auf ein Maß zurückgeführt werden, welches er hatte, als zwar
alle drei Reflexbügen leiteten und funktionierten, aber durch den
hemmenden Einfluß der Pyramidenbahn in ihrer Funktionsgröße ein¬
gedämmt wurden. Es wird so zwar die Kontraktur nachlassen,
aber nicht jegliche Fixationsspannung des Quadriceps sowie seine
reflektorische Erregbarkeit überhaupt ganz aufgehoben sein. Ver¬
gleichen wir die Vorderhornzellen einer Muskelgruppe mit einem
Pferd, das unter dem Einfluß von Sporn und Zügel steht. Der
Sporn, welcher die Vorderhornzellen fortwährend triflFt und zur Ab¬
gabe von Innervationsimpulsen an den Muskel drängt, sind die fort-
Digitized by
Google
üeber eine neue operative Methode etc.
207
während zuströmenden sensiblen Erregungen, der Zügel, welcher die
Vorderhornzellen zurückhält, dem Sporn ganz nachzugeben und die
motorischen Impulse ungeschwächt in die Muskeln zu entsenden, ist
die Pyramidenbahn. Den Zügel, der durch ihre Erkrankung in
Wegfall gekommen ist, können wir zwar nicht wiederherstellen, wir
können aber das Funktionsterapo des Pferdes vermindern dadurch,
daß einer der Sporen in Wegfall gebracht wird.
Wollen wir nun den bisher entwickelten allgemeinen Gesichts¬
punkt praktisch anwenden, so haben wir in einem gegebenen Falle
festzustellen, welche Muskelgruppen sich vorzugsweise im Zustande
der Kontraktur befinden und welche spinalen Segmente die reflek¬
torische Erregbarkeit dieser Muskelgruppen vermitteln. Aus diesen
Segmenten triflTt man die Auswahl am besten in der Weise, daß man
möglichst sucht zwei aufeinanderfolgende Wurzeln nicht zu ent¬
fernen.
Ich will die spezielle praktische Anwendung des Gesichts¬
punktes sowie die Ergebnisse an der Hand zweier Fälle genau er¬
örtern.
Fall 1. Knabe von 9 Jahren, leidet an einem angeborenen
doppelseitigen Defekte des oberen Drittels der Zentral¬
windungen, also beider kortikalen Beinzentren, und es be¬
stand infolgedessen bei ihm eine außerordentlich schwere
spastische Paraplegie beider unteren Extremitäten.
Auch die Arme sind leicht betroffen, doch handelt es sich hier
nur um leichte Spasmen und Paresen. Ferner besteht, wie Sie
sehen, Strabismus divergens, eine erhebliche Difformität des Schädels,
der Gehirnschädel ist gegen den Gesichtsschädel sehr schwach
entwickelt, Hinterhauptteil des Schädels sehr reduziert, es besteht
ein beträchtlicher Grad von Imbezillität; ferner starkes Pectus
carinatum. Uns interessiert hier nur die spastische Paraplegie der
Beine. Das Bild war folgendes: beide Füße standen in maximaler
Spitzfußstellung, die Kontraktur der Plantarflexoren war ganz unüber¬
windlich, dabei hochgradiger Fußklonus, irgend eine nennenswerte
Exkursion im Sinne der Dorsalflexion war ausgeschlossen, B ab in ski¬
scher Fußsohlenreflex positiv. Die Kniee in starker Beugestellung,
links ^ r, hochgradige Kontraktur der Kniebeuger, die passiv nicht
auszugleichen, gleichzeitig auch fast unüberwindlicher Widerstand in
den Kniestreckern, die Unterschenkel ließen sich von der Beuge¬
stellung, die sie einnahmen, passiv nur um ein geringes mehr beugen
Digitized by
Google
208
0. Förster.
und wieder bis zur alten Beugestellung zurückführen. Beide Patellar-
reflexe äußerst lebhaft. Im Hüftgelenk waren beide Oberschenkel
hart aneinander gepreßt, nach innen rotiert und erheblich gegen das
Becken flektiert. Der Versuch, im Hüftgelenk passive Bewegungen
vorzunehmen, scheiterte an dem eisernen Widerstande der Muskeln
fast vollkommen, nur geringe Vermehrung der an sich vorhandenen
Beugung sowie Zurückführen in den anfänglichen Grad von Beugung
war passiv möglich. Abduktion sowie Rotation nach außen passiv
ganz unmöglich.
Die einzige Bewegung, die der Knabe willkürlich ausführen
konnte und mit der er jeden Bewegungsauftrag beantwortete, war
eine gewisse Beugung in Knie und Hüfte, woran sich meist eine
gewisse Dorsalflexion der Zehen und des vorderen Fußabschnittes
anschloß. Es beugten sich aber immer nur beide Beine gleichzeitig,
und stets war diese Bewegung begleitet von einer Mitbewegung
beider Arme (Beugung der Vorderarme, Pronation der Hand, leichte
Abduktion des Oberarms) und einer Flexion der Wirbelsäule und des
Kopfes. Irgendwelche isolierten Bewegungen eines Beines oder eines
Beinabschnittes waren ganz ausgeschlossen. Hingegen führten die
Beine bei stärkeren Reizen, also bei stärkerem Druck der Haut oder
der Weichteile oder bei einem Strich über die Fußsohle etwas aus¬
giebigere Abwehrbewegungen aus, indem sie sich in Hüfte, Knie
und auch im Fußgelenk beugten; auch hierbei beugten sich immer
beide Beine gleichzeitig und immer erfolgte auch die genannte Mit¬
bewegung der Arme, des Oberkörpers und Kopfes. Wenn der Knabe
mit der Hand nach etwas griff oder etwas zum Munde führte, so
gerieten dabei auch jedesmal beide Beine in vermehrte Beugung,
ebenso Kopf und Oberkörper; wenn die Bewegung der Arme leb¬
haft war, so schnellten die Beine förmlich von der Unterlage empor.
Der Knabe konnte sich aus der Rückenlage überhaupt nicht
aufrichten, selbst nicht unter Zuhilfenahme der Arme, er reckte
dabei zwar den Kopf und Oberkörper empor, die Beine fuhren meist
mit einem Ruck in die Luft, aber das Haupthindernis für das Auf¬
setzen, die spastische Fixierung zwischen Becken und Oberschenkel,
war für ihn unüberwindlich. Ebensowenig konnte er allein sitzen,
wenn man ihn in Sitzstellung brachte; der Rücken war dabei maxi¬
mal kyphosiert, bei dem Versuch, den der Kleine machte, sich
sitzend zu erhalten, fuhren ihm meist beide Beine, sich in Knie und
Hüfte beugend, ruckartig in die Luft und der Oberkörper sank nach
Digitized by
Google
lieber eine neue operative Methode etc.
209
hinten wieder in Rückenlage zurück. Ebensowenig konnte der Knabe
sich aus der Rückenlage in eine andere Lage (Bauchlage) umdrehen;
bei dem Versuche dazu kam es immer nur zu einer Beugung beider
Beine, beider Arme, des Kopfes und der Wirbelsäule.
Stehen konnte der Knabe natürlich nicht. Wenn man ihn auf
den Boden stellte, so konnte er sich nur, wenn er sich mit beiden
Armen an einer Person anklammerte und von dieser rasch gehalten
wurde, einige Augenblicke auf den Beinen halten, er nahm dann die
Stellung ein, wie es Fig. 1 u. 2 zeigen, bei der Anstrengung, die
er dabei machte, fuhren ihm aber alsbald beide Beine regelmäßig
vom Boden empor, bezw. knickte er in Hüfte und Knie zusammen,
wenn er mit den Armen nicht genügend Halt fand.
Ebenso war es bei dem Versuch, ihn gehen zu lassen; wenn er
kräftig an beiden Armen emporgehalten wurde, so konnte er sich
einige Augenblicke auf den Beinen halten und auch ein Bein etwas
vorbewegen, es wurde aber nur im Hüftgelenk bewegt, und zwar
fuhr es, sobald es die Ebene des anderen Beines, des Standbeines,
nach vorn überschritten hatte, in maximale Adduktion, das Stütz¬
bein nach vorne weit überkreuzend. Mit größter Mühe arbeitete er
nun das hintere Bein hinter dem vorderen vorbei nach vorne,
wobei es sich sofort wieder mit diesem überkreuzte. Eine Bewegung
im Knie- oder Fußgelenk fand beim Gange nicht statt. Alle Augen¬
blicke fuhren beide Beine hoch in die Luft empor, oder wenn der
Knabe an den Armen der Begleiter nicht den genügenden Halt fand,
so knickte er mit einem Ruck im Hüft- und Kniegelenk zusammen.
Aufstehen und Hinsetzen, Treppensteigen, Wendungen waren natür¬
lich ganz unmöglich.
Es bestand also bei ihm eine spastische Paraplegie der Beine
mit allen den charakteristischen Einzelheiten, wie wir sie bei den
schwersten Formen der auf einer von Geburt an bestehenden oder
im frühen Kindesalter erworbenen Erkrankung der beiderseitigen
kortikalen Beinzentren vorfinden.
Die Bewegungsstörung hatte sich bei dem Knaben im Laufe
der letzten 1—2 Jahre noch verschlechtert insofern, als die Starre
der Muskeln noch größer als bis dahin geworden war. Der Knabe
war bis zum Becken einschließlich tatsächlich wie ein starrer Klotz.
Ich riet, bei ihm die vorhandenen spastischen Muskelkontrak¬
turen durch Resektion bestimmter hinterer Lumbosakralwurzeln zu
vermindern. Ueber die Auswahl, die ich machte, gibt folgende Ta-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 14
Digitized by
Google
210
0. Förster.
belle den besten üeberblick. In dieser ist für jede Muskelgruppe
angegeben, aus welchen spinalen Segmenten dieselbe ihren Ursprung
nimmt und welche Segmente den Fixationsrefiex (bezw. Dehnungs¬
reflex) derselben vermitteln, wobei aber erwähnt werden muß, daß
die diesbezüglichen Angaben der einzelnen Autoren noch keineswegs
in allen Punkten sichergestellt sind und zum Teil divergieren. Ich
habe vor allem verwertet die Angaben von Kocher, Oppenheim,
Lazarus, Wichmann. Diejenigen hinteren Wurzeln, welche zur
Resektion ausgewählt wurden, sind fettgedruckt.
Plantarflexoren des Fußes
. . 5 L
I S
n S
Dorsalflexoren des Fußes
..4L
5L
I s
Beuger des Knies . . .
..4L
51
I s
Strecker des Knies . .
. . 3 L
4l
5L
Beuger der Hüfte . . .
. . 1 L
2L
3L 4L
Strecker der Hüfte . .
..4L
5L
1 S
Adduktoren der Hüfte
. . 2 L
3 L
4L
Innenrotatoren der Hüfte
..4L
5L
1 S
Außenrotatoren der Hüfte
..4L
5L
IS 2 S
Es wurde also die Resektion der 2., 3. und 5. hinteren Lenden¬
wurzel und der 2. hinteren Sakralwurzel von mir vorgeschlagen. Die
Operation wurde am 11. Juni 1907 von Prof. Tietze ausgeführt.
In der Narkose lösten sich die Kontrakturen sofort, ein Beweis, daß
es sich um echte spastische Kontrakturen handelte. Aber auch un¬
mittelbar nach der Narkose und seitdem dauernd ist die Kontraktur
der Plantarflexoren des Fußes beiderseit ganz beseitigt, der Fuß
passiv in vollem Umfange dorsalwärts zu flektieren, der Fußklonus
ist ganz erloschen, der Achillessehnenreflex nicht mehr auszulösen;
die Dorsalflexoren des Fußes waren ja zwar auch vor der Operation
nicht kontrakturiert, aber auch gar nicht auf einen eventuellen spasti¬
schen Widerstand zu prüfen, da sich die Plantarflexionsstellung des
Fußes nicht hatte ausgleichen und der Fuß füglich sich nicht in
Dorsalflexion hatte bringen lassen. Nach der Operation ist diese
Prüfung ohne jede Mühe möglich und setzen, wie Sie sehen, die
Dorsalflexoren ihrer Dehnung und der vollkommen passiven Plantar¬
flexion keinen Widerstand entgegen, ihre reflektorische Erregbarkeit
durch Bestreichen der Fußsohle ist erhalten geblieben, derBabinski-
sche Zehenreflex ist beiderseits positiv geblieben. Im Knie ist seit
der Operation der vorher so starre Widerstand der Flexoren und
Digitized by L^ooQle
lieber eine neue operative Methode etc.
211
Extensoren ganz geschwunden, beide Kniee befinden sich, wie Sie
sehen, in Strecksteilung, lassen sich in vollem Umfange passiv beugen
und strecken, ohne daß ein Widerstand seitens der gedehnten Mus¬
keln besteht. Der Patellarreflex ist beiderseits positiv, links war er
längere Zeit erloschen und ist auch jetzt nur schwach infolge einer
bei der Operation entstandenen Quetschung der vierten Lenden-
wurzel.
Am sinnfälligsten sind die Veränderungen in der Hüfte; hatte
der vorher bestehende starre Muskelwiderstand nur geringe Exkur¬
sionen im Sinne einer weiteren Beugung (beide Oberschenkel waren
flektiert) und eines Zurückführens auf die Ausgangsbeugestellung
zugelassen, so sind jetzt die Oberschenkel passiv nach allen Rich¬
tungen hin vollkommen frei beweglich, ohne daß man einen Wider¬
stand fühlt, sie können vollkommen flektiert und extendiert, ab-
duziert und adduziert, innen- und außenrotiert werden. In der Ruhe,
bei Rückenlage des Kranken, liegen sie in gerader Verlängerung des
Rumpfes nebeneinander, aber nicht aneinandergepreßt, in Mittellage
zwischen Innenrotation und Außenrotation. Man kann auch jetzt,
wie Sie sehen, den Oberkörper des Knaben aus der Rückenlage in
die Sitzstellung bringen, ohne daß die Strecker des Hüftgelenks
sich dieser Bewegung irgendwie widersetzen, nicht einmal die Kniee
beugen sich dabei ein.
Bezüglich des Verlaufs der Wiederherstellung der passiven Be¬
weglichkeit der Glieder und der Beseitigung der Muskelkontrakturen
möchte ich nur erwähnen, daß zwar sofort nach der Operation die
normale Exkursionsbreite der Glieder erlangt und der spastische
Muskel widerstand aufgehoben war, daß aber doch in den ersten
5—6 Wochen nach der Operation bei passiven Bewegungen eine
Empfindlichkeit und Schmerzhaftigkeit der gedehnten Muskeln be¬
stand, die sich aber dann sukzessive ganz verloren hat.
Mit dem Verschwinden der Kontrakturen und der
Wiederherstellung einer ungefähr normalen passiven Be¬
weglichkeit und Exkursionsbreite der Glieder ist aber der
Vorteil, den der Knabe von der Operation gehabt hat, durchaus nicht
erschöpft. Vielmehr hat sich, wie Sie sehen, auch die aktive Be¬
weglichkeit in weitestem Umfange hergestellt. Was besonders
hervorzuheben ist, es können isolierte Bewegungen eines Beines und
der einzelnen Abschnitte des Beines willkürlich ausgeführt werden.
Der Fuß kann in vollem Umfange willkürlich dorsalflektiert und
Digitized by
Google
212
0. Förster.
plantarflektiert werden, ohne daß eine Beugung, bezw. Streckung in
Knie und Hüfte mit erfolgte. Der Unterschenkel wird in vollem
Umfange gebeugt und gestreckt, ohne Mitbeugung, bezw. Streckung
des Fußes und Oberschenkels. Nur die Streckung des linken Unter¬
schenkels war infolge der bei der Operation versehentlich entstan¬
denen Quetschung der vierten Lendenwurzel lange sehr abgeschwächt
und ist es auch jetzt noch etwas. Im Hüftgelenk kann das Bein
nach allen Richtungen hin frei und ohne Schwierigkeit bewegt werden,
es wird, wie Sie sehen, hoch erhoben und wieder hingelegt, maximal
gespreizt und wieder adduziert, nach innen und außen rotiert. Es
erfolgen bei alledem keine Mitbewegungen des Unterschenkels und
Fußes.
Ferner ist hervorzuheben, daß bei willkürlichen Bewegungen
eines Beines oder eines Beinabschnittes keine oder nur mehr geringe
Mitbewegungen von seiten der Arme, des Kopfes und der Wirbel¬
säule erfolgen, auch umgekehrt geraten bei Willkürbewegungen der
Arme oder der Wirbelsäule die,Beine nicht mehr in die früher so
auffällige Mitbewegung (Emporschnellen beider Beine). Auch die
unwillkürlichen reflektorischen Abwehrbewegungen, die die Beine auf
einen Strich über die Fußsohle oder bei einem Druck in das Bein
ausführen, haben keine größere Intensität oder Extensität als in der
Norm; während früher bei einem Strich über die Fußsohle beide
Beine emporschnellten, die Arme sich beugten, Kopf und Wirbel¬
säule sich flektierten, wird jetzt nur ein Bein, das gereizte, etwas
in Fuß, Knie und Hüfte flektiert; die große Zehe wird dabei dorsal¬
flektiert.
Ferner ist hervorzuheben, daß bei den willkürlichen Bewegungen,
die der Knabe mit den Beinen ausführt, keine auffällige Ataxie be¬
steht, das Bein wird z. B. ohne seitliche Schwankungen und Drehungen
um die Längsachse, ohne Rucke, erhoben und ruhig erhoben ge¬
halten, es wird die Ferse eines Beines sicher auf das Knie des an¬
deren gesetzt und verweilt ruhig darauf.
Was die Entwicklung dieser ausgezeichneten Bewegungsfähig¬
keit anlangt, so ist zu bemerken, daß in den ersten 5—6 Wochen
bei jedem Bewegungsauftrag der Knabe über Schmerzen klagte und
nur in sehr geringfügigem Umfange Bewegungen ausführte. Dann
hat sich das aber rasch geändert. Von Tag zu Tag nahm die Ex¬
kursion der Beinbewegungen zu; leichte Mitbewegungen seitens der
Arme bestanden in der ersten Zeit noch, haben sich aber bald ver-
Digitized by C^ooQle
lieber eine neue operative Methode etc.
213
mindert. Bereits Mitte September 1907 hatte der Knabe dieselbe Be¬
wegungsfähigkeit der Beine erlangt, die ich Ihnen heute hier de¬
monstriert habe. Zu bemerken ist, daß die Fähigkeit, isolierte Be¬
wegungen eines Beines und eines Beinabschnittes auszuführen, vom
ersten Augenblicke, wo der Knabe überhaupt zu willkürlichen Be¬
wegungen zu veranlassen war, bestand.
Wie Sie nun ferner sehen, hat der Knabe weiter gelernt, sich
aus der Rückenlage ohne Zuhilfenahme der Arme, aufzusetzen und
ruhig und sicher allein zu sitzen, ohne daß dabei die Beine in Mit¬
bewegung geraten und von der Unterlage emporschnellen und ohne
daß sich die Beine im Knie beugen.
Ferner hat der Knabe Stehen und Gehen gelernt. Er kann
ganz allein stehen, doch ist er dabei noch ängstlich; gibt man ihm
eine Hand oder stützt er sich auf einen Stock, so steht er ganz
sicher und beliebig lange aufrecht, Sie sehen, daß die Fußsohle ganz
dem Boden anliegt, der Unterschenkel im nahezu rechten Winkel
zur Fußsohle steht, das Knie gestreckt ist, ohne hyperextendiert
zu sein, daß das Becken und die Wirbelsäule auf den Beinen voll¬
kommen aufgerichtet sind.
Gehen ohne jede Hilfe kann der Kleine noch nicht oder höch¬
stens 2—3 Schritt; dann packt ihn die Angst zu fallen, und er
bleibt stehen. Wohl aber kann er mit Hilfe zweier leichter Stöcke
ganz allein umhergehen, er wandert so allein von einem Zimmer
zum anderen, im Garten legt er längere Strecken zurück. Die einzige
Störung, die dabei auffällt, ist die, daß er etwas breitbeinig und langsam
geht. Gibt man ihm eine Hand und läßt ihn daran gehen, so sehen
Sie erst, wie gut sich der Gang bei ihm hergestellt hat. Die Beine
funktionieren vollkommen sicher, abwechselnd als Stützbein und
Schwungbein. Am Stützbein neigt sich der Unterschenkel allmäh¬
lich gut gegen den Fuß vornüber, wird das Knie, anfangs in leichter
Beugung, nachher vollkommen gestreckt (nur links besteht noch in¬
folge der durch die Läsion der vierten Lendenwurzel bedingten
Quadricepsschwäche eine gewisse Neigung im Knie einzuknicken),
wird Becken und Oberkörper sehr gut aufgerichtet und vom Stütz¬
bein getragen. Auch nach der Seite des Schwungbeins sinkt das
Becken und mit ihm der Oberkörper nicht herab, sondern wird durch
den Glutaeus medius gut fixiert gehalten. Das Schwungbein wird,
nachdem sich die Ferse vollkommen vom Boden abgewickelt hat, gut
im Fuß und Knie gebeugt und in der Hüfte vorgeführt, gegen Ende
Digitized by C^ooQle
214
0. Förster.
der Schwungphase wird der Unterschenkel vorgestreckt; aber das
Knie befindet sich noch in leichter Beugung, während das Schwung¬
bein dem Boden wieder aufgesetzt wird, ganz wie das in der Norm
der Fall ist. Sie sehen auch, daß der Kleine mit sehr großen raschen
Schritten marschieren kann. Er macht rasche und geschickte Wen¬
dungen beim Gange, geht auch seitwärts und rückwärts. Er steigt
die Treppe herauf und herunter, wobei er sich allerdings des Geländers
bedienen muß; doch richtet er sich auf dem vorderen Beine, dem
Stützbein, gut auf und hebt den Körper empor, das Schwungbein
wird gut gebeugt und auf die nächsthöhere Stufe aufgesetzt.
Der Knabe kann auch allein ins Bett steigen, obwohl dieses
recht hoch ist, er kann sich von der Rückenlage in die Bauchlage
und wieder zurück rasch und ohne Schwierigkeit umdrehen, er kann
sich allein Schuhe, Strümpfe und Beinkleider anziehen.
Es ist begreiflich, daß ein seit der Geburt gelähmtes Kind,
das nie stehen und gehen gelernt hatte, nicht sofort diese Leistungen
vollbringen konnte, nachdem das Haupthindernis für die Lokomo¬
tionsfähigkeit, die spastische Lähmung, beseitigt war. Sondern dazu
bedurfte es sehr sorgfältiger täglicher Steh- und Gehübungen, die
bei dem Mangel an Intelligenz des Knaben nicht ganz leicht sind.
Besondere Schwierigkeiten machte es, dem Knaben die Aufrichtung
des Beckens und Oberkörpers auf dem Stützbein beim Gange beizu¬
bringen, bei jedem Schritt sanken dieselben wieder vornüber. Jetzt
aber richtet er den Oberkörper, wie Sie sehen, sehr gut auf.
Wie viel man durch weitere fortgesetzte Uebungsbehandlung
noch erreichen kann, wird die weitere Beobachtung lehren. Ich be¬
merke, daß ich Geh- und Stehübungen erst im Oktober 1907 be¬
gonnen habe, der Knabe also jetzt erst reichlich ^/2 Jahr in Uebungs¬
behandlung steht. Der hauptsächlichste praktische Nutzen der
Operation ist meines Erachtens der, daß durch die Beseitigung der
Kontrakturen und der ungemein großen reflektorischen Uebererregbar-
keit der Muskeln überhaupt und der sehr störenden reflektorischen
Mitbewegungen der Beine bei jeder Bewegungsintention, die Fähig¬
keit, isolierte Bewegungsakte vorzunehmen und zu üben, wieder er¬
langt ist und damit die Basis für eine rationelle Uebungsbehandlung
geschaffen worden ist. Solange starke Konktrakturen in den Muskeln
bestehen und bei jeder Bewegungsintention sofort alle möglichen
anderen Muskeln reflektorisch in Mitkontraktion versetzt werden, ist
jede Uebungsbehandlung ausgeschlossen.
Digitized by CjOOQle
lieber eine neue operative Methode etc.
215
Zum Schluß sei noch bemerkt, daß bei dem Knaben Sensibili¬
tätsstörungen der Haut und tiefen Teile niemals nachgewiesen worden
sind. Allerdings konnte das Lokalisationsvermögen in feinerer Weise
nicht geprüft werden, da es dem Knaben dazu an Intelligenz man¬
gelt. Aber die einfache Berührungsempfindung, Empfindung für
Schmerz, für warm und kalt, für Druck, für passive Bewegungen
der Glieder war und ist nicht gestört, ünterscheidungsvermögen für
feinere Temperaturunterschiede konnte auch nicht einwandfrei ge¬
prüft werden.
Zu bemerken ist noch, daß in den ersten Wochen nach der
Operation eine Hyperästhesie der Haut und der tiefen Teile bestand,
die allmählich nachließ und seitdem ganz geschwunden ist. Das
Fehlen der Sensibilitätsstörungen deckt sich mit Sherringtons Er¬
gebnissen an Affen.
Handelte es sich bei dem eben beschriebenen Fall um eine
spastische Paraplegie kortikalen Ursprungs, so liegt bei dem nun zu
demonstrierenden 2. Fall eine spastische Paraplegie spinalen Ur¬
sprungs vor.
Fall 2. lOjähriges Mädchen, das seit dem 3. Lebensjahre an
Spondylitis tuberculosa der Halswirbelsäule leidet; infolge¬
dessen besteht starker Gibbus daselbst, zunehmende Kompression des
Rückenmarks und Lähmung der Beine, welche seit Weihnachten 1905
die Gehfähigkeit vollkommen aufgehoben hat. Mit allen konserva¬
tiven Methoden seit dem 3. Lebensjahre behandelt, ohne jeden Er¬
folg. 3. Oktober 1906 Laminektoraie im Bereich des Gibbus der Hals¬
wirbelsäule, das Rückenmark reitet auf einem scharfen Vorsprung,
den die Halswirbelkörper gegeneinander bilden. Eine Beseitigung
desselben ist unmöglich. Die Operation blieb erfolglos, im Gegen¬
teil verschlechterte sich der Zustand noch mehr, insofern als im
Gegensatz zu der fast vollkommenen Lähmung der willkürlichen Be¬
weglichkeit (nur das linke Bein konnte willkürlich noch eine Spur
bewegt werden), sehr häufig unwillkürliche krampfartige, äußerst
schmerzhafte Beugebewegungen der Beine auftraten, die nicht unter¬
drückt werden können. Als am 3. Mai 1907 die von mir vor¬
geschlagene Resektion hinterer Lumbosakralwurzeln vorgenommen
wurde, bestand folgender Status: Starke Kyphose der unteren Hais¬
und. oberen Brustwirbelsäule, kompensatorische Lordose der Lenden¬
wirbelsäule. Kind liegt dauernd in Rückenlage im Bett. Beide
Füße in starker Equinovarusstellung, beide Knie gestreckt, beide
Digitized by
Google
216
0. Förster.
Oberschenkel in gerader Verlängerung des Oberkörpers, hart anein¬
ander gepreßt, etwas nach innen rotiert. Im Fußgelenk ausgesprochene
spastische Kontraktur der Plantarflexoren, dieselbe ist passiv nur
mit großer Kraft zu überwinden, dabei starker Fußklonus, derselbe
dauert nach Auf hören der künstlichen Dehnung der Achillessehne noch
an (aktives Fußzittern), äußerst lebhafte Achillesreflexe; Babinski-
sches Zehenphänomen beiderseits positiv. Im Knie äußerst starke
Kontraktur der Strecker, äußerst lebhafte Patellarreflexe, lebhafter
Patellarklonus. Nur durch einen starken Druck ins Bein löst sich
die Kontraktur der Strecker, und die Kniee geraten in Beugung; sie
verharren jetzt darin, und es besteht nunmehr starke Kontraktur der
Kniebeuger, die sich ihrerseits erst allmählich löst. Im Hüftgelenk
besteht äußerst starre Kontraktur der Adduktoren, dieselbe ist so
gut wie unüberwindlich, auch äußerst starke Kontraktur der Beuger
und Strecker, der Oberschenkel läßt sich aus der Stellung, die er
einnimmt, passiv kaum extendieren oder flektieren; nur bei starkem
Druck ins Bein löst sich die Kontraktur der Strecker und der Ober¬
schenkel begibt sich in Flexion, die Beuger entfalten jetzt einen noch
stärkeren Widerstand als zuvor, der sich erst allmählich wieder löst.
Rotationen um die Längsachse können passiv gar nicht ausgeführt
werden. Der Oberkörper läßt sich passiv nicht aus der Rückenlage
gegen die Beine emporrichten, d. h. in Sitzstellung bringen, wegen
des starren Widerstandes der Beckenstrecker.
Die willkürliche Beweglichkeit der Beine ist am rechten Bein
ganz aufgehoben, es kann keine einzige Bewegung willkürlich aus¬
geführt werden, es kann das Bein auch nicht, wenn man es künst¬
lich in Beugung gebracht hat, nunmehr willkürlich wieder ausge¬
streckt werden.. Links ist noch ein Rest von willkürlicher Beweg¬
lichkeit vorhanden, wenigstens kann das Bein manchmal mit großer
Mühe in Knie und Hüfte willkürlich etwas gebeugt werden, wobei
sich dann jedesmal auch die Dorsalflexoren des Fußes etwas an¬
spannen, und alsdann wieder ausgestreckt werden. Irgendwelche
isolierte Bewegungen des Fußes oder des Beines im Hüftgelenk sind
ganz unmöglich. Im Gegensatz zu der ungemein beschränkten will¬
kürlichen Bewegungsfähigkeit der Beine stehen nun häufige unwill¬
kürliche, krampfartige, äußerst schmerzhafte Beugebewegungen der
Beine, bei denen das Bein plötzlich in Hüfte und Knie stark, im Fuß
etwas gebeugt wird und dann in dieser Beugung verharrt. Es kann
diese Bewegung willkürlich nicht unterdrückt werden, auch kann das
Digitized by C^ooQle
üeber eine neue operative Methode etc.
217
Bein willkürlich aus der Beugestellung nicht wieder ausgestreckt
werden. Allmählich läßt die krampfhafte Anspannung der Beuger
etwas nach, das Bein geht wieder mehr oder weniger in Streck¬
stellung über; alsbald wiederholt sich der Beugekrampf, und so geht
es oft stundenlang abwechselnd. Manchmal ist es nur ein Bein,
welches in Beugung gerät, manchmal alle beide gleichzeitig oder
nacheinander. Dieselben intensiven Beugebewegungen der Beine
entstehen reflektorisch bei jedem stärkeren Reiz, der das Bein trifft,
so wenn man einen kräftigen Strich über die Fußsohle führt, einen
starken Stich darein versetzt, einen stärkeren Druck in die Weich¬
teile des Beines ausübt, und es ist wohl sicher, daß die scheinbar
spontan, ohne solch künstliche Reizung entstehenden unwillkürlichen
Krampfbewegungen der Beine doch auch nur die Folge sensibler
Reizung des Beines sind, nämlich die Folge des Druckes der Beine
gegen die Unterlage oder der Beine gegeneinander oder der Decke
auf die Beine. Auch die gefüllte Blase wirkt als ein krampfauslösendes
Moment in hohem Grade. Ferner entstehen diese Beugebewegungen
als reflektorische Mitbewegung bisweilen, wenn das Kind den Ver¬
such macht, sich aus der Rückenlage aufzurichten.
Die Bauchmuskeln fühlen sich wenig gespannt an, die Bauch¬
presse ist abgeschwächt, die Bauchdeckenreflexe sind erloschen. Das
Kind kann sich aus der Rückenlage nicht aufrichten, wenn es sich
sehr dazu anstrengt, so beugen sich beide Beine in Knie und Hüfte
krampfhaft. Setzt man es künstlich hin, so kann es nicht allein
sitzen, sondern fällt alsbald wieder zurück. Es kann sich auch nicht
aus der Rückenlage umdrehen.
Stehen kann die Kleine nicht; wenn man sie auf die Beine
stellt und am Oberkörper kräftig unterstützt, hält sie sich einige
Augenblicke auf den Beinen, die Kniee gestreckt, das Becken etwas
gegen die Oberschenkel flektiert. Alsbald aber werden die Beine
in Knie und Hüfte krampfhaft in Beugung gezogen und entfernen
sich vom Boden oder die Kleine knickt in Knie und Hüfte zu¬
sammen.
Gehen ist selbst bei kräftigster Unterstützung ganz ausge¬
schlossen, da die Kranke das rechte Bein gar nicht vom Fleck be¬
kommt und das linke nur manchmal um eine Spur vorsetzen kann.
Sensibilitätsstörungen sind bei der Kranken nicht vorhanden.
Ich hatte vorgeschlagen, zur Beseitigung der Kontraktur der
Plantarflexoren des Fußes die zweite hintere Sakralwurzel, zur Be-
Digitized by C^ooQle
218
0. Förster.
seitigung der Kontraktur der Strecker des Knies die fünfte und
dritte hintere Lendenwurzel zu resezieren, durch die Resektion der
letzteren sollte auch die Kontraktur der Adduktoren der Hüfte be¬
seitigt werden. Ich wußte damals — es war das der erste operierte
Fall — noch nicht, daß die Resektion der dritten hiefür nicht ge¬
nügt, sondern daß dazu auch noch die zweite Lendenwurzel ausge¬
schaltet werden muß. Bei der am 3. Mai 1907 von Prof. Tietze
vorgenommenen Operation wurde linkerseits auch entsprechend dem
Plane die zweite Sakral-, fünfte und dritte hintere Lumbalwurzel
reseziert. Rechts wurde wahrscheinlich die erste Sakralwurzel und
wahrscheinlich die dritte Lendenwurzel reseziert. Die Orientierung
war nämlich dadurch, daß fortwährend Blut in den Duralsack floß,
ungemein erschwert, und es mußte die Operation wegen starker
Schwäche des Kindes beschleunigt und vorzeitig abgebrochen werden.
Das Resultat ist ein entsprechend geringeres als in Fall 1.
Zunächst ist die Kontraktur der Plantarflexoren des linken Fußes
ganz beseitigt, der Fußklonus verschwunden, der Fuß kann passiv
in vollem Umfange dorsal- und plantarflektiert werden. Der Achilles¬
reflex ist erloschen. Im Knie ist die Kontraktur der Strecker sehr
reduziert, ebenso keine nennenswerte Gegenspannung der Beuger
mehr nachzuweisen. Das Knie läßt sich ohne Mühe in vollem Um¬
fange beugen und strecken. In der Hüfte gelingt die passive Beu¬
gung und Streckung, Innen- und Außenrotation zwar annähernd in
vollem Umfange, doch aber gegen deutlichen Widerstand der jeweils
gedehnten Muskeln. Die passive Abduktion stößt noch auf einen
gewissen Widerstand der Adduktoren, immerhin ist aber doch eine
ganz ausgiebige passive Abduktion jetzt möglich. Rechts war die
Kontraktur der Plantarflexoren zunächst nicht ganz verschwunden,
doch ließ sich der Fuß, wenn auch gegen Widerstand, passiv voll¬
kommen dorsalflektieren, der Achillesreflex war nicht ganz erloschen,
Fußklonus nicht vorhanden. Zur Beseitigung des Restes von Kon¬
traktur der Plantarflexoren ist später noch eine perkutane Tenotomie
der Achillessehne vorgenommen worden. Sie sehen, daß jetzt die
passive Beweglichkeit auch in diesem rechten Fußgelenk eine un¬
behinderte ist. Im Knie war die Kontraktur der Strecker gar nicht
beeinflußt, der Widerstand wie vorher fast eisern, der Patellarreflex
und Patellarklonus sehr lebhaft. Wir haben dem dadurch abgeholfen,
daß wir den Rectus femoris von der Patella abgelöst und auf die
Beugesehnen in der Kniekehle aufgepflanzt haben. Dadurch ist jetzt,
Digitized by L^ooQle
lieber eine neue operative Methode etc.
219
wie Sie sehen, der Widerstand der Kniestrecker soweit vermindert,
daß der Unterschenkel passiv vollkommen flektiert werden kann, man
fühlt allerdings dabei noch deutlichen Widerstand der Strecker. Der
Patellarreflex ist noch lebhaft. In der Hüfte ist, wie Sie sehen, die
Beweglichkeit nach allen Richtungen hin etwas freier als zuvor, doch
ist immer noch ein beträchtlicher Widerstand seitens der gedehnten
Muskeln fühlbar. Immerhin ist die Kontraktur der Hüftgelenks¬
muskeln doch so weit gemindert, daß man den Oberkörper, d. i.
Becken und Wirbelsäule ohne großen Widerstand gegen die Beine
beugen, d. h. das Kind aus der Rückenlage in Sitzstellung bringen
kann, ohne daß die Knie sich stark dabei einbeugen.
Die willkürliche Beweglichkeit hat sich auch beträchtlich ge¬
bessert, besonders links. Der linke Fuß kann willkürlich in be¬
trächtlichem Umfange gebeugt und gestreckt werden, auch ohne daß
Mitbeugungen in Knie und Hüfte erfolgen. Der linke Unterschenkel
kann gegen den Oberschenkel in vollem Umfange gebeugt und ge¬
streckt werden ohne Mitbewegung des Oberschenkels und Fußes.
Das ganze linke Bein kann in der Hüfte nach allen Richtungen hin
recht gut bewegt werden, erhoben und wieder hingelegt, ab- und
adduziert, innen- und außenrotiert werden. Es kann das linke Bein
in Knie und Hüfte in normalem Umfange gebeugt werden, es wird
die Ferse des linken Beines auf das Knie des rechten Beines mit
Sicherheit gesetzt und ohne ataktische Schwankungen darauf ge¬
halten. Rechts kann der Fuß nur etwas dorsal- und plantarflektiert
werden, doch ohne Mitbewegungen in Knie und Hüfte. Isolierte
Beugung des rechten Unterschenkels ist nur in kleinem Umfange,
wohl aber die Streckung vollkommen möglich und kräftig. Das
gestreckte rechte Bein kann im Hüftgelenk etwas erhoben werden,
es kann ganz gut abduziert, sehr gut adduziert, wenig nach außen
rotiert, gut nach innen rotiert werden. In Knie und Hüfte gleich¬
zeitig, wird das rechte Bein gut gebeugt, ebenso wieder kräftig aus¬
gestreckt, die rechte Ferse wird mit einiger Mühe auf das linke Knie
aufgesetzt, doch ohne Ataxie, und sie wird auch ruhig darauf er¬
halten.
Die unwillkürlichen krampfhaften Beugebewegungen der Beine,
die vor der Operation so sehr lästig für die Kleine waren, sind ganz
verschwunden. Ebenso führen die Beine nicht mehr die krampf¬
haften Beugungen als Mitbewegung aus, wenn das Kind sich auf¬
setzt oder sitzt. Auf starke Reize, die man den Beinen appliziert.
Digitized by C^ooQle
220
0. Förster.
also auf einen kräftigen Strich über die Fußsohle, einen kräftigen
Druck ins Bein, zieht sich dasselbe zwar noch durch eine gleich¬
zeitige Beugung in Fuß, Knie und Hüfte etwas zurück, aber diese
Reflexbewegung hat nichts Krampfhaftes mehr an sich und bleibt
nicht bestehen, vielmehr kehrt das Bein alsbald in die Ruhelage
wieder zurück.
Das Kind kann sich bei Zuhilfenahme der Arme ohne Mühe
aus der Rückenlage aufsetzen, allein sitzen, es kann sich aus der
Rückenlage in die Bauchlage umdrehen und wieder zur Rückenlage
zurückkehren. Stellt man sie auf den Boden, so ziehen sich die
Beine nicht mehr wie früher durch krampfhafte Beugung vom Boden
zurück. Die Kleine steht vielmehr, wenn man sie an einer Hand
hält oder wenn sie sich auf Krücken stützt, allein aufrecht. Sie
geht mit Krücken allein schnell umher, steigt die Treppen mit Hilfe
des Geländers, sie geht mit den Krücken allein im Garten spazieren.
Beim Gehen wird das rechte Bein schlechter vorgesetzt als das linke
und streift etwas mit der Fußspitze über den Boden. Das linke
wird im Fuß, Knie und Hüftgelenk gut gebeugt.
Sensibilitätsstörungen sind bei dem Kinde niemals festgestellt
worden.
Das Resultat ist ja kein so gutes wie in dem ersten Falle,
doch ist zu bedenken, daß es der erste Fall war, bei dem auf meine
Veranlassung die Operation vorgenommen wurde, und daß sich hierbei
eine Reihe Schwierigkeiten zeigten, die erstens die Resektion der
postulierten Wurzeln nicht bis zu Ende führen ließen. Zweitens aber
wußte ich damals noch nicht, wieviel Wurzeln im ganzen zur Erzie¬
lung eines möglichst guten Resultates zu resezieren sind. Trotz alle¬
dem ist es doch auch bereits ein bedeutender praktischer Erfolg,
wenn das vorher total ans Bett gefesselte Kind jetzt umherläuft
und sich im Garten umhertreibt.
Professor Tietze hat dann noch in einem anderen Falle von
kortikaler spastischer Paraplegie der Beine (Littlesche Krankheit)
auf meine Veranlassung operiert, der zwar nicht ganz so schwer
war als der Fall Nr. 1, aber demselben sonst durchaus glich. Es
war der zweite von uns in Angriff genommene Fall. Es wurden
links reseziert die zweite Sacralis, die fünfte und dritte Lumbalis,
rechts die zweite Sacralis, leider durch einen Irrtum die vierte
Lumbalis statt der fünften und endlich die zweite Lumbalis. Das
Ergebnis ist die Beseitigung der Kontraktur der Plantarflexoren des
Digitized by C^ooQle
lieber eine neue operative Methode etc.
221
Fußes beiderseits, die Beseitigung der Beugekontraktur des linken
Knies, rechts ist dieselbe wegen der Resektion der falschen Wurzel
(IV. L.) leider nicht ganz beseitigt, der Patellarreflex hingegen auf¬
gehoben. In der Hüfte ist die Beweglichkeit beiderseits viel freier,
doch die Kontraktur der Adduktoren nicht ganz beseitigt. (Deshalb
haben wir uns auf Grund der in diesem Fall gemachten Erfahrung
entschlossen, in dem nächst operierten Falle zur Beseitigung der
Kontraktur der Adduktoren Lumbalis II und III zu resezieren. Dies
wurde in dem Falle getan, der hier als Nr. 1 mitgeteilt ist, und in
dem die Kontraktur der Adduktoren tatsächlich ganz beseitigt ist.)
Die aktive Beweglichkeit ist in diesem Falle recht gut hergestellt.
Geh- und Stehübungen konnten bisher noch nicht vorgenommen
werden, da das Kind eine linkseitige Luxatio femoris congenita hat,
die reponiert ist, aber Ruhigstellung im Gipsverband erheischt.
Endlich haben wir noch einen 4. Fall von vollkommen spasti¬
scher Paraplegie der Beine mit schweren Beugekontrakturen infolge
multipler Sklerose operiert. Leider ist hier die Operation nicht richtig
angelegt worden. Die Wurzeln konnten nicht isoliert werden. Bei
dem Versuch, sie zugänglich zu machen, riß die Dura mater, außer¬
dem litt die gesamte Cauda equina durch Druck der Pinzette und
der Haken, mit denen sie aus dem Duralsack herausgehoben wurde,
es blutete ferner stark in den Duralsack, so daß eine vollkommene
schlaffe Lähmung der Beine, der Blase und des Mastdarms, sowie
vollständige Anästhesie der Beine die Folge war. Die Frau bekam
dann von einem vorher schon vorhandenen Dekubitus ein Wund¬
erysipel, an dem sie zu Grunde ging.
Noch kurz ein Wort über das Indikationsgebiet. Es eignen
sich für die Methode meines Erachtens alle schweren spastischen
Paraplegien der Beine, einerlei ob auf kortikaler oder spinaler Er¬
krankung beruhend. Selbstverständlich kommen nur schwere Fälle
in Betracht. Sicher eignen sich auch meines Erachtens schwere
Fälle von multipler Sklerose, sowohl die mit Streckkontraktur als
auch die mit Beugekontraktur und mit ausgesprochenen unwillkür¬
lichen Beugebewegungen der Beine. Ob die Hemiplegie in das Ge¬
biet der Methode gehört, ist noch abzuwarteu. Ich glaube, das Bein
des Hemiplegikers kann fast ebensogut durch andere hier nicht zu
besprechende operative Maßnahmen gebessert werden. Die Störung
des Armes bei der Hemiplegie bietet aber deshalb wenig Aussicht
allein durch die Beseitigung der Spasmen gehoben zu werden, weil
Digitized by
Google
222
0. Förster.
am hemiplegischen Arm die paretische Komponente eine zu wesent¬
liche Rolle spielt. Doch müssen erst darüber Erfahrungen gesammelt
werden. Sicher eignen sich Fälle mit stärkeren Spasmen am Arm, bei
denen die paretische Komponente nur wenig ausgesprochen ist.
Zum Schluß noch eine kurze anatomische Bemerkung, die als
Unterlage für die operative Technik dienen mag.
Ich halte auf Grund meiner zahlreichen präparatorischen Uebun gen
an Leichen folgenden Weg als den vorläufig gangbarsten: Freilegung
des Duralsackes durch Entfernung der Bögen des zweiten bis fünften
Lendenwirbels und des obersten Teils der Hinterwand des Sakral¬
kanals. Die Dura muß aber in einer Breite von mindestens 2 cm
freigelegt werden, Spaltung des Duralsackes genau in der Mitte von
oben nach unten zu. Die Cauda equina liegt nunmehr fast in
ihrer ganzen Ausdehnung zu Tage. Zum Zwecke der Orientierung
über die Nummern der Wurzeln empfehle ich folgendes Leit¬
moment. Das Austrittsloch der ersten Sakralwurzel an der Innen¬
fläche des Duralsackes liegt genau in der Höhe des Dornfortsatzes
des fünften Lendenwirbels, deshalb ist vor der Entfernung der
Wirbelbögen ein langer Nagel genau in der Höhe des genannten
Dornfortsatzes ca. 1 ^2 cm lateral von diesem in den Bogen des fünften
Lendenwirbels einzuschlagen. Der Nagel bleibt bis zu Ende
der Operation stehen. Zieht man in seiner Höhe die Dura an dem
Scbnittrande etwas an, so bekommt man gerade die Austrittsstelle
der ersten Sakralwurzel zu Gesicht. Von ihr ausgehend kann man
sich sehr leicht die weiter abwärts gelegene zweite Sacralis zu Ge¬
sicht bringen durcli Anziehen des Duralrandes etwas unterhalb des
Nagels, und ebenso weiter oberhalb die einzelnen Lendenwurzeln der
Reihe nach. Es kommt jetzt darauf an, die zu resezierenden Wurzeln
aus der Cauda zu isolieren. Man muß mit der untersten zu rese¬
zieren beginnen (zweiter Sacralis). Es geschieht dadurch, daß man
hart am Austrittsloch mit einem Schieihäkchen von medial her unter
die Wurzel geht, dieselbe auf lädt und nun vom Austrittsloch an
aufwärtsstreicht, um die arachnoidealen Verbindungen der Wurzel
mit der übrigen Cauda equina und mit der Dura möglichst hoch
hinauf zu lösen und dadurch die Wurzel gut zu isolieren. Ist dies
geschehen, gilt es von der so isolierten Hauptwurzel (vordere und
hintere) die hintere Wurzel abzusondern. Dies geschieht dadurch,
daß man die auf dem Schieihäkchen aufgeladene Hauptwurzel etwas
anspannt, wodurch sie sich flächenhaft auf dem Schieihäkchen auf-
Digitized by
Google
lieber eine neue operative Methode etc.
223
lagert; sie darf sich dabei nicht tordieren. Dabei sieht man
deutlich die Grenze zwischen einem breiteren lateralen Teil und
einem schmäleren medialen Teil; ersterer ist die hintere, letzterer
die vordere Wurzel, ersterer besteht seinerseits meist aus zwei Unter¬
faszikeln, letzterer manchmal auch. In den Spalt zwischen hinterer
und vorderer Wurzel dringt man mit einem zweiten Schieihäkchen
ein, lädt die hintere Wurzel auf dieses, isoliert sie ebenso wie vor¬
her die Hauptwurzel, und reseziert dann dieselbe in möglichst langer
Ausdehnung. Hat man auf diese Weise die zweite hintere Sacralis
reseziert, so geht man an die fünfte Lendenwurzel, mit der man
genau ebenso verfährt, und weiterhin an die dritte und zweite Lenden¬
wurzel. Alsdann nimmt man die Wurzeln der anderen Seite vor.
Digitized by LjOOQle
XV.
Zur Technik der Arthrodesenoperation*).
Von
Dr. Peter Bade-Hannover.
Als Albert im Jahre 1879 zuerst die Resektion zweier para¬
lytischer Kniegelenke beschrieb, um die Beine „durch knöcherne
Ankylose zu starren Stelzen“ zu machen (Wiener med. Presse 1879
Nr. 22, 23 und 24), bemerkte der Referent zu diesem Vorgehen:
„Hätte nicht ein Stützapparat dasselbe erreicht?“ Damals stand man
einerseits im Beginn der antiseptischen Li stersehen Wundbehand¬
lung — der Gedanke der Asepsis war noch nicht geboren —, es
mußte mithin immer als ein Wagnis gelten, ein an sich gesundes
Gelenk zu zerstören und erst durch Hinzufügen eines neuen patho¬
logischen Zustandes tragfähig zu gestalten, anderseits aber stand die
Kunst der maschinellen Orthopädie, besonders durch das Auftreten
Hessings in einem besonders guten Rufe, so daß die erwähnte
Bemerkung des Referenten gewiß ihre Berechtigung hatte.
Fast ein Menschenalter ist nun seit dieser Operation verflossen.
Jetzt erst, kann man sagen, hat die Arthrodesenoperation — diesen
Namen führte Albert ein — sich volle Daseinsberechtigung er¬
zwungen. Auf dem vorigen Orthopädenkongreß wurde von ver¬
schiedenen Seiten der Wert der Arthrodesenoperation für paralytische
Gelenke hervorgehoben. Selbst Vulpius, der Verfechter und meister¬
liche Ausgestalter der Sehnenplastiken, hat auf dem letzten Kongreß
der italienischen Orthopäden ein Loblied auf die Arthrodese ge¬
sungen. Da dürfte es wohl am Platze sein, über die Technik dieser
Operation eine Schilderung zu entwerfen. Ich werde dabei die von
anderen Autoren angegebenen Operationsmethoden nur kurz erwähnen
und mich ira wesentlichen auf eine Darstellung meiner eigenen
Technik beschränken.
b Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by C^ooQle
Zur Technik der Arthrodesenoperation.
225
Was zunächst die allgemeine Technik anlangt, so ist erstens die
wichtigste Forderung, absolut aseptischen Verlauf, die zweite genügende
knöcherne Vereinigung zu erreichen. Was die erste Forderung an-»
langt, so ist die Asepsis heutzutage so sehr Allgemeingut der Chi->
rurgen geworden, daß ich darüber keine besonderen Worte zu ver¬
lieren brauche.
Bei mir gestaltet sich die Vorbereitung des für die Arthrodese
in Betracht kommenden Gliedes folgendermaßen:
Zwei Tage vor der Operation bekommt der Patient ein Voll¬
bad. Einer besonders gründlichen Reinigung durch Wasser und
Seife wird das betreflPende Glied während des Bades unterzogen.
Dann bekommt das Glied einen feuchten Verband, der aus l®|o For¬
malin besteht. Soll z. B. das Kniegelenk operiert werden, so reicht
der Verband von den Malleolen bis zur Hüfte. Dieser Verband
wird am Tage vor der Operation entfernt; es haben sich dann
gewöhnlich durch die Feuchtigkeit Epidermisschuppen gelockert,
diese werden mit sterilen Läppchen und absolutem Alkohol fort-
gerieben. Es muß darauf geachtet werden, daß die Haut nicht ge¬
scheuert wird, sondern nur leicht abgerieben, damit sie keine Risse
bekommt. Danach erhält das Gelenk nochmals einen 1 ®/o igen Formalin¬
verband, der bis zur Operation am nächsten Morgen liegen bleibt;
Soweit die Vorbereitung des Patienten. Ich selbst und meine Assi¬
stenten üben die gewöhnliche gründliche, mechanische Reinigung
mit heißem Wasser und Seife, auf die ich den größten Wert lege.
Es folgt dann noch Reinigung mit Sublimat und Alkohol. Bei
Arthrodesenoperationen benutze ich keine Handschuhe, weil ich nicht
genötigt bin mit den Fingern an die Wunde zu kommen. Dagegen
wende ich Kopfhauben an, weil von dem Haupthaar und vom Munde
aus doch eine Infektionsgefahr ausgehen könnte.
Die zweite allgemeine Forderung, ,genügende knöcherne Ver¬
einigung**, ist ebenfalls deshalb aufzustellen, weil eine ungenügende
Konsolidation den Erfolg der Operation ganz in Frage stellt. Der
Ghrad der Konsolidation braucht nun aber, um die Operation erfolg¬
reich zu gestalten, für die verschiedenen Gelenke nicht der gleiche
zu sein. Die Konsolidation im Kniegelenk muß eine andere sein als
die im Fußgelenk, weil eine nicht ganz feste Verwachsung der
Knochenenden im Kniegelenk allmählich eine Beugestellung herbei¬
führt, die schließlich so hochgradig werden kann, daß die Operation
keinen Nutzen geschaffen hat. Die Arthrodese des Fußgelenkes hin-
Zeit6chrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 25
Digitized by
Google
226
Peter Bade.
gegen kann gerne einen leichten Grad der Lockerung behalten, weil
der Gang durch eine gewisse Federung des Fußgelenkes sich besser
gestaltet, als durch absolute Sturheit des Gelenkes. Am Schulter¬
gelenk hinwieder muß man eine größere Festigkeit anstreben als am
Hüftgelenk, weil der Humeruskopf mit dem Schulterblatt eine mög¬
lichst starre, einheitliche Masse bilden muß, wenn die Schulterblatt¬
muskulatur durch ihren Angriff auf das Schulterblatt auch den Arm
heben soll. Ist die Verbindung zu locker, so überträgt sich die
Bewegung des Schulterblattes nicht genügend auf den Arm. Da¬
gegen braucht die Festigkeit im Hüftgelenk keine absolute zu sein,
weil der Kopf, wenn es sich nicht um paralytische Luxation
bandelt —, bei Belastung immerhin einen guten Halt am Pfannen¬
dach findet und ein Einknicken im Hüftgelenk nicht so zu fürchten
ist, wie im Kniegelenk. Aus diesen allgemeinen Bemerkungen mögen
Sie ersehen, daß die Arthrodesenoperation bezüglich des Grades der
Ankylosierung für die einzelnen Gelenke nicht gleichmäßig sein muß,
und daß sich demgemäß auch die Technik für die einzelnen Gelenke
nicht ganz gleich gestaltet.
Am häufigsten kommt man in die Lage, an der unteren [Ex¬
tremität Arthrodesen zu machen. Und zwar hier wieder zunächst
am Kniegelenk, annähernd ebenso häufig am Fußgelenk, sehr viel
seltener am Hüftgelenk. An der oberen Extremität ist das Schulter¬
gelenk dasjenige Gelenk, das am häufigsten ankylosiert wird, dann
der Ellbogen und zuletzt das Handgelenk.
Untere und obere Extremität der Häufigkeit nach nebenein¬
andergestellt, ergibt folgendes Schema:
1. Kniegelenk,
2. Fußgelenk,
3. Schultergelenk,
4. Hüftgelenk,
5. Ellbogengelenk,
6. Handgelenk.
Die Arthrodese des Kniegelenkes ist verschiedenartig ausgeführt
worden. Albert resezierte einfach die Gelenkenden, Helfe rieh
empfahl ebenfalls die bogenförmige Resektion, setzte aber, um eine
sichere knöcherne Verwachsung zu erzielen, dem bogenförmigen
Sägeschnitt noch einige senkrecht zu ihm stehende Kreuzschnitte
hinzu.
Um eine exakte Knochenvereinigung zu bekommen, hat man
Digitized by L^ooQle
Zar Technik der Arthrodesenoperation.
227
mit Silberdraht genäht, oder man hai, wie Hahn angegeben, ver¬
nickelte Nägel oder, wieKarewski, Elfenbeinstifte eingeschlagen.
Man hat zu diesen Mitteln gegriffen, weil man glaubte, dadurch
eine bessere Festigkeit erreichen zu können.
Meiner Ansicht nach hat das Einnageln zwei Nachteile. Ein¬
mal ist die Enochensubstanz gelähmter Knochen oft butterweich
und die Nägel finden, wenn sie nicht sehr lang sind und bis in die
Diaphysen beider Knochen hineinragen, keinen genügenden Halt.
Hoffa gibt sogar an, man dürfe mit den Nägeln nicht sparsam
sein! Auf jeden Fall werden ein oder mehrere Fremdkörper dem
Knochen ein verleibt, was natürlich nicht gleichgültig für den Or¬
ganismus ist. Wenn auch Silberdraht und Elfenbeinstift einheilen,
so ist doch oft genug ein Ausstößen dieser Fremdkörper beobachtet
worden. Hahn gibt an, daß die vernickelten Nägel nach 5 Wochen
herausgenommen werden müssen. Dann müssen also wieder Eon*
tentivverbände gemacht werden. Durch die Einfügung der Fremd¬
körper tritt also sicherlich keine Vereinfachung des Verfahrens ein
und ob die Konsolidation dadurch eine bessere wird, ist immerhin
noch fraglich. Jedenfalls wäre die Anwendung dieser umständ¬
lichen Methode nur dann gerechtfertigt, wenn es auf andere Weise
durchaus nicht gelingt, die genügende Festigkeit zu erreichen.
Die Tatsache vollkommener Ankylose nach aus^ebiger Re¬
sektion durch bogenförmige Absägung des unteren Femur- und des
oberen Tibiaendes bei tuberkulöser Gonitis ist aber lange genug
bekannt, um auch den Schluß zu gestatten, daß die einfache Resek¬
tion der Knochenenden bei dem spinal gelähmten Knie zu einer
vollkommenen Ankylose führen kann. Allerdings hat diese Art der
Arthrodesierung für das Schlottergelenk den einen Nachteil, daß
doch immerhin von beiden Knochen etwas Substanz entfernt wird
und die Verkürzung, welche die Extremität schließlich erfährt, doch
mindestens größer ist, als wenn nur der Knorpel entfernt wird. Oft
ist bei der spinalen Kinderlähmung das gelähmte Bein an sich schon
um einige Zentimeter kürzer als das andere. Deshalb sollte
man jede künstliche Vermehrung der Verkürzung mög¬
lich st zu vermeiden suchen und möglichst haushälterisch
mit dem Knochenmaterial umgehen. Aus dem Grunde
habe ich von der bogenförmigen typischen Resektion
abgesehen und auch bei der Arthro desierung des Knie¬
gelenkes mich auf die einfache Knorpelabschälung
Digitized by
Google
328
Peter Bade«
beschränkt« Diese führe ich mit einem scharfen^ kräftigen Re-*
Sektionsmesser aus« Bisweilen, wenn der Knorpel sehr fest mit dem
darunter liegenden Knochen verwachsen ist, benutze ich, um die
letzten Knorpelinselchea ganz zu entfernen, ein hakenförmiges In-*
strumept oder einen scharfen Löffel«
Es gestaltet sich demnach bei mir die Arthrodese des Knie¬
gelenkes folgendermaßen: Der Operateur steht an der Außenseite
des Knies, das Knie liegt in leichter Beugestellung. Der Gelenk¬
spalt wird vor der Eröffnung abgetastet. Ein vorderer Bogenschnitt
(nach Textor), welcher vom inneren Kniegelenkspalt zum äußeren
geht, durch schneidet an seiner Vorderseite oberhalb der Spina tibiae
das Ligamentum proprium und dringt möglichst sofort auf den
Knochen. Die Ligamenta lateralia werden durchschnitten. Jetzt
wird das Knie in rechtwinklige Beugestellung gebracht, so daß die
Fußsohle den Tisch berührt« Dann, werden die Lig« cruciata durch¬
schnitten, das Knie in noch stärkere Flexion gebracht. Jetzt liegt,
wenn man die Patella nach dem Oberschenkel zurückklappt, das
ganze Gelenk frei.
Nun werden zunächst der äußere und innere Fibrocartilago
interarticularis mit der Schere fortgeschnitten und dann beginnt die
Knorpelabschälung. Das Messer dringt bis auf den Knochen und
schneidet in einigen flachen Zügen den Knorpel bis auf die Oberfläche
fort. Man nimmt systematisch die einzelnen Kondylen des Oberschenkels
vor, an der Außenseite des Cond. ext. beginnend, diesen erst ganz von
Knorpel ablösend, dann den internus, dann die Fossa poplitea. Es resul¬
tiert dann die vollständige Form des unteren Endes vom Oberschenkel¬
knochen, der überall rauhe Oberfläche zeigt. Ebenso wird das obere Ende
der Tibia abgeschält. Die Eminentia intercondylica sind meist, wenig¬
stens bei Kindern, noch vollkommen knorpelig und verschwinden ganz.
Die Tibiafläche hat in der Mitte meist eine kleine, wenige Milli¬
meter betragende Erhöhung, seitlich davon eine leichte Vertiefung,
und die Ränder der Tibia sind wieder leicht erhöht. Zum Schluß
wird noch die Gelenkfläche der Patella abgeschält. Bei kleineren
Kindern bleibt oft nichts von der Patella übrig, bei Erwachsenen
aber wird die rauhe Patellafläche zwischen die Kondylen gelegt, das
Ligament an die Spina tibiae. Unter- und Oberschenkel in Völlige
Streckstellung gebracht und jetzt, nachdem nichts am Knochen,
nichts an der Kapsel, nichts an den Ligamenten genäht ist, sondern
nur frische Wundflächen aneinander liegen, die Haut durch Silknaht
Digitized by
Google
Zur Technik der Arthrodesenoperation.
229
vollständig vereinigt* Daun wird ein steriler Kompressionsverband
angelegt; jetzt erst der Esmarchsehe Schlauch entfernt und sofort
ein Beckengipsverband, von den Zehen angefangen, angelegt.
Es erfolgt stets aseptische Heilung. Die Silkfäden bleiben
4—6 Wochen liegen. Dann werden sie und der ganze Verband
entfernt, und es folgt ein Oberschenkelverband, der das Becken frei
läßt, aber den Fuß einschließt. Dieser Verband wird ohne Polsterung
direkt auf die mit einer Mullbinde umwickelte Haut gelegt und muß
ganz exakt dem Glied anliegen. Er wird möglichst dünn gemacht,
damit er nicht zu schwer ist und das Gehen ermöglicht» Von der
4.—6. Woche an lasse ich mit diesem Gips verband gehen. Der
Verband bleibt mindestens noch 3 Monate liegen. In der Regel
lasse ich Jahr ganzen im Verband gehen, denn der Erfolg
der Arthrodese hängt von einer vollständigen Ankylosierung ab,
diese tritt aber bei den gelähmten Extremitäten entschieden viel später
ein, als sonst bei Knochenbrüchen. Nimmt man den Verband zu früh
ab, ‘etwa schon nach 8 Wochen, so ist der Gallus noch zu weich und
es tritt unfehlbar Flexionsstellung ein. Diese muß aber auf jeden
Fall vermieden werden.
Die Arthrodese des Fußgelenkes braucht nicht absolute Ankylose
anzustreben. Sie muß im Gegenteil eine geringe Beweglichkeit zu¬
lassen, weil der Gang dann ein besserer, elastischerer ist. Diese
Beweglichkeit darf aber nicht so hochgradig sein, daß der Fuß aus
der rechtwinkligen Stellung in die Spitzfußstellung zurückfällt. Die
Beweglichkeit darf nur gering sein, nur etwa 20 Grad betragen.
Es fällt deshalb am Fußgelenk von vornherein jede Knochennaht
fort, und es wird nur die Knorpelabschälung geübt. Ein Assistent
fixiert den Unterschenkel, ein zweiter drückt den Fuß etwas in Spitz¬
fußstellung. Ich habe mir MalleoL ext. und internus markiert und
führe einen queren Verbindungsschnitt an der Vorderseite des Ge¬
lenkes zwischen beiden Knöcheln herbei. Der Schnitt durchtrennt
die Haut, das Ligament, capsulare, die Sehnen vom Extensor digit.
communis, vom Tibialis anticus und vom Extensor hallucis. Die
Arteria dorsalis pedis wird geschont und durch einen flachen Haken
nach der Außenseite gedrängt. Dann werden, indem der Fuß immer
mehr in Spitzfußstellung gedrängt wird, die Lig. fibulare calcaneum,
dieLig. fibula tali anterior, Lig. tibia fibulare ant. und das Lig. laterale
int durchtrennt, dann das Fußgelenk luxiert, sodaß die Knorpel¬
fläche des Talus und die Gabel zwischen Malleol. externus und in*-
Digitized by L^ooQle
230
Peter Bade.
ternus freiliegt. Die Gelenkfläche des Talus wird vollständig vom
Knorpel befreit, die äußere und innere Fläche gut abgeschält, und
der Enorpelüberzug von Malleolus internus fortgenommen. Die Spitze
des Malleolus externus lasse ich gewöhnlich unberührt, namentlich
bei Kindern, weil sie ganz knorpelig ist und man sie überhaupt^
um den Knochen wund zu machen, ganz fortnehmen müßte. Ich
begnüge mich gewöhnlich damit, eine dünne Knorpellage abzuträgen»
In der Gabel selbst lasse ich gewöhnlich kleine Knorpelinseln stehen,
um nicht vollständige Ankylose zu bekommen. Ist die Knorpelab-
Schälung in genügendem Maße ausgeführt, so wird der Fuß in recht¬
winklige Beugung gebracht, die Knochenwundflächen gut aneinander
gedrückt und dann die Haut genäht. Auf die Naht der durch¬
schnittenen Sehnen, auf die Naht der Kapsel wird verzichtet. Dio
Sehnen kontrahieren sich nicht, weil keine kontraktile Substanz in
den Muskeln mehr ist. Da sie vorher infolge der Spitzfußstellungp
verlängert waren, kommen die Stümpfe jetzt, bei der rechtwinkligen
Stellung des Fußes, über oder nebeneinander zu liegen. Sie ver¬
wachsen gewöhnlich miteinander, was man bisweilen, wenn noch eino
Spur Bewegungskraft in den Muskeln gewesen ist, daran sehen kann^
daß die Sehnen, wenn sie in verkürzter rechtwinkliger Stellung ver¬
wachsen sind, nach der Arthrodesierung leicht Sehnenbewegungen
ermöglichen. Eine Naht der Weichteile, auch die von Vulpius an¬
gewandte Fasciodese oder Tenodese habe ich niemals für notwendig
gefunden. Man kann durch einfache Knochenanfrischung vollständige
Ankylosierung erreichen, das ist aber durch keine Kapselplastik^
keine Fasciennaht möglich. Da wir aber für das Fußgelenk absolute
Ankylose garnicht einmal für wünschenswert halten, so lassen wir
die Ankylosierung einfach nicht so vollständig werden, verzichten aber
auf Methoden, die von vornherein keine knöcherne Ankylose zulassen
können. Der Gallus ist das beste Fixationsmittel für schlotternde Ge¬
lenke, ihn kann keine Kapsel, Sehnen, Fasciennaht ersetzen.
Die Hautnaht mit Silk. Gipsverband bis über das Knie.
Entfernung der Fäden nach 4 Wochen. Mindestens acht
Wochen Gehen mit Gipsverband. Dann Hülse für die Nacht, welche
die rechtwinklige Stellung des Fußes wahrt.
Die Arthrodesen des Knie- und Hüftgelenkes sind die bei
weitem häufigsten, deshalb habe ich ihre Technik besonders aus¬
einandergesetzt. Bei den übrigen Gelenken werde ich mich nur
auf allgemeine Punkte beschränken.
Digitized by
Google
Zur Technik der Arthrodesenoperation.
231
Was zunächst das Schultergelenk anlangt, das bezüglich der
Häufigkeit der Arthrodesierung an dritter Stelle steht, so hat be¬
sonders Vulpius die Operation empfohlen und des öfteren ausgeführt.
Vulpius empfiehlt besonders die Naht der Knochen mittels zwei
Silberdrahtfäden. Ich glaube, daß beim Schultergelenk die Knochen¬
naht zu empfehlen ist, einmal, weil wir beim Schultergelenk durch
funktionelle Belastung, wie bei der unteren Extremität, eine Ver¬
stärkung der Konsolidation nicht erreichen können und weil vielleicht
•die Schwere des Armes nach der Verbandabnahme distrahierend auf
die Oelenkenden wirkt. Diese Distraktion kann zweckmäßig durch
Silberdrahtnaht ausgeglichen werden, oder aber man ist gezwungen
recht lange Zeit (4—6 Monate) einen festen Verband und fast eben¬
solange eine Nachbehandlungshülse für das Schultergelenk tragen
zu lassen. Ich habe mit der einfachen Resektion des Schulterge¬
lenkes in wenigen Fällen aber auch gute Resultate gehabt, ohne der
Knochennaht zu bedürfen, glaube jedoch, daß sie die Verbandperiode
um einige Monate abkürzen kann.
Die Eröffnung des Gelenkes erfolgt wie bei der Schultergelenk¬
resektion in typischer Weise durch den vorderen Längsschnitt. Das
Messer wird durch das Lig. coraco-acromiale gestochen bis auf den
Knochen und nun durch den sehnigen, oft papierdünnen Deltoides-
fnuskel bis zu seinem Ansatz entlang geführt. Dann wird stark
«dduziert, um die Gelenkkapsel, welche meist sehr weit ist, etwas
zu spannen, zwei Schnitte schlitzen den Sulcus intertubercularis ein,
<ler Gelenkkopf wird luxiert, der Knorpel abgeschält, die Pfanne mit
•einem scharfen Löffel ihres Knorpels beraubt. Dann der Kopf durch
Abduktion von etwa 45 Grad der Pfanne möglichst genähert. Die
Kapsel vernäht und die Hautnaht gemacht. Oder nach Vulpius
Torher zwei Drähte durch Kopf und Proc. acromialis gelegt. Ver¬
band 2—4 Monate.
Das Hüftgelenk bedarf der Drahtnaht nicht. Die Arthrodese
des Hüftgelenkes ist überhaupt sehr selten auszuführen. Ich habe
trotz hochgradigster Lähmung erst ein einziges Mal sie ausführen
müssen bei einem Jungen, bei dem doppelseitige Glutaeenlähmung
war, bei dem ich außerdem zwei Fußgelenksarthrodesen, eine Knie¬
arthrodese, einen Quadrizepsersatz machen mußte. Das Kind geht
jetzt an zwei Stöcken.
In der Regel ist nämlich bei den schwersten spinalen Lähmungen
der unteren Extremitäten ein Hüftmuskel und die kleinen Zehen-
Digitized by L^ooQle
23ä Peter Bade. Zur Technik der Arthrodeaenoperation.
beuger erhalten. Wenn auch nicht die Spur von Muskulatur vorhanden
isty so findet mftn doch fast immer einen Tensor fasciae latae. Das
Kind ist dann im stände, mit diesem sein Bein vorwärts zu schleudern.
Selbst wenn dieser Muskel fehlt, aber an der andern Seite ein
Gllutaeus ist und der Tensor fasciae latae, so kann das Kind — ich
beobachte gerade z. Z. einen solchen Fall — durch Rumpfdrehung
das Bein vorwärts schleudern. Die Arthrodesierung ist nur dann
nötig, wenn beim Stehen der gelähmte Oberschenkel in starke
Abduktionsstellung hinein geknickt wird und das Kind keinen festen
Halt infolge dieses Abrutschens findet. Zur Eröffnung des Gelenkes
bringt man das Bein in starke Adduktion und Innenrotation, so daß
man durch die dünne Muskulatur den Trochanter, den Hals und die
Peripherie des Kopfes durchfühlen kann. Jetzt macht man einen
bogenförmigen Schnitt — älterer, äußerer Bogenschnitt — über
Kopf, Hals und Trochanter, der direkt auf den Knochen geht. Die
Wundränder werden auseinander gezogen, der Kopf luxiert, sein
Knorpel abgeschält, dann die Pfanne mit dem Hof faschen Löffel
ebenfalls möglichst vom Knorpel befreit.
Keine Drahtnaht, keine Kapselnaht, sondern tiefgehende Haut¬
naht. 2 Monate Beckengips verband, dann kein Verband, sondern
Versuche zu gehen. Da aber meist in der Zwischenzeit an anderen
Gelenken auch noch Operationen gemacht worden sind, dauert es
oft ein halbes bis fünfviertel Jahre, bis ein solches Kind an den
Gehbock kommt.
lieber die Arthrodesierung der Hand- und Ellbogengelenke,
die wegen spinaler Lähmung sehr selten sind, gilt die allgemeine
Technik der Resektionen, die nur insofern modifiziert zu werden
braucht, als man keine Kapselexzisionen nötig hat und nur gesunden
Knorpel zu entfernen braucht.
Auch hier muß die Verbanddauer sehr lang bemessen werden,
beim Handgelenk etwa 8 Wochen, beim Ellbogengelenk 3 Monate.
Digitized by L^ooQle
XVL
Der orthopädische Operationstisch im hannoverschen
Krüppelheim Anna-Stift*).
Von
Dr. Peter Bade- Hannover.
Mit 14 Abbildungen.
Der neue orthopädische Operationstisch, welchen Sie hier vor
sich sehen, ist entstanden aus dem Heusner-Eng eis sehen Re¬
dressionstisch. Die Form ist im großen ganzen dieselbe wie bei
dem ursprünglichen alten Modell, d. h. der Tisch ruht auf einem
soliden Untergestell aus Gasrohren, die eine Höhe von etwa 97 cm
bei dem alten Modell haben. Dadurch nun, daß ich den Unterbau
des Tisches, dessen Breite beim alten Modell etwa 60 cm beträgt,
um ca. 20 cm verbreitert habe, ist der Tisch im ganzen auf eine solidere
Unterlage gesetzt worden, und zweitens ist die Höhe des Tisches
um etwa 8 cm verringert worden. Dies hat namentlich für die Be¬
handlung der angeborenen Hüftverrenkung einen Vorteil, weil man
auf dem etwas niedrigeren Tische mit größerer Kraftentwicklung
arbeiten kann, als wenn der Tisch so hoch ist, wie der ursprüng¬
liche Heusnersche. Die Verbreiterung des Unterbaues und die
Verringerung der Höhe habe ich einfach erreicht dadurch, daß ich
die Kröpfung, welche in der Mitte der vier Füße des Tisches sitzt,
bedeutend vermehrt habe. Sie bildet an meinem Tische einen voll¬
ständig rechten Winkel, während sie beim Heusnerschen Tisch
eine leicht geschwungene Linie darstellt. Durch diese rechtwinklige
Kröpfung der Füße ist der Vorteil erzielt worden, daß der Operateur
seinen Fuß fest gegen die Kröpfung stemmen kann und damit einen
festen Widerhalt des Fußes zum sicheren Arbeiten gewinnt, ein Vor¬
teil, welcher beim orthopädischen Arbeiten, das oft mit großer Kraft-
*) Demonstriert auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für
orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by L^ooQle
234
Peter Bade.
entwicklung Tor sich gehen muß, nicht zu unterschätzen ist. Auch
Heusner hat diesen Wert des festen Stützpunktes für den Fuß er¬
kannt und an seinem Tisch an den Vorderfüßen zwei kurze Quer¬
leisten angebracht, gegen welche die Füße angestemmt werden
können. Diese kommen durch meine Anordnung in Wegfall und
stören infolgedessen nicht mehr die Einfachheit der Konstruktion.
Beim Heusnerschen Tisch ruht auf dem Unterbau ein System
von zurückklappbaren Tischplatten, das auf zwei Querstäben, welche
von den beiden Vorderfüßen zu den Hinterfüßen des Tisches ziehen,
hin und her gleitet. Auch dieses System der Platten ist an meinem
Tische geblieben, doch hat es verschiedene Aenderungen erfahren:
1. sind die Platten an meinem Tisch sämtlich fortnehmbar,
was bei dem Heusnerschen Gestell nicht der Fall ist. Beim
Heusnerschen Gestell sind die Stäbe, auf denen die Platten gleiten,
rund; die Füße der Platten mit einem geschlossenen Rohr versehen,
welches auf den Querstäben gleitet; eine Flügelschraube stellt die
Platten fest. Bei meinem Tisch hingegen ist der Querstab, auf dem
die Platten gleiten, viereckig und an den Seiten mit einer Aus¬
sparung versehen. Die Füße der Platten, welche in dieser Aus¬
sparung hin und her gleiten, sind nicht vollständig geschlossene Röhren,
sondern, entsprechend dem viereckigen Gleitstabe, Vierecke, deren
unterer Boden entfernt ist, so daß also eine ganze Tischplatte mit
ihrem Fuße aus dem Tisch entfernt werden kann. Dies ist nicht
nur ein Vorteil, der bei der Reinigung des Tisches sehr wichtig ist,
sondern der auch bei manchen Rumpfverbänden, die auf dem Tisch
gemacht werden können, sehr in die Wagschale fällt.
Eine zweite wesentliche Aenderung haben die Tischplatten
selbst erfahren. Die Anzahl ist zwar dieselbe geblieben wie beim
Heusnerschen Tisch, d. h. wir haben an der vorderen Abteilung
des Tisches fünf Platten und an der hinteren Abteilung des Tisches
ebenfalls fünf Platten. Während nun die Platten am Heusner¬
schen Tisch vollständig solide gearbeitet sind, habe ich an meinem
Tisch die Platten durch ein System von Schlitzen durchbrechen
lassen. Die Schlitze sind so angeordnet, daß sie doch nicht die
Solidität der einzelnen Platten gefährden. Durch dieses System von
Schlitzen will ich in der Lage sein, Zugwirkungen nach den ver¬
schiedensten Richtungen von der Oberfläche des Tisches aus aus¬
üben zu können. Die letzte und vorletzte Platte des Tisches be¬
sitzen außerdem noch eine kreisförmige Aussparung für den Kopf.
Digitized by
Google
Der orthopädische Operationstisch etc.
235
Endlich sind die vorderen Platten mit zwei Griflfen versehen, welche
durch ein Kugelgelenk zurtickgeklappt werden können und in nicht
benutzbarem Zustande senkrecht zur Tischoberfläche nach unten, dem
Boden des Zimmers zu schauen und durch ihre Lage dann in keiner
Weise stören. Zur Anbringung dieser Griffe an den vorderen Enden
der Tische wurde ich veranlaßt durch den Schulze-Duisburg-
schen Elumpfußosteoklasten. Dadurch, daß diese Griffe an meinem
Tisch angebracht sind, ist ein forciertes Redressement des Klump¬
fußes, wie Schulze es übt, auch an meinem Tische ermöglicht.
Da nun aber beim Heusnerschen Tisch die vorderen Tischplatten,
an denen ich meine Griffe angebracht habe, nur bis zu 90sich
zurückklappen lassen, so mußte ich an meinem Tisch auch die
Scharniere an den vorderen Tischplatten ändern. Sie mußten so an¬
gelegt werden, daß ich die vordere Tischplatte nicht bloß bis 90^
sondern bis 180® herumklappen kann; nur auf diese Weise ist eine
volle Entfaltung der Kraft für das Klumpfußredressement möglich.
Soviel über das Hauptgestell und die Hauptplatten des Tisches.
Beim Heusnerschen Tisch sind an den Vorderftißen noch
zwei Vorrichtungen angebracht für die forcierte Extension, ferner
ein BeckenbügeL Die Extensionsvorrichtungen, welche Extensionen
nach vorn, nach oben, nach der Seite zulassen, habe ich unverändert
übernommen, dagegen habe ich den Beckenbügel geändert. Der
Heusn er sehe Beckenbügel war ein aufrecht ziehender Stab, welcher
eine Sitzvorrichtung für das Steiß- und Kreuzbein besaß. Dadurch,
daß die Sitzfläche senkrecht an dem Befestigungsstab ansaß, war es
nicht möglich, einen Beckengipsverband exakt anzulegen, weil immer
die unterhalb des Sitzes befindliche Stange hinderlich war. Ich habe
diesen Nachteil zu vermeiden gesucht dadurch, daß ich die Stange
unterhalb des Sitzes wegfallen ließ und den Sitz nur an der oberen
Stange befestigte. Es ist dadurch das ungehinderte Arbeiten an
dem Becken des Kindes ermöglicht. Die Befestigung der Stangen,
welche diese Beckenschwebe trägt, geschieht durch einen Metall¬
zapfen, welcher mittels einer Flügelschraube befestigt wird. Dieser
Metallzapfen ist durch einen halbkreisförmigen Metallbügel mit der
Beckenschwebe verbunden. Die Beckenschwebe selbst habe ich für
fünf Größen hersteilen lassen, welche mit Leichtigkeit ausgewechselt
werden können.
Am hinteren Ende des Tisches hat Heusner eine Kontra-
extensionsvorrichtung angebracht, welche eine Extension nach einer
Digitized by L^ooQle
236
Peter Bade.
Richtung hin ermöglicht durch eine Eurbelvorrichtung. Ich habe
diese Extensionsvorrichtung in folgender Weise verändert, um eine
Extension nach verschiedenen Richtungen hin zu erreichen. An den
beiden oberen Enden der Hinterfüße des Tisches befinden sich zwei
Platten mit einem Schlitz. Durch diese Schlitzvorrichtung kann ich
den Rahmen, welcher die hintere Extensionsvorrichtung trägt, von
seiner Horizontalstellung in die Vertikalebene überführen, ich kann
also die Extensionsvorrichtung am Kopf um 90 ® variieren* Flügel¬
schrauben stellen an beiden Seiten die gewünschte Richtung der Ex-»
tension fest. Diese Verschieblichkeit der Kopfextension ist sehr
wichtig beim Anlegen von Rumpfgipsverbänden, bei der Herstellung
von Reklinationgipsbetten.
Um nun auch eine Extension nach hinten und unten zu er¬
möglichen, was der Heusnersche Tisch nicht zuläßt, habe ich an
beiden Seiten des Tisches, zwischen dem Yorder- und dem Hinter¬
fuß, dort, wo die rechtwinklige Kröpfung der Füße liegt, je eine
Extensionsvorrichtung angebracht. Eine Schnecke, welche durch eine
Feder arretiert wird, ist mit einer Walze in Verbindung gebracht,
die an den Hinterfüßen mit einer Drehvorrichtung versehen endet.
Die Walze selbst ist mit verschiedenen Zapfen besetzt, an welche
Flanellbindenenden befestigt werden können oder Matratzengurte, die
an ihrem Ende mit einem Ring versehen sind, hineingehakt werden
können* Dreht man die Kurbel, so werden sich die Bindenenden um die
Walze herumschlingen, und es kann durch die Drehung und durch
verschiedenartige Befestigung der Züge hinten oder in der Mitte ein
in verschiedener Richtung nach unten gehender Zug angewandt wer¬
den. Dadurch, daß die Tischplatten Schlitze haben, ist es möglich,
die Züge von der Tischplatte aus nach abwärts in jeder beliebigen
Richtung wirken zu lassen.
Was endlich die Art der Züge anlangt, so benutze ich für die
Fußextension einfache Baumwollquelen, für die Extension nach dem
Kopf die übliche Kopfschlinge, welche in Verbindung gesetzt ist mit
breiten festen Gurten, für die Extension nach unten kräftigen Trikot¬
schlauch oder kräftige Flanellbinden, je nach der Stärke des Körper¬
teils, auf den ein Zug ausgeübt werden soll.
Die mannigfache Anwendungsweise des Operationstisches mögen
Ihnen folgende Bilder und Beschreibungen demonstrieren:
1. Der Tisch dientzur Vornahme von Rumpfgips verbänden (Fig.l).
Soll ein Rumpfverband in vertikaler Extension angelegt wer^
Digitized by LjOOQle
Der orthopädisbhe Operationstisch etc.
237
den, so wird eine Glissönsche Kopfschwebe in die beiden Karabiner
der vorderen Extensionsvorrichtungen gehängt. Die beiden vorderen
Extensionsvorrichtungen werden nach Lösen der Flügelschrauben so
gestellt, daß man das Kind bequem in die senkrecht herabhängende
Schwebe hineinstellen kann. Die Extension geschieht nun einfach
durch Andrehen der beiden Kurbeln. Der Arzt sitzt auf einem
Fig. 1.
Stuhl hinter dem Patienten und kann nun den Verband, ohne sich
bücken zu müssen, anlegen. Auf diese Weise ist es möglich, Modelle
vom Rumpf zu nehmen für abnehmbare Korsette und auch fest¬
anliegende Rumpfverbände zu machen. Soll der Kopf mit in den
Verband genommen werden, so benutzt man anstatt der Glisson-
schen Schwebe einen Wattemull verband, indem man den Hals und
den Kopf einwickelt, und läßt die Enden der Binden, je zwei von
beiden Seiten, an den Karabinern endigen. Die Mullbindenenden
werden dann, wenn der Verband fertig ist, einfach abgeschnitten«
Digitized by L^ooQle
238
Peter Bade.
Der Verband, in dieser Weise angelegt, eignet sich zu Modellver¬
binden bei Spondylitis cervicalis und dorsalis, wenn in der Nach¬
behandlungsperiode ein Portativapparat mit einer Kopfstützvor¬
richtung versehen verordnet wird. Er eignet sich auch zur
Anlegung von Verbänden beim Schief hals, und zwar bevorzuge
ich ihn hierbei sehr, weil man durch stärkere Extension an
Fig. 2.
der einen Seite, stärkeres Andrehen der einen Kurbel mit Leichtig¬
keit eine Ueberkorrektur der Zervikalskoliose erreichen kann. Das
ist bei den gewöhnlichen Extensionsvorrichtungen nicht möglich;
insofern eignet sich der Tisch sehr gut zur Nachbehandlung des
Schiefhalses.
(Fig. 2, 3 und 4.) Soll der Tisch für Rumpfgipsverbände in
horizontaler Richtung angewandt werden, so wird der Patient auf
den Tisch gelegt, er hält sich mit seinen Händen am Kopfbrett fest
und man kann einfach nach Herunterklappen der Platten den Ver¬
band anlegen. Wenn eine starke Reklination dabei gewünscht wird,
wie es z. B. bei der Spondylitis dorsalis nötig ist, dann kann man
Digitized by L^ooQle
Der orthopädische OperatioDstisch etc.
239
Fig. 3.
den Kopf mit einer Extensionsschlinge versebent die Enden der Ex¬
tensionsschlinge werden an die Zapfen der hinteren Extensionskurbel
befestigt, die Flügelmuttern an den beiden seitlichen Schlitzvorrich-»
Digitized by L^ooQle
24Q
Pet^r Bade.
lieh entsprechend der Extension stärker anspannt und das Hinunter¬
sinken des Kindes verhindert, ist eine möglichst angenehme Lagerung
gesichert. An beiden Füßen sind Baumwollquelen angelegt, welche
die Eontraextension besorgen. Es läßt sich auf diesem Tisch in der
angegebenen Weise ein forciertes Redressement der Skoliose ermög¬
lichen, ähnlich wie es im Wul Ist ein sehen Rahmen möglich ist, nur
mit dem Unterschied, daß beim Wullsteinschen Rahmen die Kinder
das vertikale Redressement aushalten müssen, während hier ein hori¬
zontales Redressement ausgeführt wird. Daß die Redression in hori¬
zontaler Richtung 1« für die Kinder angenehmer und 2. für den Arzt
leichter ist, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung. Es frägt sich
nur, ob auch bei horizontalen Extensionen die Verschiebungen so
tungen werden gelöst und die hintere Extensionsvorrichtung in die
j(4^eigung gebracht, welche für die Verbandanlegung am zweck¬
mäßigsten ist. Dann wird die Extension so weit gesteigert, wie das
Kind es aushalten kann. Damit die Lage des Kindes nicht zu un¬
bequem ist, wird ein breiter Ourt an seinem einen Ende an den
Bügel der Beckensebwebe befestigt, er läuft unter dem Bauch und
der Brust des Kindes hinüber und ist ebenfalls oben an der Kopf¬
extensionskurbel befestigt. Durch diesen Gurt, welcher sich natür-
Fig. 5,
Digitized by L^ooQle
Der orthopädische Operationstisch etc.
241
ausgeglichen werden können, wie bei der vertikalen. Die Becken-
senkung kann jederzeit durch stärkeres Andrehen der Fußextension
an der einen Seite ermöglicht werden. Die Rotation des Beckens
kann dadurch beseitigt werden, daß man die eine Extensionsvorrich-
tung tiefer stellt als die andere; auf diese Weise läßt sich ebenso
wie im Wu 11s t ein sehen Apparat die Lendenskoliose beeinflussen.
Die zervikale Skoliose und der obere Teil der Dorsalskoliose läßt
sich durch kürzeres oder längeres Einhaken der Züge, welche die
¥ig. 6.
Glisson sehe Schwebe befestigen, an der einen oder anderen Seite
ermöglichen. Dadurch wird der Kopf schief gestellt, und infolge¬
dessen kann an der konkaven Seite, an welcher der Zug kürzer ge¬
wählt ist, ein stärkerer Zug ausgeübt werden. Die Torsion des
Rippenbuckels kann man in der Weise sehr gut beeinflussen, daß
man einen breiten Zug über den Rippenbuckel legt, diesen durch
einen Schlitz in der Tischplatte zur unteren Walze gehen läßt und
durch Drehung der Kurbel mittels des Zuges einen Druck auf den
Rippenbuckel ausübt. Befestigt man den Zug an derselben Seite, an
der der Rippenbuckel ist, so wird nur ein kräftiger Druck auf den
Rippenbuckel ausgeübt, läßt man ihn hingegen nach der entgegen¬
gesetzten Seite auf die Kurbel übertragen, so wird ein stärkerer
Zeitschrift fUr orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 10
Digitized by C^ooQle
242
Peter Bade.
Druck in diagonaler Richtung auf den ganzen Brustkorb ausgeübt
und dadurch auch eine Einwirkung auf die Torsion der Wirbelsäule
selbst ermöglicht. Es ist notwendig, daß man betreffs Anordnung
der Züge genau ausprobiert, in welcher Richtung die Züge am besten
wirken, durch welche Schlitze sie am besten hindurchzuführen sind
und an welcher Stelle der Extensionskurbel sie am besten zu be¬
festigen sind. Je länger man an dem Tische arbeitet, desto leichter
und sicherer wird man in der Handhabung der Züge werden.
Fig. 7.
Soll nur ein gewöhnliches Lagerungsbett für leichte Skoliosen
oder auch für Spondylitiker, zur Behandlung nach Fink, ange¬
fertigt werden, so sind selbstverständlich die Extensionsvorrichtungen
nicht nötig, das Kind liegt einfach auf dem Tisch wie auf jedem
anderen und man wickelt die Binden um den Teil des Rumpfes ab,
der in der Gipsschale liegen soll, wie es Fig. 4 zeigt, auf der die
Herstellung eines Skoliosengipsbettes angedeutet ist.
2. Der Tisch dient zum Redressement von Kontrakturen, nament¬
lich der unteren Extremitäten.
1. Die Beseitigung der Hüftkontraktur. Der Patient wird so
auf den Extensionstisch gelegt, daß er mit dem Kreuzbein auf der
Beckenschwebe liegt. Beide Beine werden mit den Baumwollquelen
in Verbindung gebracht; dasjenige Bein, welches in Kontraktur¬
stellung sich befindet, wird so hingelegt, wie es seiner ankylotischen
Digitized by L^ooQle
Der orthopädische Operationstisch etc.
243
Stellung entspricht. Man muß also darauf achten, daß die Lordose
der Lendenwirbelsäule ausgeglichen ist, der Rücken flach der Unter¬
lage anliegt. Durch einen breiten Gurt, welcher über beide Becken¬
schaufeln hinübergespannt ist und an jeder Seite durch die Schlitze
des Tisches zu den unteren Extensionskurbeln geleitet wird, wird
das Becken fest fixiert. Ein Gegenzug, welcher durch einen Gurt,
der um das Perineum gelegt ist, besorgt die weitere Fixation des
Beckens. Es wird nun zunächst das gesunde Bein so weit extendiert.
Fifi:. 8.
daß das Becken ganz gerade liegt, dann erfolgt Zug am Bein der
ankylosierten Seite, und zwar in der Richtung, in welcher der
Schenkel fixiert steht, wie es Fig. 5 zeigt. Aus dieser Richtung geht
man nun ganz allmählich durch Senken der Extensionsvorrichtung
über in die normale Stellung des Beines, wie es die folgende Figur
zeigt. Auch hier erfordert die Anbringung der Züge einige Uebung
und einiges Geschick.
2. Die Beseitigung der Kniekontraktur. Da wir es in der
Regel mit Flexionskontraktur im Kniegelenk zu tun ht^ben, so möge
als Beispiel von der Wirkung des Tisches eine Flexionskontraktur
gewählt sein. Das Kind wird nicht auf den Bügel der Becken¬
schwebe gelegt, sondern liegt auf dem Tische so, daß das Knie¬
gelenk ungefähr auf der mittleren Tischplatte des Vorgestelles ruht.
Die beiden Vorderklappen des Tisches sind dann niedergeschlagen.
Digitized by LjOOQle
244
Peter Bade.
Der Gegenzug führt wieder über das Perineum nach der Kopf¬
extension. Der Fuß der kranken Seite wird in die Quele der vor¬
deren Extensionsvorrichtung getan und diese so eingestellt, daß sie
die Verlängerung der Achse des Unterschenkels bildet (siehe Fig. 7).
In dieser Richtung wird ein Zug ausgeübt, ein zweiter Zug liegt
oberhalb des Kniegelenkes und führt durch die Schlitze der Tisch-
Fig. 9.
platten zu den unteren Extensionsquelen. Werden jetzt diese in
Drehung versetzt, so wird der Oberschenkel nach abwärts gedrückt
und dadurch die Beseitigung der üblichen Subluxationsstellung er¬
möglicht. Durch allmähliche gleichzeitige Anwendung beider Züge
und durch langsames Uebergehen der Extension des Beines aus der
diagonalen Richtung in die horizontale, ist die Streckung der Knie¬
kontraktur mit Leichtigkeit zu erreichen, wie Fig. 8 zeigt.
3. Redressement des Klumpfußes.
Die Behandlung des Klumpfußes läßt sich auf meinem Tische
ebenfalls ohne Zuhilfenahme anderer Osteoklasten bewerkstelligen.
Es ist dies ein Vorteil, den kein anderer orthopädischer Operations-
Digitized by C^ooQle
Der orthopädische Operationstisch etc.
245
tisch bietet; selbst Schulze-Duisburg sagt, daß er bei Anwendung
seines Verfahrens immer abhängig ist Ton dem Lorenz sehen Osteo¬
klasten, mit der er die Adduktionskontraktur des Fußes zunächst be¬
seitigen muß. An meinem Tische nun lassen sich alle Akte des
Redressements vom Klumpfuß vollziehen. Der Patient wird so auf
den Tisch gelegt, daß sein Haken über dem Gelenk zwischen vor-
Fig. 10.
derster und mittelster Tischklappe liegt. Durch Bindenzüge, welche
den Unterschenkel umgreifen und nach den Walzen der unteren Ex¬
tensionskurbeln gehen, wird der Unterschenkel zunächst in seiner
Lage ganz fest gehalten, dann wird eine Lasche um den Vorderfuß
gelegt und einerseits mit den Baumwollquelen der vorderen Exten¬
sionsvorrichtung versehen, anderseits mit zwei Zügen, welche eben¬
falls durch die Schlitze nach zwei Knöpfen an die Unterseite der
Tischplatte gehen, wo sie befestigt werden. Durch diese Befestigung
der Laschen soll erreicht werden, daß die Lasche beim Extendieren
nicht über den Vorderfuß abrutscht. Es werden jetzt, wenn der
Fuß so armiert ist, die Extensionsvorrichtung seitlich gestellt und
einige kräftige Extensionen ausgeführt. Der Arzt hilft gleichzeitig
mit der Hand nach und versucht die Adduktionskontraktur zu lösen.
Digitized by L^ooQle
226
Peter Bade.
gegen kann gerne einen leichten Grad der Lockerung behalten, weil
der Gang durch eine gewisse Federung des Fußgelenkes sich besser
gestaltet, als durch absolute Sturheit des Gelenkes. Am Schulter¬
gelenk hinwieder muß man eine größere Festigkeit anstreben als am
Hüftgelenk, weil der Humeruskopf mit dem Schulterblatt eine mög¬
lichst starre, einheitliche Masse bilden muß, wenn die Schulterblatt¬
muskulatur durch ihren Angriff auf das Schulterblatt auch den Arm
heben soll. Ist die Verbindung zu locker, so überträgt sich die
Bewegung des Schulterblattes nicht genügend auf den Arm. Da¬
gegen braucht die Festigkeit im Hüftgelenk keine absolute zu sein,
weil der Kopf, wenn es sich nicht um paralytische Luxation
bandelt —, bei Belastung immerhin einen guten Halt am Pfannen¬
dach findet und ein Einknicken im Hüftgelenk nicht so zu fürchten
ist, wie im Kniegelenk. Aus diesen allgemeinen Bemerkungen mögen
Sie ersehen, daß die Arthrodesenoperation bezüglich des Grades der
Ankylosierung für die einzelnen Gelenke nicht gleichmäßig sein muß,
und daß sich demgemäß auch die Technik für die einzelnen Gelenke
nicht ganz gleich gestaltet.
Am häufigsten kommt man in die Lage, an der unteren Ex¬
tremität Arthrodesen zu machen. Und zwar hier wieder zunächst
am Kniegelenk, annähernd ebenso häufig am Fußgelenk, sehr viel
seltener am Hüftgelenk. An der oberen Extremität ist das Schulter¬
gelenk dasjenige Gelenk, das am häufigsten ankylosiert wird, dann
der Ellbogen und zuletzt das Handgelenk.
Untere und obere Extremität der Häufigkeit nach nebenein¬
andergestellt, ergibt folgendes Schema:
1. Kniegelenk,
2. Fußgelenk,
3. Schultergelenk,
4. Hüftgelenk,
5. Ellbogengelenk,.
6. Handgelenk.
Die Arthrodese des Kniegelenkes ist verschiedenartig ausgeführt
worden. Albert resezierte einfach die Gelenkenden, Helferich
empfahl ebenfalls die bogenförmige Resektion, setzte aber, um eine
sichere knöcherne Verwachsung zu erzielen, dem bogenförmigen
Sägeschnitt noch einige senkrecht zu ihm stehende Kreuzschnitte
hinzu.
Um eine exakte Knochenvereinigung zu bekommen, hat man
Digitized by LjOOQle
Zar Technik der Arthrodesenoperation.
227
mit Silberdraht genäht, oder man hat, wie Hahn angegeben, ver¬
nickelte Nägel oder, wie Karewski, Elfenbeinstifte eingeschlagen.
Man hat zu diesen Mitteln gegriffen, weil man glaubte, dadurch
eine bessere Festigkeit erreichen zu können.
Meiner Ansicht nach hat das Einnageln zwei Nachteile. Ein¬
mal ist die Smochensubstanz gelähmter Knochen oft butterweich
und die Nägel finden, wenn sie nicht sehr lang sind und bis in die
Diaphysen beider Knochen hineinri^en, keinen genügenden Halt.
Hoffa gibt sogar an, man dürfe mit den Nägeln nicht sparsam
sein! Auf jeden Fall werden ein oder mehrere Fremdkörper dem
Knochen einverleibt, was natürlich nicht gleichgültig für den Or¬
ganismus ist. Wenn auch Silberdraht und Elfenbeinstift einheilen,
so ist doch oft genug ein Ausstößen dieser Fremdkörper beobachtet
worden. Hahn gibt an, daß die vernickelten Nägel nach 5 Wochen
herausgenommen werden müssen. Dann müssen also wieder Kon-
tentivverbände gemacht werden. Durch die Einfügung der Fremd¬
körper tritt also sicherlich keine Vereinfachung des Verfahrens ein
und ob die Konsolidation dadurch eine bessere wird, ist immerhin
noch fraglich. Jedenfalls wäre die Anwendung dieser umständ¬
lichen Methode nur dann gerechtfertigt, wenn es auf andere Weise
durchaus nicht gelingt, die genügende Festigkeit zu erreichen.
Die Tatsache vollkommener Ankylose nach ausgiebiger Re¬
sektion durch bogenförmige Absägung des unteren Femur- und des
oberen Tibiaendes bei tuberkulöser Gonitis ist aber lange genug
bekannt, um auch den Schluß zu gestatten, daß die einfache Resek¬
tion der Knochenenden bei dem spinal gelähmten Knie zu einer
vollkommenen Ankylose führen kann. Allerdings hat diese Art der
Arthrodesierung für das Schlottergelenk den einen Nachteil, daß
doch immerhin von beiden Knochen etwas Substanz entfernt wird
und die Verkürzung, welche die Extremität schließlich erfährt, doch
mindestens größer ist, als wenn nur der Knorpel entfernt wird. Oft
ist bei der spinalen Kinderlähmung das gelähmte Bein an sich schon
um einige Zentimeter kürzer als das andere. Deshalb sollte
man jede künstliche Vermehrung der Verkürzung mög¬
lich st zu vermeiden suchen und möglichst haushälterisch
mit dem Knochenmaterial umgehen. Aus dem Grunde
habe ich von der bogenförmigen typischen Resektion
abgesehen und auch bei der Arthro desierung desKnie-
gelenkes mich auf die einfache Knorpelabschälung
Digitized by L^ooQle
828
Peter Bade.
be8chränkt4 Diese führe ich mit einem scharfen, kräftigen Re-*
Sektionsmesser aus. Bisweilen, wenn der Knorpel sehr fest mit dem
darunter liegenden Knochen verwachsen ist, benutze ich, um die
letzten Knorpelinselchen. ganz zu entfernen, ein hakenförmiges In¬
strument oder einen scharfen Löffel.
Es gestaltet sich demnach bei mir die Arthrodese des Knie¬
gelenkes folgendermaßen: Der Operateur steht an der Außenseite
des Knies, das Knie liegt in leichter Beugestellung. Der Gelenk¬
spalt wird vor der Eröffnung abgetastet. Ein vorderer Bogenschnitt
(nach Textor), welcher vom inneren Kniegelenkspalt zum äußeren
geht, durchschneidet an seiner Vorderseite oberhalb der Spina tibiae
das Ligamentum proprium und dringt möglichst sofort auf den
Knochen. Die Ligamenta lateralia werden durchschnitten. Jetzt
wird das Knie in rechtwinklige Beugestellung gebracht, so daß die
Fußsohle den Tisch berührt. Dann, werden die Lig. cruciata durch¬
schnitten, das Knie in noch stärkere Flexion gebracht. Jetzt liegt,
wenn man die Patella nach dem Oberschenkel zurückklappt, das
ganze Gelenk frei.
Nun werden zunächst der äußere und innere Fibrocartilago
interarticularis mit der Schere fortgeschnitten und dann beginnt die
Knorpelabschälung. Das Messer dringt bis auf den Knochen und
schneidet in einigen flachen Zügen den Knorpel bis auf die Oberfläche
fort. Man nimmt systematisch die einzelnen Kondylen des Oberschenkels
vor, an der Außenseite des Cond. ext. beginnend, diesen erst ganz von
Knorpel ablösend, dann den internus, dann die Fossa poplitea. Es resul¬
tiert dann die vollständige Form des unteren Endes vom Oberschenkel¬
knochen, der überall rauhe Oberfläche zeigt. Ebenso wird das obere Ende
der Tibia abgeschält. Die Eminentia intercondylica sind meist, wenig¬
stens bei Kindern, noch vollkommen knorpelig und verschwinden ganz«
Die Tibiafläche hat in der Mitte meist eine kleine, wenige Milli¬
meter betragende Erhöhung, seitlich davon eine leichte Vertiefung,
und die Ränder der Tibia sind wieder leicht erhöht. Zum Schluß
wird noch die Gelenkfläche der Patella abgeschält. Bei kleineren
Kindern bleibt oft nichts von der Patella übrig, bei Erwachsenen
aber wird die rauhe Patellafläche zwischen die Kondylen gelegt, das
Ligament an die Spina tibiae, Unter- und Oberschenkel in Völlige
Streckstellung gebracht und jetzt, nachdem nichts am Knochen,
nichts an der Kapsel, nichts an den Ligamenten genäht ist, sondern
nur frische Wundflächen aneinander liegen, die Haut durch Silknaht
Digitized by LjOOQle
Zur Technik der Arthrodesenoperation.
229
vollständig vereinigt. Daun wird ein steriler Kompressionsverband
angelegt; jetzt erst der Esmarchsehe Schlauch entfernt und sofort
ein Beckengipsverband, von den Zehen angefangen, angelegt.
Es erfolgt stets aseptische Heilung. Die Silkfäden bleiben
4—6 Wochen liegen. Dann werden sie und der ganze Verband
entfernt, und es folgt ein Oberschenkelverband, der das Becken frei
läßt, aber den Fuß einschließt. Dieser Verband wird ohne Polsterung
direkt auf die mit einer Mullbinde umwickelte Haut gelegt und muß
ganz exakt dem Glied anliegen. Er wird möglichst dünn gemacht,
damit er nicht zu schwer ist und das Gehen ermöglicht» Von der
4.—6. Woche an lasse ich mit diesem Gipsverband gehen. Der
Verband bleibt mindestens noch 3 Monate liegen. In der Regel
lasse ich V* ganzen im Verband gehen, denn der Erfolg
der Arthrodese hängt von einer vollständigen Ankylosierung ab,
diese tritt aber bei den gelähmten Extremitäten entschieden viel später
ein, als sonst bei Enochenbrüchen. Nimmt man den Verband zu früh
ab, etwa schon nach 8 Wochen, so ist der Callus noch zu weich und
es tritt unfehlbar Flexionsstellung ein. Diese muß aber auf jeden
Fall vermieden werden.
Die Arthrodese des Fußgelenkes braucht nicht absolute Ankylose
anzustreben. Sie muß im Gegenteil eine geringe Beweglichkeit zu*
lassen, weil der Gang dann ein besserer, elastischerer ist. Diese
Beweglichkeit darf aber nicht so hochgradig sein, daß der Fuß aus
der rechtwinkligen Stellung in die Spitzfußstellung zurückfällt. Die
Beweglichkeit darf nur gering sein, nur etwa 20 Grad betragen.
Es fällt deshalb am Fußgelenk von vornherein jede Knochennaht
fort, und es wird nur die Knorpelabschälung geübt. Ein Assistent
fixiert den Unterschenkel, ein zweiter drückt den Fuß etwas in Spitz¬
fußstellung. Ich habe mir Malleol« ext. und internus markiert und
führe einen queren Verbindungsschnitt an der Vorderseite des Ge¬
lenkes zwischen beiden Knöcheln herbei. Der Schnitt durchtrennt
die Haut, das Ligament, capsulare, die Sehnen vom Extensor digit.
communis, vom Tibialis anticus und vom ExtensoT hallücis. Die
Arteria dorsalis pedis wird geschont und durch einen flachen Haken
nach der Außenseite gedrängt. Dann werden, indem der Fuß immer
mehr in Spitzfußstellung gedrängt wird, die Lig. flbulare calcaneum,
die Lig. flbula tali anterior, Lig. tibia flbulare ant. und das Lig. laterale
int durchtrennt, dann das Fußgelenk luxiert, sodaß die Knorpel¬
fläche des Talus und die Gabel zwischen MalleöL externus und in*«
Digitized by L^ooQle
230
Peter Bude.
ternus freiliegt. Die Gelenkfläche des Talus wird vollständig vom
Knorpel befreit, die äußere und innere Fläche gut abgeschält, und
der Knorpelüberzug von Malleolus internus fortgenommen. Die Spitze
des Malleolus extemus lasse ich gewöhnlich unberührt, namentlich
bei Kindern, weil sie ganz knorpelig ist und man sie überhaupt,,
um den Knochen wund zu machen, ganz fortnehmen müßte. Ich
begnüge mich gewöhnlich damit, eine dünne Knorpellage abzutragen»
In der Gabel selbst lasse ich gewöhnlich kleine Knorpelinseln stehen,
um nicht vollständige Ankylose zu bekommen. Ist die Knorpelab-
Schälung in genügendem Maße ausgeführt, so wird der Fuß in recht¬
winklige Beugung gebracht, die Knochenwundfläcben gut aneinander
gedrückt und dann die Haut genäht. Auf die Naht der durch¬
schnittenen Sehnen, auf die Naht der Kapsel wird verzichtet. Die
Sehnen kontrahieren sich nicht, weil keine kontraktile Substanz in
den Muskeln mehr ist. Da sie vorher infolge der Spitzfußstellung^
verlängert waren, kommen die Stümpfe jetzt, bei der rechtwinkligen
Stellung des Fußes, über oder nebeneinander zu liegen. Sie ver¬
wachsen gewöhnlich miteinander, was man bisweilen, wenn noch eine
Spur Bewegungskraft in den Muskeln gewesen ist, daran sehen kann^
daß die Sehnen, wenn sie in verkürzter rechtwinkliger Stellung ver¬
wachsen sind, nach der Arthrodesierung leicht Sehnenbewegungen
ermöglichen. Eine Naht der Weichteile, auch die von Vulpius an¬
gewandte Fasciodese oder Tenodese habe ich niemals für notwendig
gefunden. Man kann durch einfache Knochenanfrischung vollständige
Ankylosierung erreichen, das ist aber durch keine Kapselplastik^
keine Fasciennaht möglich. Da wir aber für das Fußgelenk absolute
Ankylose gamicht einmal für wünschenswert halten, so lassen wir
die Ankylosierung einfach nicht so vollständig werden, verzichten aber
auf Methoden, die von vornherein keine knöcherne Ankylose zulassen
können. Der Callus ist das beste Fixationsmittel für schlotternde Ge¬
lenke, ihn kann keine Kapsel, Sehnen, Fasciennaht ersetzen.
Die Hautnaht mit Silk. Gipsverband bis über das Knie.
Entfernung der Fäden nach 4 Wochen. Mindestens acht
Wochen Gehen mit Gipsverband. Dann Hülse für die Nacht, welche
die rechtwinklige Stellung des Fußes wahrt.
Die Arthrodesen des Knie- und Hüftgelenkes sind die bei
weitem häufigsten, deshalb habe ich ihre Technik besonders aus¬
einandergesetzt. Bei den übrigen Gelenken werde ich mich nur
auf allgemeine Punkte beschränken.
Digitized by
Google
Zur Technik der Arthrodesenoperation.
231
Was zunächst das Schultergelenk anlangt, das bezüglich der
Häufigkeit der Arthrodesierung an dritter Stelle steht, so hat be¬
sonders Vulpiusdie Operation empfohlen und des öfteren ausgeführt.
Vulpius empfiehlt besonders die Naht der Knochen mittels zwei
Silberdrahtfäden. Ich glaube, daß beim Schultergelenk die Enochen-
naht zu empfehlen ist, einmal, weil wir beim Schultergelenk durch
funktionelle Belastung, wie bei der unteren Extremität, eine Ver¬
stärkung der Konsolidation nicht erreichen können und weil vielleicht
die Schwere des Armes nach der Verbandabnahme distrahierend auf
die Gelenkenden wirkt. Diese Distraktion kann zweckmäßig durch
Silberdrahtnaht ausgeglichen werden, oder aber man ist gezwungen
recht lange Zeit (4—6 Monate) einen festen Verband und fast eben¬
solange eine Nachbehandlungshülse für das Schultergelenk tragen
2 U lassen. Ich habe mit der einfachen Resektion des Schulterge¬
lenkes in wenigen Fällen aber auch gute Resultate gehabt, ohne der
Knochennaht zu bedürfen, glaube jedoch, daß sie die Verbandperiode
tim einige Monate abkürzen kann.
Die Eröfihung des Gelenkes erfolgt wie bei der Schultergelenk-
resektion in typischer Weise durch den vorderen Längsschnitt. Das
Messer wird durch das Lig. coraco-acromiale gestochen bis auf den
Knochen und nun durch den sehnigen, oft papierdünnen Deltoides-
muskel bis zu seinem Ansatz entlang geführt. Dann wird stark
■adduziert, um die Gelenkkapsel, welche meist sehr weit ist, etwas
zu spannen, zwei Schnitte schlitzen den Sulcus intertubercularis ein,
der Gelenkkopf wird luxiert, der Knorpel abg^schält, die Pfanne mit
«inem scharfen Löffel ihres Knorpels beraubt. Dann der Kopf durch
Abduktion von etwa 45 Grad der Pfanne möglichst genähert. Die
Kapsel vernäht und die Hautnaht gemacht. Oder nach Vulpius
vorher zwei Drähte durch Kopf und Proc. acromialis gelegt. Ver¬
band 2—4 Monate.
Das Hüftgelenk bedarf der Drahtnaht nicht. Die Arthrodese
des Hüftgelenkes ist überhaupt sehr selten auszuführen. Ich habe
trotz hochgradigster Lähmung erst ein einziges Mal sie ausführen
müssen bei einem Jungen, bei dem doppelseitige Glutaeenlähmung
war, bei dem ich außerdem zwei Fußgelenksarthrodesen; eine Knie¬
arthrodese, einen Quadrizepsersatz machen mußte. Das Kind geht
jetzt an zwei Stöcken.
In der Regel ist nämlich bei den schwersten spinalen Lähmungen
der unteren Extremitäten ein Hüftmuskel und die kleinen Zehen-
Digitized by L^ooQle
232
Peter Bade. Zur Technik der Arthrodesenoperation.
beuger erhalten. Wenn auch nicht die Spur von Muskulatur vorhanden
ist^ so findet mdn doch fast immer einen Tensor fasciae latae. Das
Kind ist dann im stände, mit diesem sein Bein vorwärts zu schleudern.
Selbst wenn dieser Muskel fehlt, aber an der andern Seite ein
61utaeus ist und der Tensor fasciae latae, so kann das Kind — ich
beobachte gerade z. Z. einen solchen Fall — durch Rumpfdrehong
das Bein vorwärts schleudern. Die Arthrodesierung ist nur dann
nötig, wenn beim Stehen der gelähmte Oberschenkel in starke
Abduktionsstellung hinein geknickt wird und das Kind keinen festen
Halt infolge dieses Abrutschens findet. Zur Eröffnung des Gelenkes
bringt man das Bein in starke Adduktion und Innenrotation, so daß
man durch die dünne Muskulatur den Trochanter, den Hals und die
Peripherie des Kopfes durchfühlen kann. Jetzt macht man einen
bogenförmigen Schnitt — älterer, äußerer Bogenschnitt — über
Kopf, Hals und Trochanter, der direkt auf den Knochen geht. Die
Wundränder werden auseinander gezogen, der Kopf luxiert, sein
Knorpel abgeschält, dann die Pfanne mit dem Hof faschen Löffel
ebenfalls möglichst vom Knorpel befreit.
Keine Drahtnaht, keine Kapselnaht, sondern tiefgehende Haut¬
naht. 2 Monate Beckengips verband, dann kein Verband, sondern
Versuche zu gehen. Da aber meist in der Zwischenzeit an anderen
Gelenken auch noch Operationen gemacht worden sind, dauert es
oft ein halbes bis fünfviertel Jahre, bis ein solches Kind an den
Gehbock kommt.
Ueber die Arthrodesierung der Hand- und Ellbogengelenke,
die wegen spinaler Lähmung sehr selten sind, gilt die allgemeine
Technik der Resektionen, die nur insofern modifiziert zu werden
braucht, als man keine Kapselexzisionen nötig hat und nur gesunden
Knorpel zu entfernen braucht.
Auch hier muß die Verbanddauer sehr lang bemessen werden,
beim Handgelenk etwa 8 Wochen, beim Ellbogengelenk 3 Monate.
Digitized by LjOOQle
XVI.
Der orthopädische Operationstisch im hannoverschen
Erüppelheim Anna-Stift').
Von
Dr. Peter Bade- Hannover.
Mit 14 Abbildungen.
Der neue orthopädische Operationstisch, welchen Sie hier vor
sich sehen, ist entstanden aus dem Heusner-Engelsschen Re¬
dressionstisch. Die Form ist im großen ganzen dieselbe wie bei
dem ursprünglichen alten Modell« d. h, der Tisch ruht auf einem
soliden Untergestell aus Gasröhren, die eine Höhe von etwa 97 cm
bei dem alten Modell haben. Dadurch nun, daß ich den Unterbau
des Tisches, dessen Breite beim alten Modell etwa 60 cm beträgt,
um ca. 20 cm verbreitert habe, ist der Tisch im ganzen auf eine solidere
Unterlage gesetzt worden, und zweitens ist die Höhe des Tisches
um etwa 8 cn^ verringert worden. Dies hat namentlich für die Be¬
handlung der angeborenen Hüftverrenkung einen Vorteil, weil man
auf dem etwas niedrigeren Tische mit größerer Kraftentwicklung
arbeiten kann, als wenn der Tisch so hoch ist, wie der ursprüng¬
liche Heusnersche. Die Verbreiterung des Unterbaues und die
Verringerung der Höhe habe ich einfach erreicht dadurch, daß ich
die Kröpfung, welche in der Mitte der vier Füße des Tisches sitzt,
bedeutend vermehrt habe. Sie bildet an meinem Tische einen voll¬
ständig rechten Winkel, während sie beim Heusnerschen Tisch
eine leicht geschwungene Linie darstellt. Durch diese rechtwinklige
Kröpfung der Füße ist der Vorteil erzielt worden, daß der Operateur
seinen Fuß fest gegen die Kröpfung stemmen kann und damit einen
festen Widerhalt des Fußes zum sicheren Arbeiten gewinnt, ein Vor¬
teil, welcher beim orthopädischen Arbeiten, das oft mit großer Kraft-
*) Demonstriert auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für
orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by L^ooQle
234
Peter Bade.
entwicklung Yor sich gehen muß, nicht zu unterschätzen ist. Auch
Heusner hat diesen Wert des festen Stützpunktes für den Fuß er¬
kannt und an seinem Tisch an den Vorderfüßen zwei kurze Quer¬
leisten angebracht, gegen welche die Füße angestemmt werden
können. Diese kommen durch meine Anordnung in Wegfall und
stören infolgedessen nicht mehr die Einfachheit der Konstruktion.
Beim Heusnerschen Tisch ruht auf dem Unterbau ein System
von zurückklappbaren Tischplatten, das auf zwei Querstäben, welche
von den beiden Vorderfüßen zu den Hinterfüßen des Tisches ziehen,
hin und her gleitet. Auch dieses System der Platten ist an meinem
Tische geblieben, doch hat es verschiedene Aenderungen erfahren:
1. sind die Platten an meinem Tisch sämtlich fortnehmbar,
was bei dem Heusnerschen Gestell nicht der Fall ist. Beim
Heusnerschen Gestell sind die Stäbe, auf denen die Platten gleiten,
rund; die Füße der Platten mit einem geschlossenen Rohr versehen,
welches auf den Querstäben gleitet; eine Flügelschraube stellt die
Platten fest. Bei meinem Tisch hingegen ist der Querstab, auf dem
die Platten gleiten, viereckig und an den Seiten mit einer Aus¬
sparung versehen. Die Füße der Platten, welche in dieser Aus¬
sparung hin und her gleiten, sind nicht vollständig geschlossene Röhren,
sondern, entsprechend dem viereckigen Gleitstabe, Vierecke, deren
unterer Boden entfernt ist, so daß also eine ganze Tischplatte mit
ihrem Fuße aus dem Tisch entfernt werden kann. Dies ist nicht
nur ein Vorteil, der bei der Reinigung des Tisches sehr wichtig ist,
sondern der auch bei manchen Rumpfverbänden, die auf dem Tisch
gemacht werden können, sehr in die Wagschale fällt.
Eine zweite wesentliche Aenderung haben die Tischplatten
selbst erfahren. Die Anzahl ist zwar dieselbe geblieben wie beim
Heusnerschen Tisch, d. h. wir haben an der vorderen Abteilung
des Tisches fünf Platten und an der hinteren Abteilung des Tisches
ebenfalls fünf Platten. Während nun die Platten am Heusner¬
schen Tisch vollständig solide gearbeitet sind, habe ich an meinem
Tisch die Platten durch ein System von Schlitzen durchbrechen
lassen. Die Schlitze sind so angeordnet, daß sie doch nicht die
Solidität der einzelnen Platten gefährden. Durch dieses System von
Schlitzen will ich in der Lage sein, Zugwirkungen nach den ver¬
schiedensten Richtungen von der Oberfläche des Tisches aus aus¬
üben zu können. Die letzte und vorletzte Platte des Tisches be¬
sitzen außerdem noch eine kreisförmige Aussparung für den Kopf.
Digitized by
Google
Der orthopädische Operationstisch etc.
235
Endlich sind die vorderen Platten mit zwei GriflFen versehen, welche
durch ein Kugelgelenk zurückgeklappt werden können und in nicht
benutzbarem Zustande senkrecht zur Tischoberfläche nach unten, dem
Boden des Zimmers zu schauen und durch ihre L^e dann in keiner
Weise stören. Zur Anbringimg dieser Griffe an den vorderen Enden
der Tische wurde ich veranlaßt durch den Schulze-Duisburg-
schen Elumpfußosteoklasten. Dadurch, daß diese Griffe an meinem
Tisch angebracht sind, ist ein forciertes Redressement des Klump¬
fußes, wie Schulze es übt, auch an meinem Tische ermöglicht.
Da nun aber beim Heusnersehen Tisch die vorderen Tischplatten,
an denen ich meine Griffe angebracht habe, nur bis zu 90^ sich
zurückklappen lassen, so mußte ich an meinem Tisch auch die
Scharniere an den vorderen Tischplatten ändern. Sie mußten so an¬
gelegt werden, daß ich die vordere Tischplatte nicht bloß bis 90®,
sondern bis 180® herumklappen kann; nur auf diese Weise ist eine
volle Entfaltung der Kraft für das Klumpfußredressement möglich.
Soviel über das Hauptgestell imd die Hauptplatten des Tisches.
Beim Heusnersehen Tisch sind an den Vorderfüßen noch
zwei Vorrichtungen angebracht für die forcierte Extension, ferner
ein BeckenbügeL Die Extensionsvorrichtungen, welche Extensionen
nach vorn, nach oben, nach der Seite zulassen, habe ich unverändert
übernommen, dagegen habe ich den Beckenbügel geändert. Der
Heusn er sehe Beckenbügel war ein aufrecht ziehender Stab, welcher
eine Sitzvorrichtung für das Steiß- und Kreuzbein besaß. Dadurch,
daß die Sitzfläche senkrecht an dem Befestigungsstab ansaß, war es
nicht möglich, einen Beckengipsverband exakt anzulegen, weil immer
die unterhalb des Sitzes befindliche Stange hinderlich war. Ich habe
diesen Nachteil zu vermeiden gesucht dadurch, daß ich die Stange
unterhalb des Sitzes wegfallen ließ und den Sitz nur an der oberen
Stange befestigte. Es ist dadurch das ungehinderte Arbeiten an
dem Becken des Kindes ermöglicht. Die Befestigung der Stangen,
welche diese Beckenschwebe trägt, geschieht durch einen Metall¬
zapfen, welcher mittels einer Flügelschraube befestigt wird. Dieser
Metallzapfen ist durch einen halbkreisförmigen Metallbügel mit der
Beckenschwebe verbunden. Die Beckenschwebe selbst habe ich für
fünf Größen herstellen lassen, welche mit Leichtigkeit ausgewechselt
werden können.
Am hinteren Ende des Tisches hat Heusn er eine Kontra¬
extensionsvorrichtung angebracht, welche eine Extension nach einer
Digitized by L^ooQle
236
Peter Bade.
Richtung hin ermöglicht durch eine Eurbelvorrichtung. Ich habe
diese Extensionsvorrichtung in folgender Weise verändert, um eine
Extension nach verschiedenen Richtungen hin zu erreichen. An den
beiden oberen Enden der Hinterfüße des Tisches befinden sich zwei
Platten mit einem Schlitz. Durch diese Schlitzvorrichtung kann ich
den Rahmen, welcher die hintere Extensionsvorrichtung trägt, von
seiner Horizontalstellung in die Vertikalebene Überführen, ich kann
also die Extensionsvorrichtung am Kopf um 90 ® variieren. Flügel¬
schrauben stellen an beiden Seiten die gewünschte Richtung der Ex¬
tension fest. Diese Verschieblichkeit der Kopfextension ist sehr
wichtig beim Anlegen von Rumpfgipsverbänden, bei der Herstellung
von Reklinationgipsbetten.
Um nun auch eine Extension nach hinten und unten zu er¬
möglichen, was der Heusnersche Tisch nicht zuläßt, habe ich an
beiden Seiten des Tisches, zwischen dem Yorder- und dem Hinter¬
fuß, dort, wo die rechtwinklige Kröpfung der Füße liegt, je eine
Extensionsvorrichtung angebracht. Eine Schnecke, welche durch eine
Feder arretiert wird, ist mit einer Walze in Verbindung gebracht,
die an den Hinterfüßen mit einer Drehvorrichtung versehen endet.
Die Walze selbst ist mit verschiedenen Zapfen besetzt, an welche
Flanellbindenenden befestigt werden können oder Matratzengurte, die
an ihrem Ende mit einem Ring versehen sind, hineingehakt werden
können. Dreht man die Kurbel, so werden sich die Bindenenden um die
Walze herumschlingen, und es kann durch die Drehung und durch
verschiedenartige Befestigung der Züge hinten oder in der Mitte ein
in verschiedener Richtung nach unten gehender Zug angewandt wer¬
den. Dadurch, daß die Tischplatten Schlitze haben, ist es möglich,
die Züge von der Tischplatte aus nach abwärts in jeder beliebigen
Richtung wirken zu lassen.
Was endlich die Art der Züge anlangt, so benutze ich für die
Fußextension einfache Baumwollquelen, für die Extension nach dem
Kopf die übliche Kopfschlinge, welche in Verbindung gesetzt ist mit
breiten festen Gurten, für die Extension nach unten kräftigen Trikot¬
schlauch oder kräftige Flanellbinden, je nach der Stärke des Körper¬
teils, auf den ein Zug ausgeübt werden soll.
Die mannigfache Anwendungsweise des Operationstisches mögen
Ihnen folgende Bilder und Beschreibungen demonstrieren:
1. Der Tisch dientzur Vornahme von Rumpfgipsverbänden(Fig.l).
Soll ein Rumpfverband in vertikaler Extension angelegt wer-»
Digitized by
Google
Der orthopädische Operationstisch etc.
237
den, so wird eine 6lissönsehe Kopfschwebe in die beiden Karabiner
der vorderen Extensionsvorrichtungen gehängt. Die beiden vorderen
Extensionsvorrichtungen werden nach Lösen der Flügelschrauben so
gestellt, daß man das Kind bequem in die senkrecht herabhängende
Schwebe hineinstellen kann. ' Die Extension geschieht nun einfach
durch Andrehen der beiden Kurbeln. Der Arzt sitzt auf einem
Fig. 1.
Stuhl hinter dem Patienten und kann nun den Verband, ohne sich
bücken zu müssen, anlegen. Auf diese Weise ist es möglich, Modelle
vom Rumpf zu nehmen für abnehmbare Korsette und auch fest-
anliegende Rumpfverbände zu machen. Soll der Kopf mit in den
Verband genommen werden, so benutzt man anstatt der Glisson-
schen Schwebe einen Wattemullverband, indem man den Hals und
den Kopf einwickelt, und läßt die Enden der Binden, je zwei von
beiden Seiten, an den Karabinern endigen. Die Mullbindenenden
werden daun, wenn der Verband fertig ist, einfach abgeschnitten.
Digitized by LjOOQle
238
Peter Bade.
Der Verband, in dieser Weise angelegt, eignet sieb zu Modellyer-
bänden bei Spondylitis cervicalis und dorsalis, wenn in der Nach¬
behandlungsperiode ein Portativapparat mit einer Eopfsttttzvor-
richtung versehen verordnet wird. Er eignet sich auch zur
Anlegung von Verbänden beim Schief hals, und zwar bevorzuge
ich ihn hierbei sehr, weil man durch stärkere Extension an
Fig. 2.
der einen Seite, stärkeres Andrehen der einen Kurbel mit Leichtig¬
keit eine Ueberkorrektur der Zervikalskoliose erreichen kann. Das
ist bei den gewöhnlichen Extensionsvorrichtungen nicht möglich;
insofern eignet sich der Tisch sehr gut zur Nachbehandlung des
Schiefhalses.
(Fig. 2, 3 und 4.) Soll der Tisch für Rumpfgipsverbände in
horizontaler Richtung angewandt werden, so wird der Patient auf
den Tisch gelegt, er hält sich mit seinen Händen am Kopf brett fest
und man kann einfach nach Herunterklappen der Platten den Ver¬
band anlegen. Wenn eine starke Reklination dabei gewünscht wird,
wie es z. B. bei der Spondylitis dorsalis nötig ist, dann kann man
Digitized by L^ooQle
Der orthopädisclie Operationstisch etc. 239
Fig. 3.
Fig. 4.
den Kopf mit einer Extensionsschlinge versehen^ die Enden der Ex¬
tensionsschlinge werden an die Zapfen der hinteren Extensionskurbel
befestigt, die Flügelmuttern an den beiden seitlichen Schlitzvorrich-^
Digitized by
Google
24Q
Pei^r Bade.
lieh entsprechend der Extension stärker anspannt und das Hinunter*
sinken des Kindes verhindert, ist eine möglichst angenehme Lagerung
gesichert. An beiden Füßen sind Baumwollquelen angelegt, welche
die Kontraextension besorgen. Es läßt sich auf diesem Tisch in der
angegebenen Weise ein forciertes Redressement der Skoliose ermög*
liehen, ähnlich wie es im Wullsteinschen Rahmen möglich ist, nur
mit dem Unterschied, daß beim Wullsteinschen Rahmen die Kinder
das vertikale Redressement aushalten müssen, während hier ein hori¬
zontales Redressement ausgeführt wird. Daß die Redression in hori¬
zontaler Richtung 1. für die Kinder angenehmer und 2. für den Arzt
leichter ist, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung. Es fragt sich
nur, ob auch bei horizontalen Extensionen die Verschiebungen so
tungen werden gelöst und die hintere Extensionsvorrichtung in die
JJeigung gebracht, welche für die Verbandanlegung am zweck¬
mäßigsten ist. Dann wird die Extension so weit gesteigert, wie das
Kind es aushalten kann. Damit die Lage des Kindes nicht zu un¬
bequem ist, wird ein breiter Gurt an seinem einen Ende an den
Bügel der Beckenschwebe befestigt, er läuft unter dem Bauch und
der Brust des Kindes hinüber und ist ebenfalls oben an der Kopf¬
extensionskurbel befestigt. Durch diesen Gurt, welcher sich natür-
Fig. 5.
Digitized by L^ooQle
Der orthopädische Operationstisch etc.
241
ausgeglichen werden können, wie bei der vertikalen. Die Becken¬
senkung kann jederzeit durch stärkeres Andrehen der Fußextension
an der einen Seite ermöglicht werden. Die Rotation des Beckens
kann dadurch beseitigt werden, daß man die eine Extensionsvorrich-
tung tiefer stellt als die andere; auf diese Weise läßt sich ebenso
wie im Wullsteinschen Apparat die Lendenskoliose beeinflussen.
Die zervikale Skoliose und der obere Teil der Dorsalskoliose läßt
sich durch kürzeres oder längeres Einhaken der Züge, welche die
Fig. 6.
Glisson sehe Schwebe befestigen, an der einen oder anderen Seite
ermöglichen. Dadurch wird der Kopf schief gestellt, und infolge¬
dessen kann an der konkaven Seite, an welcher der Zug kürzer ge¬
wählt ist, ein stärkerer Zug ausgeübt werden. Die Torsion des
Rippenbuckels kann man in der Weise sehr gut beeinflussen, daß
man einen breiten Zug über den Rippenbuckel legt, diesen durch
einen Schlitz in der Tischplatte zur unteren Walze gehen läßt und
durch Drehung der Kurbel mittels des Zuges einen Druck auf den
Rippenbuckel ausübt. Befestigt man den Zug an derselben Seite, an
der der Rippenbuckel ist, so wird nur ein kräftiger Druck auf den
Rippenbuckel ausgeübt, läßt man ihn hingegen nach der entgegen¬
gesetzten Seite auf die Kurbel übertragen, so wird ein stärkerer
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 10
Digitized by CiOOQle
242
Peter Bade.
Druck in diagonaler Richtung auf den ganzen Brustkorb ausgeübt
und dadurch auch eine Einwirkung auf die Torsion der Wirbelsäule
selbst ermöglicht. Es ist notwendig, daß man betreffs Anordnung
der Züge genau ausprobiert, in welcher Richtung die Züge am besten
wirken, durch welche Schlitze sie am besten hindurchzufUhren sind
und an welcher Stelle der Extensionskurbel sie am besten zu be¬
festigen sind. Je länger man an dem Tische arbeitet, desto leichter
und sicherer wird man in der Handhabung der Züge werden.
Fig. 7.
Soll nur ein gewöhnliches Lagerungsbett für leichte Skoliosen
oder auch für Spondylitiker, zur Behandlung nach Fink, ange¬
fertigt werden, so sind selbstverständlich die Extensionsvorrichtungen
nicht nötig, das Kind liegt einfach auf dem Tisch wie auf jedem
anderen und man wickelt die Binden um den Teil des Rumpfes ab,
der in der Gipsschale liegen soll, wie es Fig. 4 zeigt, auf der die
Herstellung eines Skoliosengipsbettes angedeutet ist.
2. Der Tisch dient zum Redressement von Kontrakturen, nament¬
lich der unteren Extremitäten.
1. Die Beseitigung der Hüftkontraktur. Der Patient wird so
auf den Extensionstisch gelegt, daß er mit dem Kreuzbein auf der
Beckenschwebe liegt. Beide Beine werden mit den Baumwollquelen
in Verbindung gebracht; dasjenige Bein, welches in Kontraktur¬
stellung sich befindet, wird so hingelegt, wie es seiner ankylotischen
Digitized by L^ooQle
Der orthopädische Operationstisch etc.
243
Stellung entspricht. Man muß also darauf achten, daß die Lordose
der Lendenwirbelsäule ausgeglichen ist, der Rücken flach der Unter¬
lage anliegt. Durch einen breiten Gurt, welcher über beide Becken¬
schaufeln hinübergespannt ist und an jeder Seite durch die Schlitze
des Tisches zu den unteren Extensionskurbeln geleitet wird, wird
das Becken fest fixiert. Ein Gegenzug, welcher durch einen Gurt,
der um das Perineum gelegt ist, besorgt die weitere Fixation des
Beckens. Es wird nun zunächst das gesunde Bein so weit extendiert.
Fij?. 8.
daß das Becken ganz gerade liegt, dann erfolgt Zug am Bein der
ankylosierten Seite, und zwar in der Richtung, in welcher der
Schenkel fixiert steht, wie es Fig. 5 zeigt. Aus dieser Richtung geht
man nun ganz allmählich durch Senken der ExtensionsVorrichtung
über in die normale Stellung des Beines, wie es die folgende Figur
zeigt. Auch hier erfordert die Anbringung der Züge einige Uebung
und einiges Geschick.
2. Die Beseitigung der Kniekontraktur. Da wir es in der
Regel mit Flexionskontraktur im Kniegelenk zu tun hj|ben, so möge
als Beispiel von der Wirkung des Tisches eine Flexionskontraktur
gewählt sein. Das Kind wird nicht auf den Bügel der Becken¬
schwebe gelegt, sondern liegt auf dem Tische so, daß das Knie¬
gelenk ungefähr auf der mittleren Tischplatte des Vorgestelles ruht.
Die beiden Vorderklappen des Tisches sind dann niedergeschlagen.
Digitized by LjOOQle
244
Peter Bade.
Der Gegenzug führt wieder über das Perineum nach der Kopf¬
extension. Der Fuß der kranken Seite wird in die Quele der vor¬
deren Extensionsvorrichtung getan und diese so eingestellt, daß sie
die Verlängerung der Achse des Unterschenkels bildet (siehe Fig. 7).
In dieser Richtung wird ein Zug ausgeübt, ein zweiter Zug liegt
oberhalb des Kniegelenkes und führt durch die Schlitze der Tisch-
Fig. 9.
platten zu den unteren Extensionsquelen. Werden jetzt diese in
Drehung versetzt, so wird der Oberschenkel nach abwärts gedrückt
und dadurch die Beseitigung der üblichen Subluxationsstellung er¬
möglicht. Durch allmähliche gleichzeitige Anwendung beider Züge
und durch langsames Uebergehen der Extension des Beines aus der
diagonalen Richtung in die horizontale, ist die Streckung der Knie¬
kontraktur mit Leichtigkeit zu erreichen, wie Fig. 8 zeigt.
3. Redressement des Klumpfußes.
Die Behandlung des Klumpfußes läßt sich auf meinem Tische
ebenfalls ohne Zuhilfenahme anderer Osteoklasten bewerkstelligen.
Es ist dies ein Vorteil, den kein anderer orthopädischer Operations-
Digitized by L^ooQle
Der orthopädische Operationstisch etc.
245
tisch bietet; selbst Schulze-Duisburg sagt, daß er bei Anwendung
seines Verfahrens immer abhängig ist von dem Lorenz sehen Osteo¬
klasten, mit der er die Adduktionskontraktur des Fußes zunächst be¬
seitigen muß. An meinem Tische nun lassen sich alle Akte des
Redressements vom Klumpfuß vollziehen. Der Patient wird so auf
den Tisch gelegt, daß sein Haken über dem Oelenk zwischen vor-
Fig. 10.
derster und mittelster Tischklappe liegt. Durch Bindenzüge, welche
den Unterschenkel umgreifen und nach den Walzen der unteren Ex¬
tensionskurbeln gehen, wird der Unterschenkel zunächst in seiner
Lage ganz fest gehalten, dann wird eine Lasche um den Vorderfuß
gelegt und einerseits mit den Baumwollquelen der vorderen Exten¬
sionsvorrichtung versehen, anderseits mit zwei Zügen, welche eben¬
falls durch die Schlitze nach zwei Knöpfen an die Unterseite der
Tischplatte gehen, wo sie befestigt werden. Durch diese Befestigung
der Laschen soll erreicht werden, daß die Lasche beim Extendieren
nicht über den Vorderfuß abrutscht. Es werden jetzt, wenn der
Fuß so armiert ist, die Extensionsvorrichtung seitlich gestellt und
einige kräftige Extensionen ausgeführt. Der Arzt hilft gleichzeitig
mit der Hand nach und versucht die Adduktionskontraktur zu lösen.
Digitized by LjOOQle
246
Peter Bade.
Es wird die Exfcension allmählich nach unten und nach hinten ge¬
stellt, auf diese Weise die Richtung der Kraft geändert. Da mf>n
mit der vorderen Extensionsvorrichtung einen ®/4 Kreis beschreiben
kann, so kann man die Richtung außerordentlich variieren, in der
man die Kraft wirken lassen muß. Es läßt sich jedenfalls durch die
Anwendung der vorderen Extensionsvorrichtung, kombiniert mit den
Fig. 11.
Fußlaschen, die Adduktionsstellung des Klumpfußes beseitigen, und
ein Lorenz scher oder ein anderer Osteoklast braucht nicht ange¬
wandt zu werden. Hat man nun die Adduktionsstellung beseitigt,
so muß die Flexionskontraktur behoben werden. Der eine Zug,
welcher den Unterschenkel fixiert, bleibt bestehen, die andere Lasche
und die vordere Extensionsvorrichtung wird außer Tätigkeit gesetzt
Die beiden Griflfe, welche an der vorderen Tischplatte sich befinden,
werden hervorgeklappt und der Fuß nun genau nach dem Schulze-
Duisburgschen Vorgehen zwischen den beiden Tischplatten redres-
siert. Es läßt sich also auf meinem Tische das Lorenzsche und
Schulze sehe Redressement kombinieren, wie es die beiden Fig. 10
und 11 zeigen.
Digitized by L^ooQle
Der orthopädische Operationstisch etc.
247
4. In ähnlicher Weise, nur umgekehrt, vollzieht sich das Re¬
dressement des Plattfußes auf meinem Tisch. Der Unterschenkel
wird fixiert durch den auch für den Klumpfuß angegebenen Binde¬
zug. Die Laschen werden um den Vorderfuß angelegt und mit der
vorderen Extensionsvorrichtung versehen. Jetzt wird die Extensions¬
vorrichtung stark nach abwärts gestellt, was man auf dem Bilde
Fig. 12.
leider nicht erkennen kann, und es wird extendiert. Gleichzeitig
drückt ein Assistent die Faust gegen das Fußgewölbe, als Ersatz
der Faust kann man auch einen kleinen Keil benützen, den man auf
den Schlitzen der Tischplatten festschrauben kann. Während nun
die Faust gegen die Fußwurzelknochen drückt und die Extensions¬
vorrichtung den Vorderfuß in Flexion und Adduktion zu ziehen
trachtet, wird der Plattfuß redressiert (Fig. 11).
5. Die Einrenkung und Nachbehandlung der angeborenen Hüft¬
verrenkung gestaltet sich auf dem Tisch ebenfalls in sehr prakti¬
scher Form, da die vorderen Tischklappen halbiert sind, so daß man
Digitized by LjOOQle
248
Peter Bade.
eine rechte oder linke Seite niederklappen kann (Fig. 12). Man kann
den Tisch so verschmälern, daß das Kind mit seinem Becken bequem
auf der einen Tischplatte liegen kann, während der Assistent von
der anderen Seite das Becken fixiert. Man kann auch die Fixation
des Beckens, wenn das Kind kräftiger ist und die Fixation durch
die Handgriffe allein nicht genügt, auch durch BindenzUge erreichen,
die man durch die Schlitze des Tisches hindurchgehen läßt. Es
wird ein breiter Gurt quer über den Bauch des Kindes gespannt,
Fig. 13.
der gerade die Spinae ant. in der Mitte trifft. Dieser Gurt wird
nach unten geleitet durch die Schlitze und fest angezogen. Schon
durch diesen Zug kann man eine sehr gute feste Lagerung des
Beckens ermöglichen. Legt man außerdem noch einen Flanellzug
quer über die eine Hüfte, indem man vom Perineum über die Leisten¬
beuge, über die Spina ant. sup. nach hinten den Zug führt, so ist
die einzurenkende Hüfte durch diese beiden sich kreuzenden Züge
wie in einen Schraubstock eingepreßt, und es ist ein sehr sicheres
Arbeiten ermöglicht. Daß natürlich die Extensionsvorrichtungen auch
angewandt werden können, um die Adduktionswiderstände zu sprengen,
um die Beugekontrakturen zu lösen, die bei der angeborenen Hüft¬
verrenkung namentlich oft Vorkommen, braucht nicht erwähnt zu
Digitized by
Google
Der orthopädische Operationstisch etc.
249
werden. Daß endlich die Extensionsvorrichtungen nach unten ein
vorzügliches Mittel an die Hand geben, den Schenkel in Ueberab-
duktion zu stellen, wie es namentlich bei Luxationen mit sehr un-
f^ünstiger primärer Stabilität nötig ist, wird jeder schätzen lernen,
der einmal auf meinem Tische Luxationen behandelt. Die Verband¬
anlegung und der Verbandwechsel gestalten sich nun mittels der
Beckenschwebe, die an dem Tisch angebracht ist, sehr einfach und
angenehm. Es wird diejenige Beckenschwebe ausgesucht, welche am
Fig. 14.
meisten der Größe des Kindes entspricht. Dieses wird auf dem
Bügel festgeschraubt, der ganze Bügel selbst wird an den Tisch an¬
geschraubt und das Kind wird, wenn es zum Eingipsen fertig ist,
auf die Beckenschwebe geschoben. Eine Wärterin hält das Bein,
die vorderen Tischklappen werden zurückgeklappt, so daß der Rumpf
bis ungefähr zur Höhe des Nabels vollständig zugänglich ist; es er¬
folgt dann das Anlegen der Gipsbinden in der von mir geübten und
früher schon in der Zeitschrift für orthopädische Chirurgie ange¬
gebenen Weise.
Auch die Fensterung des Gipsverbandes zwecks röntgeno¬
graphischer Kontrolle des Resultates der Einrenkung, die nachherige
Digitized by L^ooQle
250
Peter Bade.
Ausbesserung und Wiederherstellung des Verbandes läßt sich in an¬
genehmer Weise auf dem Tische ausführen. Das Kind liegt dann
auf dem Bauch, die mittleren Platten werden so weit auseinander¬
geschoben, daß die Unterschenkel einerseits auf der Platte ruhen,
der Rumpf und die oberste Grenze des Rumpfgipsyerbandes ander¬
seits auf der Tischplatte sich befinden. Es ist dann Zwischenraum
zwischen den beiden Platten, der es gut gestattet, die Binden her¬
überzuführen, welche zur Ausbesserung des gefensterten Gipsver-
bandes nötig sind (Fig 13).
Es ist selbstverständlich und braucht kaum hervorgehoben zu
werden, daß der Tisch sich auch zu allen orthopädischen Operationen
an den oberen Extremitäten eignet. Wie beim Heusnerschen Tisch,
ist auch an diesem eine Tischplatte angebracht, welche sich an die
rechte oder linke Seite des Tisches einfügen läßt und dadurch den
Tisch verbreitert. Operationen, welche an dem Unterarm oder Ober¬
arm zu machen sind, namentlich Sehnen und Nervenplastiken bei
der zerebralen Hemiplegie, können auf dieser Nebenplatte sehr gut
ausgeführt werden, wie es Fig. 14 zeigt.
Außer diesen rein orthopädischen Manipulationen, die auf dem
Tische möglich sind, und die dem Orthopäden eigentlich jedes andere
Hilfsmittel für orthopädische Operationen, außer den natürlichen
Mitteln des Meißels, des Messers, des Hammers und der Scliere u. s. w.
befreien, läßt sich aber auch der Tisch in ganz hervorragendem
Maße zur Frakturbehandlung benützen. Ich übe seit Jahren für die
Behandlung meiner Brüche ein sogenanntes kombiniertes Verfahren,
das die Mitte hält zwischen dem Bardenheu er sehen Extensions¬
verfahren und dem der Gipsbehandlung der alten Chirurgie. Ich be¬
handle jeden Knochenbruch mittels Gipsverbandes, und der Gipsver¬
band jedes Knochenbruches läßt sich auf meinem Tisch in vorzüg¬
licher Weise anlegen. Ich behandle aber auch jeden Knochenbruch,
bevor er den Gipsverband bekommt, mittels exaktester Reposition
und ich erreiche diese Reposition wieder auf meinem Tische durch
Anwendung meiner kombinierten, durch den Gipsverband hindurch
leitbaren Bindenzüge. Dadurch, daß ich vermittels meiner Schlitze
und meiner Extensionszüge die Kräfte in verschiedener Richtung
wirken lassen kann, ist es mir möglich, die Fragmente zunächst
richtig einzustellen und dann den Gipsverband in dieser richtig ein¬
gestellten Lage anzulegen. Als Beweis der vorzüglichen Anwen-
dungsweise dieses kombinierten Verfahrens für die ßruchbehandlung
Digitized by CjOOQle
Der orthopädische Operationstisch etc. 251
reiche ich einige Röntgenbilder, welche einen Kondylenbruch des Ober¬
armes vor und nach der Reposition zeigen, hemm.
Ich glaube wegen der Vielseitigkeit meines orthopädischen
Tisches ihn den Kollegen angelegentlichst empfehlen zu müssen ^).
Die Herstellung hat die Firma Heinrich Emst, Hannover, Theaterstraße,
übernommen.
Digitized by LjOOQle
XVII.
(Aus der Priyatklinik für orthopädische Chirurgie von Dr. H. Gocht
und Dr. R. Ehebald, Halle a. S.)
Weitere pathologisch-anatomisclie Untersuchungen
ans dem Bereiche des kongenital verrenkten Hüft¬
gelenks').
Von
H. Gocht.
Mit 15 AbbilduDgen.
Meine Herren! Für denjenigen, der von der mechanischen Ent¬
stehungsweise der angeborenen typischen Hüftgelenkluxation über¬
zeugt ist, ist eine sehr naheliegende Frage: Bei welchen Beinhal¬
tungen werden solche Hüftgelenkstellungen forciert, daß die bei
der Hüftluxation besonders an der Kapsel, am Kopf, am Schenkel¬
hals und am oberen Femurende vorkommenden Veränderungen eine
gewisse Erklärung finden?
Für die Beantwortung dieser sehr wichtigen Frage müssen wir
uns zunächst erinnern, welches die gewöhnliche Haltung der Frucht
im Uterus ist. Nach Olshausen und Veit ist die Frucht über
der Bauchfläche gekrümmt, so daß die ganze Wirbelsäule einen nach
vorn konkaven Bogen bildet, die Oberschenkel sind an den
Unterleib herangezogen. Die Unterschenkel sind flektiert und
die Füße in dorsaler Beugung.
Der für uns wichtigste Satz ist, „die Oberschenkel sind an den
Unterleib herangezogen“. Er ist unklar und bedarf einer eingehenden
Erläuterung. In allen mir bekannten Arbeiten, die Hüftverrenkung
betreflFend, wird immer wieder als die gewöhnliche Haltung bezeichnet:
Flexion, Adduktion und Innenrotation. Das ist nun keines¬
wegs der Fall.
Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by V^ooQle
Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc.
253
An ganz einfachen kleinen Wachsmodellen, wie ich sie hier vor
mir habe und gern jederzeit nachher einzelnen sich interessierenden
Herren demonstrieren will, kann man sich sehr bequem sowohl die
verschiedenen Haltungsverhältnisse als auch die Druckverhältnisse
klarmachen, welche bei den sehr variablen Flexions-, Adduktions-,
Abduktions- und Rotationsstellungen des Beines auf das obere Femur¬
ende und die Kapsel einwirken. Die Modelle sind natürlich ganz
schematisch anzusehen.
Die Längsrichtung des Fußes steht bei diesen Wachsmodellen
jedesmal senkrecht auf der Querachse des Kniegelenkes und auf der
Längsachse des Schenkelhalses, oder mit anderen Worten, Fuß und
Schenkelhals bilden miteinander einen rechten Winkel.
Betrachten wir zunächst die indifferente Streckstellung des Beines
zum Schenkelhals, so geschieht folgendes:
1. Bei Druck in der Längsrichtung des Beines wird der Schenkel¬
hals abwärts gebogen (Coxa vara), gleichzeitig wird die Hüftgelenks¬
kapsel durch den andrängenden oberen Kopfpol nach oben ausgedehnt.
2. Bei Zug in der Längsrichtung wird der Schenkelhals nach
oben gebogen (Coxa valga) und gleichzeitig die unteren Kapselpartien
durch den andrängenden unteren Kopfpol vorgewölbt.
3. Bei starker Einwärtsrotation drängt der hintere Kopfpol
gegen die hinteren Teile der Kapsel an, der Schenkelhals wird dem¬
entsprechend nach vorn gebogen, antevertiert.
4. Bei kräftiger Außenrotation drängt der vordere Kopfpol gegen
die vorderen Kapselteile, diese werden vorgewölbt und der Schenkel¬
hals wird zugleich nach hinten gebogen, retrovertiert.
5. Bei forcierter Adduktion drängt der obere Kopfpol gegen
die oberen lateralen Kapselteile, der Schenkelhals wird abwärts ge¬
bogen (Coxa vara).
6. Bei forcierter Abduktion drängt der untere Kopfpol gegen
die unteren medialen Kapselteile, der Schenkelkopf wird aufwärts
gebogen (Coxa valga).
Denken wir uns nunmehr das Bein so, wie es im Uterus der
Fall ist, in den Hüftgelenken und Kniegelenken spitzwinklig ge¬
beugt, so entstehen so eigenartige Verhältnisse, daß man Zeit
braucht, sich dieselben physiologisch richtig und sachgemäß klar zu
machen.
Dabei müssen wir uns vor allem darüber einig sein, was unter
Innen- oder Außenrotation zu verstehen ist. In vollkommener Streck-
Digitized by
Google
254
H. Gocht.
Stellung unterliegt das überhaupt keinem Zweifel. Die Innenrotation
ist dadurch charakterisiert, daß beim ausgestreckten Bein die Fu߬
spitze sich einwärts kehrt, daß gleichzeitig der Trochanter major
nach vom tritt, daß die Kniescheibe medialwärts gerichtet ist, daß
der vordere Kopfpol tief vorn in die Pfanne gedreht wird.
Läßt man in dieser Haltung das innenrotierte Bein im Knie¬
gelenk beugen, so schaut die ausgestreckte Fußspitze nach hinten,
unten und außen.
Umgekehrt schaut beim auswärts rotierten, im Hüftgelenk ge¬
streckten, aber im Kniegelenk gebeugten Bein die Fußspitze nach
unten und medialwärts.
Beugt man indessen das im Knie gestreckte Bein im Hüft¬
gelenk maximal, so wird die vordere Kniescheibenfläche des Beins
eigentlich zur hinteren. Drehe ich jetzt die Fußspitze und die
Kniescheibenfläche einwärts, so tritt wieder der vordere
Kopfpol tief in die Pfanne, aber diesmal nicht im vorderen, sondern
im hinteren Pfannenabschnitt, und der Trochanter major tritt nach
hinten; lasse ich jetzt das Kniegelenk beugen, so ist die Fußspitze
nach außen und vorn gedreht.
Rotiere ich aber das im Knie gestreckte, im Hüftgelenk maxi¬
mal gebeugte Bein nach außen, so daß die Fußspitze und die
Kniescheibenfläche lateralwärts gerichtet sind, so tritt jetzt wieder
der hintere Kopfpol tief in die Pfanne, aber im vorderen Pfannenteil,
und der Trochanter major ist seitlich nach vorn gerichtet. Beugen
wir jetzt das Kniegelenk, so sieht die Fußspitze medialwärts
und nach vorn.
Diese letztere ist nun die gewöhnliche Haltung des Fötus im
Uterus:
die Hüftgelenke und Kniegelenke sind gebeugt;
die Oberschenkel sind meist ein wenig adduziert;
die Unterschenkel kreuzen sich derart, daß der
rechte Fuß nach links, der linke Fuß nach rechts ge¬
richtet ist.
Diese Haltung wird, wie gesagt, stets als eine Einwärtsrotation
gedeutet, in Wirklichkeit ist aber die Beinhaltung eine
auswärts rotierte. Dabei drängt also der vordere Kopfpol
gegen die hinteren Kapselpartien. Es wird demgemäß der
Schenkelkopf versuchen, die Pfanne nach hinten zu zu verlassen und
gleichzeitig wird ein starker Druck den Schenkelhals in der Richtung
Digitized by
Google
Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc.
255
nach hinten zu verlegen trachten; es resultiert also eventuell bei der
üblichen Lage eine Luxation nach hinten und ein retrovertiertes
oberes Femurende.
Kommt zu diesen beiden Komponenten außer durch die Ad¬
duktionsstellung nun ein weiterer Druck in der Richtung vom Knie
zur Hüfte, so wird der vordere obere Kopfpol gegen die unteren
hinteren Kapselpartien andrängen; der Kopf sucht hier zu entweichen
und gleichzeitig wird der Schenkelhals im Sinne der Coxa vara her¬
untergedrängt.
Kommt es umgekehrt aus irgend einem Grunde zu einer Ab¬
duktionsstellung der Schenkel und zu einem starken Zug am Ober¬
schenkel in der Richtung von Hüfte zum Kniegelenk, so muß der
untere vordere Kopfpol gegen die oberen oder oberen hinteren
Kapselpartien andrängen; der Kopf sucht also nach oben resp. hinten
oben zu entweichen, und gleichzeitig wird der Schenkelhals im Sinne
der Coxa valga heraufgedrängt.
Fasse ich hier kurz zusammen, so ergibt sich:
Die gewöhnliche Haltung des Fötus in utero drängt unter ge¬
wissen anormalen Zuständen bei Adduktion und Druck zur
Hüfte hin zu einer primären Luxation nach hinten unten
mit Coxa vara-Stellung und retrovertiertem oberen Femur¬
ende, dagegen bei Abduktion oder Zug von der Hüfte
weg zu einer primären Luxation nach hinten oben mit
Coxa valga-Stellung und retrovertiertem oberen Femur¬
ende. Die Normalhaltungen sehen Sie auf den Fig. 1—4 darge¬
stellt; die Figuren sind entnommen^ dem bestbekannten Grundriß zum
Studium der Geburtshülfe von Bumm. Beide werden von Bumm
ausdrücklich als typische oder normale Haltung abgebildet.
Die Fig. 1 zeigt die gewöhnliche Mittelstellung zwischen Ad¬
duktion und Abduktion bei Außenrotation, die Fig. 2 die recht¬
winklige Beugestellung bei Außenrotation.
Dagegen demonstriert die Fig. 3, wie mit der Außenrotation
gleichzeitig eine Abduktion verbunden ist; die Fig. 4 zeigt die Hüft-
beugung und Außenrotation bei nur rechtwinklig gebeugtem Knie.
Bumm sagt weiter: „Die geschilderte Haltung ist allen Föten
gemeinsam. Sie findet sich schon in früher Embryonalzeit und ist
in der ersten Hälfte der Gravidität, wo der Fötus in der weiten Ei¬
höhle Raum genug hätte, um sich auszustrecken, ebenso vorhanden,
wie in der späteren Zeit des intrauterinen Lebens ... Sie bleibt auch
Digitized by
Google
256
H. Gocht.
beim Neugeborenen noch geraume Zeit sichtbar, dessen Neigung,
mit angezogenen Armen und Beinen zu liegen, stets zu Tage tritt,
wenn er Tom Zwang der Binden und Eissen befreit ist. Diese Tat¬
sachen beweisen, daß die zusammengekrümmte Haltung nicht in
Kräften zu suchen ist, welche von außen auf den Fötus einwirken.
Die Frucht wird nicht vom Uterus zusammengedrückt, sondern liegt
deshalb gebeugt, weil diese Art zu liegen der Beschaffen¬
heit seiner Knochen und Gelenke, der Ausbildung und Inner-
Fig. 2.
vation seiner Muskulatur am meisten entspricht. Langdauernde
und stärkere Abweichungen von der typischen Haltung
werden während der Schwangerschaft nur bei toten Früchten be¬
obachtet, lebende verlassen ihre Beugehaltung nur auf kurze Zeit,
wenn sie Bewegungen mit den Extremitäten machen.“ — Dabei wissen
wir, daß die üblichen Kindsbewegungen im Uterus im allgemeinen
nur von den Händen und Vorderarmen, von den Füßen und Unter¬
schenkeln ausgeführt werden.
Nun steht fest, daß in der großen Mehrzahl der Fälle von
Hüftluxation sich immer wieder eine Anteversion des oberen Femur¬
endes zeigt. Damit stimmt also die übliche Haltung der Frucht im
Uterus nicht überein; bei der typischen Haltung, die hauptsächlich
durch Flexion und Außenrotation charakterisiert ist, müßte.
Digitized by L^ooQle
Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc.
25 ^
Dies .kann man sich wieder aufs einfachste an den kleinen beschei¬
denen Wachsmodellen klarmachen: dann nämlich, wenn das Gegen¬
teil der typischen Haltung mit Auswärtsrotation der Fall ist, wenn
einmal zufällig und ausnahmsweise das oder die im Hüftgelenk und
Kniegelenk gebeugten Beine .einwärts rotiert liegen, so daß die
Unterschenkel und Füße nicht medialwärts, sondern
lateralwärts gerichtet sind. Die Füße werden dabei eventuell
in stärkste Pronation gedrängt.
Dann drängt mit aller Kraft der hintere Kopfpol gegen die
vordere Kapselwand, gegen das Ligamentum ileo-femorale anterius,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 17
wenn überhaupt eine Einwirkung durch intrauterine Belastung auf
den Kopf und Schenkelhals angenommen wird, stets und immer eine
Retroversion des oberen Femurendes resultieren. Und dies
Ergebnis steht in direktem Gegensatz zu allen mir bekannten bis¬
herigen MitteUungen anderer Herren.
Meine Herren! Bei welcher Beinhaltung wird denn nun aber
auf das obere Femurende im Sinne einer Anteversion eingewirkt?
Fig. 3.
Fig. 4 .
Digitized by C^ooQle
258
H. Gocht.
und der Kopf und Hals, resp. der ganze obere Pemurteil wird bei
dieser Lage nach vorn gedrängt, antevertiert.
Meine Herren! Diese Lage müßte überhaupt in jeder Hinsicht
für die Trennung von Pfannengegend und Schenkelkopf ungünstig sein.
Erinnern wir uns, daß in der 8.—10. Woche die Entwicklung
der Extremitäten wesentliche Fortschritte macht. Fig. 5 zeigt Ihnen
einen menschlichen Embryo der 6. Woche. Die Beine stehen neben
der Außenrotation auf das stärkste abduziert. Während nun die Beine
bis zur 10. Woche und darüber hinaus mehr in eine adduzierte Stel-
Fig. 5.
Fig. 6.
lung übergeführt werden (Fig. 6, menschlicher Embryo der 10. Woche),
hat soeben die Differenzierung des Hüftgelenkes stattgefunden. Es
hat sich unter Verschwinden des typischen mesenchymalen Zwischen¬
gewebes (intermediären Mesenchymgewebes) zwischen den beiden von
chondrogenem Gewebe bedeckten Knorpelanlagen vom Femurkopf
und Pfanne eine Gelenkspalte (im 3. Fötalmonat) gebildet. Die
den Spalt begrenzenden Enden der Skeletteile zeigen schon früh die
für das Gelenk typische Form. Der medial vom Femurschaft ab¬
gehende Kopf ist schon gebildet und gerade dadurch ist bei nor¬
maler Weiterentwicklung die Notwendigkeit gegeben, daß sich die
Beine nunmehr in geringe Adduktion und Außenrotation begeben.
Digitized by L^ooQle
Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc.
259
Jede gewaltsame Störung dieser HaltungsVerhältnisse muß z. B. bei
festgehaltener Abduktion, bei festgehaltener Innenrotation, bei Druck
in der Richtung auf das Hüftgelenk zu oder bei Zug von ihm weg
zu einer Störung dieser normalen Qelenk-
entwicklung, zu einer Abhebelung der Qelenk-
enden voneinander etc. drängen. Besonders
diese fehlerhaft beibehaltene Innenrotation
bei gestrecktem (Pig. 7) oder noch mehr bei ge¬
beugtem Kniegelenk wirkt dann sehr energisch
derart, daß sich das ganze obere Femur-
stück gegen das untere mittlere im
Sinne der Anteversion verdreht.
Und ich bin der Ueberzeugung, daß
diese verdrehende Kraft sich bei der
Kleinheit des medial entwickelten Femurkopfes
nicht an diesem und dem kaum vorhandenen
Schenkelhals erschöpft, sondern im Schaft des Schenkels.—
Ich würde dementsprechend diese auf Verdrehung im Schenkel¬
schaft beruhende Anteversion, wie ich sie Ihnen nachher
sehr schön an einem Präparat demonstrieren kann, für intra¬
uterin und primär halten, während ich die Verdrehung im Be¬
reich des Schenkelhalses und Kopfes für sekundär, später, teilweise
intra vitam entstanden ansehe.
Ich präzisiere also meinen Standpunkt nochmals dahin: Bei
der gewöhnlichen Haltung des Fötus in utero entsteht
bei der typischen Flexion, Adduktion und Außenrotation
überhaupt kein schädigender Druck bei der Hüftgelenks¬
bildung. Sollte aber einmal aus irgend welchen Gründen ein anor¬
maler Druck oder Zug das Hüftgelenk angreifen, z. B. durch Hängen¬
bleiben an einer amniotischen Falte (Heusner) oder durch amniotische
Verwachsungen, worauf Graetzer neuerdings wieder mit Recht ener¬
gisch hingewiesen hat, so müßte stets eine Retroversion des oberen
Femurendes resultieren.
Umgekehrt muß bei verhinderter Adduktion und
bei der fehlerhaften Einwärtsrotation die Anteversion
eintreten.
Meine Herren! Ich sehe bei allen diesen Erörterungen davon
ab, ob die Hüftluxation als Folge eines Bildungsfehlers anzusehen
ist oder als reine intrauterine Belastungsdeformität, obwohl ich mich
Digitized by
Google
260 Oocht.
als Anhänger der letzteren fühle. Wie man sich aber stellt, immer
müssen Kräfte, die in der geschilderten Weise angreifen, derart um¬
bildend wirken, wie ich es geschildert habe.
Ich möchte nun auch nicht so mißverstanden werden, als ob
ich meinte, jede Hüftluxation entstände etwa Ende des 3. Monats«
Nein. Aber die Gelegenheit ist in dieser Periode günstig. Ich stehe
auf dem Standpunkt, den auch Hirsch oder Heusner einnehmen,
daß es auch später noch zur Luxation unter bestimmten ungünstigen
Verhältnissen kommen wird.
Aber die Fälle unterscheiden sich dann vielleicht gerade in
einem Punkte. Bei meinen zahlreichen Präparaten und bei den vielen
Beobachtungen an Patienten treffen wir immer wieder zwei ganz ver¬
schiedene Luxationsformen, verschieden hinsichtlich der Verschieb¬
lichkeit, hinsichtlich der Stabilität der sekundären Pfanne,
kurz hinsichtlich der Nearthrosenbildung. Eine ganze
Anzahl meiner Präparate zeigt hinten und oberhalb der Primärpfanne
keine Spur von Knochenapposition, im Gegenteil, oft ist in der
Beckenschaufel eine tiefe Impression, eine pfannenartige
rundliche Vertiefung, die ein von den Rändern nach der Mitte zu¬
nehmendes Dünnerwerden des Knochens aufweist.
In anderen Fällen finden wir halbkreisförmig oder nieren¬
förmig oder mehr flachrund mit Bindegewebe bekleidet
eine besonders gezeichnete Stelle, die mehr oder weniger
verdickt ist und eine wulstartige Umrandung enthält.
In wieder anderen Fällen sehen wir eine ganz dicke Knochen¬
auflagerung mit einem ganz dicken Wulstrand, ein rich¬
tiges Nearthrosenlager, das sich pfannenartig nicht unter Im¬
pression, sondern unter Knochenneubildung plastisch entwickelt hat.
Gewöhnlich wird auf die Frage: Warum kommt es in der einen
Reihe von Fällen zu Impressionen, ohne Spur von Knochenneubil¬
dung, warum in anderer zu einer vollkommenen, recht festen Ne¬
arthrosenbildung? geantwortet: In den letztgenannten Fällen hat der
Kopf ohne Zwischenlagerung von Kapselteilen oder nach Durchreiben
derselben dem Beckenknochen angelegen und so eine Knochenneu¬
bildung erzeugt, eine Nearthrose. In den anderen Fällen haben die
Kapsel und sonstige feste bindegewebige Verwachsungen dauernd
zwischen Kopf und Becken gelegen; so ist ein Widerlager ein¬
gedrückt, ohne daß die Knochenproliferation aktiv funktionell an¬
geregt worden wäre.
Digitized by C^ooQle
Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc.
261
Wir fragen aber weiter: Warum kommt es denn in dem
einenFall zur Zwischenlagerung der Kapsel und in dem
anderen nicht? Ich will dabei von Zufälligkeiten absehen und
bin überzeugt, daß gerade hierbei die Zeit der Entstehung ma߬
gebend ist.
Wir wissen nämlich, eine wie große Plastizität der Knochen'
und Knorpel in embryonaler Zeit besitzt. Die trophische Plastizität
beruht auf der gesetzmäßigen Reaktion des Knochens bezw. Knorpels
auf die verschiedenen mechanischen Reize. Nun geht allerdings
schon gleichzeitig parallel mit der Entwicklung des Gelenks aus den
Mesenchymzellen die Bildung der BindegewebszQge als Kapselan¬
lage und Bänder vor sich. Je frühzeitiger aber eine Tren¬
nung der Hüftgelenksteile stattfindet, umso dünner sind
naturgemäß die neugebildeten Kapselteile, umso leichter und inten¬
siver wird es zu Berührungen von Kopf und Schenkelbein kommen,
ein umso stärkerer Reiz wird die sich berührenden Flächen
zur Ausbildung des Kopfes und einer entsprechenden sekundären
Pfanne, kurz zur Nearthrosenbildung anregen.
Und je später es zur Luxation kommt, eine umso kräf¬
tiger entwickelte Kapsel wird sich Zwischenlagern und die Near¬
throsenbildung vereiteln.
Ein außerordentlich schönes Präparat, das mir von Herrn Ge¬
heimrat Oberst-Halle a. S., Bergmannstrost, überlassen worden ist,
ist geeignet. Ihnen eine ganze Reihe interessanter Aufschlüsse zu
geben sowohl über die rein anatomischen Verhältnisse als auch über
die verschiedenen therapeutisch wertvollen Rotations-, Flexions- und
Abduktionsmanöver bei der Hüfteinrenkung. Solch Präparat ist
natürlich viel geeigneter als alle die großen und kleinen Modelle, die
zur Demonstration der Hüfteinrenkung gemacht worden sind. Man
darf die Hüftluxation mit ihren eigenartigen Verbildungen und Ver¬
drehungen nicht an einem Normalpräparat studieren wollen; vor allem
nicht, wenn das Präparat sogar von einem Erwachsenen stammt.
Aber auch irgend ein einzelnes Präparat genügt nicht.
Und noch eines möchte ich betonen. Es ist sicher erfreulich,
wenn mit Tierexperimenten Studien gemacht werden über die Hüft¬
verrenkung. Man soll aber ja nicht vergessen, daß man dann immer
postnatale grobtraumatische Luxationen vor sich hat. An Tierprä-
Digitized by L^ooQle
262
H. Gochi
paraten aber für den Menschen zeigen zu wollen, wie man den wieder¬
eingerenkten Femurkopf in der Primärpfanne wieder festhalten muß,
das dürfte doch nicht ernst zu nehmen sein.
Das Präparat stammt von einem 4 Jahre alten Mädchen mit
rechtseitiger Hüftgelenksverrenkung. Die Reposition hatte sich in
Narkose gut ausführen lassen. Einige Wochen nach der Einrenkung
ist das Kind an Lungenentzündung verstorben.
Das Präparat ist besonders deshalb so wertvoll und instruktiv,
weil die ganze Beckenhälfte mit der ganzen Kapsel, weil ferner der
ganze Oberschenkel mit Kniegelenk und oberem Teil von Tibia und
Fibula erhalten ist.
Geben wir dem Schenkel und der Beckenhälfte die normale
Haltung in aufrechter Stellung, so stellt sich das Bein in mäßige
Innenrotation und Adduktion. Diese normale Haltung läßt sich an
unserem Präparate aufs genaueste rekonstruieren, weil die ganze noch
uneröflfnete Kapsel, besonders in ihren oberen Abschnitten, so außer¬
ordentlich plastisch nnd genau dem Schenkelkopf anliegt: So wie
man es gewöhnt ist von der blutigen Hüfteinrenkung her, wenn man
bei freigelegter Kapsel mitunter den vollkommenen Eindruck hat,
daß der Kopf bereits frei vor uns liegt.
Die Hüftgelenkskapsel ist enorm lang nach hinten oben aus¬
gezogen und der Gelenkkopf steht weit hinten und oberhalb der ur¬
sprünglichen Priraärpfanne. Die Beckenhälfte hängt stark lordotisch
an der Kapsel herab. Suchen wir an der Kapsel die bekannten typi¬
schen Verstärkungsbänder auf, so ergibt sich folgendes:
Das Ligamentum ileo-femorale superius, welches am
Darmbein unterhalb des vorderen Darmbeinstachels entspringt und
von der unteren ürsprungssehne des Musculus rectus feraoris, die an
unserem Präparat erhalten ist, überlagert wird, zieht vorn wagerecht
und etwas nach außen ansteigend und sich verbreiternd zu seiner
normalen Ansatzstelle, der Linea intertrochanterica anterior.
Dieses Band hemmt die Streckung des Schenkels und die Aus¬
wärtsrotation in gestreckter Stellung. Das Band ist kräftig entwickelt
und läßt direkt unter sich das Ligamentum ileo-femorale
anterius verlaufen. Es entspringt unmittelbar unter dem anderen
unterhalb des vorderen unteren Darmbeinstachels und zieht zu seinem
Höcker am medialen Ende der Linea intertrochanterica. Es verläuft
fast wagerecht, nur ein wenig nach außen unten. Auch dieses Band
spannt sich gegen Außenrotation und üeberstreckung.
Digitized by
Google
Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc.
263
Das Ligamentum pubo-femorale yerläuft lang gedehnt
schräg nach oben außen»
Ganz übermäßig kräftig ist schließlich das Ligamentum ischio-
femorale entwickelt. Es verläuft sehr steil nach oben außen. Bei
versuchter Ueberstreckung und bei Innenrotation spannt es sich be¬
sonders kräftig an.
Ziehe ich nun in Strecksteilung den Oberschenkel nach unten,
so spannt sich das Ligamentum ileorfemorale superius und anterius
Fig. 8.
Präparat Ob.: Vorderansicht.]
hem mend an, beide sind also gegen normale Verhältnisse verkürzt;
gleichzeitig werden das Ligamentum pubo-femorale und das Liga¬
mentum ischio-femorale entspannt. Beide sind gegen normale Ver¬
hältnisse verlängert.
Dränge ich dagegen den Oberschenkel in seiner Längsrichtung
nach oben, so spannt sich das Ligamentum pubo-femorale, das Liga¬
mentum ischio-femorale und gleichzeitig das Ligamentum ileo-femorale
superius.
Rotiere ich den gestreckten Oberschenkel nach außen, so spannt
sich eigentlich nur das Ligamentum ileo-femorale superius, während
bei der Einwärtsrotation die Kapsel hinten und das Ligamentum
Digitized by L^ooQle
264
H. Gocht
ischio-femoräle sich stark anspannen. Die ganzen vorderen Kapsel«
Partien werden entspannt und wulsten sich,
Bei rechtwinkliger Beugung des Oberschenkels rollt sich die
vorher spiralig aufgedrehte Kapsel auf und wird in allen Teilen be¬
trächtlich entspannt. Die Führung für die Drehung behält das Liga¬
mentum ileo-femorale superius, und besonders fallt in die Augen, daß
das Ligamentum ileo-femorale anterius, welches in Streckstellung und
Fig. 9.
lig Mwfe/n.
Präparat Ob.: Hinteransicht.
Adduktion den Eingang zur Primärpfanne hindernd überspannt, jetzt
den letzteren vollkommen freigibt.
Gegen eine Ueberstreckung des Hüftgelenks spannt sich die
Kapsel in toto mit allen Verstärkungsbändern an.
Noch zu bemerken wäre hier, daß sich etwa 12 mm hinter der
Spina anterior inferior beginnend bis über die Incisura ischiadica hin¬
aus halbkreisförmig ziehend ein Knochenwulst auf dem Os ilium
Digitized by L^ooQle
Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc.
ä65
angebildet hat, seine Dicke beträgt bis 4 mm, und er bildet die
ürsprungstelle der ganzen oberen (vorderen und hinteren) Hüft-
gelenkskapseL
Am leichtesten läßt sich nun bei diesem Präparat die Ein^^
renkung vollziehen, wenn man das Hüftgelenk um 70—80® beugt
und zur Hälfte abduziert. Dabei stellt sich von selbst Außenrotation
ein und der Kopf wird nun durch Druck auf den Trochanter in die
Fig. 10.
ffintcrrrnherrr
Knochp/LfDulst
Präparat Ob.: Hüfte eingerenkt; Hinteransicht.
Primärpfanne eingetrieben, die hinteren oberen Kapselpartien wulsten
sich und legen sich in einer breiten gleichmäßigen Falte nach der
Trochantergegend zu über den oberen Schenkelhalsabschnitt. Bei
den Einrenkungsmanövern hat auch gleichzeitig eine Lösung der
medialsten Kapselpartien von der vorhin geschilderten Knochen leiste
stattgefunden. Je rigider und starrer übrigens diese verdickten oberen
und medialen Kapselpartien sind, desto weniger leicht werden sich
dieselben bei der Reposition in die hinteren oberen Pfannenabschnitte
einklemmen. Die ganze Gelenkkapsel vorn und unten ist im Be¬
reiche des Ligamentum pubo-femorale und des ileo-femorale anteriiis
durch den in die Primärpfanne eintretenden Gelenkkopf angespannt
und vorgewulstet. Und je weiter ich nun die Abduktionsstellung
Digitized by LjOOQle
266
H. Gocht.
des Schenkels treibe, umsomehr erweitere ich durch den vorwärts
drängenden Qelenkkopf die vordere Pfannentasche, vor allem auch
dadurch, daß ich den Oberschenkel immer mehr nach ^ußen rotiere,
von hinten gegen die Trochantergegend anpresse und auf das Hüft¬
gelenk zu drücke.
Wenn ich bei dieser Stellung einwärts rotiere, so drehe ich
sofort den Kopf nach hinten aus der Pfanne heraus. Verringere ich
Fig. 11.
Hiipsclsptwnnnfj
Kupsrlfaliujy
hinleit
die Abduktion wesentlich, so legt sich sofort die Kapsel wieder zwi¬
schen den Kopf und die vorderen Pfannenpartien.
Ich habe nun absichtlich bis zum Augenblick die Primärstellung
nach der Reposition nicht ins Extrem durchgeführt und die Kapsel
selbst noch unangetastet gelassen, weil ich überzeugt war, daß bei
der Seltenheit eines solchen Präparates einige Herren sich besonders
für den weiteren Mechanismus interessieren würden, und ich bin be¬
reit, die weiteren Manipulationen jetzt hier oder nachher vorzuführen.
Mit dem Meßband erhalten wir das Ligamentum ileo-femorale
superius kaum 2^/4 cm, das Lig. ileo-feraorale anterius 3^4 cm, das
Lig, pubo-femorale 4,7 cm und das Lig. ischio-femorale 5 cm lang.
Uebereinstiramend mit früheren Resultaten ergibt sich jeden¬
falls, daß auch bei diesem Präparat das Lig. ileo-femorale superius
1. stark verkürzt und sehr kräftig ist;
Digitized by L^ooQle
Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc.
267
2. bei fast allen energischen Hüftgelenksbewegungen stark an¬
gespannt wird;
3. bei den ultraphysiologischen Bewegungen dem Schenkelkopf
als verankertes Führungsband dient;
4. daß ferner die rechtwinklige Beugestellung des Hüftgelenks
zur Entspannung der ganzen Hüftgelenkskapsel, ganz besonders der
vorderen Partien führt. In dieser Stellung werden also das Kapsel¬
innere und die vordere untere Pfannentasche am geeignetsten sein,
den Schenkelkopf wieder aufzunehraen und in die eigentliche Primär¬
pfanne eintreten zu lassen.
5. Die Auswärtsrotation bei starker Flexions-, Abduktionsstel¬
lung stellt sich auch bei einem reinen Kapselpräparat als die natür¬
lichste zur Retention des wieder eingerenkten Schenkelkopfes her.
Jede Einwärtsrotation hebelt den Kopf vom Pfannengrunde.
Ueber die genauere Konfiguration des oberen Femurendes des
Schenkelhalses und Kopfes, sowie über die inneren Hüftgelenks- und
Pfannenverhältnisse will ich erst später Einzelheiten bringen. So
viel steht aber schon jetzt fest, daß der Schenkelhals vorn ver¬
längert, hinten dagegen stark verkürzt erscheint. Sieht
man ihn von oben an, so hat man den ausgesprochenen Eindruck
einer Retroversion des Schenkelkopfes. Betrachtet man dagegen sein
RiehtungsVerhältnis zur Querachse der unteren Femurkondylen, so be¬
steht tatsächlich eine Anteversion. Die Verdrehung liegt dabei im
mittleren und oberen Femurschafte.
Hält man ferner den Schenkel zum Becken ohne stärkeren
Zwang in Streckstellung, so tritt eine beträchtliche Einwärtsrotation
auf. Wenn der Patient nun beim Gehen und Stehen gegen diese
Einwärtsrotation angeht und, um die Fußspitze wenigstens geradeaus
zu bringen, das ganze Bein auswärts rotiert, so drückt der vordere
Kopfpol gegen die vorderen Kapselteile, das Lig. ileo-femorale supe-
rius, spannt sich mächtig an und hemmt die Auswärtsrotation mit
großer Kraft. Dadurch entsteht ein Druck gegen den Femurkopf
nach hinten, der Kopf würde dadurch retrovertiert, der Schenkelhals
würde vorn also länger, hinten kürzer.
Wir bekämen hierdurch ein ganz eigenartiges Verhältnis, je
bedeutender die Anteversion des oberen Femurendes, eine umso
stärkere Retroversion des Schenkelhalses und Kopfes müßte intra
vitam resultieren.
Ja, meine Herren, so paradox es klingt, so richtig ist der
Digitized by
Google
268
H. Gocht.
Fig. 12.
Kopf' retronertirrt
Satz doch unter gewissen Umständen. Und wenn ich meine Prä¬
parate und die sehr sorgsamen Zeichnungen und Photographien nach
denselben durchmustere, so ist es ganz auffallend, daß ich auch nicht
Fig. 13.
Priiparat Ob.: in Rückenlage Resondc rs schön die Kap.selfaltung unten
und der kiUltigc Kap.selscliatten oben durch das Hiiltliein hindurch..
Digitized by OiOOQle
Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc.
269
270
H. Gocht.
einen einzigen Pall mit wirklicher Anteversion des Schenkelkopfes
und Halses darunter habe. Im Gegenteil, fast alle Fälle weisen eine
mittlere Stellung oder sogar einen nach rückwärts gerichteten Kopf
auf. Mit größter Ueberraschung habe ich auch in der letzten, sehr
inhaltsreichen Arbeit von Deutschländer über die blutige Hüftver¬
renkung bei der Beschreibung fast aller Präparate gelesen: Schenkel¬
hals antevertiert; vorn verkürzt, hinten verlängert. Bei meinen Prä¬
paraten war es, auch bei blutig operierten Fällen, mit großer Regel¬
mäßigkeit umgekehrt.
Ich muß schließlich noch daran erinnern, daß ja immer sehr
sorgsam unterschieden werden muß zwischen dem eigentlichen Femur¬
kopf und den meist hier liegenden und sich breitmachenden sonstigen
überknorpelten Teilen des oberen Femurendes. Ich werde über die
Kopfverhältnisse in einer späteren Studie eingehend berichten.
Die Röntgenbilder 13, 14 und 15 geben noch manchen inter¬
essanten Aufschluß.
Schlußsätze.
1. Die gewöhnliche Haltung des Fötus in utero ist charakteri¬
siert durch Flexion, Außenrotation und geringe Adduktion der
Hüftgelenke.
2. Jede gewaltsame Forcierung dieser Normalhaltung müßte
(bei tatsächlich zugegebener Druckmöglichkeit) zu einer Retroversion
des oberen Femurendes führen.
3. Bei fehlerhaft forcierter Einwärtsrotation des Hüftgelenks
resultiert eine Anteversion des oberen Femurendes.
4. Die auf Verdrehung im Schenkelschaft beruhende Antever¬
sion müßte als intrauterin und primär entstanden angesehen werden
gegenüber den sekundär intra vitam entstandenen Verdrehungen im
Bereich des Schenkelkopfes und Halses.
5. Bei starker Anteversion des oberen Femurteiles muß es unter
Umständen zu einer Retroversion des Schenkelhalses und Kopfes
kommen.
6. Die frühzeitig im 3.-4. Monat entstehenden Hüftluxationen
neigen am meisten zur Nearthrosenbildung; je später die Luxation
entsteht, umsomehr wird eine Nearthrosenbildung vereitelt.
Uebereinstimmend mit früheren Resultaten ergibt sich, daß auch
bei dem vorliegenden Präparat Ob.
Digitized by L^ooQle
Weitere pathologisch-enatomische Untersuchungen etc.
271
7. das Lig. ileo-femor. sup. stark verkürzt und sehr kräftig ist;
8. dasselbe Lig. ileo-femor. sup. bei fast allen energischen Hüft¬
gelenksbewegungen stark angespannt wird;
9. dasselbe Band bei den ultraphysiologischen Bewegungen dem
Schenkelkopf als verankertes Führungsband dient;
10. die annähernd rechtwinklige Beugestellung des Hüftgelenks
zur Entspannung der ganzen Hüftkapsel, ganz besonders der vorderen
Partien, führt. In dieser Haltung und Entfaltung wird also das
Kapselinnere und die vordere untere Pfannentasche am geeignetsten
sein, den Schenkelkopf wieder aufzunehmen und in die eigentliche
Primärpfanne eintreten zu lassen;
11. die Auswärtsrotation bei starker Abduktionsstellung stellt
sich auch bei diesem reinen Kapselpräparat als die natürlichste zur
Retention des wieder eingerenkten Schenkelkopfes her. Jede Ein¬
wärtsrotation hebelt und schiebt den Kopf vom Pfannengrunde.
Digitized by
Google
XVIII.
Zur blutigen Einrenkung der angeborenen
Hüftluxation’).
Von
Prof. Dr. K. Ludloff.
Mit 2 Abbildungen.
Kein Kapitel in der orthopädischen Chirurgie ist zu einem
solchen befriedigenden Abschluß gekommen, als die Behandlung der
angeborenen Luxation. Diese Erfolge haben wir fast ganz aus¬
schließlich Lorenz zu danken.
Die Lorenz sehe unblutige Repositionsmethode, die die all¬
gemein anerkannte und allgemein geübte souveräne Behandlungs¬
methode ist, hat so schöne Resultate gezeitigt, daß es wohl keinem
Erfahrenen einfallen wird, daran zu rütteln.
Aber doch kommen einzelne Fälle, unter hundert vielleicht
ein oder zwei, vor, in denen es nicht gelingt, den Kopf richtig in
die Pfanne zu bringen und ihn in derselben zu erhalten. So ist es
mir unter den mehreren hundert Einrenkungen, die ich in Breslau
zu machen Gelegenheit hatte, doch 5mal vorgekommen, daß ich den
Kopf nicht richtig einstellen konnte.
Soll man da nun (es handelte sich um Kinder von 4—5 Jahren)
es dabei bewenden und das Leiden seinen Fortgang weiter nehmen
lassen, oder zum Hilfsmittel der Bandage greifen, oder bei solchen
jugendlichen Individuen sich damit begnügen, nur eine Anteposition
des Kopfes zu erzielen?
Für solche Fälle habe ich mich, nachdem ich schon vor Jahren
einen Operationsplan ersonnen und am Kadaver mehrmals ausprobiert
habe, dazu entschlossen, im Einverständnis mit Herrn Prof. Küttner,
im vergangenen Frühjahr diese blutige Einrenkung nach meiner Me¬
thode vorzunehmen und habe bis jetzt Erfolg gehabt; bemerke aber
') Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Geeellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by CjOOQle
Zur blutigen Einrenkung der angeborenen Hüftluxation.
273
gleich von vornherein, daß die Kinder alle noch in der Primär¬
stellung mit hochgradiger Abduktion im Gipsverband liegen und von
einem endgültigen Resultat noch nicht die Rede sein kann.
Da mir aber diese Operationsmethode wertvolle Aufschlüsse
gebracht hat und mir die Schnittführung neu zu sein scheint, so
möchte ich sie Ihnen hier kurz demonstrieren und Sie zur Nach¬
prüfung auffordcrn.
Bisher hat man blutig reponiert von einem hinteren oberen
oder seitlich oberen Schnitt bei extendiertem resp. flektiertem und
adduziertem Bein und ist von oben hinten in die Pfanne eingegangen.
Ich habe einen ganz anderen Weg gewählt. Ich habe in der
Lorenzschen Primärstellung bei rechtwinkliger Abduktion und
üeberstreckung einen vorderen unteren Schnitt gemacht.
Der Gang der Operation war folgender:
Nachdem die unblutigen Repositionsversuche mißlungen waren,
ist das Kind in rechtwinkliger Abduktion, Hyperextension und Außen¬
rotation 3—4 Wochen eingegipst worden. Dann ist in dieser
Stellung, wie Sie es hier auf dem Photogramm (cf. Fig. 1) eines ge¬
heilten Falles sehen, ein Schnitt am lateralen Rande des Adduktor
magnus in die Tiefe gemacht.
Fig. 1.
Digitized by LaOOQle
274
K. Ludloff.
Man kommt dann in den Muskelinterstitien direkt auf die
Incisura acetabuli.
Die Operation gestaltet sich, nachdem der Hautschnitt gemacht
ist, geradezu unblutig. Man braucht nur ein paar kleine Venen zu
unterbinden, in der Tiefe sieht man die Obturatoria und den Obtura-
torius liegen, ohne beide verletzen zu müssen. Die großen Gefäße
liegen weitab lateral.
Man eröffnet dann, während die Muskeln weit auseinander¬
gehalten werden, die Kapsel von der Incisura acetabuli aus und
sieht nun die ganze leere Pfanne mit allen ihren Einzelheiten
vor sich.
Wenn man nun die Lorenz sehen Repositionsmanöver bei er-
öflfneter Kapsel machte, so sah man deutlich, wie sich der Kopf
am hinteren Pfannenrande anstemmte. Er konnte aber in unseren
Fällen nicht eintreten, weil die Kapsel und der Limbus cartilagineus
vor den Kopf hergetrieben wurden und der Kopf nur durch ein
vielleicht erbsengroßes Loch zu sehen war.
Man bemerkte deutlich das eigentliche Repositionshindemis,
den zu engen Isthmus.
Es wurde nun der Limbus cartilagineus und der Isthmus ein¬
gekerbt, bis sich mit einem scharfen Knochenhaken der Kopf fassen
ließ, und so gelang es leicht, den Kopf in die Pfanne zu ziehen.
Obwohl nun deutlich das Mißverhältnis zwischen Kopf und
Pfanne zu sehen war, habe ich mich wohl gehütet, weder am Kopf
noch an der Pfanne noch an der Kapsel außer dem Schnitt irgend
etwas zu verändern, und habe vor allem die Knorpel ganz intakt
gelassen.
Nach dieser Reposition durch Zug am Kopf selbst wurde nun
die untere Kapsel wand, soweit es ging, geschlossen und die Haut
exakt vernäht und sofort ein Gipsverband wie gewöhnlich angelegt.
Die Kinder wurden auf den Bauch gelegt, mit den eingegipsten
Beinen auf ein paar Polster zu beiden Seiten, so daß in der Mitte
eine Rinne für einen Unterschieber blieb. — So sind alle Fälle
reaktionslos per primam geheilt und befinden sich noch in dieser
rechtwinkligen Stellung, wie sie Lorenz vorgeschrieben hat.. Die
Köpfe stehen exakt in der Pfanne, wie z. B. das Röntgenbild Fig. 2
beweist, das nach Abnahme des Gipsverbandes aufgenommen ist und
von demselben Fall wie Fig. 1 stammt.
Digitized by L^ooQle
Zur blutigen Einrenkung der angeborenen Hüftluxation.
275
Fig. 2.
Da an dem oberen und hinteren Teil der Kapsel nicht das
geringste zerschnitten ist, können wir wohl zuversichtlich hoffen,
daß die Köpfe auch ihre Stellung in der Pfanne behalten, wenn
die Stellung mehr im Sinne der Adduktion geändert wird.
Diese eben beschriebene Operationsmethode hat den Vorteil:
1. daß sie wenig blutig ist (es brauchen nur nach dem Haut¬
schnitt ein paar kleine Gefäße unterbunden zu werden; die großen
Gefäße und Nerven bleiben lateral von der Schnittwunde und kommen
gar nicht in den Bezirk der Manipulationen);
2. daß die Pfanne vollständig übersichtlich vor uns liegt;
3. daß keine Bänder- und Kapselteile, die für die spätere
Retention wichtig sind, zerschnitten werden;
4. daß die Operation sehr leicht auszuführen ist;
5. daß alle Zerrungen und brüsken Manöver wegfallen, durch
die man sonst bei einer blutigen Einrenkung der Hüfte die Asepsis
gefährden kann.
Als Nachteil wird man anführen müssen, daß der Schnitt in
der Nähe der Genitalien liegt und leicht infiziert werden kann. Diese
Infektion läßt sich aber vermeiden dadurch, daß man
Digitized by e^ooQle
276 Ludloff. Zur blutigen Einrenkung der angeborenen Hüftluxation.
1. ein paar Tage vorher abführen läßt und dann Opium gibt;
2. im Beginn der Operation die großen Schamlippen und die
Haut über dem Foramen ani durch je eine Naht zusammenbringt,
nachdem man in beide Foramina einen Tampon gebracht hat;
3. indem man die Wunde ohne Drain und ohne Tampon nach
exakter Blutstillung vollständig schließt;
4. indem man das Kind auf den Bauch legt, so daß der ab¬
fließende Urin überhaupt nicht an die Wunde kommen kann.
Daß unter diesen Umständen die Asepsis zu wahren ist, be¬
weist der glatte Verlauf unserer Fälle.
Für den größten Vorteil halte ich den Umstand, daß man mit
diesem Schnitt die Pfanne und den Kopf ganz genau inspizieren kann.
Ich habe diese Verhältnisse an einem Modell zu demonstrieren
gesucht und gebe Ihnen außerdem zur Illustration noch das Prä¬
parat einer Luxation eines 1 V^jährigen Kindes herum, an dem Sie
die bisher selten zu Gesicht kommenden Verhältnisse studieren können.
Leider ist die Kapsel des Präparates, ehe es in meine Hände kam,
von orthopädisch unerfahrener Hand falsch aufgeschnitten worden,
aber trotzdem werden Sie alles das was ich eben gesagt habe, kon¬
statieren und noch folgende interessante Tatsachen erheben können:
1. daß in diesem Falle ein langes Ligamentum teres existiert,
das hier auch Retentionshindernis werden kann;
2. daß in diesem Falle die Pfannengegend von Bindegewebe
stark angefüllt ist, nämlich von den stark hypertrophischen Massen,
die sonst in der Incisura acetabuli liegen;
3. daß der Limbus cartilagineus in diesem Fall nach innen
eingekrempelt ist und sicher ein Retentionshindernis bildet;
4. daß eine Retention in der Pfanne nur durch Außenrotation
und extreme Abduktion möglich ist.
Nach meinen Erfahrungen bei den Operationen und an diesem
Präparat habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß es eigentlich
zu verwundern ist, daß uns in den meisten Fällen die unblutige
Reposition so gut gelingt und daß nicht öfter unbesiegliche Hinder¬
nisse eintreten.
Ich glaube demnach aber auch, daß viele mangelhafte Reten¬
tionen leichter zu bekämpfen wären, wenn wir nach einmaligen ver¬
geblichen Versuchen nicht zu lange mit der blutigen Reposition in
diesem Sinne zögerten.
Digitized by L^ooQle
XIX.
Was aus einigen geheilten angeborenen
Hüftverrenkungen werden kann').
Von
Prof. Dr. Froelich-Nancy.
Wenn man die Heilung einer kongenitalen Hüftluxation er¬
zielt hat und der Operierte schon seit Jahren ganz normal einher¬
geht, so könnte man glauben, daß man mit dem Leiden fertig ist,
und daß keine üblen Folgen mehr zu befürchten sind. Mit dem ist
es aber nicht ganz richtig.
In einigen der glücklich geheilten Fälle kann man nochmals
den Kranken zu Gesicht bekommen, weil Schmerzen sich im Hüft¬
gelenke gezeigt haben, oder weil das Kind wieder angefangen hat
zu hinken.
Wir verfügen über eine eigene Statistik von 230 Fällen von
Hüftgelenksverrenkungen, von denen 30 radikal geheilt sind, 50®/o
fast ganz geheilt und 20 ^/o wegen mannigfacher Ursachen ihr Hinken
behalten haben.
Ganz bemerkenswert ist zu konstatieren, daß diejenigen Patienten,
die wieder später wegen unangenehmer Ereignisse an der Hüfte
zu uns kamen, fast ausschließlich aus denen stammen, die ganz tadel¬
los entlassen wurden.
Es sind 10 an der Zahl, die sich wie folgt einteilen:
1. 4 Fälle mit coxa vara.
2. 2 mit totalem Schwund des Gelenkhalses.
3. 2 mit Coxitis tuberculosa.
4. 1 mit traumatischer Luxation des Hüftgelenks.
5. 1 mit spinaler Kinderlähmung.
*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by L^ooQle
278
Froelich.
Von diesen fünf unangenehmen Zufällen können zwei als mit
der Operation in direkter Verbindung angesehen werden: Coxa vara
und Schwund des Gelenkhalses.
Die zwei folgenden mehr oder weniger in Zusammenhang mit
der kongenitalen Luxation stehend: Coxitis tuberculosa und trau¬
matische Luxation.
Der letzte scheint von der Verrenkung ganz unabhängig, ob¬
schon während der Reposition nicht ganz selten eine Paralyse des
Nervus ischiadicus vorkommt, die unserer später eingetretenen spinalen
Kinderlähmung ganz identisch ist.
Die Coxa vara im Zusammenhang mit angeborener Verrenkung
darf uns nicht wundem: Haben doch alle älteren Autoren, die über
die pathologische Anatomie des Leidens schrieben und auch die neueren
Chirurgen, die blutige Repositionen bei etwas älteren Kindern
machten, gefunden, daß der Schenkelhals zur Diaphyse oft einen
rechten Winkel bildete.
Uns fällt aber auf bei unseren über 250 radiologisch ge¬
prüften Hüftluxationen, daß diese Verbiegung des Schenkelhalses
bei den jung operierten Fällen ganz ausnahmsweise auftrat.
Wir haben 4 Fälle, deren Geschichte wir weiter unten kurz
geben.
Im Kongreß für Pädiatrie in Algier (April 1907) zeigteCurtillet
zwei Mädchen, bei denen ziemlich rasch nach der Einrenkung eine
Coxa vara, die vorher nicht bestand, auf dem Röntgenbilde sich zeigte.
Auf meine Fälle hindeutend, konnte ich in der Diskussion
sagen, daß dieses Ereignis, obschon selten, nichts besonders Ueber-
raschendes vorstelle.
Die Coxa vara, die allmählich nach der Reposition sich bildet,
kann einmal herkommen von der bekannten Disposition der nicht
operierten Luxationen, eine Coxa vara zu bilden;
zweitens von einer Epiphysenlösung, die doch oft ohne, große
Gewalt und ohne Geräusch während der Operation zu stände kommt
und nur später bei der Abnahme des Gipses und der röntgenologischen
Nachuntersuchung klar wird.
Auch kann diese Epiphysenlösung nicht plötzlich zu stände
gekommen sein, sondern nach und nach, während der erzwungenen
Innenrotation: durch das Anstemmeii des Kopfes an die nicht ge¬
nügend tiefe Pfanne und die Torsion, die der Gipsverband am Knie
und Fuß ausübt.
Digitized by CjOOQle
Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 279
Schon Ludloff hat diese Tatsache eruiert in einer Diskussion
auf dem dritten Kongreß für orthopädische Chirurgie (Seite 16 der
V erhandlungen).
Hier sei nebenbei bemerkt, daß diese forcierte Innenrotation
bei flachen Pfannen auch am Knie Unheil anstiften kann. Bei zwei
Kindern von 5 und 7 Jahren, bei denen diese Stellung erzwungen
wurde, habe ich eine Epiphysenlösung am unteren Ende des Femur
erlebt nach ganz sanften Rotationsbewegungen während der Massage.
Die Erklärung des viel selteneren Schwundes des Schenkelhalses
kann man wie folgt aufzustellen suchen.
Auch hier kann man sagen, daß die älteren Autoren den
Schenkelhals bei den Verrenkungen als atrophisch beschreiben. Auch
die Beschreibungen Lorenz* und Kirmissons sprechen immer
noch Yon einem reduzierten Hals und von dem Aussehen des Kopfes
wie ein Wagenpuffer, so daß man annehmen kann, daß eine Luxation,
sich selbst überlassen, später einen atrophischen Hals zeigt.
Bei den operierten Fällen dürfte die Erklärung eine andere
sein. Hier scheint es wieder das Operationstrauma oder die langan¬
haltende Kompression zwischen Kopf, resp. Pfanne und Trochanter
major, in dem Gipsapparat, oder während des Reitens mit ausge¬
spreizten Beinen, das man doch jedes operierte Kind noch lange
Monate nach der Reposition halten läßt.
Durch das ursprüngliche Trauma und durch die nachfolgende
Belastung eines in seiner Beschaffenheit modifizierten Halses ereignet
sich in demselben der rarefizierende Prozeß, den wir in den Wirbel¬
körpern sehen, z. B. nach einem Falle auf den Rücken, der eine Spon¬
dylitis traumatica nach sich führt.
Daß dieser Prozeß aber nicht sehr häufig die Heilung der
kongenitalen Luxation hindert, beweisen die ganz wenigen Fälle, die
publiziert worden sind. Ich kenne nur einen von Curtille und die¬
jenigen, die ich hier veröffentliche.
Die folgenden Krankheiten des reponierten Hüftgelenks haben
wahrscheinlich mit der Operation als solcher weniger zu tun: Es
ist die traumatische Luxation eines früher kongenital verrenkten
Hüftgelenks einerseits und die tuberkulöse Coxitis solcher operierten
Hüftgelenke anderseits.
Die traumatische Luxation einer gesunden Hüfte, ist bei
Kindern ganz selten. Hüter sah sie nie. Krön lein fand auf 400
Luxationen 44 der Hüfte, aber keine bei Kindern.
Digitized by L^ooQle
280
Froelich.
Ich selbst habe einen Fall von Hüftgelenksluxation veröffent¬
licht (Revue Mödicale de l'Est 1907, S. 351) bei einem Mädchen
von 9 Jahren, das eine Kellerlochtreppe hinabgestürzt war. Die
Reposition gelang nach 24 Stunden, und das Kind war nach 3 Wochen
ideal 'geheilt.
Bei meinen 230 reponierten Kindern stiegen die Reluxationen
nach den ersten Monaten auf 20®/o. Später aber sind sie ganz selten
und kommen nicht brüsk, sondern allmählich zu stände.
Eine traumatische Verrenkung nach 6 Jahren bei einer repo¬
nierten kongenitalen Luxation ist ein ganz unerwartetes Vorkommnis.
. Tuberkulöse Coxitis bei kongenital verrenkter Hüfte habe ich
unter 520 Coxitiden, die ich sah, nur 3 gesehen. Dieses Zusammen¬
treffen, wenn man auf die Häufigkeit der Coxitis und der kongeni¬
talen Luxation achtet, ist also ganz selten.
Selten auch und vielleicht wegen derselben noch unbekannten
Ursachen sind die Fälle, bei denen nach gelungener Reposition sich
später eine Coxitis in dem geheilten Gelenk abspielt.
Diese üblen Folgen habe ich zweimal erlebt. Ich gebe weiter
unten kurz die Krankengeschichten derselben.
Beide sind geheilt: die eine, ohne daß der Kopf sich wieder
aus der Pfanne luxierte, nach subtrochanterer Osteotomie wegen
schlechter Haltung des ankylotischeu Gelenkes; die andere nach
Reluxation und offener Eiterung der Coxitis.
Die Coxitis, wenn man sich auf zwei vereinzelte Patienten stützen
darf, scheint also ziemlich gutartig an früher verrenkten und ope¬
rierten Hüften zu verlaufen.
Gar keinen Zusammenhang mit der Reposition einer Hüftver¬
renkung darf wohl eine nachfolgende spinale Kinderlähmung haben,
die ich bei einem Mädchen neulich sah.
9 Monate nach einer ganz gut gebeMten rechten kongenitalen
Luxation spielte sich eine typische Poliomyelitis an demselben
Bein ab, die eine Paralyse der Peronei und Extensoren nach sich führte.
Hier sei bemerkt, daß ganz genau dieselbe Paralyse nach
Reposition einer schwierigen Luxation Vorkommen kann, die aber dann
der Operation zur Schuld fallen muß. Bei einem Kinde von 6 Jahren,
bei einem anderen von 9 Jahren, bei einem dritten von 12 Jahren
erlebte ich eine Paralyse des Nervus popliteus externus. Dieselbe
schwand nach mehreren Monaten bei den zwei ersten Patienten, be¬
steht aber noch heute seit 8 Monaten bei dem dritten.
Digitized by
Google
Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 281
Gocht (Halle) hat gezeigt, daß diese Lähmung durch die
Zerreißung oder Zerrung des Nervus ischiadicus in der Inqisura
stattfindet, wenn der Nerv oberhalb und unterhalb des Musculus
pyriformis aus dem Becken herauskommt.
Dieser Verlauf setzt speziell die Nervenfasern des Popliteus
externus der Zerreißung während der Reposition aus.
A. Was aus einer geheilten kongenitalen HUftluxation
werden kann.
Fall 1. Coxa vara nach gelungener Reposit ion einer
Hüftgelenksluxation. Marguerite Geo . . 7 Jahre alt. Linke
kongenitale Hüftgelenksluxation. Eine Tante hat dasselbe Leiden.
Das Gehen ist sehr schwer geworden seit einigen Monaten. Nach
kaum 100 Metern will das Kind getragen werden. Verkürzung des
linken Beins 3^2 cm. Die Glutealmuskulatur ist sehr atrophisch.
Im Röntgenbild sieht man den Schenkelhals etwas verkürzt,
aber der Winkel des Halses mit dem Schaft ist normal. Das Dach
der Pfanne ist ziemlich deutlich ausgeprägt. Dasselbe gilt von der
Tiefe der Pfanne.
8. September 1905. Reposition nach Lorenz. Abduktion von
60 Grad im Gipsverband. 13. September starkes Anschwellen der
linken Schamlippe.
13. November. Wechsel des Gipsverbandes.
25. Dezember. Abnahme des Verbandes. Kontraktur der Hüfte.
Außenrotation des Fußes. Massage und Mechanotherapie.
7. Februar 190G. Das Gehen ist befriedigend, es verbleibt
etwas Kontraktur der Hüfte.
18. Juni. Der Gang ist normal. Nach sehr langem Gehen
ein wenig Hinken. Die Flexion der Hüfte geht über 90 Grad.
20. Juli. Röntgenaufnahme. Das Pfannendach wuchert über
den Schenkelkopf. Der Schenkelhals ist links kürzer und bildet
einen Winkel von 55 Grad (Coxa vara).
Fall 2. Marguerite Guy . . . ., 3 Jahre. Doppelte Luxation.
Eine Schwester, von der später gesprochen wird, hat nach geheilter
einseitiger Luxation eine tuberkulöse Coxitis Überstunden. Starkes
Wackeln mehr nach rechts als nach links.
Im Röntgenbilde sieht man eine tiefe Pfanne mit fast horizon¬
talem Dach. Der Femurkopf steht 4 cm resp. 3^2 cm über der
Digitized by CjOOQle
278
Froelich.
Von diesen fünf unangenehmen Zufällen können zwei als mit
der Operation in direkter Verbindung angesehen werden: Coxa vara
und Schwund des Gelenkhalses.
Die zwei folgenden mehr oder weniger in Zusammenhang mit
der kongenitalen Luxation stehend: Coxitis tuberculosa und trau¬
matische Luxation.
Der letzte scheint von der Verrenkung ganz unabhängig, ob¬
schon während der Reposition nicht ganz selten eine Paralyse des
Nervus ischiadicus vorkommt, die unserer später eingetretenen spinalen
Kinderlähmung ganz identisch ist.
Die Coxavara im Zusammenhang mit angeborener Verrenkung
darf uns nicht wundern: Haben doch alle älteren Autoren, die über
die pathologische Anatomie des Leidens schrieben und auch die neueren
Chirurgen, die blutige Repositionen bei etwas älteren Kindern
machten, gefunden, daß der Schenkelhals zur Diaphyse oft einen
rechten Winkel bildete.
Uns fällt aber auf bei unseren über 250 radiologisch ge¬
prüften Hüftluxationen, daß diese Verbiegung des Schenkelhalses
bei den jung operierten Fällen ganz ausnahmsweise auftrat.
Wir haben 4 Fälle, deren Geschichte wir weiter unten kurz
geben.
Im Kongreß für Pädiatrie in Algier (April 1907) zeigte Curti 11 et
zwei Mädchen, bei denen ziemlich rasch nach der Einrenkung eine
Coxa vara, die vorher nicht bestand, auf dem Röntgenbilde sich zeigte.
Auf meine Fälle hindeutend, konnte ich in der Diskussion
sagen, daß dieses Ereignis, obschon selten, nichts besonders Ueber-
raschendes vorstelle.
Die Coxa vara, die allmählich nach der Reposition sich bildet,
kann einmal Herkommen von der bekannten Disposition der nicht
operierten Luxationen, eine Coxa vara zu bilden;
zweitens von einer Epiphysenlösung, die doch oft ohne.große
Gewalt und ohne Geräusch während der Operation zu stände kommt
und nur später bei der Abnahme des Gipses und der röntgenologischen
Nachuntersuchung klar wird.
Auch kann diese Epiphysenlösung nicht plötzlich zu stände
gekommen sein, sondern nach und nach, während der erzwungenen
Innenrotation: durch das Anstemmeii des Kopfes an die nicht ge¬
nügend tiefe Pfanne und die Torsion, die der Gipsverband am Knie
und Fuß ausübt.
Digitized by
Google
Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 279
Schon Ludloff hat diese Tatsache eruiert in einer Diskussion
auf dem dritten Kongreß für orthopädische Chirurgie (Seite 16 der
V erhandlungen).
Hier sei nebenbei bemerkt, daß diese forcierte Innenrotation
bei flachen Pfannen auch am Knie Unheil anstiften kann. Bei zwei
Kindern von 5 und 7 Jahren, bei denen diese Stellung erzwungen
wurde, habe ich eine Epiphysenlösung am unteren Ende des Femur
erlebt nach ganz sanften Rotationsbewegungen während der Massage.
Die Erklärung des viel selteneren Schwundes des Schenkelhalses
kann man wie folgt aufzustellen suchen.
Auch hier kann man sagen, daß die älteren Autoren den
Schenkelhals bei den Verrenkungen als atrophisch beschreiben. Auch
die Beschreibungen Lorenz’ und Eirmissons sprechen immer
noch von einem reduzierten Hals und von dem Aussehen des Kopfes
wie ein Wagenpuffer, so daß man annehmen kann, daß eine Luxation,
sich selbst überlassen, später einen atrophischen Hals zeigt.
Bei den operierten Fällen dürfte die Erklärung eine andere
sein. Hier scheint es wieder das Operationstrauma oder die langan¬
haltende Kompression zwischen Kopf, resp. Pfanne und Trochanter
major, in dem Gipsapparat, oder während des Reitens mit ausge¬
spreizten Beinen, das man doch jedes operierte Kind noch lange
Monate nach der Reposition halten läßt.
Durch das ursprüngliche Trauma und durch die nachfolgende
Belastung eines in seiner Beschaffenheit modifizierten Halses ereignet
sich in demselben der rarefizierende Prozeß, den wir in den Wirbel¬
körpern sehen, z. B. nach einem Falle auf den Rücken, der eine Spon¬
dylitis traumatica nach sich führt.
Daß dieser Prozeß aber nicht sehr häufig die Heilung der
kongenitalen Luxation hindert, beweisen die ganz wenigen Fälle, die
publiziert worden sind. Ich kenne nur einen von Curtille und die¬
jenigen, die ich hier veröffentliche.
Die folgenden Krankheiten des reponierten Hüftgelenks haben
wahrscheinlich mit der Operation als solcher weniger zu tun: Es
ist die traumatische Luxation eines früher kongenital verrenkten
Hüftgelenks einerseits und die tuberkulöse Coxitis solcher operierten
Hüftgelenke anderseits.
Die traumatische Luxation einer gesunden Hüfte, ist bei
Kindern ganz selten. Hüter sah sie nie. Krön lein fand auf 400
Luxationen 44 der Hüfte, aber keine bei Kindern.
Digitized by L^ooQle
280
Froelich.
Ich selbst habe einen Fall von Hüftgelenksluxation veröflFent-
licht (Revue M^dicale de TEst 1907, S. 351) bei einem Mädchen
von 9 Jahren, das eine Kellerlochtreppe hinabgestürzt war. Die
Reposition gelang nach 24 Stunden, und das Kind war nach 3 Wochen
ideal geheilt.
Bei meinen 230 reponierten Kindern stiegen die Reluxationen
nach den ersten Monaten auf 20®/o. Später aber sind sie ganz selten
und kommen nicht brüsk, sondern allmählich zu stände.
Eine traumatische Verrenkung nach 6 Jahren bei einer repo¬
nierten kongenitalen Luxation ist ein ganz unerwartetes Vorkommnis.
j Tuberkulöse Coxitis bei kongenital verrenkter Hüfte habe ich
unter 520 Coxitiden, die ich sah, nur 3 gesehen. Dieses Zusammen¬
treffen, wenn man auf die Häufigkeit der Coxitis und der kongeni¬
talen Luxation achtet, ist also ganz selten.
Selten auch und vielleicht wegen derselben noch unbekannten
Ursachen sind die Fälle, bei denen nach gelungener Reposition sich
später eine Coxitis in dem geheilten Gelenk abspielt.
Diese üblen Folgen habe ich zweimal erlebt. Ich gebe weiter
unten kurz die Krankengeschichten derselben.
Beide sind geheilt: die eine, ohne daß der Kopf sich wieder
aus der Pfanne luxierte, nach subtrochanterer Osteotomie wegen
schlechter Haltung des ankylotischen Gelenkes; die andere nach
Reluxation und offener Eiterung der Coxitis.
Die Coxitis, wenn man sich auf zwei vereinzelte Patienten stützen
darf, scheint also ziemlich gutartig an früher verrenkten und ope¬
rierten Hüften zu verlaufen.
Gar keinen Zusammenhang mit der Reposition einer Hüftver¬
renkung darf wohl eine nachfolgende spinale Kinderlähmung haben,
die ich bei einem Mädchen neulich sah.
9 Monate nach einer ganz gut geheMten rechten kongenitalen
Luxation spielte sich eine typische Poliomyelitis an demselben
Bein ab, die eine Paralyse der Peronei und Extensoren nach sich führte.
. Hier sei bemerkt, daß ganz genau dieselbe Paralyse nach
Reposition einer schwierigen Luxation Vorkommen kann, die aber dann
der Operation zur Schuld fallen muß. Bei einem Kinde von 6 Jahren,
bei einem anderen von 9 Jahren, bei einem dritten von 12 Jahren
erlebte ich eine Paralyse des Nervus popliteus externus. Dieselbe
schwand nach mehreren Monaten bei den zwei ersten Patienten, be-
steht aber noch heute seit 8 Monaten bei dem dritten.
Digitized by
Google
Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 281
Gocht (Halle) hat gezeigt, daß diese Lähmung durch die
Zerreißung oder Zerrung des Nervus ischiadicus in der Inpisura
stattfindet, wenn der Nerv oberhalb und unterhalb des Musculus
pyriformis aus dem Becken herauskommt.
Dieser Verlauf setzt speziell die Nervenfasern des Popliteus
extemus der Zerreißung während der Reposition aus.
A. Was aus einer geheilten kongenitalen Hüftluxation
werden kann.
Fall 1. Coxa vara nachgelungener Reposition einer
Hüftgelenksluxation. Marguerite Geo . . 7 Jahre alt. Linke
kongenitale Hüftgelenksluxation. Eine Tante hat dasselbe Leiden.
Das Gehen ist sehr schwer geworden seit einigen Monaten. Nach
kaum 100 Metern will das Kind getragen werden. Verkürzung des
linken Beins 3 Vs cm. Die Glutealmuskulatur ist sehr atrophisch.
Im Röntgenbild sieht man den Schenkelhals etwas verkürzt,
aber der Winkel des Halses mit dem Schaft ist normal. Das Dach
der Pfanne ist ziemlich deutlich ausgeprägt. Dasselbe gilt von der
Tiefe der Pfanne,
8. September 1905. Reposition nach Lorenz. Abduktion von
60 Grad im Gipsverband. 13. September starkes Anschwellen der
linken Schamlippe.
13. November. Wechsel des Gipsverbandes.
25. Dezember. Abnahme des Verbandes. Kontraktur der Hüfte.
Außenrotation des Fußes. Massage und Mechanotherapie.
7. Februar 1906. Das Gehen ist befriedigend, es verbleibt
etwas Kontraktur der Hüfte.
18. Juni. Der Gang ist normal. Nach sehr langem Gehen
ein wenig Hinken. Die Flexion der Hüfte geht über 90 Grad.
20. Juli. Röntgenaufnahme. Das Pfannendach wuchert über
den Schenkelkopf. Der Schenkelhals ist links kürzer und bildet
einen Winkel von 55 Grad (Coxa vara).
Fall 2. Marguerite Guy . . . ., 3 Jahre. Doppelte Luxation.
Eine Schwester, von der später gesprochen wird, hat nach geheilter
einseitiger Luxation eine tuberkulöse Coxitis Überstunden. Starkes
Wackeln mehr nach rechts als nach links.
Im Röntgenbilde sieht man eine tiefe Pfanne mit fast horizon¬
talem Dach. Der Femurkopf steht 4 cm resp. 3V2 cm über der
Digitized by C^ooQle
282
Froelich.
Pfanne. Die untere Hälfte der Pfanne ist etwas hyperplastisch (siehe
Bade- Hannover).
Der Hals ist etwas verdickt und steht zur Diaphyse in einem
Winkel von 110 Grad.
19. Mai 1904. Reposition auf beiden Seiten.
7. September 1904. Abnahme des Gipsverbandes, der 4 Monate
liegen blieb. Etwas Decubitus in der Lendengegend. Kontraktur
beider Hüften (Massage und Mobilisation).
8. Februar 1905. Der Gang ist schon ziemlich gebessert.
10. Juli. Guter Gang, leichtes Hinken nach rechts.
17. November. Der Gang, der mehrere Monate ganz normal
war, zeigt wieder rechts ein gewisses Hinken.
Im Röntgenbilde Coxa vara von 90 Grad rechts.
Fall 3. A.... G.. 21 Monate alt, doppelseitige Hüft¬
verrenkung. Schwächliches Mädchen, charakteristisches Wackeln.
Status praesens 24. September 1904. Die Trochanteren stehen
4 cm höher als die Roser-Ndlatonschen Linien.
Im Röntgenbilde gutausgebildete Pfannen. Der rechte Femur
ist schwächer als der linke. Der Schenkelhalswinkel mißt 115 Grad
(Coxa vara).
27. Januar 1905. Doppelseitige Einrenkung.
8. März. Wechsel des Gipsverbandes.
24. Mai. Abnahme des Gipsverbandes. Massage und Mobilisation.
Nach einem Monate läuft das Kind ganz befriedigend.
8. September 1906. Das Kind fängt wieder an ein wenig zu
hinken.
Im Röntgenbilde sieht man, daß die Coxa vara zugenommen hat
bis zu 100 Grad links, rechts 95 Grad.
Fall 4. Re'nee G., 2 ^2 Jahre. Starkes Mädchen. Für doppelseitige
Hüftverrenkung charakteristischer Gang. Läuft seit dem 19. Monat.
10. April 1904. Röntgenaufnahme. Doppelseitige Luxation.
Kopf rechts 3^2 cm, links 2 cm über der Pfanne. Kopf und Hals
sind verdickt.
Schenkelhalsvvinkel normal. Pfanne ziemlich tief. Muskulatur gut.
Operation 12. April 1904. Abduktion von 90 Grad in Gips¬
verband.
15. April. Eine Röntgenaufnahme durch den Gipsverband
zeigt, daß die Köpfe normal stehen.
Digitized by LjOOQle
Was aas einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 283
25. Juli. Abnahme des Gipsyerbandes. Massage und Be¬
wegungen.
8. Februar 1905. Das Kind läuft ganz vortrefflich.
19. Juli 1905. Im Röntgenbilde sieht mau die Pfanne tiefer
gebohrt, die Schenkelköpfe ein wenig abgeplattet, den Schenkel¬
hals kürzer. Der Halswinkel beträgt 105 und 110 Grad. Das Kind
geht normal ohne Wackeln, klagt aber oft über Schmerzen in den
Hüften.
B. Schwund des Schenkelhalses nach Reposition einer
kongenitalen Hüftluxation.
Pall 1. Marie Sp . . ., 2 Jahre alt (10. November 1904), läuft
seit 4 Monaten.
Für doppelseitige Hüftverrenkung charakteristisches Hinken.
Die Trochanteren stehen 10 cm über der Nelatonschen Linie. Gute
Muskulatur.
Im Röntgenbilde Gelenkpfanne flach. Dach dennoch ausgeprägt.
Femurköpfe und Schenkelhalswinkel normal.
Reposition November 1904. Abduktion von 90 Grad. Während
4 Monaten in Gips, dann noch einen Monat, ohne zu gehen.
Mai 1905. Das Gehen ist schon fast ganz normal. Abends
hinkt das Kind noch ein wenig rechts.
Im Röntgenbilde stehen die Femurköpfe tief in den Gelenk¬
pfannen. Schenkelhalswinkel normal (127 Grad).
Dezember 1907. Drei Jahre nach der Reposition wird uns das
Mädchen wieder zugeführt, weil es wieder angefangen hat zu hinken.
Es soll bis jetzt tadellos gegangen sein.
Status praesens. Das Kind hinkt nach der rechten Seite. Die
Trochanteren stehen normal. Das rechte Bein ist 1^2 cm kürzer als
das linke. Der Druck auf den rechten Trochanter ist schmerzhaft.
Die Abduktion ist rechts geringer als links.
Im Röntgenbilde bemerkt man, daß der Schenkelhals auf der
rechten Seite ganz reduziert ist. Der Femurkopf steht in der Pfanne.
Links besteht eine Coxa vara von 100 Grad. Auch hier ist der
Schenkelhals kleiner.
Fall 2. Jeanne Man . . . ., 3 Jahre alt. Fünftes Kind gesunder
Eltern. Die vier andern Kinder sind gesund. Jenes läuft seit dem
20. Monate, aber hat das bekannte Wackeln der doppelseitig Hüft-
verrenkten.
Digitized by L^ooQle
284
Froelich.
21. Mai 1906. Ira Röntgenbilde doppelseitige Hüftluxation.
Flache Pfannen. Die Köpfe 2^/2 cm über der Pfanne. Normale
Schenkelhalswinkel.
27. Mai. Reposition. 90 Grad Abduktion im Gipsverband während
4 Monaten, dann 2 Monatein einem ledernen Hülsenapparat. (Becken¬
gürtel und in Abduktion versetzbare Schenkelhülsen.)
Der Gang hat sich sehr verbessert, aber das Wackeln besteht.
22. Januar 1907. Im Röntgenbilde Coxa vara von 110 Grad.
25. Juni 1907. Das Wackeln besteht trotz der gelungenen
Reposition. Die Coxa vara hat zugenommen.
Oktober 1907. Die Schenkelhälse sind verschwunden, links
vollständig, rechts besteht noch eine schwache Leiste von Schenkel¬
hals. Coxa vara von 90 Grad. Die Abduktion ist beiderseits sehr
verringert.
Keine Schmerzen. Trotz dieser anatomischen Befunde ist das
Wackeln geringer. Reitstuhl und Massage.
C. Tuberkulöse Coxitis nach geheilter kongenitaler
Hüftgelenksluxation.
Fall 1. Reine Stok . . . ., 12 Jahre alt. Links kongenitale
Hüftverrenkung; wurde im Dezember 1901 in die Kinderabteilung
des Spitals zu Nancy aufgenomineii. Das Kind hat mit 17 Monaten
angefangen zu gehen. Das linke Bein ist heute 2 cm kürzer als das
rechte. Sehr schlechter Gang. Im Röntgenbilde linke Hüftluxation.
Abgeflachte Pfanne. Reposition nach ömonatlichem Gipsverband. Guter
Gang. Am Abend soll das Kind noch ein wenig hinken.
Den 20. Januar 1908, also 7 Jahre nach der Operation kommt
das Kind wieder in die Klinik. Seit Februar 1905, also seit 2 Jahren
soll die früher luxierte Hüfte schmerzhaft geworden sein und ange¬
schwollen. Der behandelnde Arzt legte einen Streckverband an. Nach
6 Monaten waren die Schmerzen wieder verschwunden. Der Gang
war möglich, aber das Hinken sehr stark. Im nächsten Jahre wurde
das Gelenk wieder schmerzhaft und das Mädchen lag 6 Wochen
im Bett.
Status praesens 28. Januar 1908. Ziemlich starkes Mädchen,
normale Lungen. Das linke Bein stark atrophisch.
Die Hüfte ist kontrakt bei 45 Grad Flexion und in Adduktion
von 6 cm. Keine Schmerzen selbst bei den Bewegungsversuchen
des Gelenks. Auch Unempfindlichkeit auf Druck.
Digitized by
Google
Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 285
Im Röntgenbilde sieht man den Kopf sehr atrophisch. Er sitzt in
der Gelenkpfanne. Diese zeigt eine große Erweiterung mit Knochen¬
wucherungen und hellen Partien. Diagnose Coxitis tuberculosa, mit
Ankylose geheilt.
Um die Flexion und Adduktion zu beseitigen: Osteotomia sub-
trochanterica. Heilung per primam nach 6 Wochen.
Fall 2. Berta Gu . . . 7 Jahre alt, hat immer gehinkt, seit
sie gehen kann; hat eine Schwester mit doppelseitiger Luxation.
Das linke Bein ist 3 cm kürzer als das rechte. Im Jahre 1904 wurde
die Luxation eingerenkt. 4 Monate Gipsverband. Nach 2 Monaten
Massage wurde der Gang ziemlich gut, besserte sich nach und nach
und wurde normal. Im Januar 1907 wurde das Knie schmerzhaft und
der Gang unmöglich.
Im Mai 1907 Schwellung der linken Hüfte. Das Kind wurde
mir wieder zugeschickt.
Status praesens 13. Mai 1907. Das Mädchen ist stark ab¬
gemagert, ein kalter Abszeß sitzt zwischen Spina iliaca anterior su-
perior und großem Trochanter. Der Trochanter steht in der Höhe
der Spina, so daß sich die Luxation wieder hergestellt hat. Das
Bein ist 2 cm kürzer als das rechte, hat geringe Adduktion, aber
keine Flexion. Diagnose: Coxitis tuberculosa nach einer vor 3 Jahren
glücklich eingerenkten Hüftluxation.
Nach dreimaliger Punktion ohne Jodoforminjektion heilte der
Abszeß. Gehgipsapparat.
März 1908. Die Schmerzen sind verschwunden. Die Hüfte
ist nicht mehr geschwollen, nicht empfindlich auf Druck. Gutes
Allgemeinbefinden.
D. Traumatische Verrenkung einer seit 6 Jahren ge¬
heilten Hüftluxation.
Marie Louise Man . . ., 10 Jahre alt; wurde in der Kinder¬
klinik im Jahre 1901 als 3jähriges Kind mit einer kongenitalen
Luxation der rechten Hüfte behandelt. Einrenkung nach Lorenz.
Ein Jahr später hinkte das Kind nicht mehr und konnte den
ganzen Tag ohne Müdigkeit stehen und gehen.
Den 12. Dezember 1907 rutschte es mit den Holzschuheii im
Schnee aus, fiel zu Boden, vermochte sich nicht mehr zu erheben
und blieb 3 Wochen im Bett. Dann wurde das Gehen wieder ver-
Digitized by e^ooQie
286 Froelich. Was aus einigen geheilten angebor. Hüftverrenk. werden kann.
sucht. Es gelang mit vieler Mühe, etwas Schmerzen und großem
Hinken.
Den 20. Januar 1908 wurde es in die Klinik wieder aufgenommen.
Zehnjähriges, starkes Mädchen. Der Gang ist schwierig. Die rechte
Hüfte leicht flektiert und adduziert. Die Bewegungen sind möglich.
Die Abduktion und Extension aber sind unvollständig. Der Tro¬
chanter steht 3 cm über der Nelatonschen Linie. Im Röntgen¬
bilde Luxatio femoris iliaca. Einrenkung unter Chloroform. Gips¬
verband in Abduktion von 60 Grad. Nach 4 Wochen Abnahme des
Verbandes. Die Hüfte ist steif. Massage und Bewegungen.
Den 24. März wurde das Kind entlassen. Die Bewegungen
der Hüfte gewinnen an Umfang. Flexion bis 45 Grad. Adduktion
und Abduktion 20 Grad. Das Hinken ist immer beträchtlich, aber
das einer steifen Hüfte, nicht einer Luxation. Ira Röntgenbilde sitzt
der Kopf in der Pfanne. Diese ist ziemlich normal.
E. Poliomyelitis anterior (spinale Kinderlähmung) nach
Einrenkung einer kongenitalen Hüftluxation.
Marie Col . . . ., 2 Jahre alt. Rechte angeborene Hüftgelenks¬
verrenkung. Trochanter 2 cm über der Nälatonschen Linie; wurde
ira März 1907 reponiert und eingegipst. Nach 5 Monaten fing das
Kind wieder an zu gehen.
Den 23. November wurde das Kind in die Klinik gebracht.
Das Gehen war ganz normal. Keine Spur mehr vom Hinken. Die
Bewegungen sind in allen Richtungen vollständig. Die Abduktion
allein bleibt ein wenig zurück.
In den ersten Tagen des Januar 1908 wurde das Kind krank
(Fieber, Erbrechen), und 10 Tage später, als das Kind wieder auf die
Füße gestellt wurde, konnte es sich nicht mehr auf das rechte Bein
stützen.
27. Februar. Das Kind kann gehen, aber schleudert das rechte
Bein. Waden und Schenkel sind atrophisch. Die Hüfte ist normal.
Der Kopf steht in der Pfanne. Gänzliche Lähmung der Peronei
und Extensoren der Zehen, ausgenommen des Extensor hallucis;
Massage und Elektrizität.
Digitized by C^ooQle
XX.
Grundsätze der Behandlung veralteter traumatischer
Hüftgelenksverrenkungen').
Von
Prof. Dr. Adolf Lorenz-Wien.
Mit 4 Abbildungen.
Ich trete an die Behandlung dieses Themas mit dem Bewußt¬
sein heran, mich in die Gefahr zu begeben, für anmaßend gehalten zu
werden, denn streng genommen sind meine Erfahrungen auf dem
bezeichneten Gebiete so gering, als dies eben möglich ist, um über¬
haupt von Erfahrung sprechen zu können. — Dieselben beziehen
sich nämlich auf einen „einzigen“ Fall.
Für mich wiegt dieser eine Fall an Wichtigkeit zehn andere
auf, weil er mir zum ersten Male die Gelegenheit bot, meinen vor
Jahren hierzu gemachten Vorschlag praktisch zu prüfen.
Einem etwaigen Vorwurfe der Anmaßung kann ich übrigens
mit dem Hinweise auf den Umstand begegnen, daß ich bisher weit
über 1000 Fälle von kongenitalen Luxationen auf unblutigem Wege
reponiert habe, von denen ein gewisser, wenn auch nicht allzu großer
Prozentsatz Schwierigkeiten geboten hat, welche sich sehr wohl jenen
bei veralteten traumatischen Luxationen an die Seite stellen lassen.
Ganz dasselbe gilt für nicht wenige unter den 150 blutigen Re¬
positionen kongenital luxierter Hüftgelenke, welche ich seinerzeit in
der blutigen Aera der Luxationstherapie ausgeführt habe.
Allerdings habe ich in einer meiner diesbezüglichen Mitteilungen
gesagt, daß die kongenitale und die traumatische Hüftverrenkung
nicht viel mehr als den Namen miteinander gemeinsam haben, und
daß dementsprechend auch ihre Therapie eine verschiedene sein
0 Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by
Google
288
Adolf Lorenz.
müsse. Ich muß Herrn E. Goldmann recht geben, wenn er mir
entgegenhält, daß dies so summarisch ausgesprochen nicht richtig
ist. Ich habe es auch eigentlich nicht so gemeint, und wollte mich
mit diesem Ausspruche vornehmlich auf die Nachbehandlung der
Reposition beziehen, denn diese selbst ist, sofern sie unblutig aus¬
geführt wird, in beiden Fällen offenbar das analoge, oder vielmehr
dasselbe Manöver.
Die aus irgend einem Grunde irreponibel gewordene, oder der
Gefährlichkeit der Repositionsmanöver halber als irreponibel zu be¬
trachtende kongenitale Hüftverrenkung ist nun vollends unter
demselben Gesichtspunkte zu betrachten wie die irreponible ver¬
altete traumatische Hüftverrenkung. Die Erfahrungen, welche ich
an den Fällen der einen Kategorie sammeln konnte, müssen offen¬
bar auch für jene der anderen verwertbar sein, so daß ich mich
für berechtigt halte, in der Sache mitzureden.
Selbst für einen durch dezennienlange vielseitigste Erfahrungen
blasiert gewordenen Kliniker bedeutet die Einlieferung eines Patienten
mit veralteter traumatischer Hüftgelenksverrenkung ein kleines
Lokalereignis, das sich Beachtung erzwingt. Wer eine zu große
Bürde der Verantwortung scheut, weil er vielleicht die eine oder
andere üble Erfahrung mit ähnlichen Fällen gemacht hat, stellt sich
leicht auf den Standpunkt übergroßer Vorsicht und entläßt den
Patienten nach einem sanften Versuch der Reposition als ungeheilt
und unheilbar. Ich kenne solche Fälle und finde das Vorgehen des
Chirurgen begreiflich, aber im Widerstreit mit dem Interesse des
Kranken.
Wer den Fall energisch und mit radikalen Tendenzen angeht,
weiß niemals, was ihm seine hingebenden Bemühungen eintragen
werden, ob das herrliche Gefühl des erreichten Erfolges — oder
schwere Sorge um das Leben des Kranken. Ich glaube deshalb
im allgemeinen annehraen zu dürfen, daß ein derartiger Patienten¬
zuwachs nicht gerade zu den freudigen Lokalereignissen der chirur¬
gischen Kliniken und Abteilungen gehört.
Ich will im folgenden darzulegen versuchen, daß man den
Interessen des Patienten vollkommen gerecht werden kann, ohne das
Leben desselben in Gefahr zu bringen, und dadurch sich selbst mit
einer furchtbaren Verantwortung zu belasten.
Vor allem muß mit dem Grundsätze gebrochen
werden, die Indikation der blutigen Reposition für ge-
Digitized by e^ooQie
Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen, 289
geben zu erachten, wenn die unblutige Reposition selbst
in wiederholten Sitzungen mißlingt.
Man wird sich vor Augen halten mtissen, daß die blutige Re¬
position der veralteten Hüftgelenksverrenkung eine eminent lebens¬
gefährliche Operation ist und auch dann noch bleibt, wenn die noch
mangelhafte Technik derselben verbessert sein wird.
Selbst Payr, der überzeugte Verteidiger der blutigen Re¬
position, legt seiner Empfehlung die Beschränkung auf, daß dieser
schwere Eingriff nur an gesunden und kräftigen Indi*
viduen auszuführen ist.
Die Statistik der blutigen Repositionen veralteter traumatischer
Hüftgelenksluxationen gibt durchaus keine sicheren Anhaltspunkte
für die Beurteilung des Verhältnisses von Einsatz und Gewinn.
Die Todesfälle durch Shock, Sepsis und erschöpfende Eiterun¬
gen werden wahrscheinlich öfter verschwiegen, als mitgeteilt.
Auch die Resultate der blutigen Reposition sind keineswegs so
glänzende, daß sie den gefährlichen Eingriff zu rechtfertigen ver¬
möchten. Codivilla und Gold mann haben mit Recht darauf
hingewiesen, daß ausgezeichnete sogenannte ideale Resultate nur bei
relativ rezenten Luxationen jugendlicher Individuen erreicht
wurden, während die Erfolge bei älteren Luxationen Erwachsener
viel zu wünschen übrig lassen.
Dabei ist nicht zu vergessen, daß es sich meistens um un¬
mittelbare Resultate handelt. Eine Statistik der entfernteren End¬
resultate liegt nicht vor.
Nach den Erfahrungen, welche diesbezüglich bei der. blutigen
Reposition kongenitaler Verrenkungen gemacht wurden, darf man
mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Endresultate der
analogen Operation traumatischer Luxationen durch spätere Ent¬
stehung von mehr weniger starren Kontrakturstellungen des Beines
sehr wesentlich getrübt wurden.
Es ist dies auch a priori anzunehmen, denn ein Hüftgelenk
mit defekter Muskelführung ist der Kontrakturbildung unrettbar
verfallen.
Die Operationsmethode, welche fast ausschließlich zur blutigen
Reposition traumatischer Luxationen zur Anwendung gelangte, mußte
der Kontraktur im Sinne der Adduktion und Flexion ganz beson¬
deren Vorschub leisten, da sie nicht auf dem Prinzipe der absoluten
Muskelschonung basierte.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 19
Digitized by CjOOQle
290
Adolf Lorenz.
Zur Mobilisierung des oberen Femurendes wurde von einem
hinteren Schnitte aus die Loslösung sämtlicher am großen und
kleinen Trochanter inserierenden Muskeln vorgenommen. Ich habe
für diesen- Akt den bezeichnenden Ausdruck „Skelettierung* des
oberen Femurendes geprägt, und immer wieder darauf hingewiesea,
daß hiedurch die funktionswichtigsten pelvitrochanteren Muskeln
schwer geschädigt, oder ganz ausgeschaltet werden. Da diesen
Muskeln die Horizontalhaltung des vom Standbeine einseitig gestütz¬
ten Beckens obliegt, so muß ihre geschädigte oder ganz ausfallende
Wirkung notwendig zur Beckensenkung, also zur Adduktions¬
kontraktur führen.
Des ferneren habe ich nacbgewiesen, daß diese funktions*
wichtigste Muskelgruppe durchaus nicht das wesentliche Hindernis
für die Herabholung des Schenkelkopfes in das Pfannenniveau bildet;
daß dieses vielmehr in der Verkürzung der langen pelvifemoralen
Muskeln gelegen ist.
Payr hat in seinen Mitteilungen ganz richtig hervorgehoben,
daß eine möglichst geringfügige Verletzung der Weichteile um das
Gelenk und der Gelenkskapsel, insbesondere aber der Muskelansätze
das erstrebenswerteste Ideal wäre, welches am Hüftgelenke zweifellos
am schwierigsten zu erreichen sei. Er erblickt in dem Mikuliczschen
Vorschläge der Abmeißelung des großen Trochanters samt seinen
Muskelinsertionen einen großen Fortschritt, allerdings nur für das
Kindesalter, denn in schwierigen Fällen sei die, wenn auch nicht
vollständige Ablösung der Muskelansätze vom Trochanter kaum zu
umgehen.
Payr glaubt aber sicher, daß es frische Fälle von irreponiblen
Hüftluxationen gibt und geben wird, in denen man von einem vor¬
deren Schnitte aus mit Elevatorium und kräftigster Hohlschere inter-
ponierte Kapselteile oder sonstige Repositionshindernisse beseitigen
können wird, ohne den Muskelapparat in schwerer Weise zu schädigen.
Dieses Ziel habe die Technik anzustreben, da ein solches Vorgehen
die Gefahr des Eingriffes, die Heiluiigsdauer und das Endresultat
im günstigsten Sinne beeinflussen müssen.
Es ist wohl fraglos, daß jedermann mit Payr diesbezüglich
vollkommen übereinstimmen muß.
Nur wundert es mich, daß die Operationsmethoden der blutigen
Reposition der angeborenen Hüftgelenksverrenkung so wenig Einfluß
auf die blutige Reposition der traumatischen Luxation geübt haben.
Digitized by LjOOQle
Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenks Verrenkungen. 291
Bei fortgesetzter Uebung der blutigen Reposition kongenitaler
Verrenkungen war deren endgültige Technik in kürzester Zeit zur
Vollendung gediehen. Hoffa hatte die übliche Operationsmethode
der traumatischen Hüftluxation auf die kongenitale Verrenkung über¬
tragen. Die traurigen funktionellen Folgen der Skelettierung des
oberen Femurendes blieben nicht aus. Es bedurfte nur der Er¬
kenntnis von der außerordentlichen funktionellen Wichtigkeit der
pelvitrochanteren Muskeln, um der von mir inaugurierten Methode
der absoluten Muskelschonung allerwärts den Sieg zu sichern.
Aber es scheint, daß die Aera der blutigen Reposition der
kongenitalen Verrenkung zu kurz war, um Gemeingut der Chirurgen
zu werden, denn sonst wäre es vielfach unverständlich, daß die
Skelettierung des oberen Femurendes bis zur Stunde die herrschende
Methode zur blutigen Reposition traumatischer Hüftverrenkungen
bleiben konnte.
Aehnlichen Erwägungen gibt Codivilla Raum in seinen inter¬
essanten Mitteilungen über die Behandlung veralteter traumatischer
Hüftluxationen.
Tatsächlich ist Codivilla der erste unter den orthopädischen
Chirurgen gewesen, welcher den von Hoffa seinerzeit eingeschlagenen
Weg in entgegengesetzter Richtung verfolgte und die Methode der
absoluten Muskelschonung, welche sich bei der blutigen Reposition
der kongenitalen Verrenkung verdientermaßen die Alleinherrschaft
erworben hatte, mit vollem Erfolge auf die blutige Reposition der
veralteten traumatischen Hüftluxation übertrug.
Sollte ich in einem Falle von veralteter traumatischer Hüft¬
verrenkung die klare Indikation zur blutigen Reposition für gegeben
erachten, so würde ich wie in alter Gewohnheit bei der kongenitalen
Luxation in folgender Weise Vorgehen:
Zunächst präparatorische Extension des (durch die voraus¬
gegangenen Versuche der unblutigen Reposition an seiner patho¬
logischen Lagerungsstelle möglichst gelockerten) Schenkels resp.
Schenkelkopfes nach eventueller präliminarer subkutaner Tenotomie
der Adduktoren und der Kniekehlensehnen. Erst wenn der Schenkel¬
kopf annähernd in Pfannenhöhe steht, folgt der operative Akt:
vorderer Hautschnitt an der Spina ant. sup. schräg nach abwärts
und etwas weniges nach auswärts, Durchdringung der Fascia lata
zwischen hinterem Rande des Tensor fasciae und vorderem Rande
des Glutaeus medius, Vordringen bis zur Kapsel, Ablösung derselben
Digitized by L^ooQle
292
Adolf Lorenz.
von der vorderen Fläche des Kopfes und Halses, Freilegung des
hinteren oberen Pfannenrandes und Ausräumung der Pfannenhöhle
mittels starker scharfer LöfFel. Es folgt die Herabholung des
Schenkelkopfes mittels manueller oder instrumenteller graduierter
Extension, während der Operateur mit Hilfe beider Hände in der
Wunde die Lokomotion des Schenkelkopfes kontrolliert und die je¬
weilig zweckmäßigste Richtung des Zuges kommandiert.
Um folgenschwere Verstöße gegen die Asepsis während des
Repositionsmanövers zu vermeiden, darf der Operateur nicht aus
seiner lediglich beobachtenden Rolle fallen und verläßt mit seinen
Fingern die Wunde erst nach glücklich vollzogener Reposition. Die
Einfachheit der gesetzten Wunde erlaubt vollkommene Naht derselben.
Verband in ganz leichter Abduktionsstellung des Schenkels.
Ich bin überzeugt, daß durch Akzeptierung dieser Methode
die Operation einen großen Teil ihrer Schwierigkeit und ihrer Ge¬
fährlichkeit verlieren würde.
Gänzlich wird die Lebensgefährlichkeit der Operation allerdings
niemals zu vermeiden sein.
Obwohl ich so viele und zum Teil sehr schwierige blutige
Repositionen kongenitaler Luxationen bei Kindern mit Glück und Er¬
folg ausgeföhrt habe, muß ich doch ganz offen gestehen, daß ich
mich niemals und unter gar keinen Umständen dazu entschließen
könnte, die blutige Reposition einer veralteten traumatischen Luxa¬
tion bei einem Erwachsenen auszuführen, da nach meinem Gefühl
die Gefährdung des Lebens des Patienten einen unverhältnismäßig
großen Einsatz gegenüber dem möglichen Gewinne bedeutet.
Nach meinem Empfinden muß ich die Indikation der
blutigen Reposition veralteter traumatischer Luxationen
unbedingt als nicht zu Recht bestehend bezeichnen.
Unser oberstes Prinzip muß sein und bleiben, dem
Patienten ohne die geringste Gefährdung seines Lebens
den möglichst größten Nutzen zu schaffen.
Dies ist einzig und allein durch die unblutige Re¬
position möglich. Ist diese absolut unerreichbar, so tritt
die Pseudoreposition, oder die Transposition des Schenkel¬
kopfes in subspinale Stellung oder in laterale Apposition
in ihr Recht.
Die Resultate, welche damit ohne die geringste Lebensgeßhr-
dung der Patienten gewonnen wurden, sind jenen der eminent
Digitized by L^ooQle
Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen, 293
lebensgefährlichen blutigen Reposition zum mindesten ebenbürtig,
wenn nicht gar überlegen.
Die unblutige Reposition der kongenitalen Hüftverrenkung war
berufen, auch auf die unblutige Einrenkung der veralteten trauma¬
tischen Luxationen befruchtend zu wirken.
Die befriedigenden Resultate, welche sich bei irreponiblen
kongenitalen einseitigen Luxationen, durch Transposition des Schenkel¬
kopfes in subspinale Stellung oder laterale Apposition erreichen
ließen, mußten doch auch bei den irreponiblen, sei es veralteten oder
rezenten traumatischen Luxationen im Bereiche der Möglichkeit ge¬
legen sein.
Von dieser Ueberzeugung durchdrungen habe ich in meiner
Mitteilung „Zur FunktionsVerbesserung defekter Hüftgelenke“ auf
dem I. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für orthopädische
Chirurgie auch für die veralteten traumatischen Hüftverrenkungen
im Falle ihrer Irreponibilität die Transposition des Schenkelkopfes
in subspinale Stellung oder in laterale Apposition zur Vermeidung
der blutigen Reposition empfohlen.
Leider fehlte mir damals und bis in die jüngste Zeit eine
diesbezügliche Erfahrung, und ich mußte mich auf die Anregung be¬
schränken, die bei der unblutigen Behandlung irreponibler kongeni¬
taler Luxationen gewonnenen Erfahrungen bei den irreponiblen trau¬
matischen Verrenkungen zu verwerten.
Es freut mich konstatieren zu können, daß diese Anregung in
chirurgischen Kreisen nicht ganz unbeachtet geblieben ist.
Ich begrüße in Herrn Prof, Goldmann (Freiburg i. Br.) einen
überzeugten Anhänger meiner Anschauungen. Go 1 d m ann beschreibt
eingehend den Fall einer 84 Tage alten Hüftverrenkung bei einem
49jährigen Manne. Als alle Repositionsversuche mißlangen, suchte
der Operateur von einer überstreckten Abduktionsstellung aus den
Kopf gegen den vorderen unteren Pfannenrand anzudrängen und
ihn in einer möglichst günstigen Stellung fixiert zu erhalten. Nach
4 Wochen war der federnde Widerstand der luxierten Extremität
(gewichen, die Beweglichkeit war eine ausgiebige. Das Röntgenbild
zeigte den Kopf in der Pfanne stehend, aber vom Grunde derselben
durch eine im Laufe der Beobachtung sich verschmälernde Zwischen-
fiubstanz getrennt. Der auf die Pfannengegend transponierte Kopf
hatte sich eine Nearthrose in der alten Pfanne modelliert. Das
Digitized by C^ooQle
294
Adolf Lorenz.
funktionelle Resultat dieser Transposition gestaltete sich schließlich
zu einem idealen.
In einem zweiten Falle, der einen 22jährigen Patienten mit
67 Tage alter Hüftverrenkung betraf, stellte Ooldmann nach ver¬
geblichen Repositionsversuchen den Kopf durch überstreckte Ab¬
duktion subspinal nach vorne von der Pfanne, so daß der Schenkel¬
hals in sagittaler Ebene stand. Der Kopf schaute nach vorne, der
Trochanter nach hinten. Fixation des Beines in Abduktion, Ex¬
tension, Außenrotation. Unter allmählicher Bildung einer genügend
tiefen nearthrotischen Gelenkhöhle etwas oberhalb der normalen
Pfanne gestaltete sich das funktionelle Endresultat (bei 3 cm Ver¬
kürzung) zu einem außerordentlich günstigen.
Dieser zweite Goldmannsche Fall stellt das typische Bild
jener Transposition vor, welche ich als laterale Apposition des
Schenkelkopfes bezeichnet habe.
Soweit sich die engeren orthopädischen Fachkollegen in jüngster
Zeit mit der in Rede stehenden Frage beschäftigt haben, stimmen
ihre Anschauungen mit den meinigen vollkommen überein. So hat
Codivilla in dem 6 Monate alten Luxationsfalle eines 56jährigen
Mannes eine Transposition des Schenkelkopfes auf die Pfannengegend
ausgeführt und ein ausgezeichnetes funktionelles Resultat (ohne Ver¬
kürzung bei geringer Beweglichkeitseinschränkung) erreicht. Auch
in diesem Falle war der Schenkelkopf anfänglich durch interponierte
Gewebe, welche später der Atrophie verfielen, von der Pfanne ge¬
trennt.
Auf die Transposition des Schenkelkopfes bei irreponiblen
Hüftverrenkungen neuerdings hingewiesen zu haben, ist kein allzu
großes Verdienst; denn die Transposition ist nichts Neues, sondern
ebenso alt als die ersten Repositionsversuche schwieriger, veralteter
Luxationen.
Der Italiener Paci, welcher auch bei der kongenitalen Ver¬
renkung des Hüftgelenkes im besten Falle nur eine Transposition
des Schenkelkopfes für möglich hielt, ist als der erste Verteidiger
der Transposition auch bei den veralteten traumatischen Luxationen
zu bezeichnen.
Man hat in solchen Fällen, seit überhaupt Luxationen einzu¬
renken versucht wurden, viel öfter, als man glauben mochte, Trans¬
positionen statt Repositionen erreicht und das gute Endresultat als
Reposition gepriesen.
Digitized by L^ooQle
Grundsätze d. Behdig. veralteter träum. Hüftgelenksyerrenkungen. 295
Die gereiftere Erfahrung wird in Zukunft zwischen diesen
beiden Erfolgen der Einrenkungsversuche zu unterscheiden wissen;
sie wird die Reposition anstreben, sich aber nötigenfalls mit
einer Transposition zufrieden geben.
Die früheren und jetzigen Verteidiger der Transposition bei
irreponiblen traumatischen Hüftverrenkungen betrachten es als ihre
Aufgabe und als ihr eigentliches Verdienst, mit allem Nach¬
druck darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß mit dem
Mißlingen der unblutigen Reposition durchaus noch nicht
die Indikation zur blutigen Reposition vorliege, sondern
daß dann zunächst die Transposition des Schenkelkopfes
in Betracht komme, weil deren Endresultate den Ver-
gl eich mit jenen der blutigen Reposition durchaus nicht
zu scheuen haben, und weil diese Resultate —und hierin
liegt der Schwerpunkt der ganzen Frage — im Gegen¬
sätze zu der eminent lebensgefährlichen blutigen Repo¬
sition, ohne jedes Risiko für den Patienten erreich¬
bar sind.
Was von Unglücksfällen bei schwierigen Repositionsversuchen
in der älteren Literatur erzählt wird, kann ihren Wert nicht beein¬
trächtigen, denn die moderne unblutige Einrenkungstechnik arbeitet
nicht mehr mit Gewaltmitteln, nicht mehr mit forcierter Extension,
sondern mit zielbewußten Circumduktionen der Extremität. Maschi¬
nelle Extension (Lorenz sehe Schraube) kommt nur noch für eine
blutige Reposition in Betracht und ist auch ursprünglich nur für
diese konstruiert worden. (Vgl. oben.)
Es erübrigt mir nun noch die Darstellung meiner Beob¬
achtung.
Der Patient, ein muskulöser Fuhrmann von 34 Jahren, wurde
(am 16. Jan. 1908) beim seitlichen Ausweichen der scheuenden
Pferde von seinem schweren Lastwagen gegen eine Mauer an ge¬
drückt, stürzte zu Boden und konnte sich nicht mehr erheben.
Patient bemerkte, daß das linke Bein in der Hüfte „eingezogen“
war und rasch anschwoll. Aufnahme in ein Landspital, wo durch
14 Tage kalte Ueberschläge gemacht und ein durch Weichteil¬
quetschung entstandener Abszeß an der Außenfläche des Ober¬
schenkels eröffnet wurde. Als der Patient das Bett verließ, konnte
er nicht auftreten und kam um Hilfe in das orthopädische Ambu¬
latorium, wo folgender Befund erhoben wurde.
Digitized by L^ooQle
296
Adolf Lorenz.
Der Kranke geht mit Hilfe zweier Krücken, wobei das linke Bein
untätig in der Luft hängt. Auch nur leises Auftreten auf der linken
Fußspitze macht dem Patienten Schmerz. Das linke Bein befindet
sich in leichter Innenrollung bei ca. 30 Grad Flexion; die Adduktion
ist etwas bedeutender, so daß bei Rückenlage des Patienten das in
manifester pathologischer Stellung gehaltene Bein das untere Drittel
des Femur der anderen Seite überkreuzt. Die Trochanterspitze
fühlt man auffallend hoch stehen. Der Kopf ist unter den dicken
Muskelschichten nicht zu palpieren. Aktive Bewegungen des Ober¬
schenkels nicht möglich, passive Exkursionen sind schmerzhaft, von
sehr geringem Umfange und etwas federnd. An der Außenfläche
des Oberschenkels große Narbenflächen als Folgen der seinerzeitigen
W eichteilquetschung.
Im Drange der Geschäfte wurde es leider unterlassen, von dem
Patienten eine Photographie anzufertigen, um die Körperhaltung
und Beinstellung im Bilde festzuhalten. Uebrigens entsprach der
Anblick äußerlich genau dem allgemein bekannten Bilde einer
coxitischeu Beinstellung nach abgelaufenem Prozeß. Das sofort
aufgenommene Röntgenbild (Fig. 1) ließ die ziemlich starke Adduktion
des Oberschenkels deutlich erkennen. Außerdem zeigte sich die
Pfanne leer und der Oberschenkelkopf in iliakaler Luxationsstellung,
wobei der Kopfschatten zu etwa */3 vom Darmbeinschatten gedeckt
wird. Einige leichte, umschriebene Schatten zwischen Trochanter
minor und Pfanne ließen auf Absprengung von Knochenpartien von
den Pfannenrändern schließen.
Bei dem Alter der Luxation (7 Wochen) und des Patienten und
bei dem sehr kräftigen Körperbau desselben schienen mir die Aus¬
sichten für das Gelingen der Reposition nicht eben glänzend zu sein, und
wir versahen uns aller jener Schwierigkeiten, welche meine Assi¬
stenten veranlaßten, Turniere dieser Art als „Feste“ zu bezeichnen.
In tiefer Narkose des Patienten wurden zur Lockerung des Schenkelkopfes
zunächst, leider mit geringem Erfolge, rhythmische manuelle Ex¬
tensionen in Anwendung gezogen. Die vorsichtig gehandhabte
Schraubenextension hatte keinen besseren Erfolg. Nun wurde der
Patient auf eine am Boden liegende Matratze gebettet, das Becken
auf beiden Seiten gegen dieselbe fixiert und nunmehr Extension des
rechtwinklig flektierten Oberschenkels ausgeführt. Zu diesem Be-
hufe legte der kräftigste unter den Assistenten, Herr Dr. v. Aberle,
ein Herkules an Stärke, die oberhalb des krankseitigen Knies an-
Digitized by
Google
Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen. 297
Fig. 1.
geschlungene Extensionsschlinge um seinen Nacken, erfaßte deren
Enden mit beiden Händen und erhob sich nun langsam aus der
gebückten Stellung zu seiner vollen Höhe, während der Operateur
(Dr. Reiner) auf der Matratze knieend Richtung und Stärke des Zuges
dirigierte und die Bewegung des Trochanters kontrollierte. Ich
selbst beschränkte mich vorläufig auf gute Ratschläge und hielt meine
Kraft in Reserve. Das anstrengende Fest dauerte über eine halbe
Stunde und endete mit dem Erfolge einer gänzlichen Erschöpfung
aller Teilnehmer. Immerhin war der Schenkelkopf viel lockerer
und beweglicher geworden, und die passive Motilität des Ober¬
schenkels hatte wesentlich zugenommen. Die Beugung war bis
über den rechten Winkel möglich, und die vorhandene Adduktion
ließ sich leicht in geringe Abduktion verwandeln. Extension in der
Richtung der Körperachse hatte nach wie vor geringen Erfolg. Ich
ließ den Patienten nunmehr auf den Operationstisch lagern und sah
mich bei der anscheinenden Unmöglichkeit einer anatomischen Re-
Digitized by LaOOQle
298 •
Adolf Lorenz.
Position der Luxation zum erstenmal in der Lage, eine Transpo-
aition des Schenkelkopfes in subspinale Stellung oder in laterale
Apposition als Selbstzweck anzustreben. Ich begann mit dem Ver¬
suche, den Schenkelkopf lateral zu apponieren, weil dies das leichtere
Manöver ist. Dies geschah in der Weise, daß der gesunde Schenkel
zur Fixation des Beckens maximal flektiert wurde, während der
kranke Schenkel nach gründlicher subkutaner Myorrhexis addiictorum
in starker Abduktion einer mäßigen Hyperextension unterzogen
wurde, so daß seine Stellungsebene unter, resp. hinter die Frontal-
obene zu liegen kam. Dabei stellte sich der Schenkel in deutliche
Außenrotation, der Trochanter war direkt nach hinten, der Schenkel¬
kopf direkt nach vorne gerichtet, der Schenkelhals stand sagittal.
Der vordere Pol des Kopfes war unterhalb, aber schon ein klein
wenig nach außen von der Spina ant. sup. fühlbar. Der Puls der
Arteria femoralis wurde namentlich während des üeberstreckungs-
manövers wiederholt kontrolliert und stets normal befunden. (Die
von Redard jüngst ausgesprochene Befürchtung, es könnte durch
üeberstreckung des Schenkels eine Gefäßruptur entstehen, erscheint
mir vollkommen unbegründet, da bei der bestehenden, unaus¬
geglichenen Verkürzung eine schädliche Anspannung der Gefäße
geradezu ausgeschlossen ist. Aus demselben Grunde ist auch eine
Zerrungslähmung des Nervus cruralis nicht zu befürchten.)
Es bestand nun die Absicht, das Bein in einer zum Gehen
noch brauchbaren Abduktion und geringer üeberstreckung zu fixieren.
Die durch die vorgenommenen Manöver erreichte große Beweglich¬
keit des Schenkelkopfes regte indessen die Idee an, auf dem Wege
<ler Circumduktion eine Transposition in subspinale Stellung „auf*
<lie Pfanne zu versuchen, wenn schon eine radikale anatomische
Reposition „in“ die Pfanne unmöglich bleiben sollte. Zu diesem
Behufe mußte die iliakale Luxation zunächst in eine obturatorische
verwandelt werden. Dies geschah durch Flexion des krankseitigen
Schenkels, die sich nunmehr leicht bis zur Berührung der Vorder¬
fläche des Oberschenkels mit der vorderen Bauch- und Thoraxfläche
steigern ließ. Dabei beschreibt der Trochanter resp. der Schenkel¬
kopf einen nach vorne oÖenen Kreisbogen um die hintere Circum-
ferenz der Pfanne und erreicht, längs derselben immer weiter nach
abwärts steigend, die Höhe des Foranien obturatum, von welchem der¬
selbe durch den aufsteigenden Sitzbeinast getrennt bleibt. Leichte
Außenrollung und Abduktion des Schenkels aus maximaler Flexion
Digitized by C^ooQle
Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen. 299
heraus ließ den Schenkelkopf den aufsteigenden Sitzbeinast über¬
springen. (Dies wird unterstützt resp. erleichtert, wenn der Patient
mit der hinteren Fläche der prominenten Trochantergegend auf der
Schneide eines hohen Holzkeiles liegt, welcher das Hypomochlion
für die Transposition des Schenkelkopfes auf das Foramen obturatum
abgibt. Man wird sich hüten müssen, die Transposition auf das
Foramen ovale mit der Reposition des Kopfes in die Pfanne zu ver¬
wechseln, da die Einrenkungsphänomene in beiden Fällen nahezu
dieselben sind.) Erst als der Schenkel aus seiner noch immer spitz¬
winkligen Flexion, kombiniert mit leichter Außenrollung und geringer
Abduktion, allmählich in die Strecksteilung überführt wurde, mußte
der Schenkelkopf aus dem Foramen ovale wieder in die Höhe
steigen und den unteren Pfannenrand überspringen. Dies geschah
unter ebenso deutlichem Phänomen, wie die Transposition des Kopfes
auf das Foramen obturatum. Der Schenkel erlaubte nunmehr alle
normalen Bewegungen, die Verkürzung war verschwunden, die Leisten¬
gegend voll geworden, die Arteria cruralis pulsierte auf der harten
Unterlage des Schenkelkopfes. Man hätte in diesem Falle füglich
von einer anatomischen Reposition des Kopfes „in“ die Pfanne
sprechen können, und ich zweifelte schon damals keinen Augenblick
daran, daß dies auch das schließliche Endresultat sein werde. Doch
hatte ich den bestimmten Eindruck, daß Kopf und Pfanne nicht in
unmittelbarer Berührung standen, daß nicht Knochen auf Knochen
saß, sondern daß Weichteile, mutmaßlich Kapselfetzen, Gewebs-
füllsel der verlassenen Pfanne etc. zwischen den Gelenkkörpem inter-
poniert waren. Ich konnte z. B. die Pfanne und ihre Ränder nicht
in gewohnter Weise mit dem Kopf als Sonde abtasten, auch schien
die Stabilität bei geringer Adduktion schon unzureichend zu werden,
denn es erfolgte Reluxation, welche neuerliche Reposition auf dem
schon beschriebenen Wege erforderte. Es war also vorläufig gewiß
nichts anderes erreicht, als eine Transposition „auf" die Pfanne,
welche nach eingetretenem Druckschwund der interponierten Weich¬
teile zu einer anatomischen Reposition des Kopfes „in“ die Pfanne
werden kann, oder, falls dies nicht geschehen sollte, doch voraus¬
sichtlich mindestens eine funktionell brauchbare Nearthrose „auf“
der Pfannengegend verspricht.
Zur Stabilisierung der gewonnenen Korrektionsstellung des
Kopfes wurde der Schenkel in ziemlich starker Abduktionslage und
ganz geringer Beugestellung durch einen bis zum Knie reichenden
Digitized by L^ooQle
300
Adolf Lorenz.
f
Oipsverband fixiert. Die Haut der durch ein starkes Hämatom ge¬
schwellten Leistenbeuge war vorher reichlich mit Vaseline ein¬
gefettet worden. Ganz auffallend und zeitweise geradezu beängstigend
war der Shock, unter dem der Patient
während des ersten und zweiten Tages litt.
Es mußten alle Exzitantien herhalten, um
denselben zu überwinden. Die Schwellung
des Scrotums, des Oberschenkels und der
ünterbauchgegend machte schon am näch¬
sten Tage eine lineare Spaltung des Ver-
f bandes notwendig. Durch 5 Tage hindurch
wurden Temperatursteigerungen bis 38 Grad
beobachtet. 14 Tage nach der Reposition
wurde der Verband abgenommen und Pa¬
tient begann mit Gehübungen, welche keine
Schmerzen verursachten. Leider konnte eine
[ methodische gymnastische Nachbehandlung
nicht durchgeführt werden, da der Kranke
nach Hause drängte, um seine Arbeit wie-
: der aufzunehmen, da er sich ganz wohl fühle.
Die vor seinem Austritt aufgenommene
Photographie (Fig. 2) zeigt die noch immer
beträchtliche Schwellung des linken Ober¬
schenkels. Der deutliche Tiefstand der linken
Patella, resp. die scheinbare Verlängerung
des linken Oberschenkels weist auf eine habi¬
tuelle Abduktionshaltung des linken Hüft¬
gelenkes hin, welche vorläufig aus Sicher-
heitsgründen vorteilhaft erscheint und des-
halb durch entsprechende Erhöhung der ge-
sundseitigen Sohle stabilisiert wird.
Das Röntgenbild (Fig. 3) zeigt den
Schenkelkopf in tadelloser konzentrischer
Repositionsstellung in der Pfanne. Es bleibe dahingestellt, ob die
Knorpelflächen der Gelenkkörper in unmittelbarer Berührung stehen,
oder ob Kapselfetzen oder sonstige Weich teile interponiert sind.
Jedenfalls läßt das Röntgenbild eine Restitutio ad integrum er¬
warten. Fig. 4 ist das zugehörige üebersichtsbild.
Was ich in dem vorhergehenden sagen wollte, läßt sich in
Digitized by
Googk
Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen. 301
Kürze folgendermaßen zusammenfassen: Die irreponible traumatische
Luxation des Hüftgelenkes ist unter demselben Gesichtspunkte zu be¬
trachten, wie die irreponible kongenitale Luxation.
Die blutige Reposition irreponibler Hüftverrenkungen ist eine
eminent lebensgefährliche Operation, deren Resultate nur in ver¬
einzelten Fällen rezenter Luxation bei jugendlichen Individuen vollständig
befriedigend waren. Die Prognose der Resultate veralteter irreponibler
Fig. 3.
Luxationen wird bei Erwachsenen notwendig durch spätere Bildung
mehr oder weniger rigider Ankylosen in fehlerhafter Stellung getrübt.
Die Gefährlichkeit der blutigen Reposition irreponibler trauma¬
tischer Hüftverrenkungen wird durch die herrschende Methode der
zwecklosen Skelettierung des oberen Femurendes sehr wesentlich und
ganz unnötigerweise vermehrt.
Wer die Indikation der blutigen Reposition einer veralteten irre-
poniblen Hüftverrenkung beim Mißlingen der unblutigen Reposition für
gegeben erachtet, wird die übernommene, erschreckend schwere Ver¬
antwortung sicherer tragen, wenn er sich der Operationsmethode der
Digitized by LjOOQle
302
Adolf Lorenz.
absoluten Muskelschonung bedient, welche sich bei der blutigen Re¬
position kongenitaler Verrenkungen so außerordentlich bewährt hat.
Aber selbst damit wird die Lebensgefährlichkeit der Operation
nur vermindert, keineswegs aber behoben.
Von dem gewiß richtigen Grundsätze ausgehend, „daß es das
oberste Prinzip unseres Handelns sein und bleiben muß, dem Pa¬
tienten ohne die geringste Gefährdung seines Lebens den möglichst
Fig. 4.
größten Nutzen zu schaflfen,“ plädiere ich mit voller üeberzeugung
dafür, die Indikation der blutigen Reposition irreponibler traomati*
scher Luxationen des Hüftgelenkes als „nicht zu Recht bestehend*
zu betrachten; an ihre Stelle hat die Pseudoreposition zu treten,
d. h. die Transposition des Schenkelkopfes in subspinale Stellung
oder in laterale Apposition.
Die Resultate der Transposition werden auf völlig gefahr¬
losem imd kürzerem Wege erreicht, als jene der blutigen Re-
Digitized by L^ooQle
Grundsätze d. Behdig. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen. 303
Position und sind diesen letzteren zum mindesten ebenbürtig, ja
sogar überlegen.
Die Transposition des Schenkelkopfes auf die Pfannengegend
in subspinale Stellung ist der Transposition in laterale Apposition
Yorzuziehen, aber schwieriger auszuführen.
Die subspinale Transposition erfolgt durch Umwandlung der
Luxatio iliaca zunächst in eine Luxatio obturatoria durch leichte Ab¬
duktion und Außenrollung aus maximaler Flexion des Schenkels,
wobei der Schenkelkopf den aufsteigenden Sitzbeinast unter Pseudo¬
phänomenen überspringt und sich auf das Foramen ovale lagert; von
hier wird derselbe durch Streckung des Oberschenkels über den
unteren Pfannenrand unter wahren Phänomenen in die Pfanne ver¬
lagert und eine anatomische Reposition erzielt, wenn sich keine
Weichteile interponieren. Ist dies der Fall, bleibt also der Schenkel¬
kopf durch Oewebskulissen oder durch Gewebsneubildung in der
Pfanne von dieser getrennt, so begnüge man sich mit der Pseudo¬
reposition, der Transposition des Schenkelkopfes „auf“ die Pfanne,
eine Stellung, aus welcher durch Druckschwund der interponierten
Weichteile sekundär noch eine wahre anatomische Reposition oder
doch zum mindesten eine gut funktionierende Nearthrose in der
Pfannengegend werden kann.
Die Erfolge der subspinalen Transposition sind zweifellos jenen
der blutigen Reposition überlegen, da die Beweglichkeit der Near¬
throse in der Regel eine genügende bleibt.
Die Resektion des Schenkelkopfes, resp. des oberen Femur¬
endes ist eine Verlegenheitsoperation, welche sich aus dem so
häufigen Mißlingen der blutigen Reposition ergibt, und sollte als
Selbstzweck gar niemals in Betracht kommen.
Von blutigen Eingriffen ist bei absoluter Immobilität des Schenkel^
kopfes in seiner iliakalen Nearthrose lediglich die Osteotomia sub-
trochanterica behufs Stellungskorrektur des Oberschenkels indiziert.
Es ist aber daran zu erinnern, daß diese Operation lediglich
eine symptomatische ist und hinter der Transposition des Schenkel¬
kopfes, resp. der Schaffung einer Nearthrose in möglichster Pfannen¬
nähe an Wert zurückstehen muß.
Nicht nur bei der kongenitalen, sondern auch bei der irre-
poniblen traumatischen Hüftverrenkung verdient die unblutige
Therapie den Vorzug vor der blutigen Behandlung.
Digitized by L^ooQle
XXI.
Zur Frage des traumatischen Plattfußes').
Von
Dr. Carl Deutschländer-Hamburg.
Mit 7 Abbildungen.
Die Beziehungen des Plattfußes zu den mannigfachen Funk¬
tionsstörungen des Fußes sind in der neueren Fachliteratur ver¬
schiedentlich Gegenstand der Erörterung gewesen und haben sowohl
zu einer schärferen Differenzierung dieser Zustände geführt als auch
eine Reihe neuer bemerkenswerter Tatsachen zu Tage gefördert.
Ich weise hier kurz nur auf die Arbeiten von Möhring*) über
traumatische Gelenkneurosen und von Ewald*) über die Beziehungen
der Tuberkulose zum Plattfuß hin. Ferner gehören hierher die Ver¬
öffentlichungen von Hasebrocküber chronisch entzündliche Ver¬
änderungen im Chopartsehen und Lisf ran eschen Gelenk auf rheu¬
matischer bezw. gichtischer Grundlage, von Lehr^) aus der Schanz-
schen Klinik über den Calcaneussporn und von Gaugele®) über das
Os tibiale externum.
Schon diese kurze Zusammenstellung läßt erkennen, wie mannig¬
fache und ätiologisch vollkommen verschieden zu bewertende Zustände
sich unter dem Bilde des Plattfußes verbergen können. Was vom
Plattfuß im allgemeinen gilt, das gilt auch von seinen besonderen
Formen, und ich möchte mir erlauben, an dieser Stelle auf eine
Erkrankungsform hinzuweisen, die man bisher unter dem Begriffe
des traumatischen Plattfußes subsumiert hat, die aber zweifellos
eine Sonderstellung einzunehmen berechtigt ist.
*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Mö bring, Zeitschr. f. orth. Chir. 1901, Bd. 9 Heft 4.
*) Ewald, Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstr. Bd. 12.
Hasebrock, Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 11 S. 362.
*) Lehr, Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 19 S. 473.
®) Gäugele, Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 19 S. 494.
Digitized by CjOOQle
Zur Frage des traumatischen Plattfußes.
305
Bekanntlich bezeichnet man als traumatischen Plattfuß im
engeren Sinne im allgemeinen die Deformität, die nach schlecht
geheilten malleolären bezw. supramalleolären Abduktionsbrüchen zu
stände kommt. Wie Steudel, ßiedinger u« a. betont haben,
handelt es sich aber dabei zunächst immer nur um einen Knickfuß,
einen Pes valgus, und erst unter dem Einflüsse der fehlerhaften Be¬
lastung kommt es hierbei zu einem Einsinken des Fußgewölbes.
Eine weitere Gruppe des traumatischen Plattfußes bilden die schweren
Veränderungen des Fußgewölbes, wie sie nach Kompressionsbrüchen
des Talus und Calcaneus auftreten. Ferner ist hierzu der Distorsions¬
plattfuß zu rechnen, der sich nach Lockerung und Zerreißung.des
Bandapparates unter dem Einflüsse einer zu frühzeitigen und zu
starken Belastung entwickelt. Allen diesen Formen gemeinsam ist
außer der traumatischen Ursache der anatomisch nachweisbare Be¬
fund der allmählichen Abflachung des Fußgewölbes, die zu den
bekannten Beschwerden Anlaß gibt.
Im Gegensatz zu diesen klinisch gut charakterisierten Formen
beobachtet man nicht selten Fälle, bei denen gleichfalls nach einem
meist sogar ziemlich unbedeutenden Trauma schwere Funktions¬
störungen und Behinderungen des Gehaktes auftreten, die ganz den
Charakter der Plattfußschmerzen tragen, bei denen aber auffallender¬
weise selbst nach jahrelangem Bestände keine Veränderung des Fu߬
gewölbes nachzuweisen ist. Derartige Fälle als Plattfuß zu bezeichnen,
nur weil plattfußähnliche Beschwerden bestehen, dürfte wohl nicht
angängig sein. Ebensowenig lassen sie sich dem von Schanz be¬
schriebenen Krankheitsbilde des „Plattfußes ohne Plattfuß“ einreihen,
denn wenn auch derartige Zustände, wie sie Schanz beschrieben
hat, häufig genug in der orthopädischen Praxis Vorkommen, so tritt
doch in diesen Fällen stets, sobald eine rationelle Therapie unter¬
bleibt, in mehr oder weniger kurzer Zeit ein Einsinken des Fu߬
gewölbes ein, und die Schmerzen sind hier immer die Vorboten der
später klinisch nachweisbaren Veränderung des Fußskelettes. Das
trifft aber bei den von mir angedeuteten Fällen in keiner Weise zu,
und es ist gerade das Charakteristikum dieser Fälle, daß die Be¬
schwerden und Störungen des Gehaktes unverändert jahrelang be¬
stehen, ohne daß eine nennenswerte Neigung zum Einsinken des
Fußgewölbes nachweisbar ist.
Die Krankengeschichten derartiger Fälle sind ungemein typisch.
In der Regel hat eine keineswegs schwere Verletzung des Fußes,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. ßd. 20
Digitized by
Google
306
Carl Deutschländer.
eine Distorsion oder Kontusion stattgefunden, die aber trotz Bett¬
ruhe, trotz feuchter Umschläge und anderer Maßnahmen in der nor¬
malen Zeit nicht zur Ausheilung gelangen will. Der Fuß bleibt
schmerzhaft und ist für den Gehakt unbrauchbar, obwohl äußerlich
nichts nachweisbar ist. Um sich den Zustand zu erklären, wird in
der Regel die Diagnose Plattfuß gestellt, da ja bekanntlich am Fuße
alles, was man sich nicht erklären kann, ein Plattfuß sein muß.
Es werden mehr oder weniger zweckentsprechende Einlagen ver¬
ordnet, wie sie in den Bandagistenläden käuflich sind, oder es wird
Fig. 1.
4 Monate alter Verrenkungsbruch des Kaviculare bei einem 2ijiihrigen Mädchen, Dis¬
torsion, üraknicken des Fußes beim Tanzen. Naviculare plantarwärts lang ausgezogon.
zackige Fragmente, Naviculargelenkflilche breit sichtbar und unregelmäßig ovalär, Ueber-
gang vom Talus zum Naviculare erfolgt in eiuem deutlichen treppenförmigen Absatz.
auch vielleicht einmal ein Gipsverband angelegt. Aber die er¬
wartete Besserung bleibt aus. Nun wird bisweilen der Röntgeno¬
loge noch zu Rate gezogen, der aber gleichfalls die Sachlage zu
klären nicht in der Lage ist, weil die in Betracht kommenden Ver¬
hältnisse wenig bekannt sind und das Röntgenbild anscheinend keine
pathologische Veränderung aufweist. Der Patient wird nach und
nach ungeduldig; inzwischen ist ein halbes Jahr seit der Verletzung
vergangen, ohne daß sich sein Zustand wesentlich geändert hat; er
verliert das Vertrauen zu seinem bewährten Hausarzte und fangt
teils mit, teils ohne Einwilligung desselben an, die Aerzte zu wechseln.
Nunmehr werden alle möglichen physikalischen, elektrischen, hydro¬
therapeutischen und ähnliche Prozeduren angewandt, auch die Kunst
Digitized by L^ooQle
Zur Frage des traumatischen Plattfußes.
307
des orthopädischen Schuhmachers, der „garantiert schmerzlos“ ar¬
beitet, bleibt nicht unversucht; sind genügend Mittel vorhanden, so
werden auch noch verschiedene Badereisen gemacht; aber alles will
Fig. 2.
3 .Tahrf! alter V'eiTcnkungsbruch des Naviculare tarsi (Sturz auf die Fußspitze, Fig. 3 Ver-
gleichsaufiialinie). Naviculare unregeliniißig, hanunerförmig, in der unteren Partie gebuchtet
und in die Länge gezog*'n; sehr breite Sichtbarkeit der navikularen Gelenkflache. Deut¬
liche Veränderungen am Talus (cl. Fig 6). Der Uebergang vom Talushals zum Taluskörper
stark geknickt (alte Infraktion?). Die Tibiagelenkfläche des Taluskörpers stark abge¬
plattet, im Vergleich zur kugeligen Gestalt des entsprechenden Gelenkkörpers am gesunden
FiiÜ (cf. Fig. 6); die Begrenzung von Talus und (’alcaneus verschwommen.
Vergleichsaufnahme zu Fig. 2. Der gesunde Fuß zeigt regelmäßiges Naviculare und regel¬
mäßig gestalteten Talus; die Grenzen zwischen Talus und Calcaneiis sind vollkommen klar.
nichts helfen, und schließlich ergibt sich der Patient resigniert in
sein Schicksal.
Die Schilderung dieser Krankengeschichte klingt vielleicht etwas
drastisch, aber sie entspricht durchaus persönlichen Erfahrungen.
Digitized by CaOOQle
308
Carl Deutschländer.
OflFenbar sind derartige Zustände keineswegs selten, und seitdem ich
mich etwas eingehender mit ihnen beschäftige, d. i. seit etwa
1V« Jahren, habe ich 14 derartige Fälle beobachten können ^).
Fig. 4.
8 Jahre alter Bruch des Naviculare bei einem 21jährigen Mädchen (Umknicken auf ebener
Erde). Ausgesprochene Arthritis deformans des Chopartschen Oelenks. (Fig. 5 Vergleichs¬
aufnahme.) Naviculare unförmig vergrößert, Arthritis im Vergleich zum Naviculare in
Fig. 6; plantarwärts ist das Naviculare mehrfach gebuchtet und in die L&nge gezogen.
Die navikulare Gelenkßilche breit sichtbar; am Dorsum des Naviculare mächtige arthritische
Knochenauflagerungen. Talushals zeigt verschiedene stark konturierte Linien; stark ge*
buchteter Uebergang des Collum tali in das Corpus tali (Infraktion?).
Fig. 5.
Dieselbe Patientin. Vergleichsaufnahme des gesunden Fußes. Naviculare klein, regelmäßig
gestaltet; schmale sichelförmige GelenkflUche; Tuberositas nur schwach angedeutet.
Das veranlassende Trauma war in der Mehrzahl der Fälle, wie
schon erwähnt, recht geringfügig. In 6 Fällen war eine leichte
Distorsion, ein ümknicken, Ausgleiten oder Fehltreten des Fußes an¬
gegeben, 3mal war ein Sturz auf die Füße aus wechselnder Höhe
erfolgt; in 4 Fällen fanden direkte Gewalteinwirkungen, Fall eines
*) Anm. während der Korrektur: Inzwischen ist die Zahl auf einige
20 Fälle gestiegen.
Digitized by
Google
Zur Frage des traumatischen Plattfußes.
309
Fig. 6.
Fractura processus anter. calcanei. 3 Monate alt.
Fig. 7.
Gesunder Fuß. Kontrollaufnalime.
schweren Gegenstandes gegen den fixierten Fuß, statt; Imal wurde
üeberfahrenwerden angegeben, und in 1 Fall handelte es sich um
eine Zerrung durch einen Transmissionsriemen, in den der Fuß geriet,
die aber sonst einen leichten Verlauf nahm.
Digitized by LaOOQle
310
Carl Deutschländer.
Von den Patienten, die überwiegend der Privaiklientel an¬
gehörten — nur 3 hiervon waren versieheningspflichtig —, waren
11 männlich und 3 weiblich. Die meisten von ihnen standen im
blühendsten Alter, zwischen 20 und 30 Jahren (9 Fälle), 2 befanden
sich in mittleren Jahren (37 bezw. 45 Jahre) und 3 waren über
50 Jahre alt. Jugendliche Patienten in den Wachstumsjahren, wie
sie in den Fällen von Haglund und Gaugele erwähnt werden,
befanden sich nicht darunter. Kein einziger dieser Fälle trat frisch
und unmittelbar nach der Verletzung in die Behandlung. Die kürzeste
Zeit, die zwischen Trauma und Eintritt in die Beobachtung lag,
war 3 Monate (1 Fall), 2 weitere Fälle kamen nach einem Zeitraum
von 4 und 5 Monaten in Behandlung; in 7 Fällen betrug die Zwischen¬
zeit 6—12 Monate, in 2 Fällen 2 und 3 Jahre und in 2 Fällen 4
bezw. 5 Jahre.
Die subjektiven Beschwerden und funktionellen Störungen waren
übereinstimmend in fast allen Fällen die gleichen. Die Patienten
klagten durchweg über starke Schmerzen im Fuß, die bald auf dem
Fußrücken, bald in der Fußsohle lokalisiert wurden; fast stets strahlten
diese Schmerzen, wenn der Fuß zum Gehen benutzt wurde, in die
Wadenmuskulatur aus und erzeugten hier allmählich ein Gefühl der
Lahmheit. Der Gang selbst war hinkend und erfolgte fast aus¬
schließlich mit der Ferse; ein Abwickeln des Fußes wurde ängst¬
lich vermieden. Besonders schmerzhaft war das Gehen auf unebenem
Boden. Dazu kam noch die überaus rasche Ermüdbarkeit des Fußes,
so daß in einer Reihe von Fällen oft schon nach einer Viertelstunde
jede weitere Fortbewegung unmöglich war.
Gegenüber diesen starken Beschwerden war der objektive Be¬
fund außerordentlich geringfügig. Aeußerlich zeigte der Fuß keine
grobe Formstörung. Eine Valgussteilung des Fußes zur Malleolen¬
gabel oder eine seitliche Verschiebung des Achillessehnenansatzes
war niemals festzustellen. Das Fußgewölbe unterschied sich nicht
von dem des gesunden Fußes; es war in der Regel gut entwickelt
und zeigte auch in belastetem Zustande — im Rußabdruck — keinerlei
Nachgiebigkeit. Die Bewegungen im Talokruralgelenk vollzogen sich
vollkommen normal. Dagegen wies das Chopartsche Gelenk eine
recht beträchtliche Beweglichkeitseinschränkung auf und war auch
bei Bewegungen sehr schmerzhaft; auch fanden sich in der nächsten
Umgebung desselben die stärksten Druckschmerzpunkte, teils am
Naviculare, teils in der Fußsohle.
Digitized by
Google
Zur Frage des traumatischen Plattfußes.
311
In einigen Fällen ließ sich ferner ein stärkeres Vorspringen
des Os naviculare nachweisen; vereinzelt bestand auch am vorderen
lateralen Calcaneusrande eine geringe Knochenverdickung. Den auf¬
fallendsten Befund, der allen Fällen gemeinsam war, bildete indessen
die hochgradige Atrophie der Unterschenkelmuskulatur, die weit
höhere Grade erreichte, als man sie bei der gewöhnlichen Scho-
nungsatropbie wahmimmt.
Wenn sich somit auch gewisse objektive Befunde feststellen
ließen, so waren diese doch keineswegs im stände, die klinischen
Erscheinungen zu erklären, und den Schlüssel für das Verständnis
dieser Störungen lieferte erst die Röntgenuntersuchung. Mit Hilfe
der Röntgenstrahlen konnte nämlich nachgewiesen werden, daß es
sich in allen diesen Fällen um Schädigungen des Chopartschen Ge¬
lenkes und um Frakturen der dasselbe konstituierenden Fußwurzel¬
knochen handelte.
Allerdings ist der Nachweis dieser Veränderungen auch mit
Hilfe der Röntgenstrahlen keineswegs immer leicht, und selbst einem
geübten und mit den einschlägigen Verhältnissen vertrauten Unter¬
sucher treten oft Schwierigkeiten entgegen, die es erklärlich machen,
daß diese Dinge bisher nur wenig bekannt geworden sind. Zunächst
handelt es sich hierbei keineswegs um Verletzungen, die wegen ihrer
Größe besonders auffallen; in der Regel sind es kleinere, versteckt
liegende Frakturen, die noch dazu von den zahlreichen Knochen¬
schatten in der Gegend des Chopartschen Gelenkes verdeckt werden.
Dazu kommt, daß es bisher nur in wenigen Fällen gelungen ist, die
Fälle frisch zur Röntgenuntersuchung zu bekommen. Nur in 2 Fällen
meiner 14 Beobachtungen war es mir möglich, die Untersuchung
in einem so frühen Stadium auszuführen, daß die Fragmentbildung
als solche auf der Platte sichtbar wurde. Meistens kommen die
Fälle erst dann zur Beobachtung, wenn schon Monate, mitunter
sogar Jahre nach der Verletzung vergangen sind und wenn die
Frakturheilung längst abgeschlossen war, und in der Regel läßt sich
dann nur aus der Gestaltsveränderung des verheilten Knochens ein
Rückschluß auf die stattgehabte Fraktur machen. Immerhin aber
ist, selbst im verheilten Zustande, die Formveränderung des Knochens
so auffallend, daß über die Diagnose der Fraktur kein Zweifel be¬
stehen kann, namentlich wenn man, was eine unerläßliche Forde¬
rung ist, eine sorgfältige Vergleichsaufnahme des gesunden Fußes
vomimmt.
Digitized by
Google
312
Carl Deutfichländer.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle handelte es sich um
Frakturen des Naviculare. Bereits vor einem Jahre habe ich auf
diese an sich unbedeutende, klinisch jedoch und praktisch außer*
ordentlich wichtige Frakturform an anderer Stelle hingewiesen und
habe dabei betont, daß es in der Regel unbedeutende Traumen sind,
die zur Fraktur dieses Knochens führen. Es hängt dies einerseits
mit der exponierten Lage dieses Knochens als Schaltknochen zwi*
sehen Fußwurzel und Mittelfuß und anderseits mit dem indirekten
Entstehungsmechanismus dieser Brüche zusammen, wobei weniger
die Gewalt des Traumas als die Schwere des Körpers die frakturie-
rende Ursache abgibt. Während ich vor etwa Jahresfrist erst über
5 derartige Fälle berichten konnte, hat sich inzwischen mein Material
um 5 weitere Fälle vermehrt, die meine damaligen Ausführungen
vollkommen bestätigen. Auch von verschiedenen anderen Autoren
ist seitdem auf diese Frakturform aufmerksam gemacht worden, und
ich erwähne hier speziell die Arbeiten von Jacobsthal*) und Nip¬
pold ^), die etwa zu gleicher Zeit und unabhängig von meiner Ver¬
öffentlichung 42 derartige Fälle zusammenstellen konnten. Damit
ist die bisherige Annahme, daß es sich hierbei um eine seltene Ver¬
letzungsform bandle, ziemlich hinfällig geworden.
In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich bei den Navicular*
brüchen um indirekte Kompressionsbrüche in den unteren und
medialen Partien, Die Bilder, die der verletzte Knochen auf der
Röntgenplatte gibt, sind auch im verheilten Zustande so charak¬
teristisch, daß man aus der Umgestaltung der Form leicht die Dia¬
gnose stellen kann, wenn man überhaupt erst auf diese Dinge zu
achten gelernt hat. Während das normale Naviculare stets einen
regelmäßig gebildeten Schatten gibt, besitzt das traumatisch ver¬
änderte eine ganz unregelmäßige Form und erscheint bald dreieckig,
bald hammerförmig, bald polygonal, bald wieder stark in die Länge
gezogen. Diese Unregelmäßigkeiten der Form lassen keine andere
Erklärung zu, als daß sie auf traumatischem Wege entstanden sind
(Fig. 1-5).
Deutsch Hin der, Verrenkungsbrüche der Naviculare. Arch. f. klin,
Chir. Bd. 88 Heft 1.
’*) Jacobsthal, Die Luxationsfraktur des Naviculare. Zentralbl. f. Chir.
1907, Nr. 21.
Ni pp old, Verletzungen des Os naviculare pedis. Inaug.-Diss. Jena
1907, und Arch. f. physikal. Medizin u. Technik Bd. 3 Heft 1.
Digitized by
Google
Zur Frage des traumatischen Plattfußes.
313
In einem kleineren Teil der Fälle — 4- ^— wurden durch die
Röntgenuntersuchung Frakturen des Processus anterior calcanei fest¬
gestellt. Es handelte sich dabei aber keineswegs um schwere, den
ganzen Knochen durchsetzende Brüche, die wohl schwerlich der Be¬
obachtung entgangen wären, sondern um Absprengungen kleiner, in
der Umgebung der Gelenkfläche und mehr in der Tiefe gelegener
Enochenpartien. Ursächlich kam 2mal ein Fall auf die Füße und
2mal eine direkte Gewalteinwirkung in Betracht. Nur in einem Falle
war die Fragmentbildung als solche auch auf der Platte noch er¬
kennbar; in den übrigen Fällen ließ sie sich nur aus der Form¬
veränderung des Calcaneus und der Gelenklinie erschließen. Wenn
auch an sich bei den vielen sich deckenden Enochenschatten in
dieser Gegend die Beurteilung nicht ganz leicht ist, so ist doch be¬
sonders das Verhalten der Chopartschen Gelenklinie im Calcaneus-
anteil ganz charakteristisch und bei einiger Uebung leicht erkennbar»
Im normalen Bild sich als breiter, regelmäßig gekrümmter Knochen¬
spalt markierend, erscheint sie im pathologischen Befund unregel¬
mäßig, verschwommen, verwaschen, zum Teil vollständig von Knochen¬
schatten überdeckt und als Gelenklinie überhaupt nicht mehr sichtbar
(Fig. 6 und 7). Bemerkenswert ist bei diesen Frakturen ein klini¬
scher Befund, der eine differentialdiagnostische Bedeutung besitzt.
Während nämlich bei den im oberen und medialen Gebiete des
Chopartschen Gelenkes gelegenen Navicularbrüchen vorzugsweise
eine Schwäche der Dorsalflexoren nachweisbar ist, besteht bei den
in den lateralen und unteren Teilen des Gelenkes gelegenen Pro-
zessusbrüchen des Calcaneus eine ganz auffallende Schwäche der
Plantarflexoren, die namentlich zum Ausdruck gelangt, wenn man
Widerstandsbewegungen mit dieser Muskelgruppe ausführt.
Die Bedeutung dieser Verletzungen liegt nicht in der Größe
der Frakturen, sondern lediglich darin, daß es sich hierbei um Gelenk¬
brüche handelt. Wie so mancher, namentlich nicht richtig erkannte
und behandelte Gelenkbruch oft zu schweren traumatischen, defor¬
mierenden Entzündungen des verletzten Gelenkes führt, so ist dies
auch bei den Gelenkbrüchen des Chopartschen Gelenkes der Fall,
und fast stets lassen sich bei längerem Bestände des Prozesses
chronisch arthritische Veränderungen auch im Röntgenbilde nach-
weisen (Fig. 4 und 5). Diese arthritischen Veränderungen sind umso
auffälliger, als sie sich bei verhältnismäßig jungen Personen und in
einem Alter zeigen, in dem man sonst derartige Prozesse noch nicht
Digitized by
Google
814
Carl Deutscbländer.
beobachtet. Hierin liegt zugleich auch der beste Beweis für den
traumatischen Ursprung.
Die chronische Arthritis traumatica deformans ist es nun, die
uns das Wesen des ganzen Krankheitsbildes erst verständlich macht
und die auch die Prognose und Therapie beherrscht. Wie jede
Arthritis deformans, mag sie sitzen, wo sie will, Schmerzen, Ver¬
steifungen und Funktionsstörungen in ihrem Gefolge hat, so ist dies
auch bei der Arthritis deformans des Chopartschen Gelenkes der
Fall, und sie genügt daher vollkommen allein, um die Beschwerden
Und klinischen Erscheinungen nach derartigen Verletzungen zu er¬
klären. Es bedarf demgemäß nicht erst der übrigens niemals
erwiesenen Annahme, daß es zu einem Einsinken des Fußgewölbes,
zu einem Plattfüße kommt. Es ist vollkommen verständlich, daß
Patienten mit derartig veränderten Gelenken ihre Füße nach Mög¬
lichkeit schonen und ein Abwickeln derselben vermeiden, da ja jede
Abwicklung des Fußes eine schmerzhafte Zerrung in dem erkrankten
Chopartschen Gelenk verursacht. Die traumatische Arthritis erklärt
ferner auch die Hochgradigkeit der Muskelatrophie, die sich nicht
mehr als Schonungsatrophie, sondern als artikuläre Atrophie charak¬
terisiert.
Auch für die Prognose und Therapie ist die Feststellung dieser
Tatsachen von großer Bedeutung. Wie es uns bisher bei keiner
ausgesprochenen deformierenden Arthritis gelungen ist, mit kon¬
servativen Mitteln eine restlose Heilung zu erzielen, wie wir uns
hierbei stets nur mit einer Besserung und Milderung der Beschwerden
begnügen müssen, so sind wir auch bei der Arthritis des Chopart¬
schen Gelenkes in der Regel nur in der Lage, im Sinne einer Er-
träglichmachung des Zustandes zu wirken. Dieses Ziel läßt sich
auch stets erreichen, sobald eine sachgemäße Behandlung ein¬
geleitet wird.
Ohne weiteres verständlich ist es, daß die bloße Verordnung
von Plattfußeinlagen, wozu die Annahme eines traumatischen Platt¬
fußes leicht verleiten könnte, hierbei niemals zum Ziele führen kann,
denn es besteht ja nicht die geringste Indikation, ein einsinkendes
Fußgewölbe zu stützen. Vielmehr sind in der Behandlung dieses
Leidens dieselben Grundsätze zur Ausführung zu bringen, wie sie
bei jeder deformierenden Arthritis Geltung haben, und der Schwer¬
punkt der Therapie liegt hierbei in der zielbewußten Mobilisation
und Beseitigung der Versteifungen des Chopartschen Gelenkes, in
Digitized by L^ooQle
Zur Frage des traumatischen Plattfußes.
815
der systematischen Uebung der funktionellen Bewegungen, in der
planmäßigen Kräftigung der Muskulatur mittels Massage und in der
rationellen Beeinflussung der arthritischen Prozesse durch Heißluft¬
hyperämie. Wenn in Verbindung mit diesen Maßnahmen noch eine
Einlagenbehandlung durcbgeführt wird, so kann diese von großem
Vorteile sein. Man muß aber dabei berücksichtigen — und danach
auch die Konstruktion seiner Einlagen einrichten —, daß nicht die
Aufgabe besteht, das Fußgewölbe vor dem Einsinken zu schützen,
daß vielmehr die Einlagen hier lediglich den Zweck haben, das Ge¬
lenk zu entlasten, und je besser es gelingt, diese Entlastung durchzu¬
führen, desto besser sind auch die Resultate. Ich möchte bei dieser
Gelegenheit bemerken, daß ich in der letzten Zeit Einlagen aus
Magnalium mit hochgetriebenen Rändern und zwar das Withmansche
Modell anwende, die eine ganz vorzügliche Entlastung bewirken.
Mit diesen Hilfsmitteln gelingt es in den meisten Fällen, die
Gehfähigkeit wesentlich zu verbessern. Nur in 2 Fällen von Navi-
cularbrüchen bei jungen Mädchen konnte ich keine befriedigenden
Resultate erzielen. Hier sah ich mich schließlich veranlaßt, das
Naviculare zu resezieren bezw. zu exstirpieren und eine Arthrodese
im Ghopartschen Gelenk herzustellen. Wenn auch in beiden Fällen
ein absolut guter Erfolg — auch im Dauerresultat — erreicht wurde,
so sind derartige Eingriffe doch stets nur als ultimum refugium zu
betrachten, die nur in Betracht kommen, wenn alle anderen Mittel
versagen.
Die beste und erfolgreichste Behandlung wird allerdings stets
in der Prophylaxe bestehen. Dazu aber ist erforderlich, daß man
frühzeitig diese Zustände erkennt und daß man schärfer zwischen
dem einfachen, traumatischen Distorsionsplattfuß und den Brüchen
des Ghopartschen Gelenkes mit ihren Folgezuständen zu unter¬
scheiden lernt. So ähnlich auch beide Krankheitsbilder in ihren
äußeren Erscheinungen sind — bei beiden eine meist geringfügige
traumatische Ursache, bei beiden plattfußähnliche Beschwerden —,
so verschieden sind sie ihrem inneren Wesen nach, und so ver¬
schieden ist auch die Prognose und die Therapie. Welchen prakti¬
schen Wert die Klarstellung dieser Verhältnisse gerade mit Rück¬
sicht auf unser hochentwickeltes Versicherungswesen besitzt, bedarf
keiner weiteren Ausführung. Jedenfalls haben die Ghopartschen
Gelenkbrüche an sich nichts mit dem traumatischen Plattfüße zu
tun, und zur Erklärung der Funktionsstörungen müssen ganz andere
Digitized by LjOOQle
316 Carl Deutschländer. Zur Frage des traumatischen Plattfußes.
Gesichtspunkte herangezogen werden, als das Einsinken des Fu߬
gewölbes. Daraus ergibt sich auch die Sonderstellung dieser Ver¬
letzungen.
Daß es sich dabei um besonders seltene Erankheitszustände
handelt, ist schon nach den bisherigen Beobachtungen nicht mehr
recht wahrscheinlich. Im Gegenteil dürfte es sich hierbei um ein
Leiden handeln, das weit häufiger vorkonimt als man annimmt und
das bisher nur nicht richtig erkannt worden ist.
Digitized by L^ooQle
XXII.
Ueber den schlechten Einflnh der schwedischen
Crynmastik nnd ähnlicher Lockernngsverfahren auf
die Skoliose').
Von
Dozent Dr. V. Chlumsky in Krakau.
Mit 3 Abbildungen.
Gymnastik und ähnliche Verfahren wurden von jeher als vor¬
zügliche Mittel gegen die Skoliose betrachtet. Vor ca. 100 Jahren
behauptete Delpech (Orthomorphie II S. 170), er würde ohne Gym¬
nastik auf die Orthopädie verzichten. Auch jetzt steht die Gym¬
nastik in einem sehr hohen Rufe.
Doch wenn ein Arzneimittel noch so gut ist, man muß mit
ihm immer vorsichtig umgehen. Das gilt auch für die Gymnastik.
Ich habe viele Fälle gesehen, wo sie nicht nur nicht geholfen, son¬
dern direkt geschadet hat. Schon einige Male habe ich auf diese
Tatsache hingewiesen (Beiträge zur Aetiologie und Therapie der
Skoliose. Zeitschrift für orthop. Chirurgie Bd. XVIII), und sehe
mich gezwungen, auch hier die Aufmerksamkeit der Herren Kollegen
auf diese Tatsache nochmals zu lenken. — Als Beispiel erlaube ich
mir einige Fälle in effigie vorzuführen, in denen das verkehrte
Herummanipulieren das Leiden wesentlich verschlechtert hatte.
Der erste Fall (siehe Fig. 1) betrifft die Tochter einer an¬
gesehenen gesunden Familie, die auf ihre Gesundheit besonders be¬
dacht ist. Die kleine 7jährige Patientin wurde auf Rat des Haus¬
arztes, da sie zart gebaut war, behufs Kräftigung in eine Turn¬
anstalt durch 2 Jahre fast täglich geschickt.
Der Hausarzt, ein bekannter Praktiker, der die Kleine öfters
untersuchte, behauptet, daß das Mädchen sonst vollständig gesund
0 Vortrag, gehalten auf dem VII, Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by
Google
318
V. Chlumsk^.
war und anfangs keine auffallende Veränderungen an der Wirbel¬
säule aufwies. Die jüngere Tochter, die angeblich ebenso gebaut
war und ein Jahr später turnen sollte, habe ich in dieser Beziehung
selbst untersucht und bei ihr eine kleine Abweichung der Wirbel¬
säule nach links konstatiert. Als man die schlechten Resultate des
Turnunterrichts bei der älteren Schwester merkte, wurde sie nicht
gjmnastiziert und blieb gerade, d. h. die minimale Verkrümmung
nach links blieb unverändert.
Nach einem Jahr täglicher Uebungen der behandelten Patientin
merkte der Hausarzt, daß ihre Wirbelsäule immer mehr nach links
abweicht und die Patientin eine hohe Hüfte bekommt. Es wurde
also das Turnen noch energischer fortgesetzt, da man glaubte, auf
diese Weise am besten der Verkrümmung steuern zu können. In¬
zwischen entwickelte sich aber ein regelrechter Buckel. Nach 2jäh-
riger Behandlung hatte die Patientin eine schwere Skoliose des dritten
Grades mit einer großen Abbiegung in der Lendenwirbelsäule nach
links und einer kleineren Vorwölbung des Dorsums nach rechts. Die
Wirbelsäule war oberhalb des Beckens außerordentlich beweglich,
der dorsale Buckel war dagegen sehr hart und die Wirbel hier fest
verwachsen. Alle meine Bemühungen, den Buckel zurückzudrängen,
wurden durch die außerordentlich festen Verklebungen des linkskon¬
vexen Dorsalbogens und die große Beweglichkeit der unteren (Lenden-)
Wirbel sehr beeinträchtigt, so daß nur sehr langsam eine Besserung
eintrat, die aber doch nur teilweise den Buckel zum Verschwinden
brachte.
Besonders die starke Lockerung der Lendenwirbelsäule machte
uns bei der Behandlung große Schwierigkeiten, da die meisten Be¬
wegungen sich hier abspielten und die Wirbelsäule auf die äußeren
korrigierenden Kräfte zuerst hier reagierte. Diese abnorme Locke¬
rung der unteren Wirbel wurde sicher durch das Turnen hervor¬
gerufen und hat das Entstehen der Skoliose direkt unterstützt. Auch
die schwache Muskulatur wurde durch die täglichen Uebungen über¬
anstrengt und da die Wirbel immer beweglicher wurden, konnte sie
schließlich die Wirbelsäule nicht mehr in der richtigen Mittelstellung
halten, die ganze Sache gab nach. Die eventuelle skoliotische Prädis¬
position wurde durch das Turnen noch vergrößert und führte zuletzt
zur Entwicklung einer schweren Skoliose.
Ein zweiter Fall betraf ein Mädchen von 15 Jahren. Auch
dieses Mädchen wurde behufs Kräftigung in eine Turnanstalt durch
Digitized by
Google
üeber den schlechten Einfluß der schwedischen Gymnastik etc. 319
volle 4 Jahre geschickt. Wie die Eltern behaupten, war es vorher
vollständig gerade. Die Eltern haben es, ohne einen Arzt zu be¬
fragen, turnen lassen, da es allgemein hieß, das Turnen ist gesund.
Vielleicht war eine kleine Verbiegung schon vorhanden, die sehr oft
von den Angehörigen übersehen wird, doch durch ca. 1 Jahre war
sie unbedeutend und wurde auch in der Turnanstalt nicht beachtet.
Vor 2 Jahren merkte man, daß das Mädchen sich immer nachlässiger
hielt; es wurde also noch fleißiger
geturnt, was aber die weitere Ent¬
wicklung der Skoliose nicht ver¬
hinderte. Nach 4jährigen Uebungen
leidet die Patientin an einer ziem¬
lich hochgradigen Skoliose mit der
Konvexität links unten und rechts
oben (siehe Fig. 2).
In diesem Falle lagen die Ver¬
hältnisse analog wie in dem vor¬
her erwähnten und hatten auch
gleiche Folgen. Jedenfalls hat auch
hier das Turnen die Entwicklung der
Skoliose nicht verhindert und eine
Situation erwirkt, die die weitere
Behandlung sehr schwierig gestaltet.
Ein dritter Fall, den ich bei-
füge, ist gewissermaßen ein End¬
resultat des Klapp sehen Kriech¬
verfahrens.
Vor 2 Jahren wurde ich von einer Arbeiterfamilie konsultiert, weil
die älteste, damals 12jährige Tochter «ich schlecht hielt und anämisch
war. Ich konstatierte eine unbedeutende totale Skoliose nach links,
schwache Muskulatur, Chlorose und Plattfüße. Alles das habe ich mir
notiert und auch eine Zeichnung von der Patientin angefertigt.
Außer mir konsultierten die Eltern noch einen zweiten Arzt,
der einen Versuch mit der Klapp sehen Methode empfahl. Das
Kind lernte unter der Führung des Kollegen die bekannten Kriech¬
übungen und ist dann nach Hause (nach Rußland) gefahren. Hier
hat es angeblich fleißig durch 1 Jahr die Uebungen fortgesetzt.
Dann erschien es wieder in meiner Ordination und klagte, daß die
Behandlung nicht hilft.
Fig. 1.
Digitized by LaOOQle
320
V. Chlumskir.
Es bestand jetzt (siebe Fig. 3) eine ausgesprochene Skoliose mit der
linkseitigen Lumbal- und der rechtseitigen Dorsalkonvexität, einer
entsprechenden Torsion und einem dorsalen Buckel, Die Wirbelsäule
war sonst ziemlich beweglich, besonders an der Kreuzungsstelle zwi¬
schen dem Lumbal- und dem Dorsalabschnitt. Die Patientin konnte
sich für einige Augenblicke fast gerade halten, verfiel dann aber
Fig. 2.
wieder in die alte skoliotische Stellung. Auch hier haben die an¬
haltenden Uebungen die Wirbelsäule übermäßig gelockert und das
Fortschreiten der Skoliose zum mindesten nicht verhindern können.
Nicht uninteressant ist es, daß das Klapp sehe Verfahren schon
vor 100 Jahren einen ziemlich ähnlichen Vorläufer hatte. Nach
Dieffenbach wurde in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts
in den französischen Instituten eine besondere Krückenbehandlung
eingeführt. Man gab den Kranken zwei Armkrücken, die sie schräg
vor sich auf den Boden stellten und sich dann, dieselben als Spring*
Stangen benützend, vorschwangen, bis die Füße wieder den Boden
berührten u. s. f., woraus bei einiger Uebung eine ziemlich schnelle
hüpfende Körperbewegung resultierte. „Man wollte, wie Busch sagt,
eine Form der Körperbewegung schaffen, bei welcher die Wirbel-
Digitized by L^ooQle
lieber den schlechten Einfluß der schwedischen Gymnastik etc, 321
Säule nicht dauernd belastet war, sondern stets nach sehr kurzer
Zeit wieder entlastet ... und ... durch das Körpergewicht gestreckt
wurde“. Dazu fügt noch Busch bei, daß die Behandlung wieder
verlassen wurde: „Wunderbar genug muß es ausgesehen haben, wenn
die jungen Mädchen in den Gärten der orthopädischen Institute mit
ihren Krücken wie die Känguruhs herumhüpften “ ^),
Fig. 3.
Wie bemerkt, habe ich eine größere Anzahl durch ähnliche
Verfahren schlecht behandelter Fälle beobachtet, deren nähere Be¬
schreibung ich absichtlich weglasse, da der eine Fall dem anderen
so ziemlich gleicht. In allen diesen Fällen fand ich eine übermäßige
Beweglichkeit einzelner Abschnitte oder der ganzen Wirbelsäule und
das Unvermögen der Patienten, die so gelockerten Wirbel für längere
Zeit in der richtigen Lage zu halten. Fast durchweg waren es zarte,
schwach gebaute Individuen, bei denen die fleißigen gymnastischen
Uebungen die Wirbelsäule zwar zu lockern, aber nicht entsprechend
zu kräftigen vermochten. Es hatte auf uns einen Eindruck gemacht,
daß man hier des Guten zu viel getan hat. Man lockerte die Wirbel¬
bänder und übermüdete die Muskeln, wodurch die Wirbelsäule den
*) T. Busch, Allgemeine Orthopädie etc. 1882.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 21
Digitized by L^ooQle
322 V. Chlumsky. lieber den schlechten Einfluß der schwed. Gymnastik etc.
ganzen Halt verloren hat. War eine skoliotische Anlage vorhanden,
so verfielen die Wirbel in dieselbe und da die Muskulatur sie aus
der falschen Lage nur zeitweise wegzubringen vermochte, adaptierten
sie sich den neuen Verhältnissen, veränderten ihre Form und wurden
schließlich in der pathologischen Lage teilweise fixiert* Aus dieser
Lage kann sie der Patient auch durch die Uebungen nur für kurze
Zeit wegbringen, so daß sie später auch während der Uebungen
in der pathologischen Lage teilweise verbleiben und auf die Weise
miteinander verwachsen können.
Nach der Gymnastik verfallen sie in eine noch mehr abnorme
Lage und ziehen weitere Wirbel in den Bogen hinein. Die Ver¬
krümmung wird so allmählich trotz der Uebungen oder gerade durch
die Unterstützung derselben größer. Ob diese Uebungen aus einer
einfachen schwedischen Gymnastik oder aus dem Kriechverfahren be¬
stehen, bleibt sich gleich. Beim Kriech verfahren werden vielleicht
die Verhältnisse während der Uebungen besser als bei der einfachen
Gymnastik, vielleicht wird die Lockerung der pathologischen Ver¬
krümmungen teilweise erzielt, doch man vergißt, daß die Patienten
den ganzen Tag gerade in der aufrechten Stellung gehen und daß
hier dann die Schwere Verhältnisse die ganze Lage ändern. Das Kind
kann während des Kriechens eine so ziemlich gerade Wirbelsäule
haben, steht es aber auf, kehrt die alte Verkrümmung sofort wieder.
Handelt es sich um ein schwaches Individuum, dann wird, wie er¬
wähnt, durch die Lockerung der Wirbel die falsche Lage noch verstärkt.
Stärkere Kinder vertragen auch diese Uebungen gut, ja sie
können davon in gewissen Grenzen auch Nutzen ziehen, nur muß
man gut und genau erwägen, wie stark, wie lang und besonders,
wenn man gymnastiziert.
In dieser Beziehung kann man natürlich keine genauen Vor¬
schriften geben, das lehrt die Erfahrung.
Doch möchte ich nochmals ganz besonders darauf hinweisen,
daß das übermäßige und nicht genau abgeschätzte Turnen und auch
das schon besprochene Kriech verfahren bei manchen Individuen nicht
nur die Entwicklung der Skoliose nicht verhindert, sondern sogar
umgekehrt deren Entstehen unterstützt und auch die regelrechte Be¬
handlung für später erschwert. Man macht aus Kindern, die viel¬
leicht ohne die Behandlung eine kleine Skoliose behielten, schwere
Skoliotiker und davor möchte ich warnen.
Digitized by L^ooQle
XXIII.
Wesen nnd Verbreitung des Krttppeltnms in
Deutschland').
Von
Dr. K* Biesalski-BerÜD,
Meine Herren! Die heutigen Verhandlungen über Krüppel¬
fürsorge sind die Ausführungen eines Beschlusses des vorjährigen
Orthopädenkongresses. Ich hatte von der ganz Deutschland um¬
fassenden Statistik jugendlicher Krüppel die auf Preußen bezüglichen
Zahlen mitgeteilt, und da diese nicht vollständig waren, so wurde
auf eine Diskussion verzichtet, und Hoffa schlug vor, in diesem
Jahre nach Fertigstellung der Statistik die Angelegenheit gründlich
zu erörtern.
Meine Herren! Es ist kein Zufall, daß bei dem einfachen
Rückblick sich wieder Hof fas einzigartige Persönlichkeit vor unser
Auge stellt als der geistige Urheber der heutigen Tagung. Ich be¬
trachte das als ein gutes Zeichen, denn was er anfaßte, geschah
von großen Gesichtspunkten aus und trug den Keim des Gelingens
in sich, den er aus seiner reichen Persönlichkeit hineinlegte. Es
liegt mir fern, auf sein wissenschaftliches Wirken hier einzugehen,
aber was ich an seinem Sarge als Vertreter der Berliner Krüppel¬
heilanstalt sagen durfte, möchte ich hier namens der deutschen
Krüppelfürsorge wiederholen: Sein ganzes Leben war eine einzige
Fürsorge für die Gebrechlichen, und sein warmes Herz ließ ihn die
Krüppelfürsorge als die soziale Betätigung der Orthopädie erkennen
und ausüben. Mit allen Kräften hat er die Statistik gefördert und
ebenso den Ausbau unseres Berliner Hauses, und noch kurz vor
seinem Tode, als ich ihm die Gründung einer Zeitschrift für Krüppel¬
fürsorge vorschlug, begrüßte er mit Begeisterung diesen Plan als
Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by LjOOQle
324
K. Biesalski.
ein Mittel, um Einigung und Einheitlichkeit herbeizufUhren. Die
aufstrebende Krtippelfürsorge wird allezeit auf ihn als einen
ihrer Bahnbrecher mit Dank zurückblicken und seinen Namen in
Ehren halten.
Diesem Dank gegen einen Toten muß ich den gegen viele
Lebende anschließen, gegen Ihre Königl. Hoheit die Frau Fürstin
zu Wied, welche als Vorsitzende der deutschen Zentrale für Jugend¬
fürsorge den Plan gutgeheißen und zu seiner Verwirklichung wesent¬
lich beigetragen hat, den.Herrn Reichskanzler und die verbündeten
Regierungen für die amtliche Durchführung der Zählung, den Herrn
Kultusminister in Preußen, der uns durch entgegenkommende Er¬
lasse an die nachgebrdneten Behörden und namhafte Geldunter¬
stützung geholfen hat, den Herrn Ministerialdirektor Förster und
Geheimrat Dietrich für unermüdliche Unterstützung, Fi*au Oskar
Pintsch, die Vorsitzende des Berlin-Brandenburgischen Erüppelheil-
und Fürsorgevereins, der die ganze Arbeit geleistet und den größten
Teil der Kosten getragen hat, Herrn Geheimrat May et für die
Mithilfe und freundlichen Rat bei der Technik der Statistik.
Damit will ich es hier genug sein lassen, wiewohl noch viele
zu nennen wären.
Und nun hinein in die Mitte der Dinge!
Meine Herren! Was ich Ihnen hier vorzutragen habe, ist das
Ergebnis einer fast 3jährigen ununterbrochenen Arbeit; ich hätte
Ihnen gerne das Manuskript oder gar das fertige Werk auf den
Tisch des Hauses gelegt, aber das war unmöglich. Unter Hoch¬
druck habe ich die Tabellen bis heute fertigstellen können, die ganze
Arbeit wird im Druck erst in einigen Monaten erscheinen.
Fürchten Sie nicht, daß ich Sie mit Zahlen belästigen werde,
das liegt mir fern; ich möchte Sie in den Geist hineinführen, aus
dem heraus das Werk entstanden und gearbeitet worden ist, dann
sind wir ohne weiteres mitten drin in allen die Krüppelfürsorge
treibenden Gedanken.
Zunächst lag mir daran, etwas Einheitliches zu schaffen. Es
waren schon Statistiken einzelner Provinzen und Bundesstaaten vor¬
handen, ihre Autoren sitzen zum Teil unter uns, aber es fehlte eine
deutsche Statistik, und doch mußte sie gemacht werden, weil nur
das Umfassende den Blick auf sich lenkt. Der Plan war groß, und
selbst ein so tapferer Mann wie Herr Pastor Schäfer erschrak davor,
ihn privatim durchzuführen. Der erste, dem ich davon Mitteilung
Digitized by C^ooQle
Wesen und Verbreitung des Krüpj^eltums in Deutschland.
325:
machte, war Herr Oeheimrat Dietrich, und ich dahk^ ihm’nooh heute'
und hier vor aller Oeffentlichkeit, daß er sich nicht durch die oflFen-^
baren ungeheuren Schwierigkeiten abhalten ließ,; die Hand zur Er¬
reichung eines Werkes zu bieten, das ihm an sich sofort als not¬
wendig erschien. Als zweiter Helfer wurde* Hoffa gewonnen, der
natürlich sofort mit beiden Beinen hineinsprang. Mit diesen beiden
Männern zusammen konnte ich es* wagen und habe es gewagt. Die
deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, in deren Präsidium beide
Herrto saßen, nahm in dankenswerter Weise die Arbeit unter ihren
Schutz, und. unter ihrer Flagge wurden die ersten entscheidenden
Eingaben gemacht. Sie hat auch weiterhin durch namhafte Geld*»
beitrage die. Arbeit gefördert.
Zunächst war es. schwierig, sämtliche Bundesstaaten zu ge¬
winnen ; schließlich aber ist es unseren unermüdlichen Anstrengungen
doch gelungen, hierin Einheitlichkeit zu erzielen: das ganze Deutsche
Reich 2 ;ählte.
Nun galt es, nach einer einheitlichen Zählkarte zu verfahren.
Wir hatten ihren Text unter Zuziehung aller möglichen Sachver^
ständigen festgestellt, der Herr Reichskanzler hatte, ein zweimaliges
Gutachten des Reichsgesundheitsamtes eingeholt, danach waren von
uns Verbesserungen vorgenommen, so daß der Text der Zählkarte
schließlich von allen orthopädischen Chirurgen und Praktikern der
Krüppelfürsorge gebilligt wurde. Ich will nicht näher auf ihn ein-
gehen, Kritiken post festum haben nicht viel Wert, ich darf ver¬
raten, daß ich bei einer zweiten Statistik die Zählkarte etwas ein¬
facher machen würde. Alle Bundesstaaten, haben sie in der Er¬
wägung, daß Einheitlichkeit wichtiger sei, als Ausstellungen an
Einzelheiten, angenommen, nur Bayern, Baden und Hessen haben
eine eigene Zählkarte aufgestellt, die in vielem der preußischen
nachgebildet war, aber doch schließlich so stark ab wich, daß ein
Vergleich sich ausschloß. Vor allem haben sie nur das schul¬
pflichtige Alter gezählt, während überall sonst die Kinder von
0—15 Jahren gezählt wurden. Wir haben übermenschliche An¬
strengungen gemacht, um auch hier Einheitlichkeit zu erzielen, aber
es war nicht möglich. Da eine Vergleichung der Zählungsergebnisse
in Bayern, Baden und Hessen mit den übrigen Bundesstaaten sich
in den weitaus meisten Punkten ausschließt, so verstehe ich unter
den Zahlen für das Deutsche Reich immer die der deutschen Bundes¬
staaten ohne Bayern, Baden und Hessen. In dem Gesamtwerk
Digitized by L^ooQle
326
E. Biesalski.
kommen die Tabellen dieser drei Staaten natürlich zum Abdruck,
denn wenn auch Bayern seine Karten selbst bearbeitet hat, so sind
die von Hessen und Baden von uns bearbeitet worden.
Wir haben, um nur ein Bild von der Größe der Arbeit zu geben,
über 200 000 Karten, für jeden Bundesstaat besonders gedruckt, nach
Kreispaketen geordnet, diese wieder zu Regierungsbezirken und Pro¬
vinzen geordnet und etikettiert, mit einem Begleitschreiben versehen
ausgesandt.
Die Zählung ist in den genannten drei Staaten von den Lehrern
ausgeführt, in den übrigen meist von den Polizeibehörden, fast überall
unter Zuziehung der Lehrer oder Aerzte. Trotzdem ist da manches
unter den Tisch gefallen, namentlich in den Großstädten, so daß die
Ergebnisse als Mindestzahlen anzusehen sind.
Die Karten, die alle an uns abgeliefert waren, wurden nun zu¬
nächst von dem Bureaupersonal daraufhin geprüft, ob die nichtärzt¬
lichen Fragen überhaupt und sinngemäß beantwortet waren. War
dies nicht der Fall, so ging die betreffende Karte auf dem Umweg
über das Ministerium an den betreffenden Kreisarzt zur Ergänzung
oder Aufklärung. Nachdem sie auf demselben Wege zurückgekehrt
war, begann die Prüfung der ärztlichen Fragen, zu der sich 22 Aerzte
zur Verfügung gestellt hatten, die alle nach einer einheitlichen In¬
struktion handelten und die Karten so zugewiesen bekamen, daß
niemals einer eine ganze Provinz hatte, sondern z. B. je einen Re¬
gierungsbezirk aus Hannover, Westpreußen, Rheinprovinz. Dadurch
wurde eine etwaige persönliche einseitige Auffassung in ihrer fehler¬
haften Wirkung zerteilt.
Auf diese Instruktion muß ich etwas näher eingehen, weil sie
uns zum Wichtigsten führt, nämlich zur Begriffsbestimmung des
Wortes Krüppel.
Man hatte früher im allgemeinen den als einen Krüppel an¬
gesehen, der sich selbst so bezeichnet hatte. Das erschien mir nicht
angängig, denn es lag mir von Anfang an bei der ganzen Statistik
hauptsächlich daran, der praktischen Krüppelfürsorge zu nützen. Zu
dem Zwecke mußte nachgewiesen werden, wie viele von den ge¬
zählten Krüppeln der Aufnahme in ein Heim bedürftig waren.
Ich teilte also die Krüppel in zwei große Gruppen ein^ in heim¬
bedürftige und nichtheimbedürftige. Jede dieser Gruppen zerfiel wieder
in 3 Unterabteilungen. Die Nichtheimbedürftigen, N-Fälle genannt,
hatten 3 Unterabteilungen: Nb, nichtheimbedürftige Bresthafte; das
Digitized by C^ooQle
Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland.
327
waren alle die, welche irrtümlicherweise als &Uppel bezeichnet waren,
Idioten, Taubstumme, Blinde u. Sie sind bei der Statistik über¬
haupt nicht mitgezählt worden. Die Karten wurden den Kreisärzten
überwiesen mit dem AnheimgebeUv die betreffenden Kranken aufzu¬
suchen und gegebenenfalls für sie zu sorgen. No waren nichtheim¬
bedürftige Orthopädische Kranke, d. h. solche, welche wohl einer
Behandlung bedurften,, aber jedenfalls nicht in einem Krüppelheim.
Nk waren nichtbeimbedürftige Krüppel, welche einer Behandlung
nicht mehr zugänglich waren.
Die Heimbedürftigen oder H-Fälle zerfielen wiederum in 3 Unter¬
abteilungen. Ht solche, die heimbedürftig und therapiebedürftig waren;
Hg solche, die heimbedUrftig waren und wenn auch nicht mehr der
Behandlung, so doch des Unterrichts und .der gewerblichen Aus¬
bildung bedurften; Hu Unheilbare, welche nur noch verpflegt werden
konnten.
Diese Unterscheidungen wurden nun aber nicht gemacht ledig¬
lich auf Qrund der Diagnose, sondern es wurde dabei immer noch auf
die begleitenden Nebenumstände geachtet, nämlich auf das Alter des
Kindes, etwa vorhergegangene Behandlung oder Fehlen jeglicher Be¬
handlung bei einem alten Leiden, auf etwaige Komplikationen, die
soziale Lage Yaters, darauf,, oh Schwachsinn oder andere körper¬
liche Gebrechen vorhanden waren, d. h. die Rubrizierung der Fälle
geschah, indem das KrUppelgebrechen und die Summe der Neben¬
umstände in eine Wechselbeziehung gesetzt und daraus eine mittlere
Resultante gewonnen wurde. Zum Beispiel:
Angeborenes Fehlen der linken Hand, 3jähriger Knabe,
der Vater ist Gärtner.Nk
14jähriger Knabe, Verlust des rechten Beins, geistig
gesund, künstliches Bein.Nk
geheilte Koxitiden, die schon seit Jahren die Volks¬
schule besuchen.Nk
erworbenes Fehlen dreier Finger, steht am Abschluß der
Schulzeit, erwirbt schon in der Landwirtschaft mit Nk
Alles Fälle, die an sich zwar Krüppel sind, aber auch ohne Nach¬
hilfe in einem Krüppelheim ihren eigenen Weg durchs Leben finden
werden.
Skoliosen mäßigen Grades ..No
Skoliosen schwerer Form, mit besonderen Kompli-
Digitized by L^ooQle
I
328 BiesaJßki.
kationen, Herzstörungen, Lungenveränderungen^
Taubstummheit, Schwachsinn.Ht oder Hg
rhachitische Skoliosen wurden zu Skoliosen gerechnet;
rhachitischer Zwergwuchs unter ..Hg
Lähmungen und Kontrakturen im wesentlichen unter Ht
schweres doppelseitiges X-Bein hei einem älteren Kinde Ht
.leichtes X-Bein bei Sjährigem Kinde.No
einseitige Hüftgelenkluxation im vorschulpflichtigen Alter No
doppelseitige Hüftgelenkluxation, 8 Jahre alt, bisher
nicht behandelt.Ht
dieselbe behandelt, ungeheilt.Nk
Klumpfuß, 8 Jahre alt, noch nicht behandelt . . . Ht
ISjähriger Rhachitiker, bisher nicht behandelt, geht
erst 1V* Jahre zur Schule.. , Hg
Spondylitis, 13 Jahre alt, besucht erst seit 1 Jahr die
Schule • . Hg
abgelaufene Osteomyelitis mit Versteifung mehrerer
Gelenke.Hg
6jähriger Knabe, Skoliose zweiten Grades, Eltern tot,
Großmutter alt und erwerbsunfähig, erhält ihn
kümmerlich.Ht
Diese Beispiele mögen genügen.
Es ist selbstverständlich, daß es eine Anzahl von Fällen gibt,
in welchen man verschiedener Meinung sein kann, zumal ja das Ur¬
teil nicht auf Grund der Kenntnis des Falles gestellt wurde, sondern
nur aus den Angaben der Zählkarten heraus, und ebenso selbstver¬
ständlich ist es, daß, wenn die Zählkarten jetzt nachgeprüft werden
von einem Arzte, welcher daneben das Kind selber sieht, es Vor¬
kommen wird, daß der Untersucher zu einem anderen Ergebnis kommt
wie wir. Das war aber unvermeidlich. Selbst auf die Gefahr hin,
daß ich mit meiner Anschauung und dieser Einteilung in vielen Fällen
von der Wirklichkeit desavouiert werden werde, will ich sie doch
alle in ihre Heimatländer ziirückgeben und bitte Sie, dann gnädig
mit mir ins Gericht zu gehen, denn Sie dürfen überzeugt sein, daß
ich bestrebt gewesen bin, aus der Statistik so viel zu machen, als
nach Lage der Sache möglich war und daß der tatsächliche Zukunfts¬
wert der Statistik nicht so sehr darin ruht, daß nun hier bei diesen
Einteilungen und Rubrizierungen in jedem Falle das Richtige ge-
I
Digitized by
Google
Wesen und Verbreitang des Krüppeltums in Deutschland, 329
troffen ist, sondern in ganz anderen Werten, die wir noch zu er¬
örtern haben werden.
Diese Rubrizierungen des Falles schrieb der Arzt mit roter
Tinte mit der betreffenden Abkürzung in die linke obere Ecke der
Zählkarte und neben die Frage «Bezeichnung des krüppelhaften
Leidens* eine Abkürzung der Erankheitsbezeichnung, welche er
ebenfalls nicht allein aus der häufig ganz lächerlichen Bezeichnung
der Eltern entnahm, sondern aus der Vergleichung mit anderen
Fragen, z. B. Komplikation, Erblichkeit, Operation, Behandlungs*
art u. s. w. Es ist möglich, daß wir auch dabei manchmal uns ge¬
irrt haben, aber anderseits war es auch vollständig ausgeschlossen,
daß alle Krankheitsbezeichnungen von Aerzten an Ort und Stelle fest¬
gesetzt werden oder nachgeprüft werden konnten. Für diese Krank¬
heitsbezeichnungen waren Nummern angeführt und Abkürzungen,
z. B, 2: Knochen- und Gelenktuberkulose. Sie ist unterteilt: Tuber¬
kulose der Wirbelsäule 2w; Tuberkulose der oberen Extremitäten 2o;
Tuberkulose der unteren Extremitäten 2u; Tuberkulose mehrerer
Organe oder Combination 2c.
Nachdem diese ärztliche Einteilung besorgt war, gingen die
Karten in das Bureau zurück und wurden nun von Fachleuten nach
dem Kartensystem statistisch bearbeitet. Wer auf diese Weise noch
nicht gearbeitet hat, dem ist es vielleicht interessant zu erfahren,
wie das gemacht wird. Es wurde als kleinste Einheit der preußische
Regierungsbezirk angenommen. Die sämtlichen Karten des Regie¬
rungsbezirks werden zunächst geordnet nach den Hauptgruppen Nb,
No, Nk u. s. w. Innerhalb jeder Gruppe werden nun abgezählt, wie¬
viel Kinder dem Alter von 0—1, 1—2 u. s. w. angehören, d. h. die
Zählkarten werden zu einzelnen Haufen hingelegt. Die Karten jedes
Haufens werden gezählt und in die betreffende Rubrik der vorge¬
druckten Tabelle eingetragen. Nach derselben Art werden alle
Spalten der Tabelle durchgezählt und mit Zahlen ausgefüllt. An
dieser Arbeit haben sich unter Mitwirkung von Herrn Geheimrat
Mayet die Diätare des Kaiserl. Statistischen Amtes beteiligt, welche
ebenfalls nach einer vorgeschriebenen Instruktion zu handeln ver¬
pflichtet waren.
Als die einzelnen N- und H-Gruppen festgestellt waren, wurden
sie addiert und dann neue Tabellen ausgefüllt, welche dann wieder
die Gesamtheit der N- oder H-Fälle ergab oder alle N- und H-Fälle
zusammen.
Digitized by C^ooQle
330
E. Biesalski.
Wir haben also fQr jede Gruppe eine Tabelle gehabt, das sind 6,
für die Addition 8 = 14, für die Relativzahlen 8 = 22 Tabellen; das
aber immer für jede Provinz und jeden Bundesstaat. Diese Tabellen
mit vielen Hunderten von Zahlen bilden einen ganzen Berg und ich
zeige Ihnen nur eine hier vor, damit Sie eine Vorstellung davon be¬
kommen, welche Fülle von Arbeit darin steckt. Noch ebensoviel
Material stellen die Tabellen der Regierungsbezirke dar, welche aber
gar nicht einmal zum Abdruck kommen. Was die Tabellen nun er¬
geben haben, darauf will ich erst eingehen, nachdem ich noch ein¬
mal auf die BegrifiFsbestimmung des Wortes Krüppel eingegangen bin.
Meine Herren! Die Art der Einteilung der Gruppen zeigt Ihnen,
daß ich von Anfang an bestrebt war, die Begriffsbestimmung nicht
nur auf Grund des Gebrechens zu tun, sondern daß ich von Anfang
an das im Wort Krüppel steckende soziale Element mit dazu getan
habe. Aber erst im Laufe der Jahre, in welchen ich über diese
Materie nachzudenken Gelegenheit hatte, bin ich mir ganz klar dar¬
über geworden, wie das Wort Krüppel zu definieren ist.
Krüppel ist keine Diagnose; es ist ein sozialer Begriff, welchem
ohne weiteres das Aerztliche und das Wesen der Hilfsbedürftigkeit
anhaftet. Das geht aus der Geschichte hervor und aus dem Gefühl,
das man ohne weiteres hat, wenn man im Geiste das Wort Krüppel
abwägt.
Krüppel in unserem Sinne ist unter allen Umständen nur ein
Krüppel, welcher heimbedürftig ist. Alle übrigen müssen wir hinaus
lassen und das ist dringend notwendig, weil die ganze Bewegung der
Krüppelfürsorge sonst uferlos wird. Sie ließe sonst ihre Fürsorge
solchen Kindern angedeihen, die nach der sozialen Lage der Eltern
dessen gar nicht bedürfen. Sie würde dadurch der öffentlichen Armen¬
pflege Lasten auferlegen, welche diese zu tragen weder nötig noch
ein Interesse hat. Es sind auch Stimmen laut geworden unter den
Orthopäden und Chirurgen, welche die Befürchtung erkennen ließen,
die Krüppelfürsorge würde ihnen Kranke entziehen. Davon kann
natürlich gar nicht die Rede sein. Erstlich soll das gar nicht ge¬
schehen und zweitens ist es auch darum schon unmöglich, weil die
Zahl der Krüppel an sich so kolossal hoch ist, daß, solange wir
leben werden, eine ausreichende Krüppelfürsorge gar nicht geschaffen
werden kann. Im Gegenteil diejenigen, welche befürchten, daß die
Krüppelfürsorge ihnen Material wegnimmt, sind uns zum größten
Dank verpflichtet, denn, indem wir das Publikum und die Behörden
Digitized by L^ooQle
Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland.
331
darüber auf klären, in welch einem hohen Maße heutzutage Krüppel*
gebrechen geheilt werden können, erschließen wir ja eine unendliche
Fülle orthopädischer Krankheiten der Behandlung, welche ohne unsere
Aufklärungsarbeit einfach unbehandelt bleiben würde. Ich erinnere
allein an das ungeheuerliche in den Volksschulen steckende Material
an Skoliotikern. Also es darf jeder versichert sein, daß wir KrUppel-
fürsorgeleute alles andere wollen, als alle orthopädisch Kranken für
uns einheimsen. Auf der anderen Seite aber liegt es im öffentlichen
Interesse, daß die Folgen des Krüppelgebrechens für das Individuum
Mrie für die Allgemeinheit auf das geringste mögliche Maß reduziert
werden. Wie jede soziale Arbeit ist die Krüppelfürsorge der Dienst
am Individuum, gesehen durch das Interesse der Allgemeinheit. Denn
ihr letzter Zweck ist ebensosehr, die Person des Kranken von seinem
unverschuldeten Leiden zu befreien, als der Allgemeinheit die Last
abzunehmen, daß sie für ihn sorgen muß. Erwerbsfähig soll der
Krüppel gemacht werden. Aus einem Unsozialen soll er ein Sozialer
werden oder, wenn man das in die Form eines zwar übertriebenen,
aber immerhin doch sofort einleuchtenden Schlagwortes kleiden will,
er soll aus einem Almosenempfänger ein Steuerzahler werden.
Dieses soziale Element muß gegen den Grad des Krüppel*
gebrechens abgewogen werden, dann wird man zu einer rechten Ab¬
grenzung derjenigen Fälle kommen, welche der öffentlichen Heim¬
pflege bedürftig sind, und ich möchte daher den Begriff Krüppel
folgendermaßen definieren:
9,Eiii heimbedttrftiger Krüppel ist ein (infolge
eines angeborenen oder erworbenenen Nerven- oder
Knochen- und Gelenkleidens) in dem Gebrauch seines
Kumpfes oder seiner Gliedmafien behinderter Kranker,
bei welchem die Wechselwirkung zwischen dem Grad
seines Gebrechens (einschliefilich sonstiger Krank¬
heiten und Fehler) und der Lebenshaltung seiner Um¬
gebung eine so ungünstige ist, daß die ihm ver¬
bliebenen geistigen und körperlichen Kräfte zur
höchstmöglichen wirtschaftlichen 8elbstandigkeit
nur in einer Anstalt entwickelt werden können,
welche über die eigens für diesen Zweck notwendige
Yielheitürzt lieh er und pädagogisch er Einwirkungen
gleichzeitig verfügt.^
Darin ist auch zugleich die Definition eines Krüppelheims ein-
Digitized by
Google
332
K. Biesalski.
geschlossen, und ich würde es dankbar begrüßen, wenn die Versamm¬
lung diese Begriffsbestimmung, welche der ganzen Statistik zu Grunde
liegt, annehmen würde oder, falls sie ihr unannehmbar erscheint,
jedenfalls durch irgend eine andere ersetzen würde. Denn wenn wir
den Staat angehen wollen und die Gemeinden, damit sie uns in der
praktischen Krüppelfürsorge unterstützen, so müssen wir ihnen wenig¬
stens sagen können, was wir denn überhaupt unter einem Krüppel
verstehen.
Zunächst ist er ein Kranker. Das würde ich raten, allem voran¬
zusetzen, denn es gibt heute so außerordentlich zahlreiche Möglich¬
keiten, das Krüppelgebrechen ganz oder teilweise zu beseitigen, daß
nach meinem Dafürhalten eine Krüppelfürsorge als solche gar nicht
bezeichnet werden kann, wenn sie nicht in ausgiebigstem Maße von
dieser Möglichkeit Gebrauch macht. Nun kommt die Wechselwirkung
zwischen sozialer Lage der Umgebung und dem Grade des Gebrechens.
Da sollte man nun nicht engherzig sein. Dem Laien stellt sich bei
dem Worte Krüppel und Krüppelheim im Untergründe seines Bewußt¬
seins so eine verschwommene Vorstellung ein von »hilflos am Wege
sitzen, widerwärtiger Verunstaltung, Leierkastendrehen, Schaustel¬
lung“ u. s. w.; das sollte verschwinden. Wenn ein Kind aus einer
Umgebung stammt, in welcher es im Schmutz verkommt, in welcher
jede Behandlung aus Indolenz versäumt wird, wenn dieses selbe Kind
schwerhörig ist, vielleicht etwas schwachsinnig, wenn es als unehe¬
liches in die Ehe mitgebrachtes Kind dem Stiefvater und der eigenen
Mutter schließlich lästig wird, auf die Straße getrieben zum Erwerb
in früher Jugend, so genügt es für meine Auffassung, wenn dieses
Kind einen einseitigen noch nicht behandelten Klumpfuß hat, um es
als ein der Aufnahme in ein Krüppelheim bedürftiges Kind zu be¬
zeichnen, denn hier kann es von seinem Leiden befreit werden und
schon allein dadurch seine Erwerbsfähigkeit gesteigert werden, und
hier kann es daneben und ohne Zeitverlust trotz seines Schwachsinns
und seiner Schwerhörigkeit zu einem Grade der allgemeinen Schul¬
bildung gebracht werden, welchen es in seiner Umgebung niemals
erreichen würde. Wissen ist Geld und Macht. Und wer hat den
Vorteil davon? In erster Linie das Kind, in zweiter und ebenso
intensiver Weise die Allgemeinheit.
Ein anderes Beispiel: Ein Kind stammt aus zwar ärmlichen
aber ordentlichen Verhältnissen, in denen es, falls es nicht krank ge¬
worden wäre, die Volksschule bis zu Ende besucht hätte und einem
Digitized by CjOOQle
Wesen und Verbreitung des KrDppeltums in Deutschland.
333
Handwerk zugeführt worden wäre. Jetzt hat es das Unglück, eine
Hüftgelenkentzündung zu bekommen, zu deren Ausheilung es 4 bis
5 Jahre lang in einem Krankenhaus bleiben muß. Wenn es nun
geheilt ist, ist es erstlich mal durch die Versteifung seiner Hüfte
weit weniger erwerbsfähig wie seine gesunden Altersgenossen, und
dieses an sich unverschuldete Unglück wird in seiner Wirkung für
das Kind dadurch erheblich gesteigert, daß das Kind ebenfalls un¬
verschuldet bei seiner Konfirmation außerdem noch um 4—5 Schul¬
klassen dümmer ist wie seine Altersgenossen. Hat das Kind dagegen
seine Krankheit in einem Krüppelheim zugebracht, in welchem es
während der Behandlung unterrichtet wurde, so. hat es zur Zeit der
Konfirmation wenigstens dieselbe Schulbildung wie seine gesunden
Altersgenossen, was bei einem kranken Körper naturgemäß noch
viel mehr bedeutet wie bei einem gestmden.
Ein drittes Beispiel: Ein Kind hat eine vollständige Lähmung
des linken Beins und eine lähmungsartige Schwäche der linken Hand
erlitten. Ueber den Versuchen, dieses auf innerem Wege oder durch
chirurgische Maßnahmen zu heilen, sind mehrere Jahre ins Land ge¬
gangen, während deren das Kind ohne Schulunterricht geblieben ist.
Jetzt ist der Knabe 12 Jahre alt, hat die Schulbildung eines 7jäh-
rigen Kindes. Er muß unbedingt so weit gebracht werden, daß er
mit dem 15. Lebensjahre konfirmiert wird und in eine Lehre ein-
treten kann. Kommt er in ein Krüppelheim, so kann er Vormittags
die Schule besuchen und seine Kenntnisse ergänzen, Nachmittags
aber in der Schuhmacherwerkstatt beschäftigt werden, so daß er,
wenn er nach der Konfirmation das Schuhmacherhandwerk erlernen
will, nicht nur eine größere Schulbildung besitzt, sondern auch in
dem Handwerk schon so viele Vorkenntnisse hat, daß er trotz seines
Gebrechens zur selben Zeit die Gesellenprüfung zu bestehen vermag
wie seine gesunden Altersgenossen.
Solche Beispiele gibt es unzählige. Sie sagen demjenigen, welcher
in der praktischen Krüppelfürsorge steht, gar nichts Neues; aber dem¬
jenigen, der doch noch nicht so recht weiß, worauf wir hinaus wollen,
sollen sie zeigen, wo die Grenzen für die Begriffsbestimmung Krüppel
zu ziehen sind und daß diese durchaus nicht mit der Krankheits¬
bezeichnung zusammenfallen, sondern daß wir nicht umhin können,
das soziale Moment mit hineinzunehmen und daß jeder Fall für sich
und aus seinen besonderen Verhältnissen heraus entschieden werden
muß. Das wird, um es nur nebenbei zu bemerken, schematischer
Digitized by
Google
334
K. Biesalski.
Bureaukratismus im allgemeinen sehr viel weniger gut vermögen als
eine bewegliche, anpassungsßthige private Organisation.
Hier möchte ich nur noch etwas anderes erwähnen, nämlich
ein altes Leiden der Krüppelfürsorge, das darin besteht, daß die
meisten Eltern es als etwas Kränkendes empfinden, einen Krüppel
zu besitzen. Sie mögen ihr Kind nicht so bezeichnen lassen, am
wenigsten öffentlich, und möchten es darum auch nicht in ein Krüppel-,
heim geben. Hier liegt eine der Hauptschwierigkeiten, die Kinder
in die Anstalten hineinzubekommen, und diese Schwierigkeit hat auch
bei Aufstellung der Statistik sich in der unangenehmsten Weise be¬
merkbar gemacht, z. B. findet sich in den ganzen Zählkarten kaum
ein einziges Kind der wohlhabenden oder gar reichen Kreise, nicht
einmal der gebildeten. Aus diesem Grunde ist auch schon oft das
Verlangen nach einem Ersatz des Wortes Krüppel laut geworden.
Auch ich habe mich damit beschäftigt. :Da es mir nun fern lag,
mir ein neues Wort aus dem Lateinischen oder Griechischen oder
womöglich gar aus beiden zusammen zu bilden und ich selber ein
geeignetes nicht fand, so habe ich mich an den Allgemeinen Deut¬
schen Sprachverein gewandt mit der Bitte, seine Mitglieder zur Be¬
schaffung eines solchen Wortes anzuregen, das aus dem Mittelhoch¬
deutschen oder aus einer noch lebenden Mundart entnommen werden
könnte. Neben vielem gänzlich Unbrauchbaren ist da ein Wort vor¬
geschlagen worden, das ich hier mitteilen möchte, es heißt Hilf-
ling. So ein neues deutsches Wort entbehrt manchmal nicht des
Beigeschmacks des Komischen; man muß sich nur erst an Klang
und Schriftbild desselben gewöhnen. Es ist richtig deutsch gebildet,
und ebenso wie ein Lehrling jemand ist, der gelehrt wird, ist ein
Hilfling jemand, dem geholfen werden muß. Es lassen sich außer¬
dem damit alle Zusammenstellungen bilden: Hilflingsheim, Hilflings-
wesen, Hilflingsarzt u. s. w. Das wichtigste Merkmal, das in unserem
Sinne dem Krüppel anhaftet, nämlich das der Hilfsbedürftigkeit,
kommt darin ausgezeichnet zum Ausdruck. Es hat nur einen Mangel,
daß es nämlich auch auf alle anderen Hilfsbedürftigen paßt, auf
Taubstunune, Idioten ebensogut wie auf Krüppel. Schließlich wäre
das ja aber kein Grund, es nicht doch zu nehmen, weil der Sprach¬
gebrauch ja häufig Begriffe allgemeiner Art auf Besonderes einengt.
Es fragt sich nun, ob man im Ernst daran gehen soll, das Wort
Krüppel dadurch zu ersetzen, denn gerade so gut wie man das Publikum
daran gewöhnen müßte, unter dem Hilfling einen heimbedürftigen
Digitized by L^ooQle
Wesen und Verbreitung des KrÜppeltums in Deutschland.
335
Krüppel zu verstehen, könnte man es ja auch daran gewöhnen, das
Wort Krüppel in einem weniger grausigen Sinne anzusehen. Ich
will nicht direkt den Vorschlag machen, diesen Ersatz offiziell vor¬
zunehmen, wäre aber doch dankbar, wenn aus den Kreisen der prakti¬
schen Fürsorgeleute heraus nachher sich Aeußerungen darüber ver¬
nahmen ließen, ob das wohl zweckmäßig wäre.
Meine Herren! Um die Ergebnisse der Statistik recht über¬
sichtlich darstellen zu können, habe ich Plakate anfertigen lassen^).
Auf dem ersten sehen Sie die Verteilung der Krüppel überhaupt. Es
sind gezählt 75183 Krüppel oder 1,48 auf 1000 Einwohner. Rosen¬
feld hatte aus früheren Statistiken 1,17 auf 1000 berechnet; der
Durchschnitt ist also ungefähr der gleiche geblieben. Die rote Linie
kennzeichnet den Reichsdurchschnitt. Den geringsten prozentualen
Gehalt au Krüppeln hat Schaumburg-Lippe = 0,89, den höchsten
Reuß ä. L. = 2,78. Berlin steht sehr günstig da mit 1,03. Preußen
hat 1,35 oder insgesamt 50416.
Die zweite Tabelle stellt das Verhältnis zwischen den heimbe¬
dürftigen Krüppeln und der Einwohnerzahl fest. Es gibt in Deutsch¬
land 42249 heimbedürftige Krüppel, d. h. fast die Hälfte, oder 0,83
auf 1000 Einwohner. Hier ist die Reihenfolge eine andere wie auf
der ersten Tabelle. Hier ist Berlin am günstigsten mit 0,49, Preußen
am schlechtesten mit 1,65 auf 1000 Einwohner. Auffallend ist, daß
alle sächsischen Staaten sich weit oberhalb des Reichsdurchschnitts
befinden, Sachsen-Weimar, Provinz Sachsen, die thüringischen Staaten
pnd Anhalt. Den günstigen Stand in Berlin erkläre ich mir erstlich
mal daraus, daß naturgemäß in der Großstadt manche Krüppel nicht
gezählt sind, dann aber auch daraus, daß die zahlreichen von der
Bevölkerung leicht erreichbaren Krankenhäuser, Polikliniken und
Schulen, namentlich auch das Vorhandensein von Schulen für Schwach¬
befähigte es ermöglicht, einen großen Teil des Krüppelelends ambu¬
lant zu beseitigen.
Nun kommt die dritte Tabelle, welche die lieimbedürftigen auf
die Zahl der gezählten Krüppel bezieht. Unter 1000 Krüppeln gibt
es im Deutschen Reich 562 heimbedürftige, d. h. nur wenig mehr
als die Hälfte, Diejenigen, welche befürchten, daß wir ihnen Ma¬
terial wegnehmen wollen, wollen hieraus ersehen, daß wir mit außer-
*) Sie sind für den Druck durch die am Schluß des Textes abgedruckten
Tabellen ersetzt.
Digitized by
Google
336
K. Biesalski,
ordentlicher Strenge gesichtet haben, und daß wir im Gegensatz zu
früheren Statistiken fast die Hälfte aller ErQppel ausgemerzt haben.
Diese stellen sozusagen freigewordenes klinisches Material dar.
Um nun einen Vergleichs weisen üeberblick darüber zu be¬
kommen, in welchem Maße in den einzelnen Gegenden für die
Krüppel gesorgt ist, ist hier noch die Zahl der Aufnahmegesuche
und Betten eingetragen, und zwar bezogen auf den dazu gehörigen
schwarzen Strich, d. h. Promillesatz heimbedürftiger gegenüber der
Krüppelzahl, also von den 562 heimbedürftigen in jedem Tausend
Krüppel in Deutschland haben sich 127 zur Aufnahme gemeldet; es
sind aber für die 562 nur 62 Betten vorhanden, d. h. noch nicht
einmal der 10. Teil aller heimbedürftigen Krüppel kann aufge¬
nommen werden.
18 Bundesstaaten und eine preußische Provinz, nämlich Posen,
haben überhaupt keine Betten für Krüppel. Von diesen 18 Bundes¬
staaten gehen einige ab, weil die thüringischen Staaten sich zu einem
Heim zusammengeschlossen haben, und unter den bettenlosen befinden
sich diejenigen 5, welche die höchsten Relativzahlen Heimbedürftiger
haben. Diese Zahlen schwanken enorm. In Reuß j. L. sind von
1000 Krüppeln 300 heimbedürftig, in Schaumburg-Lippe 925; nimmt
man die absoluten Zahlen, so stellt sich folgendes heraus: es gibt
42000 heimbedürftige Krüppel, 9000 aufnahmewillige, und rund
3000 Betten.
Es wäre nun falsch zu sagen, folglich müssen für 39000 Kinder
Betten geschaffen werden. Denn wenn man diese 39000 aufforderte,
ihre Kinder in ein Heim zu bringen, so würde etwa diesem Ruf
Folge leisten, das sind 13000. 3000 davon sind schon untergebracht.
Es würde also nach meinem Dafürhalten genügen, wenn für die
nächste Zeit die Einrichtung von 10000 Betten durch die Krüppel¬
fürsorge in Deutschland in Angriff genommen würde, um wenigstens
der alleräußersten Not zu steuern.
Sie werden erstaunt sein, daß ich der Versuchung,, mit den
42 000 zu manipulieren, nicht erliege, wiewohl das als ein wirkungs¬
volles Agitationsmaterial erscheinen könnte. Das ist es nach meiner
Ansicht aber nicht. Der Ausbau der Krüppelfürsorge bängt davon
ab, daß man nicht Phantastisches fordert, sondern sich an das Er¬
reichbare hält. 39 000 Betten in kurzer Zeit zu schaffen, ist absolut
ausgeschlossen. Man braucht sie auch nicht, denn die Leute kommen
gar nicht.
Digitized by C^ooQle
Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland.
337
Daher erweist man der Krüppelfürsorge den größeren Gefallen,
wenn man Zahlen in Vorschlag bringt, welche erstlich mal der Wirk¬
lichkeit entsprechen und über die die Gemeinden, der Staat und
Private mit sich reden lassen werden. Sonst sagen diese nämlich,
die Geschichte wird so teuer, daß wir es doch nicht leisten können,
also wollen wir gar nicht erst anfangen. Je mehr die Krüppel¬
fürsorge dann populär wird, und je mehr das Publikum aufgeklärt
wird, ein umso größerer Anteil von den noch fehlenden 29000
werden sich nach und nach freiwillig einstellen, und zwar so all¬
mählich, daß ein gesunder Ausbau der Anstalten wird folgen können.
Ich gebe den Herren anheim, sich auf Grund dieser Tabellen
die Zahlen für ihre eigenen Landschaften auszurechnen; auf Einzel¬
heiten kann ich hier nicht weiter eingehen.
Auf der vierten Tabelle habe ich die vier wichtigsten Krank¬
heiten dargestellt im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Blau ist hoch¬
gradige Verkrümmung der Wirbelsäule; Rot Knochen- und Gelenk¬
tuberkulose; Grün allgemeine Rhachitis, Zwergwuchs, hochgradige
rhaehitische Verkrümmungen einzelner Glieder; Gelb Kinderlähmung
und Lähmung aus anderen Ursachen. Es ist erstaunlich, in welch
einem hohen Grade die einzelnen Krankheiten in den verschiedenen
Landstrichen variieren. Der Reichsdurchschnitt weist auf: auf
1000 Einwohner 0,15 Skoliosen, 0,19 Tuberkulose, 0,12 Rhachitis,
0,2 Lähmung. Die Lähmung ist das schlimmste der Krüppel¬
gebrechen, absolut wie relativ. Den Höchstsatz erreicht Waldeck
mit 0,46. Die höchste Zahl von Rhachitis ist in Lippe = 0,42; die
höchste Zahl von Tuberkulose in Lippe = 0,42; die höchste Zahl
von Skoliose in Waldeck und Königreich Sachsen = 3,2. Das letz¬
tere ist überhaupt am schlechtesten daran; alle vier Farben gehen
in ihm zu einer beträchtlichen Höhe. Berlin ist nicht schlecht be¬
stellt, wie man ja auch nachgewiesen hat, daß der Berliner Durch¬
schnittsschüler an Körpergröße die Kinder des platten Landes über¬
ragt. Leider kann ich näher nicht hierauf eingehen, sondern werde
erst in der endgültigen Veröffentlichung diese wichtigen und inter¬
essanten Fragen zu erörtern versuchen.
Die beiden letzten Karten zeigen Ihnen die Summe der No-
und H-Fälle, d. h. derjenigen Kinder, auf welche ärztlich und päda¬
gogisch eingewirkt werden kann, in absoluten Zahlen und geteilt
nach vorschulpflichtigem und schulpflichtigem Alter.
Hier sehen Sie in Karte 5 die hauptsächlichsten Landschaften,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 22
Digitized by
Google
338
E. Biesalski.
z. B. Rheinland hat 7103 schulpflichtige und 1872 vorschulpflichtige
Kinder; in Preußen stecken im vorschulpflichtigen Alter 8695; in
Deutschland 13202 Kinder, deren KrUppelgebrechen beeinflußbar ist;
das sind Zahlen, welche bei einer Statistik doch nicht unter den
Tisch fallen dürfen, und welche darauf hinweisen, wie wichtig die
Prophylaxe des Krüppelgebrechens ist, d. h. der Ausbau von Be¬
ratungsstellen und Polikliniken, wie sie nachher Herr Dr. Rosen¬
feld schildern wird.
Noch interessanter gestaltet sich die Frage, wenn man Plakat 6
studiert, welches wieder die vier Krankheiten darstellt; der schwarze
Horizontalstrich trennt die beiden Altersstufen. Sie sehen z. B.,
welch eine große Aufgabe das Königreich Sachsen hat, wenn es nur
die vier Hauptkrankheiten im vorschulpflichtigen Alter beseitigen
will. Ich erinnere daran, daß die Berliner Schulärzte alljährlich
600 Kinder im 6. Lebensjahre wegen Skoliose in üeberwachung
nehmen, und ich will aus dem Deutschen Reich nur noch zwei Zahlen
nennen, nämlich ungefähr 1000 Kinder mit Knochentuberkulose und
2^lt Tausend mit Lähmungen, welche im vorschulpflichtigen Alter
stecken. .
Jetzt will ich noch in aller Kürze ein paar andere Fragen
streifen. Von 838 Kindern waren die Eltern blutsverwandt; ich
verzichte hier auf eine Kritik dieser Zahlen. In 4 ®/o der Fälle litten
Blutsverwandte an gleichen Gebrechen, in 3V2 ®/o an einem anderen.
Nur 67 ® 0 der gezählten Krüppel waren schon vorbehandelt. Eben¬
falls ein Hinweis auf die Fülle von Gelegenheit zur Betätigung für
die Orthopädie.
504 neigten zu Böswilligkeit und Verbrechen. Es ist klar,
daß diese Veranlagung am gründlichsten in der Zucht einer Anstalt
wird bekämpft werden können. 90 ®|o aller Kinder waren geistig
gesund. Ich glaube nach meinen Anstaltserfahrungen, daß dies zu
hoch gegriffen ist, und daß doch manch ein Schwachsinniger von
den Eltern als geistig gesund bezeichnet worden ist.
10 ^/o der Schulpflichtigen haben noch keinen Unterricht er¬
halten. Diese 10 ^/o rekrutieren sich fast ausschließlich aus den
Schwachsinnigen, denn auf 1000 gerechnet stehen 900 geistig ge¬
sunden Kindern 888 gegenüber, welche eine Vollschule besucht
haben. Dagegen haben wieder auf 1000 gerechnet von 92 Schwach¬
sinnigen nur 13 eine Schule für Schwachbefähigte besucht. Daraus
geht hervor, daß die Krüppelheime sich mehr wie bisher auf den
Digitized by C^ooQle
Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland.
339
Unterricht der Schwachbefähigten werden einrichten müssen, zumal
ja diese Methodik zu außerordentlichen Erfolgen führt. Es gibt in
Deutschland noch 5548 Kinder, welche verkrüppelt und schwach-»
sinnig sind und von ihnen erhalten nur 820 den für sie notwendigen
Unterricht.
Meine Herren! Mit dem rein statistischen Wert sind die Zähl¬
karten nicht erledigt. Sie besitzen daneben noch eine große werbende
Kraft, welche ihnen von Anfang an bewußtermaßen beigelegt ist. Es
war von vornherein klar, daß die Statistik so, wie sie unternommen
werden mußte, niemals den zuverlässigen Wert haben konnte, wie ihn
z. B. die amtliche Volkszählung hat. Deshalb war es unser Bestreben
von vornherein, die Zählkarten dazu zu verwenden, daß sie eine Be¬
lebung der praktischen Krüppelfürsorge herbeiführten. Aus diesem
Grunde werden jetzt sämtliche Zählkarten in ihre Heimatländer
zurückwandern, und zwar habe ich mich zu dem Zweck an den
Herrn Minister in Preußen gewandt mit der Bitte, die Zählkarten
den Herren Oberpräsidenten der Provinzen zuzustellen mit dem Er¬
suchen, in Fühlung mit den in der Provinz tätigen Vereinen, Per¬
sonen und Anstalten für Krüppelfürsorge dem Umfang des Krüppel¬
tums nachzugehen und auf seine Beseitigung Bedacht zu nehmen.
Da der Herr Minister uns bisher mit seinem Wohlwollen in so weit¬
gehender Weise bedacht hat, so hege ich die Hoffnung, daß er dieser
Bitte entsprechen wird. Damit wäre der Krüppelfürsorge ein außer¬
ordentlicher Dienst erwiesen, denn sie käme von selbst in Fühlung
mit dem Staate und würde diese auch wohl nicht wieder verlieren.
Auf der anderen Seite würde der Herr Minister Material gewinnen,
um Entschlüsse darüber fassen zu können, in welcher Weise der
Staat sich an der Krüppelfürsorge zu beteiligen hätte.
In ähnlicher Weise werden wir an die Regierungen der übrigen
Bundesstaaten die Bitte richten, von Amts wegen die Karten zu
verteilen. Es wird Sache derjenigen Herren, welche sich mit der
Krüppelfürsorge beschäftigen, sein, daß sie sich mit ihren Regie¬
rungen zu dem vorgedachten Zweck in Verbindung setzen. Die Ver¬
sendung wird in einigen Wochen geschehen.
Auf alle Fälle ist nunmehr jede Landschaft ira Deutschen
Reiche in der Lage, unanfechtbare Mindestzahlen zu bieten, welche
ganz fraglos immer hinter der Wirklichkeit Zurückbleiben und so
vor Uebertreibungen ohne weiteres schützen. Ein anderer Wert ist
der, daß die Erfahrungen, die wir bei dieser ersten, wie wir ohne
Digitized by
Google
340
E. BiesaUki.
Weiteres zugeben, unvollkommenen Statistik gesammelt haben, Uns
dabei behilflich sein werden, in späterer Zeit einmal eine voll¬
kommene Statistik zu erheben. Und das letzte ist, daß die Statistik
es zuwege gebracht hat, daß einmal im ganzen Deutschen Reiche
in allen Amtsstuben von der Reichskanzlei bis zum Gemeindehaus
im kleinsten Gebirgsdorfe das Wort Krüppelfürsorge erklungen ist,
daß in Hunderttausenden von Familien einmal wenigstens das Be¬
wußtsein aufgedämmert ist, auch für diese Unglücklichen gibt es
eine Hilfe, kurz, daß sie einmal und im großen Stil alles aufgerüttelt
hat, was dazu beitragen kann, der praktischen Krüppelfürsorge neue
Nahrung zuzuführen und sie in einem Maße zu entwickeln, welches
den Bedürfnissen wenigstens nahekommt.
Der Ausblick auf diesen Erfolg der Statistik hat mir den Mut
erhalten, mich durch den ungeheuren Berg von Arbeit hindurch¬
zufressen, der aber, das darf ich versichern, kein Pfeffer kuchenberg
war. Das andere, was mir die Freude an der Arbeit erhalten hat,
war das Gefühl, für die ärztliche Tätigkeit ein neues großes soziales
Gebiet zu beackern, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß, wenn
auch das rein wissenschaftliche Moment in der ärztlichen Tätigkeit
ein erhebendes und befreiendes ist, so doch die letzte Befriedigung
und höchste Freudigkeit erst ausgelöst wird durch das rein mensch¬
liche Gefühl des Helfens, und wer an die Krüppelfürsorge herantritt
mit dem Verlangen, Hilfe zu bringen, den einzelnen aus seiner Not
zu reißen und der Allgemeinheit zu dienen, für den ist jeder neue
Arbeitstag ein neuer Freudentag.
Digitized by L^ooQle
hauptsftchlichsten Staaten Pentschlands.
Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland.
341
a
a>
n
g>§ fl
1 s®
Jii
iS teS
B
0
»H
'S
•-s
Abso¬
lute
Zahlen
00»-h40 05 03 00 03hiH
05OCCC0C000(35C0
C003034003<MCOHi<
30 CC CC
40 1-H
CC 40 CO
357
1516
00 40 <35
00 40 (M
0 40 1 -H
1-H
314
6473
CC
<35
40
05
lO
tn ff
t>- ^ 1-H 00 1-i 03 CC l>
0 (N <fl
00
-^00 CO <o
05 Ci-
<fl
rH
iH ä .2
<33O30d0dO3HJ'O34O
03 0 03
06 CC
rH 03 40 CO
-njJ ö
CC
1
c-ooooi>c^03i>r^
r*- 0 <35
03 iH
!> 03 <35 00
0
0
1
CO
K- ^
03 hH ^ 1-H 03 hH rH
03 03 HH
<^3 <M
rH CO rH 03
03 <N
03
u
os-^*ocooo<x>oa»-<
J 3*5 1—I t-H »-H
CO (M
t^co <o
40 CO
Hth <35 rH H*<
0
<35
00 40
0 03 rH 03
D- <35
40
CC
CC rH
40
CC
rH
03
Ö'
eo «
■5 S ® :p
'S
J I ®
«t§ «
g s
P d» O ü fl
■S*g-a.2'S
-t-a ^
.2 -fl -
O) fl
“ 2 § § S)
:i3 ^ -AB
^ Ca 3
^ fl
fl
M
a S
O
ns ^
fl^
fli:
03
ß-S
O) fl
I
CO
-2 fl
I 2
ß .ß
.2 4
CO
o
Ihältnis-
1 zahlen
H!li4q<35r-i4q4qcq<0
CC<^30^4003^';'<OCC
'^OOOt^CCOO(X)i^
1-H 1-H rH 03 tH rH rH
00 c>^4q
05 05 HiJ'
40 l'- 0
<33 rH (33
176,3
188,5
00 I> fl (3^
00 CC CC <fl
40 CC (33 rH
rH 03 rH 03
185.7
183.7
00
’fl
CC<»rHO5COO3CO00
H*4 r-
I-H C-
(33 00 <N 00
CC CC
40
050503h*io0 40 C040
<X) <35
CO I-H 03 CC
rH 0
05
' NJ
03 03 rH CC <33
i-H CO
03 I>-
fl I-H
rH —1
CO
CC
i’S^ coodcdodcocoi-Tci
I A.a§00-HC>-(Ma5000il>*
” ^ *s cc cx> oj CO iO *o
I> 00 <03
CO 1-H CO
lO !>■ »-«
CO o
CO O !>• CO
1 -H 03 »-H
lO <3> C-
CO O 03
CO a>
00 aO
1-H *-H rH 1-H 1-H CO
Ci t*- »o o>
hJ< C-. rH 1-H
CO
^ Oi o
CO o r-
*0 03
t-H 03
»-ciJ r'-00l>-C0C:'*tO05
j:* ^ .3 03 03 tO iO O CO *0
’^’^OOl-Hf-Hi-Hi-Hi-H
p
0} 1
0 0
Sh
CT '
fl
cd
A! P
40
1 1
1
S. ff
<V *J
1
1
fl
' Js
aO 40
rf 05 CS
03 fl
t-H »-H
00 rH
Cr 05
rH rH
CC 40 40 03
03 05 00 1-?
00 fl fl ^
169,8
173,5
172,0
CC Cr
01 0 fl
<N 00
00 fl
C5 er
03 00
Hd* 03 fl 0
fl Cr CC Cr
Cr 03
^ fl
05 OJ
00
<35
0
fl
<35 00 <33
fl CC
<C> 00 11^^03
fl 00
0
<0 oi'yS
00 CC
<fl 05 <C> 40
rH tr
05
t> rH CC
03
03 HJ4 CC 40
40 <33
(33
o
s
U4
-2 fl
1 2
= J3
Ö « « o <35 r-lO 00 00 CO <35 05r-i-< i-h CO O CO 05 (^3 (35 Hf< OS
- 3 03 03 CO 1-H »o HJI ^ CO 40 »-• • 03 03
^ .fl eö ^ iO 05
&c
fl
fl
a
S rS
S3 fl
>H :cä
'fli
03 V
(^"2
*g fe
So'fl
.fl
o
o
u
.fl
cä
•-5
^2 fl 4qoqcqc>'^coco<35
s|-‘S2 COodi-^COodc5<35Crr
fl: -2 <M c>- 40 40 i >-1-- iO 40
ÖojS COOOCOC040^03<33
COOCOHHOOCOC040
^3.fl»-li-H^03 Hj<CO
s fl
1 -
fl J3
00 ^
2 fl 400C5051-H00040
is.2 Öododcococ64003
C5050COCOOJi-h*i^i
.-3 r5 1-H 1-H 1-H 1-H
A«S 40'^t^coo3cocor^
^ 03 03 03 03 1-H CC 00
5-'3
H N
fl 40
Cr -re
fl fl fl
85,1
62.0
<35 <0 rH rH
Ir fl rH* 00
fl <35 0 0
rH ^H
<35 fl
fl <33
Cr CO
70,4
<r> -Id« rH
CC <35 <35
1-H CC CO
fl <33
0 00
<M 00
<33 tr <X) Cr
■Hf «O Cr
rH 03
1 154
1 4636
7043
03 00 fl
fl (33
t> <fl <35 C>^
1-H Cr
rH
CC r-i*
00 Hf
fl'-!f CC 0
cS CC
05
0 40 rH
03 03
00 rH tr tr
03 Hji
rH rH rH
rH rH
rH rH rH rH
rH r1
rH
<33 <35 40
<35 00
fl 05 fl 00
0
03
03 Hf 0
fl 0
0 fl
CC 0
<33
rH
<N
Lr
rH
2flO3:OCO00CO4O<35r^ CO<^3H^^
i3"cOO5^O3C00d00CD 00l><35 OC^
.'^fl:’3'‘flc54ococc cco ^-coco 0040
•''2 S
cq o
05 1 -H
I> 00
c3
cS
P 4 cn
*3*'
-O
• p
O)
I P 'O
flfl p
^ cä
<D
mm;
^ ^ 3
. ^ 03 <D Z
.2 fl ^ S > 'i; A
^«(^<»-^ 0^5 fl
fl ^ 3r3
üc 'S fl
" ^ ^
.fl
|i11®llli||ill
bß
ä ’S 1
fl ^ ^ 5
2 P'g o
fl w m
-•H p c cä
5 cö
C3 YJ
&A
o
0/
fli
fli
.•p
o
o
o
i::: ^
<o
40
00
:cö
fl
ü flfl •
S.2 «*fl
S;=g J£.2
P 5 3 03
•c > a3e£3
Digitized by
Google
342
K. Biesalski.
üebersicht Ober die Terteilnng der Tier wichtigrsten Kriippelgebrechen*
I Auf 1000 Einwohner entfallen Krüppelkinder, leidend an
Staat
Deutsches Reich
(ohne Bayern, Ba
den, Hessen)
Königr. Preußen
Ostpreußen
Westpreußen
Berlin . .
Brandenburg
Pommern .
Posen . .
Schlesien
Provinz Sachsen.
Schleswig-Holstein
Hannover . . .
Westfalen . . .
Hessen-Nassau
Rheinland ...
Hohenzollern . .
Königr. Sachsen .
Württemberg . .
Mecklenb.-Schwerin
Sachsen-Weimar.
Mecklenb.-Strelitz
Oldenburg ...
Braunschweig
Sachsen-Meiningen
Sachsen-Alten bürg
Sachsen-Kob.-Gotha
Anhalt ....
Schwarzb.- Sonders¬
hausen . . .
Schwarzb.-Rudol-
stadt ....
Waldeck . . .
Reuß ä. L. . .
Reuß j. L. . . .
Schaumb.-Lippe .
Lippe ....
Lübeck.
Bremen ....
Hamburg . . .
Elsaß-Lothringen
hochgradiger
Verkrüm¬
mung der
Wirbelsäule
Knochen- und
Gelenktuber¬
kulose
allgemeiner
Rhnchitis,
rhachitischem
Zwergwuchs
und hochgra¬
diger Ver¬
krümmung
einzelner
Glieder
I Kinderläh-
I mung und
Lähmung aus
anderen
Ursachen
Ver-
Abso¬
Ver¬
Abso- 1
Ver-
Abso¬
1 Ver¬
hältnis-
lute
hältnis¬
lute
haitnis-
lute
hältnis¬
1 zahlen
Zahlen
zahlen
Zahlen ;
zahlen
Zahlen
zahlen
1
0,15
9167 1
0,19
11803|l
0,12
7091
0.20
1
0,16
6104 '
0,19
7 093,
0,13
4922
0,22
0,13
273 i
0,14
2761*
0,07
148
0,24
1
0,10
167 1
0,16
263,1
0,08
139 |i 0,16
0,15
800
0,15
300
0,21
437
0,15
0,19
686
0,16
563
0.11
394
0,21
0,14
240
0,19
324:1
0,08
145
1 0,20
1
0,13
259 '
0,13
2501'
0,11
225
0,20
0,23
1157
0,12
611
0.11
552
0,19
1
0,18
523 '
0,17
509 ,
0,14
426
, 0,20
1
0,12
178
0,29
437
0,08
113
0,29
0,17
472
0,20
547
0,11
313
0,24
1
0,13
460
0,24
867
0,15
537
0,23
0,14
285 ,
0,26
536
0,16
333
0,22
0,17
1099
0,25
1 597;
0,18
1154
0.29
'
0.07
5
0.19
13 11
0,09
6
' 0.21
0.32
1442
0.35
1590:
0,23
1019 1 0,30
1
0,12
280
0,27
613
0,09
218
0,32
0,26
160
0,26
163
0,14
90
1 0.35
1
0,15
60 l| 0,24
94
0,14
54
0,23
0,13
13 !i 0.19
20
0,05
5
0,14
i'
0,15
65
0,17
73 '
0,09
38
0,18
0,17
85
0.32
153
0,12
58
i 0,32
'l
0,25
67
0,35
95 11
0,12
32
1 0,28
1
0,23
48
0,26
54
0,08
16 0.28
0,23
0.27
66 1
0.20
49
0,20
0,29
95
0,23
76 1|
0,19
62 II 0,39
0,31
26
0,34
29 |i
0,32
27
0,27
’i
0,24
23
0.22
21 !l
0,18
17
0,24
0.32
0,27
0,19
11
0,46
Ii
0,34
24
0,28
20
0,16
11
0,21
i!
0,24
34
0,27
39 !
0,18
26
0,26
‘t
0.09
4
0,29
13
0,07
3
0,11
0.25
37
0,42
61 1,
0,04
6
1 0,38
1
i;
0,13
14 1
0,27
291
0,04
4
i 0,38
0.18
67
0,36
94 [1
0,28
74
0.29
0,25
223 !i 0.38
■ 330 ;!
0,17
150
0,34
1
0,12
1
221
1
!
0,31
561 i!
0,11
199
1 0,23
Abso-
late
Zahlen
12 343
8346
497
258
300
741
333
402
934
584
435
661
839
452
1896
14
1867
742
219
89
14
81
155
75
57
49
129
23
23
27
15
38
5
56
40
76
299
418
Digitized by
Google
Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland.
343
Gegenüberstellung der Zahl der gezählten Krüppel, der Helmbedürftlgen,
der Aufnahme Wünschenden und der vorhandenen Betten.
o8
Absolute Zahlen
Staaten,
geordnet nach der Verhältniszahl der
Krüppel auf 1000 Einwohner
N
CO
*s
-4^
(-■
O)
>
Krüppel
überhaupt
Nach ärztl.
Urteil heim-
bedürftig
Es haben
Aufnahme in
ein Heim
gewünscht
Vorhandene
Betten
Schaumburg-Lippe.
0,89
40
37
6
_
Mecklenburg-Strelitz.
1,00
103
82
15
—
Westpreußen.
1,01
1 665
1 185
378
40
Berlin.
1,03
2 101
1007
342
—
Posen.
1,07
2 122
1511
560
—
Oldenburg.
1,18
517
295
56
—
Hohenzollem.
1,19
81
44
12
—
Ostpreußen.
1,24
2520
1 710
639
300
Schlesien.
1,26
6 241
3 825
1058
110
Pommern.
1,27
2145
977
305
50
Brandenburg .
1,31
4 616
2 850
953
330
Hessen-Nassau.
1,33
2 761
1404
288
60
Provinz Sachsen.^ .
1,33
3 957
2 761
542
434
Preußen.
1,35
50 416
29 225
6 712
—
Elsaß-Lothringen.
1,40
2 536
968
349
—
Sachsen-Weimar . ..
1,40
544
335
66
—
Hannover.
1,42
3 920
2217
347
94
Schleswig-Holstein.
1,42
2 141
1 247
148
100
Westfalen.
1,43
5 167
3 025
477
180
Schwarzburg-Rudolstadt.
1,44
139
121
19
32
Württemberg.
1,44
3 320
1568
389
467
Braunschweig.
Deutsches Reich (ohne Bayern, Baden,
1,48
721
374
51
10
Hessen).
1,48
75 183
42 249
9 478
2584
Lübeck.
1,62
172
69
34
—
Sachsen-Altenburg.
1.67
345
266
42
—
Rheinland.
1,71
10 979
5 462
1016
120
Sachsen-Koburg-Gotha.
1,79
435
277
48
—
Keuß j. L.
1,81
261
81
15
—
Schwarzburg-Sondershausen ....
1,90
1 162
96
29
50
Mecklenburg-Schwerin.
2,00
1248
825
198
45
Sachsen-Meiningen.
2,06
554
314
86
—
Hamburg.
2,10
i 1834
922
53
—
Bremen.
2,12
558
435
152
—
Lippe .
2,18
317
175
26
—
Königreich Sachsen.
2,19
9 865
5 115
i 1018
162
Anhalt.
2,30 '
754
502
72
—
Waldeck.
2.47
146
93
27
—
Reuß ä. L.
2,78
196
75
15
1
Digitized by LaOOQle
XXIV.
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge').
Von
Dr. Leonhard Rosenfeld,
Spezialarzt für orthopädische Chirurgie in Nürnberg.
Der Gedanke einer Fürsorge für körperlich Verkrüppelte
ist verhältnismäßig jungen Datums, wir finden seine Anfänge
erst zu einer Zeit, als für die mit Defekten der Sinnesorgane Be¬
hafteten, die Taubstummen, Blinden, schon ausgiebig gesorgt wurde.
Zwar gab es schon zu Ende des 18. Jahrhunderts Bestrebungen,
speziell bei geistlichen Körperschaften, in den sogenannten
Rettungs- und Siechenhäusern auch Krüppel aufzunehmen,
doch dachte man dabei nur an eine Versorgung im Sinne der
allgemeinen Armenpflege.
Eine Fürsorge, welche den körperlichen Defekt als solchen
berücksichtigt, treffen wir zuerst in Deutschland in den
Dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Zwei Gesichtspunkte waren es, von denen aus an eine
eigentliche Krüppelfürsorge herangetreten wurde, pädagogische
Erwägungen auf der einen Seite, ärztliche Bestrebungen auf der
anderen.
Pädagogische Gründe veranlaßten den kgl, bayrischen Kon¬
servator J oh. Ne p. v. Kurz in München, im Jahre 1832 eine Er-
ziehungs-, Unterrichts- und Bildungsanstalt für krüppel¬
hafte Knaben ins Leben zu rufen. „Zweck der Anstalt war,
den unglücklichen Kindern einen entsprechenden Unterricht zu
schaffen, weil sie die öffentliche Schule nicht besuchen konnten.
Zugleich sollten die Krüppelkinder zur Erlernung eines ihren Fähig¬
keiten angepaßten Handwerkes angehalten werden, damit sie in der
*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by VjOOQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
345
Folge sich selbst ernähren könnten“. Bereits nach 12jährigem Be¬
stehen des Institutes übernahm der bayrische Staat die Anstalt
als „Königliches Erziehungs- und Unterrichtsinstitut
für krüppelhafte Knaben“.
Das Institut wuchs rasch: 1844 mit 10 Zöglingen eröffnet,
siedelte es im Jahre 1856 mit 30 Zöglingen in ein eigenes Heim
über. 1877 wurde ein allen Anforderungen entsprechender Neubau
(Klenzestraße 54) bezogen, welcher für 100 Zöglinge Raum hot.
Vom Jahre 1876 an wurden auch Mädchen aufgenommen. Zur Zeit
erfährt die Anstalt einen den modernen Bestrebungen angepaßten
Ausbau, An der Peripherie Münchens wird ein Neubau errichtet,
der neben den pädagogischen Zielen den Heilzwecken besondere
Rechnung trägt, in der Erkenntnis, daß vollwertige Erfolge nur
dann zu erreichen sind, wenn die ärztliche Kunst der Schule die
Wege ebnet. Diese neue „Zentralanstalt“ wird neben den Einrich¬
tungen für 200 Unterrichtszöglinge eine orthopädische Klinik von
etwa 70 Betten enthalten. Die Klinik steht in enger Verbindung
mit der orthopädischen Uniyersitätspoliklinik, so daß das gesamte
Material auch den Zwecken des medizinischen Studiums zur Ver¬
fügung steht. Erreicht wird dies dadurch, daß für den ärztlichen
Leiter beider Institute eine Professur für Orthopädie geschaffen
wurde.
Die gleichen pädagogischen Erwägungen führten den Pfarrer
Gustav Werner in Württemberg dazu, bei der Gründung der
„Gustav Wernerstiftung zum Bruderhaus in Reutlingen“
im Jahre 1840, die Krüppel in den Bereich seiner Tätigkeit zu
ziehen.
Diese Gustav Wernerstiftung dient in der Hauptsache
allgemein humanitären Zwecken, besitzt aber eine eigene Abteilung
für Gebrechliche und Krüppelhafte und gewährt diesen Erziehung,
Unterricht und Unterweisung in häuslichen, landwirtschaftlichen und
gewerblichen Arbeiten, eine dem Alter und den Kräften angemessene
Beschäftigung und volle Verpflegung in gesunden und kranken Tagen.
Gleichzeitig mit diesen humanitär-pädagogischen Gründungen
entstanden in Süddeutschland auch die ersten von Aerzten gegrün¬
deten und der ärztlichen Behandlung Krüppelhafter gewidmeten
öffentlichen Anstalten, die von Dr. A. H. Werner im Jahre 1841
ins Leben gerufene „A. H. Wern ersehe Kinderheilanstalt in
Ludwigsburg“ und die von Dr. Camerer und Dr. Heller im
Digitized by L^ooQle
346
Leonhard Rosenfeld.
Jahre 1845 in Stuttgart gegründete ,Armenanstalt für Ver¬
krümmte Paulinenhilfe“.
A. H. Werner verfolgte, angeregt durch die Bedürfnisse seiner
ärztlichen Tätigkeit, speziell als Hausarzt eines Rettungshauses, in
erster Linie den Zweck, langwierig kranken, verkrümmten, halb¬
lahmen und kontrakten Kindern ärztliche Hilfe unentgeltlich in ent¬
sprechendem Maße zu teil werden zu lassen. Zu gleicher Zeit
sollte aber statutengemäß die Anstalt auch für die Erziehung und
Beschäftigung der Kranken Sorge tragen. Maßgebend für diese
Bestimmung war der Gedanke, daß durch die langdauernden, oft
Jahre in Anspruch nehmenden Kuren die Kinder dem Schulunterricht
entzogen und dadurch sozial geschädigt würden.
Das rasch wachsende Unternehmen gründete als Filialen im
Jahre 1854 das Kinderbad Herrnhilfe in Wildbad, und im
Jahre 18(31 das Kinderbad Bethesda in Jagstfeld. 1879 wurde
im Anschlüsse an die Anstalt ein Asyl für krüppelhafte Mädchen
über 14 Jahre errichtet, das Maria-Marthastift in Ludwigs¬
burg, 1892 ein solches für krüppelliafte Knaben von 14—18 Jahren,
das Wilhelmsstift daselbst, endlich 1906 ein Asyl für krüppel¬
hafte Kinder unter 14 Jahren, das Charlottenstift.
In der Kinderheilanstalt werden zur ärztlichen Behand¬
lung orthopädisch und chirurgisch kranke Knaben bis zu 15,
Mädchen bis zu 17 Jahren aufgenommen, im Maria-Marthastift
krüppelhafte Mädchen zum Zwecke des Schulunterrichts und der
Unterweisung in weiblichen Handarbeiten; im Wilhelmsstift
krüppelhafte Knaben behufs Ausbildung für ein Handwerk, im
Charlottenstift verkrüppelte Kinder von 4—14 Jahren zur Pflege
und Erziehung. In den beiden Kinderbädern soll den Pfleglingen
der Gebrauch der Thermalbäder zu Wildbad und der Solbäder zu
Jagstfeld ermöglicht werden.
Auch die Gründung der Arraenheilanstalt Paulinenhilfe in
Stuttgart war veranlaßt durch die tägliche Ueberzeugung, wie
häufig Verkrüppelung bei unbemittelten Kindern aus Mangel ver¬
fügbarer Mittel bei den Beteiligten selbst, wie auch bei den Ge¬
meinden, ungeheilt bleiben müßte. Das mit 4 Betten ins Leben
gerufene Institut wuchs rasch und erhielt im Jahre 1858 ein eigenes
Heim mit 32 Plätzen. Anfangs der 80er Jahre wurde durch Me-
diziiialrat Dr. Roth das bis dahin mehr als Pflegeanstalt betriebene
Institut in eine Heilanstalt umgewandelt, 1899 wurde ein um-
Digitized by C^ooQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
347
fangreicher Neubau bezogen. Die Anstalt verfügt zur Zeit über
80 Betten und gewährt stationäre und ambulatorische Behandlung
in weitestem Umfange.
Mit der Gründung dieser Anstalten erlischt in Deutschland
für lange Jahre das Interesse für Krüppelfürsorge vollständig, während
im Auslande nach und nach ähnliche Bestrebungen sich
geltend machen.
So nehmen in Frankreich in den 40er und 50er Jahren des
19. Jahrhunderts einzelne geistliche Körperschaften die Krüppel¬
fürsorge in ihren Asylen auf, zunächst im Rahmen der Versorgung,
speziell die großen Anstalten der barmherzigen Brüder und Schwestern
in Paris, Asile des jeunes gar 9 ons infirmes et pauvres,
Paris, rue Lecourbe 223, dirigöe par les frferes de St. Jean de
Dieu seit 1858; das Asile Mathilde, oeuvre de notre dame
des septdouleursäNeuillysur Seine, avenueduroule 42,
seit dem Jahre 1855 und die Asyle von John Boste in Laforce
(Dordogne), begründet im Jahre 1845. Hierzu kommt seit 1905
eine sozialistische Gründung, die Bezirkswerkstätten für verkrüppelte,
verstümmelte oder schwächliche Arbeiter (Ateliers döpartemen-
taux pour les ouvriers estropiös, mutilös ou infirmes
in Montreuil sous bois, Rue Ars^ne-Chöreau 64, dann in
Paris selbst Rue Planchat 13 und Rue Gompars 91). Ver¬
sorgung, aber auch nur Versorgung finden endlich auch Krtippel-
hafte in den riesigen staatlichen Siechenhäusern der Salpetriöre
und des Bicötre.
Die Anstalt der barmherzigen Brüder in der Rue Le¬
courbe nimmt krüppelhafte Knaben von 5—12 Jahren auf und
gibt diesen den Unterricht der Volksschule und gewerbliche Aus¬
bildung. Der gesamte Unterricht wird von Krüppeln geleitet und
gegeben, welche als Lehrer staatlich geprüft sind. Eine ärztliche
Behandlung wird den Insassen nicht zu teil, im Notfälle werden die
Kinder zu chirurgischer Behandlung in ein dem Orden gehöriges
Krankenhaus überwiesen, jedoch nur im Notfälle. Die Anstalt hat
Raum für 300 Zöglinge. Ebensoviel Platz bietet das Asyl Mathilde
der grauen Schwestern für krüppelhafte Mädchen zu Neuilly,
Die Insassinnen dieses Institutes werden nur verpflegt, nicht unter¬
richtet oder behandelt, höchstens etwas zu weiblichen Handarbeiten
oder zur Anfertigung künstlicher Blumen verwandt. In den Be¬
zirkswerkstätten werden körperlich Anormale, meist ungelernte
Digitized by
Google
348
Leonhard Rosenfeld.
Arbeiter, in verschiedenen Zweigen wie Kokosmattenflechten, Buch¬
binderei, Lampenschirmfabrikation u. dergl. beschäftigt; jeder Ar¬
beiter erhält täglich 1 Frc. 25 Cent. Lohn und kann im übrigen tun,
was er will. Das Ganze ist nur eine verkappte Wohltätigkeits¬
anstalt.
In England entstanden, durchweg als humanitär-päda¬
gogische Gründungen privater Wohltätigkeit in den Jahren 1851,
1862, 1865, 1870, 1874 und 1904 eine Reihe von Anstalten für
Krüppel, welche rein erzieherischen Zwecken dienen, 5 davon sind
in London, 2 in Irland (Bray bei Dublin und Belfast). Es sind
dies das Cripples Home and industrial school for girls,
London, Marylebone Road; das Cripples Nursery, 29 Park
Koad, NW., das National Industrial Home for crippled
boys, Woolstorpe House, W., eine Abteilung des National
Association for the reclamation of destitute waif chil-
dren Dr. Barnardos, das Dartmouth Home for crippled
boys sämtlich in London und die „Cripples Homes“ in Bray
und Belfast.
Außer diesen Internaten besitzt England noch 16 sogenannte
Tagesschulen für Krüppel. Die Zöglinge dieser Schulen werden
täglich in einem Omnibus in der Stadt abgeholt und Abends wieder
zurückgebracht. Mittags erhalten sie in der Schule ein einfaches
Essen. Solche Schulen sind in London (10), Liverpool (2),
Birmingham, Bristol, Leeds und Westhara.
Eiuen gewaltigen Aufschwung in der Krüppelfürsorge bringen
die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den Nordländern
Europas, speziell in Dänemark. Ursache des Fortschrittes
war die Erkenntnis, daß eine entsprechende und vollwertige
Fürsorge nur durch Vereinigung der pädagogischen und ärzt¬
lichen Arbeit geleistet werden könne; wie die Tatsache, daß es in
den Nordländern gelang, die breiten Massen der Bevölkerung
für die Krüppelfürsorge zu gewinnen. Der Vater dieser Be¬
wegungwar der dänische Pfarrer Hans Knudsen in Kopenhagen,
das ausführende Organ ein von ihm gegründeter Krüppelpflegeverein
»Samfundet, som antager sig Vanföre und lemlaestede*.
Dieser Verein eröffnete zunächst im Jahre 1872 eine Poli¬
klinik, welche den Krüppeln jegliche ärztliche und orthopädische
Hilfe unentgeltlich gewährte; 1875 schloß er der Poliklinik eine
Schule für Gelähmte und Verkrüppelte an. 1880 dehnte die An-
Digitized by L^ooQle
Rationelle Hilfe in der Erüppelfürsorge.
349
stalt auf Veranlassung der Regierung ihre Tätigkeit auf alle Alters¬
klassen aus. Es wurden sogenannte Arbeitsstuben errichtet, in
welchen die ausgelemten Schüler Arbeit und Arbeitsmaterial er¬
hielten, während Verkauf und Absatz von der Anstaltsleitung be¬
sorgt wird, der ganze Reinverdienst gehört den arbeitenden Krüppeln.
Schließlich wurde noch ein Internat geschaffen, welches auswär¬
tigen Krüppeln zu ständigem oder vorübergehendem Aufenthalt ein
billiges Heim bietet. Zu diesen Einrichtungen gesellt sich noch ein
Versorgungsheim »Hjemmet for Vanföre“, welches 150
Pfleglinge aufnehnien kann.
Zur Behandlung in der Poliklinik ist jeder bedürftige Krüppel
unentgeltlich zugelassen. Die nötigen Reisen werden von der Re¬
gierung durch Eisenbahn- und Schiffsfreikarten ermöglicht. Nach
erledigter ärztlicher Behandlung, eventuell in der acht stationäre
Betten enthaltenden Klinik, erfolgt die Ausbildung in den Schul-
und technischen Fächern. Der Schulunterricht umfaßt das Pensum
der Volksschule inkl. Sloyd, die Handfertigkeitsausbildung eine große
Reihe der verschiedensten Handwerke. In den Jahren 1872—1905
sind 10479 Krüppel in den Anstalten versorgt worden.
Diesem leuchtenden Vorbilde fehlte es natürlich nicht an
Nachahmern. So entstanden alsbald in Schweden vier Anstalten,
in Norwegen eine, in Finnland drei Anstalten, welche, wenn
auch weniger umfangreich, doch recht ersprießliches leisten.
Diese nordischen Anstalten gaben auch die Veranlassung,
nach fünfzigjähriger Pause in Deutschland, speziell in Nord¬
deutschland das Interesse für Krüppel wieder aufleben zu
lassen.
Zunächst waren es geistliche Körperschaften, die evan¬
gelischen Provinzialvereine für innere Mission, welche in
rascher Folge eine ganze Anzahl von größeren und kleineren
Krüppelerziehungsanstalten ins Leben riefen.
So wurde. 188G das »Krüppelheim“ des Oberlinhauses
inNoWawes bei Potsdam eröffnet, 1889 das der Pfeifferschen
Anstalten in Cracau bei Magdeburg, 1892 das Annastift
in Hannover, 1896 das K i n d e r k r ü p p e 1 h a u s Bethesda
in Niederlößnitz (Königreich Sachsen), und das Karolaheira
in Dresden, 1897 das Krüppelheim in Angerburg in Ost¬
preußen und die „Westdeutsche Heil-, Bildungs- und Werk¬
stätte in Kreuznach, 1898 Alten-Eichen bei Altona, 1899
Digitized by
Google
350
Leonhard Rosenfeld.
Anstalten in Rothenburg (Oberlausitz), Altcolciglow (Pommern)
und Bischofswerder (Westpreußen), 1900 das Elisabethheim
in Rostock und Bethesda in Marklissa (Schlesien), 1901 Heime
in Blankenburg (Thüringen), 1902 in Zell im Wiesental (Baden)
und in Stettin, 1903 in Treysa (Hessen-Nassau), 1904 in Vol¬
marstein, 1905 in Arnstadt in Thüringen.
Auch die katholische Kirche hat eine Reihe von Anstalten
ins Leben gerufen, die zum Teil umfangreich und allen modernen
Anforderungen der Krüppelfürsorge entsprechend ausgebaut werden
sollen. Hierher gehört vor allem die orthopädische Heilanstalt
„Hüfferstiftung“ in Münster in Westfalen, die 1893 erfolgte
Stiftung eines hochherzigen Privatmannes, ferner die 1904 resp. 1906
in Bigge in Westfalen und 1905 in Aachen-Burtscheid er-
öflfneten Heime. Im Nebenbetrieb widmen sich der Versorgung
von Krüppeln die katholischen Anstalten in Herthen bei Lörrach
(Baden), in ürsberg und Herxheim bei Landau (Bayern).
Alle diese unter geistlicher Leitung stehenden Anstalten
legten bis in die allerjüngste Zeit ihr Hauptaugenmerk auf die
erziehlichen Probleme der Krüppelfürsorge. Sie gewährten
ihren Zöglingen zunächst Unterricht, meist im Umfange des Lehr¬
planes der Volksschule und dann eine gewerbliche Ausbildung,
welche die Krüppel so weit förderte,- daß sie zum größeren Teile
sich selbständig ernähren konnten. Es haben alle diese „Krüppel¬
heime“ in dieser Hinsicht ganz Bedeutendes geleistet und sie
dürfen das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, zuerst
und in umfangreicherem Maße einem großen Bedürfnisse
Rechnung getragen zu haben.
Neue Bahnen weist nun für die Krüppelfürsorge der mäch¬
tige Aufschwung, welchen die orthopädische Chirurgie
in den letzten zwei Jahrzehnten genommen hat.
Die Entwicklung ihrer Wissenschaft, welche es sie ge¬
lehrt hat, die Krüppel zum größten Teil zu heilen, zum mindesten
die Unheilbaren zu bessern, mußte die Kreise der Ortho¬
päden der Krüppelfürsorge zuführen.
Als ich es unternahm, angeregt durch eine Arbeit des Christianiaer
Orthopäden Natvig, welcher über die nordischen Einrichtungen
berichtete, in den Jahren 1898 und 1899 die Kreise der Fach¬
genossen auf die Notwendigkeit einer ärztlichen Fürsorgebewegung
für die Verkrüppelten hinzuweisen, da fielen meine schüchternen
Digitized by L^ooQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
351
Anregungen auf einen wohl vorbereiteten, fruchtbaren Boden: Hoffa,
Lange, Vulpius, Krukenberg, Gramer, Biesalski
und Schanz nahmen das Problem in einer Reihe Ihnen wohl-
bekannter Arbeiten auf, ich selbst habe mich bestrebt, die Kennt¬
nis der historischen Entwicklung der Krüppelfürsorge möglichst
bekannt zu machen. Hoffa und Biesalski riefen dann im Verein
mit Dietrich die Gruppe „Krüppelfürsorge“ des deutschen Zentral¬
vereins für Jugendfürsorge ins Leben, die zunächst daran ging,
durch eine allgemeine deutsche Statistik der Krüppel feste
Grundlagen für die Werke der Zukunft zu schaffen und deren
Resultate wir heute vorgelegt bekommen haben.
Aber auch praktische Früchte hat diese neue Bewegung
gebracht. Im Jahre 1904 rief Sanitätsrat Dr. Köhler in Zwickau
mit Hilfe eines Vereines zur Fürsorge bildungsfähiger Krüppel eine
unter ärztlicher Leitung stehende Anstalt ins Leben, welche sich
der Behandlung und Erziehung von Krüppelkindern widmet
und 100 Krüppeln Aufnahme gewähren kann.
Im März 1906 hat der Verein für Jugendfürsorge in
Berlin unter Leitung Biesalskis eine Anstalt eröffnet, welche
ebenfalls für vorläufig 100 Krüppel Platz hat.
Diese jüngste aller Anstalten, welche als das direkte
Produkt unserer Bestrebungen zu betrachten ist, verdient aus
diesem Grunde eine etwas eingehendere Erwähnung, umso
mehr, als sie in ihrer Organisation neue, der Nachahmung
würdige Grundzüge zeigt.
Sie umfaßt eine orthopädisch-chirurgische und eine päda¬
gogische Abteilung. Die orthopädische Abteilung und das Röntgen¬
zimmer ist mit allen modernen Einrichtungen ausgestattet, ebenso
der mediko-mechanische Saal. An der Spitze der Anstalt steht
der dirigierende Arzt. Der Pädagoge, ein im Unterricht Schwach¬
befähigter ausgebildeter Volksschullehrer, ist innerhalb seiner Tätig¬
keit unabhängig, untersteht aber organisatorisch dem Leiter der An¬
stalt. Auch die Schwesternschaft ist in einer von der herkömm¬
lichen abweichenden Art organisiert. Neben bester Ausbildung in
der Pflege wird mindestens die Absolvierung einer höheren Töchter¬
schule verlangt, womöglich Lehrerinnenexamen. Die Oberschwester
ist geprüfte Lehrerin und in sämtlichen Zweigen der Medizin gut
ausgebildet, sie hat das Turnlehrerinnen- und Handarbeitsexamen
gemacht, einige Jahre im In- und Auslände an Schulen unterrichtet
Digitized by C^ooQle
352
Leonhard Rosenfeld.
und viele Jahre an Kliniken verschiedenster Art gewirkt Sie hat
keine Station, sondern ist für die Leitung des Betriebes in sämtlichen
Abteilungen dem dirigierenden Arzte verantwortlich. Von den übrigen
Schwestern ist eine geprüfte Lehrerin, sie gibt den Schulunterricht
für die Kinder vom 9.—14. Jahre; zwei sind Kindergärtnerinnen
I, Klasse mit Fröbelexamen; diese unterrichten die Kinder vom
6.—9. Jahre und beschäftigen die noch nicht schulpflichtigen Kinder.
Eine Schwester hat das Turnlehrerexamen gemacht; sie steht beim
orthopädischen und allgemeinen Turnen dem Arzt zur Seite; eine
andere das Examen für Hauswirtschaft und Handarbeit, ihr unter'*
steht die Oekonomie, die Küche und der Unterricht im Schneidern
und weiblichen Handarbeiten; eine Schwester ist in Röntgentechnik
und Photographie ausgebildet; ihr untersteht das Röntgenzimmer.
An geprüften Krankenpflegerinnen sind nur 2 vorhanden.
Es ist somit gewährleistet, daß die Erziehenden die Kinder
nicht nur in der Schule, sondern auch in den Freistunden und im
Krankenbette beobachten; es werden auf diese Weise direkt Spezia*
listinnen der Krüppelpflege herangebildet.
Die neue Aera der Krüppelfürsorge macht sich auch im
Auslande geltend.
In der Schweiz, welche von 1894—1905 eine kleine Er¬
ziehungsanstalt für 12 weibliche Krüppel besaß, ist eine moderne
Krüppelanstalt unter Schultheß' Leitung in Zürich im Entstehen
begriffen.
In Oesterreich rief schon 1897 ein eigens gegründeter Ver¬
ein das „Kaiserin Elisabethasyl für krüppelhafte Kinder*
in Lanzendorf bei Wien ins Leben, welches der Leitung Professor
Lorenz* untersteht; 1908 hat sich ein zweiter Verein, „Leopol-
dinum* mit gleichen Zwecken in Wien gegründet; in Steiermark
ein dritter auf Veranlassung Witteks in Graz, Beide sind rührig
daran, Anstalten ins Leben zu rufen.
Ungarn besitzt seit 1903 ein Heim für verkrüppelte Kinder
in Budapest, welches Behandlung und Erziehung leistet, es kann
zunächst 20 Kinder aufnelimen; Holland in Arnheim ein gleichen
Zwecken dienendes „Krüppelheim“, ebenfalls für 20 Kinder, das
von einem Geistlichen gegründet, unter der ärztlichen Leitung
Dr. Kennsens steht.
Italien verfügt ül)er eine ganze Reihe vorzüglicher öffent¬
licher orthopädischer Institute, in Turin, Mailand, Verona,
Digitized by CjOOQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
353
Genua, Mantua, Bologna, Padua, Florenz, Rom, Neapel
und Palermo. Es sind fast durchwegs rein ärztliche Heilanstalten,
nur das bedeutendste, das unter Codivillas Leitung stehende
Istituto ortopedico Bizzoli in Bologna leistet neben her¬
vorragenden ärztlichen Leistungen auch auf dem Gebiete der Er¬
ziehung Bedeutendes.
Sehr gut entwickelt finden wir die Krüppelfürsorge
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dort bestehen,
soweit meine Erfahrungen gehen, 8 größere Anstalten. 5 davon
sind private Unternehmungen: das Home of the merciful
saviour for crippled children (gegründet 1882), das Widener
memorial industrial training school for crippled children
(gegründet 1903), das House of St. Michael and all angels
for young coloured crippled (1887), alle drei in Philadelphia,
ferner das Home for crippled children (1892) in Chicago
und das Industrial school for crippled and deformed
children (1894) in Boston.
Drei sind staatliche Anstalten, welche auf Grund
gesetzlicher Bestimmungen die Verpflichtung haben,
jedes Krüppelkind zur Verpflegung, Behandlung und
Erziehung aufzunehmen. Diese drei Institute sind das
Minnesota State Hospital for crippled and deformed
children (gegründet 1897) in St. Pauls, das New York State
Hospital for the care of crippled and deformed children
(gegründet 1900) in West-Haverstraw, Rockland County bei
New York, und das „Children orthopedic Ward“ des Uni-
versity Hospitals in Philadelphia,
Es ist ein vielgestaltiges Bild, welches uns aus der
Betrachtung der verschiedenen Anstalten entgegentritt.
Hier rein humanitäre Gedanken, dort pädagogische,
wieder bei anderen ärztliche Bestrebungen, in den verschie¬
densten Formen getrennt oder vereinigt.
In Deutschland besitzen wir zur Zeit 32 Anstalten, welche
jede auf ihre Weise den Zielen der Krüppelfürsorge gerecht zu
werden sich bestrebt.
Eine einzige, die Münchener kgl. bayrische Zentralanstalt
für Erziehung krüppelhafter Kinder ist staatlich, alle anderen
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 23
Digitized by
Google
354
Leonhard Rosenfeld.
sind Eigentum von Wohltätigkeitsvereinen oder geistlichen
Körperschaften.
Es ü b e r w i e g e n bei den meisten die pädagogisch-humanitären
Bestrebungen, nur fünf dienen in erster Linie der ärztlichen
Behandlung, zwei, Mü nch en und B erlin , dienen beiden Zielen in
gleicher Weise.
Immerhin haben gerade in den letzten Jahren auch die
pädagogischen Anstalten erkannt, daß ihr Wirken unvoll¬
ständig bleibt, wenn sie nicht neben der Erziehung und Ver¬
sorgung der ärztlichen Behandlung breitesten Spielraum
gewähren. Es soll gerade an dieser Stelle voll und ganz
anerkannt werden, daß die Mehrzahl der Erziehungsinstitute
sich nach Kräften bestreben, den ärztlichen und orthopädisch-
< 5 hirurgischen Forderungen gerecht zu werden.
Ziffernmäßig gestalten sich augenblicklich die Verhältnisse
folgendermaßen: Von den 26 pädagogisch-humanitären An¬
stalten geben 12 eine nahezu oder vollständig entsprechende
ärztliche Hilfe, das sind immerhin 44®/o; und zwarNowawes, Cracau,
Hannover, Carolastiftung Dresden, Kreuznach, Stellingen, Rostock,
Treysa, Volmarstein, Stettin, Arnstadt. Anderseits geben von den
überwiegend ärztlichen Anstalten vier neben der Behandlung
eine allen Anforderungen entsprechende Erziehung und gewerb¬
liche Ausbildung: München, Zwickau, Berlin und Ludwigsburg.
Nennen wir die Anstalten, welche ärztliche Behandlung, Er¬
ziehung und gewerbliche Ausbildung bieten, also allen Ansprüchen
gerecht werden, Vollanstalten, so haben wir deren insgesamt
15 zu verzeichnen, das sind ca. 45®/o aller deutschen Krüppel¬
institute.
Neben Erziehung, Behandlung und gewerblicher Ausbildung
geben sieben von den Vollanstalten (München, Nowawes, Cracau,
Hannover, Kreuznach, Treysa, Volmarstein) und vier von den übrigen
ihren Zöglingen auch nach erfolgter Ausbildung eine Ver¬
sorgung.
Eine Verbreiterung der ärztlichen Tätigkeit durch An¬
gliederung eines Ambulatoriums haben vier Anstalten in
die Wege geleitet: München, Ludwigsburg, Paulinenhilfe in
Stuttgart und Hüfferstiftung in Münster in Westfalen.
Ebenso verschieden wie die Leistungen sind die Aufnahme¬
bedingungen der einzelnen Anstalten. Die Mehrzahl nimmt
Digitized by CjOOQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
355
Kinder beiderlei Geschlechts und in jedem Alter auf, eine Ausnahme
machen München, welches zur Erziehung erst vom 11. Jahre an
aufnimmt, Hannover, Dresden und Rostock, welche Pfleglinge erst
vom 6. Lebensjahre an annehmen, Obersontheira, Reichenberg
und Bigge, welche solche erst vom 14. Jahre an zulassen. Nur
Knaben nehmen an: Altcolciglow, Reichenberg und Bigge, nur Mäd¬
chen: Stettin und Obersontheim.
Die Entlassung erfolgt in allen Anstalten nach erreichter
Heilung oder Vollendung der Erziehung, eine Ausnahme bilden
München und Aachen, welche die Zöglinge mit dem 14. Lebens¬
jahre entlassen.
In allen Anstalten, welche Versorgungsabteilungen enthalten,
können ungeheilte und nicht erziehbare Krüppel dauernd ver¬
bleiben.
Im Aus lande liegen die Verhältnisse ähnlich. Allen An¬
forderungen entsprechen im allgemeinen nur die Einrichtungen in
Dänemark und in drei nordamerikanischen Staaten, Minne¬
sota, Pennsylvania und NewYork.
Dänemark besitzt in seiner Privatanstalt, welche allerdings
vom Staate in ausgiebiger Weise finanziell unterstützt wird, Ein¬
richtungen, welche den Bedürfnissen des kleinen Landes in jeder
Beziehung entsprechen und gerecht werden.
Am besten ist die Frage der Krüppelfürsorge in den ge¬
nannten drei amerikanischen Staaten, Minnesota, Penn¬
sylvania und New York gelöst, indem in diesen eine gesetz¬
liche Regelung mit Verpflichtung des Staates für eine in jeder Hin¬
sicht entsprechende Krüppelfürsorge gegeben ist.
Die betreffende »Bill“ des Staates Minnesota vom Jahre 1897
lautet:
»Die Leitung der Universität des Staates wird be¬
auftragt, Fürsorge und ärztliche Behandlung in einem
oder mehreren Krankenhäuser n für jedes bedürftige
krüppelhafte oder an einer Krankheit, welche zur Ver¬
krüppelung führen kann, leidende Kind, welches min¬
destens 1 Jahr lang im Staate wohnhaft ist, zu be¬
schaffen. Die Krankenhäuser dürfen nicht weiter als
10 Meilen von der Staatsuniversität entfernt sein. Die
kr tippelhaften Kinder haben ärztliche und orthopädisch-
chirurgische Behandlung durch die Mitglieder des Medi-
Digitized by
Google
356
Leonhard Rosenfeld.
zinalkollegiums zu erhalten und diese Hilfe ist von seiten
der Aerzte unentgeltlich zu leisten.“ Es folgen dann noch
eingehende, von seiten der Regierung geregelte Bestimmungen über
Aufnahme, Entlassung, Versorgung, Pflege, Behandlung und Er¬
ziehung unter Bewilligung der finanziellen Mittel.
Die Aufwendungen des Staates für diese Zwecke betrugen 1905
28000 Dollars jährlich; Minnesota besitzt 1^/2 Millionen Einwohner,
dürfte also ca. 1500 Krüppelkinder zählen.
Die gesetzlichen Bestimmungen in New York und Pennsyl¬
vania sind fast wörtlich die gleichen.
Von den restierenden fünf amerikanischen Privatanstalten sind
vier Vollanstalten, eine (Boston) ein reines Erziehungsinstitut.
Die Anstalten Schwedens, Norwegens, Finnlands sind
mit einer Ausnahme (Gothenburg) reine Krüppelschulen, ebenso
alle englischen Institute.
Oesterreich, Ungarn, Holland besitzen je eine kleine
Vollanstalt, Italien mit Ausnahme von Bologna nur öffentliche
orthopädische Heilanstalten, Frankreich lediglich Versorgungsanstalten
mit erzieherischen Anfängen,
Nirgends aber entsprechen die bestehenden Einrich¬
tungen dem vorhandenen Bedürfnis.
Für deutsche Verhältnisse hat die Statistik Biesalskis
diesen Beweis erbracht.
Die preußischen Anstalten verfügen überl878 be¬
setzte Plätze, ihnen stehen 6622 Fälle gegenüber,
welche um Aufnahme nachsuchen. Die bestehenden
Anstalten decken also nur 28^/o des anscheinenden Be¬
dürfnisses.
Die 32 deutschen Anstalten besitzen 2900 Plätze,
Aufnahme wünschen 9608 Krüppelkinder, für 70 ®/o der¬
selben fehlen Einrichtungen.
Die Bitte um Aufnahme in eine Anstalt entspricht
aber durchaus nicht dem, was wir als Bedürfnis be¬
zeichnen müssen. Das beweisen die Zahlen der bayrischen
Statistik. Von den 9763 schulpflichtigen Krüppelkindem Bayerns
haben 1563 = 16®o um Aufnahme in die Anstalt nachgesucht. Die
Durchsicht der Fragebögen durch den Leiter der Münchener Staats¬
anstalt, Inspektor Erhard, der in langjähriger Tätigkeit das Gebiet
in umfassender Weise beherrscht, ergab nun, daß nach objektiven
Digitized by CjOOQle
Rationelle Hilfe in der Krüppel Fürsorge.
357
Erwägungen von den 9763 Kindern 3422 = 35®/o ärztlicher Behand¬
lung und 580 = 16®/o einer besonderen Erziehung bedürfen, daß also
insgesamt 5002 = 51®/o einer entsprechenden Krüppelfürsorge zu¬
geführt werden müßten! Die gleichen Prozentsätze ergibt für das
übrige Deutschland die Statistik Biesalskis, so daß also für
etwa 50000 Krüppelkinder in Deutschland Fürsorge¬
einrichtungen geschaffen werden müssen.
Ein fühlbarer Mangel für die Möglichkeit der Durchführung
einer exakten Krüppelfürsorge ist bei uns in Deutschland das gänz¬
liche Fehlen gesetzlicher Bestimmungen.
Es ist keine Frage, daß dem Krüppel ebenso wie anderen
Anormalen (Blinden, Taubstummen) ein Recht auf Ver¬
sorgung und Ausbildung zusteht. Dieses gesetzliche Recht
muß für den Krüppel errungen werden. Landesversicherungs¬
rat Hansen in Kiel hat für Preußen vorgeschlagen, nachfolgende
Ergänzung zum Absatz 1 des § 31 des preußischen Gesetzes vom
11. Juli 1891 eintreten zu lassen:
„Eine gleiche Verpflichtung (wie bei Blinden und
Taubstummen) besteht gegenüber körperlich verkrüp¬
pelten Personen.“
Damit wäre allerdings die ganze Frage gelöst,
eine Schwierigkeit bestünde nur in der Definition des
IVortes: „Krüppel“. Ich glaube, die von Biesalski gegebene
Definition, welche speziell dem sozialen Begriffe Rechnung trägt,
wird auch juristischen Zwecken genügen.
Die dritte Konferenz deutscher Krüppelanstalten vom Jahre
1907 hat eine diesbezügliche Eingabe um Verleihung des Rechtes
auf Hilfe auch für den Krüppel an alle deutschen Staatsregierungen
gesandt, es wird an uns sein, diese Bestrebungen nach Kräften zu
unterstützen und zu föderrn.
Es fragt sich nun, worin besteht das Recht des Krüp¬
pels auf Hilfe.
Die Forderungen ergeben sich an der Hand der gewonnenen
Erfahrungen. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
1. Ausgiebige ärztliche und orthopädische Behand¬
lung in eigenen Anstalten.
2. Erziehung in diesen Instituten bis zu den Zielen
der allgemeinen Volksschule.
3. Ausbildung in gewerblichen Tätigkeiten, welche
Digitized by
Google
358
Leonhard Rosenfeld.
der Art der Verkrüppelung entsprechen und dem Krüppel
für das künftige Leben ausreichenden Unterhalt gewähren.
4. Versorgung der unheilbaren Krüppel und derjenigen,
welche auch durch ausgiebige Fürsorge nicht zur Selb¬
ständigkeit herangebildet werden können.
5. Verhütung des Krüppeltumes.
Die Notwendigkeit ausgiebiger orthopädischer unent¬
geltlicher Behandlung ergibt sich einwandsfrei aus der Statistik
des deutschen Zentralvereins für Jugendfürsorge. Rund 35 000 Krüppel¬
kinder entbehren einer solchen!
Nun besitzen wir ja in Deutschland eine große Reihe vor¬
züglicher orthopädischer Privatheilanstalten, aber nur drei
öffentliche Institute: die chirurgisch-orthopädischen üni-
versitätspolikliniken in Berlin, München und Leipzig, und
diese nur als Polikliniken für ambulante Behandlung.
Alles was sonst vorhanden ist, sind Anhängsel chirurgi¬
scher Kliniken, städtischer Krankenhäuser, in welchen zum
größeren Teile vieles fehlt, was eine orthopädische Anstalt neben
dem rein chirurgischen Apparat unbedingt haben muß, so nament¬
lich Turnsäle, medico-mechanische Einrichtung und vor allem
mechanische Werkstätten zur Anfertigung orthopädischer
Apparate.
Aerztliche Kunst wird bei entsprechend umfangreichen Ein¬
richtungen einen großen Teil der Unglücklichen heilen, einen anderen
bessern; aber damit allein ist dem Krüppel noch lange nicht
geholfen.
Die orthopädischen Kuren erfordern viele Zeit, oft
Monate und Jahre. Während dieser ganzen Zeit ist der Krüppel
dem Unterricht entzogen. Eine weitere, nicht geringe Anzahl von
Krüppeln ist überhaupt nicht, auch nicht mit Ausstattung aller
Hilfsmittel, in der Lage, die öffentliche allgemeine Schule zu be¬
suchen, weil ein behindertes Fortbewegungsvermögen den
Schulweg nicht bewältigen kann. Ich denke hier speziell an die
Verhältnisse auf dem Lande, wo oft stundenlange Entfernungen
zurückzulegen sind. Wieder andere, namentlich Einarmige und an
den Händen Verkrüppelte bedürfen besonderer Einrichtungen
und eigener Lehrmethoden, welche die allgemeine Schule nicht leisten
kann. Manche schwächlichen und elenden Krüppel müssen
vom Unterricht der öflbntlichen Schule aus ärztlichen Gründen
Digitized by C^ooQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
359
auch dann zurückgehalten werden, wenn der Besuch an und für
sich auch praktisch möglich wäre.
Aus all diesen Gründen bedarf der Krüppel außer der ärzt¬
lichen Behandlung auch einer besonderen Erziehung, d, h. die
Gewährung eines Unterrichts in der Krüppelheilanstalt.
Der Unterricht kann zunächst dem der Volksschule entsprechen,
um dem Krüppel das zu leisten, was die öffentliche Schule dem ge*
Sunden Kinde bietet.
Hat das Krüppelkind so seine Erziehung durch Elementar¬
unterricht erhalten, ein Ziel, das die Mehrzahl bei ihren meist
guten, ja hervorragenden geistigen Fähigkeiten unschwer erreicht,
so ist es gegenüber einem in gleicher Weise ausgebildeten ge¬
sunden Kinde für die weitere Entwicklung seines Lebens¬
ganges vom sozialen Standpunkt aus noch immer minder¬
wertig. — Der Arbeitsmarkt greift in erster Linie immer nach
den kräftigsten und körperlich leistungsfähigsten Elementen
oder aber er bezahlt minderwertige Konkurrenten nicht voll¬
wertig. Es muß also der Krüppel, um im Leben mit dem Ge¬
sunden konkurrieren zu können, für den Entgang an körper¬
licher Leistungsfähigkeit Aequivalente mitbringen, welche
ihn im Kampfe um die Existenz nicht unterliegen lassen, mit
anderen Worten, er muß besser ausgebildet sein, als der
gleichaltrige gesunde Mensch.
Dieses wird erreicht, wenn dem Krüppel schon frühzeitig neben
dem Elementarunterricht eine technische Ausbildung gegeben
wird, welche seinen Eigenschaften Rechnung trägt.
Trotz aller Mühe und Sorgfalt wird ein Teil der Krüppel
nicht zu vollwertigen Arbeitern herangebildet werden können,
-ein kleiner Teil, die ganz schwer Verkrüppelten, werden
nur wenig oder gar nichts lernen, womit sie ihr Leben fristen
könnten. Für diese Unheilbaren brauchen wir eine Versorgung
für die ganze Dauer ihres Lebens. Zum Glück sind es nicht
allzu viele. —
Die große Anzahl der Krüppel läßt noch einen weiter¬
gehenden Wunsch rege werden, das ist die Verhütung des
Krüppeltums. Die Prophylaxe ist auf allen Gebieten einer
der wichtigsten Faktoren unserer Leistungen.
Gerade durch die allgemeine Errichtung von Krüppelanstalfcen
wird der Verhütung des Krüppeltums am besten Rechnung ge-
Digitized by
Google
860
Leonhard Rosenfeld.
tragen, durch Verbreiterung der Tätigkeit des Orthopäden in
der Anstalt, durch Angliederung von Ambulatorien an die
klinischen Einrichtungen, durch Errichtung orthopädischer
Beratungsstellen in oder neben den Krüppelheimen, durch Bei¬
ziehung von Einrichtungen, welche der Allgemeinbehandlung
Rechnung tragen, wie Erholungsstätten, Landkolonien, Höhen¬
luft-, Sol- und Seebäderabteilungen u. dergl.
Die Organisation der KrüppelfOrsorge ist zum größten
Teil in den Vorbildern bestehender Anstalten gegeben.
Die Krüppelanstalt muß aus einer orthopädischen Klinik
und einem Erziehungsinstitut bestehen. Beide sollen einander
koordiniert sein und Hand in Hand miteinander arbeiten. An der
Spitze der Klinik steht der Arzt, die Führung der Erziehungsanstalt
untersteht dem Pädagogen. Die Leitung des Ganzen soll in der Hand
eines Direktors liegen, der am besten mit dem ärztlichen Vorstande
der Klinik identisch ist.
Diese Forderung entspricht nicht allenthalben den bestehen¬
den Verhältnissen. Das Direktorium der Krüppelanstalt kann ebenso¬
gut in den Händen eines Verwaltungsbeamten, einer juristischen
Persönlichkeit liegen. Auf alle Fälle muß das entscheidende Wort
in der Anstalt dem Arzte zukommen.
Von unseren 32 deutschen Anstalten bildet München als
Staatsanstalt einen Typ für sich, hier ist die Oberleitung selbst¬
verständlich; sie liegt bei der Regierung, die Münchener Anstalt
untersteht direkt dem bayrischen Ministerium für Kirchen- und
Schulangelegenheiten.
Von den übrigen 31 Anstalten sind 27 von Nichtärzteu
gegründet, zumeist von geistlichen Körperschaften, hier liegt nach
der historischen Entwicklung die Oberleitung in den Händen
der Gründer. Daß in praxi bislang in all diesen Anstalten ein
so gutes Verhältnis zwischen Arzt und Leitung herrschte,
beweist nur die Weitsichtigkeit beider Teile.
Theoretisch aber müssen wir verlangen, daß der Arzt auf
den Gang der Anstalt entscheidenden Einfluß hat. Der Krüppel
ist ein Kranker, in dessen Eigentümlichkeit die Not¬
wendigkeit einer Erziehung liegt, während für den Erfolg
der Fürsorgebestrebung die ärztliche Tätigkeit aus¬
schlaggebend sein wird. Den Beweis hat Bade erbracht,
der bei der Untersuchung der Insassen bestehender Krüppelheime
Digitized by
Google
Rationelle Hilfe in der KrQppelfursorge.
361
fand, daß 76^/o das Interesse der Heilung bestehender Er¬
krankung, nur 16^0 das Bedürfnis nach Unterricht allein
in die Anstalt geführt hat.
Die Klinik der Krüppelanstalt muß mit allen Ein¬
richtungen eines modernen orthopädisch-chirurgischen
Institutes ausgerüstet sein, als da sind: Operations- und Verband¬
räume, Röntgeneinrichtung, Apparate für medico-mechanische Be¬
handlung, Gymnastik, Massage, elektrische und hydropathische Ein¬
wirkungen, Turnhallen und Werkstätten zur Anfertigung der
orthopädischen Apparate.
Der Klinik muß ein Ambnlatoriam angegliedert werden.
Diese Forderung ist praktisch von großer Wichtigkeit.
Es gibt eine ganze Reihe orthopädisch-chirurgischer Ma߬
nahmen, welche mit kurzer und vorübergehender Bettbehand¬
lung durchgeführt werden können. Auf der anderen Seite gibt
es nicht wenige Formen der Verkrüppelung, welche auch ohne klini¬
schen Aufenthalt ärztlich behandelt werden können.
Da die klinischen Einrichtungen zur Behandlung in jeder
Anstalt an und für sich vorhanden sein müssen, macht die
Finanzierung des ambulanten, poliklinischen Betriebes neben der
Klinik keine erheblichen Kosten. Dagegen gestattet das
Ambulatorium die Ansdehnnng der Behandlung auch auf die¬
jenigen Krüppel, welche eine Aufnahme in das Internat nicht un¬
bedingt erfordern oder deren Aufnahme aus äußeren Gründen
nicht erfolgen kann.
Zweckmäßig erscheint auch der Gedanke, orthopädische Be¬
ratungsstellen nach dem Vorbild der für Tuberkulöse allent¬
halben geschaffenen Einrichtungen ins Leben zu rufen. Diesen
Beratungsstellen käme eine doppelte Aufgabe zu: 1. Eine früh¬
zeitige Diagnose zu stellen, die Unglücklichen frühzeitig
der Behandlung zuzuführen und damit der Prophylaxe des
Krüppeltums in weitestem Maße zu dienen und 2. unter den Be¬
werbern die geeignete Auswahl zu treffen und die dringend
der Hilfe Bedürftigen vor den weniger eiligen Fällen dem Krüppel¬
institut zuzuweisen.
Diese Beratungsstellen können unabhängig von den
Krüppelanstalten z. B. in großen, leicht erreichbaren Verkelirs-
zentren angelegt werden. Zweckmäßiger erscheint mir die
direkte Vereinigung derselben mit den Ambulatorien der Krüppel*
Digitized by
Google
362
Leonhard Rosenfeld.
anstalten. Die Zentralisierung hat den Vorzug des vereinfachten
geschäftlichen Verkehres. Wenn erst Verhandlungen über die
Möglichkeit der Einweisung geführt werden müssen, wenn nicht
eine Hand entscheidet, so gibt es praktisch meist Schwierig¬
keiten und Verschleppungen. Auch in der Krüppelfürsorge
gilt die alte Weisheit: Bis dat, qui cito dat.
Ein nicht geringer Prozentsatz des Krüppeltums, 25®o, also
ein Viertel aller Fälle, resultiert aus den Folgen der chirurgi¬
schen Tuberkulose und der Rhachitis (Tuberkulose 10 ‘^/o, Rhachitis
15».
Wir besitzen neben der rein chirurgisch-orthopädischen Be¬
handlung dieser Krankheiten eine Reihe äußerst wichtiger, all¬
gemeiner Heilfaktoren, welche in den Rahmen der Krüppel¬
fürsorge einbezogen werden müssen, wollen wir nicht von
vornherein auf wesentliche Momente der Behandlung ver¬
zichten.
Hierher gehört für die chirurgische Tuberkulose die Freiluft-,
Höhenklima- und Sonnenlichtbehandlung, der Aufent¬
halt auf und an der See.
Aus einer Reihe von statistischen Arbeiten über chirurgische
Tuberkulose von Newton, Sh affe r, Vulpius, Dollinger
und König berechnet sich der Prozentsatz der Heilung der chirurgi¬
schen Tuberkulose auf 63®/o. Die Erfolge Rolliers in Levsin,
der mit Freiluftbehandlung und Insolation arbeitet, die Erfahrungen
Schlichthorsts in Norderney ergeben 81 ®/o Heilungen. Es
lassen sich also unter Zuhilfenahme der allgemein hei¬
lenden Faktoren neben der bisherigen orthopädisch¬
chirurgischen Behandlung weitere 30®/o, also beinahe
ein Drittel der Knochen- und Gelenktuberkulosen der
Heilung zuführen. Zu der Erhöhung des Prozentsatzes
der Heilung kommt außerdem noch eine wesentliche Verkürzung
der Behandlungsdauer.
Der günstige Einfluß von Sol- und Seebädern bei Rhachitis,
die Erfolge der Land kolonien und Stahlbäder bei allgemeiner
konstitutioneller Anämie und bei Osteomyelitis, der Thermal¬
quellen bei chronischer Arthritis sind allgemein bekannt und
Gemeingut der Erfahrungen aller Aerzte.
Es empfiehlt sich deshalb überall da, wo klimatische
und oro-hydrologische Verhältnisse es nahe legen und er-
Digitized by C^ooQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
363
möglichen, den Krüppelanstalten Sonderabteilungen und
Filialen für Höhenluft- und Heliotherapie, für Sol- und
Seebäder, für Stahl- und Thermalquellenbehandlung, Land¬
kolonien und Walderholungsstätten anzugliedern.
Derartige Institutionen sind bei einzelnen Krüppelanstalten
schon seit Jahren in Betrieb, bei der Ludwigsburger Kinder¬
heilanstalt je eine Filiale im Solbad Jagstfeld und in der
Thermalquelle Wildbad, in Kreuznach eine Landkolonie, an
je einem englischen und amerikanischen Krüppelheim ein
Seasidehome, eine Seebadfiliale, in Kopenhagen ein Wald¬
erholungsheim. Sie alle haben ziffernmäßig festgelegten, ganz
bedeutenden Nutzen gebracht.
Noch mehr als für die therapeutischen Erfolge bedeuten der¬
artige Sondereinrichtungen für die Verhütung des Krüppeltums.
Die pädagogischen Forderungen ergeben sich, weit mehr
als die ärztlichen, aus den Einrichtungen der bestehenden An¬
stalten, welche ja in dieser Beziehung auf langjährige, über 70 Jahre
umfassende Erfahrungen zurückblicken.
Der Lehrplan des Elementarunterrichts ist gegeben in
dem Rahmen des Pensums der allgemeinen Volksschule.
Die Ziele dieses Unterrichts werden von den Krüppeln im
allgemeinen leicht erreicht. Eine Einteilung in kleine Klassen
empfiehlt sich, um dem Lehrer die Möglichkeit zu geben, zu indi¬
vidualisieren. Klassen von 20—30 Schülern sollen die Regel
bilden.
Der Lehrplan des gewerblichen Unterrichts da¬
gegen muß eine ganze Reihe verschiedener Fächer um¬
fassen, um den Bedürfnissen des einzelnen Krüppelschülers in
jeder Beziehung Rechnung tragen zu können. Es dürfen auch
nur solche Handwerke gelehrt werden, welche späterhin
dem Krüppel ein ausreichendes Einkommen gewährleisten.
Derartige Gewerbe sind für Knaben die Ausbildung zu
Schreibern, landwirtschaftliche Arbeiten, Schneiderei,
Schreinerei, Buchbinderei, Schuhmacherei und Schlosserei,
eventuell für die körperlich Mindestbefähigten Bürstenbinden,
Korb fl echten und Weben. Für Mädchen empfehlen sich:
Hausarbeit, alle weiblichen Handarbeiten, Nähen, Sticken,
Stricken, Kleidermachen, Putzmacherei und die Anferti¬
gung künstlicher Blumen.
Digitized by
Google
364
Leonhard Rosenfeld.
lieber die Wahl des Berufes entscheiden die körperlichen
und geistigen Fähigkeiten des Krüppels.
Besonders zu betonen ist die Wichtigkeit landwirtschaft¬
licher Beschäftigung für den Krüppel. Dieser ist an und für sich
körperlich meist für diesen Beruf geeignet; da er nun nicht selten
anämisch oder tuberkulös ist, so erhält er durch Wald- und Feldarbeit
einen Heilfaktor in dem ausgiebigen Genüsse frischer Luft, der für
ihn ganz besonders wichtig ist.
Die Tagesordnung der Krüppelschule muß so gewählt
w^erden, daß sie ebenfalls der Verkrüppelung Rechnung trägt.
Es muß zwischen geistiger und körperlicher Arbeit,
zwischen Elementar- und technischen Fächern ständig ge¬
wechselt werden. Großes Gewicht ist auf körperliche Uebungen,
speziell in Form des Turnens zu legen. Als Mindestmaß des
Turnunterrichts ist eine Stunde täglich anzusetzen, ein Mehr
wird nur förderlich sein. Zu dem Turnen haben sich Arbeiten im
Garten oder Feld, Spiele und Spaziergänge zu gesellen, welche
auch im Winter im Freien durchzuführen sind.
Eine wichtige Frage für die Krüppelschule ist die Auswahl
des Lehrermaterials. Es genügt nicht jeder Lehrer, zum min¬
desten muß er über außergewöhnliche Herzens- und Gemütsbildung
verfügen. Dringend anzustreben ist eine Vorbildung in der Heil¬
pädagogik, ein Durchgang durch Schulen für Schwachsinnige und
geistig Defekte.
Für den technischen Unterricht genügt ebenfalls nicht jeder
beliebige Handwerker, auch hierfür sind pädagogisch geschulte
und vorgebildete Kräfte notwendig. Ein gangbarer, zum Teil
mit Glück betretener Weg ist, die technischen Lehrer aus
dem Materiale der Krüppelzöglinge selbst heranzubilden.
Der selbst Krüppelhafte kann sich leichter in die Bedürfnisse des
Leidenskollegen hineindenken, als dies dem Gesunden möglich ist.
Die Krüppelerziehungsanstalt soll nicht nur ein Internat sein,
sondern auch von Außenstehenden, nicht in der Anstalt Befind¬
lichen, als externen Schülern besucht werden können.
Für uns in Deutschland ist dies ein Novnm, in den Nord¬
ländern, speziell in Schweden und Finnland, ist diese Einrich¬
tung schon seit Jahren mit bestem Erfolg durchgeführt. Diese
externen Schüler bilden eine Analogie zu dem für die ärzt¬
liche Abteilung notwendigen Ambulatorium, es soll damit,
Digitized by C^ooQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
365
wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, eine Poliklinik der
Krüppelschule geschaffen werden.
Wie durch die Ambulatorien der Heilanstalt die Zahl der
ärztliche Hilfe findenden Krüppel mühelos vergrößert wird,
so wird auch durch die Zulassung von Externen zur Krüppel¬
schule, z. B. von solchen, welche in ambulanter ärztlicher Behand¬
lung stehen, der Umfang der Wohltaten einer Sonder¬
erziehung in erheblichem Maße erweitert.
So wären unter anderem auch die zahlreichen Skoliosen,
welche ja nach neueren Anschauungen auch der allgemeinen Schule
entzogen werden sollen, leicht unterzubringen und damit den
Vorschlägen Schultheß’ und Wohrizeks, welche Sonderklassen
und Sonderschulen für Skoliotische mit Recht verlangen, auf
die denkbar einfachste Weise eine Verwirklichung er¬
möglicht.
Die Aufnahme in die Krüppelanstalt soll möglichst früh¬
zeitig erfolgen und in jedem Alter und zu jedem Zeit¬
punkte angängig sein. Mit dem Eintritt in das schulpflichtige
Alter beginnt der Elementarunterricht. Der technische Unterricht
soll ebenfalls frühzeitig einsetzen, kleinere Handfertigkeiten
sollen schon in den ersten Schuljahren gelehrt werden. Vom 4.
oder 5. Schuljahre ab ist der Hauptnachdruck auf die technische
Ausbildung zu legen.
Die Entlassung aus der Anstalt erfolgt nach vollendeter
Heilung und nach Abschluß der Erziehung. Sowohl ärztliche Be¬
handlung wie Krüppelschule werden in manchen Fällen den Krüppel
über das schulpflichtige Alter in seinem eigenen Interesse festhalten
müssen.
Die Auswahl der Aufzunehmenden erfolgt am besten
durch den leitenden Arzt der Anstalt, eventuell durch Vermittlung
von Beratungsstellen, Schul- und beamteten Aerzten (Kreis- und Be¬
zirksärzte).
Die ärztliche Behandlung soll nach Möglichkeit in das
vorschulpflichtige Alter verlegt werden. Während der Unter¬
richtszeit sich ergebende ärztliche Maßnahmen vorübergehen¬
der Natur werden im Interesse des Krüppels nach Tunlichkeit
in die Schulferien verlegt, insofern dies ohne Schädigung des ärzt¬
lichen Erfolges geschehen kann.
Digitized by
Google
366
Leonhard Rosenfeld.
Die Versorgung der Krüppel hat ebenfalls verschiedenen
Faktoren Rechnung zu tragen.
Im allgemeinen wird die Zahl der dauernd zu versorgenden
Krüppel keine allzu große sein.
Die Münchener Anstalt hat vor wenigen Jahren bei den in den
ersten 50 Jahren ihres Bestehens durch die Anstalt hindurch¬
gegangenen Zöglingen eine Umfrage bezüglich der Erwerbsfähigkeit
veranstaltet. Es ergab sich ein Prozentsatz von 9 ®/o der Zöglinge,
welche späterhin sich nicht selbst ernähren konnten.
Die Zahl ist speziell von den Leitern der geistlichen Anstalten
auf der letzten Konferenz der Krüppelanstalten bezweifelt und
angegriffen worden. Man kam zu der Einigung, daß etwa Vj
der in den Krüppelheimen untergebrachten Kinder ärztlich und
erzieherisch soweit geholfen werde, daß sie sich selbständig ernähren
können, ein weiteres Drittel werde mehr weniger gebessert und in
sehr verschiedenem Grade arbeitsfähig gemacht, das letzte Drittel
sei unheilbar und sozial unverwertbar.
Ich halte diese Zahlen nicht für unrichtig, aber sie beziehen
sich auf ein Material^ welches für unsere Zwecke nicht maßgebend
sein kann. Man muß eben berücksichtigen, daß bisher in den
Krüppelheiraen im allgemeinen nur die allerschlimmsten Fälle
untergebracht wurden und muß ferner bedenken, daß die jetzigen
Krüppelheime zum großen Teile lediglich Versorgungs¬
anstalten sind.
Einwandsfreie Erhebungen hierüber sind notwendig. Die
wahrscheinlich richtige Zahl dürfte in der Mitte liegen und
man wird mit einem Satz von etwa 15®/o Unheilbarer und Un-
erziehbarer rechnen müssen.
Dies ergibt relativ kleine Versorgungsabteilungen, etwa
15 auf 100 Anstaltsplätze. Auch von diesen „Dauerzöglingen*
wird noch ein Teil als sogenannte „halbe Kräfte* zu verwenden
sein. Sie bringt man am besten in Landkolonien unter, wo sie
in kleineren Arbeiten beschäftigt werden können. Eventuell können
zu diesem Zwecke auch größere Bezirke zusammengefaßt werden.
Außer der dauernden Versorgung der Unheilbaren kommt eine
temporäre Versorgung der zur Entlassung kommenden Insassen
in Frage, die Einführung der ausgebildeten und geheilten
Zöglinge in das praktische Leben. Dies geschieht am besten
auf dem Wege einer Arbeitsvermittlung, zunächst in Form eines
Digitized by C^ooQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
367
einfachen Arbeitsnachweises mit Hilfe staatlicher und kommu¬
naler Stellen. Recht zweckmäßig ist auch eine Einrichtung, welche
wir in Dänemark in den sogenannten „Arbeitsstuben“ der Kopen-
hagener Anstalt finden. Es sind dies von der Krüppelanstalt unter¬
haltene Werkstätten, in welchen die entlassenen Zöglinge für die
Anstalt, welche Verkauf und Absatz leitet, arbeiten. Der ganze
Verdienst kommt den Krüppelarbeitern nach Abzug der geringen
Unkosten zu gute. Es ist selbstverständlich, daß durch die ein¬
heitliche Leitung relativ erhebliche Ueberschüsse gewonnen werden.
Es ist ein umfangreiches Programm, dessen Erfüllung
für die Ziele einer ausgiebigen, zweckentsprechenden
Krüppelfürsorge erforderlich ist.
Von den bestehenden Anstalten genügen nur einzelne den zu
stellenden Forderungen, weitaus das meiste muß geschaffen werden.
Die Not Wendigkeit um fassender Fürsorgeeinrichtungen
bedarf keiner weiteren Begründung, sie erhellt aus den
Zahlen der Statistik und den Beobachtungen des täglichen
Lebens.
Einer eingehenderen Betrachtung bedarf aber die Frage, auf
welchem Wege und durch wen können die Einrichtungen
ins Leben gerufen werden, wer soll die nötigen Geldmittel
aufbringen?
Hier kommen eine Reihe von Faktoren in Betracht,
der Staat, Kommunen, Provinzialverbände, private Wohl¬
tätigkeit, eigens für den Zweck gegründete Vereine.
Für die Vertreter der Wissenschaft, für den Ortho¬
päden ist es eigentlich gleich, durch wen die Krüppelfür¬
sorge organisiert wird, die Hauptsache ist, daß die nötigen
Anstalten getroffen werden. Es kommen hier so viele Mo¬
mente rein örtlicher Natur in Betracht, daß wir diese
Frage offen lassen müssen, wenn nur alle Wege zu dem
richtigen Endziele hinführen.
ln Bayern hat seit 63 Jahren der Staat die Sache
geleitet, die Erfolge dieser staatlichen Organisation sind
äußerst günstige, so daß heute im allgemeinen die bayrische
Organisation als vorbildlich betrachtet werden darf.
Für staatliche Oberleitung hat sich neuerdings auch
Schanz in seiner Broschüre „Krüppelnot und Krüppelhilfe“
ausgesprochen.
Digitized by C^ooQle
368
Leonlinrd Rosenfeld.
Allein ohne private Unterstützung kann zur Zeit auch
der Staat nicht die notwendigen Mittel auf bringen, das haben wir
in Bayern trotz der enormen Summen, welche der Landtag für die
Zwecke der Krtippelfürsorge zu bewilligen bereit ist, gesehen.
Anderwärts, in der Mehrzahl unserer Bundesstaaten,
besteht anscheinend keine Neigung, die Krüppelbewegung
staatlich zu organisieren, man will sie vielmehr Vereinen und
Körperschaften überlassen und diese finanziell ausgiebig von
seiten der Provinzial- und Kommunalverbände unterstützen,
eventuell eine einheitliche Leitung gewährleisten.
Die Lösung dieser Frage muß den jeweiligen lokalen
Verhältnissen überlassen bleiben.
Wenn nun auch die Krüppelfürsorge nicht einheitlich organi¬
siert werden wird, so ist doch für eine Zentralisierung unbedingt
zu sorgen, d. h. es sind große Anstalten anzustreben.
Selbstverständlich dürfen die klinischen und päda¬
gogischen Abteilungen räumlich nicht getrennt werden.
Behandlung und Erziehung greifen immer wieder
eines in das andere hinein, eine Trennung würde eine
direkte Schädigung der Ziele beider verursachen, ge¬
rade die Vereinigung beider bildet die ganze Quintessenz
der Krüppelfürsorge.
Großen Anstalten ist der Vorzug zu geben: 1. Sind große
Anstalten billiger im ganzen Betrieb und 2. stehen die nötigen
ärztlichen und Lehrkräfte nur für große Betriebe zur
Verfügung.
Es gibt ja in Deutschland zahlreiche Orthopäden, aber nur
in größeren Städten, nicht in kleinen Städtchen oder gar auf dem
Lande. Das gleiche gilt für die für die Krüppelerziehung an und für
sich dünn gesäten, geeigneten heilpädagogisch geschulten
L ehrkräft e.
Aus diesem Grunde müssen die Krüppelanstalten
in die großen Städte gelegt werden, in die Zentren des
Verkehrs, Mittelstädte kommen nur dann in Betracht,
wenn sie Sitz von Universitäten sind und damit das ge¬
eignete medizinische und pädagogische Material be¬
sitzen.
In den Großstädten selbst müssen die Anstalten an die
Peripherie gelegt werden, wo Licht, Luft und Raum für Garten-
Digitized by C^ooQle
Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
369
und Feldanlagen gegeben sind, es werden sich immer Plätze finden
lassen, welche trotz ihrer peripheren Lage an die großstädtischen
Bahnnetze angeschlossen sind.
Erstrebenswert ist der Anschluß der Krüppel^
anstalten an die Universitäten.
Die Krüppelanstalten enthalten ein umfangreiches wissen¬
schaftliches Material. Sie müssen darum nicht nur sozialen
Zwecken, sondern auch der Förderung der Wissenschaft dienen,,
dem Studium orthopädischer Erkrankungen und vor allem
den Lehrzwecken und damit der Verbreitung orthopädischer
Kenntnisse unter den Studierenden der Medizin.
Die selbständige Bedeutung derOrthopädiealsWissen-
Schaft ist allgemein anerkannt; was uns aber fehlt, das
ist die Möglichkeit, die gesamte Aerzteschaft an unseren
Fortschritten teilnehmen zu lassen, die Möglichkeit, den
Studierenden und Aerzten die Kenntnis der großen Lei¬
stungen zu übermitteln; was uns fehlt, das sind Lehr¬
stühle für orthopädische Chirurgie.
In ganz Deutschland besitzen wir deren drei, Mün¬
chen, Berlin und Leipzig.
Was soll das bedeuten für ein Fach, das gleich der Gynäko¬
logie, der Dermatologie, der Otologie und der Aug.en-
heilkunde eine Tochter der großen Mutter Chirurgie, von nicht
geringerer Bedeutung ist als die genannten Spezialdisziplinen.
Mit demselben Rechte, mit welchem die Ophthal¬
mologen, die Ohren-, Frauen- und Hautärzte schon längst
die Möglichkeit des Lernens an den Universitäten haben,
müssen wir auch für die Orthopädie Lehrstühle verlangen
und bekommen.
In Bayern hat Regierung und Volk die Bedeutung der Ortho¬
pädie vom wissenschaftlichen und sozialen Standpunkte voll und
ganz anerkannt. Als am 22. März 1906 der bayrische Landtag ein¬
stimmig beschloß, die Krüppelfürsorge nach modernen Gesichts¬
punkten auszugestalten, war das erste, was man tat und verlangte,
die Errichtung einer selbständigen Professur für Orthopädie, das
zweite, die Genehmigung einer orthopädischen Klinik von 60 bis
80 Betten im Anschluß und in direkter räumlicher Verbindung mit
der Krüppelerziehungsanstalt, das dritte, die durch Beschlüsse fest¬
gelegte Absicht, nach Maßgabe der verfügbaren Mittel neben der
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 24
Digitized by CiOOQle
870 Leonhard Rosenfeld. Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge.
Universität München auch den beiden anderen Universitäten des
Landes gleiche Einrichtungen zu schaffen.
Da anderwärts diese Errungenschaften fehlen, so muß mit
allen Kräften dahin gestrebt werden, daß an allen deut¬
schen Universitäten ähnliche Einrichtungen geschaffen
werden.
Begründet sind diese Forderungen in der sozialen und
nationalökonomischen Bedeutung der Krüppelfürsorge.
Nach der Statistik Biesalskis haben wir in Deutsch¬
land etwa 110000 Krüppelkinder unter 15 Jahren. Jeder
Krüppel bedeutet eine Schädigung des Nationalvermögens
um ca. 1000 Mark jährlich (500 Mark, in der Münchener An¬
stalt sogar 760 Mark, verursacht das bedürftige Kind dem Staate
an Aufwand; ebensoviel kann ein arbeitsfähiger Krüppel im Durch¬
schnitt verdienen).
30”/o aller Krüppel fallen den Eltern, Verwandten, der
öffentlichen Armenpflege gänzlich zur Last, weitere 10®/o
finden ihr Leben kümmerlich mit Unterstützungen pri¬
vater Wohltätigkeit. Führen wir also von den in Frage
kommenden 44000 Krüppelkindern nur *|3 der Heilung und
der sozialen Selbständigkeit zu, so vermehren wir unser
Nationalvermögen jährlich um 30 Millionen Mark. Dies
ist eine Minimalzahl, die sich unter Einbeziehung der er¬
wachsenen Krüppel auf jährlich 100 Millionen erhöht.
So fordern wissenschaftliche, pädagogische, humani¬
täre, ethische und soziale Erwägungen auf, mit allen
Mitteln an die Errichtung einer ausgedehnten Krüppel¬
fürsorge heranzugehen.
Es müssen deshalb die Orthopäden gemeinsam mit
all den Faktoren arbeiten, die gleiche und verwandte
Ziele in der Krüppelfürsorge erstreben, es müssen auch
die Orthopäden in Wort und Tat, in den Kreisen der
Kollegen, der Lehrer, der Geistlichen, im öffentlichen
Leben, bei Regierungen, Kommunen und Privaten Propa¬
ganda treiben. Das Ziel ist des Schweißes der Edelsten
wert.
Digitized by C^ooQle
XXV.
Bandagistenkurpfusclierei und Krüppelfftrsorge‘).
Von
Privatdozent Dr. Arnold Wittek, Graz.
Meine Herren! Anläßlich der heutigen Krüppelkonferenz will
ich auf einen Uebelstand hinweisen, der überall zu bestehen scheint
und dessen Bestehen ich große Bedeutung für die Frage der
Krüppelfürsorge zuschreibe. Ich meine nämlich jene Art von Kur¬
pfuscherei, welche die Bandagisten betreiben, die, ohne einen Arzt
zu Rate zu ziehen, jenen ihrer Kunden, welche mit körperlichen Ge¬
brechen behaftet sind, aus eigener Machtvollkommenheit mechanische
oder orthopädische Stützapparate zu Heilzwecken anempfehlen, so¬
dann anfertigen und anlegen. Ich habe diesen Uebelstand, soweit
er geeignet ist, ärztliche Standesinteressen, ira besonderen die Inter¬
essen jener Aerzte, die sich speziell mit Orthopädie befassen, zu
schädigen, im Vorstande der Aerztekamnier von Steiermark eingehend
erörtert und entsprechende Maßnahmen dagegen empfohlen und zur
InangriflFnahme gebracht. Eine ausführliche Auseinandersetzung hier¬
über wurde im Dezember 1907 in der Wiener klinischen Wochen¬
schrift veröffentlicht.
Heute will ich von der Schädigung der Aerzte durch die kur¬
pfuschenden Bandagisten nicht sprechen, sondern nur von den Nach¬
teilen, die der Krüppelfürsorge durch die selbständig ordinierenden
Bandagisten erwachsen. Vielfach besteht noch heute der Gebrauch,
daß praktische Aerzte in ihrer Praxis so Vorgehen, daß sie bei Vor¬
kommen einer Deformität die damit behafteten Patienten zur Be¬
hebung oder Besserung ihres Leidens direkt an einen Bandagisten
weisen, ohne daß vorher das Urteil eines speziell fachlich gebildeten
Kollegen eingeholt wurde. Dies geschieht umsomehr, als an ver¬
schiedenen Orten Bandagisten ihren Beruf derart auszuüben ver-
0 Vorgetragen auf der Krüppelkonferenz am VII. Kongreß der Deutschen
Gesellschaft für orthopädische Chirurgie in Berlin am 25. April 1908.
Digitized by C^ooQle
372
Arnold Wittek.
standen, daß sie große spezielle Heilanstalten führen. Es wird dann
den mit der Deformität behafteten Patienten ein Stützapparat oder
eine Korrektionsvorrichtung angefertigt. Diese Bandagisten sind, wie
ich ohne weiteres zugebe, in einzelnen Fällen glänzende Techniker,
die ihr Gewerbe in einer weit über das Maß des Durchschnittes
reichenden Art beherrschen. Was also die Kunstfertigkeit der Aus¬
führung, tadelloses Angepaßtsein der Apparate an den Körper an¬
belangt, kann diesen einzelnen hervorragenden Beherrschern der
Technik kein Vorwurf gemacht werden. Das sind jene wenigen
Bandagisten, welche künstlerischen Formensinn besitzen und dazu
sich noch genügende Kenntnis der normalen Anatomie angeeignet
haben, um genau die von der Natur gegebenen Stützpunkte des
menschlichen Körpers für anzubringende äußere Apparate zu kennen
und als solche zu benützen. Damit ist aber alles gesagt, was
für das Wohl der Verkrüppelten von den besten der selbständig
ordinierenden Bandagisten gesagt werden kann. Ihre Behandlungs¬
methode bleibt immer dieselbe, da es ihnen mangels einer gründ¬
lichen medizinischen Ausbildung versagt ist, Einblick in die ver¬
schiedenen Ursachen der Erkrankung und die dadurch verschiedenen
Wesen der Krankheitsformen zu nehmen. Es ist ihnen ferner ver¬
sagt, Eingriffe, seien sie unblutiger oder blutiger Natur, vorzunehmen,
wie sie die heutige Orthopädie vornimmt, da die Vornahme solcher
Eingriffe wiederum die gründliche medizinische Ausbildung zur Vor¬
aussetzung hat.
Es könnte mir der Einwurf gemacht werden, daß die von mir
als Uebelstände bezeichneten Verhältnisse für die eigentliche Krüppel¬
fürsorge nicht in Betracht kommen, da nur besitzende Klassen in
der Lage sind, sich von diesen Bandagisten behandeln zu lassen.
Dieser Einwurf ist aber nur zum Teil richtig. So wie die Großen
unter den Bandagisten das geldkräftigste Publikum zu ihrer Klientel
zählen, so bedienen die minder Berühmten und Kleinsten die weniger
bemittelten Bevölkerungsklassen. Und selbst von den ärmsten Krüp¬
peln wird ziemlich häufig mit Geldern der öffentlichen oder privaten
Wohltätigkeit die Hilfe der Bandagisten aufgesucht.
Ein weiterer Einwurf könnte der sein, daß dadurch dem Ver¬
krüppelten kein wesentlicher Schaden erwächst, wenn der Bandagist,
wenn auch langsam, doch überhaupt zum Ziele kommt, d. h. den
Verkrüppelten der Heilung oder doch der wesentlichen Besserung
zuführt. Dieser Ein wand ist hinfällig. Erstens deshalb, weil viele
Digitized by C^ooQle
Bandagistenkurpfuscherei und Krüppel Fürsorge.
373
Deformitäten ohne operative Eingriffe überhaupt nicht zur Heilung
oder zur weitgehenden Besserung gebracht werden können. Zweitens
deshalb, weil wir wissen, daß je früher eine zielbewußte Behandlung
eingeleitet wird, desto besser das Resultat der Behandlung sein wird.
Durch die Bandagistenbehandlung von Verkrüppelten wird also oft
lind oft kostbare Zeit nutzlos vergeudet, so daß zum mindesten die
Güte des noch zu erzielenden Resultates, wenn endlich doch eine
fachärztliche Behandlung eingeleitet wird, gedrückt werden muß oder
in solchen unglücklichen Fällen ein befriedigendes Resultat überhaupt
nicht mehr erzielt werden kann. Wir wissen z. B., daß die ange¬
borene Verrenkung der Hüfte nur bis zu einer gewissen Altersgrenze
einrenkbar ist. Dieser Termin wird durch die selbständige Mitarbeit
der Bandagisten häufig versäumt. Gelähmte Kinderbeine werden von
den Bandagisten wahllos durch Jahre hindurch in Hülsenapparate
gezwängt; eine Aenderung des Grundleidens läßt sich durch solche
Maßnahmen natürlich nicht erzielen. Wohl aber wird die Muskulatur
des manchmal nur teilweise gelähmten Beines so geschädigt, daß eine
nachher ausgeführte Operation viel schlechtere Resultate gibt, als
sie frühzeitig ausgeführt ergeben hätte.
Ich will nicht weitere Beispiele anführen; ich glaube, die an¬
geführten genügen nicht nur für ärztliche Kreise, sondern auch für
jene nichtärztlichen Anwesenden, welche an der heutigen Krüppel¬
konferenz teilnehmen.
Aus meinen Ausführungen geht hervor, daß eine zielbewußte
Krüppelfürsorge trachten muß, die sie schädigenden Umstände, welche
ich erwähnte, zu beseitigen.
Es wird in absehbarer Zeit nicht möglich sein, in verschiedenen
Ländern und Staaten die erwähnten, lang eingebürgerten Mißstände
durch Eingreifen der Regierungen zu beseitigen. Und doch soll, da
wir die Schädlichkeit erkannt haben, Abhilfe geschaffen werden. Ich
glaube,dazug ibtes nur einenWeg: den durch dieAerzte;
durch Aufklärung der Aerzte über das Wesen und die Leistungen
der heutigen Orthopädie. Wenn der praktische Arzt, der wohl in
den meisten Fällen als erster zu Rate gezogen wird, darüber unter¬
richtet ist, wird er den schon oben erwähnten Weg, die Weisung
des Verkrüppelten zum Bandagisten, nicht einschlagen. Vorher muß
er aber von dem bei Aerzten noch vielfach bestehenden Irrtum be¬
freit werden, daß die Orthopädie eine nur kosmetische Disziplin dar¬
stelle. Ich muß hierzu von mir schon wiederholt Betontes nochmals
Digitized by
Google
374 Arnold Wittek. Bandagistenkurpfuscherei und Krüppelfürsorge.
anführen: die Orthopädie beschäftigt sich mit krankhaft veränderten
Formen. Solche krankhaft veränderte Form bedeutet immer auch
Einschränkung oder gar Aufhebung normaler Funktion. Mit der
Besserung oder Heilung der krankhaft veränderten Form geht Besse¬
rung der Funktion oder Herstellung normaler Funktion Hand in Hand.
Diese Besserung oder Heilung, welche die Orthopädie anstrebt,
bedeutet in vielen Fällen die Herstellung von Existenzmöglichkeit
im Kampf ums Dasein: Erwerbsfähigkeit. Das muß den Aerzten
in Fleisch und Blut übergehen; sie müssen die Wichtigkeit unseres
speziellen Faches kennen. Und daß sie es kennen lernen, dazu gibt
es nur einen Weg: daß ihnen während ihres medizinischen Bildungs¬
ganges die Orthopädie gelehrt werde, wie und soweit sie für den
praktischen Arzt von Wichtigkeit ist. Was allen Unterrichteten
selbstverständlich erscheinen muß, scheint doch nicht selbstverständ¬
lich zu sein, wenn man hört, daß in jüngster Zeit die Absicht be¬
standen hat, eine der wenigen Lehrstellen, die bisher bestanden,
nach ihrer Erledigung nicht mehr zu besetzen. Trotz des Wider¬
spruches, der in diesem Vorkommnis gegen unsere Anschauung zu
sehen ist, kann und muß auf einer Krüppelkonferenz doch nur immer
wieder betont werden:
Eine Krüppelfürsorge, die großzügig angelegt sein soll, um
Großes zu leisten, ist nur möglich unter Mithilfe entsprechend aus¬
gebildeter Aerzte; damit diese Ausbildung möglich wird, ist es er¬
forderlich, daß die leitenden Kreise sich unserer Erkenntnis an¬
schließen und das Lehren der Orthopädie anordnen.
Digitized by L^ooQle
XXVI.
(Aus dem Universitäts-Ambulatorium für orthopädische Chirurgie des
Prof. Dr. A. Lorenz in Wien.)
üeber Krtippelfürsorge in Oesterreicli-Üngarn').
Von
Dr. Rudolf Ritter v. Aberle,
Assistenten des Ambulatoriums.
Meine Herren! Wenn man die Ausführungen der geehrten
Herren Vorredner hört, wenn man die Riesenarbeit sieht, die nicht
nur in Deutschland, sondern auch in anderen Staaten in Bezug auf
Krüppelfürsorge bereits geleistet wurde, aber doch gegenüber den
tatsächlichen Bedürfnissen noch immer als vollkommen ungenügend
erscheint, so muß man leider sagen, daß Oesterreich-Ungarn auf
diesem Gebiet noch äußerst rückständig ist.
Es ist auch bei uns eine auffallende Erscheinung, daß weder
der Staat, noch irgend ein Kronland sich bisher in der Krüppelpflege
betätigt hat, die doch beide das größte Interesse daran haben sollten.
Die wenigen Krüppelanstalten und diejenigen Vereine, die sich mit
der Krüppelfürsorge befassen, sind einzig und allein durch private
Wohltätigkeit geschaffen worden und werden auch weiterhin durch
freiwillige Spenden erhalten.
In Oesterreich-Ungarn existieren überhaupt nur drei derartige
Anstalten; davon entfallen zwei auf Oesterreich, eine auf Ungarn.
Es sind dies in Oesterreich: 1. Die Kaiserin-Elisabeth-
Asyl-Stiftung für verkrüppelte Kinder in Lanzendorf bei
Wien und 2. Das Kinderheim für verkrüppelte Kinder in
Laa bei Neulengbach.
In Ungarn, und zwar in Budapest, befindet sich das „Nyo-
morök Gyermekek Otthona“ (Heim für verkrüppelte Kinder).
*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908.
Digitized by L^ooQle
376
V. Aberle.
Ferner bestehen in Oesterreich außerdem noch zwei Vereine, das
„Leopoldineum“ mit dem Sitz in Wien und seit 1906 der Verein
„Krüppelfürsorge in Steiermark“, welche ebenfalls die SchaflFung
von Heimstätten und Heilung, Versorgung und Erziehung von Krüppel¬
kindern anstreben, derzeit jedoch noch keine selbständigen Anstalten
besitzen. —
lieber die Entstehung, die Organisation und bisherige Tätig¬
keit der genannten Anstalten und Vereine ist in Kürze folgendes
zu berichten:
DieKaiserin-EIisabeth-Asyl-Stiftung fürverkrüppelte Kinder
In Lanzendorf wurde im Jahre 1900 als erste Krüppelanstalt Oester¬
reichs gegründet. Schon im Jahre 1897 hatte sich ein Verein konstituiert,
der sich die Errichtung und Erhaltung eines Asyls für verkrüppelte
Kinder zur Aufgabe stellte. Die Anregung ging von einer wohltätigen
Dame der Wiener Gesellschaft, Frau Jenny Edle v. Glaser, aus. Es
sollte anläßlich des Regierungsjubiläums unseres Kaisers dem Andenken
der erhabenen, unvergeßlichen Kaiserin Elisabeth eine dauernde, men¬
schenfreundliche Huldigung und zwar durch Gründung einer Zuflucht¬
stätte für arme verkrüppelte Kinder dargebracht werden. In kürzester
Zeit gelang es der Energie und der unermüdlichen Aufopferung Frau
V. Glasers auch andere hochgestellte Damen, als die ersten Frau Alice
Baronin Liebig, Helene Baronin Leitenberger-Schlosser,
besonders aber Frau Käthe Dreher, die Gattin des bekannten Gro߬
industriellen, für ihre Idee zu interessieren, so daß der junge Verein, der
unter der Präsidentschaft des Fürsten Karl zu Trauttmansdorff-
Weinsberg und der Gräfin Ayla^ Kinsky stand, Ende 1897 infolge
reichlicher Spenden bereits einen Vermögenstand von 197 723 Kronen
aufzuweisen hatte. Dieser wurde durch ein gebildetes Aktionskomitee,
dem auch die höchsten aristokratischen Kreise angehörten, bis Ende
1898 auf die stattliche Höhe von 344336,32 Kronen gebracht.
Als endlich 1899 dem Vereine durch den Gatten der Frau
Käthe Dreher die Realität Schloß Ober-Lanzendorf geschenkweise
überlassen wurde, so daß dem Vereine die großen Summen für einen
Neubau erspart blieben, bestand kein Hindernis mehr, den Plan des
Vereins, die Errichtung und Eröffnung des Asyls, in verhältnismäßig
kurzer Zeit zur Ausführung zu bringen. Nach den für die Asyl¬
zwecke notwendigen Adaptierungen wurde die Anstalt am 19. November
1900, dem Namenstage der verewigten Kaiserin Elisabeth, in feier-
Digitized by CjOOQle
lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn. 377
lieber Weise mit vier Pfleglingen eröffnet und ihrer Bestimmung
übergeben.
Das Asyl besteht aus dem zweistöckigen, schloßähnlichen Haupt¬
gebäude, an welches sich ein prachtvoller, großer Park mit alten
schattigen Baumgruppen anschließt. Dieser gewährt einer eventuellen
Vergrößerung des Asyls den weitesten Spielraum. Anschließend an
das Hauptgebäude liegen die erdgeschössigen Wirtschaftsgebäude,
ferner ein einstöckiges Nebengebäude, welches bisher dem Dienst¬
personale als Wohnung diente. Der 1. und 2. Stock des ziemlich
umfangreichen Hauptgebäudes wird von den getrennten Tag- und
Schlafzimmern der Kinder, den Waschräumen derselben, ferner den
Krankenzimmern, von dem großen Unterriebtssaal und dem Speise¬
zimmer eingenommen. Sämtliche Fenster der Zimmer, die die Pfleg¬
linge benützen, sind parkseitig gegen Südosten gelegen. Auf dieser
Seite befinden sich auch eine Reihe von geräumigen Veranden, die
in direkter Verbindung mit den Tageszimmern der Kinder stehen,
Eine Loggia dient speziell als Liegehalle für kranke Kinder. Die
Schlaf- und Waschräume für Knaben und Mädchen sind getrennt.
Im Erdgeschoß sind die Kapelle, die Kanzlei, das Sprechzimmer, die
Küche und die erforderlichen Nebenräumlichkeiten untergebracht.
Die Pflege der Kinder ist den barmherzigen Schwestern vom
Orden des hl. Vinzenz von Paul an vertraut, welche auch den Unter¬
richt und die Erziehung der Kinder leiten. Derzeit sind 7 Schwestern
an der Anstalt tätig.
Die orthopädische Behandlung der Krüppelkinder wird von
Prof. Dr. A. Lorenz und seinem Assistenten Dr. v. Aberle be¬
sorgt. Die Operationen werden vorläufig nicht in der Anstalt selbst,
sondern im Ambulatorium für orthopädische Chirurgie des Prof. Lorenz
im Wiener Allgemeinen Krankenhause vorgenommen, in welchem auch
die Kinder bis zur Transportfähigkeit bleiben. Nur die notwen¬
digen Gipsverbände werden in dem Asyle selbst angelegt. Die in¬
terne Behandlung obliegt dem Arzte von Lanzendorf, Dr. Mayerhofer.
Die Anstalt ist für Kinder jeder Religion und jeder Nation zu¬
gänglich. Für die Aufnahme ist im allgemeinen ein Alter zwischen
dem 3. und 14. Lebensjahre erforderlich. Doch wurden in Aus¬
nahmsfällen auch jüngere Kinder in Pflege genommen. Die Ver¬
pflegung und Behandlung ist vollkommen unentgeltlich, doch sind
zahlende Pfleglinge nicht ausgeschlossen. Die Kosten werden durch
die Mitgliedsbeiträge und die Kapitalzinsen gedeckt. Die Er-
Digitized by CjOOQle
378
V. Aberle.
baltungskosten eines Kindes haben sich im ersten Jahre, also 1901,
bei dem Umstande, daß die Aufnahme der Kinder nur sukzessive er¬
folgte, das Pflege- und Hauspersonal aber schon von Anbeginn an
komplett sein mußte, ziemlich hoch gestellt. Bei einer angestellten
Durchschnittsberechnung hat sich ergeben, daß, wenn sämtliche Aus¬
lagen des Vereins auf die Pfleglinge repartiert werden, auf jedes
Kind pro Monat der Betrag von 73,5 Kronen entfällt. Unter Zu¬
grundelegung dieses Maßstabes würde also der Gesamtaufwand bei
einem Stande von 24 Kindern im Jahre ca. 21000 Kronen betragen.
Infolge des späteren rationelleren Betriebes betrugen die Erhaltungs¬
kosten eines Kindes im folgenden Jahre 1902 durchschnittlich jedoch
nur ca. 55,5 Kronen pro Monat, also um ca. 24®/o weniger als im
Vorjahre. Mit der Zunahme der Zahl der Pfleglinge haben sich die
Kosten pro Kind noch wesentlich verringert.
Bis zum Jahre 1903 betrug die Bettenzahl ungefähr 24; seit
1905 können aber doppelt so viel Pfleglinge untergebracht werden.
Einen Ueberblick der Kosten und der bisherigen Tätigkeit des
Asyls erhellt aus folgender Tabelle:
Ver¬
pflegungs¬
jahr
Zahl der
unent¬
geltlich
ver¬
pflegten
Kinder
Höchstzahl
der gleich¬
zeitig ver¬
pflegten
Kinder
1900 *)
5
5
1901
27
22
1902
25
24
1903
29
29
1904
42
37
1905
61
49
190G
67
50
1907
65
52
Gesamt¬
leistung
118^)
Zahl der
Ver¬
pflegungs¬
tage inkl.
Personal
i
Gesamt¬
kosten in
Kronen
Durch¬
schnittliche
Kosten pro
Ver¬
pflegungs¬
tag für ein
Kind
339
2 490,—
5 982
14 657,30
2,45
8 073
14 976.07
1,85
8 945
18 776,41
2,09
12 397
22 560,83
1,81
16 226
23 684,29
1,45
18 250
20 263.84
1,11
18 434
16 747,06
0,90
88 646
134 155,80
Ein sehr wichtiger Schritt in der Entwicklung des Krüppel¬
heims war die Umwandlung des Asyls in eine Stiftung, welche am
15. September 1906 von der Behörde genehmigt wurde. Dadurch
Eröflfnung 19. November.
") Seit Bestand der Anstalt.
Digitized by LjOOQle
lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Üngarn.
379
sollte „das begonnene Werk in seiner Idee und historischen Be¬
deutung auch durch alle nachfolgenden Zeiten erhalten, anderseits
das dem Stiftungszwecke zu widmende Vermögen dauernd und für
alle Zeiten an den ursprünglichen Gründungszweck gebunden und
für die Verwaltung des Asyls ein für allemal eine nach den unver¬
rückbaren Bestimmungen des zu errichtenden Stiftsbriefes unabänder-
bare Basis und damit die Gewahr für die Stabilität und Gleichmäßig¬
keit der Verwaltung und für den ruhigen Fortgang in der weiteren
Entwicklung des Asyls geschaffen werden*.
Die Verwaltung der Stiftung untersteht dem Stiftungskuratorium,
welches sich aus dem bisherigen Präsidenten, der Präsidentin (der¬
zeit Marie Therese Gräfin Harrach), je zwei Vizepräsiden¬
tinnen und Vizepräsidenten, dem Schriftführer und weiteren zehn
Kuratoriumsmitgliedern zusammensetzt.
Infolge der Umwandlung in eine Stiftung mußte auch eine
Trennung des Vermögens in das Stiftungs- und das Vereins vermögen
vollzogen werden.
Das Stiftungs vermögen betrug Ende 1906:
Die Realität in Ober-Lanzendorf,
40000 Kronen 4®/oiger Wertpapiere.
Das Vereinsvermögen belief sich auf 431193,72 Kronen.
Die Gründung des Kinderheims in Laa bei Neulengbach in
Niederösterreich ging ebenfalls von einem Vereine aus. Derselbe
hatte sich am 26. November 1898 unter dem Namen „Kinderheim,
Verein zur Gründung und Erhaltung von Heimstätten für ver¬
krüppelte, schwache und rekonvaleszente Kinder jüdischer Konfession“
gebildet und hat den Sitz in Wien. Den in den Heimstätten auf¬
genommenen Kindern sollte behufs Erlangung oder Kräftigung ihrer
Gesundheit dauernd oder vorübergehend Unterkunft und eine ent¬
sprechende Pflege und Erziehung gegeben werden. Auch steht es
in der Absicht des Vereins, erforderlichenfalls in Oesterreich Zweig¬
vereine zu errichten.
Der Verein entwickelte unter der Präsidentschaft des Gro߬
industriellen Johann Eißler unter Mithilfe mehrerer Vereinsmit¬
glieder eine geradezu fieberhafte Tätigkeit, so daß bald eine statt¬
liche Summe zur Verfügung stand. Bald lag auch eine Reihe von
Kaufangeboten von Landgütern vor. Doch erwiesen sich die meisten
Digitized by
Google
380
V. Aberle.
davon als unbrauchbar für die Zwecke des Vereins. Trotzdem ge¬
lang es demselben in kurzer Zeit, schon Anfang 1899, ein für die
Asylzwecke geeignetes, ansehnliches Anwesen käuflich zu erwerben.
Das Gut Laa ist 4 km von der Bahnstation Neulengbach ent¬
fernt, welche von Wien aus in 1^^ Stunde erreichbar ist. Der Besitz
liegt auf einer sanft ansteigenden Lehne und umfaßt: ein einstöckiges
Wohnhaus, welches 11 Wohnräume, Badezimmer und Nebenräume
und in jedem Geschoß eine große gedeckte Veranda enthält, zwei
neugebaute Wohnhäuser für den Wirtschafter und das Gesinde, ferner
Stall für Rinder und Pferde, Wagenremise und Keller. Alle Räume
sind mit Wasserleitung versehen und mit Schiefer gedeckt. An das
Wohnhaus grenzt ein kleiner Ziergarten und an diesen ein schattiger,
1 ^/2 Joch großer Wald. In demselben befindet sich ein Wasserreservoir.
Das Areal des ganzen Besitzes beträgt einschließlich eines großen Obst¬
und Gemüsegartens, sowie eines kleinen Karpfenteiches 36 zusammen¬
hängende Joch. Das Gut wurde samt lebendem und totem Inventar
um den Betrag von 70000 Kronen erworben.
Die HofiFnung des Vereins, das Heim recht bald eröffnen zu
können, konnte jedoch erst im Oktober 1902 in Erfüllung gehen.
Es waren nämlich noch zahlreiche notwendige Adaptierungen aus¬
zuführen. Die Vereiusleitung wollte aber auch das Asyl vor der
Eröffnung auf eine gesicherte pekuniäre Basis stellen, um die Ge¬
währ eines ungestörten Betriebes zu bieten. Jedoch wurde bereits
im Sommer 1901 versuchsweise und vorübergehend 10 erholungs¬
bedürftigen Kindern in der Anstalt Aufnahme gewährt. Dieser erste
Versuch, der auch zur Erhebung der Durchschnittskosten für die
Verpflegung von Zöglingen diente, fiel glänzend aus. Nach den an-
gestellten Berechnungen wurden die Kosten für 1 Kind auf ca.
000 Kronen per Jahr bestimmt. Trotzdem im allgemeinen nur voll¬
kommen unbemittelte Kinder Aufnahme finden sollten, wurde die¬
selbe jedoch ausnahmsweise auch bemittelteren Kindern gegen den
Betrag von 600 Kronen jährlich bewilligt.
Leider konnte auch das Kinderheim Laa nur wenigen Kindern
die Vorteile und 'Wohltat der Anstaltsbehandlung gewähren. Im
Jahre 1903, im ersten vollen Betriebsjahre, vermochte es nämlich
nur 12 Pfleglinge in Fürsorge zu nehmen. Diesen aber wurde voll¬
kommener Unterricht in allen Gegenständen der Volksschule durch
einen eigenen Lehrer zu teil.
Die ärztliche Leitung untersteht den beiden Aerzten, kaiserl.
Digitized by C^ooQle
lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn.
381
Kat Dr. S. Krüger in Wien, der nach dem Tode Eißlers auch
zum Präsidenten des Vereins gewählt wurde, und Dr. S. Baruch
in Neulengbach. Die orthopädische Behandlung liegt in den Händen
des Orthopäden Dr. M. Haudek in Wien.
Die Mittel des Vereins werden durch die Mitgliedsbeiträge,
durch allfällige Veranstaltungen zu Gunsten des Vereins, durch
Schenkungen u. s. w. beschafft.
Die näheren Daten über die Vereinstätigkeit sind aus folgender
Tabelle zu entnehmen:
Ver-
pflegungs-
jahr
Zahl der
unent¬
geltlich
ver¬
pflegten
Kinder
Höchstzahl
der gleich¬
zeitig ver¬
pflegten
Kinder
Zahl der
Ver¬
pflegungs¬
tage
Gesamt¬
kosten in
Kronen
Durch¬
schnittliche
Kosten pro
Ver¬
pflegungs¬
tag für ein
Kind
1902 0
4
4
1903
12
8
.4 371
7 540,69
1,72
1904
18
15
5 551
11 197,85
2,01
1905
37
20
5 484
10 768,10
1,96
1906
58
21
. .6 345 .
. 9144.10
1,44
1907
54
25
7 235
10 785,49
1,49
Oesamt*
summe
139-)
28 986
49 436,23
Die einzige in Ungarn bestehende Krüppelanstalt Nyomor^k
Gyermekek Otthona, Heim für verkrüppelte Kinder, wurde im
Jahre 1903 in Budapest auf die Initiative des Herrn Richard
Rothfeld gegründet. Das Krüppelheim ist eine Schöpfung des
Budapester Krüppelpflegevereins. An der Spitze der Anstalt stehen
als Präsidenten: Baronin Ernst Daniel, Graf Leopold Edels-
heim-Gyulay, Dr. Simon Messinger und Graf Ladislaus
Teleky. Die administrative Leitung versieht Herr Richard Roth¬
feld. Der Verein begnügt sich nicht mit der Erhaltung der Buda¬
pester Anstalt allein, sondern es liegt in der Intention desselben,
auch Zweiganstalten in Ungarn zu errichten. In diesen sollen
krüppelhafte Kinder ohne Unterschied der Religion, der Nationalität
und des Geschlechts Aufnahme, ärztliche Behandlung, Erziehung und
*) Ab Oktober.
*) Seit Bestand der Anstalt.
Digitized by
Google
382
V. Aberle.
Ausbildung für ein Handwerk finden. Statutengemäß können in der
Budapester Anstalt nur solche Krüppelkinder untergebracht werden,
die von mittellosen Eltern stammen; denn ein Pflegegeld wird nicht
bezahlt. Außerdem müssen die Kinder geistig vollkommen normal
veranlagt sein. Taubstumme, blinde, blöde und epileptische Kinder
sind von der Aufnahme ausgeschlossen.
Der Verein besitzt bisher noch kein eigenes Anstaltsgebäude,
sondern es wurde vorläufig ein Miethaus für die Asylzwecke ver¬
wendet. Dasselbe umfaßt zwei Schlafzimmer, einen Tageraum, ein
Schulziramer und die entsprechenden Bade- und Nebenräume. Auch
die Wohnung der Lehrerin befindet sich in dem Hause. Im all¬
gemeinen besteht in jeder Beziehung größter Platzmangel. Es konnte
daher auch vorläufig nur eine ganz geringe Zahl von Pfleglingen
Unterkunft finden, weshalb sich auch die Vereinsleitung bei der
Aufnahme nur auf Knaben im schulpflichtigen Alter von 6 bis
15 Jahren beschränkte. Der Belagraum der Anstalt betrug
im Jahre 1905 . • . . 10 Knaben
„ . 1906 .... 14 ,
derzeit.15 „
Als Chefarzt fungiert Dr. Ladislaus Szegväri, als Operateur
Dr. Hugo Eißler. Doch müssen die operativen Eingriffe infolge
Mangels eines eigenen Operationraumes nur auf das notwendigste
beschränkt werden.
Der Unterricht liegt in den Händen einer staatlich geprüften
Lehrerin und bezieht sich vorläufig nur auf die sechs Elementar¬
gegenstände. Außerdem erhalten die Knaben aber auch ausgezeich¬
neten Handfertigkeitsunterricht durch eine eigene Lehrerin in diesem
Fache. Namentlich im Slojd- (d. i. Ton-) und Gipsmodellieren werden
trotz der oft krüppelhaften Hände staunenswerte Resultate erzielt.
Ferner wird noch Buchbinderei gelehrt. Aber auch dafür fehlt
überall der entsprechend große Raum. Die Kosten werdt^n durch
die Kapitalzinsen, die Mitgliedsbeiträge, durch Geschenke und sonstige
Beiträge gedeckt. Auch vom Ministerium des Innern und der Unter¬
richtsverwaltung, sowie von der Stadt Budapest wurden wiederholt
namhafte Subventionen gewährt. Das Vereinsvermögen, welches
Ende 1906 64 000 Kronen betrug, war bereits im Mai 1907 auf
90000 Kronen gewachsen; derzeit erreicht es die Höhe von un¬
gefähr 150000 Kronen.
Digitized by LjOOQle
lieber Erüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn.
383
Der Verein Leopoldineum in Wien wurde im Jahre 1903
gegründet. Er hat sich zur Aufgabe gestellt, ein Heim für Ver¬
krüppelte beiderlei Geschlechts, ohne Unterschied der Religion und
Nationalität für ganz Oesterreich zu schaffen, in welchem diese
unglücklichen Geschöpfe behandelt und versorgt werden sollen. Durch
passende Erziehung und entsprechenden Unterricht, sowie durch sorg¬
fältige Auswahl des zu Erlernenden soll dem Einzelnen die Mög¬
lichkeit geboten werden, trotz seines Gebrechens einen ehrlichen Er¬
werb zu erlernen.
Wenn auch der Verein Leopoldineum bisher noch kein eigenes
Heim besitzt, so muß doch betont werden, daß der sehr rührige
Verein, an dessen Spitze seit der Gründung Franz Joseph Fürst
Auersperg und seine Gemahlin Wilhelmine stehen, auf andere
Weise sehr viel für die Krüppelfürsorge leistet. Er sucht nämlich
vorläufig besonders ambulatorisch zu wirken, indem er den Krüppel¬
kindern Pfiege, orthopädische Behandlung nach Maßgabe der vor¬
handenen Mittel kostenlos zu teil werden läßt. Auch werden die
orthopädischen Stützapparate auf Vereinskosten hergestellt. Außer¬
dem aber vermittelt der Verein kostenlos Stellen und passende Ar¬
beit für Krüppelkinder, verleiht an solche Unterstützungen und
sucht Lebens-, Alters- und Unfallversicherungen für Krüppelhafte
zu erwirken.
Die spezialistische Behandlung leitet der Orthopäde Dr. Viktor
Kienast, der dieselbe unentgeltlich in seiner Privatanstalt vor-
tiimmt. Die notwendigen Operationen werden von ihm ebenfalls
kostenlos in einem der Wiener Sanatorien ausgeführt. Die Sanatoriums¬
kosten trägt der Verein. Die Zahl der im Jahre 1907 behandelten
Krüppel betrug 172.
Daß hierbei mit dem Betrage von 1477,48 Kronen das Aus¬
langen gefunden werden konnte, ist ausschließlich darauf zurück¬
zuführen, daß seitens der beteiligten Faktoren dem Verein durch
namhafte Ermäßigungen auf das weitgehendste entgegengekommen
wurde.
Im Jahre 1905 erreichten die Auslagen 3808,42 Kronen,
, « 1906 , , , 3231,56
Das Vereinsvermögen betrug Ende 1907 8907,71 „
Um den Verein auch in anderen Kronländern der Monarchie einzu¬
bürgern und in die breitere Oeffentlichkeit treten zu lassen, wurde im
Digitized by L^ooQle
384
V. Aberle.
Jahre 1905 mit der Schafifung von Ortsgruppen in den verschiedenen
Hauptorten begonnen. Eine solche kann nur über Beschluß der
Vereinsleitung eröffnet werden, aber auch nur dann, wenn sich
mindestens 20 Mitglieder für eine Sektion melden. Bisher sind auf
diese Weise sechs Ortsgruppen entstanden, und zwar in Linz, Salz¬
burg, Klagenfurt, Laibach, Görz und Abbazia. Auch in Graz sollte
eine Ortsgruppe des Leopoldineums geschaffen werden.
An ihrer Stelle bildete sich aber als selbständige Korporation
der Verein ,, Krüppelfürsorge in Steiermark^^. Derselbe wurde
im Mai 1906 gegründet. Die Anregung dazu gab der Privatdozent
für orthopädische Chirurgie Dr. Witte k. Der Verein hat seinen
Sitz in Graz, der Hauptstadt Steiermarks, und bezweckt die Er¬
richtung einer Krüppelanstalt für dieses Kronland. Die Bau- und
Betriebskosten sollen durch ein Aktionskomitee aufgebracht werden.
Ein ausführlicher Bericht über die bisherige Vereinstätigkeit liegt
bei dem kurzen Bestände unseres jüngsten Vereins für Krüppelpflege
noch nicht vor.
Ueberblickt man nun die in den drei Krüppelanstalten Oester¬
reich-Ungarns zur Verfügung stehende Bettenanzahl, so muß diese
leider als verschwindend klein bezeichnet werden. Lanzendorf be¬
herbergt derzeit 52 Kinder, Laa maximal 25, das Budapester Heim
15 Kinder, also für alle Krüppelkinder Oesterreich-Ungarns 92 Betten!
Doch muß immerhin berücksichtigt werden, daß alle unsere
Krüppelanstalten erst Schöpfungen der letzten Zeit sind, welche sich
aus den kleinsten Anfängen sogar verhältnismäßig rasch entwickelt
haben. So hatte das Asyl in Lanzendorf, welches im November 1900
mit 4 Pfleglingen eröffnet wurde, Ende 1901 bereits 22 Kinder in
Pflege; zweimal wurde in kurzer Folge eine Vermehrung der Betten¬
zahl auf 40, bezw. 52 vorgenomraen. Derzeit wird abermals ein
Seitentrakt des Gebäudes zu Krankenzimmern adaptiert, welche weiteren
14 Betten Raum gewähren, wodurch die Gesamtzahl 66 erreicht wird.
Das Heim in Laa, welches im Oktober 1902 von 4 Kindern
bezogen wurde, verpflegte im Jahre 1907 gleichzeitig bereits 25 Zög¬
linge. Leider hat der gute Wille, die Wohltaten der Anstaltsbehand¬
lung möglichst vielen Bewerbern zukommen zu lassen, bei stationär
geringer Bettenanzahl auch seinen Nachteil, welcher in einer be-
Digitized by C^ooQle
lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn.
385
deutenden Einschränkung der Verpflegstage pro Kind zum Ausdruck
kommt. Die Verminderung der Verpflegsdauer ergibt sich evident
aus folgender Tabelle, die dem Jahresbericht des Kinderheims Laa
entnommen ist:
1903 12 Kinder 4371 Verpflegstage 364 Verpflegstage pro Kind
1904 18 ,
5551
308
n
9 9
1905 37 ,
5484
148
9
9 9
1906 58 ,
6345
109
1»
9 9
1907 54 .
7235
134
9
9 9
1 denkt daher
der Verein ernstlich daran,
eine
Erweiterung des
Heims durch Aufsetzen eines Stockwerkes auf das Anstaltsgebäude
vorzunehmen.
Aber auch das Budapester Heim hat es in der kurzen Zeit
seit 1903 zuwege gebracht, daß schon im heurigen Sommer mit dem
Bau des eigenen Gebäudes begonnen werden kann. Zu diesem
Zwecke wurde dem Verein von der Stadt Budapest eine Grundfläche
im Ausmaße von 1300 m* in der Uellöi-Straße unentgeltlich zur Ver¬
fügung gestellt. Das Neugebäude soll zunächst für 50 Pfleglinge,
und zwar Knaben, Platz bieten, doch ist Vorsorge getroffen, daß
diese Bettenzahl wesentlich erhöht werden kann. Das Hauptgewicht
wird auf die ärztliche Pflege und Behandlung gelegt werden. Für
diesen Zweck wird die neue Anstalt Operationssaal, Krankenzimmer
und Turnsaal etc. enthalten. Außerdem werden die Pfleglinge im
neuen Heim zu Handwerkern ausgebildet werden.
Wie aus dem Gesagten hervorgeht, beziehen sich in Oester¬
reich-Ungarn alle Maßnahmen nur auf die jugendlichen Krüppel.
Mit dem 14., 15. Lebensjahr hört die Fürsorge auf. Damit fängt
aber eigentlich erst das ärgste Elend an.
Bisher kamen unsere Anstalten, die eben nur Kinder be¬
herbergen, bei dem kurzen Bestand noch nicht so oft in die Lage,
sich mit der weiteren Versorgung der Pfleglinge zu befassen. Wir
konnten uns mit dem Normalunterricht begnügen. Die wenigen
Herangewachsenen jedoch wurden z. B. als gut geschulte Hilfs¬
personen in der Anstalt selbst verwendet. Aber in kurzer Zeit
werden auch wir vor die Aufgabe gestellt werden, für das weitere
Schicksal unserer Krüppelkinder zu sorgen.
Denn es ist auch unsere volle Ueberzeugung, daß ein Krüppel¬
heim ohne Krüppelerziehung, ohne Fürsorge für die weitere Zukunft
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 25
Digitized by C^ooQle
386
V. Aberle.
des ehemaligen Pfleglings undenkbar sei. Es ist ein Stehenbleiben
auf halbem Wege. Ja es wäre dann vielleicht für den Krüppel
besser gewesen, wenn er das Heim nie gesehen hätte, in welchem
er alles, liebevolle Pflege, gute Kost, Freude, Ordnung genossen,
unter seinesgleichen ein sorgloses Leben geführt hatte, ja in ge¬
wissem Sinne sogar verwöhnt wurde.
Nun zurück ohne Ausbildung in die ärmlichen Verhältnisse
seiner Familie oder in ein Siechenhaus mit seinen bresthaften, un¬
heilbaren Kranken? Sicherlich ist dieses nicht der richtige Ort für
den mit Ausnahme seines Gebrechens in der Regel ganz gesunden
Krüppel.
Anderseits bedeutet aber die Rückkehr des natürlicherweise
entfremdeten, in der Bildung zurückgebliebenen Kindes auch für die
liebevollsten Eltern meist eine förmliche wirtschaftliche Katastrophe,
da sie ja oft gar nicht mehr mit dieser Möglichkeit gerechnet hatten.
Ein Krüppelheim soll nämlich, worauf, glaube ich, bisher noch
nicht nachdrücklich genug hingewiesen wurde, in doppeltem Sinne
wirken, nicht nur dadurch, daß die Wohltat dem Kinde selbst zu
gute kommt, sondern auch insofern, als man den ohnehin schwer
geprüften Eltern einen nicht zu unterschätzenden Dienst erweist,
indem man ihnen das auf sie wie lähmend wirkende Kind zur
Pflege abnimmt, ihnen förmlich ein Wiederaufleben ermöglicht, die
sich früher in ihrer Kraft für das Kind förmlich erschöpften. Die
spätere Rückkehr eines solchen Kindes ist aber dann doppelt ver¬
nichtend für die Familie. In gewissem Sinne gilt dies auch für be¬
mittelte Kreise. Denn jeder Pädagog weiß aus Erfahrung, mit
welchen Schwierigkeiten die Erziehung verkrüppelter Kinder in der
Familie zu kämpfen hat, selbst dort wo die reichsten Mittel vor¬
handen sind.
Ich glaube, daß in der Verhinderung der Rückkehr eines für
das praktische Leben nicht geeigneten oder nicht besonders aus¬
gebildeten Krüppels ein nicht zu unterschätzendes soziales Moment
liegt. Vielleicht ist dieses noch höher anzuschlagen, als die beste
Eigenarbeit des Krüppels.
Ich möchte hier nur bemerken, daß es sich empfehlen dürfte,
eine möglichste Zentralisation der Arbeit in jeder einzelnen Krüppel¬
anstalt wie in irgend einer Fabrik anzustreben, d. h. die eine
Krüppelanstalt fertigt dies, die andere jenes an, oder sie bildet
wenigstens das Kind in dem betreffenden Berufszweig aus. Denn
Digitized by e^ooQie
lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn.
387
unter diesen Umständen kann man sich sogar auf maschinelle Her¬
stellung einzelner Artikel einrichten, wodurch sowohl eine Verbilli¬
gung des Betriebes, als auch bei der Vollkommenheit der gefertigten
Arbeiten eine gewisse Konkurrenzfähigkeit erzielt werden kann. Eine
zu große Individualisierung der Fähigkeiten der einzelnen Krüppel
dagegen dürfte zu kostspielig sein.
Den genannten Gründen konnten auch wir in Lanzendorf uns
nicht verschließen, jetzt, nachdem die Kinder in den nächsten Jahren
zur Entlassung kämen, an die Errichtung Von Werkstättenschulen
zu schreiten. Es ist dies bereits beschlossene Sache und das dazu
erforderliche Geld schon vorhanden.
üeberhaupt ist es erfreulich zu sehen, wie sich jetzt in
Oesterreich-Ungarn alles rührt und regt und der Krüppelfürsorge
erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Es scheint, als ob man Versäumtes
nachholen wollte. Namentlich im heurigen Jubiläumsjahre unseres
Kaisers wird von allen Seiten eine intensive und erfolgreiche Tätig¬
keit entwickelt. Während das ungarische Heim, wie schon erwähnt,
heuer zum Bau der eigenen Anstalt schreitet, geht der Verein
Leopoldineum daran, ein vollkommen eingerichtetes Ambulatorium
mit Turnsaal und sonstigen Behelfen vorläufig in einem Miethause
zu schaffen.
In Böhmen, und zwar in Prag, wird ebenfalls noch im Laufe
dieses Jahres mit dem Bau eines großen Krüppelheims begonnen,
um damit einem dringenden Bedürfnisse abzuhelfen. Denn nach
statistischen Berechnungen wird in Böhmen die Zahl der jugendlichen
Krüppel auf 8000—10000, die der erwachsenen auf ca. 30000 ge¬
schätzt. Von diesen 40000 waren bisher kaum 100 in Privat¬
anstalten versorgt. Die Anstalt, welche den Namen „Jubiläums-
Krüppelheim“ führen wird, enthält eine chirurgisch-orthopädische
Abteilung, welche mit der chirurgischen Universitätsklinik in Prag
in Kontakt bleiben soll, um zugleich als Lehranstalt zu dienen. Auch
dieses Krüppelheim ist die Schöpfung eines Vereins, der, im Oktober
1907 gegründet, unter dem Protektorate des Prof. Dr. Kukula,
Dr. Stich und Dr. Dvorak steht. Dasselbe wird unter Mitwirkung
des Staates, des Landes und der Waisenhausfonds errichtet. Laut
Statuten sollen von den einzelnen Bezirken Stipendien zur Unter¬
stützung von Krüppeln geschaffen werden. Die in Aussicht ge¬
nommene Bettenzahl beträgt 100, doch ist eine Erweiterung auf
150 Betten vorgesehen. Dieses Institut ist für Krüppel berechnet.
Digitized by
Google
388
V. Aberle. lieber Krüppelfiirsorge in Oesterreich-Ungarn.
welche das 6. Lebensjahr überschritten haben. Die Pfleglinge werden
dort außer der ärztlichen Behandlung auch eine vollkommene Er¬
ziehung und fachmännische Ausbildung in Werkstättenschulen, die
der Anstalt angegliedert sind, genießen.
Endlich soll auch in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina,
noch im heurigen Jahre ein Krüppelheim entstehen. Dasselbe ist
ebenfalls als Jubiläumswerk geplant.
Leider blieb Staat und Land, wie schon erwähnt, bisher allen
diesen anerkennenswerten Bestrebungen, auch den Krüppeln ein
menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, vollkommen ferne und
begnügte sich im äußersten Falle mit der Zuweisung unbedeutender
Subventionen.
Doch spreche ich die Hoffnung aus, daß es schließlich doch
gelingen wird, die maßgebenden Kreise auch in Oesterreich-Ungam
für die Krüppelfürsorge zu interessieren; denn nur dann kann ein
voller Erfolg erzielt werden. Die höchst angespannte private Wohl¬
tätigkeit kann nur Milderung, nicht Abhilfe des Krüppelelendes
schaffen.
Digitized by LjOOQle
XXVII.
Krüppelfiirsorge in den Vereinigten Staaten von
Amerika.
Von
Robert W. Lovett, M. D., Boston.
Die Fürsorge und Erziehung der Krüppel ist in den Vereinigten
Staaten noch nicht allgemein als eine dem Staat zufallende Ver¬
pflichtung und zugleich nationalökonomische Einrichtung anerkannt
worden, sondern ist bisher ausschließlich durch öffentliche Wohl*
tätigkeit Und aus Stiftungen bestritten worden. Drei Staaten je¬
doch, Minnesota, New York und Massachusetts, haben in ange¬
führter Reihenfolge staatliche Hospitäler und Schulen für Krüppel
gegründet. Andere Staaten und Gemeindewesen haben Schulen zur
Erziehung von Blinden, Stummen, Schwachsinnigen und Epileptikern
vorgesehen, sind aber scheinbar bisher unfähig gewesen, sich ihrer
Krüppel anzunehmen, welche ebenfalls nicht an dem Unterricht in
öffentlichen Schulen teilnehmen können. Es ist jedoch ermutigend
zu bemerken, da die Einrichtung von staatlichen Schulen immer¬
hin nur eine Sache der allerletzten Jahre ist, daß das Publikum dieser
Sache mit regem und wachsendem Interesse folgt.
In Amerika muß man zwei verschiedene Arten von Krüppel¬
anstalten unterscheiden. Erstens solche, welche den Krüppeln Für¬
sorge und Schulung auf gewisse, genügend lange Zeit gewähren,
zweitens solche, welche in erster Linie Krankenhäuser sind und zur
selben Zeit Sorge tragen, den Kindern Schulunterricht zu ge¬
währen* —
Im folgenden Bericht soll ein Versuch gemacht werden, eine
kurze Darstellung von dem gegenwärtigen Stand der Bewegung in
Amerika zu geben, indem einige grundlegende Daten aus den wich¬
tigsten Anstalten dazu benutzt werden. Die Auskunft ist in jedem
einzelnen Falle von der betreffenden Anstalt selbst eingeholt worden.
Zuerst soll über die erste Klasse der Anstalten berichtet werden.
Digitized by C^ooQle
390
Robert W. Lovett.
d. h. über diejenigen, welche ihren Patienten Fürsorge und Schulung
auf längere Zeit gewähren.
The House of the Merciful Saviour for Crippled Children (Das Haus
des Gnadenreichen Heilands für verkrüppelte Kinder). Phila¬
delphia, Pennsylvania. Auskunft von Mrs. Robert T. Innes
Treasurer.
Diese Anstalt wurde im Jahre 1862 zu dem Zweck gegründet,
nicht nur für heimatlose Krüppelkinder, welche aus dem Krankenhaus
entlassen sind, zu sorgen, sondern auch anderen Armen und Hilf¬
losen Schutz zu gewähren. — Keinem hoffnungslosen Krüppel wird
die Aufnahme verweigert, und schon viele Kinder haben die Anstalt
verlassen, fähig sich ihren Lebensunterhalt selbst zu erwerben. Für
diejenigen, welche die öffentlichen Schulen nicht besuchen können,
existiert eine Tagesschule, wo die Elementarfdcher gelehrt werden.
— Das Heim hat einen kleinen Geldfonds. — Die Schüler wohnen
in der Anstalt und die größte Anzahl, welche zu gleicher Zeit auf¬
genommen werden kann, ist 70. Handfertigkeitsunterricht, der
Eigenart des Kindes angemessen, wird erteilt, und die Patienten
stehen unter medizinischer und chirurgischer Aufsicht. Die Zahl der
Behandelten beträgt zur Zeit 48 und besteht zum größten Teil aus
tuberkulösen Gelenkserkrankungen, Kinderlähmung, Rhachitis und
kongenitalen Deformitäten.
The Industrial School for Crippled and Deformed Children (Die Ge¬
werbeschule für verkrüppelte und mißgestaltete Kinder). Boston,
Massachusetts. Auskunft von F. J. Cotting, Esq., President.
Die Gewerbeschule für verkrüppelte und mißgestaltete Kinder
wurde nach den Gesetzen des Staates Massachusetts im Jahre 1894
ins Leben gerufen, und im selben Jahre mit einer Anzahl von
15 Schülern eröffnet. — Sie hat in den verflossenen Jahren das
Grundeigentum und die Gebäude im Werte von 175 365,82 Dollar
erworben. Die Gebäude sind mit besonderer Rücksicht auf ihren
Zweck erbaut und ausgestattet worden, was selbstverständlich die
Kosten dafür bedeutend erhöhte. Die Anstalt ist jetzt frei von
Schulden und wird gänzlich durch Beiträge des Publikums und die
Zinsen eines kleinen Kapitals, von Legaten herrührend, unterhalten.
150 Schüler können zugelassen werden, davon sind 75 Voll¬
schüler und 28 nehmen am Handfertigkeitsunterricht teil. Es sind
Digitized by C^ooQle
Krüppelfürsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika.
391
indessen vorläufig doch noch nicht genügend Mittel da, die volle
Anzahl Schüler aufzunehmen, obgleich schon weitere 32 zur Auf¬
nahme vorgemerkt worden sind. Die Schule ist eine Tagesschule
nud nimmt keine Schüler in Pension. 44 von 75 Vollschülem wer¬
den täglich auf Kosten der Schule von und nach Hause gefahren.
Die übrigen 31 Schüler benutzen die elektrische Bahn. Solche
Schüler, die ihr Fahrgeld bezahlen können, werden dazu angehalten,
dem Rest wird es von der Schule wiedererstattet. Alle, welche der
Abteilung für Handfertigkeitsunterricht angehören, bezahlen ihr
Fahrgeld selbst. Ein gutes Mittagessen wird allen Schülern und
Lehrern um 12 Uhr verabreicht. — In der Mitte des Vormittags
und bevor die Schüler Nachmittags nach Hause gehen, erhalten die
sehr Schwächlichen eine Tasse Milch.
Die ärztliche Behandlung geschieht unter der Aufsicht eines
medizinischen Komitees, bestehend aus 11 orthopädischen Chirurgen
und 6 Spezialisten, jedoch wird jegliche Behandlung nur in den
Kliniken ausgeUbt.
Man ist übereingekommen, daß jeder Arzt während eines der
9 Schulmonate die Besuche macht, da das Schuljahr vom 1. Oktober
bis 30. Juni dauert, mit Ausnahme der Druckerei, welche während
des ganzen Jahres im Betrieb bleibt. Die Schüler unterstehen ärzt--
licher Behandlung in den verschiedenen Krankenhäusern Bostons, weil
in der Schule selbst keine Operationen vorgenommeu werden.
Eine Pflegerin vom Childrens Hospital ist zur beständigen Auf¬
sicht da und sorgt für die Erneuerung von Verbänden, Schienen u.s. w.
und dafür, daß die Verordnungen des Arztes befolgt werden. Ebenso
besucht sie Schüler, welche vom medizinischen Komitee vorgeschlagen
worden sind. Jeder Fall wird dann daraufhin zur ärztlichen Unter¬
suchung resp. Behandlung überwiesen.
In der Schule sind zur Zeit nachfolgend genannte Fälle:
34 tuberkulöse Hüftgelenksentzündung,
23 Wirbelsäulentuberkulose,
6 tuberkulöse Kniegelenke,
5 multiple Gelenkstuberkulose,
2 Osteomyelitis,
3 Skoliosen,
4 kongenitale Deformitäten,
3 cerebrale Lähmungen,
17 Kinderlähmungen,
Digitized by L^ooQle
392
Robert W. Lovett
1 progressiv^ Muskelatrophie,
2 Amputationen,
1 Wasserkopf,
1 Rhachitis.
Der Unterricht wird den 8 Klassen der Volksschule entsprechend
geleitet und umschließt: Lesen, Schreiben, Rechnen, Orthographie,
Grammatik, Geographie, Geschichte der Vereinigten Staaten, Ge¬
sundheitslehre, Singen, Zeichnen und Turnen. Die Schulstunden
finden von 9 Uhr Morgens bis 4 Uhr Nachmittags statt. Die Schüler
der Vorschulklassen im Alter von 5—8 Jahren haben 4 wissenschaftliche
Stunden, 1 Stunde Handfertigkeitsunterricht, 1 Stunde Mittagspause
und 1 Erholungsstunde. Die Schüler der höheren Klassen im Alter
von 9—14 Jahren haben Stunden wissenschaftlichen Unterricht,
2 Stunden Handfertigkeitsunterricht, 1 Stunde Mittagspause und
^/a Stunde zur Erholung. — Handfertigkeitsunterricht, den jüngeren
Kindern der unteren Klassen angemessen, wird in folgenden Fächern
erteilt: Papierfalten, Kartonarbeiten, Sloyd, Tonmodellieren, Korb¬
machen, Stuhlflechten, Sticken, Schuhflickerei, Kochen, Setzen und
Drucken.
Besonders wird Handfertigkeitsunterricht im Sticken, Setzen
und Drucken, Korbmachen und Stuhlflechten Schülern über 14 Jahren
erteilt, welche zu schwächlich sind, um außerhalb der Schule zu arbeiten
oder welche so verkrüppelt sind, daß sie besonderen Unterricht ver¬
langen. Aufträge für die Anstalt werden aus dem Publikum ent¬
gegengenommen und die Schüler von dem empfangenen Gelde be¬
zahlt. Zur Zeit rentiert sich die Druckerei am besten, in zweiter
Linie sind gute Einkünfte aus der Rohrflechterei und der Näh¬
abteilung zu verzeichnen. Die Einnahmen der verschiedenen Ab¬
teilungen nehmen beständig zu. In der Korbflechterei werden sehr
brauchbare Körbe in allen Größen angefertigt, die Druckerei druckt
und bindet kleine Hefte und hat viele Aufträge für Zirkulare, Pro¬
gramme u. s. w. In der Nähabteilung werden Baby- und Kinder¬
kleider verfertigt.
Die Schule untersteht einem weiblichen Oberhaupt, welches mit
3 Volksschullehrern und 9 besonders ausgebildeten Lehrern sich in
die Arbeit teilt.
Der Zweck, der zur Gründung der Schule führte, war, ver¬
krüppelten Kindern eine ihren Leiden entsprechende besondere Er¬
ziehung und Ausbildung zu gewähren. Die Notwendigkeit einer
Digitized by C^ooQle
Krüppelfürsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika.
393
solchen Schule geht aus dem großen Erfolg hervor, welchen das
Unternehmen gehabt hat. Die Schulzimmer sind mit besonderen
Pulten und Stühlen versehen worden, welche den Kindern speziell
angepaßt sind, Ruhepausen werden vom Arzte verschrieben. Eine
gewisse Stundenanzahl wird in jeder Woche dem Turnen gewidmet,
um die Deformitäten auszugleichen und auch den allgemeinen Ge¬
sundheitszustand zu heben.
Eine Anzahl Damen, welche der Schule ihr Interesse zuge¬
wandt haben, gründeten ein Hilfskomitee, in dem jedes Mitglied sich
verpflichtet für mehrere Schüler Sorge zu tragen. Sie besuchen ihre
Schützlinge in den Wohnungen, sorgen aus den Mitteln des Hilfs¬
fonds für Kleidung, Apparate, Medizin, Milch u. s. w., wenn es
notwendig ist. Jeder, der mit einem ärztlichen Attest ausgestattet
ist, darf die Schule besuchen ohne Unterschied der Rasse, Nationalität
oder Religion. Es wird kein Schulgeld erhoben, sondern städtische
und staatliche Mittel bestreiten die Kosten. Keiner der Direktoren
erhält eine Vergütung für seine Dienste. Die Vorsteherin, Lehrer,
Haushälter und Dienstboten sind die einzigen bezahlten Kräfte an
der Schule.
New England Peabody Home for Crippled and Deformed Children,
Dieses Haus wurde im Jahre 1894 gegründet und beabsichtigt
verkrüppelten Kindern eine sachgemäße, chirurgische Behandlung,
Pflege und Unterricht zu geben, ihnen eine angemessene Um¬
gebung zu schaflfen und sie zu lehren, sich im späteren Leben
ihren Unterhalt selbst zu verdienen. In einzelnen Fällen unternimmt
es die Anstalt sogar, hoflfnungslos verkrüppelte Kinder in den ersten
Lebensjahren aufzunehmen. Die Anstalt ist für 30 Kinder einge¬
richtet und in Hyde Park, 10 Meilen von Boston, auf einem großen,
waldigen Grundstück gelegen. Die Kinder stehen unter der Aufsicht
von zwei orthopädischen Chirurgen und einem anderen Arzt. Eine
geprüfte Krankenschwester beaufsichtigt die Kinder und sorgt zu¬
gleich für das Operationszimmer, welches für einige der chirurgi¬
schen Fälle benutzt wird. Die Patienten leben ganz und gar in der
Anstalt. Die Anstalt wird durch private Wohltätigkeit und Beiträge
unterhalten. Die Kinder erhalten Unterricht in den Elementarfächern
durch einen Hauslehrer und als einen Teil ihrer Erziehung Unter¬
richt im Korbmachen, Rohrflechten und Sloyd. Aufgenommen sollen
nur solche Kinder werden, deren Eltern unmöglich selbst in ange-
Digitized by L^ooQle
394
Robert W. Lovett.
messener Weise für sie sorgen können, bevorzugt werden Waisen
oder Halbwaisen. Jedes Kind wird unter der Bedingung, wenigstens
2 Jahre in der Anstalt zu verbleiben, aufgenommen. Wenn not¬
wendig, erstreckt sich der Aufenthalt bis zu den Pubertätsjahren,
und Mädchen wird in einigen Fällen sogar ein noch längerer Auf¬
enthalt gewährt. Hat das Kind gelernt seinen Unterhalt zu ver¬
dienen und ist die Kur beendigt, so wird es nach Hause zu seinen
Eltern entlassen.
Minnesota State Hospital for Indigent Crippled Children St. Paul,
Minnesota. Auskunft von Dr. A. J. Gillette, Surgeon in Chief.
Im Staate Minnesota wurde im Jahre 1891 ein Gesetz vorge¬
legt zur Bewilligung von Geldmitteln zur Fürsorge und Behandlung
bedürftiger verkrüppelter Kinder im Staate Minnesota. — Späterhin
schenkte die Provinz Ramsey, Minnesota, dem Staat ein Kranken¬
haus mit 100 Betten, ebenso ein kleines Gebäude mit 4 Morgen
Land, welches zu Unterrichtszwecken verwendet wurde. — Die
Bürger von St. Paul schenkten 23 Morgen Land am Phelan Park,
welche jetzt im Sommer als Erholungsstätten nutzbar gemacht wor¬
den sind. Die Staatsverwaltung bewilligt in jeder Session Geld zur
Unterhaltung der Anstalt. In der letzten Session wurden 32000 Dollar
bewilligt, d. h. 16 000 Dollar jährlich.
Die Patienten der Anstalt erhalten Schulunterricht. Aufge-
nommen werden alle verkrüppelten oder mißgestalteten Kinder sowie
solche, welche von Krankheiten befallen sind, welche Deformitäten
zur Folge haben, unter der Bedingung, daß sie wenigstens 1 Jahr
im Staate Minnesota gelebt haben.
Der Durchschnittsbesuch beläuft sich während des Jahres auf
60 Schüler, und die Durchschnittszahl der Kinder im Krankenhaus
ist ungefähr 70. Im ganzen sind bis jetzt 417 Kinder behandelt
worden.
Der Schulunterricht umfaßt 7 Klassen und 1 Vorschuljahr.
Im Anschluß an letzteres wird ein Kindergarten abgehalten. Die
Fächer, welche gelehrt werden, sind: Geschichte, Geographie, Lesen,
Grammatik, Orthographie, Rechnen und Schreiben. Der Lehrplan ist
derselbe wie in den Volksschulen des Staates Minnesota, und es werden
auch dieselben Lehrbücher benutzt. Ueber die Leistungen der Schüler
wird täglich Buch geführt, und monatliche Zeugnisse werden den
Eltern nach Haus gesandt.
Digitized by C^ooQle
KrUppelfUrsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika.
395
Einige Kinder sind vollständig auf die Erziehung im Hospital
angewiesen, und es wird daher am meisten Gewicht auf richtiges
Lesen, Schreiben, Buchstabieren und Rechnen gelegt. Besondere
Aufmerksamkeit wird auch dem korrekten Sprechen gewidmet.
Es wird beabsichtigt, die Abteilungen für Putzmachen, Schnei¬
dern, Holzschnitzen, Kunsttischlerei, Zeichnen, Stuhlflechten, Steno¬
graphie, Schreibmaschine und Setzen zu erweitern und zu vergrößern.
— Aufträge, welche die Kinder für Stickereien und Korbflechten
erhalten haben, sind durch sehr ermutigende Resultate belohnt
worden. Es hat sich ergeben, daß eine solche Schule nicht nur sehr
praktisch ist, sondern auch als Heilmittel nicht unterschätzt werden
darf. Man kann dies verstehen, wenn man sich z. B. die vielen
Monate vergegenwärtigt, welche ein tuberkulöses Kind im Kranken¬
haus zubringen muß. Dieses und das gesellige Leben der Anstalt
tragen viel zur Fröhlichkeit und zum Wohlsein des Kindes bei und
machen aus dem mißgestimmten kranken schließlich ein normal
fröhliches Kind.
Schools for Cripples (Schule für Krüppel). Chicago, IIL
Auskunft von Dr. John Ridlon, Chicago.
Im Jahre 1899 gründete das Schulkomitee in Chicago in einem
der Elementarschulgebäude eine Schule für verkrüppelte Kinder und
eröfifnete später eine zweite in einem anderen Stadtteil. Die zweite
Schule wird von ungefähr 40 Schülern besucht, die täglich von und
nach Hause in drei Omnibussen gefahren werden. Die ärztliche Auf¬
sicht der Kinder wird durch den regulären Arzt des Schulkomitees
besorgt, und die orthopädische Behandlung findet in der Klinik der
Northwestern Universität statt.
Die erste Schule ist durch ein spezielles Schulgebäude von
100000 Dollar Wert ersetzt worden, welches von dem Chicagoer
Schulkomitee gebaut wurde. Es ist ein einstöckiges Gebäude mit
einem großen Dachgeschoß für Handfertigkeitsunterricht. Dieser
Unterricht besteht aus Drucken, Buchbinden, Papierfalten, Korb¬
machen und Sloyd. Sechs Wagen werden gebraucht, um die
100 Kinder von und nach der Schule zu bringen. Die Zahl der
Schüler beträgt 80—100.
The New York State Hospital for the Care of Crippled and De-
formed Children. New York. Auskunft von Dr. Newton,
M. ShaflFer, Surgeon in Chief and Superintendent.
Digitized by
Google
396
Robert W. Lovett.
Das Institut wurde im Jahre 1900 vom Staat gegründet und
wird auch von demselben unterhalten. Die Anstalt hat 45 Betten,
und die Patienten wohnen im Hause, jedoch ist das Institut kein
Krankenhaus oder Asyl. Die Patienten verbleiben durchschnittlich
15 Monate bis 1^2 Jahr in der Anstalt. Die Behandlung findet
durch einen Oberarzt, einen Assistenzarzt, einen Hausarzt und vier
Schwestern statt. Außerdem besteht noch ein Stab von 29 kon¬
sultierenden Aerzten.
Der Schulkursus umfaßt alle Elementarfächer, und die Lehrer
sind staatlich angestellt. Der Handfertigkeitsunterricht besteht in
Nähen, Sticken, Rohrflechten, Telegraphie, Stenographie, Schreib¬
maschine u. s. w.
Der Zweck der Anstalt ist es, bedürftige und arme Krüppel
zu erziehen und ihnen genügend lange Behandlung zu gewähren,
eventuell dieselbe so lange aufrecht zu erhalten, besonders bei
tuberkulösen Gelenkserkrankungen, bis die Krankheitsherde er¬
loschen sind.
Die Anstalt liegt in Hawerstraw, New York.
The Widener Memorial Industrial Training School for Crippled Chil-
dren. Auskunft von Dr. de Forest Willard, Philadelphia,
Surgeon in Chief.
Diese Anstalt wurde von Herrn P. A. B. Widener mit einem
Kostenaufwand von einer Million Dollar gegründet. Das Grundstück
ist 32 Morgen groß mit reichem Waldbestand und liegt innerhalb
der Stadtgrenzen von Philadelphia, Pennsylvania. Derselbe Geber
beschenkte und eröfinete die Anstalt im Jahre 1906 mit einem Fonds
von 3 Millionen Dollar.
Die Anstalt besteht aus einer Abteilung für den Handgewerbe¬
unterricht, einer Schule^ einem Krankenhaus, kleineren Villen und
einem Verwaltungshaus, sowie den Gebäuden, welche die Anstalt mit
Licht und Heizung versorgen, einer Werkstatt, Isolierbaracken,
Ställen u. s. w.
Die Anstalt kann 100 Schüler unterbringen, welche nur unter
10 Jahren zugelassen werden und bis zu ihrem 21. Jahr dort ver¬
bleiben oder so lange, bis ihre Erziehung vollendet ist Und sie ihren
Lebensunterhalt verdienen können.
Die Krankenzimmer sind derartig gebaut, daß sie alle offene
sonnige Veranden haben; ein Operationssaal, elektrische Apparate
Digitized by
Google
Krüppelfürsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika. 397
sowie ein Turnsaal, Turngeräte im Freien und Spielplätze sind vor¬
gesehen.
Die Kinder erhalten ihre vollständige Erziehung, unter an¬
derem wird auch Instrumentalmusik und Singen gelehrt, Land¬
wirtschaft, Gärtnerei, Buchführung, Stenographie, Telegraphie, Haus¬
haltung, Nähen und Schneidern wird getrieben, ebenso das An¬
fertigen von Schuhen und Schienen, Holzarbeiten und Gravieren.
Ein Kursus zur Ausbildung als Bibliothekar oder Sekretär wird
ebenfalls abgehalten; jeder Schüler erhält die Ausbildung, welche für
ihn am geeignetsten erscheint und ihm später die besten Chancen
bietet, seinen Unterhalt zu erwerben.
Das Ziel der Anstalt ist, ihren Schülern eine gute geistige und
körperliche, moralische und religiöse Erziehung zu geben, ihren
Fleiß, Ordnung und Selbstachtung wachzurufen und sie zu befähigen,
ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Gute Gewohnheiten werden ge¬
pflegt; man hat unter anderem eine Sparkasse gegründet. — Später
soll ein einfaches Haus zur Aufnahme für die entlassenen Schüler
gegründet werden, wo sie einen gesunden und guten Aufenthalt
finden, der im Einklang mit ihrem Verdienst steht.
The Massachusetts Hospital School Canton (Boston Medical and Surgical
Journal, 5. März 1908, S. 331).
Im Dezember 1907 öffnete diese Anstalt ihre Türen zum Emp¬
fang von Patienten und hat bis jetzt 50 verkrüppelte Kinder unter
ihrem Schutz und viele Gesuche, die aber bisher zurückgewiesen
Worden sind. Die Anstalt ist gegenwärtig für 150 Kinder einge¬
richtet, doch soll die Verwaltung 300 versorgen, für welche Anzahl
Kinder der Staat ursprünglich die Summe von 300000 Dollar im
Jahre 1905 ausgesetzt hatte. Der eigentliche Name der Anstalt
„The Massachusetts Home and School for Crippled and Deforraed
Children“ definiert ihren Zweck viel besser als der verkürzte offi¬
zielle Name.
Die Schule ist von einem Direktorium von fünf Verwaltern ge¬
plant und gegründet worden, darunter von zwei Aerzten. Alle fünf
Mitglieder sind vom Gouverneur des Staates ernannt worden. Die
Schüler wohnen in der Anstalt und erhalten wissenschaftlichen und
handgewerblichen Unterricht sowie ärztliche Behandlung und Ver¬
pflegung. Die Anstalt liegt in ländlicher Umgebung in Canton, un¬
gefähr 15 Meilen von Boston.
Digitized by L^ooQle
398
Robert W. Lovett.
Cripple School. Cleveland, Ohio. Auskunft von Mrs. Nesbett.
Die Schule besteht aus einem Kindergarten und den unteren
Klassen der Volksschule, welche täglich im Goodrich Settlement Haus
abgehalten werden. Außerdem wird an jedem Sonnabend Hand¬
fertigkeitsunterricht erteilt. Gegenwärtig nehmen 27 Kinder am
Kindergarten und Schulunterricht teil. Im ganzen beläuft sich der
Besuch auf 43 Kinder jährlich; eine Pflegerin kontrolliert den
Schulbesuch, besucht die Abwesenden und berichtet über neue
Schüler zur Aufnahme. Sie hat 202 Besuche während eines Monate
gemacht. Sobald die Eltern in die Aufnahme der Kinder in die
Schule eingewilligt haben, werden sie zur Untersuchung dem Lake-
sidehospital zugewiesen. Operative Eingriffe werden dort ausgeführt
oder die Kinder mit Krücken, Schienen, Gipsverbänden u. s. w. ver¬
sehen, für deren Kosten, wenn möglich, die Eltern aufzukommen
haben. Nach Operationen finden die Kinder Aufnahme in dem
Rainton Cottage, einem Erholungsheim. 8 erfolgreiche Operationen
wurden während des letzten Jahres ausgeführt, 8 Kinder wurden
mit Schienen ausgerüstet, 3 Gips verbände und ein künstliches Bein
angelegt. 15 andere sind dort zur Beobachtung für eventuelle Ope¬
ration, doch ist es oft schwer, die Einwilligung der Eltern zu erlangen.
Um 11 Uhr wird in der Schule ein Frühstück serviert, Suppe,
Brot und Butter. Letztere Einrichtung sowie die Fahrt in der
frischen Luft von und nach der Schule hat sich als segensreich
erwiesen.
Holy Cross House. Cleveland, Ohio. Auskunft aus dem dritten
Jahresbericht.
Der Zweck der Schule ist es, verkrüppelten Kindern ein Heim
und ärztliche Aufsicht zu bieten, verbunden mit einer einfachen Er¬
ziehung und Unterricht in Gewerben, welche ihnen eine nützliche
Beschäftigung gewähren. — Das Haus wird bis jetzt gänzlich durch
private Wohltätigkeit unterhalten, doch hofft man, daß die Stadt
einen solchen Vorteil in der Einrichtung erblicken wird, um bereit¬
willigst zur Unterhaltung des Instituts beizutragen. Die Patienten
stehen unter ärztlicher Aufsicht. Die Anstalt kann 18 Patienten
aufnehmen, welche nach ihrer Heilung entlassen werden. Die zur
Aufnahme kommenden Fälle sind größtenteils solche, wie sie im
vorhergehenden von anderen Anstalten beschrieben worden sind.
Die noch zu erwähnenden Anstalten sind in erster Linie
Digitized by C^ooQle
Krüppelfürsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika.
399
Krankenhäuser, welche aber gelegentlich den Kindern neben der Be¬
handlung Unterricht erteilen lassen.
The New York Society for the Relief of the Ruptured and Crippled.
Auskunft von Dr. V. P. Gibney, New York, Surgeon in Chief.
Diese Anstalt wurde im Jahre 1863 gegründet, und obgleich
in erster Linie ein Krankenhaus, unternimmt sie es, ihren Patienten
Unterricht zu erteilen. Die Durchschnittszahl der Patienten im
Krankenhaus beträgt täglich 199, wovon ungefähr 124 am Schul¬
unterricht teilnehmen. Das Krankenhaus verfügt über 250 Betten
und hat alle modernen Einrichtungen eines solchen Institutes, ein¬
schließlich eines Turnsaales und einer wohlausgestatteten Werkstatt
zur Anfertigung orthopädischer Apparate. Die Anstalt wird zum
Teil durch wohltätige Stiftungen, zum Teil durch Zahlungen der
Stadt und des Staates für überwiesene Patienten unterhalten. Die
Poliklinik weist täglich einen Besuch von 148 Patienten auf.
Der Schulunterricht besteht aus regelrechtem Elementarunter¬
richt und einem Kindergarten. Die Schule wird in regelmäßigen
Zwischenräumen vom Schulinspektor besucht. Handfertigkeitsunter¬
richt wird in folgenden Fächern erteilt: Korbmachen, Nähen, Pyro-
graphie u. s. w.
The New York Orthopedic Dispensary and Hospital. Auskunft von
The New York Orthop. Dispensary and Hospital.
Die Anstalt wurde im Jahre 1866 gegründet, und die Mittel
zur Unterhaltung kommen aus freiwilligen Beiträgen und einem
kleinen Fonds. Die Anstalt ist in erster Linie Hospital und Poli¬
klinik, doch wird den Patienten im Hospital auch etwas Schulunter¬
richt erteilt. Das Hospital besteht aus den Operationsräumen und
der Poliklinik, einem Zweiginstitut auf dem Lande mit einer Auf¬
nahmemöglichkeit für 65 Patienten, während die Poliklinik rund
4000 Kranke jährlich versorgt. Das Zweiginstitut und die Gewerbe¬
schule, welche im Jahre 1904 eröffnet wurden, weisen einen Besuch
von 156 Patienten auf. Rekonvaleszenten werden vom Hospital aus
dorthin gesandt und bleiben, bis ihre Erziehung und Kur voll¬
endet sind.
Die Schule erteilt Elementarunterricht und handgewerblichen
Unterricht in Mechanik, Haushaltung, Fein Wäscherei, Nähen, Gärt¬
nerei u. s. w.
Digitized by L^ooQle
400 Robert W. Lovett. Krüppelfürsorge in den Ver. Staaten von Amerika.
üniversity of Pennsylvania. Orthopedic Department. Auskunft Ton
Dr. de Forest Willard, Philadelphia, Professor of Orthop. Sur-
gery and Surgeon in Charge.
In der orthopädischen Abteilung des Universitätskrankenhauses
können 50 Patienten aufgenommen werden. Das Jahr der Gründung
ist 1877. Eine vollständige und moderne Einrichtung von Kranken¬
zimmern, Operations- und Verbandzimmern, sowie Veranden, Turn¬
saal und mechanische Werkstatt sind vorhanden und stehen unter
Aufsicht von acht Aerzten und Assistenzärzten.
Schulunterricht wird täglich durch ins Haus kommende Lehrer
abgehalten. Die Lehrfächer sind: Lesen, Buchstabieren, Rechnen,
Musik u. s. w.
Handfertigkeitsunterricht wird nicht erteilt.
Digitized by L^ooQle
XXVIII.
Bericht über das 10jährige Bestehen der „Werkstatt
für Krüppel an der orthopädischen Abteilung der
Maximilian-Heilanstalt“ in St. Petersburg (Direktor;
Prof. Welliaminoff').
Von
Dr. Izabella Czarnomska^ Arzt der Stiftung.
Mit 22 Abbildungen.
Es möchte allerdings wohl scheinen, daß Anstalten, deren
Aufgabe es ist, Krüppel ein Handwerk erlernen zu lassen, eher zu
der Kategorie der öffentlichen Wohltätigkeitsanstalten als zu der¬
jenigen medizinischer Institute gerechnet werden könnten. Aber
schon die Benennung „Werkstatt an der orthopädischen Abteilung
der Maximilian-Heilanstalt** bezeugt, daß Anzeichen vorhanden sind^
diese Anstalt auch als Heilanstalt zu betrachten.
Die Orthopädie beschäftigt sich ja ausschließlich mit solchen
Leidenden, die entweder Kandidaten für Verkrüppelung oder schon
verkrüppelt sind. Zur ersten Kategorie gehören alle die Leidenden,
bei denen ein Krankheitsprozeß den Bewegungsmechanismus des
menschlichen Körpers gestört, die Statik zerrüttet hat und zu
deren Heilung man außer operativem Eingriff und klimatischer Heil¬
kur noch solche Existenzbedingungen schaffen muß, unter denen die
betreffenden Körperteile vollständige Ruhe genießen können, oder es
erfordern diese Leidenden außer Massage und elektrischer Behand¬
lung noch eine regelmäßige, ineinandergreifende Tätigkeit der be¬
troffenen Gliedmaßen, womit einer hochgradigen Entwicklung der
Verkrüppelung vorgebeugt werden soll.
In diesen beiden Fällen ist die Anwendung orthopädischer Vor¬
richtungen das einzig Richtige, da letztere die mechanisch richtige
*) Vortrag für den VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für oitho-
pädisehe Chirurgie am 25. April 1908.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 26
Digitized by C^ooQle
402
Izabella Czarnomska.
Behandlung sichert und da die Kranken, meist schon Chroniker, nicht
auf lange Jahre hinaus den gewöhnlichen Lebensverhältnissen ent¬
zogen werden, was besonders für schulpflichtige Kinder von größter
Bedeutung ist.
Die Anwendung des Gipsverbandes gibt wohl die Möglichkeit,
auch ohne spezielle orthopädische Vorrichtungen den beschädigten
Körperteilen die vollständigste Ruhe zu schaffen, aber meistens wird
er in akuten Fällen oder in Fällen, die akut zu werden drohen, an¬
gewandt, und kann der Gipsverband nur eine gewisse Zeitlang an¬
gewandt werden. Sobald der Kranke im stände ist, in seine
gewöhnlichen Lebensverhältnisse zurückzukehren, muß er von einem
Rezidiv, von einer neuen Verletzung verschont bleiben, um beim
Gehen oder Arbeiten die erlangte Besserung nicht wieder zu ver¬
lieren, und in diesem Falle ist der Gipsverband nicht anwendbar.
Man greift, sobald die Patienten zur wohlhabenden Klasse gehören
und eine mechanisch mangelnde Funktion zu ersetzen ist, zu den
orthopädischen Vorrichtungen, auch zu Apparaten und besonderem
Schuhwerk. Aber in solchen Fällen, wo es sich um unbemittelte
Patienten handelt, wird die Lage des Arztes wirklich tragisch.
Wie oft sind Krücken, Ausreckapparate, Korsette, in denen der
Kranke wenigstens arbeiten könnte, orthopädisches Schuh werk —
der unumgängliche Ratschlag, das einzig wirksame Rezept, und wie
oft wird dazu noch eine klimatische Kur und ein gewisses Regime
verschrieben, und man weiß doch so gut, daß der mittellose Kranke
weder das erstere noch das zweite zu leisten im stände ist.
In solchen Fällen ist die Lage des Arztes eine wahrhaft trost¬
lose, und dieses empfinden alle Aerzte, die in Heilanstalten, städtischen
und ländlichen Krankenhäusern, sogar in Kliniken tätig sind, wo sie
mit den mittellosen Schichten der Bevölkerung zu tun haben. Solche
Kranke wandern von Krankenhaus zu Krankenhaus, quälen sich jahre¬
lang ab, bis sie endlich zum vollständigen Krüppel werden oder dem
sich immer verschlimmernden Krankheitsprozeß erliegen. Aber nicht
erquickender ist die Lage des Arztes in betreff der zweiten Kate¬
gorie der Kranken, der schon vollständigen Krüppel, die doch ihren
einzigen Trost und ihr ganzes Hoffen in die Kunst des Chirurgen
und Orthopäden setzen.
Aber leider ist die Chirurgie, trotz ihrer glänzenden Fort¬
schritte, nicht immer im stände, auf operativem Wege die gelähmte
Funktion und die verlorene Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. In
Digitized by C^ooQle
Bericht über das lOjührige Bestehen der .Werkstatt für Krüppel etc.*. 403
manchen Fällen müssen nach dem operativen Eingriff die ortho¬
pädischen Vorrichtungen zu Hilfe gezogen werden, um das mechanische
Gleichgewicht zu regeln.
Und wie oft, das Leben seines Patienten rettend, muß der
Chirurg seinen Kranken eines Gliedes berauben und ihn demgemäß
zum Krüppel — heilen! Und dann steigt wohl manchmal im Herzen
des Chirurgen die Frage auf, wie dieser vom Tode gerettete
Patient auch vor dem Hungertode zu schützen, ihm wenigstens ein
wenig die verlorene Arbeitsfähigkeit zu ersetzen sei. Man kann
getrost behaupten, daß es wohl keinen Chirurgen gibt, dem diese
Frage nicht quälend im Sinne stand. In diesem Falle muß not¬
wendigerweise zu orthopädischer Hilfe, zu künstlichen Gliedmaßen
aller Art gegriffen werden. Mögen solche aber auch vorhanden sein, so
kann ein Einarmiger oder Arm- und Fußloser doch nur arbeitsfähig
werden, wenn er in solche Verhältnisse gestellt wird, wo man seiner
Verkrüppelung helfend entgegentritt, ihm die Arbeit erleichtert, ihn
lehrt, wie in diesen neuerstandenen Verhältnissen zu arbeiten ist, und
die ihm fehlende Arbeitsfähigkeit durch spezielle Methoden oder
mechanische Vorrichtungen zu ersetzen sucht.
Von alters her schon nahm die Frage der Fürsorge für Krüppel
die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch, löste sich aber meisten¬
teils in einer wohltätigen Versorgung solcher arbeitsunfähigen
Menschen.
Erst im Jahre 1832 stößt man auf eine Verwirklichung
dieser Art Arbeitsversorgung, die durch die Gründung einer Schule
für einarmige Knaben in München durch Johann Edler von Kurz
zum Ausdruck kam.
Und so hat die Unterstützung der Krüppel durch Arbeitser¬
möglichung de facto ihren Anfang zuerst in Westeuropa genommen.
Aber weder die Frage orthopädischer Hilfe für breite Schichten der
Bevölkerung, noch die Frage über den Zusammenhang dieser Hilfe
mit einer Erwerbsmöglichkeit für die Verkrüppelten hat das Interesse
und die Aufmerksamkeit der Aerzte, geschweige denn die der Ge¬
sellschaft erregt. Und doch sind es gerade die Aerzte, die sozu¬
sagen am Urquell all dieses Krüppelelendes stehen; sie sind es, die sich
mit denen abmühen, die bald gezwungen werden, hilfesuchend sich
an die öffentliche und private Wohltätigkeit zu wenden; sie sind es,
die am besten die Ursachen der Verkrüppelung kennen können und
kennen müssen, und daher könnten sie am besten Mittel und Wege
Digitized by L^ooQle
404
Izabella Czarnombka.
weisen, um Verkrüppelungen zu vermeiden, und können sie am
ehesten die Initiatoren einer rationellen Beantwortung der KrQppel-
versorgungsfrage sein.
Mit jedem Tage erweist es sich mehr und mehr, daß einem
Krüppel rationell nur durch Arbeit geholfen werden kann, natürlich
unter der Bedingung, daß ihm orthopädische Hilfe gesichert ist. Auch
solche Leidende, die Gefahr laufen zu Krüppeln zu werden, können
bei einer richtigen orthopädischen Behandlung vor vollständiger Ver¬
krüppelung bewahrt werden. Daraus ergibt es sich ganz deutlich,
wie groß das Bedürfnis sein muß nach einer Anstalt, die sich zum
Ziele setzt, Krüppel arbeitsfähig zu machen und dabei eine ortho¬
pädische Heilanstalt zu sein.
Der ursprüngliche Gedanke einer solchen Vereinigung dieser
zwei Anstalten gehört dem dänischen Pastor Hans Knudsen, welcher
unter Mitwirkung von Frau Petersen in Kopenhagen eine Poliklinik
gründete und daneben im Jahre 1872 eine Schule für Krüppel er-
öffnete. Was die orthopädische Seite in dieser dänischen Anstalt
betraf, so hatte sie hauptsächlich zum Zweck, die Krüppel überhaupt
zur Arbeit fähig zu machen, die Verkrüppelungen entweder auf
operativem Wege oder mechanotherapeutisch, oder durch künstliche
Gliedmaßen zu verringern und zu erleichtern und die verlorene
Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Aber erst der russische Chirurg
Professor N. A. Welliaminoff war es, der den Plan faßte, die
Krüppel ein orthopädisches Handwerk erlernen zu lassen, sich ihrer
persönlichen Erfahrung zu bedienen, urn mit ihrer Beihilfe den
technischen Teil der Frage zu verbessern, den Kostenpreis der Er¬
zeugung oder Fabrikation zu verringern, damit die orthopädische
Hilfe in vervollkoramneter Weise auch unbemittelten Schichten der
Bevölkerung zugänglich würde. Ferner mußte auch in Erwägung
gezogen werden, wie die Summen, die für die Krüppel einfließen
würden, verausgabt werden sollten, um nicht nur ihren Tagesver¬
dienst, sondern auch die orthopädische Behandlung den Unbemittelten
zu sichern. Dank der Initiative des Prof. N. A. Welliaminoff, mit
Genehmigung der Hohen Protektorin des Maximilian-Hospitals,
Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Prinzessin Eugenie von Oldenburg,
erwuchs bei der orthopädischen Abteilung des Maximilian-Hospitals
die am 14. Oktober 1897 eröffnete „Werkstatt zur Erlernung eines
Handwerks für Krüppel“. Für diese Anstalt, welche der erste kleine
Versuch zur Verwirklichung der oben ausgesprochenen Ideen sein
Digitized by C^ooQle
Bericht über das 10jährige Bestehen der ,Werkstatt für Krüppel etc. •. 405
sollte, wurden weder aus öflFentlichen noch aus Staatsmitteln irgend¬
welche Beiträge beigesteuert. Die einzigen Mittel bestanden aus den
bescheidenen Scherflein, die dank der unermüdlichen Fürsorge der
Hospitalärzte gesammelt wurden, und dementsprechend dürfen alle
Aerzte des Maximilian-Hospitals auf dieses Werk als auf ihre
Schöpfung blicken, und bis auf den heutigen Tag sind die frei¬
willigen Beiträge und die große Mühe und Fürsorge der Aerzte die
einzige Unterstützung dieser Anstalt.
Im ersten Jahre bestand die Werkstatt aus einer kleinen,
3 Zimmer enthaltenden Wohnung in demselben Gebäude, wo sich
das Hospital befindet. Augenblicklich besteht die Werkstatt aus
14 Räumen in der unteren Etage desselben Gebäudes.
Anfänglich traten nur 2 Schüler ein: ein Knabe mit einer
gänzlichen Fußlähmung und teilweiser Lähmung der Finger und ein
Mädchen mit vielfachen rhachitischen Verkrümmungen. Die Kinder
besuchten in den ersten Jahren die Anstalt nur am Tage, ohne darin
zu logieren.
Als Lehrerin wurde die Finnländerin J. K. Lindström ein¬
geladen; sie hatte die gewerbliche Schule in Abo absolviert, war
mit den in der Helsingforser Schule für Krüppel angewandten
Unterrichtsmethoden bekannt und konnte hier das Schreinern, Weben,
Flechten und Bürstenmachen lehren.
Die orthopädischen Arbeiten wurden bei persönlicher Teilnahme
des an der Spitze der „Werkstatt“ stehenden Arztes ausgeführt,
und wie die Schüler so auch die Lehrerin wurden dazu angelernt.
Natürlicherweise beschränkte sich dadurch die Produktion orthopädi¬
scher Vorrichtungen auf höchst einfache Apparate. Aber dennoch
erhielten im Laufe der zwei ersten Jahre 38 Kranke unentgeltlich
orthopädische Hilfsmittel. Schwer war es den Wünschen der Kranken
entgegenzukommen, sobald es sich um orthopädisches Schuhwerk und
Apparate mit komplizierten Metallarbeiten handelte.
In Anbetracht dessen wurde im Jahre 1899 eine spezielle
Schuhmacherabteilung gegründet und einem Spezialisten anvertraut.
Im Jahre 1900 erwarb die Werkstatt die nötigen Drechsel-
und Schlosserinstrumente, richtete eine Schmiede ein und verschrieb
sich einen Mechaniker, der auch die Schlosserarbeit gut verstand,
und einen Bandagenmeister.
Aber die Abwesenheit eines Lehrers für Einarmige und Arm¬
lose war in der Werkstatt recht fühlbar; solche Lehrer gab es in
Digitized by C^ooQle
406
Izabella Czarnomska.
Rußland damals absolut nicht, und die Eopenhagener Schule besaß
im ganzen nur drei Lehrer, die in der eigenen Schule angestellt
waren. Deshalb entschloß man sich, den als ersten eingetretenen
Schüler P. N. Alexandrow nach Kopenhagen in die Schule zu
schicken, um die Methode der Unterweisung Einarmiger und Arm¬
loser zu erlernen, worauf er nach beendigter Lehrzeit als Lehrer
an der „Werkstatt* seit dem Jahre 1903 angestellt worden ist.
Mit der Anstellung des Alexandrow hob sich die Unterweisungs¬
methode und die Arbeit der Krüppel wesentlich, aber es schien, als
könnte man die Sachlage noch verbessern, indem man solche Vor¬
richtungen anbrachte, die die Arbeit erleichtern und die verschiedenen
existierenden Mängel ersetzen könnten. Diese Vorrichtungen mußten
in der orthopädischen, mechanischen Abteilung angefertigt werden
und zwar von einem solchen Meister, der nicht nur die Technik
beherrschen sollte, sondern dessen Hauptidee die Bekämpfung der
Hindernisse, die sich den Krüppeln bei ihrer Arbeit darbieten,
sein sollte.
Der im Jahre 1903 in der „Werkstatt* angestellte Schlosser¬
meister W. 6. Sorokoumow, ein Mann von selten glänzender tech¬
nischer Begabung, selbst als Erwachsener zum Krüppel durch den
Verlust eines Beines geworden, widmete gerade dieser Frage die
größte Aufmerksamkeit und ersann Vorrichtungen und Apparate,
welche die Arbeitsfähigkeit erhöhen oder wiederherstellen könnten.
Dank dieser Verschmelzung von Technik und Arbeit schritt
die „Werkstatt* weit voraus, ihr Vorbild, die dänische Anstalt, über¬
treffend, und könnte jetzt fast selbst zum Muster dienen.
Im Jahre 1904 erweiterte sich die orthopädische Abteilung
ganz besonders, da sie die Bestellungen für die Nöte der Kriegs¬
zeit erhielt.
Im Jahre 1905, in Anbetracht der zahlreichen Opfer des russisch¬
japanischen Krieges, wurde auf Wunsch des Professor Welliamino ff
die Frage erörtert, ob die verkrüppelten Krieger nicht auch in die
Werkstatt zugelassen werden könnten. Da diese aber ihr Quartier
in der Nähe der Werkstatt aufschlagen mußten, wurde mit Ge¬
nehmigung Ihrer Majestät der Kaiserin Maria Theodorowna neben
der Werkstatt ein „Heim“ im Namen der Kaiserin Maria Theodorowna
für die verkrüppelten Krieger, die ein Handwerk erlernen wollten,
gegründet, die Werkstatt vergrößert und erweitert. Da vom
„Kriegerheim* hier gesprochen wird, ist es von nöten mitzuteilen,
Digitized by L^ooQle
Bericht über das 10jährige Bestehen der .Werkstatt für Krüppel etc.*. 407
wie es in dieser Hinsicht mit den Lehrlingen der Werkstatt be^*
schaflFen war.
Das tägliche Besuchen war angesichts der weiten Entfernungen
der Hauptstadt höchst mühevoll und peinlich und hinderte in den
ersten Jahren trotz des größten Verlangens das Besuchen der Werk¬
statt. Deshalb wurde im Jahre 1901 ein .Verein zur Fürsorge für
Verkrüppelte, die ein Handwerk erlernen“, gegründet, welcher aus
Privatstiftungen ein Heim in demselben Gebäude, wo die Werkstatt
sich befindet, eröflFnete. Dieser Verein hatte sich als Ziel gestellt,
nicht nur den in der Werkstatt Arbeitenden, ihrer Gliedmaßen Be¬
raubten eine Unterkunft zu schaffen, sondern sie auch andere Ar¬
beiten erlernen zu lassen, sich ihrer Nöte in der freien Zeit anzu¬
nehmen, ihnen demgemäß die Verhältnisse ihres eigenen Heims zu
ersetzen und sie zu tüchtigen, brauchbaren Arbeitern und zu acht¬
baren Leuten heranzuziehen.
In der Werkstatt werden Krüppel aufgenommen im Alter von
14—30 Jahren. Die Lehrzeit beträgt für Krüppel, die ziemlich
arbeitsfähig sind, 4 Jahre. Wenn nach Beendigung 4jähriger Lehr¬
zeit der Krüppel fähig ist, selbständige, wenn auch nicht besonders
schwierige Arbeiten zu leisten, bleibt er entweder in der Werkstatt
mit Gehalt oder bekommt seine Arbeit stückweise bezahlt oder er¬
hält ein Zeugnis und tritt in eine Privatwerkstätte ein.
Für Krüppel, die wenig arbeitsfähig sind, gibt es keine fest¬
gesetzte Lehrzeit, sie bekommen eine gewisse Zahlung für ihre
Arbeit auch während der Lehrzeit, d. h. die fleißig arbeitenden und
Fortschritte machenden Lehrlinge bekommen monatlich 2 bis 3 bis
5 Rubel für ihre .Kleidung“. Dies soll bezwecken, daß sie sich
angewöhnen sollen, nur auf selbständig erworbene Unterstützung zu
rechnen und nicht auf Spenden.
Besonders in der orthopädischen Abteilung war es nicht möglich,
eine bestimmte Lehrzeit festzusetzen. Man mußte die individuelle
Beziehung des einzelnen zur Arbeit und seine Leistungsfähigkeit in
Betracht ziehen, und nach 4 Jahren Lehrzeit wurde ihnen ein Ge¬
halt von monatlich 12—15 Rubel bestimmt^).
Während ihres 10jährigen Bestehens wurde die Werkstatt
*) Solche Schüler kleideten sich nicht nur auf eigene Kosten, sondern
zahlten noch 3 Rubel monatlich für ihr Obdach im Heim oder mieteten sich
in der Nähe der Werkstatt eine Privatwohnung, wenn ihr Leiden sie am Gehen
nicht verhinderte.
Digitized by LjOOQle
408
Izabella Czarnomska.
von 127 Krüppeln (116 Männern, 11 Frauen) besucht. Davon sind
48 Krieger gewesen.
Wie früher gesagt worden ist, traten im ersten und zweiten
Jahr des Bestehens zwei Krüppel ein, von denen der eine Lehrer
der Einarmigen und Armlosen in der Werkstatt ist und der zweite,
ein Mädchen, als Lehrerin für Handfertigkeit in die Schule des
Vereins „Krippe“ eingetreten ist. Ausgetreten sind in diesen
10 Jahren 77 (74 Männer, darunter 36 Krieger, und 3 Frauen).
Zum 14. Oktober 1907 befanden sich in der Werkstatt 50 Per¬
sonen (42 Männer, davon 12 Krieger, und 8 Frauen).
Dem Alter nach sind
von 12—15 Jahren ... 38
15—20 „ ... 22
20—25 „ ... 11
25—30 „ ... 8
Die ihrer Gliedmaßen beraubten Krieger sind im Alter von
23—40 Jahren.
Was die Form der Verkrüppelung betrifft, so sind bei denen,
die nicht im Militärdienst gestanden haben, die verschiedensten Ver¬
krümmungen der Gliedmaßen und des Rückgrates vorherrschend
(54), Amputierte 25. Bei den Kriegern herrschen die Amputierten
vor (31 Mann), mit veränderter Funktion der Glieder 5, mit Ver¬
krümmungen der Glieder 5.
Die Entstehung der Verkrüppelung bei Nichtkriegem gibt fol¬
gende Ziffern:
Von Geburt an .4 (5,l^/o)
Die Folgen der Gelenktuberkulose 37 (46,8^0)
Rhachitis.2
Osteomyelitis.4
Kinderparalysis.9
Syphilis.3
(alles zusammen . . . 22,8 ^/o)
Nach Unglücksfällen .... 20
(Abgefrorene Gliedmaßen 4, traumatische 16 (25,3®/o).
Die Verkrüppelungen der Krieger sind alle traumatischer Ent¬
stehung.
Wenn wir die erhaltenen Prozentsätze verallgemeinern, so erhellt
daraus, daß das ätiologische Moment der Verkrüppelung (69,6®/o)
Digitized by
Google
Bericht über das 10jährige Bestehen der »Werkstatt für Krüppel etc.*. 40&
von verschiedenen Krankheitsformen herstammt. Aber auch in Be^
Ziehung auf angeborene Mißbildungen findet man in den wissen¬
schaftlichen biologischen Beweisstücken immer häufiger Hinweise auf
den Zusammenhang der Entwicklung von Mißbildungen mit dem
ätiologischen Moment verschiedenartiger Krankheitsprozesse.
Im Resultat ersehen wir, daß 74,7 ®/o der Verkrüppelungen die
Folgen verschiedener Krankheiten sind.
Nach den Lebensverhältnissen, in denen die eingetretenen
Krüppel (Nichtkrieger) sich vor dem Eintritt in die „Werkstatt*
befanden, und nach den Motiven, die sie dazu brachten, lassen sie
sich in folgende Gruppen teilen.
I. Aus Familien von Arbeitern, Handwerkern Männer Frauen '
und Dienstboten stammend, nicht ange¬
nommen in Privatwerkstätte und einer be¬
ständigen orthopädischen Hilfe bedürftig . 11 5
II. Aus Familien der Mittelklasse, die ganz
spezieller Bedingungen zur Erlernung einer
Arbeit bedürfen. 5 —
III. Aus Asylen, wo es unmöglich ist, sie in
gewöhnlichen Verhältnissen ein Handwerk
erlernen zu lassen, da man ihnen eine be¬
ständige orthopädische Hilfe sichern muß 10 B
IV. Aus den städtischen Krankenhäusern, der
Möglichkeit in gewöhnlichen Verhältnissen
zu arbeiten beraubt und beständiger ortho¬
pädischer Hilfe bedürftig. 12 2
V. Aus dem Sanatorium für Tuberkulöse: ge¬
nesen, aber fernerer orthopädischer Hilfe
und spezieller Bedingungen zur Erlernung
eines Handwerks bedürftig. 5 2
VI. Aus den Dörfern: untauglich zur landwirt¬
schaftlichen Arbeit und orthopädischer Hilfe
bedürftig. 8 4
VII. Aus den Arbeiterkreisen: durch eine Pension
der Fabrik vor Not geschützt, aber durch
moralische Motive geleitet, in der Werkstatt
tätig zu sein. 1 —
Digitized by c^ooQie
410
Izabella Czarnomska.
VIIL Solche, die ihr Handwerk selbständig erlernt Männer Frauen
haben und trotz ihrer Verkrüppelung zur
Anleitung der Lehrlinge in der Werkstatt
angestellt sind. 3
IX. Obdachlose Bettler, die wegen ihrer Mi߬
bildung der Möglichkeit zu arbeiten und zu
lernen beraubt sind. 8
Gemäß dem Verluste der Arbeitsfähigkeit werden die einge¬
tretenen Krüppel in drei Kategorien eingeteilt.
I. Zur ersten Kategorie gehören Krüppel mit starkem Verluste
an Arbeitsfähigkeit, z. B. solche mit zweiseitiger Amputation der
Arme, vollständiger Lähmung derselben, oder solche mit Amputation
oder Lähmung eines Obergliedes, besonders des rechten, zumal bei
solchen Leidenden, die keine persönliche Fähigkeit für Handfertigkeit
besitzen, endlich der Mangel mehrerer Finger. Diese Krüppel wären
in gewöhnlichen Verhältnissen ohne außerordentliche, fast für einen
jeden einzelnen speziell erfundene Vorrichtung und Anleitung auf
ein erbärmliches Bettlerdasein angewiesen ^).
Unter den Lehrlingen der Werkstatt befinden sich aus dieser
Kategorie 20 Nichtkrieger und 2 Krieger.
II. Zur zweiten Kategorie gehören Krüppel mit Beschädigungen
des Körpers oder der Glieder, oder von irgend einem Krankheits-
prozesse und von einer Wunde Genesene. In diesen Fällen hängt
die Arbeitsfähigkeit von einer mehr oder weniger beständigen
orthopädischen Hilfe und von den allgemeinen Bedingungen der
Arbeit ab. Allzugroße Anstrengungen würden sie von neuem krank
machen und die Verkrüppelung verschlimmern. Solcher befinden
sich in der Werkstatt Nichtkrieger 34, Krieger 10. Diese letzteren
weisen meistens Lähmungen verschiedener Muskelgruppen, Be¬
schädigungen der Nervenzentren in Form von Neuritis, Kontrakturen
der Finger an den Händen, nicht verwachsene Knochenbrüche auf,
welche des beständigen Tragens von Apparaten bedürfen.
III. Zu der dritten Gruppe gehören Krüppel mit amputierten
unteren Gliedmaßen und Verkrümmungen der Glieder angeborener,
rhachitischer oder traumatischer Herkunft.
*) Natürlich sind wohlhabende und solche, die sich mit geistiger Arbeit
befassen können, ausgeschlossen.
Digitized by LjOOQle
Bericht über das 10jährige Bestehen der ,Werkstatt für Krüppel etc.*. 411
Die Arbeitsfähigkeit dieser Kategorie von Krüppeln, die durch
die erschwerte Fortbewegungsmöglichkeit höchst vermindert ist, hängt
gänzlich von der Zweckmäßigkeit der künstlichen Gliedmaßen und
der richtigen Auswahl des Handwerkes ab. Selbstverständlich ist
bei Fällen von zweiseitiger Amputation der Verlust der Arbeits-
Fig. 1.
Tähigkeit am wenigsten in solchen Anstalten fühlbar, wo man die
Spezialisierung und die Mithilfe in der Arbeit anwenden kann.
Zu dieser Kategorie gehören 25 Nichtkrieger, 30 Krieger.
Was die Verfahren anbetriffb, deren sich die Krüppel bedienen,
um ihre Arbeiten zu vollbringen, so eignen sich viele individuell
erfundene Kunstgriffe dazu; die anderen benützen speziell für ihr
Handwerk erdachte technische Vorrichtungen.
Die photographischen Aufnahmen der arbeitenden Krüppel stellen
die Haupthandgriflfe der ersteren und die Vorrichtungen der letzteren
Digitized by L^ooQle
412
Izabella Czaraoinska.
anschaulich dar. — Auf Fig. 1, 2, 3 ist der Krüppel M. Kolpakow
dargestellt, der, an beiden Armen fast ganz gelähmt, sich mit seiner
Fig. 2.
Bürstenmacherei beschäftigt, indem er sich seiner Zähne, Lippen und
Kniee bedient.
Der Schlosser Nikolaus Jakunin (Fig. 4, 5), 15 Jahre alt,
seines linken Handgelenkes und des kleinen Fingers der rechten
Hand beraubt, erdachte selbständig Handgriffe zur Erleichterung
seiner Arbeit und erfand Vorrichtungen, die ihm den Verlust seines
Handgelenkes ersetzten.
Digitized by L^ooQle
Bericht über das lOjährige Bestehen der .Werkstatt für Krüppel etc.“. 413
Nikolaus Jakunin arbeitet in der Schmiede mit einem Hammer,
welcher vermittels eines Riemens am Vorderarm befestigt ist. Nach
Fig. 3.
4 Jahren Lehrzeit konnte er selbständig verschiedene orthopädische
Apparate bauen, arbeitete pro Stück und verdiente bis zu 25 Rubel
monatlich. Er trat im Jahre 1900 auf Arbeit ins orthopädische
Institut.
W. Michailow hatte schon vor dem Eintritt in die „Werkstatt“
das Schuhmacherhand werk erlernt und wurde als Lehrer für solche
Arbeiten, besonders für verkrüppelte Krieger, angestellt. Der Arm
Digitized by L^ooQle
414
Izabella Czarnotnska.
wurde ihm wegen eines tuberkulösen Prozesses amputiert; außerdem
aus demselben Grunde auch die linke Schulter reseziert. Ungeachtet
dieser doppelten Schädigung konnte Michailow mit seiner Arbeit sehr
gut von statten kommen.
Wassily Pirogow, 23 Jahre alt, leidet an einer angeborenen
Mißbildung von 8 Fingern, wollte von Kindheit an das Schreinern
erlernen, konnte nur mit großer Mühe
dazu kommen, bei einem Dorfschreiner
in die Lehre genommen zu werden. Er
lernte sein Handwerk fast selbständig
und arbeitete in Petersburg in Privat¬
werkstätten, bis er an Tuberkulosis tarsi
erkrankte. Im Jahre 1903 wurde ihm
im Obuchowschen Hospital eine Ampu¬
tation nach Pirogoff gemacht, er be¬
kam einen Stiefel, konnte aber in dem¬
selben nur kurze Zeit stehen, überan¬
strengte sich und konnte nicht mehr in
Privat Werkstätten arbeiten. In der«Werk¬
stattwurde ihm ein Apparat nach
Hessing angefertigt und in dem letz¬
teren geht und arbeitet er fast ohne den
Verlust seiner Fußsohle zu empfinden.
Augenblicklich steht er an der Spitze der
Tischlerabteilung der „ Werkstatt
Die Lehrlinge, deren Arbeitsfähigkeit sich vermittels spezieller
Vorrichtungen stark gehoben hat, sind auf den Figg. 6—22 dar¬
gestellt.
Wassily Platow, 21 Jahre alt, amputiert am rechten Arm und
beiden Schenkeln, beschäftigte sich die erste Zeit in der Sattlerei,
darauf in der Bandagenabteilung.
Zu seiner Bequemlichkeit wurden ihm ein paar Zangen zum
Halten der Arbeit gemacht, welche vermittels einer Schraube an
einem Taburett befestigt werden. In letzter Zeit wurde ihm noch
eine Vorrichtung erfunden, nämlich eine Arbeitsklaue zum Fest¬
halten des Messers, des Pfriems, des Kantenschneiders und anderer
Instrumente. Diese Vorrichtung, höchst geistreich von W. G. Soro-
Digitized by L^ooQle
die Arbeit mit dem Messer, nämlich das Zuschueiden eines Leder¬
stückes, die Fig. 8 das Nähen auf der Maschine dar.
Michail Karpow, 14 Jahre alt, mit einer rechten Oberarmamputa¬
tion infolge von Tuberkulose des Ellenbogens. Er arbeitet vermittels
zweier Vorrichtungen, von denen die eine zur Arbeit mit der Feile,
Digitized by L^ooQle
416
Izabclla Czarnomska.
die zweite zum Metallschneiden benutzt wird, wie dies uuf den
Figg. 8 und 9 zu ersehen ist.
Aufgenommen im Jahre 1897, verfertigt er jetzt ganz selb¬
ständig Krücken und andere Apparate.
Fig. 6. Fig. 7.
Michail Iwanow, 29 Jahre alt, mit 9 ausgeschälten Fingern,
arbeitet vermittels einer Vorrichtung zur Haltung der Instrumente
(Fig. 12).
Simeon K., seines Handgelenkes beraubt, bat um die Erfindung
einer Vorrichtung, die ihm erlaubte, Holz zu spalten und kleine
Stäbchen zu schlichten (Fig. 10 und 11), damit er seiner Frau, die
sich speziell mit dem Räuchern von Schnäpeln befaßte, behilflich
sein könne.
Solch eine Vorrichtung wurde hergestellt, und zurzeit ist der
Verdienst des Simeon K. nur um ein kleines geringer als deijenige
seiner gesunden Frau.
Paul Ogarkow, ge^yesene^ Soldat des 28. Ostsibirischen Schützen*
regiments, wurde bei Port Arthur schwer verwundet. Beide Arme
Digitized by i^ooQle
Bericht über das 10jährige Bestehen der .Werkstatt für Ki-üppel etc.*. 4X7
mußten ihm über dem Ellenbogen amputiert werden, jetzt arbeitet
er an der Drechselbank mit spezieller Vorrichtung. Die Drechsler¬
bank hat ein ziemlich verändertes Aussehen^ was auf den Fi^. lS
bis 21 dargestellt ist.
Jetzt werden fast alle für die orthopädischen Apparate nötigen
Fig. 9.
Drechslerarbeiten (wie Holzklötzchen, Krückengrifife u. s. w.) von
Paul Ogarkow angefertigt.
Aber außer einer besonderen Vorrichtung zur Arbeit bedurfte
Ogarkow ganz besonders einer speziellen Vorrichtung zum Essen,
da er sich höchst genierte, irgend jemandes Hilfe in Anspruch zu
nehmen, und gewöhnlich sein Mahl so schnell wie möglich zu be¬
endigen trachtete. Solch eine Vorrichtung erfand ihm der Unter¬
zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXll. Bd. 27
Digitized by
Google
418
Izabella Czarnomska.
weiser und Leiter der Schuhmacherabteilung P, M. Filippow, welcher
sich des in der orthopädischen Schuhmacherabteilung befindlichen
Materials bediente und eine aus Leder gemachte, gewöhnliche Hülse
Fig. 10.
herstellte, welche auf den Armstumpf angezogen und vermittels
eines Gummibandes befestigt wurde. Das freie Ende der Hülse
stellt einen fest geschlossenen Sack vor, in welchem ein Stück
Korkrinde angebracht ist. In die Rinde wie in das Leder ist eine
Spalte gemacht; in diese Spalte klemmt man mit Leichtigkeit, der
Krüppel besorgt es selbst, den Löffel oder die Gabel ein. Der
Digitized by
Google
Bericht über das 10jährige Bestehen der «Werkstatt für Krüppel etc.*. 419
außerordentliche Vorzug dieser Vorrichtung ist ihre Leichtigkeit
an Gewicht und die Einfachheit ihrer Gebrauchsweise; in dieser
Hinsicht erweist sich diese Einrichtung als geradezu kostbar (Fig. 22).
Fig. 11.
Die folgende Tabelle gibt eine Uebersicht über die den Krüppeln
gelehrten Handwerke:
Bandagenarbeit.16 Mann (Nichtkrieger)
Schlosser und Mechaniker.33 « (24 Nichtkrieger)
Orthopädische und gewöhnliche Schuster¬
arbeit . 38 n (18 Nichtkrieger)
Tischlerarbeit.12 „ (8 Nichtkrieger)
Drechselarbeit. 3 „(2 Nichtkrieger)
Bürstenbinderei. 2 „ (Nichtkrieger)
Flechtarbeit.4 « (Nichtkrieger)
Digitized by
Google
420
Izabella Czarnotnska.
Fig. 12.
Weberei und Näharbeit.4 Mann (Nichtkrieger)
Sattlerarbeit.3 ^ (1 Nichtkrieger)
Schneiderarbeit.12 „ (alle Krieger).
Zur Zeit des Jahresberichtes, d. h. im Monat Oktober des
Jahres 1907, war die Lage der in die Werkstatt Aufgenommenen
folgende:
Digitized by L^ooQle
Bericht über das 10jährige Bestehen der .Werkstatt für Krüppel etc/. 421
Fig. 13.
Von den Ausgetretenen (Nichtkriegern) betreiben selbständig
das ihnen in der Werkstatt beigebrachte Handwerk 12 Mann.
1 ist Lehrerin der Handfertigkeit in dem Verein Krippe.
1 arbeitet in der Werkstatt des orthopädischen Instituts.
6 befinden sich in Privat Werkstätten.
4 arbeiten in ihren Heimatsdörfern.
Mit verschiedenartigem, nichtgewerblichem Broterwerb sind
5 Mann beschäftigt. 1 ist Dienstmann, 1 Kontorist, 2 Dienstboten,
1 Hausknecht; 3 Aufgenommene bekamen Unterricht solcher
Spezialitäten, die in der Werkstatt nicht unterwiesen werden, und
Digitized by L^ooQle
422
Izabella Czarnomska.
arbeiten zurzeit selbständig (2 Mädchen als Plätterinnen, 1 in der
zahnärztlichen Technik). Verschollen sind 13 Mann, von denen drei
aus der Werkstatt entfernt wurden, da sie sich gar keinem moralischen
Einfluß unterwarfen, 3 wurden von ihren Angehörigen nach Hause
genommen und 7 versagten zu arbeiten (von diesen letzten war der
eine ein sehr begabter, gut unterrichteter Bandagist). Die übrigen
beendigten ihre Lehrzeit nicht* Krank sind 2 Mann, noch wenig
Fig. 14.
unterrichtet und bei ihren Angehörigen sich befindend. Verstorben
sind 6 Mann.
Von den jetzt in der Werkstatt Befindlichen sind:
Leiter des Unterrichts (auf Gehalt von 30—75 Rubel
monatlich).3 Mann
Stückweise arbeiten mit einem monatlichen Verdienst
von 10—25 Rubel.4 „
Gehilfen der Meister sind. 7 „
Gehilfin der Aufseherin.1 Frau
Schreiberin (Gehalt von 10—20 Rubel monatlich) . . 1 Mann
Aeltere Lehrlinge.12 ^
Digitized by L^ooQle
Bericht über das 10jährige Bestehen der »Werkstatt für Krüppel etc.“. 423
Jüngere Lehrlinge.10 Mann
Aus der Zahl der in die Werkstatt aufgenommenen
Krieger traten nach beendigter Lehrzeit mit dem
Wunsche, bei sich im Dorfe zu arbeiten, aus • 20 „
Im Privatdienst befanden sich.2 »
Fig. 15.
Ihre Lehrzeit nicht beendigt haben 15 Krieger: 4 kehrten zeit¬
weise heim, 4 sind aus verschiedenen Gründen entfernt worden,
7 wollten sich nicht unterrichten lassen.
Die oben angeführten Zahlen zeigen folgendes ZiflFemver-
haltnis.
Wenn man aus der Gesamtzahl der aufgenommenen Krüppel
(Nichtkrieger), d. h. von 79 Mann, die nicht Ausgelernten (13 Mann)
ausschließt, so erhält man von 66 Mann, die die mannigfaltigen
Unterweisungen genossen haben, 20 Mann, die aus der Werkstatt
Digitized by L^ooQle
424
Izabella Czarnomska.
ausgetreten und zu guten Arbeitern geworden sind, und 28 Mann
sind in der Werkstatt beschäftigt, was also ein ProzentTerhäUziis
von 72^/o arbeitsfähiger KrQppel ergibt. Die erste Kategorie, also
30 ^/o der Desamtzahl, arbeitet in den gewöhnlichen Verhältnissen,
‘ Fig.lO. ‘
welche eine normale Arbeitsfähigkeit verlangen, und genügen diesen
Forderungen augenscheinlich.
Die zweite Kategorie, also 42®/o der Gesamtzahl, arbeitet in
bevorzugteren Verhältnissen — in Anstalten für Krüppel.
In diese Gruppe treten in Wirklichkeit die zu der ersten und
zweiten Kategorie der Verkrüppelung Gehörenden, deren Arbeits¬
fähigkeit ganz von der Umgebung abhängt, welche die traurige
Lage der Verkrüppelten in Betracht zieht.
Diese Umgebung behütet vor allem die Arbeitenden vor Ueber-
müdung; der Arbeitstag, beträgt 7^-2 Stunden. Um Mittag gibt es
Digitized by LjOOQle
Bericht über das lOjährige Bestehen der , Werkstatt für Krüppel etc.“. 425
Zurechtstelluiig des Einsteckers zu Beginn der Arbeit vermittels einer gebogenen Achse
welche durch den Körper in Bewegung gebracht wird.
Fürsorge der Krüppel“ sichert ihnen meistens eine Sommerfrische
außerhalb der Residenz.
Das Quantum der gelieferten Arbeiten beträgt seit dem Be-
eine Bstündige Ruhepause; in der Sommerzeit wird den Lehrlingen
wie auch den Arbeitenden Ferienzeit gegönnt und der ^Verein zur
Fig. 17.
Digitized by L^ooQle
426 . .
Izabella Czarnomska.
ßtehen der Werkstatt: 7785 orthopädische Apparate und 1976 nicht
orthopädische Lieferungen. Von orthopädischen Vorrichtungen wurden
Fig. 18.
Die Befestigung des Einsteckers vermittels des Fußes, welcher das Pedal auf den Haken m
einhuiigt.
geliefert: 534 Korsette, 169 Schienenhülsenapparate, 375 künstliche
Gliedmaßen, 2803 Paar Krücken und noch viele andere, deren Benen¬
nung in einer kleinen, im Druck erschienenen Broschüre zu finden ist.
Digitized by L^ooQle
Das an der künstlichen Hand beflndliche Häkchen r befestigt den zum Schleifen bestimmten
Gegenstand, indem es einen der kleinen Hebel der Vorrichtung E erfaßt.
bettchen und vieles andere) wurden für ^/s—V* Wertes an
verschiedene Wohltätigkeitsanstalten abgegeben und kamen mittel¬
losen Kranken unentgeltlich zu Nutzen.
Belicht über das lOjährige Bestehen der »Werkstatt für Krüppel etc.“. 427
804 orthopädische Gegenstände (130 Korsette, 139 Paar Krücken,
15 Schienenhülsenapparate, 33 künstliche Gliedmaßen, 33 Streck-
Fig. 19.
Digitized by L^ooQle
428 .
Izabella Czarnomäka.
Fig. 20.
Mit dem Knie wird der Hebel <• aufwärts Bedrückt, dadurch hebt sich der Einstecker auf
eine gewisse Hohe; mit dem Hebel d vermittels des Hilkclieus r der künstlichen Hand wird
der Gewindestahl befestigt.
Diese unentgeltliche Hilfe erhielten 611 Kranke. Der volle
Preis dieser orthopädischen Hilfe repräsentiert durchschnittlich für
jeden Kranken den Wert von 21 Rubel 75 Kopeken.
Nach Dr. Lange (Münchener Mediz. Wochenschrift Nr. 14,1907)
Digitized by GiOOQle
Bericht über das 10jährige Bestehen der »Werkstatt für Krüppel etc.“. 429
Fig. 21.
Beim Drechseln eines Gegenstandes l»edient Oparkow sich eines halbrunden Stemmeisens
mit einem speziellen lanpen Drechslerpi itf, dessen eines Ende x in einem Gummirinp
Welcher unter der Achsel am Ledergurt der künstlichen Hand angenaht ist, sich befindet
und dessen zweites Ende das Ilükcheu »* der künstlichen Hand erfaßt.
Digitized by L^ooQle
430
Izabella Czarnomska.
kostet in München, wie die Erfahrungen des Johanniterordens be¬
zeugen , die durchschnittliche orthopädische Hilfe für einen Kranken
125 Mark (d. h. 57 Rubel 50 Kopeken), wahrscheinlich bei Be¬
dingungen gewöhnlichen kommerziellen Betriebs.
Fig. 22.
N
Die Einnahme der „Werkstatt“ bestand während ihres 10jährigen
Bestehens aus folgenden Summen:
Der Kostenpreis der gelieferten Arbeiten im Betrage von
80828 Rubel, die vom Verein zur Versorgung der Krüppel vom
Jahre 1901 ausgeworfenen Beköstigungssummen der Lehrlinge, die
vom „Kriegerheim“ vom Jahre 1904 und von verschiedenen Privat¬
personen zum gleichen Zwecke ausgeworfenen Summen im Total¬
betrage von 8862 Rubel 15 Kopeken und die aus der Hospital¬
kasse in den ersten Jahren des Bestehens der Werkstatt ein¬
gegangenen 6585 Rubel 50 Kopeken. Die Totalsumme der Einnahmen
beträgt 92276 Rubel 39 Kopeken. Die Totalsumme der Ausgaben
Digitized by L^ooQle
Bericht über das 10jährige Bestehen der ,Werkstatt für Krüppel etc.*. 431
beträgt 95 736 Rubel 98 Kopeken, wobei aber die Wohnungsmiete,
Beleuchtung und Heizung bei dieser Summe picht mit eingerechnet
sind, da sie durch die Einnahmen der Werkstatt nicht hätten ge¬
deckt werden können.
Den Bericht über die Tätigkeit des Erüppelheims beendigend,
will ich einen Versuch machen die Zahl der Krüppel in Rußland fest¬
zustellen und bediene mich der statistischen Daten für das Deutsche
Reich aus dem Artikel des Herrn Biesalski (Zeitschrift für ortho¬
pädische Chirurgie Band XIX Heft 2 S. 162, 1907). Auf 1000 Ein¬
wohner kommen, bis zum 15. Lebensjahr 1,38 Krüppel. Die
126 Millionen Einwohner Rußlands würden demgemäß 165600 Krüppel
bis zum 15. Lebensjahr aufweisen, von denen 22 090 obdachlos sind.
Es ergeben sich aus diesen Ausführungen folgende Schlu߬
folgerungen :
Die Krüppel ergreifen mit Freude die ihnen dargebotene Möglich¬
keit, ein Handwerk zu erlernen, und entsagen gern dem Bettlerdasein.
Die Arbeitsfähigkeit der Krüppel kann durch spezielle Unter¬
richtsmethoden, technische Vorrichtungen und Mithilfe in den An¬
stalten gehoben werden.
Es ist Sache des Staates und der Wohltätigkeit, die durch
Krankheiten Verkrüppelten vermittels orthopädischer Hilfe frühzeitig
zu versorgen, damit eine große Zahl vor gänzlicher Verkrüppelung
verschont werde.
Die Arbeitsfähigkeit der Krüppel kommt ihnen selbst zu
Nutzen, indem sie selbst ein Handwerk erlernen und durch ihre
Arbeiten die orthopädische Hilfe verbilligen, welche demgemäß den
Arbeitenden wie auch den Mittellosen dadurch zugänglicher wird.
Anstalten, deren Endziel die Unterweisung der Krüppel und
eine unentgeltliche oder höchst billige Versorgung mittelloser Kranker
mit orthopädischer Hilfe ist, bedürfen selbstverständlich ander¬
weitiger materieller Unterstützung aus Staatsmitteln oder Privat¬
spenden, da die Arbeit der in der Lehre Befindlichen nicht produktiv
genug sein kann und die Ausgelernten, die schon produktiver arbeiten
können, einer normalen Zahlung bedürfen.
Die vermittels der Orthopädie wieder arbeitsfähig gemachten
Krüppel betragen nach der Statistik der westeuropäischen Anstalten
90®/o, nach der Statistik der „Werkstatt“ 72®/o. Sie entsagen gern
dem erbärmlichen Leben eines auf Kosten andererlebenden Faulenzers
Digitized by LjOOQle
432 Izabella Czarnomska. Bericht über das 10jährige Bestehen etc.
und Nichtstuers und nehmen tätigen Anteil an der großen, all¬
gemeinen Arbeit der Menschheit.
Man berechnet, daß der Unterhalt eines in einem Asyle auf¬
genommenen Krüppels 200 Rubel jährlich beträgt, 72®/o der Krüppel
können wieder arbeitsfähig gemacht werden, und so erhält man aus
der Anzahl von 22090 Krüppeln 15 904 leistungsfähige Arbeiter,
die dem Staate eine Ersparnis von 3180300 Rubeln sichern.
Wenn man aus der Gesamtzahl aller Krüppel bis zum 15. Jahre,
d. h. aus 165600 Mann, 72®/o arbeitsfähig macht, d. h. 119232 Mann
ausschließt, so würde der Staat eine Oekonomie vou 23846400 Rubel
jährlich erhalten.
Mit dem Wiedererlangen seiner Leistungsfähigkeit wird der
seiner Glieder Beraubte aus einem schweren niedergedrückten
Seelenzustande herausgerissen, seine Verkrüppelung verliert für ihn
ihren Stachel. Das Bewußtsein, nicht mehr hilflos und abhängig
zu sein, sondern ein für sich und andere nützliches Glied der Mensch¬
heit geworden zu sein, gibt ihm den Glauben an seine eigene Kraft
und an die Zweckmäßigkeit des Daseins wieder.
Nicht Mitgefühl und Teilnahme sind es dann, welche den ihrer
Glieder beraubten Krüppeln auf ihrem Lebenspfade begegnen, sondern
hohe Achtung vor ihnen, als vor vollberechtigten, achtbaren Mitgliedern
der großen arbeitenden menschlichen Familie.
Digitized by L^ooQle
XXIX.
(Aus der Poliklinik für orthopädische Chirurgie in Odessa.)
Die Erfahrimgen über die Bebandlang des
spondylitiscben Buckels nach Calot‘).
Von
Dr. 8. Kofniann.
Mit 2 Abbildungen.
Die Frage der Spondylitisbehandlung ist noch bei weitem nicht
gelöst, noch immer tauchen neue Vorschläge auf. Bei der Besprechung
dieser Frage muß streng auseinandergehalten werden die tuberkulöse
Erkrankung der Wirbelsäule als solche von ihrer äußeren Erschei¬
nung — der Deformität — dem Buckel. Während die erfolgreiche
Behandlung der ersteren weniger vom Ärzte abhängt, liegt der Aus¬
gang der Gibbusbehandlung in den Händen desselben.
Die Qrundansichten der heilbringenden Therapie der tuberkulösen
Knochenerkrankung sind heutzutage als festgestellt zu betrachten;
ob man Seeluft oder reine kalte resp. warme Bergluft vorzieht,
ist im Grunde genommen ohne Belang, — reine Luft, wollen wir
im allgemeinen sagen, trockene Wohnung, peinliche Reinlichkeit, gute
Ernährung und Körper- und Gemütsruhe bilden die Grundbedingung
des siegreichen Kampfes mit diesem Feinde der Menschheit. Leider
bleiben diese Bedingungen gar zu oft ein unerreichbares Desiderium,
dem gegenüber der Arzt wenigstens bei der jetzigen sozialen Ge¬
staltung der Gesellschaft noch ziemlich machtlos dasteht.
Dagegen aber ist die Stellung des Arztes im Kampfe gegen
die sicht- und greifbaren Folgen der Lokalisation der Krankheit an
der Wirbelsäule viel günstiger. Wir sind jetzt im stände, nicht nur
dem Fortschreiten des Prozesses Schranken zu stellen, sondern die
*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft
für orthopädische Chirurgie am 26. April 1908.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 28
Digitized by C.ooQle
434
S. Eofmann.
schon ausgebildeten Mißgestaltungen zum größten Teile, wenn aller¬
dings nicht gänzlich, wieder gut zu machen. Das Bestreben, eine
geeignete Therapie der Gibbusbehandlung ausfindig zu machen, ist
ebenso alt, wie die Krankheit selbst; diese aber ist uralt.
Ich bin fern von der Absicht, alle von alters her angewandten
Methoden hier anzuführen; ich möchte nur die in den letzten Dezen¬
nien in Vorschlag gebrachten kurz erwähnen.
Bis 189G verhielt man sich ziemlich tolerant dieser Krankheit
gegenüber; anregend wirkte die von Calot veröffentlichte Methode
des brüsken Redressements des Gibbus. Nur wenige waren nicht
für diese eingenommen und sind ihr nicht gefolgt; bald kam die
Enttäuschung, zugleich aber das Bewußtsein, daß man der Sache sich
doch annehmen und den Kampf weiter treiben muß. Aus dem brüsken
Redressement wuchs die milde Reklinationsmethode hervor, die sich
zur Aufgabe gestellt hat, weniger den Gibbus anzugreifen, als seine
Weiterentwicklung hintanzuhalten und ihn auf eine die Natur nach¬
ahmende Weise durch die paragibbäre Wirbelsäulenlordosierung zu
maskieren. Als Mittel zur Erreichung dieses Vorhabens diente in erster
Reihe das Lorenzsche Gipsbett; aus dieser Methode entstanden dann die
anderen, wie die von Wullstein und in den letzten Jahren von Fiuck.
Diese letzte ging aber viele Schritte weiter, es lag ihr nahe,
nicht nur die Wirbelsäule zu lordosieren, sondern auch den Gibbus
selbst dabei anzugreifen, zu verkleinern und möglichst sogar zum
Schwinden zu bringen. Es muß zugegeben werden, daß das Fincksche
Verfahren sehr viele Anhänger gewonnen hat und daß diese Methode
die alleranerkannteste, allerverbreitetste geworden ist; ihre Anwen«
düng führte zum Wohle der Kranken; die Gibbositäten wurden mit
Erfolg mittels ihrer bekämpft, auch die bösen Folgen des Wirbel¬
buckels, die Lähmungen, wurden geheilt, zum vollen Verschwinden
aber, zur völligen Beseitigung der Deformität war sie nicht im stände
zu führen. Während in Deutschland der Mißerfolg des Calotschen
Redressements Anstoß zur Auffindung neuer Methoden gegeben hatte,
war Calot selbst auf die Umgestaltung seiner Methode bedacht; er
arbeitete weiter und ist zur Ueberzeugung gekommen, daß alles Brüske
der Behandlung einer so vulnerablen Krankheit, wie die Wirbelkaries,
fern gehalten werden und durch Feines, Delikates ersetzt werden muß.
Das zarte, allmähliche im Gegensatz zum anfänglichen forcierten
Redressement bildet das Hauptcharakteristische der von ihm jetzt
gebrauchten Behandlung. Sie gestaltet sich dabei sehr einfach und
Digitized by
Google
Die Erfahrungen über d. Behdlg. d. spondyl. Buckels nach Calot. 435
absolut gefahrlos. Es bedarf zu ihrer Ausübung keiner Maschinen
mehr, keiner zahlreichen Assistenz, sie nimmt auch sehr wenig Zeit
in Anspruch, ist daher für die Kranken schonend.
Der Patient wird suspendiert, dabei aber jede gewaltsame
Streckung vermieden, die Fußsohlen des Patienten sollen den Boden
nicht verlassen; die Suspension soll nur die Wirkung der Körper¬
last beheben und die Muskelkontraktion ausschalten, in keiner Weise
aber strecken. Es wird ein Gipsmieder angelegt. Je nach der Lokali¬
sation des Gibbus ober- oder unterhalb des VI. Brustwirbels, wird
auch der Kopf mit in das Korsett einbezogen. Die Technik des
Korsettanlegens wird von Calot detailliert angegeben; es ist nur
hervorzuheben, daß die Gipsbinden direkt auf das Trikothemd an¬
gelegt und daß mit Ausnahme der vorderen Brustfläche und des
Bauches keine Wattepolsterung angewandt wird. Großer Wert wird
auf die Anmodellierung um das Becken und um die Schultern ge¬
legt. Nach Erstarren des Gipses wird vorne ein ziemliches Stück
des Korsettes ausgeschnitten, die Wattepolsterung entfernt und auf
diese Weise ein Ausdehnungsraum sowohl für die Atmung als für
die Verdauung gebildet. Erst nach 2—3 Tagen beginnt die eigent¬
liche Gibbusbehandlung. An der dem Gibbus entsprechenden Stelle
wird ein breites Fenster ausgeschnitten, das Trikot im selben vier-
zipfelig geschlitzt und auseinandergezogen und mit der Redressierung
begonnen. Die letzte besteht in der Einführung von viereckigen
Watteschichten, die um einige Zentimeter breiter als das Fenster
sind; die Watte wird sorgfältig mittels eines Spatels ausgebreitet und
soviel wie möglich ohne Schmerzen zuzufügen eingeführt. Mittels
einer Stärkebinde wird das Fenster abgeschlossen. Die Bettruhe muß
rigoros durchgeführt werden; nach einer kurzen Zeit von 15 bis
20 Tagen wird dann in das Fenster Watte nachgestopft, was inner¬
halb kleinerer oder größerer Zeiträume wiederholt werden muß.
Nach Ablauf von 2 resp. 3 Monaten, je nach dem Befinden des
Patienten resp. nach der Quantität der eingeführten Watte, wird
das Korsett erneuert. Wie lange die Korsettbehandlung mit Re¬
dressement fortzusetzen ist — ist individuell verschieden. Calot rät
dazu bis zum vollständigen Schwinden des Buckels, ja sogar bis zur
Bildung einer völligen Abflachung, deren Niveau unter demjenigen
der Umgebung liegen soll. Dann erst darf mau vorsichtig und ganz
allmählich den Patienten auf die Beine stellen, immer noch im
Gipskorsett mit Fenster und Wattepolsterung, wenn auch ohne jeg-
Digitized by C^ooQle
436
S. Eofmann.
liehe Druckausübung. Erst wenn die Röntgenaufnahme keine Lich¬
tung in den affizierten Wirbeln resp. eine starke Knochenkon¬
solidation ergibt, darf das Gipskorsett durch ein abnehmbares er¬
setzt werden.
Nachdem ich das Buch von Calot, 1906 erschienen, über das
Traitement rationnel du mal de Pot kennen gelernt habe, ging ich
im vorigen Frühjahr nach Berck s. m., um mich persönlich über¬
zeugen zu können, wie es mit der Sache steht. Herr Calot selbst,
sowie sein Assistent Dr. Privat waren so liebenswürdig, mich in
die Kleinigkeiten der Methode einzuweihen und, was besonders wichtig
ist, mich alle in Behandlung stehenden Patienten ohne Auswahl in¬
spizieren zu lassen. Ich hatte die seltene Gelegenheit, Hunderte von
Spondylitiskranken zu sehen in allen Stadien der Behandlung und die
Ueberzeugung von der vorzüglichen Wirksamkeit der Methode zu
gewinnen. Es ist wahr, daß den Patienten von Calot ihre Tuber¬
kulose aus ihrer Gesichtsfarbe und Gemütsstimmung nicht anzusehen
ist, das verdanken sie der wohltuenden Wirkung der Seeluft, sowie
des Regimes nicht minder, als der Behandlungsmethode. Das Schwin¬
den des Buckels aber fällt ausschließlich der letzteren zur Last.
Seit April vorigen Jahres wende ich die Methode an. Um auch
den Unbemittelten die Vorzüge der Behandlung der Spondylitis, sowie
der sonstigen chirurgischen Tuberkulose angedeihen lassen zu können,
wurde eine Ambulanz speziell für diese Krankheit an meiner Ab¬
teilung für chirurgische Kinderkrankheiten eröffnet. Die Aufnahme
geschieht 2mal wöchentlich. Den Kindern werden die Gipskorsette
angelegt, nach 2 Tagen die Fenster ausgeschnitten und dann jede
2.—3. Woche die Watte nachgestopft; die aus ganz armen Familien
stammenden Kinder werden für die ersten 5—6 Tage ibs Spital auf¬
genommen, um dann bis zum nächsten Korsettwechsel ambulatorisch
sich behandeln zu lassen. Um den Hergang der Behandlung genau
beobachten und studieren zu können, wurde eine Patientin, die ganz
obdachlos war, stationär behandelt. Die Patientin, 14 Jahre alt, gut
ernährt, leidet seit 4 Jahren an einer Spondylitis der unteren Brust¬
wirbel. In der letzten Zeit hat sie starke Schmerzen in den Beinen,
besonders im linken, bekommen. Die Untersuchung ergab einen ziem¬
lich großen Buckel der drei unteren Dorsalwirbel (Fig. 1) und eine
Infiltration in der linken Fossa iliaca.
Der Patientin wurde ein Gipskorsett nach Calot angelegt;
3mal wurde dasselbe gewechselt; im ganzen lag es 8 Monate; die
Digitized by
Google
Die Erfahrungen über d. Behdlg. d. spondyl. Buckels nach Calot. 437
Nachpolsteruog geschah jede 2. resp. 3. Woche. Jetzt ist die Pa¬
tientin aus dem Spitale entlassen, statt des Buckels ist eine Delle,
die Hautpigmentierung (Fig. 2), die man auf der Photographie sieht,
stammt von der Hautverfärbung infolge des gewesenen Decubitus.
Sie bekam ein Gipskorsett, in dem sie herumgehen durfte, allerdings
mit der Mahnung, sich möglichst zu schonen und die aufrechte Hai-
Fig. 1. Fig. 2.
tung tunlichst einzuschränken. Im ganzen standen in diesem Jahre
in Behandlung 31 Fälle, 20 in meiner Privatpoliklinik, 11 im Spitale.
Darunter waren 7 mit hoher Dorsalspondylitis, bei denen auch der
Kopf in das Korsett mit einbezogen war, und 24 mit unterer Dorsal-
resp. Lumbalspondylitis. Definitiv geheilt in Bezug auf das Schwinden
des Buckels (nicht der Spondylitis!) sind 9 zu erklären, von diesen
sind 2 mit abnehmbaren Lederkorsetts, die entsprechend dem ge¬
wesenen Buckel ein Fenster besaßen, entlassen, den übrigen 7 ist
eben das Herumgehen in Gipskorsett gestattet worden. Allerdings
Digitized by LjOOQle
438
S. Kofmann.
handelt es sich bei den Genesenen meistens um Kinder mit verhältnis¬
mäßig frischen Erkrankungen der Wirbelsäule, doch verbunden mit
ganz erheblichen Gibbositäten (bei nicht ausgebildetem Gibbus wende
ich die Fincksche Methode an). Der Hergang der Behandlung nach
Calot ist, wie folgt, ganz simpel; die einzige Eventualität, die ver¬
kommen kann, ist der Decubitus; doch mit zunehmender Uebung
lernt man diesen zu vermeiden. Man darf sich nicht hinreißen lassen
von der relativen Leichtigkeit der Einführung der Watteschichten
und des Guten nicht zu viel tun; man darf eben der Haut nicht zu
viel zumuten und auf ihre Widerstandskraft bauen. In der ersten Zeit
übten wir die Kompression viel zu stark aus, und wir hatten dann
mit großem Decubitus zu rechnen. Wir haben wohl gelernt, diesen
bald zu beheben (wir schnitten die üppigen Granulationen einfach mit
der Schere weg und bearbeiteten die Wundfläche tüchtig mit reiner
Karbolsäure, die eine Mumifikation der Granulationen herbeiführte;
bald folgte die Ueberhäutung — in 4—5 Tagen waren meistens die
Wunden unter Perubalsamverbänden geheilt, und wir konnten die
Behandlung fortsetzen), doch gehören diese Komplikationen nicht zu
den Annehmlichkeiten. Jetzt ziehen wir vor, lieber öfter die Watto
nachzustopfen und dabei die Haut zu schonen. Leider geht es nur
bei den einheimischen Fällen, bei den zugereisten, die nur alle 2 Mo¬
nate zu kommen im stände sind, muß man damit rechnen und diese
Komplikation in Kauf nehmen. Außer dieser Komplikation ist uns
bisher keine zur Beobachtung gekommen.
Meine Herren! Noch immer treffen wir in den spezialistischen
Zeitschriften neue Methoden zur Bekämpfung dieses Unheils, des
Gibbus, angegeben, dabei aber zeichnen sich diese immer mehr aus
durch besondere Kompliziertheiten, als ob ein Wetteifer da wäre, die
Sache nur für eine beschränkte Zahl von Spezialisten in Beschlag zu
nehmen. Ich glaube, daß es sowohl für unsere Kranken als für die
Aerztewelt selbst von größerem Vorteile sein wird, wenn unsere Ma߬
nahmen ganz handlich und einfach werden.
Wenn wir von den Gipsbettmethoden absehen und zu den in
der letzten Zeit vorgeschlagenen Korsettmethoden uns wenden wollen,
so werden wir geradezu erschreckt von den Apparaten, die einer be¬
sitzen muß, um der Sache nahe treten zu dürfen. Die Methode von
Calot ist einfach, ungefährlich und sicher. Sie verlangt kein In¬
strumentarium. Die ganze Vorrichtung von Calot besteht in einer
Digitized by
Google
Die Erfahrungen Über d. Behdlg. d. spondyL Buckels nach Calot. 439
Kopfextensionsscblinge und^ wenn man will, in einem Radfahrsattel¬
stuhl für Patienten mit Paresis der unteren Extremitäten.
Soweit es uns gestattet ist, nicht auf Grund unserer spärlichen
[Erfahrung, sondern vielmehr nach dem Gesehenen in Berck s. m.
dürfen wir sagen, daß die Frage der erfolgreichen Behandlung der
Oibhositäten von Calot gelöst ist und daß seine Methode bald die
alleinberrschende zum Wohle der Kranken sein wird.
Digitized by L^ooQle
Aufruf.
Es ist ans dm Reihen der Verehrer und Freunde des rer-
eivigten
Obermedizinalrats Dr. von Burckhardt
der Wunsch laut gcivordcn, dem hervorragenden Arzt und Menschc’ii^
an der Stätte seiner langjährigm segensreichen Wirksamkeit eine
dauernde Ehrung in künstlerischer Form zu hereitm.
An diejmigm, welche sich an dieser Ehrung zu beteiligm
ivünschen, ergeht die Bitte, ihre Beiträge an das Bankhaus StaM
und Federer A.~G., Calwerstr, 26, oder an die Unterzeichner
einzusenden,
Stuttgart, im Oktober 1908.
Das Komitee,
Oberbürgermeister von Gauß, Vorsitzender,
von Bieber, Hugo, Oberst z, D. |
Dr. med. Karl Ries, Vorstand > stellvertr, Vorsitzende,
des Stuttgarter ärztl. Vereins J
Geh, Hof rat Dr, von Balz, Dr, med. Bayha, Ludwigs¬
burg. Freiherr von Bilfinger, Exzellenz, Generaladjutant
Sr. MaJ. d. Königs. Dr. med, Brigel. Kommerzienrat
Dr. von Dörienbach. Oberbaurat Eisenlohr. Rechts¬
anwalt Dr. H. Erlanger, Bilrgerausschußobmann. Ge¬
lier alkonstd Wilhelm Federer, Schatzmeister. Direktor
von Hang. Frof. Dr. von Hell. Prof. Dr. Hofmeister,
Verlagsbuchhändler Carl Krabbe. Obermedizinalrat Dr.
von Landenberger. Dr. med. Lichtenberg. Hermann
Marquardt, Hotelbesitzer. Prehiident von Nestle, Vorstand
des Medizinalkollegiums. Karl Ostertag-Siegle. Kom¬
merzienrat Ottenheimer. Geh. Hofrat Dr. von Pfeiffer.
Medizinaldirektor Dr. von Rembold. Sanitätsrat Dr.
Schickler. Geh. Hofrat Dr. Sieglin. Freiherr von Soden,
Exzellenz, Kabinettschef Sr. Maj. des Königs. Prof.
Dr. Steinthal. L. Sußmann, Fabrikant. Geh. Hof rat
Dr. Veiel. Generalarzt Dr. von Wegelin.
Digitized by LjOOQle
XXX.
Beiträge zur Pathologie und Therapie der
angeborenen Hüftverrenkung.
Vcn
Dr. Michael HorT&th,
Privatdozent für orthopädische Chirurgie, Budapest.
Mit 81 Abbildungen,
I.
Von den zahlreichen Theorien, welche die Art des Entstehens
der angeborenen Hiiftverrenlaingen zu erklären versuchen, kann nur
auf diejenigen Rücksicht genommen werden, die mit der Entwicklung
des Hüftgelenkes rechnen und ihre Daten aus den pathologischen Ver¬
änderungen der angeborenen Verrenkungen schöpfen. Ein Teil der
Autoren folgt der teratologischen Theorie, der andere Teil argumen¬
tiert mit der mechanisch-pathologischen Entstehung imd glaubt den
Grund der Verrenkung in der Abnormität der dynamischen Verhält¬
nisse finden zu können. Jene Veränderungen, die sich infolge der
Verrenkung in den das Gelenk bildenden Teilen entwickeln, betrachten
sie als sekundäre.
Ammon, Dollinger, Grawitz, Holzmann, Hoffa,
Vogel, Bade behaupten, die Hüftverrenkung sei ein vitium primae
formationis. Ihre Daten entnehmen sie den an pathologischen Prä¬
paraten vollzogenen Untersuchungen, den bei blutigen Operationen
gewonnenen Erfahrungen, und in neuerer Zeit der Untersuchung
der Röntgenbilder. Hoffa pflichtet der Ansicht Ammons bei
und hält es für eine mittels der Röntgenbilder bewiesene Tatsache,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 29
Digitized by CiOOQle
442
Michael Horvath.
daß es sich hier um keine intrauterine Belastungsdeformität handle,
sondern sieht im Sinne der Ammon sehen Theorie die Erkran¬
kung als Resultat einer abnormen Entwicklung an. Auch auf der
klinisch gesunden Seite findet man — behauptet er — solche Ver¬
änderungen, die darauf hinweisen, daß sich zur Zeit der Bildung
des Gelenkes, noch während des embryonalen Lebens von dem
Normalen abweichende Prozesse zugetragen haben. Da jedoch
diese Prozesse in vielen Fällen erfahrungsgemäß Luxation bloß
auf der einen Seite zur Folge haben, auf der anderen hingegen
nicht, so nimmt er außer der primären noch eine andere, wohl
mechanische Ursache an, die zur Beendigimg der Knochen Verren¬
kung führt.
Auch Vogel ist derselben Ansicht; er nimmt in der Störung
des zentralen Blastems eine prädisponierende Ursache an — dies¬
bezüglich mit Holzmann übereinstimmend. Als jenes Moment,
das die Verrenkung auslöst und abschließt, betrachtet er den Druck
des Uterus ilnd die im extrauterinen Leben zur Geltung gelangende
Belastung.
Wieder um einen Schritt weiter geht B a d e^), der den gegebe¬
nen anatomischen Verhältnissen eine primäre Bedeutung zuschreibt.
Seines Erachtens entsteht am Fundus der Gelenkspfanne eine der¬
artige Knochenproduktion und Verdickung, daß der Schenkelkopf ge¬
zwungen wird, die Pfannengrube zu verlassen und zwar umsomehr,
da dem Schenkel köpf die Wölbung der hypoplastischen Pfanne keineu
gehörigen Halt bietet.
Sein Material, besonders die nach Röntgenbildern verfertigten
Zeichnungen durchstudierend, faßt er die charakteristischen Verände¬
rungen der Luxationen in sieben Punkte zusammen, in denen er den
Beweis seiner obigen These sieht.
1. Hypertrophie des Fundus,
2. Hypoplasie des oberen Pfannenquadranten,
3. Hypoplasie des Schenkelkopfes,
4. Hypoplasie des Halses und des Femurschaftes,
5. Anteversion des oberen Schenkelendes,
6. Asymmetrie des Beckens,
7. Vorwärtslagerung der Pfannengegend.
Die angeborene Hüftgelenksverrenkung. Stuttgart 1907.
Digitized by C^ooQle
I
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 443
Zwei schwache Punkte hat — wie Bade selbst einräumt —
seine Theorie: 1. gibt sie keinen Aufechluß über die Ursache der
anatomischen Veränderungen, und 2. entscheidet sie nicht, ob
die in den sieben Punkten aufgezählten Veränderungen wirklich
primärer Natur sind oder erst sekundär nach der Verrenkung ent¬
stehen.
Diesen Theorien gegenüber kehrten Lorenz, v. Fried¬
länder, Schanz, Ludloff u. a. zur Ansicht Dupuytrens
und R o s e r s zurück, indem sie die Hüftverrenkung aus den ver¬
schiedenen Zwangslagen, die der Schenkel im Uterus annimmt, und
aus dem fortwährenden Druck, den der Uterus auf den Schenkel
übt, ableiten.
In meiner vorliegenden Studie stütze ich mich vorwiegend auf
Röntgenbilder, welche ich nach an Hüftverrenkung leidenden Kindern
anfertigte. Die nach denselben gemachten Konturzeichnungen stellen
die pathologisch veränderten anatomischen Verhältnisse treu nach den
Originalbildem dar und veranschaulichen jene Umgestaltung, die sich
in den knöchernen Gelenkteilen im Laufe der Heilung vollzieht.
Mit der radiographisclien Anatomie des Hüftgelenkes und
namentlich der Gelenkpfanne haben sich vor mir auch schon
Andere befaßt.
Ludloff gelangt in seinem hochinteressanten Werke^) zu Fol¬
gerungen, die in vieler Hinsicht auch durch Andere bestätigt wurden.
Er stellte fest, welchen Teilen der Gelenkpfanne die auf den Röntgen-
bildem sichtbaren Linien entsprechen, und aus den Abweichungen der¬
selben bestimmte er die charakteristischen Veränderungen der Hüft¬
gelenkverrenkungen .
Köhler und ihm folgend Reiner und Werndorff^) trugen
durch überzeugende Experimente ebenfalls zur Klärung der Frage bei;
sie stellten fest, daß die sogen. Tränenfigur, welche im Röntgenbilde
jedes normalen Beckens zu finden ist und unter der horizontalen Fuge
des Y-Knorpels als ein doppclkonturiertes Bild erscheint, das radio¬
graphische Bild des vorderen Pfannenrandes nicht ist (Ludloff).
Ihres Erachtens ist die Tränenfigur das projektierte Bild des Pfannen¬
bodens, des „Recessus acetabuli“.
Ludloff, Zur Pathogenese und Therapie der angeborenen Hüft¬
gelenksluxation. Jena 1902.
Verhandl. d. deutschen Gesellsch. f. orthopäd. Chir. V.
Digitized by
Google
444
Michael Horvdth.
Im Laufe der Behandlung von Hüftgelenkverrenkungen kontrol¬
lierte ich den Verlauf der Heilung seit 12 Jahren mittels Rönt^ra-
untersuchung, und so befaßte ich mich denn mit der radiographischen
Anatomie der Pfanne auch selbst recht eingehend.
So wurde meinen Untersuchungen bezüglich der Hüftgelenk¬
verrenkung das Studium der normalen Gelenkpfanne, resp. ihres proji¬
zierten Bildes zur natürlichen Vorbedingung. Daher beginne ich also
auch hier mit der
Badiographischen Anatomie des Hüftgelenkes.
Zu meiner Studie benützte ich mehrere, von Kandem verschie¬
denen Alters herrührende Becken und setzte sodann meine Forschungen
an einem frischen pathologischen Präparate, welches von einem 2 Jahre
Fig. 1.
alten Kinde, das an rechtseitiger Hüftverrenkung gelitten hatte und
vor der geplanten Behandlung der Verrenkung an Skarlatina gestorben
war, herrührte, fort.
Behufs Bestimmung der das Acetabulum bildenden einzelnen
Teile, sowie ihrer Ränder, wandte ich verschiedene Methoden an.
An verschiedenen Teilen schlug ich in die Gelenkpfanne
kleine Stecknadeln hinein imd zwar so, daß ihr Kopf den zu be¬
stimmenden Ort bezeichnete. In einem anderen Teil der Experimente
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung, 445
bezeiclmete ich den fraglichen Teil der Gelenkpfanne mit dünnem
Draht. Wiederum in einer anderen Serie überzog ich die einzel¬
nen Teile der Pfanne mit Bismutgipsbrei.
Ueber das derart präparierte Becken
verfertigte ich in der gewohnten Lage, in
der man auch von Lebenden Röntgenphoto¬
graphien zu machen pflegt, stets unter ein
lind derselben Fokusstellung Röntgenbilder.
Auf diese Art gewann ich die folgenden
21 Bilder:
Fig. 1. Normales Becken eines 4jäh-
rigen Kindes. Stift am tiefsten, neben die
äußere Linie der Tränenfigur fallenden
Punkt des Fundus, Der dünne Draht
schmiegt sich an die äußere imd innere Wand des Fundus, und
folgt in der Höhlung der Gelenkpfanne der Grenze des Daches.
Fig. 2. Den vorderen Rand des Pfannendachei bezeichnen
Fig. 3.
die Stecknadelköpfe. Der solcherart angedeutete Strich liegt im
Röntgenbilde tiefer, als der höchste Punkt der Pfannenhöhlung
(Wölbung).
Fig. 3. Normales Becken: Auf der linken Seite bezeichnet
Digitized by L^ooQle
446
Michael Horvath.
der Draht die Grenze des Fundus, welche am projektierten Bilde
die Tränenfigur gibt. An der rechten Seite fügte ich dem Rande der
Gelenkpfanne rundherum Kupferdraht an, der am unteren Ende
des vorderen Randes zurückschwenkt und bis zum horizontalen Ast
des Y-Knorpels die noch knorplige Grenze des Ramus horizontahs
ossis pubis verfolgt.
Von den auf dieser Seite sichtbaren Nägeln bezeichnet der mit
dem größten Kopf den horizontalen Ast des Schambeines, resp. den
knöchernen Rand desselben, der durch den unteren Schenkel des
Y-Knorpels begrenzt wird. Dies ist ein Beweis dafür, daß bei der
Bildung der äußeren Linie der Tränenfigur weder der knorplige, noch
Fig. -J.
aber der knochige Teil des vorderen Randes der Gelenkpfanne (Os pubis)
teilnimmt.
Die oberste Stecknadel brachte ich am höchsten Punkte des
knöchernen Teiles des Acetabulums (Os ileum), der Wölbimg, an. Die
übrigen Nadeln bezeichnen den vorderen und hinteren Rand der schon
knöchernen Gelenkpfanne (Os ischü).
Fig. 4. Becken eines 2jährigen Kindes. Rechtseitige Hüft¬
verrenkung. Auf beiden Seiten ist die knorplige Gelenkpfanne
sichtbar; die Nadeln deuten den Rand an (Sam vorderen, 3 am
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 447
hinteren Rand). Dieses Bild beweist, daß der knorplige Pfannen¬
rand kein radiographisches Bild hat.
Fig. 5.
Fig. 5. Dasselbe Becken: An der normalen Seite schlug ich dem
vorderen Rande der Gelenkpfanne entsprechend drei kürzere Nägel
Fig. 6.
Digitized by L^ooQle
446
Michael Horväth.
hinein, so, daß der die Köpfe verbindende Strich der knorpligen Vordö-
kante der Gelenkpfanne entsprach. Von den drei langen Nadeln
deutet die oberste den Strich des oberen Pfannenrandes an (d. i. den
knöchernen Rand der Wölbung), wohingegen ich die zwei längeren
Nadeln in die Linie des hinteren knöchernen Bandes der Gelenkpfanne
hineinschlug.
Wie dieses Bild ganz entschieden zeigt, fallen die kurzen und
langen Nadelköpfe, welche die vorderen (knorpligen) und hinteren
(knöchernen) Ränder bezeichnen, mit dem lateralen Strich der Tränen-
Fig. 7 a. Fig. 7 b.
figur nicht zusammen, ja wir können sogar konstatieren, daß nur
der schon verknöcherte Teil der Gelenkpfanne, der hintere Rand des
Recessus acetabuli ein radiographisches Bild hat, welches man auf
jedem Röntgenbilde jüngerer Kinder vorfindet (Seitenlinie des Corpus
des Os ischii); der Vorderrand der Gelenkpfanne hingegen zeichnet
sich überhaupt nicht ab. Somit dürfte jene Ansicht Lud-
1 o f f s , daß die Seitenlinie der Tränenfigur das dem Vorderrand
entsprechende Bild wäre, auch durch meine Experimente entkräftet
worden sein.
Fig. 6. Dasselbe Becken: Auf der normalen Seite stach ich am
vordersten Rand des Recessus acetabuli (Os ischii) kürzere, auf der
Digitized by LjOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 449
Seite hingegen, wo der untere Schenkel des Y-Knorpels an das Os
pubis grenzt, längere Nadeln hinein. In der Projektion hat es den
Anschein, als stünden letztere weiter draußen, und fallen dieselben mit
dem lateralen Rande der Tränenfigur nicht ganz zusammen. Der
horizontale Ast des Os pubis nimmt also an der Bildung der Tränen-
fiigur nicht teil.
Fig. 7a. Normales Becken: Der Fundus acetabuli und die Wöl¬
bung sind mit einem Draht begrenzt. Der Nagelkopf bezeichnet das
untere Ende des vorderen Pfannenrandes, welches — da es im 4. Jahre
noch nicht verknöchert — kein radiographisches Bild hat.
Fig. 7 b. Dasselbe in ventraler Lage.
Fig. 8. Bild eines normalen Beckens, auf beiden Seiten mit
Tränenfiguren. An dieser Figur entspricht der untere Teil der inneren
Linie jener scharfen Linie, die auf jedem Röntgenbilde scheinbar die
Fortsetzung des unteren äußeren Striches vom Foramen obturatum
bildet, nicht. Auf einigen weiteren Bildern suchte ich den Teil, der
dieser scharfen Linie entspricht.
Fig. 9. Die lange Nadel deutet den tiefsten Punkt des Fundus
an. Der durch die übrigen Nägelköpfe bezeichnete Strich ist das
projektierte Bild der Incisura ischiadica minor imd major. Die Aus¬
wölbung in der Höhe des Y-Knorpels, welche gegen die Beckenhöhlung
schaut, ist das Bild der Spina ischiadica. Der Mittelstrich der Tränen¬
figur oder jener scharfe Strich, der sich vom Foramen obtu-
Digitized by L^ooQle
450
Michael Horvath.
ratum 'hinaufzieht, fällt mit dem projizierten Bilde der Inc. ischiad.
nicht zusammen.
Fig. 10. Normales Becken: zeigt sehr gut die radiographische
Fig. 0.
Anatomie der Gelenkpfanne. Auf der Innenseite des Fundus schlug
ich in der Richtung vom kleinen Becken her einen Nagel hinein, dessen
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 451
Kopf am projizierten Bilde in die mediale Linie der Tränenfignr fällt.
Die drei kleinen Stecknadeln bezeichnen die Mittellinie der Incisura
ischiad. minor, somit hat also dieselbe kein radiographisches Bild (siehe
Bild 9).
Fig. 12. Fig. 13.
Fig. 11. Vom Fundus aus aufgenommenes Bild. Der Recessus
acetabuli ist mit Gipsbrei bedeckt.
Fig. 14 a.
Fig. 12. Dasselbe von vorn aus betrachtet. Am projizierten
Bilde wird die Tränenfigur mit Gipsbrei begrenzt sichtbar.
Digitized by
Google
452
Michael HorvÄth.
Fig. 13. Bild des Fundus nach Ausmeißeln des Recessus. Die
Lücke begrenzen von zwei Seiten zwei Schenkel des Y-Knorpels. Der
Recessus ist ein Teil des Körpers vom Os ischii.
Fig. 14a. Dasselbe, Vorderansicht. Die Ausmeißlung des Re¬
cessus zog das Verschwinden der Tränenfigur nach sich (Reiner
und Werndorff), wohingegen die vom Foramen obturatum nach
oben ziehende scharfe Linie unversehrt blieb.
Fig. 14b. Dasselbe von rückwärts durchleuchtet. Die Tränen¬
figur ist verschwimden. Die scharfe Linie ist noch sichtbar, doch
nicht mit ganzer Schärfe, nachdem der Teil des kleinen Beckens, welcher
beim Projizieren die scharfe Linie bildet, von der Platte (der Ebene
der Projektion) weiter weg fällt.
Fig. 15. Setzt man den ausgemeißelten Fundus an seinen früheren
Platz zurück, so wird die Tränenfigur wieder sichtbar. (Nachdem die
Wiedereinsetzung des etwas zusammengedrückten spongiösen Knochen¬
teils nicht absolut vollkommen ist, füllt derselbe nicht ganz seinen
ursprünglichen Platz aus.) Die scharfe Linie ist extra sichtbar.
Fig. 16. Auf der linken Seite ist die Höhlung der Gelenkpfanne
mit Bismutgipsbrei begrenzt. Auf der rechten Seite meißelte ich
denselben Teil (den Fundus) heraus. An der Seiten wand des kleinen
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 453
Beckens brachte ich unter dem Periosteum in der Richtung der Spina
ischiadica eine Stecknadel an. Der Stecknadelkopf liegt an der Innen¬
seite des Ramus descendens ossis ischii. Läßt man die Röntgen¬
strahlen von vorne durchdringen, so ist diese leicht gebogene Linie
des Os ischii auf jedem Röntgenbilde als scharfe Linie sichtbar und
bedeckt teilweise die mediale Linie der Tränenfigur.
Fig. 18.
Wird diese Seitenwand des kleinen Beckens, d. h. der bis zur
Spina ischiadica reichende Teil des Ramus descendens am Os ischii
abgemeißelt, wie dies Fig. 17 zeigt, so verschwindet neben der Tränen¬
figur der obere Teil der scharfen Linie, sowie auch das Bild der Spina
ischiadica, welches in der 16. Abbildung noch ganz unversehrt zu
sehen war.
Digitized by L^ooQle
454
Michael HorvÄth.
Fig. 18. Bild des Fundus an einem normalen Becken nach Aus-
meißlung des vom Y-Knorpel begrenzten Teiles des Os pubis, d. i. des
vorderen Gelenkpfannenteiles.
Fig. 19. Dito. Vorderansicht. Tränenfigur ganz unversehrt.
Die Nadel ist an der Seitenwand unter das Periosteum gestochen der¬
art, wie dies Fig. 16 veranschaulicht. Deutet die sogen, scharfe Linie
bis zur Spina ischiadica gut an.
Fig. 20. Nach Entfernung des Os pubis und ischii bleibt nur
der Recessus acetabuli unversehrt übrig. Auf projizierten Bildern
ist die Tränenfigur sichtbar (Reiner und Werndorff). Auf der
Fig. 20.
anderen Seite fehlt nur der Recessus und dementsprechend verschwin¬
det auch die Tränenfigur.
Das radiographische Bild des Hüftgelenkes resp. der Pfanne
ändert sich bei den Individuen über 12 Jahren, sofern nämlich der
Y-Knorpel und der bisher knorplige Rand der Gelenkpfanne ver¬
knöchern. Dementsprechend ändert sich auch das radiographische
Bild.
Fig. 21. Mehr als 12jähriges Becken, bei dem die Verknöcherimg
schon ihr Ende erreicht hat.
Die den Fundus andeutende Tränenfigur ist bloß in ihrem unteren
Teile durch eine Doppellinie angedeutet, weiter oben geht dieselbe in
eine einzige verdickte Linie über und setzt sich ohne jeder Unterbrechung
Digitized by L^ooQle
Beiträge znr Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 455
in gleichmäßigem Bogen bis zu der Linie fort, die die Wölbung der
Gelenkpfanne andeutet. Der Fundus bleibt also nur in der Gregend
der Incisura acetabuli dicker, wohingegen er weiter oben dünner
wird, so daß der sogen. Recessus acetabuli bei älteren Personen dünner
ist als im Kindesalter.
Infolge der Verknöcherung des Supercilium acetabuli finden wir
das radiographische Bild auch des vorderen Pfannenrandes; dies ist
ein wichtiger Unterschied zwischen den radiographischen Bildern der
aus dem Kindes- und der aus dem erwachsenen Alter stammenden
Becken.
Den Strich, der den Hinterrand andeutet, finden wir auf dem
vom Präparat verfertigten Bilde (wenn der Fokus über der Sym-
Fig. 21. Fig. 22.
physis war) innerhalb derjenigen Linie, die den Vorderrand andeutet
(also medial).
Auf den Bildern solcher Becken, die von älteren Kindern und
Erwachsenen herrühren, wird außer der Tränenfigur noch ein neuer
Strich sichtbar. Behufs Klarlegung dessen, welchem Knochenteile der¬
selbe in der Anatomie des Gelenkes entspreche, verfertigte ich mehrere
Aufnahmen und gelangte schließlich zu dem Resultat, daß derselbe
das radiographische Bild des ganzen hinteren Endes des verknöcherten
Supercilium acetabuli nicht ist, wie man dies während des Betrach-
tens des Präparates hätte vermuten können, sondern denjenigen Teil
(fast möchte ich sagen: die Wurzel) desselben darstellt, mit dem das
Digitized by LjOOQle
456
Michael Horvath.
hintere Ende des Supercilium am Körper des Os ischii sitzt (Fig. 22).
Auf den radiographischen Bildern jüngerer Becken ist dies, da der
Limbus noch ganz knorplig ist, nicht zu sehen. Das Erscheinen dieser
Linie deutet also auf die Verknöcherung des Supercilium acetabuli.
Fassen wir nun das Resultat zusammen, so kann folgendes kon¬
statiert werden: Auf den Röntgenbildern der Becken jüngerer Kinder
bekommen wir treue Abbildungen des Daches und des schon ver¬
knöcherten knöchernen Vorderrandes der Wölbung. Aus der Höhe
jener Fläche, welche die beiden Linien einschließen, kann auch auf
die Form der Wölbimg geschlossen werden. Bei älteren Kindern prägt
sich die Wölbung mehr und mehr aus.
Vorder- und Hinterrand der Gelenkpfanne haben im Kindesalter
noch kein radiographisches Bild, so daß man auf den Röntgenbildem
die Tiefe der Pfannenhöhlung nicht messen kann.
Der knöcherne Teil der Pfanne ist im Kindesalter noch in so
geringem Maße ausgehöhlt, daß es den Schenkelkopf zu tragen total
unfähig wäre. Doch wird die knöcherne Gelenkpfanne bei normalem
Becken im Kindesalter durch den noch knorpligen Gelenkpfannenrand
vollkommen ergänzt, hauptsächlich nach hinten und oben, wodurch
derselbe die Höhlung der knöchernen Pfanne bedeutend vergrößert.
Bei älteren Personen ist das radiographische Bild nach Verknöcherung
der Pfannenränder auch zum Zwecke der Messimg der Pfannenhöhlung
geeignet.
Die Tränenfigur ist das radiographische B’dd des auch schon im
Kindesalter verknöcherten Recessus acetabuli (Reiner und Wern¬
dorff). Die Seitenlinie deutet die innere Grenze der Pfannenhöhlung
an, wohingegen die mediale Linie das projizierte Bild der Seitenwand
des kleinen Beckens ist und zwar desjenigen Teiles der Seitenwand,
der gleichzeitig die Innenwand des Recessus acetabuli bildet.
Die die beiden Linien der Tränenfigur unterhalb verbindende Kurve
entspricht in der Gegend der Incisura acetabuli dem Teile des Knochens,
der dort gelegen ist, wo der Ausgang der Fossa acetabuli zur Wand des
kleinen Beckens zurückbiegt (Köhler).
Die sich neben der medialen Linie befindende scharfe Linie, welche
den unteren, breiteren Teil der Tränenfigur durchschneidet, geht nach
oben hin in die Innenlinie der Tränenfigur über. Der untere Teil dieser
scharfen Linie deutet nicht des Fundus innere Grenze an, sondern die
innere, gegen das kleine Becken gekehrte Seite des absteigenden Astes
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 457
vom Os ischii und zwar in der Linie, welche in der gebräuchlichen Pro¬
jektion gleichsam die Fortsetzung der äußeren unteren Grenze des
Foramen obturatum bildet.
Die Kenntnis der radiographischen Anatomie des Hüftgelenkes
ist von praktischer Bedeutung, nachdem die abweichenden Verhält¬
nisse auch bezüglich jener pathologischen Veränderungen Aufschluß
geben, welche sich infolge der Erkrankungen des Hüftgelenkes ent¬
wickeln, ja die Form und Dicke des Fundus und die Verknöcherung
der Pfannenränder lassen sogar gewisse Folgerungen auf die Alters¬
grenze zu.
In meiner Studie bezüglich der Ätiologie und Pathologie der
angeborenen Hüftgelenksverrenkungen stützte ich mich vornehmlich
Fig. 23.
auf Röntgenbilder, und da ich nicht von sämtlichen Bildern Kopien
anfertigen konnte, füge ich als Figuren im Text einige Konturzeich¬
nungen bei. Doch will ich, bevor ich zu diesem Teile meiner Studie
übergehe, die Beschreibung des Beckens jenes schon erwähnten Kindes,
das an Skarlatina starb und rechtseitige angeborene Hüftgelenks¬
verrenkung hatte, vorausschicken.
Beschreibung eines Luxationsbeckens.
Bei einfacher Betrachtung bemerkt man am Becken (Fig. 23)
keine größere Asymmetrie und doch waren in den Dimensionen gewisse
Abweichungen zu finden.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 30
Digitized by CjOOQle
458
Michael Horvath.
Der Querdurchmesser des großen Beckens beträgt (zwischen den
beiden Cristae lab. int.) 118 mm, die Entfernung zwischen der Crista
lab. int. und der durch die Mitte des Promontorium gelegten Ebene
auf der verrenkten Seite . . . . 62 mm
auf der normalen Seite.56 mn
D e Entfernung von der sagittalen Ebene der Crista bis zur ssgittakn
Ebene der Linea arcuata
verrenkte Seite .... 36 mm
normale Seite .... 32 mm
Von der sagittalen Ebene der Linea arcuata bis zur Ebene durch die
Mitte des Promontorium
verrenkte Seite .... 26 mm
normale Seite .... 24 mm
Die durch die Mitte des Promontorium gelegte sagittale Ebene
durchschneidet die Symphysis nicht genau im Mittelpunkte, sondern
etwas abwärts gegen die normale Seite hin (1—2 mm).
Der gerade Durchmesser des kleinen Beckens betrug . 53 mm
Der Querdurchmesser desselben . 54 „
Die schrägen Durchmesser desselben. 52—52 „
Die Breite des kleinen Beckens zwischen den zwei Fun¬
dus acetabuli gemessen. 43 „
Entfernung zwischen den beiden Spinae ischiadicae . 44 „
und zwar zwischen der Spina ischiadica und der
durch die Mitte des Promontorium gelegten Ebene
auf der normalen Seite 20,5
auf der luxierten Seite 23,5 „
Zwischen den beiden Tub. isch. betrug die Entfernung 52 „
Die Entfernung zwischen der Tub. ischii und der durch
die Mitte des Promontorium gelegten sagittalen
Ebene war auf der normalen Seite 25 „
auf der luxierten Seite 27
Winkel des Promontorium = 1359
Länge des Foram. obt. (auf beiden Seiten) .... 22 „
Breite des Foram. obt. (auf beiden Seiten) . . - 14,5 „
Das Foramen obturatum veränderte auf der luxierten Seite seine
Richtung nicht. —
Digitized by c^ooQie
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 459
Die Durchmesser des Einganges vom kleinen Becken sind fast
gleich lang, und wenn die beinahe regelmäßige Kreislinie in der Gegend
des Acetabulums nicht hineinbiegen würde nach der Mittellinie zu,
so könnte man fast von einem runden Beckeneingange sprechen.
V r o 1 i k erwähnt bei der Beschreibung des luxierten Beckens
als charakteristische Abweichung, daß das kleine Becken auf der Seite
der Verrenkung w^eiter, das große Becken hingegen infolge der steilen
Stellung des Darmbeinflügels auf dieser Seite schmäler ist.
In meinem Falle ist das kleine Becken auf der verrenkten Seite
tatsächlich etwas weiter, sofern nämlich die sagittale Ebene, die man
Fig. 24.
durch die Mitte des Promontorium legen kann, die Symphysis nicht
genau in der Mitte, sondern ein wenig nach der normalen Seite zu
verschoben trifft. Doch ist die hierdurch entstehende Asymmetrie so
gering, daß ich zwischen den schrägen Durchmessern des Becken-i
einganges gar keinen Unterschied nachweisen konnte. Der Ausgang
des kleinen Beckens ist auf der verrenkten Seite ebenfalls um sehr
Geringes weiter, wie dies jene Dimensionen zeigen, welche die Ent¬
fernung zwischen der Spina ischiadica und dem Tub, ischii auf weist.
Das große Becken ist in meinem Falle —- abweichend von den
V r o 1 i k sehen Messungen — infolge der Verflachung der Darmbein¬
schaufel auf der luxierten Seite weiter, und dies ist die auffallendste
Digitized by C^ooQle
460
Michael Horvath.
Asymmetrie, welche schon bei einfacher Betrachtung des Beckens in
die Augen springt.
Das Becken kann ich — mit Rücksicht auf die gleiche Länge
der schrägen Diagonalen — weder für schräg, noch aber für asym¬
metrisch halten. Die Abschweifung der durch die Mitte des Promon¬
torium gelegten sagittalen Ebene ist gegen die gesunde Seite zu so ge¬
ring, daß sie mit dem Auge kaum bemerkt werden kann und sich
bloß gelegentlich der Messungen zeigt.
Wenngleich nun das Becken dieses 2jährigen Kindes noch keine
größere Abweichung auf weist, so finden wir an den beiden Acetabula
Fig. 25.
desto größere Unterschiede. Die Photographien der pathologischen
Präparate veranschaulichen treu die Verhältnisse (Fig. 24 u. 25).
Der Diameter des normalen Gelenkes beträgt in jeder
Richtung 2V2 cm. Der Knorpelüberzug, der bloß am Fundus an der
Insertionsstelle des lüg. teres von ungefähr 1 mm dickem Bindegewebe
bedeckt ist, ist ganz intakt.
Der Limbiis acetabuli, der 1 cm, an der hinteren Seite der Pfanne
jedoch 1,5 cm breit ist, ergänzt den übrigens noch flachen knöchernen
Recessus so vollkommen, daß die Pfannengrube zur Aufnahme des
Schenkelkopfes und zur Stützung desselben gänzlich genügt, umso¬
mehr, nachdem das Kapselband die direkte Fortsetzung des knorp-
Digitized by
Google
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 451
ligen Limbus bildet und hierdurch die Stabilität des Schenkelkopfes
sichert.
Das luxierteGelenk (Fig. 24) ist oval; sein längerer Durch¬
messer beträgt (den knorpligen Rand auch hinzugerechnet) 22 inm,
sein Breitendurchmesser 15 mm. Der Fundus der Pfanne, der schon
knöcherne Recessus acetabuli ist auf beiden Seiten 15 mm lang und
12 mm breit. Den Fundus des luxierten Gelenkes bedeckt größtenteils,
besonders um den Anhaftungsort des Lig. teres herum, bräunlichgraues
Bindegewebe, so daß hier der Pfannenrand kaum über die Grube ragt.
Das obere Viertel der Pfanne ist auf sichelförmiger Fläche 5 mm tief.
Die Ränder sind auffallend niedrig und flach. Der Limbus ist 5 mm,
am Hinterteil 6 mm breit. Derjenige Teil des Hinterrandes (siehe
Fig. 24), auf welchem die durch das Lig. teres gebildete kleine Quer¬
furche sichtbar ist, findet ohne jeden scharfen Uebergang seine Fort¬
setzung in die Pfannengrube, so daß derselbe als Stütze des Schenkel¬
kopfes ganz und gar ungenügend ist.
Lig. teres: Auf der normalen Seite ist es dort, wo es sich an den
Fundus der Pfanne anhaftet, ein 1,5 mm dickes, 1 cm breites und 2 cm
langes, plattes Band, welches dem Schenkelkopf in einer 1 cm 2 mm
langen Linie anhaftet. Auf der luxierten Seite bildet das Lig. teres
einen 3 cm 3 mm langen und kaum mm dicken Strang, der an den
beiden Insertionsstellen je ^/2 cm breit wird. Dieser verkümmerte
Strang zieht sich vom unteren Viertel der Pfanne heraus und herauf,
und legt sich inzwischen dem oberen Teil des Hinterrandes an, auf dem
er eine dünne, ungefähr 1 mm tiefe Furche bildet. Das Lig. teres
legt sich von selbst in diese Furche hinein, wenn wir den Schenkelkopf
in die pathologische Lage bringen.
Die Pfannengrube ist, von den sie ausfüllenden weichen Teilen
gereinigt, auf der gesunden Seite 1,1 cm tief, auf der kranken Seite
hingegen nur 6 mm.
Der Unterschied ist teilweise dem Umstande zuzuschreiben, daß
der Limbus cartilagineus abgeglättet und zusammengedrückt ist und
besonders der Hinterrand das Niveau der knöchernen Pfanne so
wenig überragt, daß seine Unzulänglichkeit zur Erhaltung des Schenkel¬
kopfs ganz begreiflich ist. Dazu jedoch, daß die kranke Pfannengrube
kleiner wird, trägt auch der Unterschied bei, den man hinsichtlich der
Dicke der beiden Fundi beobachten kann und zwar insofern, daß
die Dicke des Knochens am Fundus auf der gesunden Seite 7,5 mm
beträgt, auf der kranken Seite hingegen 9.0 mm.
Digitized by CjOOQle
462
Michael Horvath.
Behufs Veranschaulichung der Gestalt und Größe der beiden
von den Weichteilen schon gereinigten Pfannengruben goß ich beide
mit Gipsbrei aus, und wie Fig. 26 zeigt, ergab sich zwischen den beiden
ein bedeutender Unterschied.
Dem Schenkelkopf dient auf der gesunden Seite die Pfannengrube
als genügende Stütze, das Kapselband legt sich eng an sie an, so daß
Fig. 26.
am Kadaver selbst mit Gewalt keine Luxation hervorgerufen w^erden
konnte. Die Dicke des Kapselbandes betragt durchschnittlich 2 mm.
— Auf der luxierten Seite liegt der Schenkelkopf außerhalb des Ge¬
lenkes, nach oben und außen hin, am untersten Teile des Darmbein-
Fig. 27.
flügels, in der Höhe der Spina ant. inferior, und er schiebt die Kapsel
vor sich, deren den Schenkelkopf bedeckender Teil derart dünn wird,
daß derselbe vollkommen durchschimmert.
Der verrenkte S c h e n k e 1 k n o c h e n ist in seinen sämtlichen
Digitized by
Google
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 463
Dimensionen kleiner, zarter als der normalseitige. Der größte Umfang
<ies Schenkelkopfes beträgt 55 mm, hingegen auf der gesunden Seite
74 mm. Die Atrophie des oberen Endes des Schenkelknochens wird
ilurch Fig. 27 gut veranschaulicht; dieselbe gibt ein von den beiden
Knochen verfertigtes Röntgenbild, welches zeigt, daß zwischen den
knöchernen Kernen eine Differenz von IV 2 mm (11—9,5 mm), wohin-
Fig. 28.
gegen zwischen dem größten Durchmesser des knorpligen Schenkel¬
kopfes (26—22 mm) eine Differenz von 4 mm erscheint.
Der Kopf des auf der luxierten Seite liegenden Schenkelknochens
zeigt die durch Lorenz beschriebene medio-posteriore Abplattung in
sehr typischem Maße (Fig. 23), und so hat denn der Kopf des Schenkel¬
knochens, von oben aus betrachtet, die Form eines etwas abgerundeten
rechtwinkligen Dreieckes, dessen Spitze nach hinten und außen gerichtet
ist, während seine Hypotenuse durch die abgeflachte Seite des SchenkeL
Digitized by CiOOQle
464
Michael HorvÄth.
kopfes gebildet wird. Der Knorpelüberzug des kranken Schenkel¬
kopfes ist am trockenen Präparate so dünn und durchschimmernd, daß
der knöcherne Kern des Kopfes in durchfallendem Lichte sehr gut
sichtbar ist. Am Knorpelüberzug des Kopfes findet man rund herum
eine Furche, durch die der Kopf gleichsam in zwei Teile geteilt wird.
Der Schenkelhals ist am kranken Schenkel schlanker, im übrigen
hingegen (so hinsichtlich seiner Länge, Anteversion, und des Schenkel¬
halswinkels) zeigt er im Vergleiche mit dem Schenkelknochen der nor¬
malen Seite keine auffallende Abweichung.
Fig. 29.
Die nach dem noch unversehrten Präparate verfertigten Röntgen¬
bilder, welche das Becken möglichst in der Lage zeigen, in welcher wir
das auf dem Rücken liegende lebende Kind zu untersuchen pflegen,
veranschaulicht treu genug jene pathologischen Veränderungen, deren
ich bei Beschreibung des Präparates Erwähnung tat.
Auf dem Bilde (Fig. 28), vornehmlich auf der Platte, sind die
verschiedenen Stellungen der Schenkelköpfe sehr gut sichtbar und
ebenso auch die Atrophie des Schenkelknochens der luxierten Seite,
weiterhin sind auf der normalen Seite die Grenzen jener knorpligen
Schichte, die den knöchernen Kern des Kopfes überzieht, ja selbst
Digitized by
Google
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung, 405
noch auch die Grenzen des Kapselbandes zu sehen. (Auf gutgelungenen
Röntgenbildern junger Kinder kann man — und dies will ich hier
nebenbei erwähnen — sämtliche Teile, die das Gelenk bilden, gut
sehen.) Die Tränenfigur ist nicht durch ganz scharfe Linien bezeichnet,
sondern hauptsächlich in ihrem unteren Teile als dunklere Schattierung
sichtbar. Jene scharfe Linie, die gleichsam die Fortsetzung des unteren
äußeren Randes vom Foramen obturatum bildet, fällt mit der medialen
Linie des Fundus — wie dies aus meinen, die radiographische Anatomie
des normalen Beckens betreffenden Untersuchungen hervorging — nur
in ihrem oberen Teile zusammen.
Behufs radiographischer Messung des Pfannenbodens schlug ich
auf beiden Seiten am tiefsten Punkt desselben je eine kleine Stecknadel
durch den Knochen hinein, derart, daß der Nadelkopf der Innen¬
fläche des Fundus entsprach. Fig. 29 zeigt, daß die Stecknadeln auf
beiden Seiten die laterale (äußere) Linie der Tränenfigur andeuten.
Später zwickte ich das im kleinen Becken erscheinende Ende knapp
neben den Knochen ab, und da gab die Stecknadel die Dicke des Fundus.
Der Unterschied in der Länge der nachträglich entfernten Stecknadeln
betrug 1 mm, zum Zeichen dessen, daß auf der luxierten Seite der
knöcherne Pfannenboden dicker ist.
Der untere Teil der Tränenfigur hingegen ist — aus den
Messungen an der Röntgenplatte gefolgert — auf der normalen Seite
breiter und dementsprechend auch am pathologischen Präparat beim
Ausgange der Fossa acetabuli der Knochen etwas (V^ mm) dicker.
Die Verdickung des Pfannenbodens ist jedenfalls eine charakte¬
ristische pathologische Veränderung der kongenitalen Hüftverrenkung.
Doch kann ich schon hier nicht unerwähnt lassen (obzwar ich zur
Untersuchung der Dicke des Fundus später noch zurückzukehren ge¬
denke), daß am normalen Becken jüngerer Kinder der knöcherne
Pfannenboden auffallend dick ist, wohingegen derselbe sich später —-
nach der Verknöcherung des Y-Knorpels — derart verdünnt, daß die
zwei parallelen Linien der Tränenfigur, welche die Dicke des Fundus
andeuten, in der Mitte einander fast berühren.
Zur Messung der Tiefe der Pfanne ist das Röntgenbild des
Beckens junger Kinder nicht geeignet, da — wie dies aus der radio¬
graphischen Anatomie des Hüftgelenkes bekannt ist — der noch
knorplige Vorder- und Hinterrand desselben nicht festgestellt werden
kann, umsoweniger, da der in der Pfannengrube sitzende Schenkel¬
kopf das projizierte Bild der Pfannenränder verdeckt. Am patho-
Digitized by C^ooQle
46G
Michael Horvith.
logischen Präparate, resp. am Röntgenbilde desselben ist hing^en
auch die Feststellung der Pfannenränder möglich.
Wie Fig. 30 zeigt, stach ich in den Rand der Pfanne drei Steck¬
nadeln, und zwar in der Art, daß der Kopf der am weitesten innen
gelegenen Nadel dem Hinterrand der knöchernen Pfanne entsprach,
während die beiden anderen Nadeln die Grenze des Limbus andeuteten.
Die den Limbus acetabuli bedeckende Knorpelschichte umgibt näm¬
lich den Recessus acetabuli in der Gestalt zweier verschiedenfarbiger
halbmondförmiger Ringe, und zwar ist dieselbe in ihrem inneren Teile
Fig. 30.
weiß, wohingegen der äußere, an das Kapselband angrenzende Teil
dunkler, grau ist. Die mittlere Nadel bezeichnet demnach die Grenze
des die knöcherne Pfanne umgebenden weißen Knorpeliiberzuges,
während der Kopf der äußeren Nadel den Hinterrand des Limbus,
die Grenze des knorpligen Pfannenrandes andeutet.
Die am Bilde sichtbare krumme Nadel legt sich in der Gegend
des Y-Knorpels dem Fundus an und zeigt von hier angefangen die
Konkavität der Wölbung.
Vergleichen wir nun die Distanzen, welche die Nadeln, sowie die
Stecknadelköpfe geben, so finden wir, daß dieselben auf der normalen
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 467
Seite größer sind (6 + 5 + 10 mm = 21 mm), als auf der laxierten
Seite (öVz + 2V2 + mm — I2V2 mm). Diese Zahlen sind zwar
etwas größer, als die am pathologischen Präparat abmeßbaren Di¬
stanzen, doch sind dieselben zur Vergleichung dennoch geeignet, weil
die Projektion von derselben Stellung (Fokusstellung) aus geschah.
Auffallend ist auf der laxierten Seite die Kleinheit jener Zahlen,
welche des Limbus Breite bezeichnen, was so viel bedeutet, daß die
Pfannengrube samt ihrer knorpligen Ergänzung in der Richtung gegen
den Hinterrand der Pfanne auf dieser Seite bedeutend kleiner ist, als
auf der normalen Seite. Dementsprechend sehen wir auch bei der
Untersuchung des Präparats, daß der knorplige Hinterrand der
Pfanne auf der laxierten Seite sehr schmal ist. Berücksichtigen wir
Fig. 31.
Fig. 32.
nun noch, daß die Dimensionen des Recessus acetabuli (sowohl in der
Länge, wie auch in der Breite) übereinstimmen, die Dicke des Fundus
am Becken dieses 2jährigen Kindes verhältnismäßig ebenfalls nur
geringe Unterschiede aufweist, so können wir mit Recht behaupten,
daß die Unzulänglichkeit der Pfanne im vorliegenden Falle nicht aus¬
schließlich der Verdickung des Fundus zuzuschreiben ist, sondern dem
Umstande, daß die Pfannengrube auch durch den knorpligen Limbus
nicht gehörig ergänzt wurde, eine ebenso wichtige Rolle zukam.
Daß in der Entwicklung derjenigen Knochen, w^elche an der
Pfannenbildung teilnehmen, die laxierte und die gesunde Seite keinen
bedeutenden Unterschied aufweisen, wird trefflich illustriert, wenn man
diö Strahlen von der Pfannengrube her durchläßt; (die Platte placierte
Digitized by L^ooQle
4t58
Michael Horvath.
ich im kleinen Becken derartig, daß ihre Fläche womöglich parallel
mit der Ebene des Fundus zu liegen kam). Die beiden Abbildungen
(Fig. 31 und 32) zeigen den Y-Knorpel, die Form der die Pfanne bildender.
Knochen, wie auch ihre in jeder Richtung übereinstimmenden Dimen¬
sionen recht gut. Ein Unterschied fällt unbedingt auf (würdigen werden
wir denselben weiter unten), doch bezieht sich derselbe nicht auf die
Gelenkpfanne. Die Aeste der Scham- und Sitzbeine vergleichend,
finden wir, daß auf der luxierten Seite (an der unteren Grenze des
Foramen obturatum) die Lücke (der Knorpel) zwischen den beiden
Aesten größer (4 mm) ist, als auf der gesunden Seite (2 mm).
Jene Abbildung des Präparats, auf der das obere Ende der ein¬
geführten krummen Nadel das projizierte Bild der Wölbung an-
deutet, benützte ich zur Messung des Neigungswinkels der W'ölbung;
auf die Art und Weise der Messung kehre ich später noch zurück.
Nach meiner Messung ergaben sich auf der normalen Seite 35o,
auf der luxierten hingegen 45o, das heißt also, daß die letztere
steiler ist.
Das Gesagte rekapitulierend, hebe ich hervor, daß die Unter¬
suchung des Präparates und der nach ihm verfertigten Röntgenbilder
folgendes ergaben: Die Asymmetrie des Beckens zeigt sich nur in un¬
bedeutendem Maße, am auffallendsten ist hier und somit auch schon
ohne Messung ins Auge springend, daß die Darmbeinschaufel auf der
verrenkten Seite — abweichend von den bisherigen Beobachtungen —
weniger steil ist. Die Pfannengrube ist auf der luxierten Seite bedeutend
kleiner, und hieran nehmen sowohl die größere Dicke des Fundus, wie
auch die Verflachung der Ränder teil. Das Pfannendach ist auf der
luxierten Seite steiler. Der Schenkelknochen ist in jeder Richtung
bedeutend atrophisch. —
• vi % Diejenigen, die das Entstehen der Hüftgelenksverrenkung äußeren
Kräften zuschreiben, schreiben der Anamnese gewisse Bedeutung
zu. Die aus der Anamnese geschöpften Daten haben — nachdem wir
in Besitz derselben gelegentlich der ersten Untersuchung, also meistens
P/ 2 —2—3 Jahre nach der Geburt gelangen — nicht immer absoluten
Wert, doch können wir sie nicht vernachlässigen, da sie in vielen Fällen
von ganz glaubwürdigen, intelligenten Eltern stammen, und als auf¬
fallende Erscheinungen, z. B. nach der Geburt sich zeigende Kontraktur¬
stellung, vollkommen Glauben verdienen.
Meine 125 Fälle bezüglich jener Symptome, die während der
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 469
Schwangerschaft, der Geburt und nach der Geburt auftreten, prüfend,
konnte ich folgende Daten aufzeichnen.
Die Schwangerschaft nahm in sämtlichen Fällen einen normalen
Verlauf, nur in den Angaben zu Fall 94 lese ich, daß sich die Mutter
außerordentlich stark schnürte. Doch die Entbindung verlief auch in
diesem Falle normal. Die bilaterale Luxation konnte man bei dem
Kinde erst, nachdem es zu gehen anfing (IV2 Jahre später), konstatieren.
Bezüglich des 89. Falles ist als auffallender Umstand zu erwähnen,
daß die Mutter während der ganzen Zeit der Schwangerschaft ihre ge¬
wöhnlichen Kleider tragen konnte. Das Kind kam mit einem recht¬
seitigen Schiefhals auf die Welt; seine linkseitige Hüftluxation verriet,
als es 1 Jahr alt wurde, sein hinkender Gang. In meinem 122. Falle
war die Mutter bemüßigt, 5 Monate der Schwangerschaft bettlägerig
zuzubringen (blutiges Urinieren, Erbrechen). Die Entbindung dauerte
3 Tage lang und mußte mit Zangen beendigt werden. Das Kind fing
im 14. Monat hinkend zu gehen an.
In 117 Fällen verlief die Entbindung normal. Schwere, pro¬
trahierte Entbindungen finden wir in der Anamnese in 8 Fällen er¬
wähnt, nach denen drei Kinder (61., 80., 114. Fall) asphyktisch waren.
In einem Falle (68.) beobachtete man gleichzeitig das totale Fehlen
des Fruchtwassers. In diesem Fall fiel bei dem Kinde schon im 8. Monat
sehr gesteigerte Lordose auf.
Die bezüglich der Menge des Fruchtwassers gelieferten Angaben
sind, nachdem sie weder vom Arzte, noch auch von der Hebamme
herrühren, nicht verwertbar, und übrigens stehen uns auch nur bezüg¬
lich zweier Fälle (13., 68.) positive Aufzeichnungen zur Verfügung; in
beiden Fällen war auffallend wenig vorhanden.
In der Mehrheit der Fälle erkennt man die Luxation nicht im
ersten Lebensjahre des Kindes und ist auf meine diesbezügliche Frage
die stereotype Antwort: „Als das Kind zu gehen anfing, da fiel sein
Hinken auf.‘‘
Trotzdem gibt es solche Symptome, denen man außerordentliche
Bedeutung zuschreiben muß, da dieselben nicht nur die Aufmerksamkeit
der Eltern wachzurufen geeignet sind und hierdurch das frühzeitige
Erkennen des Uebels ermöglichen, sondern auch deshalb von Wichtig¬
keit sind, weil sie auch auf die Aetiologie ein Licht werfen können.
In 8 Fällen von meinen 125 bemerkten die intelligenten Eltern
unmittelbar nach der Geburt Kontraktur des Hüft- oder Kniegelenkes
oder gleichzeitige Kontraktur beider.
Digitized by
Google
470
Michael Horvath.
Mit Rücksicht auf ihre besondere Wichtigkeit lasse ich hier diese
Fälle nach meinen Aufzeichnungen folgen: r
Fall 14. Sehr lebhafte Bewegungen des Embryo. Normnle
Entbindung. In den Wochen nach der Geburt hielt das Kind seinen
linken Fuß gewöhnlich höher gezogen und eingebogen. Im Alter von
11 Monaten begann es zu gehen; daß es hinke, fiel erst, als es 2 Jahre
alt war, auf. Im Alter von 3 Jahren war eine Verkürzung von 7 mm
vorhanden. Das normalseitige Pfannendach ist auffallend gut, woliin-
gegen dasselbe auf der luxierten Seite steiler ist (Neigungswinkel 37 o).
Der linke Fuß ist nach außen hin gekehrt. Nach dem Röntgenbilde
hat der Schenkelkopf das Gelenk noch nicht ganz verlassen. Sub¬
luxation.
F a 11 24. Normale Schwangerschaft und Entbindung. Das Kind
hält seine linke Hüfte schon von den ersten Tagen an flektiert und
wimmert beim Einwickeln und passiver Streckung jämmerlich.
Laut Röntgenbild betrug der Neigungswinkel des Pfannendaches auf
der normalen Seite 33o, auf der luxierten 40o. Der Schenkelkopf ist
auf dem projizierten Bilde noch in der Höhe des Y-Knorpels, doch
auswärts von demselben sichtbar.
Fall 36, Schwangerschaft und Entbindung von normalem Ver¬
lauf. In den ersten Wochen hält das Kind seinen linken Schenkel
hinaufgezogen. Beim Ausstrecken desselben weint es. Das Pfanneii-
dach ist auf der pathologischen Seite steiler, 44o, auf der normalen
Seite 28^. Bezüglich der Länge der Beine ist kaum ein Unterschied
zu finden. Subluxation.
Fall 67. Normale Entbindung. Nach der Geburt hielt das
Kind lange Zeit hindurch das eine Bein über das andere gekreuzt,
adduziert. Pfannendach steiler (56o), doch auch auf der gesunden
Seite nicht ganz normal (38o).
Fall 75. Entbindung zur normalen Zeit. Verschlingung der
Nabelschnur; viel Fruchtwasser. Schon in erster Zeit fiel die Kon¬
traktur der Kniee auf, da die Füße nicht so, wie gewöhnlich, ein¬
gewickelt werden konnten. Nach einem Monat waren die Kniee ganz
gestreckt. 2 Jahre alt, begann das Kind mit ausgesprochener Lordose
zu gehen. Auf beiden Seiten steileres Dach (41—54o). Im 3. Jahre
betrug die Verkürzung cm.
Fall 81. Das Kind hielt nach der Geburt eine Zeitlang sein
linkes Bein mit Vorliebe flektiert, während es das rechte ohne Wider-
Digitized by OiOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 4 71
stand ausgestreckt einwickeln ließ. Röntgenbefund: Schenkelkopf
B mm über dem Y-Knorpel. Dach auf beiden Seiten steiler als für
gewöhnlich (48^, 38o).
Fall 106. Leichte Entbindung in Steißgeburt. Die Kontraktur des
rechten Kniegelenks konnte nur nach monatelanger orthopädischer Be-
iiandlung beseitigt werden. Linke Extremität kam in ».salutierender"
Stellung, hyperflektiert zur Welt, so daß der Fuß am Ohr lag. Das Bein
konnte in diese abnorme Lage auch später ganz leicht gebracht werden.
Allein gelassen, legte das Kind sein linkes Bein mit Vorliebe auf den
anderen Schenkel. Auf der linken Seite mäßige Klumpfußstellung.
Infolge des abnormen Druckes ist auch der Schädel deformiert. Die
rechte Stirnhälfte und die linke Seite des Hinterhauptes sind stark
abgeflacht. Auf die Luxation des linken Schenkels macht die Ver¬
kürzung des Beines aufmerksam und zwar dann, wenn das Bein nach
der Streckung des kontrakturierten Kniees seine normale Länge er¬
reicht. Röntgenbefund (im 1jährigen Alter): Linker Schenkel sub-
luxiert, knöcherner Kern des Schenkelkopfes noch nicht sichtbar.
Neigungswinkel des Daches auf der kranken Seite 50°, auf der gesunden
35 Grad.
Fall 117. Normale Schwangerschaft und Entbindung. Dem
Vater (Arzt) fiel es schon in den ersten Wochen auf, daß das Kind sein
rechtes Bein schwerer ausstrecken und eingewickelt halten konnte.
Das Pfannendach ist (im Alter von 3 V 2 Jahren) steiler.
Zu diesen Fällen kann ich auch noch den schon erwähnten Fall 89
zählen, das Kind kam mit rechtseitigem Schiefhals zur Welt. Die Ver¬
kürzung des linken Beines fiel im Alter von einem Jahre auf. Dach
beiderseitig steiler (65®, 48°).
Noch will ich hier erwähnen, daß es in vielen meiner Fälle den
Eltern auffiel, daß ihr Kind eines seiner Beine (das, welches sich später
als verrenkt erwies) stärker nach außen gekehrt hielt, als das andere.
Selbst im Falle von Subluxation, wo in der Länge der beiden Beine gar
kein Unterschied nachweisbar ist, kann diese stärkere Außenrotation
des Beines den Verdacht einer Luxation erregen und muß man derselben
als diagnostischem Symptome bei Säuglingen Wichtigkeit zuschreiben.
In den aufgezählten 9 Fällen bringen die kongenitalen Kon¬
trakturen, die auch im extrauterinen Leben fortbestanden, diese
Voraussetzung nahe, daß der Embryo während des intrauterinen
Lebens seine Beine längere Zeit hindurch in einer von der normalen
Digitized by
Google
472
Michael Horvath.
abweichenden, sagen wir ultrapbysiologischen Lage gehalten haben
dürfte. Diese Zwangsstellung führte in 5 Fällen zur Entwicklung
einer Flexionskontraktur; in einem Falle äußerte sich dieselbe darin,
daß das Kind seinen verrenkten Fuß lange Zeit hindurch adduziert
hielt; in einem weiteren Falle diente als Beweis der intrauterinen
Belastungsdeformität die Kontraktur des einen Knies, die „salutie¬
rende“ Stellung des anderen Beines und die infolge des abnormen
Druckes entstandene Deformität des Schädels. Im 7. Falle wies die
Flexionskontraktur der Kniee, im 9. der Schiefhals darauf hin, daß
auch in diesen Fällen ein intrauteriner abnormer Druck zur Geltung
gekommen war.
Von den 9 Fällen erwies die Untersuchung in 3 (im 1., 2., 3. Lebens¬
jahre der Kinder) Subluxation, während ich es in 6 Fällen mit der
Lange sehen Luxatio supracotyloidea et iliaca zu tun hatte. Der
Schenkelhals war in 3 Fällen merklich antevertiert. An Coxa vara
erinnernde Abweichungen fand ich nicht. Die Pfanne resp. ihr Dach
war in jedem Falle steil, ja — mit Ausnahme zweier Fälle — war das
Pfannendach auch auf der gesunden Seite steiler als in der Regel.
Im embryonalen Leben ist die Zwangsstellung der Extremitäten
nicht immer ein und dieselbe (Hyperflexion, Adduktion, Flexion der
Kniee), und auch diese wenigen Fälle scheinen jene auch schon diuch
Andere vertretene Ansicht, daß in der Pathogenese der Luxation ver¬
schiedene ultraphysiologische Stellungen zur Geltung kommen können,
zu bestärken. Auch das kann man mit großer Wahrscheinlichkeit be¬
haupten, daß die Extremitäten in ihrer ultraphysiologischen Lage in
den einzelnen Fällen verschieden lange Zeit hindurch fixiert waren,
da ich als Folge dieses Umstandes im Leben nach der Geburt bald nur
eine geringfügige Kontrakturstellung beobachtete, bald aber wirkliche
und schwer ausgleichbare Kontraktur fand. Die anatomischen Ver¬
änderungen, die sich im Anschlüsse an diese entwickelten, zeigten sich
auch in verschiedenem Grad (Subluxation mit gut genug erhaltenen
Gelenkteilen, komplette Verrenkung mit ausgesprochen pathologischen
Veränderungen).
Daß wir bei den 123 Kindern im Leben nach der Geburt solche
Symptome, die zur Folgerung auf eine Zwangsstellung des Embryos,
resp, auf das Geltendwerden eines abnormen Druckes im intrauterinen
Leben berechtigten, nur in 9 Fällen fanden, beweist noch nicht, daß
in den übrigen 116 Fällen diese Umstände in der Tat nicht ebenfalls
eine Rolle gespielt haben. Meines Erachtens kann man aus dem Er-
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 473
wähnten nur darauf einen Schluß ziehen, daß die Zwangsstellung nur
in 9 Fällen so lange währte, daß dieselbe auch die im postuterinen Leben
beobachtete Kontraktur von größerem oder kleinerem Grade zur Folge
haben konnte. Doch besitze ich hierfür keinen unmittelbaren Beweis,
lind wären wir zu der Annahme, daß in diesen Fällen die kongenitale
Hüftverrenkung auf mechanischem Wege entstanden sei, nur dann
berechtigt, wenn wir beweisen könnten, daß die für die Luxation
charakteristischen pathologischen Veränderungen tatsächlich nur nach
der Luxation entstanden sind.
An und für sich aus dem Grade der Veränderungen kann man
absolut gültige Schlüsse nicht ziehen, da die Kinder gelegentlich
der ersten Untersuchung meistens älter sind als 2—3 Jahre und wir
somit nicht wissen können, auf welche Weise und in welchem Maße
jene Kräfte auf die Entwicklung des Gelenkes einwirkten, die nach der
Geburt auf treten.
Doch würde unsere Voraussetzung an Wahrscheinlichkeit ge¬
winnen, wenn wir wenigstens das beweisen könnten, daß auch an ganz
gesunden Gelenken nachträglich Veränderungen von demselben Cha¬
rakter entstehen, wie bei den kongenitalen Hüftverrenkungen, wenn
dieselben im extrauterinen Leben luxieren und auf diese Weise der
Wirkung der Belastung und der normalen Funktion entzogen
werden.
Diesbezüglich schreibe ich den Untersuchungen Deutsch-
1 ä n d e r s große Bedeutung zu. Deutschländer resezierte bei
noch jungen Tieren nach Oeffnung der Gelenkkapsel und Durch¬
schneidung des Lig. teres den Schenkelkopf. Nach I—8 Monaten tötete
er die Tiere. Die pathologische Untersuchung ergab, daß die sämt¬
lichen Teile des die Pfanne bildenden Gewebes, das Bindegewebe,
Knochen-, aber besonders das Knorpelgewebe, in außerordentlich
großem Maße hypertrophisch geworden waren. Somit folgt der Aus¬
schließung der normalen Funktion und des normalen Belastungs¬
druckes die abnorme Entwicklung der vom Druck befreiten Gewebe
und so auch die Veränderung der Pfannenform. Mit diesen Unter¬
suchungen Deutschländers vollkommen übereinstimmende
Folgerungen gewinnen wir aus jener klinischen Erfahrung —• und hier
schließe ich mich ganz Ewalds Ansicht an —, die man aus den mit
Erfolg kurierten Fällen der kongenitalen Hüftgelenksluxationen schöpfen
kann. Die Bestandteile der Pfanne besitzen noch solche Plastizität,
daß man bei jungen Kindern im Laufe von Jahren unter dem Einflüsse
Zeitschrift für orthopädische (’hirurgie. XXII. Band. 31
Digitized by CjOOQle
474
Michael Horvath.
des normalen Belastungsdruckes auf successive Neubildung derselben
rechnen kann.
Gegenüber der Ansicht Ewalds bemerkt Wollenberg,
daß von einer Neubildung des Gelenkes nur in dem Sinne eine Rede
sein kann, sofern nach der gelungenen Reposition jene sekundären
Veränderungen, die am luxierten Gelenk nach der Geburt entstanden
waren, zurückgehen.
Seiner Meinung nach findet man an solchen Gelenken, bei denen
es gelang, anatomische Reposition zu erreichen, noch nach Jahren von
den normalen abweichende Verhältnisse. Logisch gefolgert, kann dies
in Wollenbergs Interpretation nichts anderes bedeuten, als daß
auch nach der gelungenen Reposition jene Veränderungen zu finden
sind, welche an der luxierten Pfanne als primäre Abweichungen be¬
trachtet werden und die Verrenkung entweder hervorriefen oder doch
wenigstens das Gelenk zur Verrenkung des Schenkelkopfes prädispo¬
nieren. Die Verdickung des Fundus acetabuli ist auch H o f f a geneigt
als sekundäres Symptom zu betrachten i) und ist dies seiner Meinung
nach kein Beweis dafür, daß die knöchernen Gelenkteile in ihrer Ent¬
wicklung primär gestört wurden. H o f f a und ihm folgend auch Andere
legen also das Hauptgewicht auf die Steilheit des Pfannendaches, die
nicht nur auf der luxierten Seite, sondern häufig auch an dem klinisch
gesunden Gelenke gefunden wird. Auf die Untersuchung des Pfannen¬
daches werde ich in meiner Studie noch zurückkehren. Hier will ich
nur auf die Bemerkung W ollcnbergs (bezüglich der Neubildung
des Gelenkes) eingehen. Meine Untersuchungen führten nämlich zu
dem Resultate, daß sich die Umgestaltung des Gelenkes nicht nur in
der Verdünnung des Fundus zeigt, sondern daß der gelungenen Reposition
auch an dem Pfannendache eine solche Umgestaltung folgt, nach deren
Beendigung dieses Gelenk kaum auch nur Spuren der sogenannten
primären Veränderung auf weist, und es fast schwer ist zu sagen, welches
von den Beinen einst verrenkt war. Bevor diese Umgestaltung ganz
vor sich geht, ist der einzige Unterschied zwischen den beiden Gelenk¬
pfannen, der bei der Entscheidung letzterer Frage ausschlaggebend sein
kann, der, daß jene Linien, welche das Dach und den Vorderrand des¬
selben bezeichnen, im Röntgenbilde noch nicht ganz so scharf sind,
als wie die auf der gesunden Seite. Doch darf man den Umstand
nicht unberücksichtigt lassen, daß die Entwicklung der normalseitigen
’) H o f f a, Lehrbuch d. orthopäd. Chir.
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 475
Gelenkpfanne von Anfang an durch nichts gestört wurde, so daß die¬
selbe im Vergleich zur anderen immer auf einem höheren, vorgeschrit¬
teneren Grad ihrer Entwicklung steht. Es ist also natürlich, daß die
Neubildung der Pfanne desto vollkommener sein wird und wir zwischen
den Gelenken mit der Zeit einen desto kleineren Unterschied finden
werden, je früher wir die Behandlung der Verrenkung beginnen. Bei
älteren Kindern erreichen wir selbst auf dem Wege einer in ana¬
tomischem Sinne tadellosen Reposition nicht vollkommene Gelenks¬
verhältnisse, ja infolge des hohen Grades der sekundären Veränderungen
kann vielleicht nicht einmal die Reposition eine so vollkommene sein,
kann auch der Schenkelkopf nicht unter das ohnedies steilere Pfannen¬
dach so tief eingefügt werden, wie bei jungen Kindern.
Hierzu kommt noch der Umstand, daß bei älteren Kindern das
reponierte Gelenk meist steifer ist, während für die bei jungen Kindern
erzielte anatomische Reposition das charakteristisch ist, daß die Be¬
weglichkeit des Gelenkes von der des normalen Gelenkes in gar keiner
Hinsicht ab weicht.
Bei anatomischer Reposition, vollkommener Gelenksbeweglich¬
keit und der mit dem jüngeren Alter zusammenhängenden größeren
Plastizität der Pfanne ist auch die Umgestaltung derselben vollkommen,
was sich nicht nur in der Verdünnung des Fundus zeigt, sondern auch
darin, daß sich die Wölbung ändert und zwar solcher¬
art, daß der Neigungswinkel derselben mit dem des
normalseitigen Daches überein stimmt.
Nur selten finden wir Gelegenheit, bei lebenden Menschen solche
Beobachtungen anzustellen, die sich mit den Resultaten der Deutsch¬
länder sehen Untersuchungen in Einklang bringen ließen.
Luxationen, die im Anschlüsse an Entzündungen entstehen,
können beim Studieren dieser Frage sehr natürlich nicht verwendet
werden.
Auch mit den Veränderungen, welche bei traumatischen Ver¬
renkungen erwachsener Menschen entstehen, kann — da die Ver¬
knöcherung schon beendigt ist — keine Parallele angestellt werden,
ja selbst die erworbenen Luxationen von Kindern bieten kaum Ge¬
legenheit zum Vergleichen, da die Reposition des luxierten Schenkel¬
kopfes früh genug vor sich geht, noch bevor die mit der Veränderung
der Druckverhältnisse verbundenen Abweichungen hätten zur Entwick¬
lung gelangen können.
L u d 1 o f f studierte in seiner hochinteressanten Arbeit die
Digitized by C^ooQle
476
Michael Horvath.
charakteristischen Veränderungen an den bei Hüftverrenkungen ge¬
fertigten Röntgenbildern und fand, daß die Gestalt der knöchernen
Gelenkpfanne verschieden ist, je nachdem dieselbe
1 . primär, nach der Geburt verrenkt,
2. innerhalb kurzer Zeit nach der Geburt verrenkt, oder
3. sekundär subluxiert und luxiert ist.
Alle drei weichen aber von der Gestalt des auf traumatischem Wege
verrenkten Gelenkes ab, insofern als der knöcherne Pfannenteil in den
3 ersten Fällen in einer oder der anderen Richtung eine Veränderung er¬
leidet (die Gelenkpfanne ist kleiner, die knöchernen Ränder sind weniger
scharf, das Pfannendach steiler, der Fundus dicker und im oberen
Viertel der Pfanne ist eine Gleitfurche sichtbar), wohingegen für die auf
traumatischem Wege luxierte Gelenkpfanne die Schärfe der Ränder,
das wohlgebildete Dach und die Dünne des Fundus charakteristisch sind.
L u d 1 o f f untersuchte frische Luxationen traumatischen Ur¬
sprunges (bei einem 12- und einem 20jährigen Knaben), und so ist
es natürlich, daß er, da eine erworbene Verrenkung eines normalen
Gelenkes vorlag, den knöchernen Pfannenteil im Röntgenbilde voll¬
kommen entwickelt vorfand.
Doch lehrt die Pathologie, daß die Pfanne bei veralteter Luxation
teils infolge von Schwund, teils im Wege der Ausfüllung mit neuer
Knochensubstanz und neuem Bindegewebe verflacht (Kaufmann).
Doch ist dazu, daß all dies eintrifft, längere Zeit notwendig.
Es stand unter meiner Beobachtung ein 7 Jahre alter Knabe,
welcher 3 Monate vor der Aufnahme in das Spital eine linkseitige trau¬
matische Hüftverrenkung erlitten hatte und von dieser Zeit an nur.
auf einen Stock gestützt, stark hinkend gehen konnte.
Die erste Reposition versuchte ich, da eine andere Erkrankung
dazwischenkam, 5 Monate nach dem Erleiden des Traumas. Doch
gelang die Einrichtung des Schenkelkopfes bei dieser Gelegenheit nicht
ganz vollkommen. So fixierte ich denn das Bein in Abduktion und
verfertigte in dieser Lage ein Röntgenbild desselben. Die verknöcherten
Pfannenteile konnten sich — da das Bild einige Tage nach dem
Repositionsversuche verfertigt wurde — seit dem Repositionsversuche
nicht verändert haben.
Vergleichen wir das gesunde und das kranke Gelenk, so sehen
wir, daß, während wir auf der gesunden Seite ein in jeder Hinsicht
normal entwickeltes Gelenk finden, auf der pathologischen Seite
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 477
<üe Grenzlinien der knöchernen Pfannenteile verschwommener sind.
A.\xßer dieser Verschwommenheit fand ich keine weitere Veränderung,
weder in der Dicke des Fundus noch aber in der Form des Daches.
Zum zweiten Male konnte ich die Keposition — infolge von
Nebenumständen — wieder nur nach längerer Zeit wiederholen, imd
während dieser Zeit war das Kind wiederum ohne Verband geblieben.
Bei dieser Gelegenheit gelang es, den Schenkelkopf zu reponieren, imd
das Resultat kontrollierten wir auch bei dieser Gelegenheit mittels der
Röntgenstrahlen. Dieses Röntgenbild stammt also aus dem 8. Monate
nach dem Erleiden der Luxation; diese lange Zeit hindurch kam die
Fig. 33.
Wirkung des normalen Belastungsdruckes am Gelenke nicht zur Gel¬
tung. Das bei dieser Gelegenheit verfertigte Röntgenbild, resp. die
nach demselben verfertigte Konturzeichnung (Fig. 33) zeigt, daß die
Pfannengrube nicht mehr durch so regelmäßige Konturen begrenzt
wird, wie auf der normalen Seite, ja aus der Gestalt der Tränenfigur
muß man sogar auf Verdickung des Fundus und auf Verringerung der
Tiefe des Gelenkes schließen.
An und für sich genügt dieser eine Fall noch nicht dazu, daß
man aus ihm Folgerungen von allgemeiner Gültigkeit bilde. Doch
erschien mir seine Mitteilung besonders aus dem Grunde wichtig, da
ich die Aufmerksamkeit auf jene sich allmählich vollziehenden Ver-
Digitized by L^ooQle
478
Michael Horvath.
änderungen hinlenken wollte, die bei vernachlässigten VerrenkiingeD
traumatischen Ursprungs an der Gelenkpfanne entstehen. Diese Ver¬
änderungen können wir bei Lebenden mittels Vergleichung von Röntgen-
bildern studieren, und wie es scheint, sind dieselben mit jenen identisch,
welche durch die Untersuchungen Deutschländers bekannt
wurden. Im Anschlüsse an die traumatische Luxation bei jungen
Kindern entstehende Veränderungen zu studieren, ist jedenfalls wichtig,
da, sofern es sich heraussteilen würde, daß dieselben mit den bei
Fig. 34.
kongenitaler Hüftverrenkung beobachteten Veränderungen identisches
Gepräge besitzen, die Möglichkeit, daß die bei kongenitaler
Hüftverrenkung an der Gelenkpfanne beobachteten Veränderungen
sekundäre sind, einen weiteren Beweis gewinnen würde. —
Um zu beweisen, daß sich die Form der Gelenkpfanne, wenn der
Schenkelkopf dieselbe verläßt, gänzlich verändert, teile ich einen ande*
ren, auch gegenwärtig unter meiner Beobachtung stehenden Fall mit.
Das gegenwärtig 14jährige, stark entwickelte Mädchen fing laut
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 479
Angabe seiner Eltern, als es 1 Jahr alt war, zu gehen an, und 6 Monate
hindurch bemerkten sie keinerlei Abnormität (Hinken, Watscheln).
Im Alter von IV 2 Jahren wurde es wegen Spondylitis dorsalis syste¬
matisch behandelt. Als es 3 V 2 Jahre alt war, trat neben dem inzwischen
entwickelten großen Gibbus Lähmung der unteren Extremitäten, der
Blase und des Mastdarmes auf. Diese Symptome wurden nur sehr
langsam besser und gaben der seitdem bestehenden, sehr hochgradigen
spastischen Starre Platz. Das Kind brachte späterhin seine Zeit größten¬
teils sitzend zu, und infolge des lang andauernden Sitzens entwickelte
sich an den spastischen Gliedern Flexions-Adduktionskontraktur der
Fig. 34 a.
Hüfte, Kontraktur des Kniegelenkes und Pes valgus an beiden Füßen.
In diesem Zustande sah ich das Kind zuerst im Alter von 6, später
von 10 Jahren. Bei dieser Gelegenheit wandte ich mehrmals forcierte
Extension an und legte das Kind in einen Wullsteinschen Rumpf-
Kopfverband hinein, was in kurzer Zeit die gänzliche Besserung der Pa¬
rese der Blase und die Linderung der Kontraktur des Hüftgelenkes zur
Folge hatte. Doch mußte die Behandlung wegen Pertussis unterbrochen
werden. Im Januar 1906 meldete es sich wieder mit folgendem Be¬
funde : Ped. equino-valg. Ausgesprochene Flexionskontraktur der
Kniee. Flexions-Adduktionskontraktur der Hüftgelenke so hochgradig,
daß die Schenkel passiv ungefähr nur 15® weit abduziert werden konnten.
Digitized by L^ooQle
480
Michael Horväth.
Die Flexionskontraktur ganz auszugleichen war nicht möglich. Die
starke Prominenz der Trochanteren lenkte meine Aufmerksamkeit auf
das Hüftgelenk. Trochanterstellung oberhalb der Roser-Nelaton-Linie
linkerseits 5 cm, rechterseits 3^/2 cm. Schenkelköpfe auf beiden Seiten
hinten auf der Außenseite des Darmbeines tastbar. Die Röntgenunter¬
suchung bestätigte das Vorhandensein einer Luxatio iliaca bilateralis.
Die weiter angewandten Streckverbände hatten eine Linderung der
spastischen Symptome zur Folge, das Kind geht auf zwei Stöcke
gestützt.
Fig. 35.
(Noch ist der Erwähnung würdig, daß sich die physiologischen
Krümmimgen des Rückens total veränderten, sofern nämlich in sitzen¬
der Stellung lumbo-sakrale Kyphose, sodann lumbo-dorsale, ganz bis
zum VII. Rückenwirbel reichende muldenartige Lordose und dorso*
cervikale Kyphose [Gibbus] entstand. Den tiefsten Punkt der lumbo-
dorsalen Lordose bildete der X. Rückenwirbel.
Wenn das Kind steht, zeigt sich neben der Flexionskontraktur
des Hüftgelenks eine sehr ausgeprägte sakro-lumbale Lordose, welche
mit der lumbo-dorsalen Lordose einen Bogen bildet.)
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 481
Ich habe die Geschichte dieses Falles ausführlicher mitgeteilt,
obzwar bei dieser Gelegenheit nicht alle Einzelheiten desselben zum
Gegenstand gehören. Uns interessieren jetzt nur die von der Spon¬
dylitis herrührende spastische Lähmung, die Kontrakturen und die
im Zusammenhang mit denselben entstandene beiderseitige hintere
Hüftverrenkung.
Daß wir es mit keiner kongenitalen Hüftverrenkung zu tun haben,
muß ich nach der Angabe der intelligenten Eltern für wahr halten,
Fig. 36.
da das Kind von seinem ersten Jahre an ein halbes Jahr hindurch tadel¬
los gehen lernte und sich keinerlei Symptom zeigte, welches in den
Eltern bezüglich der Gesundheit ihres Kindes einen Zweifel erweckt
hätte. Anderseits ist die Verrenkung ganz erklärlich aus dem Umstande,
daß das Kind Jahre hindurch an spastischer Kontraktur litt, derzufolge
die Schenkel (sowohl in sitzender wie auch in liegender Stellung) in
flektiert-adduzierter Lage fixiert waren. Der Schenkelkopf wurde an
den Hinterrand der Gelenkpfanne gedrückt, dehnte an dieser Stelle
Digitized by L^ooQle
482
Michael Horvath.
das Kapselband aus, so daß eine Verschiebung des Schenkelkopfes nach
hinten und oben vor sich gehen konnte. (Einen ähnlichen Fall be¬
schreibt auch Lo r e n z 1) bei einem an Spondylitis leidenden 6jährigen
Kinde).
Das aus dem 12. Jahre des Kindes herrührende Röntgenbild
^Fig. 34—3()) zeigt folgendes: Die Schenkelköpfe stehen auf beiden
Seiten hinter den Darmbeinflügeln, auf der linken Seite höher als auf
Fig. 37.
der rechten. Beiderseits haben sich genügend ausgeprägte neue Pfannen¬
gruben gebildet, die den Schenkelkopf in sich auf nehmen. Die Stelle
des Y-Knorpels ist nur undeutlich zu bestimmen, da der Knorpel
gerade zu der Zeit (im 12. Jahre) verknöchert (L u d 1 o f f). Das Pfannen¬
dach ist auf beiden Seiten verschwommen, und der obere Rand der alten
Pfanne geht ohne jeden Uebergang in die Seitenlinie des Darmbeines
^) Lorenz, Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung,
S. 114.
Digitized by CaOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 483
Über. Der Pfannenboden ist verdickt, sofern sich nämlich die beiden
undeutlichen Linien, welche die Tränenfigur bilden, besonders auf der
linken Seite voneinander entfernt haben, wie dies hauptsächlich auf
der Röntgenplatte sehr gut sichtbar ist. Besondere Sorgfalt verwandte
ich beim Verfertigen des Röntgenbildes darauf, daß die Querachse der
Kniee möglichst in der frontalen Ebene blieb und die Extremitäten
parallel standen. In dieser Einstellung ist die am proximalen Ende
des Schenkelknochens sichtbare hochgradige Torsion und Anteversion
kein Resultat der unrichtigen Lagerung (Außendrehung), sondern
muß als wirkliche pathologische Veränderung des Schenkelknochens
betrachtet werden.
Und wenn unsere Voraussetzung hinsichtlich des Ursprunges der
Luxation richtig ist und wir der Angabe (Anamnese) der intelligenten
Eltern Glauben schenken, so scheint dieser Fall die Möglichkeit dessen
zu beweisen, daß alle jene Veränderungen, die in der Pathologie der
kongenitalen Hüftluxation typisch sind, innerhalb eines langen Zeit¬
raumes auch im postuterinen Leben sekundär entstehen können.
Vollständig gut illustriert wird der identische Charakter der am
knöchernen Teile der Pfanne sich zeigenden Veränderungen durch das
nebenstehende Bild (Fig. 37), welches von einem 11jährigen und bishin
noch nicht behandelten Mädchen herrührt, das an linkseitiger an¬
geborener Hüftverrenkung litt. Von der größeren Deformität des
Schenkelknochens abgesehen, finde ich zwischen den am knöchernen
Teile der Gelenkpfanne erscheinenden Veränderungen keinen Unter¬
schied, so daß wir die an die Spondylitis anschließend entstandene
Hüftverrenkung — in Ermanglung anamnestischer Daten — auf Grund
des Röntgenbildes füglich als eine angeborene Verrenkung betrachten
könnten. (Das Kind konnte seine IV 2 «m betragende Verkürzung so
geschickt ausgleichen, daß zwischen der Tätigkeit des rechten und
linken Fußes nur der aufmerksame Beobachter etwas Unterschied
wahrnahm. Mit Rücksicht auf das Alter und den ausgezeichneten
Gang sah ich von der Reposition ab. Leider verschlimmerte sich
3 Jahre später — mit der Veränderung der Beckenneigung — der
Zustand, die Verkürzung betrug da schon 4 cm.)
Dem Mitspielen eines Zufalles kann ich es verdanken, daß ich in
der Lage bin, noch über einen weiteren Fall zu referieren, in dem bei
einem an Littlekrankheit leidenden Kinde Hüftgelenksverrenkung ent¬
stand während der Zeit meiner Beobachtung und ebendeshalb schreibe
ich den beobachteten Veränderungen besondere Wichtigkeit zu.
Digitized by CjOOQle
484
Michael Horvath.
F. K., 3V2jähriges Mädchen. Schwangerschaft normal. Kam im
9. Monat in Asphyxie zur Welt, worauf 2 Tage dauernde Bewußtlosigkeit
folgte. Konvulsionen hatte es nicht. Strabismus. Nach einiger Zeit trat
an allen vier, besonders aber an den beiden unteren Extremitäten aus¬
gesprochene spastische Lähmung auf. Die orthopädische Behandlung
war insofern von Erfolg, als das Kind mit Zuhilfenahme eines
Hess ingsehen Apparates, Korsetts und eines Gehstuhles Gehversuche
machte. 3V2 Jahre alt kam es in meine Beobachtung. Die unteren Extre¬
mitäten zeigten ausgesprochene spastische Lähmung. Die Bewegungen
der oberen Extremitäten waren ziemlich gut und energisch. Schleppendes,
stotterndes Sprechen. Rechte untere Extremität um 2 cm kürzer.
Ausgesprochene Luxatio supracotyloidea et iliaca, mäßige Anteversion.
An dem Röntgenbilde, welches im Alter von 3 V 2 Jahren ver¬
fertigt wurde (Fig. 40), können wir folgendes sehen: Auf der rechten
Seite steht der Schenkelkopf um 2 cm höher als der Y-Knorpel. Der
knöcherne Kern des Schenkelkopfes ist atrophischer (12 : 9 mm) als
auf der linken Seite (20 : 10 mm). Der Pfannenboden ist verdickt,
anstatt der beiden Parallellinien der Tränenfigur sehen wir nur eine.
Das Pfannendach ist steiler (Neigungswinkel 55®). Auf dieser Seite
kann man auch die Gleitfurche sehen (besonders auf der Platte).
Auf der linken Seite liegt der Schenkelkopf gänzlich unter dem
Pfannendache, dessen Ränder ziemlich scharf konturiert sind. Das
Dach ist etwas steiler als bei anderen Kindern von ähnlichem Alter
(Neigungswinkel 45®). Der Pfannenboden ist von normaler Dicke.
Das obere Ende des Schenkelknochens ist gut entwickelt.
Mit ganzer Bestimmtheit zu entscheiden, ob die rechtseitige Luxation
kongenital ist oder aber im Laufe der L i 111 e sehen Krankheit infolge
des erhöhten Spasmus entstand, wie dies in seinem Falle L u d 1 o f f
annimmt, ist schwer. Im früheren Alter des Kindes wurde eine dicvS-
bezügliche Röntgenuntersuchung nicht angestellt, und aus der Ana¬
mnese kann ich mich nur auf die Ansicht eines Kollegen stützen,
der das Kind in jüngerem Alter längere Zeit hindurch behandelte und
auf dessen Untersuchung, als die eines Fachmannes, wir uns somit
ganz verlassen können. Iin Sinne der von ihm gewonnenen Information
handelt es sich hier um keine angeborene Hüftluxation.
In Ludloffs Fall entstand an die L i 111 e sehe Krankheit
anschließend beiderseitige Hüftverrenkung und er beschreibt auf Grund
der Röntgenuntersuchung bezüglich beider Seiten dieselben Verände¬
rungen. Die Gelenkpfanne ist beinahe von normaler Größe, das Dach
Digitized by CjOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 485
wohlgebildet, der Fundus von normaler Dicke. Von dem projizierten
Bilde des normalen Gelenkes wichen sie nur insofern ab, daß die äußere
liinie der Tränenfigur fehlte (seiner Meinung nach das projizierte Bild
des vorderen unteren Pfannenrandes), woraus dennoch auf die Ver¬
dickung des Bodens gefolgert werden muß (siehe den von der radio¬
graphischen Anatomie des Hüftgelenkes handelnden Teil).
In meinem Falle legt das Röntgenbild für die Hüftverrenkung
typische Veränderungen klar; somit wäre im Sinne der L u d 1 o f f-
schen imd neuerer Zeit der G a u g e 1 e sehen Untersuchungen das Zu¬
sammentreffen der L i 11 1 e sehen Krankheit und der Hüftverrenkung
ein Spiel des Zufalles (G a u g e 1 e s III. Typus).
Doch obwaltet, abgesehen davon, daß dem die Anamnese wider¬
spricht, noch ein solches Symptom, aus dem ich mit großer Wahr¬
scheinlichkeit den Schluß zu ziehen wage, daß es sich in meinem Falle
dennoch um eine im Anschluß an die L i 11 1 e sehe Krankheit ent¬
standene Verrenkung handle.
Untersuchen wir auf den Röntgenbildern den das Foramen ob-
turatum umgebenden knöchernen Ring, so finden wir, daß dieser Ring
bei jungen Kindern an jener Stelle, wo der Ramus descendens des
Schambeines mit dem Ramus ascendens des Sitzbeines zusammentrifiEt,
offen ist, resp. an dieser Stelle je nach dem Alter des Kindes eine kleinere
oder größere knorplige Lücke sichtbar ist. Seit Jahren beobachte ich
dieses Symptom bei zahlreichen Fällen und fand, daß bei einseitiger
Hüftverrenkung der durch den Knorpel ausgefüllte Teil auf der luxierten
Seite viel längere Zeit hindurch persistiert und, während auf der nor¬
malen Seite mit dem Fortschreiten der Verknöcherung der Ring schon
im 5.— 6 . Jahre vollkommen geschlossen ist, derselbe auf der Seite
der Verrenkung lange Zeit hindurch, hie imd da sogar noch im 8 . bis
8 V 2 . Jahre (in einem Fall im 12 . Jahre) offen bleibt. Wenn das Röntgen¬
bild die knorplige Lücke noch auf beiden Seiten zeigt, ist derselbe
auf der Seite der Verrenkung für gewöhnlich breiter als auf der ge¬
sunden Seite.
An der Stelle der knorpligen Lücke erscheint der Knochen eine
Zeit hindurch nach der Schließung bedeutend verdickt und nur gradatim
gewinnt er seine normale Dicke solcherart zurück, daß die Aeste des
Scham- und Sitzbeines ohne jeden Uebergang einander fortsetzen,
Bezüglich der Zeit des Schließens der knorpligen Lücke durch¬
musterte ich die Röntgenbilderserie von 94 meiner Kranken (61 ein¬
seitige und 33 beiderseitige Luxationen, Tab. I und II) und fand, daß
Digitized by C^ooQle
486
Michael Horvath.
1 . auf der gesunden Seite in einem sehr großen Teil der Fälle
der das Forainen obturatum bildende knöcherne Ring sich im
5. Lebensjahre geschlossen hat;
2 . auf der kranken Seite die Grenze bis auf das 8 .— 8 ^/ 2 . Jahr
hinausrückt;
3. die knorplige Lücke auf der luxierten Seite — 3 Fälle aus¬
genommen — meßbar breiter ist als auf der gesunden Seite.
Der Unterschied zwischen der Breite des knorpligen Teiles auf der
gesunden und auf der kranken Seite schwankte zwischen! —9mm;
4. sich im Falle von bilateraler Luxation die knöcherne Vereini¬
gung für gewöhnlich nicht vor dem 6 .— 6 V 2 . Jahr vollzieht, ja
in einigen Fällen auch das 8 . Jahr noch einen offenen Ring trifft;
5. im größeren Teile der Fälle (14 : 8) ist der knorplige Teil auf
der Seite breiter, auf der die Verrenkung prägnanter ist.
Tabelle I.
Jour¬
' 1 Seite
Jour¬
Seite
nal
Nr.
Alter gesund luxiert ^ * trenz
nal
N r.
Alter
gesund luxiert
! Differenz
< ln in
nun
ntni
iiiiii
mm
rarn
I
3 '2 7,5
5
— 2,5
67
2''2
6,5
12
-h 5.5
2
4 5
5
0
t 69
11
0
0
—
6
1 2 1,5
3
-f 1,5
72
6
0
2,5
4” 2,5
10
i 2*2 8,5
9
+ 0,5
76
3‘2
5,5
9,5
-f 4
11
1 3 5
11
+ 6
77
5
1
9
-h 8
12
! 6 0
7
-f 7
78
2
8
8
—
13
1''2 4
5
+ 1
79
F/4
6
6
—
14
3 2
6.5
+ 4,5
81
3
5
11
4- 6
15
7 0
2,5
+ 2,5
83
6>'2
0
0
—
20
9 0
0
—
84
2 V 2
10
6
— 4
21
9 0
0
—
86
1 V 4
7,5
10
4- 2.5
22
4'/* i 4
5
+ 1
88
3
3
5
4- 2
23
2 4,5
7
+ 2,5
89
33/4
10
6
— 4
25
7 0
1
+ 1
92
8
0
0
—
33
6 1 0
0
-f 6
95
13
0
0
—
34
2 V 2 3
9,5
+ 6,5
97
2
5
8
4- 3
36
2' 2 5
9,5
+ 4.5
98
2*2
0
1.5
4- 1,5
37
1 5 0
5,5 .
4- 5,5 j
99
37»
1 4
9
‘ 4- 5
41
t 13 0
' ^
—
100
372
6
14
4- 8
42
6 3,5
> 4
+ 0,5
103
5
0
t 0
—
46
4 0
7
+ 7
106
1
6
7
4- 1
48
2 3
12 1
-r 9
107
IV 2
7
8
i 4- 1
51
8 i 0
2,5
-f 2,5
110
10
0
0,5
4“ 0,5
53
3 ' 2
1 5
+ 3
111
6
0
10
' 4- 10
56
: 5 0
7,5 1
+ 7,5
113
2
7
, 4- 5
58 1
1 6 0 ,
. 0 1
—
115
10
0
0
1 —
59
1 12 0
0
—
116
1 3t'4
4,5
6
4- 1.5
60
1 5 3,5
9
4" 5,5
119 1
2
7
10
4- 3
61 1
2 5,5
14.5
4- 9
121
1 474
1 0
9
1 —
62 *
5 0
6,5 1
4- 6.5
K. '
' 272
1 4 '
7
4- 3
63
1 2*4 3
7,5 1
4- 4,5
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 487
Tabelle II.
Seite *
13
Seite
s
Alter
s ^
Alter
O ^
links
rechts
links !
recht«
»-5
.Tahrc
mm
mm
Jahre
mm 1
mm
9
3 '
10
12
i 71
2
7,6
4,5
17
5V4
5
5
1 73
7
1,5
0
18
3V»
4,5
3
74
2«/2
6,5
6,5
19
5
4
5
^ 75
3
10
7,5
27 1
4
10
9
82
57-2
3
2
30
3
8
12,5
87
6
5
0
32
3
11
10
91
472
2
3,5
40
9
0
0
93
5
9,5
8,5
44
8
0
0
94
8
14,5
9
45
8
1 0
0
96
5
8,5
4
47
3
i 2
2
102
374
2
3
49
4
5
108
374
7
8
52
i ö
1 0
0
109
2\li
9
11
55
3
3,5
2
114
474
8
4
57
3
9
10
123
3
3
3
66
7
0
0
H.
10
5
5
68
^ 2
9
11
Diese Ungleichheit des Verknöcherns beobachtete auch B a d e i).
Ich hatte Gelegenheit, in 2 Fällen solche Verrenkungen zu unter¬
suchen, die sich einer im Säuglingsalter entstandenen Osteomyelitis an¬
schließend entwickelt hatten, und bei denen außer den anamnestischen
Daten die an der Außenseite des oberen Schenkelteiles sichtbare, un¬
gefähr bohnengroße Narbe über den Ursprung der Luxation keinen
Zweifel ließ. In beiden Fällen (Fig. 38, 39) finden wir, daß die knorplige
Lücke jenes Ringes, der das Foramen obturatum umgibt, auf der Seite
der pathologischen Verrenkung breiter ist als auf der gesunden Seite.
(Der Unterschied betrug 3 resp. 6 mm.)
Nach dem Röntgenbilde griff die Osteomyelitis das obere Ende
des Schenkelknochens an und hatte hochgradige Destruktion desselben
zur Folge; als dann das Kapselband allmählich gedehnt wurde, verließ
der Schenkelknochen die Pfannengrube. Der knöcherne Teil der Ge¬
lenkpfanne erlitt — wie das Röntgenbild zeigt — bei dem 2- resp.
SV^jährigen Kinde solche Veränderungen, auf deren Grund man die
beiden Fälle füglich als kongenitale Hüftgelenksverrenkungen betrachten
könnte. Der Fundus ist an beiden kränken Gelenken zusehends
verdickt (8 : 6 resp. 10 : 4 mm im Verhältnis zur gesunden Seite), das .
Pfannendach ist in beiden Fällen auf der kranken Seite steiler, wohin-
Bade, Die angeborene Hüftgelenksverrenknng. Stuttgart 1907.
Digitized by L^ooQle
488
Michael Horvath.
gegen auf der gesunden Seite auffallend gut entwickelt, und in beider;
Fällen ist auch die Gleitfurche gut sichtbar.
Ich bin mir zwar dessen bewußt, daß zwischen der im Anschluß
an Osteomyelitis entstandenen Verrenkung und der kongenitaleu
Hüftluxation keine vollständige Parallele gezogen werden kann und
dennoch ist es — in Hinsicht auf den Umstand, daß ich an der Ge¬
lenkpfanne eine Destruktion, wie sie nach Osteomyelitis entstanden
Fig. 38.
Luxatio i)ost osteomyelit.
wäre, nicht fand — ein sehr naheliegender Gedanke, daß die oben
beschriebenen Veränderungen in den vorliegenden Fällen für sekundäre
Symptome gehalten werden müssen, welche entstanden, da der
Schenkelkopf die Pfannengrube verließ.
Hätte ich diese beiden pathologischen Verrenkungen nicht beob¬
achtet, so hätte ich das verspätete Schließen des knöchernen Ringes
als eine ausschließliche Eigenheit der kongenitalen Hüftverrenkung
betrachten können. So aber geht meine Meinung dahin, daß dies in
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 489
jedem solchen Falle Vorkommen kann, in dem der Schenkelkopf die
Gelenkpfanne in den jungen Jahren des Kindes, unbedingt aber noch
bevor sich der knöcherne Ring ganz geschlossen hat, verläßt,
Kehren wir jedoch zum Bilde jener Hüftverrenkung zurück,
die mit der Littl eschen Krankheit im Zusammenhänge stand!
Bei dem S^/zjährigen Kinde finden wir beide Ringe knöchern ge¬
schlossen. Gerade aus dieser frühen Ossifikation der knorpligen Lücke
schließe ich, daß wir es bei diesem an L i 111 e scher Krank-
Fig. 39.
Lu.\atio post osteomyelit.
heit leidenden Kinde mit keiner Verrenkung kongenitalen Ursprungs
zu tun haben, da angenommen werden kann, daß, wenn die Verrenkung
vorangegangen wäre, dieselbe ihre die Verknöcherung verzögernde
Wirkung auch in diesem Falle geltend gemacht hätte.
Doch wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem weiteren Verlauf
des interessanten Falles zu. Nach der Reposition der rechtseitigen
totalen Verrenkung näherte das ein wenig imbecille Kind seinen Fuß
sehr lange nicht der Mittellinie und erst mit Hilfe von Gips verbänden
gelang allmählich eine Fixierung in mäßiger Abduktion. In diesem
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 32
Digitized by C^ooQle
490
Michael Horvath.
Zeiträume war auch die linke untere Extremität (mit Rücksicht auf
die L i 111 e sehe Krankheit) anfangs in hochgradigerer, später in
mäßigerer Abduktion fixiert. Nach Monaten wandte ich einen Schienen¬
hülsenapparat an, dessen Konstruktion ermöglichte, daß ich die beiden
Extremitäten in beliebiger Abduktion fixieren konnte, ohne daß die
Beugung des Hüftgelenkes gehindert gewesen wäre. Doch trotz dieser
Vorsichtsmaßregel kam der linke Fuß infolge des von neuem ent¬
schiedener auftretenden Krampfes (Spasmus) und dann auch deshalb,
Fig. 40.
weil das rechte (reponierte) Bein noch in mäßiger Abduktion war,^auf-
fallenderweise in Adduktion und entwickelte sich während
dieser Zeit auf der linken Seite vor meinen Augen
die Hüftverrenkung, richtiger die Subluxation.
Wie die Röntgenbilder und die nach denselben verfertigten
Konturzeichnungen zeigen, stützte sich allmählich ein immer kleinerer
Teil des Schenkelkopfes an das Dach, so daß ich den Schenkel köpf bei
einer Gelegenheit, als sich das Kind in einem Apparate und einem
Digitized by CaOOQle
^Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 491
Gehstuhle im Stehen und Gehen übte, unter der Spina ant. sup., etwas
auswärts von den großen Gefäßen tastete, während ich, in Flexion und
Adduktion untersuchend, den Trochanter, den Schenkelhals und -köpf
— wenn auch noch nicht ganz deutlich — hinten unterscheiden konnte.
In diesem Falle ist es also ganz gewiß, daß der Schenkelkopf bei¬
läufig innerhalb eines Jahres die Pfanne allmählich verließ, während
welcher Zeit das proximale Ende des Schenkels sich etwas nach vorne
drehte (Anteversion).
Nach dem Gesagten glaube ich nicht zu irren, wenn ich behaupte,
daß sich, ebenso wie auf der linken Seite während meiner Beobachtung,
Fig. 41.
dem vorangehend auch auf der rechten Seite die Verrenkung als Folge
der L i 111 e sehen Krankheit entwickelte.
Und nun vergleichen wir die Röntgenbilder des Kindes, resp. die
nach denselben verfertigten Konturzeichnungen.
Das erste Bild (Fig. 40, 41) zeigt uns die Verrenkung des rechten
Schenkelknochens. Auf der Pfanne finden wir die für Luxationen
tjrpischen Veränderungen. Aehnliche Bilder fand ich in meiner Samm¬
lung bei sehr vielen kongenitalen Hüftverrenkungen.
Auf der noch gesunden Seite liegt der Schenkelkopf noch ganz
im Zentrum der Pfanne. Während der Zeit meiner Beobachtung jedoch
rutschte er immer mehr und mehr nach außen und oben, ließ die Ge¬
lenkhöhle zum großen Teile leer, und dementsprechend wurde auch
Digitized by LjOOQle
492
Michael Horvath.
der Fundus dicker (Fig. 42, 43). Auf dem Bilde (Fig. 44, 45), welches
ich 10 Tage nach der Reposition der linkseitigen Subluxation gewann
(vom Gipsverband schnitt ich den das Gelenk bedeckenden Teil aus),
können wir beobachten, daß auf der seit einem Jahre reponierten
rechten Seite die Doppellinie der Tränenfigur wieder zum Vorschein
kommt, während auf der linken Seite die beiden Linien dieser Figur
entschieden weiter voneinander liegen.
Fast können wir in dieser Bilderserie lesen, daß die p a t h o-
Fig. 42.
logisch-anatomischen Symptome auf der rech¬
ten Seite im Abnehmen sind, während sich die¬
selben auf der linken Seite vor unseren Augen
entwickelten.
Nach der Verrenkung des Schenkelkopfes verdickte sich der
knöcherne Pfannengrund (der Fundus), das Dach wurde etwas steiler,
ja, nach Bades Messungen untersucht, ist sogar die Hypoplasie des
Pfannendaches augenscheinlich. —
Digitized by CaOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 493
Durch Mitteilung meiner Fälle wollte ich Beweise bringen bezüg¬
lich dessen, daß bei den nach der Geburt im jungen
Alter erworbenen Verrenkungen (traumatische Luxation(?),
an Spondylitis resp. an spastische Kontraktur sich anschließende
und mit L i 111 e scher Krankheit zusammenhängende Hüftver¬
renkung) sich an der Gelenkpfanne nachträglich
Veränderungen von ebendemselben Typus ent¬
wickeln können, wiemansiebei kongenitalen
Luxationen findet, und ebendeshalb ist es meiner Ansicht
nach durchaus nicht begründet, daß wir diesen Veränderungen
ätiologische Bedeutung zuschreiben sollten (Bade).
Fig. 43.
Konturzeichnung nach dem Negativ.
Einzig und allein aus den pathologischen Veränderungen kann
man auf die Ursache des Entstehens der kongenitalen Hüftverrenkung
keinen Schluß ziehen, da dieselben gegebenenfalls zur Entscheidung
ihrer primären oder sekundären Bedeutung nicht genügenden Grund
bieten. Fick, v. Friedländer, Deutschländer, Roux
haben durch ihre Untersuchungen — denen ich auch die meinigen an¬
reihen kann — eine ganze Reihe von Tatsachen ermittelt, in deren
Sinne die veränderten Druckverhältnisse sowohl die Richtung wie
auch die Größe des Wachsens der Pfannenteile zu verändern im stände
sind, was dann zur Form Veränderung der teilweise noch knorpligen
Gelenke führt.
Digitized by L^ooQle
494
Michael Horvath.
Wie Schanz richtig bemerkt, muß man bei ätiologischen
Forschungen jene Kraft suchen, die den Schenkelkopf aus seinem Platz
heraustreibt, imd die Theorie wird der Wahrheit am meisten nahe
kommen, welche diese Kraft am einfachsten erklären kann.
DiesbezügUch wollte ich durch Mitteilung meiner 8 Fälle (Ana¬
mnese), in denen man auf dauernde Zwangsstellung der Leibesfrucht
Fig. 44.
und auf daraus entsprungenen abnormen Druck schließen muß, einen
Beitrag liefern. —
Im Zusammenhänge mit der Frage der Aetiologie will ich nur
noch einen Punkt berühren, den die Anhänger der „Vitium primae
formationis “-Theorie als Beweis für die Richtigkeit ihrer Auffassung
benützen.
H o f f a war der erste, der bemerkte, daß in einem großen Teile
der Fälle (nach Bade 25 Proz.) auch das klinisch gesunde Gelenk
solche Symptome aufweist, die nahelegen, daß zur Zeit der Gelenk¬
bildung, noch im intrauterinen Leben, vom Normalen abweichende
Vorgänge statthatten. So fand er besonders bezüglich des Pfannen-
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 495
daches, daß es auch auf der klinisch gesunden Seite steiler ist, als es
unter normalen Verhältnissen zu sein pflegt.
Zu beurteilen, ob ein Pfannendach vom Normalen abweicht, ist
insofern schwierig, als es nicht genau bestimmt ist, welche Gestalt
und Neigung des Pfannendaches am Röntgenbilde als absolut normal
betrachtet werden muß und wiefern geringe Abweichungen — denn
nur von ihnen kann ja die Rede sein — schon pathologisch genannt
werden können.
Mit der Untersuchung der Verhältnisse des Pfannendaches be¬
faßten sich eingehend L u d 1 o f f und Bade. Beide schöpfen aus dem
Studium des Röntgenbildes und beide kamen zu dem Resultat, daß
Fig. 45.
die Pfannengrube, besonders die Tiefe des Daches, kleiner und der
obere Teil des Fundus (in der Höhe des Daches) verdickt ist.
L u d 1 o f f schließt auf eine Verdickung des Fundus daraus, daß
die horizontale Fuge des -<-Knorpels auf der luxierten Seite verlängert
ist. Bade zieht in der Höhe des normalseitigen Pfannendaches eine
mit dem horizontalen Aste des Y-Knorpels parallele Linie und ver¬
längert dieselbe derart, daß sie auf der entgegengesetzten Seite das
Darmbein schneidet und vergleicht den Querschnitt des Hüftbeines in
der Höhe dieser Linie. Aus seinen Untersuchungen schließt er auf die
Hypoplasie des Pfannendaches.
Auch ich studierte die Eigenheiten der Gelenkpfanne am Röntgen¬
bilde und meine Untersuchungen bezogen sich auf die Form des Pfannen¬
daches, die Dicke des Fundus und die Tiefe der Pfannengrube. Die
zwei letzteren sind in enger Beziehung zueinander, sofern nämlich im
Digitized by C^ooQle
496
Michael Horv4th.
Verhältnis der Verdickung des Fundus Verminderung der Pfannengrube
angenommen werden muß. Betrachten wir also, inwiefern es gelingt,
die Eigenheiten der Form der Gelenkpfanne auf Grund des Röntgen¬
bildes zu erforschen.
Nach L u d 1 o f f ist das Pfannendach auf der luxierten Seite
steiler, sofern dieses mit der Horizontallinie einen größeren Winkel ein¬
schließt (Neigungswinkel), als das Pfannendach der normalen Seite,
In meinen Untersuchungen ging auch ich vom Neigungs-
Fig. 46.
Winkel des Pfannendaches aus, doch bei der Winkelmessung nahm ich
nicht die Horizontallinie, sondern den horizontalen Ast des Y-Knorpels
oder — wie Bade sagt — die durch die dem Y-Knorpel entsprechende
Lücke gezogene Gerade resp. ihre Verlängerung als Grundlage.
Die den Winkel einschließende andere Linie bestimmt einerseits
der äußere Endpunkt des horizontalen Astes vom Y-Knorpel, ander¬
seits derjenige Punkt desselben, den die Berührung der Seitenlinien
des Daches und des Darmbeines (Os ilei) bezeichnet (Fig. 46). Geht
das Dach in die Seitenlinie des Darmbeines ohne jeden scharfen Winkel
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 497
Über — wie wir dies auf der Verrenkungsseite häufig sehen —, so wurde
die zweite Linie durch die zur konvexen Linie des Pfannendaches ge¬
zogene Tangente gebildet.
Ich stellte den Neigungswinkel des Pfannendaches an 78 ßöntgen-
bildern solcher Kinder fest, die an Luxation litten; davon war in
52 Fällen einseitige, in 26 Fällen doppelseitige Luxation vorhanden.
Behufs größerer Uebersichtlichkeit ordnete ich in den zwei Tabellen
die Fälle nach dem Alter der Kinder (Tab. III, IV).
Tabelle III.
Journal 1
Nr. 1
'
Alter
Jahre
Seite
gesund luxiert
Grad | Grad
Differenz
Grad
Journal
Nr.
Alter
Jahre
Seite
gesund 1 luxiert
Grad 1 Grad
Differenz
Grad
106
1
35
50
+
15
76
3V«
29
50
+
21
13
IV«
33
38
+
5
80
3'/«
45
55
4-
10
79
r/«
46
50
4-
4
100
372
37
50
4-
17
107
IV«
30
40
+
10
117
37a
56
63
4-
7
61
Va
47
59
12
89
374
48
65
4-
17
86
vi*
44
45
1
90
4
48
62
4-
14
6
2
21
47
16
121
474
37
54
4-
17
23
2
40
60
+
20 1
60
5
23
47
4-
24
24
2
33
40
4-
7
62
5
34
40
4-
6
48
2
39
46
4-
7
77
5
37
55
4-
18
97
2
43
48
4*
5 i
103
5
27
47
4-
20
101
2
30
47
4-
17
12
6
22
52
4-
30
119
2
25
52
4-
27
33
6
16
45
4-
29
36
2‘/4
28
44
4-
16
58
6
33
40
4-
7
67
274
38
56
4-
18 :
72
6
10
32
4-
22
63
2 7-2
39
47
4-
8
111
6
35
39
4-
4
84
2'/2
55
60
4-
5
83
672
28
46
4-
18
11
3
36
41
4-
15
15
7
73
47
4-
24
14
3
21
37
+
16
25
7
21
60
+
39
53
3
30
38
4-
8
1 51
8
29
38
4-
9
78
3
36
49
4-
13
54
8
27
1 48
4-
21
81
3
38
48
4-
10
40
9
13
58
4-
45
88
3
24
50
+
26 1
115
10
23
50
+
27
98
3
37
37
-
;
110
10
23
64
4-
31
99
3V4-
42
57
4-
16
69
11
18
40
4-
22
116
374
38
55
4-
17
59
12
17
44
4-
27
Digitized by L^ooQle
498
Michael Horv4th.
Tabelle lY.
Te
1 Seite
1 Seite
E ^
r
Alter
Jahre
links
(» rad
rechts
Grad
'' i !5
■ o ^
Alter
Jahre
links
_Grad
1 rechte
* Grail
113
1*4
65
54
49
4
1
71
2
53
62
114
4
50
' 49
68
2V'4
47
48
120
4
47
50
109
2 «',
53
60
91
4V*
42
36
74
2^4 1
48
55
17
5
47
47
30
3 ^
61
66
52
5 1
70
59
32
3 1
48
32
; Ö3
5
58
42
75
3
41
54
82
5’'2
48
, 40
108
3
57
52
87
6
60 ,
44
123
3 t
50
44
66
7 i
36
’ 60
73
3'*
52
52
44
8 j
26 ,
49
27
4
44
47
4
8
41 j
45
46
4 I
1
55
32
H.
1 10
50 1
55
Bei den einseitigen Luxationen variierte der Winkel auf der ver¬
renkten Seite — unabhängig von dem Alter der Kinder — zwischen
32—65®. Den Mittelwert (48,5®) übertreffende Winkel fand ich in
25 Fällen, während in einem sehr großen Teil der Fälle (in 46 unter 53)
der Neigungswinkel mehr als 40® betrug.
Bei den 25 doppelseitigen Verrenkungen (50 Gelenke) fand ich
den kleinsten Neigungswinkel bei einem 8jährigen Kinde (26®), wäh¬
rend der größte Winkel (70®) bei einem 5jährigen Kinde vorkam.
Mittelwert des Neigungswinkels sämtlicher Gelenke 48®. Ueber diesem
Wert waren von den 50 Gelenken 31, und mehr als 40® betrug der
Neigungswinkel in 45 Fällen.
Die bei der ein- und doppelseitigen Verrenkung gewonnenen Werte,
deren Mittelw^ert 48® betrug, summierend, finden wir, daß von den
103 Gelenken 59 über dem Mittelwert waren, und mit mehr als 40®
in der Statistik 77 Gelenke vorkamen. Der Neigungswinkel jener Ge¬
lenke, die die 40® nicht erreichten, war um 4—22® größer als der
Neigungswinkel der klinisch gesunden Seite, so daß (mit Ausnahme eines
Falles, des 98., in welchem das Pfannendach des gesunden und kranken
Gelenkes = 37® betrug) auch nach dieser Statistik die Steil¬
heit des Daches der luxierten Seite als charakte¬
ristische Eigenheit der Verrenkung betrachtet
werden muß.
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 499
Bei den 53 Fällen der einseitigen Luxation wechselt an dem
klinisch gesunden Gelenk der Wert des Neigungswinkels zwischen
10—56®, mit einem Mittelwerte von 33®, der in 28 Fällen überschritten
wurde. Den auf die verrenkten Gelenke sich beziehenden Mittelwert
(48®) erreichten nur 4. Neigungswinkel über 40® kamen auf der klinisch
gesunden Seite in 11 Fällen vor. Bei Kindern, die mehr als 4V 2 Jahre
alt waren, betrug auf dieser Seite der Maximalwert 37®, und jenseits
des 6. Jahres verliert das Dach derart an Steilheit, daß der Neigungs¬
winkel nicht einmal mehr 30® erreicht.
Gleichzeitig stellte ich auch noch an mehreren Röntgenbildern
verschieden alter Kinder vergleichende Messungen an (Tab. V), an
Tabelle Y.
Seite * Seite
i links I rechts Alter j j j rechts
_ Grad_Grad __ _ Grad | _ Grad
19 Tage
60
38 1
4 Jahre
_
30
4 Monate
53
45
5 „
27
27
9 „
37
40
5
22
29
1 Jahr
44
45
5 „
—
28
3 Vs Jahre
26
22
7 „
31
30
4
32
29
9 „
18
4
31
33
11 .
15
11
4
31
31
14 „
22
25
4
30
30
1
Bildern solcher Kinder, deren Hüftgelenk nicht luxiert war. Diese
Tabelle ist nicht vollständig, denn nicht alle Lebensalter sind in ihr
vertreten, und trotzdem fällt es auf, daß wir bei den kleineren Kindern
größere Werte finden, während dieselben mit dem höheren Alter bei¬
nahe proportional kleiner werden, was so viel heißt, daß sich das Pfannen¬
dach während der Zeit der Verknöcherung immer mehr und mehr aus¬
bildet.
Im ersten Lebensjahre ist das knöcherne Pfannendach derart
steil, daß es ohne Ausnahme in sämtlichen Fällen als zum Halten des
Schenkelkopfes ungenügend betrachtet werden müßte. Das Röntgen¬
bild jedoch gibt bloß das projizierte Bild der schon verknöcherten
Teile, veranschaulicht hingegen nicht, in welchem Maße der den Rand
desselben begrenzende knorplige Ring die Pfannengrube ergänzt und
zur Aufnahme des Schenkelkopfes geeignet macht.
Digitized by GiOOQle
500
Michael Horv4th.
Aus meinen Untersuchungen bezüglich des Neigungswinkels der
Pfannenwölbung geht hervor:
1. daß zur Ausbildung des knöchernen Pfannendaches wenigstens
4—5 Jahre notwendig sind,
2. daß bei der einseitigen Verrenkung das Pfannendach auf der
luxierten Seite immer steiler ist als auf der anderen,
3. daß auf der Seite, die man als kUnisch gesund betrachten kann,
bei Kindern unter 4 Jahren im großen Teil der Fälle noch
ein steileres Gelenk vorhanden ist, von denen jedoch den auf
der luxierten Seite gefundenen Mittelwert (48®) nur 4 erreichen.
Vom 6. Jahre an ist das Dach des klinisch gesunden Ge¬
lenkes in jedem Falle normal.
Somit muß bei den jungen Kindern die Steilheit des klinisch
gesunden Daches teilweise für eine physiologische gehalten werden,
und dies berücksichtigend, kann man aus der Steilheit des Daches an
und für sich noch nicht mit Sicherheit schließen, daß die Bildung des
Gelenkes zur Zeit der Entwicklung desselben durch von den normalen
abweichende Vorgänge gehemmt wurde. Und kann auch die Frage
aufgeworfen werden, ob nicht in den 25 Proz., die Bade an Hoffas
Material nachwies, gerade die mit dem jüngeren Alter der Kinder zu¬
sammenhängende größere Steilheit figurierte?
In 4 Fällen fand ich — wie aus der obigen Tabelle hervorgeht —
auch auf der klinisch gesunden Seite solche Neigungswinkel, die größer
sind wie der Mittelwert (48—56®) und bei denen die Verrenkung des
Schenkelkopfes trotzdem nicht eintrat — als Zeichen dessen, daß man
jene Kraft, welche die Luxation verursacht, in erster Reihe nicht in
dem Gelenke selbst, sondern in äußeren Verhältnissen suchen muß.
Am Röntgenbilde jüngerer Kinder kann die Tiefe der Pfannen¬
grube nicht genau fest gestellt werden, da der noch knorplige Rand
kein radiographisches Bild hat. Doch können wir auf die Tiefe
der Pfannengrube aus der Dicke des knöchernen Bodens der Gelenk¬
pfanne (Fundus) Folgerungen ziehen.
Ich durchmusterte einen Teil meiner Fälle und bestimmte, ähnlich
wie L u d 1 o f f bei seinen Untersuchungen, die Dicke des oberen Teils
vom Fundus mittels Messung des horizontalen Astes des Y-Knorpels.
Tab. VI enthält bei 44 einseitigen Verrenkungen gefundene Werte.
In 5 Fällen (1.—3. Jahr) war die Horizontalfuge des Y-Knorpels gleich
lang, während dieselbe auf 39 Röntgenbildern (bei Kindern im Alter
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 501
Tabelle TI.
*3
r
Seite
1 ^
: c8
Seite
C t*
0 ,
1 Alter j
gesund
laxiert
Differenz
1 .0
Alter
gesund
laxiert
Differenz
1
Jahre
mm
mm
mm
1 _
Jahre
mm
mm
mm
6
2
! s
12
+ 4
63
2Vi
8
10
+ 2
11
3
10
15
4- 5
67
2 '4
10
15
4- 5
12 1
6
14
25
+ 9
i 72
6
10
17
4- 7
13
IV*
1 8
11
+ 3
76
3*/i
1 9
16
4- 7
14
3
6
13
+ 7
' 77
5
7
14
4- 7
15
7 j
15
4- 2
78
3
7
9
4- 2
23
2
10
16
4 - 6
79
1’»
9
10
4- 1
24
2
8
0
1
81
3
11
17
4- 6
25 1
7
13
17
4 - 4
83
6V*
10
17
4- 7
33
6
11
20
4 - 9
84
27*
12
12
0
36
2Vi i
8
10
4- 2
86
UA
10
10
0
46
4
11
16
4- 5
88
3
12
13,5
4 - 1,5
48
2
9
13
4 - 4
89
3*4
9
13
4 - 4
51
8
7
20
4-13
90
4
9
11
4- 2
53
3
8
13
4- 5
92
7 *'2
7
9
4- 2
54
8
11
20
4 - 9
97 i
2
7
9,5
4- 2,5
56
5
10
15
4- 5
98
3
10
10
0
58
6 '
12
20
4- 8
99
3''4
10
12
4 - 2
59
12
14
17
4 - 3
100
372
9
12
4 - 3
* 60
5
10
15
4 - 5
103
5
12
19
4 - 7
61
1*4
1 8
12
4 - 4
106
1
8
8
0
62
5 1
1 8
10
2
107 1
'■'’i
10
10
0
von IV 2 —12 Jahren) auf der luxierten Seite länger war (-f 1—13 mm).
Verhältnismäßig zeigten sich zwischen dem Horizontalaste der gesunden
und pathologischen Seite bei den älteren Kindern größere Unterschiede.
Somit bestärkt diese Tabelle Ludloffs Resultate.
Der obere Teil des Fundus ist also gemeinhin auf der kranken
Seite dicker und dementsprechend wird auch die Pfannengrube kleiner.
Daß der Fundus auch im unter dem Y-Knorpel gelegenen Teile der
Gelenkpfanne verdickt ist, beweisen unter anderem auch die Unter¬
suchungen von Bade. Derselbe wählt behufs Erklärung des Ent¬
stehens der Verrenkungen gerade die primäre Verdickung des unteren
Pfannenviertels zum Ausgangspunkt.
Am Röntgenbilde können wir — wie dies aus der radiographischen
Anatomie des Hüftgelenkes bekannt ist — um die Dicke des Fundus
zu bestimmen, die Tränenfigur benützen. Jedoch tritt die Tränenfigur
typisch nur im radiographischen Bilde des normalen Gelenkes hervor,
Digitized by L^ooQle
502
Michael Honr&th.
während bei der Hüftgelenksverrenkung die laterale (äußere) Linie |
häufig verschwommen oder gar unsichtbar ist. In diesem Falle kann i
die innere Grenze des Fundus dadurch bestinunt werden, daß der
entsprechende, die Dicke des Fundus andeutende Teil etwas kom¬
pakter ist und somit auf der Röntgenplatte etwas mehr schattiert er¬
scheint. Verschiebt sich die äußere Linie der Tränenfigur, so verliert
dieser Teil seine typische Gestalt. Die innere Linie entspricht — wie
dies aus meinen Untersuchungen hervorging — der inneren Grenz¬
linie des Fundus nur in seinen oberen zwei Dritteln, und fällt an dieser
Stelle mit einem tiefer gelegenen Teile der Seitenwand des kleinen
Beckens, resp. mit dem projizierten Bilde desselben zusammen.
In 62 Fällen einseitiger und 21 Fällen doppelseitiger Luxation
studierte ich die Dicke des Fundus an den Röntgenbildern der betreffen¬
den Kinder (Tab. VII, VIII) und machte mir bezüglich einiger Fälle,
in denen mir scharfe und somit zur Untersuchung geeignete Bilder zur
Verfügung standen, über die Veränderungen, welche die Dicke des
Fundus im Laufe der Behandlung erlitt, Aufzeichnungen.
Diese Tabellen zeigen: I
1. daß der Fundus der Gelenkpfanne in sämtlichen Fällen auf
der luxierten Seite dicker ist.
2. In 22 Fällen finden wir, wenn auch die beiden Seiten einen ge¬
wissen Unterschied aufweisen, doch auch auf der normalen
Seite einen größeren Wert, als der durchschnittliche (3—5 mm
Differenz).
3. Auf der luxierten Seite ist die Tränenfigur, resp. das radio¬
graphische Bild des Fundus umso dicker, je älter das Kind ist. i
4. Nach gelungener Reposition wird der Fundus der Gelenk¬
pfanne dünner.
Aus Punkt 1, 3, 4 kann gefolgert werden, daß auf die Dicke des
Fundus und dementsprechend auf die Tiefe der Pfannengrube der '
seitens des Schenkelkopfes ausgeübte Druck, resp. das Fehlen des- |
selben Einfluß hat. ^
ad 2. An und für sich führt der Umstand, daß der Fundus dicker |
ist als gewöhnlich, noch nicht zur Verrenkung des Schenkelknochens.
Wenn wir nun jene Tabelle (VII, VIII), welche die Dicke des
Fundus zeigt, mit derjenigen vergleichen, die sich auf die Untersuchung |
des Neigungswinkels der Wölbung bezieht (III, IV), so fällt auf, daß in I
sehr vielen Fällen, in denen auf der klinisch gesunden Seite die Dicke ,
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 508
Tabelle YII.
Journal
Alter
Seite
Differenz
Journal
Alter
Seite
Differenz
Nr.
Jihr
IlMl
laxiert | gesund
mm I mm
mm
Nr.
Jahr
Iml
laxiert Igesund
mm 1 mm
mm
Ib
3
6
10
4
4-
6
63a
2
3
6,5
5,5
-h
1
d
6
11
12
4
+
8
) c
5
6
5
3
+
2
e
11
10
4
6
67a
2
6
5
3
+
2
2 c
8
—
9
7
+
2
! 69a
11
—
6
3
+
3
e
10
—
7
5
+
2
72a
6
—
11
5
4-
6
lOb
2
6
8
7
-h
1
76a
3
6
6
5
+
1
c
9
—
8
6
+
2
c
5
6
4
4
0
11 a
3
—
8
6
-h
2
77a
5
—
5
3
2
13a
1
7
5
4
1
b
5
4
4,5
2,6
2
14a
3
—
7
4
-f
3
78a
2
—
8
5
+
3
b
3
10
6
4
2
b
2
6
5,5
5
4-
0,5
c
4
3
7
6
+
1
0
3
—
4
3
+
1
d
10
—
10
3
4-
7
79a
1
8
8
6
4-
2
15a
7
—
9
4
4-
5
c
2
2
7
5
4-
2
b
8
—
9
4
4-
5
d
2
9
6
4
4-
2
c
12
—
8
4
4-
4
81a
3
—
8
3
4-
5
20 a
9
—
—
11
—
0
4
—
4
4
+
4
b
15
—
10
8
4-
2
83a
6
6
7,5
4
4-
2,5
21 b
9
—
13
6
4-
7
c
7
4
6
4
4-
2
c
13
—
4
4
0
8 öa
1
9
9,5
8
+
1,6
22 b
4
4
—
6
—
i c
2
4
7
7
0
c
8
5
15
4
+11
88 a
3
9
8
6
4-
3
d
10
—
13
4
4*
9
c
3
4
5,5
5,5
0
23a
2
—
5
3
4-
2
f
4
4
4,6
4,5
0
24a
2
9
—
7
89a
3
9
6,5
5
+
1.6
—
—
12
4
4-
8
90a
4
—
7
5
4-
2
25a
7
—
8
4
4-
4
92a
8
—
12
5
+
7
33a
6
—
—
7
—
b
8
9
6
3
4-
3
b
9
—
14
3
+11
97a
! 2
7
3,5
4-
3,5
36a
2 1
6
5,5
5,5
—
98a
2
^ 10
8
5
+
3
b
— ,
—
10
5,5
+
4,5
b
3
2
6
6
0
c
4
6
10
4
4-
6
c
3
7
5
5
0
37c
5
—
11
5
4-
6
99a
3
6
10
7
4-
3
t.-e
7 1
—
13
5
4-
8
b
3
10
7
5.5
4-
1,5
40a
9
—
10
5
+
5
100 a
3
6
! 6
3
4-
3
41c
10
— ^
12
5
+
7
101 a
2
—
6
4
"h
2
42b
6
■ —
11
3
4-
8
b
1 2 '
5
6
4
4-
2
e
8
6
14
4
+11
c
2
8
4.5 j
3
4-
1,6
46a
4
—
11
5
4-
6
103a
5 '
1
10
6
4-
4
48b
2
—
7
4,5
4-
2,5
106a
1
—
6,5
6
4-
0,5
51a
8
—
10
5
4-
5
107a
1
6
8
5
4-
3
c
8
6
9
4
4"
5
b
2
9
8
4
, 4-
4
53a
3
—
7
5
4-
2
110 a 1
10
1
12 i
5
4-
7
b
3
4
5
3
4-
2
b
10
4
8 1
! 5
4-
4
c
3
6
5
4-
2
lila
5
1 11
13
5
4-
8
54a
8
—
12
7
4-
5
b
6
1
10
5
4"
5
b
8 1
5
11
6
4-
5
115a
10
6 !
10
6
+
4
56a
5
—
9
4
4-
5
116a
3
4
10
1 ®
4-
4
c
6
—
9
5
4-
4
b ’
3
8 1
8,5
4
4-
3,5
58a
6
—
8
5
4-
3
117a
3
6
7
1 5,5
4-
1.6
59a
12
—
17
5
+ 12
118a
12
—
14
i 7
4-
7
c
14
—
9
5
4-
4
119a 1
2
—
7
9
4-
3
60a
5
—
10
3
4-
7
121 a i
4
6
6
4
4-
2
62a
5
—
8
5
4-
3
X. ya ;
9
—
16
5
4-
9
b
8
—
9
5
4-
4
Herv. 1
1
4 I
8
5,5
4-
2,6
Digitized by L^ooQle
504
Michael Horvath.
Tabelle TlII.
f
1 Seite il
"3
! Seite
£
o
1 Altor
1
1
links
rechts
£ »-
§ 52;
o
Alter
i links
1 rechts
•-3
.T»hr
1 Monat
in in
mm *
Jahr
1 Monat
mm
mm
17a
1 ®
3
10
_ '
74a
2
7
1 3
1 4
c
9
3
9
11
c
3
1
3
27a
4
—
8
7
d
3
7
3
3.5
30a
3
—
—
11
75a
3
—
7,5
7,5
c
9
—
4
6
82a
5
6
10
13
32a
3
—
8,5
2
b
5
7
8
10
45a
8
—
9,5
7
d
6
6
6,5
6
49a {
4
—
8
10
87a
6
—
t 1
10
c
6
--
7
7
d
7
2
1 7- 1
8
52a
5
—
9
® i
01a
4
7
7 1
6
55b
3
; —
8
6
b
4
10
: 6
5
d
4
3
8
5
c
5
2
6
6
66a
7
—
11
108a
3
3
' 7
6
c I
10
—
3
5
109a
2
6
i ^
8
68a
2
6
8
8
113a
1
9
7
6
73a !
7
2
9
10
114a
4
4
11
10
b i
7
8
6
6
b
4
8
8
8
c
8
10
6
6
123a
3
—
9
9
des Fundus durch eine große Zahl (größer als 5) bezeichnet ist, gleich¬
zeitig auch der Neigungswinkel des Daches größer ist als der gefundene
Mittelwert (33®).
In diesen Fällen war also die Pfannengrube unbedingt etwas mehr
verflacht, als gewöhnlich, und trotzdem verrenkte sich der Schenkel¬
kopf weder bis zur Zeit der Untersuchung, noch aber im Laufe der
Behandlung des anderen Gelenkes (wo das frühere Gelenk beim Gehen
oft in adduzierte Lage kam), und so ist dieses Gelenk in klinischem
Sinn für ganz gesund zu halten.
Daß an diesen Gelenken — trotz der einigermaßen günstigen
Verhältnisse (dickerer Fundus, etwas steileres Dach) — dennoch keine
Luxation zu stände kam, kann ich mit nichts anderem als dem erklären,
daß auf dieser Seite jene äußere Kraft, welche die Verrenkung bewerk¬
stelligt, nicht zur Geltung kam.
Gleichsam die Bestätigung meiner Annahme sehe ich in dem
Umstande, daß die Anamnese eines Teiles jener Fälle, die in den beiden
Tabellen auf Grund der Identität der anatomischen Verhältnisse in
eine Gruppe gereiht werden können, identische Daten aufweist. In
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 505
der Anamnese der einseitigen Luxation Nr. 24, 36, 106 verzeichneten
wir auch im postuterinen Leben Kontrakturen, und zwar auf der
Seite, auf der die Verrenkung auch klinisch konstatierbar war. Auf
der klinisch gesunden Seite, für die jedoch der dickere Fundus und die
Steilheit des Daches typisch waren und die zu Verrenkungen beinahe
prädisponiert war, fand sich im postuterinen Leben nicht einmal eine
Kontraktur vor.
In der Anamnese von Fall 75 (bilaterale Luxation) obwaltete auf
beiden Seiten eine Kontrakturstellung, war das Pfannendach steil
(41—54°), der Fundus dicker.
Ueber Fall 89 finden wir notiert, daß das Kind mit einem Schief¬
hals zur Welt kam. Auf der klinisch gesunden Seite ist der Fundus der
Gelenkpfanne um 1V 2 mm schmäler als auf der luxierten Seite (6,5 mm),
der Neigungswinkel des Daches betrug 48°. Im embryonalen Leben
spielten also auch hier solche Verhältnisse mit, aus denen man auf
einen solchen Druck folgern kann, dem der Embryo ausgesetzt war,
obgleich die Stellung der Extremitäten in diesem Falle im postuterinen
Leben eine normale war, und somit uns, wenn wir annehmen, daß die
verrenkte Extremität im intrauterinen Leben in einer gezwungenen
Lage war, hierfür kein positiver Beleg zur Verfügung steht.
In dem bisher Gesagten habe ich die aus dem Studium meines
eigenen Materials von Hüftluxationen geschöpften Daten aufgezählt.
Die Aetiologie der kongenitalen Hüftgelenksverrenkung ist jedoch
viel zu verwickelt, als daß ich dieselbe auf Grund meiner Studie
für endgültig gelöst halten könnte, dennoch muß ich — gestützt auf
die in derselben detaillierten Ergebnisse — zu der Schlußfolgerung
gelangen, daß
1. bei der kongenitalen Hüftgelenksverren¬
kung die an der Gelenkpfanne sich zeigen¬
den typischen Veränderungen sekundärer
Natur sind und demnach
2. jene Kraft, welche die Verrenkung zu¬
stande bringt, nicht im Gelenke, sondern
außerhalb desselben zu suchen ist.
In einem Teil meiner Fälle glaube ich diese Kraft in der abnormen
Stellung des Embryos und den in dieser Stellung geltend werdenden
äußeren Kräften von abnormer Richtung finden zu können. —
Zeitschrift für orthopitdische Chirurgie. XXII. Bd. 33
Digitized by C^ooQle
506
Michael Horväth.
Jene anfangs vertretene Ansicht, in deren Sinne die kongenitale
Hüftverrenkung fast immer eine Luxatio iliaca wäre, kann schon längst
als überwunden betrachtet werden. Bei Kindern, die früh genug unter
Beobachtung kommen, findet man den luxierten Schenkelkopf am
häufigsten in der Höhe der Spina ant. sup. und von derselben aus¬
wärts, ja auch solche Fälle kommen oft genug vor, in denen der Schenkel¬
kopf während seiner Wanderung nicht einmal diese Höhe erreichte
und unter der Spina ant. sup. zu tasten ist. Die Luxatio iliaca ist die
letzte Station der Verrenkung und wird in der Regel, wenngleich
nicht immer, schon bei den verhältnismäßig älteren Kindern beobachtet.
In einer Tabelle (IX) ordnete ich mein Material nach dem Alter
der Kinder und der Form der Luxation. Ein Blick auf diese Tabelle
genügt, damit man jenen Weg, den der luxierte Schenkelkopf unter
der Wirkung des Muskelzuges und der Belastung macht, gleichsam
vorgezeichnet sehe.
Bis zum 3.—4. Lebensjahre befindet sich der Schenkelkopf noch
häufig genug in der Nähe der Gelenkpfanne, ja in 10 Fällen konnte ich
teils im Wege der Röntgenuntersuchung, teils nur der klinischen
Untersuchung Subluxation feststellen.
Auch die Lange sehe Luxatio supracotyloidea kommt eben¬
falls bei jungen Kindern vor, doch schon mit größerer Häufigkeit,
jedoch am allerhäufigsten — in 100 zwischen 171 Gelenken — treifen
wir jene Form an, die durch Lange supracotyloidea et iliaca genannt
wurde. An zweiter Stelle kommt bezüglich der Häufigkeit die hintere
Verrenkung (einseitig 16, doppelseitig 29). Diese Fälle beobachtete ich
verhältnismäßig häufig bei den älteren Kindern, doch — wie die Tabelle
zeigt — steht die untere Altersgrenze bei der doppelseitigen Verrenkung
auffallend tiefer (3—4 Jahre). Erklärt kann dies dadurch werden, daß
die Beckenneigung bei der doppelseitigen Verrenkung sich infolge der
labileren Stütze verhältnismäßig früher steigert, und so die Ver¬
hältnisse das Entstehen der Luxatio iliaca bei den doppelseitigen Ver¬
renkungen viel mehr begünstigen, als bei den einseitigen. Die supra-
cotyloide Form, bei welcher der Schenkel unter der Spina ant. sup.
und ein wenig nach innen getastet werden kann und laut der Röntgen¬
untersuchung in der Gegend der Spina ant. inf. seine Stütze hat, kann
in seltenen Fällen verhältnismäßig lange Zeit hindurch bleiben. So
fand ich in einem Fall diese Form noch bei einem 11jährigen Mädchen
(Fig. 37). Zur Zeit meiner Untersuchung betrug die Verkürzung IV 2 cm
und war der Gang, wenn das Kind darauf achtete, auffallend gut.
Digitized by CiOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftyerrenkung. 507
Tabelle IX*
(Uebersicht über die Form der Luxation im verschiedenen Lebensalter
sämtlicher Fälle.)
Anatomi¬
sches
E
inseitige
Luxation
Lebensalter
TJ ^
Resultat
1—2
2-8
3-4
4—B
B-6
6 — 7
7—8
8 9
9 10
10-11
11-12
a »
( 5 ^
12 u
Subluxatio .
1
1
2
—
—
_
_
—
—
—
4
Lux. supra- ^
cotyloidea
4
5
1
1
_
_
_
_
_
_
1
1
_
12
Lux. supra-
cotyloidea
et iliaca . 1
i
i 7
8
10
j
4
5
6
3
1 “
1
1
i
2
45
Luxat. iliaca
1
—
—
1 —
1
2
2
3
3
4
—
1
16
Summe
1 12
t
14
13
5
6
1
7
1 5
i
3
4
4
1
3
77
Doppelseitige Luxation
Anatomisches
,
Lebensalter
kl
a S
Resultat
!
2-3
3—4
4 6
1 B-6
6-7
7- 8
8-9
io
■ ^ ^
L-
- -
1
. CO
Subluxatio . .
2
2
' 2
—
—
—
6
Luxatio supra-
cotyloidea .
Luxatio supra-
i
3
1
—
—
—
—
1
4
1
cotyloidea et
iliaca ....
1 2
19
15
8
_
! "
2
55
Luxatio iliaca
—
—
1 2
' 10
, 5
4
6
2
29
Summe
' ^
20
18 1
10 i
4
1
^ i
94
Im 14. Jahre hingegen, wo die Beckenneigung physiologisch schon
größer ist (12. Jahr), betrug die Verkürzung schon 4 Vs cm, der Schenkel¬
kopf verließ seine bishin eingenommene Lage und tastete ich ihn hinten
unter den Glutäen.
Ein auffallendes Resultat meiner Statistik ist, daß von 171 Ge¬
lenken in 10 der Schenkelkopf die Pfannengrube noch nicht ganz ver-
Digitized by C^ooQle
508
Michael Horvdth.
lassen hatte. In diesen Fällen kann also von einer Subluxation dir
Rede sein.
Mit Rücksicht auf den Umstand, daß in der mir zur Verfügung j
stehenden Literatur dieselbe als große Seltenheit hingestellt wird, er¬
achte ich es als meine Pflicht, diese Fälle eingehender mitzuteilen. j
Nach der Lorenz sehen Definition^) wird jene Form der Hün- *
Verrenkung eine Subluxation genannt, wo der Schenkelkopf den hinterer
Pfannenrand noch nicht überschritten hat, also etwa auf der Höhe
derselben steht und durch Abduktion des Beines leicht wieder kon¬
zentrisch zur Pfanne gestellt werden kann.
Fälle von Subluxation teilten mit: Zenker*), Heusner’).
W a 11 h e r^). Auch ich besprach 3 ähnliche Fälle in meiner vorigen i
Mitteilung®), in der ich behufs Charakterisierung der Subluxation I
folgendes bemerkte: „Das Röntgenbild demonstriert ganz genau diese \
verschiedenen Formen der Luxation. Bei der Subluxation ist das
Caput femoris beiläufig in einer Höhe mit jenem der gesunden Seite. |
Es ist auffallend, daß die Entfernung zwischen dem Caput femoris ^
und der Pfanne größer ist. In der frontalen Projektion ist das Caput ^
femoris scheinbar noch unter dem Gewölbe der mehr oder weniger gut
entwickelten Gelenkpfanne, die klinische Untersuchung weist jedoch
auf eine größere Erschlaffung der Gelenkverbindung hin, hauptsächlich
in der antero-posterioren Richtung.“
Dem kann ich nun als Ergänzung noch beifügen, daß wir den
Schenkelkopf bei äußerer Untersuchung ganz entschieden unter der ^
Spina sup. ant. und von derselben ausgesprochen einwärts, sehr nahe
den großen Gefäßen palpieren, während, wenn wir den Schenkel in
flektiert-adduzierter und nach innen rotierter Stellung untersuchen. j
der Schenkelkopf in der Gegend der Glutäen sehr imdeutlich oder
überhaupt nicht getastet werden kann. Das Trendelenburg sehe
Symptom ist nicht ausgesprochen, nicht deutlich genug, vielmehr '
hinken ältere (2—3jährige) Kinder merklich nur dann, wenn sie längere
Zeit hindurch gegangen sind und ermüden.
In meinen unten mitgeteilten Fällen fand ich durchweg diese
^) Lorenz, Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung.
*) Zenker, lieber inkomplette angeborene Hüftgelenksverrenkung.
Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, I.
®) Heusner, Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 5.
Walther, Münchner med. W^ochenschr. 1902, 14.
®) Horvath, Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 12, 62.
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pailiologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 509
Symptome, so daß ich bei aufmerksamer, eventuell bei längerdauernder
Untersuchung die Diagnose der Subluxation schon im Wege der
äußeren Untersuchung zu machen im stände war. Meine Diagnose
wurde in diesen Fällen auch durch die Röntgenuntersuchung bestätigt.
F a 11 81. S. A., 3jähriges Mädchen. Hielt sein linkes Bein eine
Zeit hindurch nach der Geburt mit Vorliebe flektiert, während es das
andere leicht strecken konnte. Fing spät zu gehen an. Kaum bemerk-
Fig. 47.
bares, allmählich zunehmendes Hinken. Gelegentlich der Röntgen¬
untersuchung war der Schenkel nach außen rotiert und trotzdem
finden wir den Schenkelkopf teilweise noch unter dem Dache (Fig. 47).
(Hätten wir das Bein nach innen rotiert, so wäre der Schenkelkopf
bedeutend weiter einwärts in die Pfannengrube geraten, wie auf einem
3 Monate später verfertigten Bilde sichtbar ist.) Der Schenkelkopf
überschreitet die Höhe des Y-Knorpels mit 5 mm (Fig. 48).
Fall 98. K. B., 2 V 2 jähriges Mädchen. Fällt beim Gehen nach
links. Trendelenburg nicht ausgesprochen. Im Liegen dreht sich der
Digitized by C^ooQle
510
Michael Horvdth.
linke Fuß mehr auswärts. Evidente Verkürzung kaum vorhanden. I
Messung ergibt ca. 7 mm. Abduktion etwas mehr gehindert als auf ^
der rechten Seite. Schenkelkopf von der Spina abwärts und entschieden j
einwärts fühlbar, sehr nahe zu den großen Gefäßen. In der Glutäal-
gegend ist er nicht fühlbar. Beim Heraufschieben und Herabziehen
rückt der Schenkelkopf kaum aus seiner Lage. Beim Herabidehen
etwas Krachen. Das Röntgenbild (Fig. 49) bestätigte die Richtigkeit
der Diagnose. Der Schenkelkopf überragt die Höhe der Y-Knorpel
mit 5 mm, steht um 3 mm weiter von der Mittellinie als der andere
Schenkelknochen. Ferner wurde die Diagnose auch durch die Re-
Fig. 48.
Position, die einfach in der Dehnung der ein wenig gespannten Ad¬
duktoren bestand, erwiesen. Bei Einrichtung des Schenkelkopfes oder
Reluxation kann das typische Geräusch nicht ausgelöst werden; in
Ermanglung desselben konnte die gelungene Reposition bloß aus dem
Umstande festgestellt werden, daß der Schenkelkopf in der Leisten¬
beuge besser palpabel war und die Leiste nebst den großen Gefäßen
nicht eingedrückt werden konnte. Diesen Fall halte ich für ein klassi¬
sches Beispiel der Subluxation. Die Behandlung führte übrigens
zu einem in jeder Hinsicht idealen Resultat (Fig. 50).
Fall 107. Bei dem 1 Jahr und 10 Monate alten Kinde Sch. J.
(Mädchen) sind die anatomischen Verhältnisse den vorigen ganz ähn-
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 511
lieh. Verkürzung kaum nachweisbar, den Schenkelkopf tastet man
nur vorn (hinten nicht) und zwar von der Spina ant. sup. ab- und
einwärts, in der Nähe der großen Gefäße. Auf dem Röntgenbilde
(Fig. 51) überschreitet der Schenkelkopf jene Linie, welche die Y-Knor-
pel verbindet, hinaufzu mit 3 mm und steht zwar von der Mittellinie
in größerer Entfernung, doch teilweise immerhin noch unter dem gut
genug erhaltenen Dache. 9 Monate später, als das Kind 2 Jahre und
7 Monate alt w^ar, zeigten die Verhältnisse nur insofern eine Verände-
Fig. 49.
rung, als das T r e n d e 1 e n b u r g sehe Symptom etwas ausge-
.sprochener war. Ein Unterschied in der Länge der zwei Beine konnte
ebenfalls noch nicht konstatiert w^erden. Bei Reposition oder Re-
luxation fehlte das typische Geräusch.
Fall 112. Kl. M., 2 Jahre und 2 Wochen altes Kind. Die Eltern
wurden, als das Kind IV 2 Jahre alt war, auf die Verkürzung des linken
Beines aufmerksam. 18 Monate alt begann es zu gehen. Seitdem nimmt
das Hinken zu. Trochanter U /2 cm oberhalb der Roser-Nelaton-Linie
Digitized by C^ooQle
Michael Horv^ath.
Fig. 50.
Digitized by
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 513
linkerseits. Ausgesprocliene Luxatio supra-cotyloidea et iliaca. Das Kind
hinkte derart entschieden mit dem linken Bein, daß ich nur eine einseitige
Fig. 52.
Luxation annahm. Doch die Röntgenuntersuchung (Fig. 52) ergab, daß
auch auf der rechten Seite von keinem ganz normalen Gelenk die Rede
Fig. 53.
sein konnte, insofern nämlich der Kopf des Schenkelknochens 3 mm
über jene Linie emporragte, welche die Y-Knorpel verbindet, während
Digitized by LjOOQle
514
Michael Horvath.
derselbe sich nach außen vom Gelenk 7 mm weit entfernte. In diesem
Fall dürfte also das Hinken, welches mit Rücksicht auf die Subluxation
vorausgesetzt werden kann, so gering gewesen sein, daß aus der Gang¬
art nur noch auf die anderseitige ganz entwickelte Luxation gefolgert
werden konnte. Leider meldete sich dieses Kind nicht mehr.
Fall 113. Bei der K. E., 1 Jahr und 10 Monate alt, bemerkte
man die Verkürzung des linken Beines im Alter von 1 Jahr. Beim
Fig. 54.
Gehen hinkt es ausgesprochen auf dem linken Fuß. Diesseitig Luxatio
supra-cotyl. et iliaca, sofern der Schenkelkopf vorn und gelegentlich
der Innenrotation auch hinten getastet werden kann. Der rechte
Schenkelkopf liegt in der Leistenbeuge, doch nicht an der Stelle, wo
das Pulsieren der Schenkelgefäße fühlbar ist. Beim Heraufschieben
rührt er sich nicht aus seiner Lage. Auf dem ersten Röntgenbilde
(Fig. 53) steht — obzwar das Bein etwas mehr nach außen gekehrt
(der Trochanter minor stärker sichtbar) ist — der Schenkelkopf ober¬
halb der verbindenden Linie der Y-Knorpel um 3V2 höher, hat
Digitized by CaOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 515
sich auch ein wenig vom Pfannenboden entfernt, doch dessen Grube
noch nicht verlassen.
Da sich der Schenkelkopf beim Herauf schieben nicht aus seiner
Stelle herausrührte, vollzog ich — wie dies vom folgenden Bilde
veranschauhcht wird —^ vorläufig nur auf der linken Seite eine Re¬
position (Fig. 54). Auch dieses Bild zeigt den rechten Schenkelknochen
in subluxierter Stellung.
Fall 115a. F. KL, 2 Jahre 3 Monate altes Mädchen. Begann,
als es iVzjährig war, zu gehen, hinkt von der Zeit an, besonders auf
dem rechten Fuß. An dieser Seite finden wir den Schenkelkopf von der
Fig. 55.
Spina ant. sup. ab- und auswärts, beim Drehen nach innen ist er hinten
zu tasten. Auf der linken Seite ist der Schenkelkopf von der Spina ab-
und einwärts fühlbar; gelegentlich des Drehens des Beines nach innen
und bei geringgradiger Abduktion erscheint derselbe unmittelbar
neben den großen Gefäßen. Auf dem Röntgenbilde ist das linke Bein
wiederum nach außen rotiert sichtbar (Fig. 55) und scheint deshalb
teilweise schon außerhalb des Pfannendaches zu stehen. Das Kind
kam später in Lorenz’ Behandlung. Die Diagnose der Sub¬
luxation bestätigte auch er.
Fall 125. B. E., SVz Jahre altes Mädchen. Hinkt auf der einen
Seite ganz ausgesprochen* Doch ist dieses Hinken nicht so typisch,
Digitized by LjOOQle
516
Michael Horvath.
daß schon aus demselben mit Sicherheit auf die Verrenkung geschlossen
werden könnte. Wenn wir das Kindlein auf fordern, möglichst schön
zu gehen, nimmt man an seinem Gang kaum eine Abweichung wahr.
Der Schenkelkopf ist von der Spina ant. sup. abwärts fühlbar. Die
Stelle des Acetabulum ist leer, während auf der linken Seite bei rotie¬
renden Bewegungen der Schenkel köpf nahe an den großen Gefäßen
fühlbar ist. Die Diagnose ergibt bei dieser Luxatio incipiens eigent¬
lich die Röntgenuntersuchung, sofern der Schenkelkopf oberhalb der
verbindenden Linie der Y-Knorpel um 4 mm höher steht, ein wenig
P'ig. 56.
auch vom verdickten Pfannenboden entfernt (Fig. 56). Im größten Teil
meiner Fälle wurde die mittels klinischer Untersuchung gestellte
Diagnose auch durch das Röntgenbild bestätigt; sehr wichtig ist meines
Erachtens die Einhaltung jener Regel, daß während der Röntgen¬
aufnahme die Extremitäten in vollkommen paralleler Lage derart
liegen müssen, daß die beiden Kniescheiben geradeaus nach oben oder
etwas nach innen zu sehen; denn nur in diesem Falle kommt der Schenkel¬
hals in die frontale Ebene und mit ihm zusammen der Schenkelkopf
in eine die pathologische Stellung treu veranschaulichende Lage.
Digitized by CaOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 517
Von meinen im XII. Band dieser Zeitschrift mitgeteilten 3 Fällen
konstatierte ich in zweien anfangs typische einseitige Verrenkungen.
Leider folgte in diesen Fällen keine Röntgenuntersuchung, dennoch
muß ich aus dem Umstande, daß ich in dem einen Fall nach 1V 2 Jahren
bei einer neueren Untersuchung, im anderen Falle während der Behand-
limg auch auf der anderen Seite ganz zweifellos totale Verrenkungen vor¬
fand, den Schluß ziehen, daß in diesen Fällen auf einer Seite das Gelenk
schon gelegentlich der ersten Untersuchung subluxiert war; und daß
diese damals nicht diagnostiziert wurden, kann ich nur so erklären,
daß meine ganze Aufmerksamkeit jene Seite in Anspruch nahm, auf
der die klassischen Symptome das Bild der einseitigen Hüftverrenkung
ergaben.
Nur noch auf eine Erscheinung, die auch schon Zenker in
seiner Mitteilung erwähnt, wünsche ich noch hinzu weisen, daß näm¬
lich Subluxationen nicht nur in den ersten 2 Lebensjahren, sondern daß
— wie die Tabelle zeigt — in meiner Statistik auch in dem 3. und
4. Lebensjahre einige (4) Fälle Vorkommen. Erklärt kann dies meines Er¬
achtens nur dadurch werden, daß in diesen Fällen das Kapselband die
Entwicklung der totalen Verrenkung hinderte. Daß die Spannung des
Kapselbandes die Verrenkung des Schenkelknochens wirklich zu ver¬
hindern im Stande ist, beweisen auch die mittels unblutiger Re¬
position geheilten Fälle; kann ja doch in der Periode, wo das Kind
vom fixierenden Gipsverband befreit (3—5 und mehr Monate) frei ein¬
hergeht, von einer Neubildung der Pfanne noch kaum die Rede sein,
da zur Beendigung derselben die Arbeit von Jahren nötig ist. Und trotz¬
dem gehört es zu den größten Seltenheiten, daß der reponierte Schenkel¬
kopf in dieser Periode der Heilung reluxiert, da die im Laufe des
Heilverfahrens geschrumpften Weichteile, in erster Reihe das Kapsel¬
band (wie dies Müllers Fälle zeigen, Zeitschr. f. orthopäd. Chir.
Bd. 11), den Schenkelkopf im Zentrum der übrigens noch insuffizienten
Pfanne erhalten. Daß in jenen Fällen, wo man den Schenkelkopf auch
noch bei den verhältnismäßig älteren (3—4jährigen) Kindern bloß sub¬
luxiert findet, später unter der Wirkung der mit dem Gehen verbundenen
Belastung Totalverrenkung entstehen würde, halte ich für wahrschein¬
lich. Doch kann es Vorkommen, daß das Kapselband dem Druck noch
längere Zeit hindurch widersteht, der Schenkelkopf nicht aus dem
Gelenk gleiten kann, sondern am äußeren Pfannenteile noch gehörigen
Halt findet. Infolge des exzentrischen Druckes kann die Steilheit des
Daches noch zunehmen. (Dr. K o p i t s präsentierte gelegentlich des
Digitized by L^ooQle
518
Michael Horvath.
II. Kongresses der ungarischen Chirurgengesellschaft bei schon älteren
[8jährigen] Kindern 2 wunderschöne Fälle von Subluxation.)
II.
Die im Jahre 1895 erschienene Mitteilung von Lorenz (Zentral¬
blatt f. Chir.) wies der Therapie der kongenitalen Hüftverrenkungen
neue Bahnen. Sie legte den Grund zu einem Heilverfahren,
welches seitdem allgemeines Bürgerrecht gewonnen hat. Die seither
verflossenen 13 Jahre haben bewiesen, daß Lorenz auf richtiger
Spur an die Lösung ging und es ihm und seinen Mitarbeitern gelungen
ist, das Verfahren derart zu vervollkommnen, daß heutzutage schon
in einem sehr hohen Prozentsätze der Fälle von einer Heilung in ana¬
tomischem Sinne gesprochen werden kann.
Uns allen, die sich mit dieser Frage befassen, widerfuhren be¬
sonders im Anfang viele Enttäuschungen. Doch jede Enttäuschung
brachte eine neue wertvolle Erfahrung, und mit Hilfe dieser Er¬
fahrungen gelang es, die prinzipiellen Fragen der Behandlung mit einer
gewissen Gleichförmigkeit zu ordnen und bezüglich der Detailfragen
die Näherung der entgegengesetzten Ansichten zu fördern.
Wenn wir die von der Therapie der Verrenkung handelnden Mit¬
teilungen der letzten Jahre überblicken, nehmen wir mit Freude wahr,
daß die Autoren in ihren Statistiken von auffallend hohen Prozenten
geheilter Fälle Rechenschaft ablegen (N a r a t h 70,29 Proz., Calot
96Proz.). Die Erklärung jener Erscheinung, daß die Zahl der Heilungen
von Jahr zu Jahr höher wird, finde ich darin, daß die Grundprinzipien
der Behandlung allmählich geklärt wurden und daß dieselben — als aus
den Erfahrungen von uns allen abgeleitete Wahrheiten — auch seitens
jener eingehalten werden, die ihre Behandlungsweise wegen Ausarbeitung
gewisser Einzelfragen als eigene Methode betrachten. Nur natürlich
ist es, daß bei der Behandlung, besonders in ihrer Technik ein jeder
seine eigenen Erfahrungen verwertet und dementsprechend die Technik
der Reposition und Retention, sowie die Nachbehandlung teilweise um-
gestaltct.
Doch reicht die Berechtigung und Richtigkeit solcher Modifika¬
tionen nur so weit, als dieselben gewissen Anforderungen entsprechen
und mit jenen Prinzipien, welche das Wesen der unblutigen Reposition
ausmachen, vereinbar sind.
Und damit ich nur beispielsweise eine der zahlreichen empfohlenen
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 519
Modifikationen erwähne, der Umstand, ob das Bein nach der Reposition
des Schenkelkopfes nach innen oder außen rotiert fixiert werden soll,
ändert noch nichts am Wesen des Verfahrens, denn tatsächlich können
solche Fälle Vorkommen, in denen die anatomischen Verhältnisse die
eine oder die andere Stellung wünschenswert machen. Doch wenn
wir die Außenrotation des reponierten Beines im Laufe der Nach¬
behandlung mittels Osteotomie (Schede) beseitigen wollen, so ent¬
kleidet dies das Verfahren gänzlich seines ursprünglichen Gepräges.
Das einfache unblutige Verfahren haben wir mit einem alle Gefahren
einer blutigen Operation in sich bergenden Eingriff verbunden.
Während der 12 Jahre, seit denen ich mich mit der Behandlung
der kongenitalen Hüftverrenkung befasse, unterzog auch ich mein
eigenes Verfahren mehreren Veränderungen, die sich namentlich auf
die Steigerung der Sicherheit der Retention, sodann auf die Zeitdauer
der Fixierung und auf die Nachbehandlung beziehen.
Im folgenden will ich mitteilen, wie ich auf Grund jener Er¬
fahrungen, welche ich während meiner 12jährigen Tätigkeit zur Geltung
zu bringen bemüht war, verfahre. In einigen Details weicht vielleicht
auch dieses von der Heilmethode anderer ab, doch den Charakter der
unblutigen Behandlung war ich bestrebt nach Möglichkeit unversehrt
zu bewahren.
Wann soll man die Behandlung der Hüftver¬
renkung beginnen? Verhältnismäßig selten kam ich in die
Lage, daß den Zeitpunkt des Beginnens der Behandlung festzustellen
mir zufiel. In einem sehr großen Teil der Fälle sah ich das Kind in
einem solchen Alter, in dem die Frage vorzulegen nicht mehr nötig
war. Und wenn ich das Auf werfen dieser Frage dennoch für notwendig
fand, so geschah dies aus dem Grunde, daß auch heute noch, wo an den
Erfolgen dieser Behandlung niemand mehr zweifelt, solche Fälle Vor¬
kommen, in denen das Kind verspätet in die Hände des Spezialisten
gelangt. Jeder Fachmann stimmt heutzutage darin überein, daß die
größte Garantie des vollkommenen Erfolges das junge Alter
des Kindes bildet. Dies verkündet jeder Fachmann, doch dies zu er¬
fahren und zur Kenntnis zu nehmen, ist auch der praktischen Aerzte
Pflicht, denn von ihnen hängt es ab, ob wir unser Ideal, daß nämlich
kein einziges Kind aus dem Alter, welches zur
Bewerkstelligung der Reposition am geeignet¬
sten ist, herauswachse, erreichen. Ungemein überzeugend
ist in dieser Hinsicht die Statistik von N a r a t h, laut welcher die
Digitized by C^ooQle
520
Michael Horvdth.
innerhalb der ersten 4 Jahre vorgenommenen Repositionen zu idealen
anatomischen und funktionellen Resultaten führten, während üb«
dieses Alter hinaus die vollkommenen Heilungen in Proportion mit den
Jahren immer seltener und seltener wurden.
Bei der Zusammenstellung meiner eigenen Fälle konnte ich nicht
unberücksichtigt lassen, daß in den erwähnten 12 Jahren die Vervoll¬
kommnung des Heilverfahrens das Heilungsprozent ungemein beein¬
flußte. Deshalb unterscheide ich in den Tabellen bei Anführung der
Fälle, ob dieselben nach dem Verfahren begonnen wurden, welches ich
gegenwärtig anwende, oder nicht. (In den Rubriken die mit einem
+-Zeichen verbundenen Ziffern. I., 11. Periode).
Bei der Zusammenstellung der Tabellen legte ich N a r a t h s
Einteilung zu Grunde, da auf diese Art ermöglicht wird, das Material
mehrerer Autoren auf Grund derselben Prinzipien zu ordnen, und so
auch die aus denselben gezogenen Schlüsse gewichtiger sind.
In den Tabellen wurden solche Fälle, bei denen die Behandlung
inzwischen unterbrochen wurde, und anderseits jene, die auch gegen¬
wärtig noch in Behandlung stehen, nicht verwertet.
Tabelle X.
Ueber das funktionelle Resultat bei denjenigen Fällen von einseitiger Luxation,
bei welchen die Behandlung beendigt ist.
F u
n k t
i 0 n e
1 1 e
s Resultat
1
c:
ideal
sehr gut
gut
mittel¬
mäßig
schlecht
Summe
^ 1 ,
Periode
Periode
Periode
Periode
Periode
Periode
I i
ir
I '
! II
I
i 11
I i
t II
I
11
I
1 11
L
1—2
—
4
1
—
—
—
—
_
1
_
o
4
6
2—3
1 '
4
1
1
—
i —
4
—
! —
1
6
5
=
11
3—4
1
6
2
—
1
i —
1
—
I _
4
6
=
10
4—5
—
—
—
__
1
1 —
— 1
—
'i —
1
1
i 1
=
2
5—0
—
3
1
2
—
1 —
1 ,
—
—
1 _
1
5
=
6
6—7
—
—
—
2
1 2
1 i
1
—
1 _
3
3
=
6
1
—
—
—
1 ;
1
1
—
1 _
2
1
=
3
8— 9
9— 10
10—11
—
—
1
1
1
1
—
1
1
1
1
!' —
—
1
1
1
1 2
1 ^
=
3
1
1
_
_
1
_
_ ,
- 1
—
_
—
—
11—12
—
—
_
1
— 1
— ''
- i
—
—
—
—
1
==
1
Summe
2 + 17
= 19
4 + 5
= 9
8 -
f 2
10
7 -
f 3
10
1 + 1
= 2
22 + 2B
= 50
=
50
Digitized by CjOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftveri-enkung. 521
Tab. X veranschaulicht die bei 50 einseitigen Verrenkungen er¬
reichten funktionellen Resultate und zwar nach dem Lebensalter ge¬
ordnet, während Tab. XI von den bei 22 an bilateraler Luxation leiden¬
den Kindern (44 Gelenken) erreichten Resultaten Rechenschaft gibt.
Tabelle XI.
XJeber das funktionelle Resultat bei denjenigen Fällen von doppelseitiger Luxation,
bei welchen die Behandlung beendigt ist.
Funktionelles Resultat
1 '1
J
ideal
sehr gut
i 1
j mittel-
1 mäßig
1 1
schlecht 1
1
a>
Periode I
Periode |
1 Periode |
1 Periode |
1 Periode
I
! ”
I i
II 1
1 I i
1 " !
1 I
II 1
1 > 1
1 ” !
1—2
—
_
_ !
_
_ 1
_
—
_
1 _
_
2—3
1
2
2
2
— ;
—
1
—
2
—
3—4
2
4
2
—
2 1
2
3
—
1
—
4—5
—
—
— '
2
—
2
2
—
2
—
5—6
—
—
3
— ,
—
2:
1
—
—
—
6— 7 1
7— 8 1
_
i
_
___
—
4 ‘
—
—
. 1
—
’ i|
Summe'
3
+ 6
= 9 '
1
7+4
= 11
1
2 + 10
= 12
1 ^
—
1 '1
! ®
—
Summe
Periode
I I II
6
10
4
4
— — 4
24 + 20
= 44
= 10
= 16
= 8
= 6
= 4
= 44
Bei Beurteilung der Qualität der Heilung hielt ich mich (im
Interesse der Einförmigkeit) möglichst an jene Kriterien, von denen
sich bei der Klassifizierung seiner Fälle N a r a t h leiten ließ.
Aus diesen zwei Tabellen geht hervor, daß ideale funktionelle
Resultate, wo man also im Vergleich zu einem normalen Gelenke gar
keine Abweichung findet, besonders bei den Kindern unter 4 Jahren,
hie und da noch (im Falle unilateraler Verrenkung) im 5.—6. Jahre
zu finden sind.
Ebenfalls hauptsächlich Kinder unter 4 Jahren figurieren in der
zweiten Rubrik (sehr gute Funktion), obzwar die Behandlung mit¬
unter auch noch bei älteren (0—12jährigen) Kindern vollkommenen
Erfolg hatte.
Bei älteren Kindern mußte ich mich gewöhnlich mit der Be¬
zeichnung „gut“ oder „mittelmäßig“ begnügen.
In 7 Fällen schließlich war das Resultat ein schlechtes; auffallend
ist es jedoch, daß, während sich die inNaraths Statistik vorkommen-
Zeitschrift für orthopildische Chirurgie. XXII. Bd. 34
Digitized by C^ooQle
522
Michael Horvath.
den 4 Fälle sämtlich auf ältere Kinder beziehen, ich bei diesen Kindern
unter 5 Jahren kein besseres Resultat aufweisen konnte als eben dieses.
Der Schlüssel hierzu ist, daß mit Ausnahme eines Falles (des 9<).)
alle übrigen auf den ersten Zeitabschnitt meiner Retentionspraxis
fallen, wo auch ich selbst noch nicht genug Uebung in der Retentions¬
technik besaß.
Fassen wir diese beiden Tabellen zusammen, so gewinnen wir
eine Tabelle, welche veranschaulicht, wie sich bei den 94 Gelenken,
die dem Ausweis zu Grunde liegen, das Verhältnis der Heilungen ge¬
staltete (Tab. XII).
Tabelle Xll.
lieber das funktionelle Resultat der sämtlichen Fälle, bei welchen die
Behandlung beendigt ist.
M . I
1
F u n k t i
i 0 n e 1 1 e s ]
Resultat
1
1
ideal
sehr gut
gut
1
1 mittelmäßig
1_
schlecht
1.
SlUf
1
1—2
1 4
1
_ 1
1
1 1
6
2—3
8
6
—
5
i 2
21
3—4
13
4
6
3
1
1 26
4—6
—
2
3 ;
2
3
10
6—6
3
5
1 2
1 2
j -
12
6—7
1
—
4
2
1 -
6
7-8 1
—
—
5
2
—
7
8—9 1
—
1 ^ '
1
1
—
3
9—10
1 -
— 1
1
1
[
1
10—111
1 T—
1
1
11—12'
; —
1
—
—
— ^
1
Summe
28(29,78^0)
20 (21,277o)
22(23,400/0)1
17 (18,080;o)
7 (7,447o)
04
48 (51,05 7o) I
70 (74,45»
Laut derselben erzielte ich in nahezu drei Vierteln der Fälle
(74,45 Proz.) mindestens ein gutes Resultat, was mit Rücksicht auf
den Umstand, daß in der Reihe der Fälle eben auch diese figurieren,
welche am Anfang meiner Praxis unter meine Behandlung kamen, in
denen ich also die Schwierigkeiten des Anfangs überwinden mußte,
jedenfalls ein bedeutendes Resultat ist.
Und daß mit der Vervollkommnung der Behandlungstechnik auch
der Prozentsatz der Heilungen zunahm, sehen wir aus den nachfolgen-
Digitized by CiOOQie
I
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeboi*enen Hüftverrenkung. 523
den Tabellen, in denen die Fälle der I. und II. Periode abgesondert
verarbeitet sind.
Tabelle Xlll. (Unilaterale Luxationen.)
Funktionelles
Resultat
ideal.
sehr gut. . .
gut.
mittelmäßig.
schlecht . . .
Summe
Erste Periode (1896—1902)
Zweite Periode (1902—1907)
FiUle
Prozent
1
Fälle
Prozent
I
1
63,63
85,69
8 )
36,36 )
2 )
7,14 )
7
31,81
3
10,77
1
1
4,54
1
3,51
22
98,98 1
28
99,97
Tabelle XIT.
Ueber das funktionelle Resultat der sämtlichen
unilateralen Luxationen.
Resultat
Zahl der Fälle
Prozente
ideal.
*®l56l
sehr gut ....
9/ [38
18/ 76
gut.
10 )
20 )
mittelmäßig ...
10
20
schlecht. 1
2
: 4
Zusammen
50
100
Tabelle X?« (Bilaterale Luxationen.)
Resultat
Erste Periode (1896—1902) j Zweite Periode (1903—1907)
Fillle j Piozt'iite | Fillle Prozente
ideal.
sehr gut . . .
12,50 \
29,16/
100
gut.
2 J
8,33
1
10 J
50 J
mittelmäßig .
7
29,16
—
—
schlecht . . .
5
20,83
1
—
Zusammen
24
99,98 '
20
1
100
Digitized by L^ooQle
524
Michael Horvath.
Tabelle XYl.
Ueber das funktionelle Resultat der sämtlichen
bilateralen Verrenkungen.
Resultat
Zahl
der Gelenke
Prozente
ideal.
1>!32
1 12 J
; 7
5
72,72
27,27 )
' 15,90
1 11,36
CfUt.
Pt ..
sehr gut . . .
mittelmäßig. .
schlecht....
Zusammen
44
99,98
Diesen Tabellen gemäß steigerte sich also mit der Vervollkomm¬
nung der Behandlungstechnik sowohl bei den einseitigen wie auch bei
den bilateralen Verrenkungen der Prozentsatz der geheilten Fälle um
ein bedeutendes und zwar erreichte ich mindestens ein gutes Resultat
bei einseitiger Verrenkung (von 63,63 Proz.) in 85,69 Proz.,
bei doppelseitiger Verrenkung (von 49,99 Proz.) in 100,00 Proz.
Wenn wir die Fälle sämtlicher ein- und doppelseitigen Ver¬
renkungen einzeln erwägen, zeigt sich — wie dies die zwei Tabellen
XIV und XVI darlegen — bei den unilateralen Luxationen etwas Ver¬
besserung (siehe Tab. XII), während bei den bilateralen der Prozentsatz
um ein geringes kleiner ist, was man dem zuschreiben kann, daß am
Anfang meiner Repositionspraxis verhältnismäßig mehr mißlungene
bilaterale Luxationen die Wagschale herunterdrückten.
Welchen Einfluß übt das Lebensalter auf das
anatomische Resultat? Dies ist jene Frage, die zu beant¬
worten mir noch übrig ist.
Auch in dieser Tabelle (Tafel XVII) konnte ich nur jene 94 Ge¬
lenke verwerten, bei denen von der Beendigung der Behandlung an
gerechnet schon wenigstens V 2 Jahr verflossen ist, obgleich in einem
sehr großen Prozentsatz der Fälle dieser Zeitraum schon mehrere Jahre
umfaßt.
Natürlich sah ich bei der Beurteilung des anatomischen Resultate
von der Qualität der Beweglichkeit und Funktion des Gelenkes voll¬
kommen ab, und gab einzig und allein die gegenseitige Lage des Schenkel¬
kopfes und der Pfanne den Ausschlag. (N a r a t h, Therapie der Lux.
cong. S. 359.)
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 525
Tabelle XVII,
(Ueber den Einfluß des Lebensalters auf das anatomische Resultat.)
Anatomisches Resultat
5
1
s
Repositio j
completa '
Repositio
excentrica
Subluxatio
nach oben
vorne
Reluxatio
nach oben
1 vome
Reluxatio
nach hin¬
ten oben
Summe
der Gelenke
Periode ,
Periode
Periode 1
1 Periode
Periode
1 Periode
I
II
I
II
I
“ 1
I 1
11
I 1
II
1 I
II
1—2
1
4
_
_
1
_
1
_
2
4 1
1= 6
2—3
' 3
9
3
—
i —
—
6
_
—
—
12
9
' = 21
3-4
5
11
5
1
1
—
2
_
1
—
14
12
' =26
4—5
—
2
' —
1
1
1 !
1 4
1
— '
—
5
5
= 10
0—6
3
5
—
—
—
2
2
—
—
—
5
7
= 12
6—7
—
3
1
—
—
—
2
—
—
—
3
3
= 6
7—8
—
1
—
4
1
—
1
—
—
— 1
2
5
= 7
8—9
1
1
—
—
—
—
—
1
—
—
1
2
= 3
9—10
—
—
1
—
—
—
—
i —
—
—
1
—
= 1
10—11
—
—
—
—
—
—
1
_
—
— ‘
1
—
= 1
11—12
—
1
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1
= 1
Summe
1 13 + 37
1 = 50
il
10
+ 6
16
3
4- 3
= 6
i'i
+ 2
21
'i
1
—
46 + 48
1
= 94
Laut der Tabelle hat das Lebensalter auf das anatomische Re¬
sultat einen entscheidenden Einfluß, sofern letzteres umso günstiger ist,
je früher die Kinder in die Behandlung kommen (N a r a t h). Beson¬
ders wenn ich die Fälle betrachte, welche ich zur sogenannten II. Periode
zählte, als sich ergo die Retentionstechnik derart vervollkommnete,
daß es im großen Teil der Fälle gelang, den Schenkelkopf in der Pfanne
bis zum Ende konzentrisch zu erhalten. Diese Fälle berücksichtigend,
hatte ich in den Jahren 1 — 2 und 2—3 in je 100 Proz. in anatomischer
Hinsicht vollkommene Resultate, und auch noch in den Jahren zwischen
3 und 4 gelang es mir, in 91,66 Proz. solches Resultat aufzuweisen, doch
im folgenden Jahre fiel die Proportionszahl schon auf 40 herab. Der
Prozentsatz der Heilung sämtlicher Fälle (1. und 11. Behandlungs¬
periode) war nicht so hoch, da bei der noch mangelhaften Gipsbehand¬
lung der Schenkelkopf nach vorn und nach oben verhältnismäßig oft
reluxierte und dies die Bilanz herunterdrückte.
Zum Schluß will ich noch meinen Bericht ergänzen in einer
Tabelle (XVIII), welche die genauen Details über die anatomischen
Resultate aller Fälle von Hüftverrenkung bringt.
Digitized by L^ooQle
526
Michael Horvath.
Tabelle XYIII.
Uebersicht über die anatomischen Resultate der Behandlung aller Fälle
von Hüftverrenkung.
Gelenksbefund
Luxatio
unilateralis
Anzahl | %
Luxatio bilateralis
Summe
aller Gelenke
Anzahl | % 1 Anzahl
g
I
Repositio com-
1
1
1
pleta.
4 -f 26 = 30 60 9 -f 11 = 20 45,45 13 +
37 = 50 53,19
II
Repositio ex-
1
centrica . . .
6 +
0 = 6 12 4 -1-
6 = 10 22,72! 10 +
6 = 16 17.02
III
Subluxatio nach
[|
oben vorne .
2 +
0 = 2 4 I -f
3 = 4 9,09 3 -h
3=6 6.3«;
IV
Reluxatio nach
1 j
.
1
oben vorne .
10 +
2 = 12 24 9 -f
0 = 9 20,45 19 -h
2 = 21 j 2-2..34
V
Reluxatio nach
i
1
hinten oben .
0 +
0 = 0 0 1 -f
0=1 2,27 1 -f
11
0 = 1 l.fX>
Summe aller ver-
j
wendbaren Fälle .
50
44
94
Repositio ohne Er-
folg versucht . . .
4
12 1
16
Behandlung unter-
lassen.
12
14
26
Noch
in Behandlung
befindlich.
12
24
36
Gesamtsumme
78
94
172
Daß eine vollständige funktionelle Heilung ohne Ausnahme nur
an Gelenken zu erwarten ist, die auch anatomisch tadellos beschaffen
sind, das beweisen die nebenstehenden Tabellen, welche über die funk¬
tionellen und anatomischen Resultate nach der Reposition ein- und
doppelseitiger Hüftverrenkungen berichten. —
Das Bisherige rekapitulierend, können wir uns also mit ganzer
Entschiedenheit der Ansicht N a r a t h s anschließen, laut welcher so¬
wohl in anatomLschem Sinne wie auch bezüglich der Funktion das
Resultat desto günstiger sein wird, je früher wir die Behandlung be¬
ginnen.
Die Reposition bewerkstellige ich auch heute noch auf die Art.
welche ich in meinen früheren Mitteilungen beschrieb. Vorherige Ex¬
tension wende ich überhaupt nicht mehr an, weil nach meiner Er-
Digitized by CiOOQie
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 527
4^
Cd
4^
d
CO
©
mittelmäßig
0 + 2 = 2
1 + 0=1
1 + 0=1
4+1 = 1
o
4d
cS
4^
0
CO
©
P5
CO 01 ^
o
CO
^ II II II II
CO
©
4* 1
3 Ol O O O
©
+ + + +
©
^ 01 ^
©
a
schlecht
II II
1 1 1 ® <=
+ +
^ ^ IO
<a
:ecJ
II II II
a
1 o o o 1
4^
+ + +
mi
^ ^ lO
^ 00 CO
II II II
■§
^ CO CO 1 1
bO
1 ' '
+ + +
1 O Ol o
c
o
F u n 1
ä ' T
s ' +
CO
4d
l
e8
1 ^
' 'S ' "
d
S CO
- „ +
©
tu
CO
JS g 8 iS
wS“ (N 05 O
Ol Ol
4)
i I?
; ^ | . O O 05
' ' Ol ^
I J « w o' o"
©+ + + + +
1 05 ^ ^ 05 ^
O O 'X3
lil
£ £ S
^ 1 'S
© iS o
S S ö
s e
o o o
fi a S
lll
a i I I I
O « Ö g 3
ü © Q K Ö
I II I s
01 © s © ©
PE^ p[^
Digitized by
Googk
Summe (24 + 20) 44 99,98 I
528
Michael Horvath.
fahrung das wichtigste Hindernis der Reposition, die Spannung der
verkürzten Adduktoren, durch dieselbe in sehr geringem Maße beein¬
flußt wird.
Die Dehnung der Adduktoren gehört zu den wichtigsten Akten
der Reposition. Ist die Verlängerung der Muskeln mittels Extension
oder Myorrhexis gelungen, so folgt dem meist innerhalb eines kurzen
Zeitraumes der Vorgang, daß sich der Kopf an die Stelle der Pfanne
begibt. Besonders bei älteren Kindern, doch auch überhaupt in allen
Fällen benütze ich als Hypomochlion statt des dreieckigen Keiles meine
unter den Trochanter gelegte Faust. Auf diese Art kann ich jene Kraft,
die ich gelegentlich der Operation ausübe, viel besser kontrollieren und
vielleicht dem Umstande kann ich verdanken, daß ich während meiner
172 Repositionen den Schenkelknochen in keinem einzigen Fall brach.
In der überwiegenden Mehrzahl meiner Fälle reponierte ich
durch den hinteren oberen Pfannenrand, denn meines Erachtens ist
diese Art der Reposition die geeignetste. Mit Vorliebe wende ich die¬
selbe deshalb an, da das Becken am einfachsten in diesem Fall fixiert
werden kann, wozu die Herabdrückung des gegenseitigen Hüftknochens
vollkommen genügt. Weiterhin, da ich die zur Bewerkstelligung der
Reposition nötige Kraft eben bei Abduktion des fast rechtwinklig
eingebogenen Beines am besten geltend machen und gleichzeitig auch
auf den Trochanter einen sehr großen Druck ausüben kann. Die Grenze
des hinteren oberen Randes eignet sich übrigens auch sonst zur Ein¬
renkung des Schenkelkopfes, nachdem — wie wir aus der Anatomie
wissen — der Schenkelkopf an dieser Stelle während des Luxierens
eine wahrhaftige Gleitfurche gebildet, den Rand abgeflacht hat.
Von 172 Gelenken gelang bei 16 derselben die Reposition trotz
wiederholter Versuche nicht und zwar bei 4 unilateralen und 6 bi¬
lateralen Verrenkungen. Die Verkürzung variierte in diesen Fällen
zwischen 4,5—10 cm. Die Kinder waren meist schon über 5 Jahre alt.
Bei einem 12jälirigen Kinde war der Reposition außer der großen Ver¬
kürzung auch noch die sehr ausgesprochene Coxa vara-Stellung hinder¬
lich. In einem anderen meiner Fälle, über den ich auch in meiner
früheren Mitteilung referierte^), sah ich von weiteren Repositionsver¬
suchen deshalb ab, weil nach dem ersten erfolglosen Eingriff ausgeprägte
Peroneuslähmung auftrat, was übrigens auf der anderen Seite — als
gelinde Parese —■ schon nach der präliminären Volkmannextension sich
meldete.
Horvath, Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 12.
Digitized by CiOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 529
Behufs Beurteilung dessen, ob die Reposition vollkommen ge¬
lungen ist, bieten meines Erachtens in der Regel jene Symptome
(Lorenz, L u d 1 o f f), welche der Reposition selbst folgen, einen
genügenden Anhaltspunkt. Bade nimmt außer dieser klinischen Fest¬
stellung der Reposition in jedem Fall innerhalb einiger Tage die Röntgen¬
untersuchung in Anspruch.
In der Praxis würde dies, besonders in der Spitalpraxis, auf sehr
viele Schwierigkeiten stoßen; dort muß man sich für gewöhnlich mit
den klassischen Symptomen der Reposition begnügen. Wenn wir je¬
doch dem Anträge Bades folgen wollen, müssen wir, glaube ich,
noch um einen Schritt weitergehen und mittels Verfertigung stereo¬
skopischer Röntgenbilder kontrollieren, ob der Schenkelknochen eine
vollkommen konzentrische Lage angenommen hat.
Die Reposition mittels des Röntgenbildes zu kontrollieren, war
nur selten (so bei der an die L i 111 e sehe Krankheit anknüpfend zur
Entwicklung gelangten Verrenkung) notwendig, nämlich im Fall gänz¬
lichen Fehlens der klassischen Symptome; da war es tatsächlich wün¬
schenswert.
In der Praxis halte ich die Kontrolle mittels Röntgenbildes aus¬
nahmslos für notwendig bei Gelegenheit des Wechselns der Verbände,
besonders aber gelegentlich der endgültigen Entfernung derselben, bei
welcher Gelegenheit wir auch ohne jegliches Bewegen des Schenkels
hinsichtlich der Stellung des Schenkelkopfes wertvolle Schlüsse ziehen
können.
Auch heute noch herrschen Meinungsverschiedenheiten in Bezug
auf jene Frage, ob bei doppelseitiger Luxation die Operation gleich¬
zeitig vorgenommen werden soll oder aber der Fall so aufzufassen ist,
als wären zwei einseitige Luxationen vorhanden, und zur zweiten Ope¬
ration erst nach der Heilung der einen Seite geschritten werden soll?
Abgesehen von den älteren Kindern, bei denen wir zu gleichzeitiger
Behandlung direkt gezwungen sind, reponiere ich meinerseits die bi¬
laterale Verrenkung jüngerer Kinder womöghch ebenfalls gleichzeitig.
Hierzu bestimmt mich nicht allein die Rücksicht, daß ich dem Kinde
die Wiederholung der Narkose ersparen und die Zeitdauer der Behand¬
lung verkürzen will, sondern hauptsächlich der Umstand, daß ich ge-
legenthch der Abduktion des zum zweiten Male reponierten Beines die
bishin mit Erfolg behandelte erste Seite gefährde. Der Einwand, daß
durch die gleichzeitige Operation das Kind am Gehen verhältnismäßig
längere Zeit hindurch gehindert ist, hält in der Praxis insofern nicht
Digitized by C^ooQle
530
Michael HorvÄth.
stand, als das kleine Kind im Gipsverband und mit den höheren Sohlen
das Gehen de facto ohnedies sehr schwer erlernt, und somit die mit
dem Gehen und der Belastung verbundenen Vorteile kaum zur Geltung
gelangen können. Uebrigens bleibe ich, der ich das Gehen auch bei der
Behandlung einseitiger Verrenkungen nicht forciere, sondern auf die
sichere Fixation des Schenkelkopfes das Gewicht lege, auch dann.
wenn ich nach der Reposition der bilateralen Verrenkung dem, daß
das Kind herumgehe, entsage, nur diesem meinem Standpunkte treu.
Und bin ich, aus welchem Grunde immer, bemüßigt, von der
gleichzeitigen Behandlung abzusehen, bringe ich an dem bei der ersten
Gelegenheit reponierten Fuße einen bis zum Knie reichenden Gips¬
verband an, dem Hüftgelenk entsprechend hingegen verwende ich —
einen Teil des Verbandes ausschneidend — eine das Beugen des Hüft¬
gelenkes gestattende, also mit einem Scharnier versehene Schiene und
verhindere auf diese Art die Adduktion der Extremität.
Ein zweifelloser Vorteil besteht bei der gleichzeitigen Behandlimg
darin, daß sich die beiden Gelenke stets im selben Stadium der Be¬
handlung befinden, und somit auch die gleichmäßige tmd gleichzeitige
Neubildung der Gelenke ermöghcht ist. Neuerdings bezwecke ich die
Verkürzung der Narkose durch das Verfahren, daß auf der einen Seite
ich selbst, auf der anderen zur gleichen Zeit mit mir der gut ein¬
geübte Assistent reponiert. Die Notwendigkeit der separaten Fixie¬
rung des Beckens fällt neben diesem Verfahren weg. Schädüche Folgen
desselben beobachtete ich bisher noch nicht.
Nunmehr kann ich zu der Erörterung dessen übergehen, welche
Lage der Extremität meiner Erfahrung nach am meisten sichert, daß
der Schenkelkopf in der Pfanne bleibe.
Diesbezüglich bin ich ganz entschieden für die minimal neunzig-
gradige oder — sofern notwendig — für eine noch größere Abduktion.
Am Anfang meiner Repositionspraxis hatte ich vollauf Gelegenheit,
zu erfahren, daß neben Abduktion von mehr als 90® das Drinnen¬
bleiben des Schenkelkopfes, besonders wenn wir das Kind nur mit
einem das Hüftgelenk fixierenden Verband herumgehen lassen, nicht
gesichert ist. Diesbezüglich teile ich ganz die Ansicht von N a r a t h.
Im späteren Stadium der Behandlung wird die Retention des Schenkel¬
kopfes in erster Reihe durch die entsprechende Schrumpfung der Bänder
gesichert, denn die Neubildung der Pfanne beansprucht eine so lange
Zeit, daß dieselbe abzuwarten und die Fixierung durch Bänder bis
dahin zu verschieben, nicht zweckmäßig wäre.
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 531
Die Abduktion von 90 oder nötigenfalls noch mehr Graden
schließt außerdem, daß sie das Schrumpfen der Bänder fördert, fast
auch die Möglichkeit dessen aus, daß der Schenkelkopf nach oben
rutsche. Auf diese Art bewirken wir in gewissem Grad eine Ankylose
des Gelenkes, die anderseits ermöglicht, die Zeit der Fixation des Beines
bis zum möglichsten Minimum zu reduzieren. Erfahrungsgemäß ent¬
wickelt sich bei älteren Kindern schon während einer verhältnismäßig
viel kürzeren Zeit so hochgradige Fixation, daß die Beseitigung der¬
selben Monate hindurch dauernde Nachbehandlung erheischt. Bei
kleinen Kindern ist diese Zeit in der Regel sehr lang und vergehen auch
6 —7 Monate, bis die Extremität ohne Gefahr einer Reluxation frei¬
gelassen werden kann.
Den Schenkelkopf in der Pfannengrube zu erhalten, bildet die
wichtigste Aufgabe dieses Stadiums der Behandlung, und der will ich
genügen, wenn ich mich bloß mit der Fixation des reponierten Ge¬
lenkes nicht begnüge, sondern den allgemeinen Prinzipien entsprechend
auch die zwei Nachbargelenke mit fixierenden Verbänden versehe.
Ich führe also den Verband auf der reponierten Seite bis unter das
flektierte Knie, auf dem gesunden Fuß in Strecksteilung des Schenkels
bis zum Knie herab. In solchen N a r a t h sehen Verbänden ist die
Fixierung des Hüftgelenkes absolut sicher, was besonders dann nottut,
wenn wir die bilaterale Verrenkung nicht gleichzeitig reponierten. Mit
so einem Verband gelang es mir übrigens noch vor der Mitteilung
Naraths im Fall 17 trotz wiederholter Reluxation schließlich ein
vollkommenes anatomisches und funktionelles Resultat zu erreichen.
Calot begnügt sich nicht damit, den Schenkelkopf in der Pfanne
zu fixieren, sondern bringt denselben womögüch in konzentrische Stellung
und zwar dadurch, daß er das Bein in Abduktion von 70®, Flexion
von 70® und Rotation von 0® fixiert. Auf Grund meiner eigenen Er¬
fahrungen kann ich mich zur Befolgung dieses Calot sehen Rat Schlages
nicht entschließen. Bei älteren Kindern machte ich nämlich die Er¬
fahrung, daß die der Spina ant, sup. anhaftenden Muskeln, sowie auch
die Adduktoren nach der Entfernung des Fixationsverbandes zur Kon¬
traktur sehr geneigt sind. Bei gleichzeitiger Traktion derselben wird
eine Kraft von solcher Richtung wirksam, welche den Schenkelkopf
in der Richtung nach oben und hinten herauszurücken bemüht ist,
sofern die Extremität in mäßige Flexion und Abduktion kommt. Diese
Stellung erinnert mich sehr an jene, in der Calot den Fuß unmittel¬
bar nach der Reposition fixiert. Und ebendeshalb glaube ich, daß es
Digitized by C^ooQle
532
Michael Horvath.
— besonders bei älteren Kindern — nicht gelingt, mittels der C a 1 o t-
schen 70*^—70®—0®-Stellung die Muskeln in vollkommener Dehnung
zu halten und somit diese Stellung zu nachträglicher Verschrumpfung,
deren Beseitigung eine langwierige Nachbehandlung erfordert, noch
leichter führen kann. Bei jüngeren Kindern entwickeln sich selbst nach
verhältnismäßig längere Zeit hindurch eingenommener Abduktion von
90® keine Kontrakturstellungen; das Kind adduziert innerhalb 1 bis
IV 2 Monaten seine Extremität meist bis zu einem solchen Maß, daß
es mit Hilfe der auf der anderen Seite angebrachten höheren Sohle sehr
Fig. 57.
gut gehen kann. Bei mäßiger Abduktion der Extremität hält es auch
sein Knie vollkommen gestreckt und macht sich an der Pfanne die
umgestaltende Wirkung des Gehens, der Belastung besonders da
geltend.
Diejenigen, die im Interesse dessen, daß der Schenkelkopf absolut
sicher an seiner Stelle gehalten werde, den mit dem Funktionieren der
Extremität verbundenen Vorteilen im ersten Stadium der Behand¬
lung entsagen, müssen mit einem Umstand rechnen. Am Schenkel¬
knochen entwickelt sich während dieser Zeit unbedingt geringere oder
Digitized by LjOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 533
größere Atrophie. In gewissen Fällen (Lorenz, Narath, Vogel,
Lange, Bade) ist diese Atrophie so hochgradig, daß dies gelegent¬
lich des Aenderns der Primärstellung bei der Mäßigung der Abduktion
eine Fraktur des Schenkelknochens zur Folge hatte. Diesem Umstande
trage auch ich Rechnung, obzwar das Brechen des Knochens in keinem
einzigen meiner Fälle vorkam. Daß jedoch in meinen Fällen die
Atrophie des Knochens tatsächlich eintrat, beweist auf guten Röntgen-
bildem die Veränderung der inneren Knochenstruktur, ja in manchen
Fig. 58.
Fällen sogar die Verändenmg der äußeren Form des Knochens ganz
zweifellos. Der Schatten solcher atrophischen Knochen ist im Röntgen¬
bilde viel weniger kontrastisch, durchsichtiger, die innere Struktur ver¬
schwommener. Gut veranschauUcht wird die hochgradige Atrophie
des Schenkelkopfes durch die beigefügten Figuren (Fig. 57, 58).
Bei der Behandlung der kongenitalen Hüftverrenkung die Atrophie
berücksichtigend, modifizierte ich mein Verfahren vor Jahren in zwei
Richtungen.
Digitized by LjOOQle
534
Michael Horvdth.
1 . Bemühte ich mich, dieZeitdauer derF ixation
auf das mögliche Minimum zu reduzieren, damit j
proportional damit der weitere Knochenschwund gemäßigt werde.
2. Die Verbesserung der Beinstellung, die all¬
mähliche Verringerung der rechtwinkligen Ab- ^
duktion überlasse ich womöglich dem Kinde und >
wollte auf diese Art jegliche äußere Gewalt, die bei anderen in einigen |
Fällen die Fraktur des Knochens zur Folge hatte, vermeiden.
Daß am Anfang meiner Repositionspraxis der Schenkelkopf so
häufig nach vorn imd nach oben reluxierte, schreibe ich eben dem
Umstande zu, daß ich die Extremität aus der OOgradigen Abduktion
mittels sehr mäßiger Gewalt nebst mehrmaligem Wechseln des Ver¬
bandes herunterbrachte und inzwischen der Schenkelkopf aus der
Wölbung ein wenig herausgeglitten sein dürfte. Unter der Wirkung
des Gehens und der Belastung sodann konnte der Schenkelkopf die
Pfanne, deren Wölbung, denselben zu erhalten, noch immer ungenügend
ist, immer mehr und mehr verlassen. Diese Erfahrung bewog mich
später zur Aenderung meines Verfahrens und dazu, die Verminderung
der in der Primärstellung entstandenen Fixation womöglich dem Kinde ^
zu überlassen.
Die Fixierung dauert bei jüngeren Kindern längere Zeit, 6 bis
7 Monate. Während dieser Zeit schreitet die Ankyjose so weit vor,
daß sich in dem durchs Becken und den Schenkel gebildeten Winkel
die Weichteile, wenn man das Bein — ob nun mit alctiver oder aber
mäßiger passiver Gewalt — adduzieren will, mächtig anspannen. Bei
so hochgradiger Anspannung der äußeren Weichteile muß man keine
Reluxation befürchten. Bei größeren, 5—6jährigen Kindern kann sich
auch binnen 3—1 Monaten so hochgradige Fixierung entwickeln, daß
dieselbe seitens des Kindes nur innerhalb einer sehr langen Zeit und
mittels großer Mühe und Fleißes bis aufs gehörige Maß gelockert werden
kann. In solchen Fällen darf die Nachbehandlung, die aus Massage
und Adduktionsübungen besteht, nicht verabsäumt werden. Die |
passive Stellungsverbesserung der Extremität und die Fixierung des
erreichten Resultates —• mittels neuer Verbände — vermeide ich jedoch,
wenn nur möglich. Auch bei älteren Kindern lasse ich Zeit, daß all¬
mählich sie selbst die Extremität adduzieren mögen, und nur wenn
ich sehe, daß es hierzu innerhalb von 1—IV 2 Monaten unfähig wäre,
nehme ich die passive Methode in Anspruch.
Auch bei der aktiven, besonders aber bei der passiven Korrektur
Digitized by
Google
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 535
beobachtete ich —• namentlich bei älteren Kindern — häufiger, daß das
Hüftgelenk in gesteigerte Flexion gerät. In solcher flektierten Stellung
kann die Abduktion leicht behoben werden, doch wenn wir während
des Adduktionsversuches den Schenkel möglichst extendieren, da ge¬
winnen wir die Erfahrung, daß sich die der Spina ant. sup. anhaftenden
Muskeln, ja selbst auch noch die Adduktoren mächtig spannen. Die
gleichzeitige starke Anspannung dieser beiden Muskelgruppen nun ge¬
fährdet die konzentrische Position des Schenkelkopfes. Ebendeshalb
muß man bei Aenderung der Primärlage außerordentlich darauf be¬
dacht sein, daß die Extremität in der Frontalebene bleibe. Und könnte
ich dies mittels Lagerung, aktiver Uebungen, Gewichtsbelastung, ja
selbst mit Gipsverbänden nicht sichern, würde ich in diesem seltenen
Falle auch vor der subkutanen Durchschneidung der an die Spina ant.
sup. anhaftenden Muskeln nicht zurückschrecken. Nach der Myotomie
bewerksteUige ich die Adduktion der Extremität nach Dollingers
bekanntem Verfahren (Coxitis) und gehe nach 2—3 Wochen wiederum
auf aktive Uebungen über. Doch unter normalen Umständen habe ich
diese Modalität nicht notwendig; Kinder, die im der Repositions¬
behandlung günstigen Alter sind, können nach dem Verlauf der kürzeren
oder längeren Fixierungszeit verhältnismäßig binnen kurzem ihr Bein
derart adduzieren, daß sich den Steh- und Gehversuchen gar kein
Hindernis entgegenstellt. Und obzwar das Kind in diesen Fällen so¬
zusagen sich selbst überlassen wird, sofern nämlich hier von einer
eigenthchen ärztlichen Nachbehandlung nicht einmal eine Rede ist, muß
man dennoch keine Reluxation befürchten. Und sollte trotzdem eine
solche Vorkommen, was der Gang des Kindes und die häufige Kontrolle
noch zur rechten Zeit verrät (in meinem 77. und 88. Falle), dann lege
ich auf einen Monat in der gewöhnlichen Primärstellimg einen neuen
Verband an. Meiner Erfahrung nach bringen die Kinder ihr Bein so
weit, daß sie dann das Stehen und allmählich auch das Gehen üben
können, sehr vorsichtig binnen 1 —2 Monaten herab. Doch gestatte
ich dies nur dann, wenn das Kind seinen Fuß schon derart adduzieren
kann, daß es dabei auch die Kniee gestreckt zu halten fähig ist. Doch
für die Erhaltung einer gewissen Abduktion sorge ich noch lange Zeit
hindurch teils so, daß ich auf der normalen Seite die Schuhsohle beim
Gehen um 2— 2^/2 cm erhöhe, teils dadurch, daß ich das Kind über
Nacht in einen Lagerungsapparat, der das Bein in der „Primär “-Stellung
fixiert, lege.
Seitdem ich dieses Verfahren anwende, gelang es mir bei solchen
Digitized by L^ooQle
536
Michael Horvath.
Kindern, die im für die Reposition geeigneten Alter unter meine Be¬
handlung kamen, ohne Ausnahme in sämtlichen Fällen konzentrische
anatomische Reposition und ideale oder sehr gute funktionelle Re¬
sultate zu erreichen.
War die Gelenkstarre nicht übermäßig groß (dem ich bei älteren
Kindern dadurch auszuweichen versuche, daß ich bei denselben das
reponierte Bein verhältnismäßig kürzere Zeit hindurch fixiere), dann
ist auch das ältere Kind noch fähig, seine Extremität von selbst zu ad-
duzieren, was meines Erachtens befriedigendere funktionelle Resultate
zeitigt. Bei solchen älteren Kindern besteht die Nachbehandlung in
der Uebung des Adduzierens, eventuell im Massieren der Muskulatur,
und nur selten mußte ich dafür, daß die Extremität nicht in Flexions¬
kontraktionsstellung gerate, mittels Gewichtsbelastung (Lorenz,
Bade, C a 1 o t) Sorge tragen.
Wenn jedoch das Gelenk während der verhältnismäßig kurzen
Fixationsperiode dennoch sehr erstarrte und ich für passive Adduktion
der Extremität zu sorgen bemüßigt war, erzielte ich in der Regel kein
ideales Resultat. Nebst der exzentrischen oder subluxierten Stellung
des Schenkelkopfes war der Schenkel in außerordentlich störendem
Maße nach außen rotiert und hat — scheint mir — Bade recht, wenn
er die Ursache dieser auswärtsrotierten Stellung der Extremität nicht
in der Schrumpfung der Weichteile, sondern eben in dem Umstand
findet, daß der Schenkelkopf in der Pfanne nicht mehr konzentrisch
zu liegen kommt. Derartige Verhältnisse traf ich bei der Revidierung
von 9 Gelenken bei 5 Kindern an, also bei exzentrischer Reposition oder
Subluxation, mit gutem oder mittelmäßigem Resultate, woselbst ich
infolge der minder- oder hochgradigeren Außenrotation des Beines das
Kind auch heute noch, mehrere Jahre nach der Reposition, unter meiner
Behandlung habe.
Auf diese abnorme Außenrotation der Extremität muß man große
Sorgfalt verwenden, und muß man auch dieselbe nach Kräften zu
beseitigen bestrebt sein, da sie eventuell jene Folge haben kann, daß
der Schenkelkopf die Pfannengrube verläßt. Der Schenkelkopf gerät
in eine exzentrische Stellung oder subluxiert, wie ich dies bei der doppel¬
seitigen Verrenkung eines 7jährigen Kindes beobachtete (Fig. 59).
(Von der stärkeren Rotation der Extremitäten abgesehen, geht das
Kind ausdauernd und gut, Trendelenburgsches Phänomen
negativ.) —
Eine unvermeidliche Folge der anhaltenden Fixation ist eine mehr
Digitized by CjOOQle
Beiträge zur Pathologie and Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 537
oder minder hochgradige Atrophie des Schenkelknochens, was sich
nicht nur in der inneren Struktur des Knochens und in der Größe des¬
selben als Schwund zeigt, sondern auch eine Veränderung des Neigungs¬
winkels des Schenkelhalses zur Folge haben kann. Die Varusstellung
des Schenkelhalses fand ich im Fall von 12 reponierten Hüftgelenks¬
verrenkungen. Diese große Zahl macht mir zur Pflicht, mich mit der
Coxa vara, als eventueller Folge der Reposition, eingehender zu be¬
fassen. Hierzu fühle ich mich umsomehr bewogen, da mir über einen
jeden meiner Fälle gute Röntgenbilder zur Verfügung stehen.
lieber zwei ähnliche Fälle berichtet L u d 1 o f f, der das Entstehen
Fig. 59.
der Coxa vara aus der Loslösung und Verschiebung der Epiphysis er¬
klärt. Nach L u d 1 o f f hat die Extremität während der Zeit der
Fixation eine nach außen rotierte Stellung. Wenn wir dann später
zwecks Beseitigung dieser Stellung die Extrenutät mit passiver Gewalt
nach innen rotieren und in dieser Stellung mit einem im Knie flek¬
tierten und bis zum Knöchel reichenden Verband fixieren, so fördern
wir hierdurch die Torsion des Schenkelknochens, da in diesem Fall der
Innenrotation der Diaphyse des Knochens die Kontraktur des proxi¬
malen Schenkelendes, des Glutäus und des hinteren Kapselbandes
nicht folgt. Forciert man die Innenrotation weiter, so gibt der Schenkel¬
knochen auf seinem schwächsten Punkt, der Epiphysenlinie, nach, im
Zeitschrift für orthopildische Chirurgie. XXII. Bd. 35
Digitized by CiOOQle
538
Michael Horvath.
Wege der Epiphysenlösung entwickelt sich die Anteversion und in¬
folge der Wirkung des in der Richtung der Schenkelknocheiiachjse aus¬
geübten Druckes (Mikulicz-Gersunyscher Kniescharnierver-
band) gleichzeitig die Coxa vara-Stellung.
Mit höherem oder geringerem Grad von Coxa vara hatte ich es
in 12 meiner Fälle zu tun und zwar nach der Reposition von 5 bi¬
lateralen Verrenkungen in 8 Gelenken und bei 4 unilateralen Luxationen.
VonMiesen 12 Gelenken weist das gut gelungene Röntgenbild in einem
Falle am Schenkelhals schon vor der Reposition gewisse Abweichungen
auf. Meine Daten sind bezüglich der 9 Kinder die folgenden:
Fig. 60.
Fall 20. Ojähriges Kind. Luxatio sin. Iliakale Verrenkung.
Verkürzung 6 cm. Trotz präliminarer Gewichtsextension wiederholt
vorgenommener Reposition.sversuch von IV 2 —1% Stunden erfolgla«^.
25. November 1900 : Arthrotomie. Schenkelkopf gut entwickelt. Nach
Durchschneidung des Isthmus Reposition. Verband in rechtwinkliger
Abduktion. Den Verband mehrmals wechselnd, adduzierte ich inner¬
halb 10 Monaten successive das Bein. Nachbehandlung.
Im Jahre 1906 revidierte ich den Fall. Röntgenbild zeigt aus¬
gesprochene konzentrische Atrophie des Schenkelkopfes. Coxa vara-
Stellung (Fig. 60).
F a 11 21. 8jähriges Kind. Luxatio sin. iliaca, 7 cm Verkürzung.
Nachdem der Repositionsversuch auf einer anderen Abteilung miß-
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 539
lungen war, eliminierte ich nach vorhergegangener Myotomie die Span¬
nung der Adduktoren, der an die Spina anhaftenden und der hinteren
Schenkelmuskeln. (In meinen späteren Fällen ließ ich dies ganz weg.)
Reposition in IV 2 Stunden. Verband in Adduktion von weniger als 90®.
Peroneuslähmung, die erst nach Monaten heilte. [^Innerhalb von 10 Mo¬
naten beseitigte ich mittels mehrmaligen Wechselns des Verbandes die
Abduktion und Außenrotation. Beweglichkeit des Gelenkes nach der
Nachbehandlung genügend. 5 Jahre später Revision: Konzentrisch in
der Pfanne sitzender Schenkelkopf. Beweglichkeit gut, nur in der
Fig. 61.
Richtung der Abduktion und Außenrotation etwas beschränkt. Dif¬
ferenz in der Länge der Extremitäten 2 cm. Laut Röntgenbild (Fig. 61)
ausgesprochene Coxa vara, mit Atrophie des Schenkelkopfes und
-halses.
Fall 30. 3jährig. Luxatio bilateralis. Beiderseits 4 cm Ver¬
kürzung. Besonders auf der linken Seite schwere Reposition. Genügend
gute Stabilität. Verband in Abduktion von je 45® und Hyperextension
bis zur Mitte des Unterschenkels. Geht nicht. Nach 3 Monaten wegen
stärkerer Prominenz der Schenkelköpfe neuer Verband ohne Hyper-
Digitized by L^ooQle
540
Michael Horvath.
exteiision, in derselben Abduktion. 2 Monate darauf neuer Verband.
Die Schenkelköpfe wölben die Inguinalbeuge noch immer stark vor.
weshalb ich den neuen Verband in stark nach innen rotierter und in
der Hüfte und dem Knie flektierter Stellung anlegte. Gipsperiode
9 Monate. Die Gelenkstarre weicht nach Massage und Uebungen.
Nach 3 resp. 4 Jahren Revision: Lordose gänzlich behoben. Beini
Sitzen mäßige lumbale Kyphose, nachdem die Flexion der Extremi¬
täten etwas gehindert ist. Länge der Extremitäten gleich. Beide
Fig. 62.
Hüftknochen füllen und bauchen die Leistenbeuge entschieden aus.
Beim Einwärtsrotieren der Schenkelköpfe verschwindet derselbe.
Gang ausdauernd ohne Hinken. Bei Heraufschiebung der Extremi¬
täten verlassen dieselben nicht ihre Lage. Beweglichkeit des Gelenkes
linkerseits sehr gut, auf der rechten Seite ein wenig gehindert, insofeni
das Hüftgelenk nur dann flektierbar ist, wenn gleichzeitig der Schenkel¬
knochen etwas auswärts rotiert wird. Röntgenbefund: Sehr hoch¬
gradige Atrophie und Coxa vara-Stellung; das proximale Ende des
Digitized by CaOOQle
Beiträge zur Pathologie und Tlierapie der angeborenen Hüftverrenkung. 541
rechten Schenkels giraffenkopfförmig, der dem Schenkelkopf ent-
eprechende Teil fehlt auf beiden Seiten, der übriggebliebene Teil des
Halses ist der Pfannengrube gegenüber, zum Teil noch unter dem
Dache implantiert (Fig. 62).
Fall 35. 4V2jähriges Mädchen. Luxatio bilateralis. 2 V 2 cm
betragende Verkürzung. Ausgesprochene Anteversion.
1. Mai 1902; Typische Reposition. In rechtwinkliger Abduktion
Verband an beiden Beinen. 15. Juni: Infolge Widerstandes des Kindes
Fig. 63.
wird die Verbesserung der Beinstellung in Narkose vorgenommen, wobei
die große Spannung der Weichteile zu überwinden war. Mehrmaliger
Wechsel des Verbandes. Gipsperiode 6 Monate. Extremitäten aus¬
gesprochen nach außen vertiert. Schenkelköpfe unter der Spina ant. sup.
fühlbar. Gelenke starr. Nachbehandlung. Revision 20. Juni 1907: Beide
Schenkelköpfe unter der Spina ant. sup. Extremitäten in mäßiger
Außenrotation. Stark hervorstehende Trochanteren. Trochanter¬
stellung: Beiderseits oberhalb der Roser-Nelaton-Linie. + 3 cm.
Digitized by L^ooQle
542
Michael Horvath.
Schenkelknochen nicht aufwärts schiebbar. Gang bei etwas Aufmerk¬
samkeit sehr gut. Röntgenbefund: Schenkelknochen nicht atrophiscL
AnteVersion und Torsion des oberen Schenkelknochenendes sehr hccb*
gradig. Mäßige Coxa vara (Fig. 63).
Fall 49. 4jähriges Mädchen. Luxatio bilateralis. Verkürzung 4 cm.
10. Mai 1903: Leichte Reposition. Auffallend gute Stabilität.
Verband in Abduktion von je 90®. Kind geht nicht.
Fig. 64.
13. September 1903: Verband entfernt. Innerhalb von 2 V 2 Mo¬
naten adduziert es die Füße successive derart, daß es stehen und an der
Hand gehen lernt.
Juni 1904: Konzentrische Reposition. Sehr gute Beweglichkeit
Laut Röntgenbild transformiert sich das Dach sehr schön. Schenkel¬
hals nicht verändert.
Juni 1905: Ideale Funktion. Konzentrische anatomische Heilung.
Linkseitig sehr mäßige, an Coxa vara erinnernde Stellung. Schenkel¬
kopf atrophisch (Fig. 64).
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 543
Fall 57. 3jäliriges Mädchen. Luxatio bilateralis. Die erste
Reposition wurde nicht von mir vorgenommen und so habe ich denn über
die der Reposition vorangegangenen Verhältnisse keine Aufzeichnungen.
Auf der linken Seite war infolge Reluxation neue Reposition notwendig.
Im Laufe der sehr langwierigen Behandlung mußte die Reposition
auf der linken Seite 3mal wiederholt werden, während ich wegen Sub¬
luxation der rechten Seite in Abduktion von 110° (ohne Narkose) ein¬
mal bemüßigt war, einen neuen Verband anzulegen.
Fig. 65.
Nachbehandlung: Massage, Lagerung, Uebungen, Der starken
Prominenz der Trochanteren wegen trägt das Kind ein Korsett mit
einer die Trochanteren stützenden Pelotte.
Revision Juni 1908: Funktionelles Resultat gut. Schenkelknochen
nicht aufwärts schiebbar. Hüftenhebung (Trendelenburg) auf
beiden Seiten ziemlich gut. Nur nach längerem Gehen, bei Ermüdung
hinkt das Kind ein wenig. Lordose nachgelassen. Röntgenbefund:
Digitized by L^ooQle
544
Micliael Horvath.
Rechtseitig mäßige Anteversion. Der exzentrisch stehende Schenke *
köpf ist nicht atrophisch. Auf der rechten Seite ausgesprochene AtropL^
und Coxa vara-Stellung, konzentrische Lage. Epiphysenlösung nkh
konstatierbar (Fig. 65).
Fall 77. öjähriges Mädchen, mit Spuren einer überstandene:
Rachitis. Luxatio sinistra. Verkürzung 3 cm. Auf der luxierte
Seite ist geringe Coxa vara cervicalis (Fröhlich) konstatierkr
(Fig. 66), insofern der obere Rand des Schenkelhalses keinen gerader
Fig. 66.
sondern einen nach oben zu konvexen Bogen beschreibt und der Hals
zwischen dem Schenkelkopf und Trochanter gebeugt erscheint.
7. Mai 1905: Leichte Reposition. Primärstabilität gut. Verband
in 90gradiger Abduktion, ohne Hyperextension. Nach 4monath’cher
Fixation adduziert das Kind sehr langsam seinen Fuß. Anfang 1906
beginnt es gut zu gehen. Revision September 1906 und Juni 1908:
Anatomische Reposition. Trochanterstellung linkseitig kaum bemerk¬
barhöher. Anteversion. Gang tadellos. Röntgenbefund: Ausgesprochene
Atrophie, Coxa vara-Stellung, auffallend kurzer Schenkelhals (Fig. 67).
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 545
Fall 83. 672 Jahre alter Knabe. Luxatio dextra. Verkürzung
472 cm.
1. April lOOb: Sehr schwere Reposition. Verband in 90gradiger
Abduktion. Nach 3^/2 Monaten ohne Verband. Ausgesprochen steifes
Gelenk. Da der Knabe seinen Fuß lange Zeit hindurch nicht adduzieren
konnte und sich daneben auch noch eine Flexions-Abduktionskontraktur
entwickelte, legte ich ihn (10. Juni 1907) nach subkutaner Durch¬
schneidung der an die Spina ant. sup. haftenden Muskeln in einen
Redressionsverband. Inzwischen überstand er Masern, welche das
Kind sehr entkräfteten, weshalb es seine aktiven Uebungen nach¬
lässig verrichtete. Einer Flexions-Abduktionskontraktur zufolge be¬
kam es einen neuen Verband. Nachbehandlung. Revision Juni 1908:
Gang bessert sich sehr, Caput von der Spina ant. sup. ab- und
einwärts palpabel. Beweglichkeit besser. Länge der Extremi¬
täten gleich.
Digitized by LaOOQle
546
Michael Horvith.
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 547
Röntgenbefund! Sehr ausgesprochene Atrophie, mäßige Coxa vara
(Fig. 68).
Fall 91. 4Y2jähriges Mädchen. Luxatio bilateralis. 4 cm Ver¬
kürzung. Sehr starke Lordose, die infolge der mäßigen Flexions¬
kontraktur der Hüftgelenke selbst in liegender Position nicht ver¬
schwindet.
21. Mai 1900: Sehr schwere Reposition auf beiden Seiten. Ver-
Fig. 70.
band in rechtwinkliger Abduktion. Primärstabilität sehr gut. Verband
nach 3 Monaten entfernt. Laut Röntgen (Fig. 69) konzentrische Re¬
position auf beiden Seiten, Schenkelhals noch nicht verbogen. Seine
Füße adduziert es sehr langsam (6—7 Monate) so weit, daß es gehen
kann.
Revision 5. April 1908: Linke Extremität um 1 cm kürzer, Tro¬
chanter auf beiden Seiten, besonders aber der linken oberhalb der
Roser-Nelaton-Linie. Die rechte Hüfte kann es nicht gut heben.
Digitized by LaOOQle
548
Michael Horvath.
Röntgenbefund; Linkseits atrophischer Schenkelkopf, ausge¬
sprochene Coxa vara trochanterica. Auf beiden Seiten mäßige Ante-
version (Fig. 70).
Mit Ausnahme von Fall 35 ist in allen übrigen die Atrophie des
Knochens stark ausgeprägt. Am meisten zeigt sich die Atrophie am
Caput femoris, ja in manchen Fällen (20, 30) kann selbst von einem
gänzlichen Schwund desselben die Rede sein, und wird das proximale
Fig. 71.
Liiikseitige Reposition. 8 Jahre geheilt.
Femurende vom atrophischen Schenkelhals gebildet, der sich der
Diaphysis des Schenkelknochens unter dem Trochanter major anfügt.
Auch am Schenkelhals findet man in der Regel ausgesprochene Atrophie.
Der Hals ist auffallend kurz, obzwar infolge der ausgesprochenen Ante-
version nicht genau meßbar. Die Bestimmung des Richtungs¬
winkels (Alsberg) auf Grund des Röntgenbildes ist weiteren Ver¬
änderungen des proximalen Femurendes zufolge sehr schwer, doch
kommt die Varusstellung schon an und für sich in der augenfälligen
Digitized by LjOOQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 549
bedeutenden Verminderung des Neigungswinkels, der gewöhnlich 128®
beträgt, zum Ausdruck.
Die Loslösung und das Herabgleiten der Epiphyse anzunehmen,
würde ich mir auf Grund der Röntgenbilder in keinem einzigen Fall
Zutrauen, höchstens betreffs Fall 77 und 91 kann von einer teilweisen
Lioslösung der Epiphyse gesprochen werden.
Für eine sehr wichtige Erscheinung halte ich jedoch, daß ich die
Epiphysenlösung oder die Varusstellung des Schenkelhalses in den der
Fig. 72.
Luxut. dextr. sanat. 9 Jahre geheilt.
Reposition folgenden wenigen Monaten in keinem einzigen Fall beob¬
achtete, während der Zeit nämlich, wo der Schenkelknochen in pri¬
märer Stellung war und das Kind noch nicht ging. Zum Beispiel auf
der Fig. 69 erscheint der Schenkelknochen noch als ganz gesund.
Von den 12 Fällen wandte in 7 (Nr. 20, 21, 30, 35, 83) behufs Be¬
seitigung der Rotation und Abduktion auch ich passive, doch in allen
Fällen mäßige Kraft an. In den übrigen hingegen überließ ich die Ver¬
minderung der Primärstellung der Extremität ganz und gar dem Kinde,
was in allen Fällen erst im Laufe von Monaten gelang. Von äußerer
Digitized by C^ooQle
550
Micliael Horvath.
Gewalt kann in letzteren Fällen nicht gesprochen werden, da dr
aktive Kraftentfaltung des Kindes groß, aber nicht gewaltig genannt
werden kann.
Die Coxa vara-Stellung ist — wie ich schon oben erwähnte —
in der Periode, in welcher die Extremität in abduzierter Stellung war
nach den Röntgenbildern nicht nachweisbar. Doch entwickelt sicli
dieselbe und wird successive größer, wenn das Kind wieder auf di»
Fig. 78.
Beine kommt und sich die Belastung wieder geltend macht. Im größten
Teil der behandelten Fälle jedoch entsteht nach der Reposition de:'
luxierten Schenkelkopfes keine Coxa vara; diesen Umstand muß ich
bei Erklärung meiner 12 Fälle unbedingt berücksichtigen, da man au>
demselben den Schluß ziehen kann, daß die Herstellung der normalen
Belastungsverhältnisse an und für sich die Varusneigung des Schenkel¬
halses noch längst nicht zur Folge hat. Doch die in meinen Fällen auf¬
tretende, auffallend starke Atrophie, welche die Unzulänglichkeit der
Digitized by C^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 551
Fig. 74.
Kei»ositio e.xrtMitrica sin. (>‘,2 Jahre R^heilt.
Fig. 75.
Luxatio bilateral, sanata. 5 Jahre geheilt.
Digitized by e^ooQle
Michael Horvath.
Tragfähigkeit des Schenkelhalses verursacht, erklärt meines Erachte:
die Entstehung der Coxa vara zur Genüge. Ein solcher pathologi^ :
geschwächter Knochen muß nach der Reposition der Verrenkung her.
Gehen dieselben Dienste leisten, wie der andere, der gesunde Schenke¬
knochen. Dieses Mißverhältnis, das derart zwischen der Tragfähigk-;
und Belastung zu stände kommt, verursacht meiner Meinung i
die langsame Ent\vicklung der Varusstellung, und da die LrsacL
dieses Mißverhältnisses die ausgesprochene Atrophie des Schenke
Fig. 76.
Luxiitio sin. sanata. 4 Jahre geheilt.
knochens ist, schreibe ich ebendeshalb der entwickelten Deformität
symptomatische Bedeutung zu.
Daß hie und da — wie z. B. in den Fällen Ludloffs — die
Epiphysenlösung ebenfalls mitwirkte, will ich nicht bezweifeln; diese
Fälle kann man eine Coxa vara traumatica nennen, bei der der Kopf,
nach der teilweisen oder gänzlichen Loslösung der Epiphyse, allmäh¬
lich eine Verschiebung erlitt. Doch kann hiervon in einem großen Teil
meiner Fälle nicht die Rede sein.
Was die Atrophie selbst anbelangt, kann festgestellt werden, daß
sich dieselbe in meinen Fällen in größerem Maße in dem der Reposition
Digitized by L^ooQle
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 553
folgenden Zeitabschnitte entwickelte. Dagegen, daß dieselbe einfach
der Inaktivität zugeschrieben werde, scheint das zu beweisen, daß in
der großen Mehrzahl der Fälle — unter vollkommen ähnlichen Ver¬
hältnissen — Atrophie von solchem Maße nicht gerade zu den gewohnten
Erscheinungen gehört. Und vielleicht entbehrt auch die Erwähnung
jenes Umstandes nicht alle Bedeutung, daß ich hochgradigeren
Knochenschwund besonders bei den verhältnismäßig älteren Kin¬
dern antraf, bei denen die Reposition verhältnismäßig sehr schwer
Fig. 77.
Liixatiü bilater. sanata. 5.Jahre grheilt.
gelang. Derartige schwere Repositionen kann man als ein das
Gelenk und den Schenkelknochen getroffen habendes Trauma, das
sodann zu akuter reflektorischer Knochenatrophie (S u d e c k) führt,
betrachten. Ob diese meine Annahme standhält, müßten weitere,
womöglich pathologische und histologische Untersuchungen ent¬
scheiden.
Der Umstand, daß ich die Coxa vara in so auffallend hoher Zahl
vornehmlich bei älteren Kindern und nach schwerer Reposition beob-
Zeitschrift für orthopiklische Chirurgie. WIl. Bd. 36
Digitized by CiOOQle
554
Michael Horvath.
achtete, ist ein Grund mehr dafür, daß wir die Behandlung der Hüft¬
gelenksverrenkung in möglichst jungem Alter beginnen.
Und nun zum Schluß einige Worte über die Resultate, die Tran5-
formation des Gelenkes, ihre Neubildung.
Vor Jahren legte ich im Laufe meines in der Wanderversammlurj^
zu Bartfa gehaltenen Vortrages einige Röntgenbilder vor, auf deren
Fig. 78.
Luxatio siu. sanat;u 4 Jahre geheilt.
Grund ich der Ueberzeugung Ausdruck verlieh, daß die Pfanne nach
der Reposition der Verrenkung ihre normale Gestalt wieder zurück¬
gewinnt. Zur Beendigung dieser Umgestaltung ist natürlich eine längere
Zeit notwendig, und findet man in vielen Fällen, die im funktionellen
Sinne als ideal geheilte betrachtet werden können, an den das Gelenk
bildenden knöchernen Teilen noch lange die für die Luxation typischen
Veränderungen. Daß die Umgestaltung des Gelenkes nicht immer eine voll¬
kommene sein wird und daß dieselbe besonders nach bei älteren Kindern
Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 555
vorgenommener Reposition nicht eintreten wird, könnte ich mit sehr
vielen meiner eigenen Fälle illustrieren. Dafür jedoch, daß das Gelenk
seine normale Form vollkommen zurückgewinnen könne, gibt es zwei
unerläßliche Bedingungen: 1. das junge Alter des Kindes
und 2. die vollständige anatomische Reposition.
Von einem Dauerresultat natürlich kann man erst nach Ablauf
mehrerer Jahre sprechen. Die Neubildung des Gelenkes, besonders der
Wölbung, kann in 2—3 Jahren nicht zum Abschluß gelangen und eben¬
deshalb können wir solche Fälle, die wir der Revision einige Jahre nach
Fig. 79.
Luxat. dextr. saiiat. 4 Jahre geheilt.
Beendigung der Gipsperiode unterzogen haben, dazu, daß aus denselben
die endgültige anatomische Transformation beurteilt werde, nicht für
geeignet halten. Somit ist es ganz gerechtfertigt, wenn Bade in
seinem Buch (S. 190) bemerkt: „Diejenigen Autoren, welche sich seit
Jahren mit der unblutigen Behandlung befassen, hätten wohl die Ver¬
pflichtung, jetzt Röntgenbilder von denjenigen Fällen vorzulegen, die
mindestens seit 4 Jahren ohne jeden Verband sind. Aus diesen würde
man einigermaßen sich ein Urteil bilden können!“ Dem will ich ge¬
nügen, da ich einige solche Kopien vorlege (Fig. 71—79), die ich
4—9 Jahre nach Beendigung der Gipsbehandlung verfertigte.
Digitized by LaOOQle
556 Michael Horvath. Beiträge zur Pathologie und Therapie etc.
Die Fälle Nr. 1, 2, 10, 14, 17 stammen noch aus jener ersten
Periode, in der ich das reponierte Bein lange Zeit hindurch fixierte uivd
mittels Etappenverbänden herunterbrachte. Funktionelle Belastung
kam eigentlich erst im Verband II und III zur Geltung, sofern ich das
Kind im ersten Verband gewöhnlich nicht gehen lasse. Die übrigen
Röntgenbilder wurden nach solchen Fällen verfertigt, bei denen
(II. Periode) ich die Fixierungszeit bedeutend verkürzte, und die Ad¬
duktion der Extremität dem Kinde überließ. Belastung infolge de?
Gehens begann etwa Y 2 Jahr nach der Reposition.
Derartige anatomische Heilungen werde ich nach einigen Jahren
in viel größerer Anzahl vorlegen können, weil die gewünschten 4 Jahre.
vor deren Ablauf von einem Dauerresultat, der Transformation der
Gelenkpfanne nicht gesprochen werden kann, eben bei jenen Kindern
um sein werden.
Bishin mögen diese etlichen Fälle dafür als Beweis dienen, daß
unsere Resultate — dank dem großen Fortschritte der Repositions¬
und Retentionstechnik — schon dermaßen vollkommen sind, daß wir
ihnen gleiche aufzuweisen kaum bei einigen von den der Orthopädie
angehörenden Affektionen im stände sind.
Digitized by CiOOQle
XXXI.
(Aus der orthopädischen Abteilung der chirurgischen Klinik zu Jena.)
Angeborener Elnmpfuß, entstanden durch Ein¬
wirkung amniotischer Fäden.
Von
Dr. W. Röpke, Privatdozent.
Mit 2 Abbildungen.
lieber die Art und Weise, wie das Amnion die Ursache für das
Zustandekommen von Mißbildimgen abgeben kann und welche Formen
dabei entstehen, sind unsere Kenntnisse besonders durch A h 1 f e 1 d
und V. W i n c k e 1 gefördert worden. Wir wissen heute, daß die Enge
des Amnion zu partiellen Verwachsungen führen kann, die von stören¬
der Einwirkung auf die normale Ausbildung der betroffenen Teile
während des intrauterinen Lebens sind.
Durch die nachträgliche Absonderimg des Liquor amnii werden
die verwachsenen Stellen voneinander entfernt und es entstehen
Stränge und Bänder, die weiterhin störend sich bemerkbar machen
können.
Schon Geoffroy St. Hilaire hatte sich dahin geäußert,
daß die Verwachsung des Fötus mit seinen Hüllen als die gewöhnlichste
Ursache der Mißbildungen zu betrachten sei. Auch für Kümmel,
A h 1 f e 1 d u. a. gilt als feststehend, daß die irreguläre Abhebung des
Amnion die bei weitem größte Menge der menschlichen Mißbildungen
überhaupt erzeugt.
Für den angeborenen Klumpfuß hat man die Möglichkeit einer
Entstehung durch Einwirkung amniotischer Stränge auch angenommen
und hat für diese Annahme vor allen Dingen dann Beweise bei der Hand
zu haben geglaubt, wenn sich neben dem Klumpfuß sonstwo Störungen
amniogener Natur nachweisen ließen. So in allen den Fällen, wo eine
Kombination des Klumpfußes mit Schnürfurchen am Unterschenkel
Digitized by C^ooQle
558
W. Röpke.
gefunden wurde; Bessel-Hagen, JuliusWolff, J oachimf-
thal, Hoffa und Ewald haben außer einigen anderen solcit
Fälle beschrieben.
Nicht immer braucht sich die Einwirkung der amniotiscte
Fäden in der Form ausgesprochener Schnürrfurchen kenntlich n
machen, auch oberflächliche zirkuläre und sich trennende Streifei.
wie sie Ewald an seinem Falle beschrieben hat, können beweä-
kräftig sein für die Mitwirkimg amniotischer Fäden bei Entwicklui^
des kongenitalen Klumpfußes.
Die Stärke der Eindrücke, die die Fäden hinterlassen, ist eljet
abhängig von der Dauer der Widerstandsfähigkeit der Fäden, von dei
Zeit, in welcher die Einwirkung beginnt, und von der Dauer der letz¬
teren.
Je später der Druck dieser Fäden zur Wirkung gelangt, oder je
frühzeitiger infolge ihrer Widerstandsunfähigkeit die Fäden gespren^
werden, desto schwächer ausgeprägt, desto oberflächlicher werden
später die Eindrücke sein. So werden auch die flachen, zirknläreiL
narbigen Streifen im Ewald sehen Falle sich erklären lassen^). In
Fall Bremmenkampf^) war es überhaupt noch nicht zur Aus¬
bildung solcher Marken gekommen. Bei dem 4 Monate alten Fotu^
umgab ein von der Scheide des Nabelstrangs ausgehender amniotischer
Strang von 1 mm Dicke den verkümmert erscheinenden linken FuiJ
in der Knöchelgegend nach Art einer Schlinge. Von der vorderen wScite
dieser Schlinge zog ein feiner Faden zum rechten Fuß, der den letz¬
teren ebenfalls in der Höhe der Knöchelgegend schlingenartig um¬
faßte, der rechte Fuß bot nichts Abnormes. Hier war also noch Spiel¬
raum zwischen Extremität und umschlingendem Faden und „wohl erst
im späteren Fötallcben würden diese Fäden zur Einschnürung geführt
haben“.
In den Fällen, wo die vorhin erwähnten Einschnürungen und
Marken als Komplikationen des Klumpfußes gefunden wurden, kann
man sich die Mitwirkung amniotischer Fäden so vorstellen, daß letztere
den Unterschenkel gegen die Uteruswand fixierten in einer Stellung,
welche bei genügender Dauer des von der Uteruswand ausgeübten
gleichen Druckes die Herausbildung eines vorher normal entwickelten
Fußes zum Klumpfuß veranlaßte. Je nachdem, ob in den ersten oder
späteren Monaten der Schwangerschaft dieser Vorgang sich abspielte,
Ewald, Zeitschr. f. orthop. Chir., Bd. XV.
Bremmenkampf, Inaug.-Diss. Marburg 1889.
Digitized by CjOOQle
Angeborener Klumpfuß, entstanden durch Einwirkung amniotischer Fäden. 559
werden die Füße die stattgehabte mechanische Abänderung ihres Wachs*
tums durch einen ungewöhnlichen atypischen Bau noch erkennen
lassen; oder sie sind als aus vorher normal entwickelten Füßen in
späterer Entwicklungsperiode entstandene, sekundäre Deformitäten
charakterisiert.
Die Wirkung amniotischer Bänder kann aber auch direkt am
Fuß einsetzen, wie in dem Falle von J e n s e n. Es handelt sich hier
um einen Tmonatigen Fötus. Der linke Fuß steht in Varusstellung und
ist in diese Stellung gezwungen durch ein an der Vorderfläche des
rechten Oberschenkels sich inserierendes Band. Bei Annäherung des
Fig. 1.
Fußes an den Oberschenkel, also bei Erschlaffung des Bandes, ver¬
bessert sich die Stellung etwas. Die große und kleine Zehe sind normal
entwickelt, an Stelle der zweiten Zehe finden sich zwei kleine warzen¬
förmige Hautanhänge. Die dritte und vierte Zehe, zwischen denen das
Ligament sich inseriert, hängen mehr oder weniger mit demselben zu¬
sammen und entbehren der Nägel. Der rechte Fuß ist ein exquisiter
Pes calcaneus ohne sonstige Störungen.
Dies wäre ein durchaus einwandsfreier Fall. Auch der von
H o f f a^) erwähnte muß hierher gerechnet werden, bei diesem bestand
neben doppelseitigen Klumpfüßen auf der einen Seite eine starke am¬
niotische Schnürfurche am Unterschenkel, gleichzeitig fehlten an dem
*) Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie. 4. Aufl.
Digitized by LaOOQle
560
W. Röpke.
betre£Eenden Fuß einige Zehen und ebenso bestand ein Pingerdefekt an
der Hand.
Mein Fall, den ich hier erwähnen möchte, betrifft einen 1 ^/2 Monate
alten Knaben, der, abgesehen von abnormen Zuständen an beiden
Füßen, noch Defekte an den Fingern der rechten Hand aufzuweisec
hatte. Der rechte Fuß ist ein ausgesprochener Hackenfuß, der linke
dagegen ein Klumpfuß.
Die Form dieses Fußes ist besonders auffällig. Die Großzebe
steht medianwärts abduziert und innenrotiert und ist bedeutend im
Fig. 2.
Längenwachstum zurückgeblieben. Die übrigen Zehen stehen latmi
abduziert und plantar eingerollt.
Wenn man die Zehen dorsal flektiert und den Fuß, soweit
möglich ist, streckt, erkennt man eine narbig glänzende Schnürfurch^
die, imter dem Ballen der fünften Zehe beginnend, quer über die YvS-
sohle proximal von den Zehenballen nach dem Spatium I verläuft
über welcher distal die Zehenballen als kräftige Wülste stark vor¬
springen.
Die Schnürfurche setzt sich im Spatium I fort und läuft an der
Basis der großen Zehe über deren Dorsum hinweg. Ueberläßt man der
Fuß sich selbst, so sieht man, wie er, der im übrigen ausgesprochene:
Digitized by LjOOQle
Angeborener Klumpfuß, entstanden durch Einwirkung amniotischer Fäden. 50 J
Klumpfuß ist, distal von der geschilderten Furche scharf nach vorn
überfällt, indem die Zehen abduziert stehend, sich einrollen, mit Aus¬
nahme der großen Zehe, welche ihre stark abgespreizte Stellung bei¬
behält.
Der ganze Fuß ist im Wachstum zurückgeblieben, auch der
Unterschenkel ist schwächer entwickelt als der rechte. Die größte
Länge des Fußes vom Hacken bis zur Spitze der zweiten Zehe gemessen
und bei gestrecktem Fuß beträgt links 7 cm, während der rechte Fuß
fast 9 cm lang ist. Diese Beschränkung des Wachstums gibt sich deut¬
lich zu erkennen bei Betrachtung der Röntgenbilder. Sämtliche Knochen
des linken Fußes treten an Größe hinter denen der rechten Seite zurück.
Was aber am meisten auffällt, sind die Veränderungen an den Kon¬
turen des II. bis IV. Metatarsus in ihrem distalen Drittel. Deutlich
erkennt man eine Konkavität an deren lateraler Seite. Es sind aus¬
gesprochene Knickungen, die sich hier durch Uebereinanderschieben
der lateralen Corticaliskonturen zu erkennen geben.
Außer den Veränderungen an den Füßen findet sich noch eine
Verstümmelung der rechten Hand. Vom fünften und vierten Finger
sind nur noch minimale Weichteilstümpfe vorhanden, während der
Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen tiefe zirkuläre Schnürfurchen
auf weisen.
Wir werden ohne weiteres die Amputation des fünften und vierten
Fingers und die tiefen, feinen, zirkulären Einschnürungen an den
übrigen Fingern der rechten Hand der Einwirkung amniotischer Stränge
zur Last legen, wenn auch nichts von Fädenresten mehr vorhanden,
oder bei der Geburt beobachtet worden ist.
Wir wissen ja, daß trotz der Häufigkeit der sogen. Spontan¬
amputation einzelner Extremitäten oder von Teilen derselben nur
selten amniotische Rudimente noch vorgefunden wurden, aber die
wenigen einwandsfreien Fälle, bei denen in den Einschnürungen haftende
Fäden beobachtet wurden, sind beweiskräftig genug, um gleichartige
pathologische Zustände auf die gleiche Ursache zurückführen zu können.
So ist auch die narbige Furche, die über das distale Drittel der
Fußsohle nach dem Spatium I und durch dieses hindurch auf das
Dorsum der Großzehe zieht, mit solchen Fäden in ursächlichen Zu¬
sammenhang zu bringen.
Der Strang hat offenbar bei seinem eigenartigen Verlauf um die
Großzehe diese medialwärts abgespreizt in dieser Stellung fixiert ge¬
halten, den Fuß an der Innenseite in seiner Längenentwicklung ge-
Digitized by CjOOQle
562
W. Röpke. Angeborener Klumpfuß etc.
hindert. Der übrige Fuß distal des Stranges wurde durch den an¬
drängenden Uterus über den Strang plantarwärts gedrückt, wobei die
übrigen Zehen lateral abwichen.
Diese Einwirkung muß wohl lange und kräftig genug statt¬
gefunden haben, dafür spricht das hartnäckige Bestreben des Vorder¬
fußes, in dieser Narbenlinie immer scharfwinklig plantarwärts abzu¬
knicken, die Wachstumshemmung und vor allem der Befund an den
Metatarsalknochen. Dieser letztere eben deutet auf eine Ablenkung
der Wachstumsrichtung dieser Knochen, entstanden infolge der lang-
dauernden mechanischen Einwirkung des Stranges und des andrängen¬
den Uterus. Es ist ausgeschlossen, daß eine direkte Einwirkung auf
die Knochen während ihrer Entwicklung stattgefunden hat, da die
bedeckenden Weichteile bis auf die narbige Schnürfurche der Haut
sich intakt erwiesen.
Die Behandlung bestand in Anlegung eines redressierenden Ver¬
bandes aus Heftpflasterstreifen und Gipsbinden, welcher 3 Wochen
liegen blieb. Nach Abnahme des Verbandes war die Klumpfußstellung
beseitigt.
Die Verkürzung der großen Zehe war nicht ausgeglichen, letztere
verharrte in der abgespreizten Stellung, ebenso wiesen die übrigen
Zehen noch die Neigung auf, lateral abzuweichen und sich plantar
einzurollen, wenn dieses auch nicht mehr in dem Maße stattfand, wie
vor der Behandlung.
Anmerkung. Die Zeichnung ist nach^dem Röntgenbilde angefertigt, da
die Einzelheiten auf den Abzügen nicht deutlich in die Erscheinung traten.
Digitized by C^ooQle
XXXIL
(Aus dem pathologlsclien Institut der Universität Berlin.)
lieber multiple kongenitale (xelenkdeformitäten.
Von
Max Meyer, Medizinalpraktikant*
Mit 4 Abbildungen,
Während die kongenitale Hüftgelenksluxation gerade kein sel¬
tenes Leiden ist, gehören angeborene Verrenkungen an anderen Ge¬
lenken nicht zu den alltäglichen Vorkommnissen. Es sind die kon¬
genitalen Verrenkungen symptomatisch und pathologisch-anatomisch
von den traumatischen und entzündlichen scharf zu trennen; im wesent¬
lichen handelt es sich bei ihnen um fötale Mißbildungen. Die Gelenk¬
kapsel ist im Gegensatz besonders zu den traumatischen völlig imver-
sehrt, nur Stellungsanomalien der Gelenkenden liegen vor. Aber auch
vom ätiologischen Standpunkte dürfte eine Differenz gegenüber der
gewöhnlichen erworbenen Luxation zu verzeichnen sein, insofern
wenigstens nicht nur mechanische Einwirkungen, vielmehr auch eine
fehlerhafte Kapselentwicklung für die Entstehung der Luxation ver¬
antwortlich gemacht werden müssen. Das letzte Moment erfreut sich
jedoch nicht allgemeiner Anerkennung. Deshalb erscheint mir die
Mitteilung eines Falles gerechtfertigt, der, wenn er auch nicht im stände
ist, diese Frage ganz zu klären, jedenfalls doch zu ihrer Klärung bei¬
tragen kann imd auch nach anderer Richtung manches Interessante
bietet. Es handelt sich um einen männlichen Fötus, der dem patho¬
logischen Institut der Universität Berlin übergeben wurde.
Die Sektion des 42' cm langen männlichen Fötus, über dessen
Herkunft leider nichts bekannt ist, ebensowenig wie über den Geburts¬
verlauf und die Fruchtwassermenge, ergab an den inneren Organen
keinen pathologischen Befund. Die Lungen waren noch atelektatisch.
Digitized by C^ooQle
564
Max Meyer.
Das Foramen ovale war noch nicht geschlossen, die distalen Femur¬
epiphysen enthielten keinen Knochenkem.
Die erheblichsten Deformitäten fanden sich an den unterem
Extremitäten.
Fig. 1.
Röntgenbild der beiden unteren Extremitäten.
Rechte Extremität von vorn, linke Extremität infolge der Außenrotation
von der medialen Seite aufgenommen.
Das rechte Kniegelenk war ein Schlottergelenk. Die Haut wies
mehrere Falten auf, die Patella war nicht zu palpieren, passive Beu¬
gung, Streckung und Ueberstreckung in ergiebigstem Maße möghch. Das
Röntgenbild (Fig. 1) zeigt, daß die Epiphysen ebenso die Patella noch
keine Knochenkerne enthalten. Ich präparierte die Muskeln und fand
Diaitized bv Goo<^Ie
Ueber multiple congenitale Gelenkdeformitäten.
565
sie alle intakt bis auf den Quadriceps, der im ganzen, besonders aber
der M. rectus femoris, etwas atrophiscli war. Das Lig. patellae war in
der Kapsel nicht einmal als Verstärkung zu sehen. Bei Eröffnung der
sehx dünnen Gelenkkapsel fand sich die Patella von normaler Größe
subkapsulär gelegen, aber nach oben auf die Vorderfläche des Femur
verlagert so, daß die Apex patellae noch oberhalb des oberen Randes
der Facies patellaris femoris gelegen war, wie es in der Abbildung
(Fig. 2) zu sehen ist. Ein Gelenkerguß war nicht vorhanden. Die
Ligg. cruciata zeigten sich erheblich verlängert, die Menisci waren
beide gut ausgebildet.
Am rechten Fuß war das C h o p a r t sehe Gelenk ebenfalls
schlotternd; zugleich bestand ein Pes equino-varus mit Kontraktur
der Achillessehne.
Fig. 2.
Rechtes Kniegelenk in der Ansicht
von vorn.
Ap Apex patellae in natürlicher Lage
nach Eröffnang des Gelenkes. Fp Facies
patellaris femoris (leer). Lc Ligg.
cruciata.
Fig. 3.
Linkes Kniegelenk durch einen Längs¬
schnitt medial von der Patella eröffnet.
P Patella, CI Condylus lateralis,
Cm Condylus medialis femoris.
Das linke Knie war hyperextendiert, Flexion völlig unmöglich,
wie überhaupt fast völlige Bewegungsunmöglichkeit im ganzen Gelenk
bestand. Die Haut der Vorderseite war glatt, die Kniekehlenfalte
zwar angedeutet, die Regio poplitea dagegen etwas kugelig vorgewölbt.
Hier war die Patella an normaler Stelle zu palpieren. Die Femurkondylen
waren undeutlich in der Kniekehle zu fühlen. Der Unterschenkel
stand in Außenrotation. Das Röntgenbild zeigt dieselben Verhältnisse
wie rechts, nur kommt die Außenrotation zum Ausdruck, insofern die
Fibula hinter der Tibia liegt, sie ist als stärkerer Schatten in dem
Tibiaschatten sichtbar. Es handelt sich — das sei ausdrücklich be¬
merkt — nicht um einen Fibuladefekt. Auch hier präparierte ich die
Digitized by C^ooQle
566
Max Meyer.
Muskeln und konnte keine Abweichung von der normalen Anatoin^
feststellen. Die Gelenkkapsel war unversehrt, reichliches Fett in df:
BLniekehle. Dort waren jetzt die beiden Femurkondylen stark pro¬
minent. Als ich das Gelenk vom durch einen medial geleg^enen Lär^
schnitt eröffnete, fand sich die Patella von normaler Größe etwas nari
oben verlagert, der mediale Kondylus des Femur war nach hint^
und seitwärts über den etwas abgeschrägten Margo glenoidalis tibiae
herabgerutscht. Der laterale Kondylus stand über der Eniinenri-
intercondyloidea (Fig. 3). Die Gelenkflächen der Tibia sind nä* ::
hinten verlagert, die Ligg. cruciata in ihrer Länge kaum von der Xorrt
abweichend — ich habe zum Studium der normalen Verhältnisse eiiif
Anzahl normaler Gelenke bei Totgeborenen und Föten eröffnet —
die Menisci sind vorhanden, aber im ganzen auch etwas nach hinten
gesunken, wie gewöhnlich mit der Kapsel verwachsen.
Auch am linken Fuß war das C h o p a r t sehe Gelenk schlotternd,
es bestand wie rechte ein Pes equino-varus mit Achillessehnenkontra kt ur.
Die oberen Extremitäten wiesen geringere Deformitäten auf.
Das rechte Ellbogengelenk bot äußerlich keine auffälligen Ver¬
änderungen. Es war passiv frei und normal beweglich. Das Röntgen-
bild zeigt den Unterarm in Supinationsstellung. Den Bandapparat
fand ich etwas schlaff.
Desgleichen bestanden zwischen Carpus und Metacarpus Schlotter¬
gelenke geringen Grades.
Das linke Ellbogengelenk bot dagegen auffälligere Veränderungen,
zuer.-t seine Funktion betreffend. Maximale Streckung ist unmöglich,
der Vorderarm wird etwas proniert gehalten und ist nicht total zu
supinieren. Am Gelenk ist nichts Pathologisches zu palpieren. Auf dem
Röntgenbild (Fig. 4) kommt die Pronationsstellung zum Ausdruck in der
Kreuzung von Radius und Ulna. Denkt man sich den Radius in seiner
Achse verlängert, dann schneidet dieser die Humerusachse oberhalb
der Epiphysenlinie, woraus schon ersichtlich ist, daß keine normale
Gelenkverbindung zwischen Radius und Humerus bestehen kann,
ebensowenig ist eine solche zwischen den proximalen Epiphysen von
Radius und Ulna denkbar, da eine erhebliche Divergenz proximal
an diesen besteht. An den Muskeln ließen sich keine Besonderheiten
nachweisen, die ganze Muskulatur nur war in ihrer Lage etwas verzerrt.
Man fühlte nach Präparation der Muskeln deutlich durch, daß das
Radiusköpfchen nach vorn luxiert war und bei Eröffnung der
Digitized by C^ooQle
Ueber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten.
567
intakten Kapsel fand es sich auf der Vorderfläche des Humerus,
an dessen Epiphysenende jegliche Andeutung von Eminentia capi-
t^ata fehlte.
Auch fanden sich zwischen Carpus und Metacarpus der linken
Hand erheblich schlotternde Gelenkverbindungen.
Es bleibt mir noch übrig zu erwähnen, daß beide Schultergelenke
einen derartig schlaffen Bandapparat besaßen, daß eine völlige Rotation
Fig. 4.
Röntge ubild der beiden oberen Extremitilten in ihrer Haltung zum Rumpf von vorn.
Vorderarme in Supinationsstellung, beide Arme jedoch im Schultergelenk vollkommen nach
innen rotiert.
nach innen möglich war, was auch auf dem Röntgenbilde zum Ausdruck
kommt: die Arme sind bei dem auf dem Rücken liegenden Fötus ganz
nach innen rotiert, was aus der in ihrem ganzen Querdurchmesser
sichtbaren distalen Humerusepiphyse besonders links hervorgeht und
aus der Haltung der Hände. Die Supinationsstellung rechts ist also
von der dorsalen Seite des Unterarms aufgenommen.
Ob an den anderen Gelenken eine besondere Schlaffheit der
Kapseln und Bänder bestand, will ich nicht entscheiden, da man geringe
Grade dieses Zustandes bei der normalerweise bei Föten und Neu-
Digitized by C^ooQle
568 Max Meyer.
geborenen vorhandenen Nachgiebigkeit des Bandapparates immögli :
diagnostizieren kann.
Ich fasse zusammen, was sich in unserem Falle fand:
1
1. an den unteren Extremitäten !
I
a) Schlottergelenke zwischen Tarsus und Metatarsus, P-
equino-varus utriusque lateris;
b) Subluxatio genu congenita sinistra;
c) Schlottergelenk des rechten Knies mit Dislokation dt'
Patella nach oben; • *
2. an den oberen Extremitäten
a) Schlottergelenke zwischen Carpus und Metacarpus beider .
seits;
b) Luxatio radii antica congenita sinistra;
c) Schlaffheit der Bänder und Kapsel des rechten Ellbogen-
gelenkes ; 1
d) Schlaffheit der Articulatio humeri utriusque lateris.
t
Dieser Fall, glaube ich, ist geeignet, zur Klärung mehrerer Fragen
beizutragen, die über die Entstehung und Entstehungsbedingunger.
der kongenitalen Luxationen, besonders der des Kniegelenkes und
des Radius aufgeworfen worden sind.
Betrachten wir zuerst die Pathogenese der kongenitalen Knie¬
gelenksluxation. Dreh in a n n^) hat in seiner Arbeit im Jahre |
die vorher erschienene Literatur so eingehend und kritisch behandelt,
daß wir sie füglich vernachlässigen und von seiner Bearbeitung ausgeheii
können. Nur wo wir der Ansicht der früheren Autoren beizupflichten 1
für notwendig erachten, werden wir sie berücksichtigen.
D r e h m a n n hat es sich hauptsächlich zur Aufgabe gemacht,
die Beziehungen zwischen Genu recurvatum congenitum und Luxati*:
genu antica congenita zu untersuchen. Dabei kommt er zu dem Ergebniv
daß das Genu recurvatum congenitum das erste Stadium einer j
kongenitalen Luxation, das durch eine abnorme Steigerung der Ex- *
tensionsbewegung bei sonst normaler Beugebewegung ohne Versehiebuni: j
der Feinurkondylen nach hinten sich charakterisiere. Häufiger komme ■
Dreh mann, G., Die kongenitalen Luxationen des Kniegelenks i
Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 7 S. 459. Vgl. auch Handb. d. orthop. Chir., herausgeg. '
von J o a c h i m s t h a 1 II, 2, S. 440. 1
Digitized by CjOOQle
I
Ueber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten,
569
d£ts zweite Stadium und zwar in der Regel nur bei Neugeborenen
zur Beobachtung, von einigen Autoren fälschlich als „(Jenu recurvatum
congenitum“ bezeichnet, sonst landläufig „kongenitale Luxation“ be¬
nannt. Es handle sich eigentlich um eine Subluxation, für die aber mit
Recht die Bezeichnung „Luxation“ beibehalten werde, weil aus ihr,
falls sie imbehandelt bleibt, die totale Luxation sich zu entwickeln
pflegt. Sie besteht klinisch in einer Hyperextensionsstellimg bei völliger
aktiver imd passiver Flexionsunmöglichkeit, pathologisch-anatomisch
in einer Luxation der Femurkondylen nach hinten oder, da man sich
daran gewöhnt hat, immer den distalen Knochen als den luxierten
zu betrachten, in einer Luxation der Tibia auf die Gelenkfläche der
Patella. Diese bei der Geburt höchst auffällige Deformität fordere
in der Regel sofort die Therapie heraus, weshalb das dritte Stadium,
die totale Luxation, die sich nur durch die unverletzte Gelenkkapsel
von der traumatischen unterscheide und im späteren Leben durch die
infolge des Gehens hervorgerufene Belastung, oft nur durch aktive
Beugungsversuche oder Manipulationen der Mutter zur Korrektur der
Deformität schon, bevor das Gehen erlernt wird, zu stände kommt,
nur selten beachtet wird. Er führt als einzigen einwandfreien Fall von
totaler Luxation den von J. Wo 1 f f i) an, in dem sich sogar ganz wie
bei der traumatischen Hyperextensionsmöglichkeit fand, was also
durchaus nicht zur Auffassung derartiger Talle als Genua recurvata
congenita berechtige, wie P o t e 1 es tue.
Nun kann ich diesem Fall allerdings noch einige aus der neueren
Literatur hinzufügen. Reiner^) beschreibt einen Fall totaler kon¬
genitaler Kniegelenksluxation bei einem 8jährigen Knaben, M a g n u s^)
teilt 3 Fälle totaler angeborener Kniegelenksverrenkimg bei drei Ge¬
schwistern mit: bei einem Mädchen von 4^4 Jahren und zwei Knaben
von 272 und ^4 Jahren. Schließlich finde ich inBacilieris^) Arbeit
noch 2 Fälle: den von Kocher selbst untersuchten 27jährigen Korb-
^) W o 1 f f, J., Ueber einen Fall von willkürlicher angeborener Kniegelenks¬
luxation nebst anderweitigen angeborenen Anomalien fast sämtlicher Gelenke
des Körpers. Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 2 S. 23.
Reiner, M., Ueber einen blutig reponierten Fall von angeborener
Kniegelenksluxation. Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 13 S. 442.
Magnus, P., Ueber fötale kongenitale Luxationen der Kniegelenke
bei drei Geschwistern. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 78 8. 555.
Bacilieri, Luciano, Ueber kongenitale Luxationen im Kniegelenk.
Archiv f. Orthop., Mechanotherapie u. Unfallcliirurgie Bd. 3 S. 213.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 37
Digitized by CiOOQle
570
Max Meyer.
macher und den Fall von J o a c h i m s t h a 11) bei einem 2 Monate
alten Mädchen.
Zwar spricht Reichel^) nur von dem seltenen V^orkommet
der totalen Luxation und führt die meisten Fälle, wie P h o c a s^) e
getan, als Genua recurvata congehita an. Diese sind aber in Wirk' ‘
lichkeit seltener, am häufigsten findet sich die Subluxation. Es ist
also Drehmann nicht gelungen, die Verwirrung ganz zu beseitigeii,
wie mir scheint, weil er die am häufigsten vorkommende Defomiiü:, '
die Subluxation, nicht bei ihrem richtigen Namen nannte. Wir habei
doch den übrigens recht guten Ausdruck, es wäre also wünschenswert, j
wenn er für die kongenitalen Kniegelenksdeformitäten, die durtl
Hyperextension und Flexionsunmöglichkeit ohne präfemorale Tibia¬
dislokation ausgezeichnet sind, allgemein angenommen würde. Ist auct
die Tibiaepiphyse vor die Femurepiphyse gerückt, dann spreche man .
von kongenitaler Kniegelenksluxation. Damit sind zugleich die drei
Stadien: Genu recurvatum congenitum, Subluxatio i
genu congenita imd Luxatio genu antica (totalis) ’
congenita präzis auf Grund ihres pathologisch-anatomischen
Befundes benannt. I
Die korrekte Bezeichnung „Subluxation“ hat bereits Wehsarg"^)
gewählt, er beschreibt 3 Fälle dieser Deformität des Kniegelenks: bei
einem Neugeborenen doppelseitige Subluxation mit allen charakte¬
ristischen Symptomen und fehlerhafter Patella, bei dem auf der einen ,
Seite die Reduktion spontan eingetreten ist, auf der anderen Seite
leicht durchzuführen war und ohne fixierenden Verband bestehen blieb;
bei einem 4jährigen Knaben doppelseitige Subluxation mit Patcllar-
defekt; bei einem 22jährigen Mann ein angedeutetes Genu recurvatum
congenitum dextrum, das natürlich keinen Anlaß zur Ausbildung einer
Luxation geben konnte, und eine linkseitige Subluxation, die merk- }
würdigerweise nicht zur Luxation sich entwickelt hat; außer dem ^
Fall II von Krönlein^), der einen 20jährigen Mann .betrifift, sei
keine weitere präfemorale angeborene Subluxation nach dem 9. Jahre 1
in der Literatur aufgeführt.
') Joachimsthal, Geheilte angeborene Knie- und Hüftgelenksluxation ^
{Freie Vereinigung d. Chirurgen Berlins; 12. Januar 1903) zitiert nach Bacilieri.
Reichel, Handb. d. prakt. Chir. 1907, Bd. 5.
P h o c a s, zitiert nach D r e h m a n n. ,
*) W e h 8 a r g, R., Ueber die kongenitale Subluxation des Kniegelenkes. '
Archiv f. Orthop., ^lechanotherapie u. Unfallchirurgie Bd. 3 S. 197. 1
K r ö n 1 e i n, zitiert nach W e h s a r g. I
Digitized by CjOOQle
üeber multiple kongenitale Gelenkdefoimitäten.
571
Wehs arg erkennt die Pathogenese der kongenitalen Knie¬
gelenksluxation, die von Drehmann begründet worden ist, an;
während Magnus und Perthesi) glauben, sie deshalb ablehnen
zu müssen, weil sie bei einem 7^ Jahre alten Knaben eine totale Lu¬
xation beobachtet haben, die, ohne daß von Belastung beim Gehen die
Rede sein konnte, vorhanden war; sie nehmen an, daß diese bei der
Geburt bestand. Es hat aber Drehmann betont, daß die Belastung
beim Gehen zum Zustandekommen der Luxation nicht einmal er¬
forderlich ist, es genügen unrichtige Repositionsversuche seitens der
Hebamme oder der Mutter oder besonders aktive Beugungsinner¬
vationen des Kindes, um eine totale Luxation herbeizuführen; wir
wissen ja, daß die Beugung auch beim Mechanismus der traumatischen
Luxation eine große Rolle spielt.
Ich glaube, Drehmanns Darstellung von der Entstehung
der angeborenen Kniegelenksluxation verdient unbedingte Anerkennung.
Es liegt mir fern, auf Grund meines Falles nur dieses auszusprechen.
Indes liefert er einerseits eine Bestätigung des Gesagten, anderseits
gestattet er die Kritik der Widersprüche. Das rechte Kniegelenk ist
ein Schlottergelenk, das wir doch als nichts anderes auffassen können,
als einen hohen Grad von Genu recurvatum congenitum im Sinne
Drehmanns, denn es besteht Hyperextensions-und Flexionsmög-
lichkeit in maximalem Grade, es unterscheidet sich von dem Genu
recurvatum congenitum s. str. nur dadurch, daß bei letzterem eine
fixierte Hyperextensionshaltimg besteht. Links haben wir eine deutliche
Subluxation. Es war also links die KapselerschlafFung nur ausreichend
gewesen, die Subluxation zu ermöglichen, nach deren Eintritt die
Extremität ein starres Glied darstellt. Ich sehe in diesem Stadium
keine Möglichkeit für das Zustandekommen einer sekundären totalen
Luxation in utero, die doch nur in einem mechanischen Momente zu
suchen wäre. Will man dieses aber ablehnen imd allein die Kapsel¬
erschlaffung für die Entstehung der Luxation verantwortlich machen,
dann glaube ich dem durch den Hinweis auf das rechte Kniegelenk be¬
gegnen zu können. Bei schlafferer Kapsel wird sich zuerst eben ein Genu
recurvatum congenitum und schließlich ein Schlottergelenk ausbilden.
Damit habe ich bereits eine ätiologische Frage gestreift. Schon
Krönlein^) sagt mit Recht, daß nirgends in der Medizin so viel
^) Perthes, Zur Pathologie und Therapie der angeborenen Luxation
des Kniegelenkes. Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 14 S. 629.
Krönlein, Die kongenitalen Luxationen in der „deutschen Chirurgie“.
Digitized by L^ooQle
572
Max Meyer.
die Phantasie und Spekulation mehrerer Autoren sich betätigt hat^
wie bei der Frage nach der Aetiologie der kongenitalen HüftgelerJr-
Verrenkung, und Drehmann führt aus, daß alle über deren El:
stehungsursachen aufgestellten Theorien auch zur Erklärung der
Aetiologie der kongenitalen Eniegelenksluxation herangezogen worden:
sind. So sind wir denn über diese Frage noch recht wenig klar, es smc
uns eigentlich, wenn wir ehrlich sein wollen, nur die Entstellungs¬
bedingungen sicher bekannt.
Man hat Theorien aufgestellt, die die kongenitale Kniegelenb-
luxation sowohl als primäre wie als sekundäre angeborene Deformiu:
erklären sollen.
Strohmeyer und nachher J. Wo 1 ff glaubten die Ursaclf
der kongenitalen Kniegelenksluxation in einer abnormen Schlaffheit
und Lockerheit des Bandapparates suchen zu müssen. Diese wäre
dann als primäre Keimesvariation anzusprechen, wie sie als familiäre
primäre Keimesvariation in den Fällen von Magnus und Perthes
sich findet, teilweise vielleicht auch als vererbte KeimesvariatioiL
Für die kongenitale Hüftgelenksluxation nämlich ist das erbliche
Vorkommen für einen Teil der Fälle von Krönlein i) nachgewiesen.
für die kongenitale Kniegelenksluxation noch nicht; nur ein Fall von
angeborener vererbter Verbildung beider Kniee (Genua valga) ist Ycm
Roskoschny2) beschrieben worden, der aber vielleicht nicht hierher
gehört. Es genügt aber die angeborene Schlaffheit und Lockerheit des
Bandapparates allein wohl nicht, wie ich unten auszuführen gedenke,
es wäre dann das nachweislich nicht erbliche Vorkommen der angeborenen
Kniegelenksverrenkung auf das häufigere Fehlen der Hilfsmomente,
teilweise auch auf mangelnde Erfahrung zurückzuführen.
P o t e 1 nimmt an, daß es sich um eine primäre Retraktion der
Streckmuskulatur handelt, welche eine Entwicklungshemmung zur
Folge haben soll. Indessen wird eine solche Retraktion weder besonders
häufig beobachtet, wo sie vorkommt — wie auch in unserem Falle —
ist sie sicher das sekundäre, ein Inaktivitätszeichen.
Als sekundäre angeborene Deformität suchte zuerst Müller^
die kongenitale Kniegelenksluxation zu erklären, imd zwar glaubt er
^) Vgl. die von K r ö n 1 e i n aufgestellten Stammbäume.
Roskoschny, Ein Fall von angeborener vererbter Verbüdung
beider Knie- und Ellbogengelenke. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 76 S. 569.
Mülle r, C., Uebcr kongenitale Luxationen im Knie. Arbeiten aus
der Chirurg. Universitätspoliklinik zu Leipzig. Heft 1. Leipzig 1888.
Digitized by LjOOQle
üeber multiple kongenitale Gelcnkdeformitäten.
573
mechanisclie Ursachen, Fruchtwassermangel und dadurch bedingte
Raumbeengung in utero, für ihre Entstehung anschuldigen zu müssen,
es handelt sich dann also um eine „intrauterine Belastungsdeformität“,
Seine Theorie stützt sich auf die Beobachtung, daß häufig die Kinder
mit nach oben geschlagenen Beinen zur Welt kommen und daß Mangel
an Fruchtwasser in der Anamnese berichtet wird. Potel wendet mit
Unrecht dagegen ein, daß letzterer Umstand nicht beteiligt sein könne,
weil dann der Fötus keinen Platz habe, aus normaler Haltung in eine
Zwangshaltimg überzugehen; es ist nämlich sehr wohl möglich, daß
dieser seine Zwangshaltimg zu einer Zeit eingenommen hat, wo die
Fruchtwassermenge noch normal war, und daß sie erst im Verlaufe
der Schwangerschaft sich abnorm verringert hat.
Drehmann, der einerseits den Einwand P o t e 1 s für berech¬
tigt hielt, anderseits aber fand, daß ebenso oft Fruchtwassermangel
wie Fruchtwasserfülle angegeben wurde, glaubte daher diesem Momente
nicht so viel Bedeutimg beimessen zu können, und da er fernerhin
auch die Richtigkeit der Beobachtimg zugestehen mußte, daß die be¬
treffenden Kinder mit nach oben geschlagenen unteren Extremitäten
zur Welt kamen, mußte er zur Stütze der Belastimgstheorie annehmen,
daß es entweder schon bei der Differenzienmg der Gelenke gar nicht
zu einer Beugestellung des Kniegelenks komme oder aber, daß das
Bein zu einer Zeit, wo die obere Körperhälfte die untere bedeutend
überragt, imd so die unteren Extremitäten in ihren geringen Propor¬
tionen freieren Spielraum haben, in Strecksteilung gebracht werde.
Entstehe dies zu einer Zeit, in welcher die Muskulatur noch nicht völlig
ausgebildet ist, zu welcher Annahme wir nach dem Verhalten der Pa¬
tella berechtigt seien, so könne das Bein längere Zeit in dieser ab¬
normen Strecksteilung liegen bleiben. Der Fuß, irgendwo am Kinn
oder in der Achselhöhle festgehalten, hindert das Bein selbst bei
reichlichem Fruchtwasser, da es jetzt in der Proportion an Länge zu¬
genommen hat, wegen der Eihäute und Uteruswandungen, in Beuge¬
stellung überzugehen. Beim weiteren Wachstum der Extremität in
dieser Zwangsstellung entstehe, wie wir es bei erworbenen Deformitäten
annehmen, durch die Belastung in einer von der normalen abweichen¬
den Haltung die Deformität. Zunächst komme es wohl zu einer ein¬
fachen Ueberstreckung des Knies, Genu recurvatum, später zum Ab¬
gleiten der Gelenkflächen voneinander; dann gebe entweder das
Hüftgelenk oder das Kniegelenk oder es geben beide nach.
Dieser Theorie schließt sich W e h s a r g bis auf einen Punkt an.
Digitized by CjOOQle
574
Max Meyer.
er kann nicht zugeben, daß der Fötus schon in den ersten Monat-i
die falsche Stellung einnimmt; er führt einerseits einen Fall an. wo i
Kniekehlenfalte erhalten war — wir haben das auch an unserem Fcri*
gesehen —, anderseits fand er in der Anamnese eines seiner Fälle,
die Mutter in der letzten Zeit vor der Gebiut sehr heftige
bewegungen verspürt habe, dasselbe gibt B 1 a n c i) in seinem Falle ai
Ich möchte nicht verfehlen auf die stark subjektive Färbung solci>:
Mitteilungen aufmerksam zu machen, immerhin kann man in d-:
Anamnese darauf achten.
Mir scheint keine dieser Theorien allein zur Erklärung der Er:-
stehung der kongenitalen Kniegelenksluxation zu genügen. Wem
wir uns mehr an die Tatsachen halten, brauchen wir, glaube ich, vfi
weniger theoretische Annahmen, die doch nur Gegenstand des 31 ei*
nimgsstreites sind, zugleich aber können wir auf bestimmte Vorkoimn-
nisse unser Augenmerk richten und so vielleicht eine endgültige Ei-
klänmg finden.
In fast einem Viertel der Fälle bestehen nachweisliche Deformi¬
täten und Veränderungen an anderen Gelenken, welche auf Ver¬
änderungen des Kapselapparates schließen lassen. Unser Fall zeif.
dies besonders exquisit. Leider war das Material nach der Pra-
paration der Muskeln nicht mehr zur mikroskopischen Untersuchunf
geeignet. Sie ist künftig zuerst in einem solchen Fall vorzimehmeit
Sollte sich diese berechtigte Vermutung, die übrigens von Perthes
und B a c i 1 i e r i im großen und ganzen geteilt wird, bestätigen, dann
erblicke ich in dieser Kapselerschlaffung Grund genug für das Eintreten
pathologischer Haltungen; Gelenke mit schlaffen Kapseln sind eben
leichter beweglich. Ob die Kapselerschlaffung als ein Vitium primae
formationis oder als eine fötale Erkrankung aufzufassen ist, wie Per¬
thes und Strauß es tun, lassen \vir am besten dahingestellt; das
erste können vdr kaum exakt beweisen, das zweite müßte erst bewiesen
werden; es bringt uns diese Spekulation nicht weiter. Ist einmal die
pathologische Haltung eingetreten, dann genügt eine vorübergehende
Fruchtwasserschwankung' — so erklärt sich die Verschiedenheit der
Angaben von Fruchtwassermangel und Fruchtwasserfülle —, um die
Luxation einzuleiten; steht aber das Glied einmal in Strecksteilung
fest, dann reicht das eigene Wachstum sicher aus, um die Deformität
zu verstärken.
So glaube ich denn sagen zu dürfen, daß einerseits allge-
^) Blanc, zitiert nach W e h s a r g.
Digitized by
Google
lieber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten.
575
meine Schlaffheit des Bandapparates, anderseits mechanische Momente
(Zwangslage und Fruchtwassermangel) die Entstehungsbedingungen
der kongenitalen Kniegelenksdeformitäten sind.
Mit dieser Betrachtung ist das Interesse, das der vorliegende
Fall beansprucht, noch nicht erschöpft. Eine kongenitale Luxation
des Capitulum radii bei einem Neugeborenen oder Fötus ist bisher
noch nicht beobachtet worden.
Diese Gelenkdeformität hat überhaupt eine wechselvolle Ge*
schichte. Zuerst in Dupuytrens^) Vorträgen erwähnt, wurde das
kongenitale Vorkommen der Luxatio capituli radii bald von Mal-
g a i g n e^) angezweifelt, bis B e s s e 1 - H a g e n^) sie zum Gegenstand
einer eingehenden Betrachtung machte und wieder in ihre Rechte
einsetzte. Er gibt zwar an, daß die Mehrzahl der als kongenital bezeich-
neten Luxationen des Radiusköpfchens doch wohl im frühen Kindes¬
alter erworben sein dürften, insofern grade dieser Knochen infolge
der geringeren Dimensionen, die das Radiusköpfchen im Verhältnis zur
Diaphyse in den ersten Lebensjaliren besitzt, und der mehr lockeren
Verbindungen des Gelenkapparates der Entstehung der Luxation an
sich schon günstig ist, geschweige denn, wenn Anomalien in der Weite
der Gelenkbänder hinzukommen, wie sie gelegentlich beobachtet worden
sind. Vor allem glaubt dieser Autor die Fälle von Adams als
nicht den kongenitalen Luxationen des Radiusköpfchens zugehörig aus¬
schließen zu müssen, er hält sie für allmählich entstandene Verrenkungen.
Das Mißverhältnis im Längenwachstum der beiden Vorderarmknochen
sieht er als keinen Beweis für ihre kongenitale Herkunft an, da es auch
eine Folge der Entlastung des Radius von dem wachstumhemmenden
Drucke des Humerus sein könne, also sekundär entstanden; eben¬
sowenig beweiskräftig sind Verwachsungen d^r Vorderarmknochen, sie
sprechen im Gegenteil für Fraktur^). Eine Epiphysenlösung ani
Dupuytren, zitiert nach Bessel-Hagen.
M a 1 g a i g n e, J. F., Die Knochenbrüche und Verrenkungen. Deutsch
von C. G. B u r g e r. Bd. 2. Stuttgart 1856. S. 631 zitiert nach Bessel-Hagen.
Bessel-Hagen, F., Ueber Knochen- und Gelcnkanomalien ins¬
besondere bei partiellem Riesenwuchs und bei multiplen kartilaginären Exostosen.
Archiv f. klin. Chir. Bd. 41 S. 420.
*) Drenkhahn teilte jüngst einen Fall von solch knöcherner Ver¬
bindung der beiden Vorderarmknochen bei einem 23jährigen Mann mit. Der
Vorderarm sei seit der Geburt in Pronationsstellung fixiert. Von Luxation er¬
wähnt er nichts. Der Patient war olme Kunsthilfe geboren. Zeitschr. f. orthop.
Chir. Bd. 11.
Digitized by CjOOQle
576
Max Meyer.
proximalen Ulnaende kann zudem ein Zurückbleiben des WacKstuiu
dieses Knochens zur Folge haben und so, da die Ulna in fester Gelenk¬
verbindung mit dem Humerus steht, eine Luxation des Radiusköpfchen?
verursachen.
Dennoch gibt Bessel-Hagen für einige wenige Fälle dtn
kongenitalen Ursprung zu. Zwar vermißt er noch den schlagendsten
Beweis: das Vorkommen der Luxation bei einem Neugeborenen (xier
Fötus. Den erbringe ich mit vorliegendem Fall.
Sodann teilt der Autor die kongenitalen Verrenkimgen Bä-
diusköpfchens nach ätiologischen Gesichtspunkten in primär unc
sekundär entstandene ein. Denn er nimmt mit Recht auf Grund de:
vorhandenen Beobachtungen keine einheitliche Aetiologie an.
Die primären Luxationen denkt er sich entstanden infolge fehler¬
hafter Anlage. Es wurde schon oben betont, daß mitunter eine Kapsel-
erschlafFung besteht, wir wollen es auch hier dahingestellt sein lassen,
ob diese aus einem Vitium primae formationis entspringt. Als sekundäres
Moment könnte dann, wie bei der Kniegelenksluxation, eine path«>
logische Haltung in utero hinzukommen. Ich muß sagen, das kasuistisclie
Material ist eigentlich noch zu gering, um hier so sichere Schlüsse wie
bei der Kniegelenksluxation zu gestatten. Ich beschränke mich daher
auf die Mitteilung der Tatsachen.
Zu den primären Luxationen zählt Bessel-Hagen die
Beobachtung von Se r v i e r i). Dieser beobachtete bei einem 21 jährigen
Soldaten, der allerdings während des Erieges ausgehoben worden war,
eine Verlagerung des Radiusköpfchens gemeinsam mit einer kongenitalen,
durch Vererbung vom Vater auf den Sohn übergegangenen Patellar-
luxation und einem gleichfalls angeborenen Klumpfuß. Der Vorderarm
wich beiderseits nach außen ab, während das Radiusköpfchen nach
hinten vorsprang und erst bei der Beugung unter das Gelenkende des
Humerus hinunterwanderte; zugleich beschränkte es durch seinen
fehlerhaften Sitz Pronation und Supination in hohem Maße. Beiläufig
erwähnt Servier eine ähnliche weniger gut ausgesprochene Defor¬
mität bei einem anderen Manne.
Ebenso ist der von Mitscherlich2) beschriebene Fall hierher
zu rechnen. Bei einem 6jährigen geistig zurückgebliebenen Mädchen
^) Gazette hebdomadaire de med. et de chir. Paris 1872. T. IX p. 214.
2) Mitscherlich, A., Ein Fall von angeborener Verbildung beider
Ellbogengelenke. Archiv f. klin. Chir., herausgeg. von v. Langenbeck, Bd. 6
S. 218.
Digitized by CiOOQle
Ueber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten.
577
fanden sich außer einem doppelseitigen angeborenen Klumpfuß und
Flexionskontrakturen an den Händen imd Fingern beide Arme im
Verhältnis zum übrigen Körper verkürzt und dabei ausgezeichnet durch
eine Luxation des Radiusköpfchens nach vorne, die ihrerseits mit einer
Beschränkung der Flexions- imd Pronationsbewegimgen imd mit hoch¬
gradigen Anomalien in der anatomischen Beschaffenheit der Gelenk¬
körper und ihrer Beziehungen zum Bandapparat verbunden war.
Die Literatur weist sonst keine einwandfreien Fälle primärer
kongenitaler Radiusluxation auf, so daß ich also als vierten Fall meine
eigene Beobachtung anfügen kann, die darum erhöhtes Interesse ver¬
dient, weil sie bei einem Fötus gemacht wurde. Damit ist zugleich,
wie schon oben bemerkt, der sicherste Beweis für das kongenitale
Vorkommen der Radiusluxation erbracht, der bisher noch ausstand.
Hier will ich nur die Vermutung aussprechen, daß die Lockerheit des
Bandapparates und pathologische Haltung die Bedingungen ihrer
Entstehung sind, zumal die Luxatio capituli radii auf der Seite sich
fand, auf der die ganze untere Extremität emporgeschlagen war. Diese
Annahme will ich nicht nur nicht verallgemeinert wissen, im Gegenteil,
vielmehr glaube ich, daß die Luxationen des Radiusköpfchens kon¬
genitalen Ursprungs keine einheitliche Aetiologie haben.
In einer zweiten Gruppe von Fällen nämlich ist die Deformität
sicher sekundär entstanden; sie muß ich der Vollständigkeit wegen
anführen.
Das Primäre ist in diesen Fällen nach Bessel-Hagen eine
Störung des normalen Wachstums an den Vorderarmknochen xmd zwar
kann sowohl eine Hemmung des Längenwachstums der Ulna als auch
ein vermehrtes Längenwachstum des Radius die Ursache der Luxation
des Radiusköpfchens sein. Zugleich wird hervorgehoben, daß diese
Wachstumsstörungen im Bereiche der Vorderarmknochen sowohl
während des intrauterinen als auch im postfötalen Leben sich geltend
machen können.
Humphryi) beobachtete an der Leiche eines Mannes mit
unbekannter Vorgeschichte links eine Dislokation des stark verbildeten
Radiusköpfchens nach oben auf das ebenfalls stark veränderte untere
Humerusende neben unnatürlicher Verbiegung des Radiusschaftes und
erheblicher Verkürzung der Ulna, deren distales Ende vollkommen
spitz war, rechts eine ähnliche Dislokation des Radiusköpfcheiis neben
Humphry zitiert nach Bessel-Hagon.
Digitized by CjOOQle
578
Max Meyer.
ankylotischer Verbildung von Radiiis und Ulna, welch letztere an ihr?r
distalen Epiphyse noch die normalen Beziehungen zu dem gleich langes
Radius bewahrt hatte. An beiden Seiten ist das Aufsteigen des Radius¬
köpfchens oflEenbar durch die imgleiche Entwicklung der beiden Vorder¬
armknochen verursacht worden; an dem einen Arme ist die Wach^
tumshemmung der Ulna die Folge eines Bildungsmangels an ihrer
distalen Epiphyse, an dem anderen die Folge frühzeitiger Verknöcherung
ihres proximalen Intermediärknorpels.
Offenbar eine analoge Entstehungsgeschichte haben zwei weitere
Fälle kongenitaler Radiusluxation; der eine ist von Devi 11 e der
andere von Senftleben^) mitgeteilt worden. In beiden Fällen
war da, wo an Stelle der Ulna nur ein weicher ligamentöser Strang zu
fühlen war, eine Einsenkung vorhanden, während der Radius in leichter
Krümmimg vom Ellbogen zur Hand verlief.
Bei einer Reihe von Fällen, die bislang zu den kongenitalen
Radiusluxationen gezählt wurden, bei denen auch ungleiches Wachstum
der beiden Vorderarmknochen die Ursache der Luxation war, glaubt
Bessel-Hagen eine postfötale Entstehung der Verrenkung selbst
annehmen zu müssen, wenn auch kongenitale Anomalien oder Bildungs¬
fehler die Grundlage bilden, insofern sie auf das Wachstum von Radius
und Ulna von Einfluß sind.
Zwei Skelettanomalien finden wir in ursächlichem Zusammenhang
mit diesen Luxationen des Radius: den partiellen kongenitalen Riesen¬
wuchs und die Exostosis cartilaginea multiplex.
Bei einem 17jährigen Mädchen mit partiellem kongenitalem
Riesenwuchs, der im wesentlichen nur die oberen Extremitäten, doch
nicht alle zu dem Aufbau der rechten Extremität vereinigten Teile in
gleicher Weise betraf, beobachtete Bessel-Hagen folgende für
uns interessante Veränderungen: links war die Ulna 2,5 cm länger als
der Radius, rechts der Radius wenig länger als die Ulna, dort fand sich
die Luxation des Radius nach hinten, das luxierte Köpfchen in der
Höhe des Olecranon. Der Autor nimmt in diesem Falle an, daß die
postfötale Entstehung der Luxation trotz der entgegengesetzten An¬
gabe der Patientin hier wahrscheinlich ist, gibt indes die Möglichkeit
einer intrauterinen Entstehung bei Riesenwuchs zu.
Die zweite Skelettanomalie ist die Exostosis cartilaginea multiplex,
in deren Rahmen Bessel-Hagen einerseits bei seinen 13 Fällen
D e V i 11 e zitiert nach Bessel-Hagen.
*) Senf t leben zitiert nach Bessel-Hagen.
Digitized by
Google
lieber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten.
579
ausnahmslos auch Hemmung des physiologischen Knochenwachstums
fand, wie sie neuerdings von Ribbert in seiner Geschwulstlehre
auch angegeben wird, anderseits die Luxation des Radiusköpfchens
eine öfter wiederkehrende Krankheitsäußerung darstellt, was der Autor
aus eigener Beobachtung mit 2 Fällen belegen kann. Die Verrenkung
war zurückzuführen auf Hemmung des Längenwachstums der Ulna.
Nun ist Bessel-Hagen der Ansicht, daß in diesen Fällen d’e
Luxation postfötal entstanden sei. Wir können aber heute sagen, daß
die Wachstumshemmungen des Skeletts nicht die Folgen des Vorhanden¬
seins der Tumoren sind, wie es Bessel-Hagen selbst schon ver¬
mutet hat. Einerseits finden sie sich an Knochen, die von Neubildungen
frei sind, anderseits verschonen sie Knochen, die mit Exostosen reichlich
besetzt sind, so daß beide Erscheinungen als gemeinsamer Effekt einer
Entwicklungsstörung aufgefaßt werden können (Ribbert). Nehmen
wir hinzu, daß die Genese der Exostosen nachweislich bis in das fötale
Leben zurückgeht und nicht mit Rhachitis in Zusammenhang steht,
so wäre es auch denkbar, daß die Wachstumshemmungen schon zur
selben Zeit sich geltend machen und in utero die Luxationen des Radius
veranlassen. Damit stimmt die Beobachtung Münterßi) überein,
der bei Vater und Sohn neben multipler kartilaginärer Exostosen¬
bildung einwandfrei durch die Ananmese nachgewiesene kongenitale
Luxation des Capituliim radü gefunden hat. Die Ulna war im Längen¬
wachstum zurückgeblieben gegenüber dem reichlich mit Exostosen
besäten Radius.
Guerin-Valmale und Jeanbran2) teilten jüngst noch
einen Fall von Mißbildung beider Hände mit bei einem 15 Monate alten
Kinde, das außerdem noch beiderseitige Klumpfußbildung und eine
trichterförmige Einziehung der Steißbeingegend auf wies. Diesen Fall
füge ich hier an, weil auch hier eine Anomalie des Knochenwachstums
die Ursache der Luxation ist. Das Hauptinteresse konzentriert sich auf
die eigentümlichen Deformitäten an beiden Händen. Es handelt sich
um beiderseitige Klumphandbildung, welche ihre Erklärung in der
eigentümlichen Bildung des Radius findet. Dieser ist nach vom auf
^) M ü n t e r, Otto, Kongenitale Luxation des Radiusköpfchens mit Ver¬
erbung. Inaug.-Diss. Erlangen 1899.
Guerin-Valmale et Jeanbran, Dissection d’une main-bote
cubitale pure avec luxation congenitale du coude. Montp. med. Nr. 11 zit. nach
den Jahresberichten über die Leistungen und Fortschritte in der gesamten Me¬
dizin 1900.
Digitized by C^ooQle
580 Max Meyer. lieber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten.
den Humerus luxiert und in seiner ganzen Ausdehnung nach innen
gekrümmt. An seinem unteren Diaphysenende ist er stark verdickt,
so daß die untere Epiphysenlinie schräg von innen oben nach unten
außen verläuft. Somit setzt sich die ebenfalls stark vergrößerte Epi¬
physe schräg an die Diaphyse an. Hieraus resultiert die eigentümliche
Stellung der Hand, welche, im übrigen normal gebildet, stark ulnarwärts
abduziert steht, aber nicht flektiert ist. Die Ulna ist ebenfalls nach
innen verbogen, nach hinten subluxiert und weist ein stark vergrößertes
Olecranon auf. Der Humerus zeigt einen stark verdickten Schaft;
an Stelle des Caput humeri befindet sich eine zylinderförmige, ungleich¬
förmige Auftreibung, während das distale Humerusende entsprechend
der Olecranonvergrößerung ebenfalls stark verbreitert ist.
Aus den vorstehenden Ausführungen geht zur Genüge hervor,
daß die kongenitalen Luxationen des Radius noch in manchen Punkten
unaufgeklärt sind. Weniger gilt das für die angeborenen Kniegelenks-
Verrenkungen, wenn auch nicht verschwiegen werden kann, daß auch
hier noch manches der Untersuchung bedarf. Vor allem verdient —das
beweist der vorliegende Fall — die Schlaffheit des Bandapparates
Beachtung. Jedenfalls ist eme Vermehrung des kasuistischen Materiales '
mit besonderer Berücksichtigung dieser Frage erwünscht.
Digitized by C^ooQle
XXXIII.
(Aus der chirurgischen Abteilung des Kinderkrankenhauses „Kron¬
prinzessin Lovisa*', Stockholm.)
Die operative Behandlang von Tnberknlose im
Scbenkelhals.
Von
Dr. Henning Waldenstrom, 1. Assistent.
Mit 2 Abbildungen.
In aller Kürze will ich hier die operative Behandlung der tuber¬
kulösen Collumherde besprechen, um später ausführlicher auf diesen
Gegenstand zurückzukommen.
Dank dem freundlichen Entgegenkommen meines Chefs, Dr. B.
Floderus, habe ich 60 Fälle von Tuberkulose im und um das Hüft¬
gelenk behandeln können. In 18 derselben fand sich bei der Röntgen¬
untersuchung ein isolierter primärer Herd im Collum femoris innerhalb
des Gebietes der Kapsel, Alle diese Fälle zeigen eine Anamnese, die
mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hindeutet, daß die Tuberkulose
im Collum außerhalb des Gelenkes begonnen hat und erst später, ver¬
mutlich durch Perforation, zu einer Coxitis, wo eine solche vorlag,
Anlaß gegeben hat. (Der Einfachheit halber verstehe ich hier überall
unter Coxitis eine Tuberkulose im Gelenk.)
Mein Aufsatz will ein Beitrag zur vorbeugenden Behandlung der
Coxitiden sein. Der äußerst langsame Verlauf der ELrankheit und die
bösartigen Symptome, unter denen sie auftritt, machen eine effektive
prophylaktische Behandlung vielleicht noch mehr wünschenswert als bei
anderen Blankheiten. Daß die Coxitiden in diesen Fällen aus isolierten
Herden im Collum entstanden sind, scheint mir, soweit ich die Sache
durch genaue Röntgenphotographien beurteilen kann, sicher. Nur
in 3 Fällen ist der Patient zur Behandlung gekommen, ehe sich der
Digitized by L^ooQle
582
Henning Waldenström.
Herd zu Coxitis oder Zerstörung des Caput weiter verbreitet hatte.
Von diesen sind 2 durch die Operation vollständig ohne Funktions¬
störung wiederhergestellt worden, l hat eine gelinde Coxa vara bekommen,
ist aber mit sehr guter Funktion geheilt. 10 von den anderen Fällen
hätten wahrscheinhch in gleicher Weise ohne Funktionsstörung geheil:
werden können, wenn sie nur rechtzeitig zur Behandlung gekommen
wären, d. h. gleich nach Anfang des Hinkens. Denn das gelinde, zeit¬
weilige Hinken, das sich bei Anstrengung einstellt, meistens bei Ruhe
schwindet und wochen-, ja monatelang vollständig ausbleiben kann,
ist vielleicht das einzige Symptom von dem Eintritt der großen nach-
herigen Zerstörung. Erst wenn Aerzte und Eltern dies einsehen, kann
man hoffen, die Anzahl derer, die während des ganzen Lebens die Folgen
einer geheilten Coxitis tragen müssen, vermindern zu können.
Meine Fälle geben Beispiele von schnell destruierenden Herden
mit Coxitis (6 an der Zahl). Drei derselben sind konservativ behandelt
worden. In 3 Fällen, allen mit Abszeß (2 derselben mit Fisteln), mußte
eine besonders eingreifende Resektion mit Kapselexstirpation vorge¬
nommen werden.
Von sehr chronisch verlaufenden Herden mit gelinder oder gar
keiner Coxitis habe ich 7 Fälle aufzuweisen. In diesen Fällen war
der Epiphysenknorpel durchbrochen und das Caput infiziert worden,
weshalb eine operative Beseitigung ohne Beschädigung des Gelenks
zu jenem Zeitpunkt für unmöglich gehalten wurde.
Die übrigen 5 F ä 11 e sind nach der unten beschriebenen Methode
operiert worden, außer einem kleinen Knaben, bei dem ein Abszeß
die vordere Partie des Collum perforiert und einen großen Teil der Peri¬
pherie des Collum zerstört hatte, warum es mir am geeignetsten schien,
vom vorderen Teil des Collum aus zu operieren. In diesem Falle war
indessen das Collum zu schwach, den Zug der Muskeln aushalten zu
können, weshalb sich, wie oben erwähnt, eine gelinde CoxavarasteUung
mit sehr guter Funktion und ohne Coxitis entwickelte. Die drei zuerst
operierten Fälle von Collumherden ohne Coxitis sind während 17, 15
bezw. 3^/2 Monate beobachtet worden, und bei allen ist der Gang aus¬
gezeichnet, und kein Symptom der Coxitis hat sich entwickelt.
Die Fälle geben Beispiele von schnell destruktiv und chronisch
verlaufenden Tuberkulosen, ohne Möglichkeit, dies bei der ersten
Untersuchung auf irgend eine Weise festzustellen. Eine Beobachtungs¬
zeit von 1 Monat ist, selbst bei schnell vorrückenden Zerstörungen,
meistens zu kurz, um die Tendenz der Entwicklung zu zeigen. Uebrigens,
Digitized by C^ooQle
Die operative Behandlung von Tuberkulose im Schenkelhals. 583
wie viel kann sich in einem Monat ereignen! Eine Perforation in das
Gelenk hinein, von Coxitis begleitet, kann leicht entstehen, ohne irgend
eine Wamimg bei der ei*sten Untersuchung. Außerdem ist ja jede
Iconservative Therapie ziemlich machtlos, wenn es sich darum handelt,
das rasche Vordringen der Tuberkulose schnell zu hemmen. Ist eine
Coxitis erst einmal eingetreten, so ist mutmaßlich ein vollständiges
Wiederherstellen aller Funktionen des Hüftgelenks unmöglich.
Es scheint mir daher das einzig Richtige, nach einer genauen
Untersuchung jeden isolierten Collumherd herauszunehmen, ohne das
Gelenk zu verletzen, und zwar aus folgenden Gründen:
1. Es gibt keine Methode, in kurzer Zeit zu bestimmen, ob die
Tuberkulose stillsteht oder zunimmt.
2. Der Herd im Collum liegt so, daß er bei seinem Vorrücken
nach allen Richtungen, außer gegen den Trochanter major, nur einen
kurzen Weg zurückzulegen hat, um in das Gelenk hineinzukommen.
3. Ist er erst in das Gelenk hineingelangt, so wird die Destruktion
entsetzlich. Das Caput und der größere Teil des Collum werden zer¬
stört: eine Krankheit, die sicherlich mehrere Jahre dauert und in den
meisten Fällen zu einem Abszeß Anlaß gibt, der lebensgefährlich werden
kann.
Bei diesen isolierten Collumherden haben die Kinder in meinen
Fällen unbehindert laufen und springen können. In den operierten
Fällen hat die Belastung auch keine Krümmung des Collum verur¬
sacht. Vor der Operation habe ich daher gewußt, daß das Collum
kräftig genug ist, unter den schwierigsten Umständen (z. B. beim
Springen) das Körpergewicht zu tragen. Ebenfalls ist es möglich
zu bestimmen, ob der Herd in das Gelenk hinein perforiert und Coxitis
hervorgenifen hat oder nicht. Zu den Gefahren der Operation gehört
natürlich die Möglichkeit, die Kapsel und die reine Wunde mit Tuber¬
kulose zu infizieren.
Die Operation muß daher geschehen:
1. mit größtmöglicher Schonung des Knochenmaterials, speziell
derjenigen Teile, die mehr als andere die Haltbarkeit des Collum be¬
dingen; also besonders der Peripherie;
2. ohne die Kapsel zu verletzen;
3. ohne den Inhalt des Herdes (soweit möglich) mit der Wunde
in Berührung kommen zu lassen.
Digitized by C^ooQle
584
Henning Waldenström.
Durch die unten beschriebene Operationsmethode, die zuerst i.
Leichen wiederholt ausgeführt wurde, habe ich gesucht diese Am::
derungen zu erfüllen.
Die Operation erfolgt mit temporärer Resektion des Trochan:
major. Wie aus dem Operationsbericht ersichtlich, müssen die Or-
rierten, sobald der Trochanter gut festgewachsen ist, ein fast ebe'r
tragfähiges Collum haben wie vor der Operation. Dies halte ich für se:
wichtig. Mit welcher Geschwindigkeit Knochen nach Tuberku]>
neugebildet wird, ist nicht bekannt; man weiß nur, daß es sehr langsä~
vor sich geht. Allem Aiischein nach muß es schneller gehen, wenn q-:
Herd beseitigt ist; sobald aber das Collum seiner Tragfähigkeit beraut
ist, wird es jedoch eine sehr mißliche Sache, festzustellen, wann si:
der Patient auf das operierte Bein stützen kann. Operiert man der unten
dargelegten Methode gemäß, so muß sich der Patient etwa 2 SIoDatr
nach der Operation auf das Bein stützen können ohne die Gefahr, eine
Belastungsdeformität zu erleiden, die dann unheübar wird.
Selbst wenn angeraerkt werden kann, daß diese Herde durcL
konservative Behandlung auszuheilen sind, gibt es meines Erachten'
keinen Gnmd, sich auf eine unsichere Behandlung mit so großen Ge¬
fahren einzulassen, zumal da die Gefahr der Operation sicher äußenr
gering ist. In meinen Fällen ist alles gut gelungen, ohne irgendwelche
Komplikationen. Aber selbst wenn die Gefahr sich in der Zukunft
größer erweisen sollte, als sie sich bisher gezeigt, so ist sie zweifellcsf
ungemein viel kleiner als die Gefahr einer fortschreitenden Tuber¬
kulose in der Hüfte. Ganz davon abgesehen, daß diese Operation ein
ideales Resultat leistet, während dies bei der konservativen Behandlung
nur selten der Fall ist. Unter meinen Fällen befindet sich einer, wo
das Gelenk dauernd frei erscheint, wo aber die Tuberkulose trou
der konservativen Behandlung innerhalb des Knochens fortschreitet
und jeden Augenblick zu einer Coxitis Anlaß geben kann. Dieser Fall
ist nicht operiert worden, weil das Caput infiziert ist.
Meine Darstellung hat bisher die isolierten Collumherde ohne
Coxitis berührt. Hinreichende Beweise dafür, daß die Behandlung
derselben nur eine rein operative werden kann, glaube ich vorgebracht
zu haben. Ich will aber noch einen Schritt weiter gehen. Ein jeder,
der Gelegenheit gehabt hat, den Verlauf einer reinen synovialen Coxitis
mit einer solchen, von einem größeren Knochenherd ausgegangenen, zn
vergleichen, kann nicht umhin, sich über den gelinderen Charakter
der ersteren zu verwundern, vorausgesetzt natürlich, daß beide
Digitized by C^ooQle
Die operative Behandlung von Tuberkulose im Schenkelhals. 585
vom Anfang der Coxitis an rationell behandelt werden. Die erstere
bietet eine recht bequeme ambulatorische Behandlung und heüt mit
einer normalen oder jedenfalls einer für das Gehen völlig ausreichenden
Beweglichkeit in verhältnismäßig kurzer Zeit aus (2—3 Jahre). Die
letztere kann alle möglichen Komplikationen haben, Schmerz, Abszeß,
begleitet von starker Herabsetzung des Gesamtzustandes des Patienten,
Fieber u. s. w., und heilt in vollkommen unbestimmbarer Zeit aus,
mitunter erst nach Eesektion. Sie heilt im besten Falle mit steifem
Gelenk in guter Stellung imd einer Verkürzung des Beines aus, die
ziemlich gering sein kann, die sich aber bei Beginn der Behandlung nicht
berechnen läßt und daher auch sehr groß werden kann.
Angesichts dieser Tatsachen scheint es berechtigt zu versuchen,
eine solche Coxitis mit großem Knochenherd in eine solche ohne Knochen¬
herd zu verwandeln; eine ostale Coxitis zu einer nur synovialen zu
machen.
In 2 Fällen habe ich dies versucht. Natürlich muß die Coxitis
in diesen Fällen alle Zeichen für eine kurze Dauer haben. Der eine
Fall ist ein Knabe von 7 Jahren mit einem kolossalen Herd im Collum
mit Sequestern und Perforation in das Gelenk hinein abwärts-vorwärts,
der andere Fall ein Emabe von 14 Monaten mit einem großen Herd
im Collum und Perforation in das Gelenk hinein aufwärts. Bei
beiden wurde der Herd nach der unten beschriebenen Methode ex-
stirpiert. Darauf wurde die Kapsel mit einem feinen Trokar punktiert
und Jodoformglyzerin in das Gelenk eingespritzt; erst nun war die
Kommunikation zwischen Gelenk und Knochenherd ersichtlich. Voll¬
ständige Sutur wie gewöhnlich.
Die Krankheit wird nun wie eine gewöhnliche synoviale Coxitis be¬
handelt. Der ältere Patient geht mit Krücken und hohem Schuhe an dem
gesunden Fuß und Gips über Hüfte und Knie. Der jüngere liegt im
Gipsbett mit Extension am Bein. Das Collum war bei dem Kleinen
so schwach, daß man es für das behutsamste hielt, Extensionsbehandlung
anzuwenden. Das Befinden beider ist gut; da sie aber erst vor kurzem
operiert sind, kann man über ihr künftiges Schicksal noch nicht ent¬
scheiden.
DieOperation,
Am Tage vor der Operation wird ein hinteres Gipsbett angefertigt
in starker Abduktionsstellung, um beim Anbringen das Ziehen der
Muskeln am Trochanter aufzuheben. Das Bett wird gut getrocknet,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Fand. 38
Digitized by CjOOQle
586
Henning Waldenström.
montiert und während der Operation erwärmt gehalten. Das Eii.
wird in Eztensionsverband gelegt, wenn anzunehmen ist, daß ol
C ollum durch die Operation erheblich geschwächt werden wird.
Am Abend vor der Operation wird ccm Digalen per •:
gegeben.
Am Morgen darauf ist die Dosis im Bedarfsfall wiederholt wonk:
Narkose mit Aether tropfenweise.
Gleichzeitig mit dem Hautschnitt wird physiologische Kochsab
lösung subkutan an der Brust gegeben.
Der Patient liegt auf der gesunden Seite mit dem Bein etv^
gekrümmt in der Hüfte. Ein Eissen stützt den Kücken. Der Um
schnitt ist ein Winkelschnitt und beginnt vorne am hinteren Kacd
Fig. 1.
Fig. 2.
des M. t e n s o r f a s c., etwas unterhalb der Spina i 1. a n t. s u p..
verläuft gerade hinter dem vorgenannten Muskel von hier im Bog^u
2—4 cm unterhalb der Trochanterspitze schräg nach hinten in dei
Richtung des Glutaeus max. Die Fascia lata vorne abwärts
und der M. glutaeus max. hinten werden in gleicher Richtuii^
durchgeschnitten (Rydygiers Schnitt) und aufwärts gehoben
Stumpf imd zum Teil mit Hüfe einer Schere wird der M. t e n s o r
fase, vom M. g 1 u t. m e d, hinimter auf den Trochanter zu losgel^.
Hinter dem Trochanter wird das stets hier vorkommende feste fett¬
haltige Bindegewebe durchgeschnitten. Die hinteren Ränder der
Glut, med. und min. werden losgelöst. Eine Rachenzange oder
dergl. wird von hinten zwischen dem Glut. min. und der Kapsel
eingeführt. Diese arbeitet stumpf abwärts und löst den Glut. min.
Digitized by L^ooQle
Die operative Behandlung von Tuberkulose im Schenkelhals. 587
von der Kapsel. Da sie stark aneinander befestigt sind, werden hierbei
einige Muskelfasern zerrissen. Die Bachenzange wird zwischen den
Glutäen und dem Tensor herausgeführt. Eine schmale Säge wird in
die Zange eingesetzt und durch die geöffnete Spalte zwischen Trochanter
und Collum, gleich lateral von der Kapsel, gezogen. Das Sägengestell
wird angebracht und das Sägen beginnt, nachdem das Periost und der
M. vastus ext. durchgeschnitten sind, wo die Säge herauskommen
soll. Von der lateralen Corticalis am Femur laufen in gleicher Höhe
mit dem Trochanter minor spongiöse Balken, die in den Trochanter
major ausstrahlen. Ungefähr in dieser Sichtung läuft die Säge. Beim
Sägen wird der möglich größte Teil vom Trochanter genommen, um
das Elnochenmaterial, das von der folgenden Bohrung zerstört wird,
so viel wie möglich zu verringern. Der Trochanter mit seinen Muskeln
wird aufgehoben. Ein zylindrischer Trepan von 1 cm Durchmesser
wird in der Richtung des Collum eingesetzt. Unter genauer Kontrolle
der Finger der linken Hand rings um das Collum wird an den Herd
herangebohrt, ohne irgendwo die Peripherie zu erreichen.
Ein steriles Gummituch, größer als die Wunde und mit einem
Loch im Zentrum von gleicher Größe wie der Bohrer, bedeckt die Wunde.
Durch dieses Loch im Tuch imd dann in das Collum hinein wird ein
mit Gewinde versehener Knopf eingeschraubt. Derselbe besteht aus
einer kreisnmden Scheibe. Inmitten ist ein Loch ausgeschnitten, worin
ein runder, außen mit Gewinde versehener, hohler Zylinder fest¬
gelötet ist (siehe die Figur). Derselbe wird gut festgeschraubt, um das
Gummizeug, das ziemlich dick ist, gegen die Sägefläche anzudrücken.
Das Herausnehmen des Herdes beginnt vorsichtig mit kleinen Löffeln
und schmalen Gazestreifen. Die größeren Sequester verursachen oft
viel Mühe, zumal da man sehr behutsam Vorgehen muß. Die Wände
können äußerst dünn sein oder fehlen, ohne daß die klinische Unter¬
suchung einen Verdacht in dieser Hinsicht erweckt hat. Wenn alles,
was zu fühlen imd zu sehen ist, mit dem Löffel beseitigt ist, wird mit
einer Wundspritze, die an den Boden des Herdes hinuntergeführt wird,
genau gespült. Hierauf folgt sorgfältiges Auswischen. Der Knopf
und das Gummizeug, welche hindern, daß etwas nebenher kommt,
werden nun weggenommen, und die Höhle wird mit der Stimlampe
genau imtersucht. Für die feinere Reinigung eignet sich besonders ein
Löffel mit vorwärts gebogenem Stiel und dem scharfen Löffelrande
oval quer gestellt. Um die Wände vollständig imd ohne Schädigimg
reinzumachen, bedarf es kleiner Löffel mit schmalem Stiel in verschie-
Digitized by L^ooQle
588 Henning Waldenström. Die operative Behandlung von Tuberkulose etc.
denen Krümmungen. Die Wände werden nun von tuberkulösen Mem- ;
branen befreit, imd der Knochen wird vorsichtig, ohne das merklich etwis j
von dem gesunden Knochen weggenommen wird, reingekratzt. Wo äcli
der Herd nach der Oberfläche durchgefressen hat, wird in gleicher |
Weise eventuell bloßgelegtes Periost gereinigt. Die äußerst sorgfältife j
mechanische Reinigung hat den Zweck, alles tuberkulöse Grewebe zü *
beseitigen, und das nachher eingegossene Jodoformglyzerin soll nach- '
helfen, wenn dies nicht ganz der Fall gewesen sein sollte. Das Gummi- i
zeug und der Knopf, welche gekocht worden sind, werden wi^ei
angebracht, die Höhle wird ein paarmal gespült und ausgewischt,
worauf das Zeug und der Knopf abgenommen werden.
Die Hände dürfen nicht in Berührung mit dem Inhalt des Herdes
kommen; die Muskulatur ist mit Kompressen genau zu bedecken,
wenn das Gummizeug entfernt ist. Die Gelenkkapsel wird mit Augen
imd Händen genau untersucht unter gleichzeitigen Bewegungen im
Gelenk. Wenn dieses sich nun als gesimd herausstellt, wird in die '
Höhle 5—10 ccm lOprozentiges Jodoformglyzerin gegossen. Der Rest der j
Höhle mag vollbluten. Dies gibt vielleicht die kräftigsten Granulationen. I
Einige Monate nachher zeigt das Röntgenbild deutlich, wie das Jodofomi *
mitten darin zusammengebacken liegt. Mutmaßlich schießen die
Granulationen von beiden Seiten gleichmäßig vor, pressen das Jodoform
zusammen und resorbieren dasselbe nach und nach.
Der Trochanter wird nun mit grober Seide oder Silber festgenäht.
Im übrigen wird das Periost an den Außenseiten des Trochanter mit
Katgut genäht. Ein kleiner Jodoformgazestreifen wird nach hinten |
gegen die Trochanterwunde eingelegt. Die Muskulatur wird mit Katgut ■
genau und vollständig genäht. Die Haut wird vollständig mit Silk-
wormgut oder fortlaufender Languettenaht mit Seide genäht. Ein j
harter Verband wird angelegt. I
4 Tage nach der Operation wird der Tampon herausgenommen
ohne Einlegen eines neuen. 8 Tage nach der Operation werden die
Suturen beseitigt, und die Wunde wird auf eine Woche mit Heft¬
pflaster bedeckt; die Spannung ist nämlich recht stark.
1
Digitized by C^ooQle
XXXIV.
(Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik in Wien. Vorstand:
Hofrat Prof. Dr. Frhr. A. v. Eiseisberg.)
Zur Frage der Therapie des angeborenen
Schiefhalses.
Von
Dr. 0. von Frisch, Assistent der Klinik.
Es war in den Neunzigerjahren, als die Erfolge in den üblichen
Behandlungsmethoden des muskulären Schiefhalses den modernen Be¬
strebungen der Chirurgen nicht mehr genügten und in rascher Aufein¬
anderfolge die Arbeiten von Mikulicz^) imd jene von Lorenz^)
erschienen. Beide Autoren bemühten sich, durch ihre Operations¬
methode die Möglichkeit einer Eezidive, welche bis dahin bei dem
Verfahren nach Stromeyer^) und v. V o 1 k m a n n^) nicht selten
war, auszuschalten. Mikulicz erstrebt dies durch totale oder
partielle Exstirpation des Kopfnickers, Lorenz dadurch, daß er an
die Tenotomie beider proximalen Ansätze ein energisches model¬
lierendes Eedressement anschließt. Diese Korrektur der Cervikal-
skoliose stellt den wesentlichen Teil des Eingriffes dar, weshalb man
schlechtweg die Methode als die orthopädische im Gegensatz zur
chirurgischen von Mikulicz bezeichnen kann.
Beide Operationen wurden späterhin modifiziert und vielfach
nach ihrem Wert verglichen. Eine Einigung, welcher von ihnen der
Vorzug gebührt, ist bisher nicht gelungen.
Zu der orthopädischen Methode, deren wesentlicher Bestandteil
im Eedressement des Schiefhalses liegt, gehört auch das Verfahren
Zentralbl. f. Chir. 1895, Nr. 1.
2) Zentralbl. f. Chir. 1895, Nr. 5 und Wiener klin. Wochenschr. 1881, Nr. 17.
Beiträge zur operativen Chirurgie 1833.
*) Zentralbl. f. Chir. 1885, Nr. 14.
Digitized by C^ooQle
590
O. von Frisch.
Langes^) (Ueberkorrektnr nach Durchschneidung des Kopfnicbr
am Warzenfortsatz), während die F öderische*) Operation (Mu^tc
plastik) sich der von Mikulicz anschließt.
Die von Gerdes^) (derselbe durchtrennte auch den Scaleri i
anticus) und von Wullstein^) (Verkürzung des gesunden Ko: ;
nickers neben der Tenotomie auf der kranken Seite) scheinen kacr
geübt zu werden, und lasse ich dieselben weiterhin ganz außer acl* ;
Eine im letzten Jahr von A b e r 1 e^) und kürzlich von H a u d e k- ;
erschienene Arbeit über den Gegenstand veranlaßten mich, die an dr*
V. Eiseisberg sehen Klinik behandelten Fälle von Schiefhals nac i
zuprüfen. Es sind dies 23, von welchen 14 nach F ö d e r 1, 7 na i
Lange und je 1 nach Mikulicz und Lorenz behandelt wurdfn^ 1
Von denselben gelangten 18 zur Nachprüfung (davon 10 nach F ö d e r l ;
6 nach Lange, 1 nach Mikulicz, 1 nach Lorenz) und zwar m i
einem Zeitraum von 1—9 Jahren nach der Operation. Es waren
16 Mädchen und 7 Knaben im Alter von 4 V 2 —23 Jahren, von welche: ,
3 im 5. Lebensjahre, 9 im 7., 3 im 9. bis 11., 6 im 13. bis 16., 2 im I n
und 23. operiert wurden. Ein spezieller Grund, weshalb hier dieee. }
dort jene Methode zur Anwendung gelangte, bestand nicht. Im all* 1
gemeinen wurden die schweren Fälle nach Föderl behandelt, dit
leichten nach vorhergehender Tenotomie redressiert.
Ohne auf die Details meiner Statistik, welche nichts Neues ent* i
halten, näher einzugehen, will ich betonen, daß von den 11 „operativ" I
behandelten und nachgeprüften mit Ausnahme eines Falles, alle eii ,
tadelloses Resultat gaben. Bei einem nach Föderl operierten Kind
vereiterte die Wunde (wahrscheinlich auf hämatogenem Wege von einem
am Rücken befindlichen Furunkel). Während in der ersten Zeit nach :
der Operation der Kopf vollkommen gerade war, stellte sich im Laufe |
der Zeit, offenbar durch Schrumpfung der Narbe, wieder eine leichte |
Neigung und Drehung des Kopfes ein. Auch bei der Nachprüfung der
6 orthopädisch behandelten Fälle fand sich ein Mißerfolg, insofern ab
bei einem nach Lange operierten Kind jetzt nach einem Jahre wieder
Hohmann, Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 13.
Arbeiten aus dem Gebiete der klinischen Chirurgie (Gussenbauer).
Wien und Leipzig 1903.
3) Zentralbl. f. Chir. 1907, Nr. 6.
*) Zentralbl. f. Chir. 1903, Nr. 33.
") Zentralbl. f. Chir. 1907, Nr. 28.
®) Zeitschr. f. orthopäd. Cliir. Bd. 20.
Digitized by CiOOQle
Zur Frage der Therapie des angeborenen Schiefhalses. 591
eine leichte Schiefstellung des Kopfes bemerkbar ist. Die Ueber-
korrektur war in diesem Falle 6 Wochen durch den Gipsverband fixiert,
worauf noch durch längere Zeit aktive und passive Uebungen vor¬
genommen wurden. Vielleicht hat in diesem Fall die Dauer der Nach¬
behandlung nicht genügt.
Wenn auch unsere Resultate eine kritische Beurteilung der
zwei sich prinzipiell gegenüberstehenden Behandlungsmethoden nicht
zulassen, so möge uns, die wir beides erprobt haben, gestattet sein,
auf Grund unserer Erfahrungen während der Behandlung das
Für imd Wider kurz gegeneinander zu stellen.
V. A b e r 1 e bricht eine Lanze für die orthopädische Behandlung
und sagt in seiner Schrift, wie folgt: „Wir gehen von dem Prinzip aus,
daß bei der Operation des Caput obstipum in allen Fällen das Haupt¬
gewicht auf die Korrektur der C e r v i k a 1 s k o 1 i o s e
zu legen ist. Das Redressement der Halswirbelsäule muß daher in
jedem Falle vorgenommen werden, ob es sich um einen leichten oder
schweren Fall von Schiefhals handelt. “ Eingeleitet wird das Redresse¬
ment durch die subkutane Durchtrennung des Stemocleidomastoideus;
eine offene Durchschneidung, insbesondere aber jede mit Substanz¬
verlust der Muskulatur (Mikulicz) verbimdene Operation erschwert
das Redressement bezw. macht dasselbe vollkommen unmöglich.
Dieser Meinung A b e r 1 e s ist entgegenzuhalten, daß bei den
operativen Methoden ein Redressement vollkommen wegfällt, worin
ein besonderer Vorteil des Verfahrens liegt. Daß hier jede aktive Kor¬
rektur unnötig ist, erhellt zur Genüge aus den Arbeiten von Miku¬
licz, aus dem Jahre 1895, von Stumme^) und B ö c k e r^) aus der
H o f f a sehen Klinik, welch letztere über 90 nach Mikulicz be¬
handelte Fälle verfügte. Auch in unseren Fällen wurde niemals ein
Redressement vorgenommen, nur in einigen Fällen ein Verband in
leicht überkorrigierter Stellung angelegt, meistens jedoch nach voll¬
endeter Operation nichts weiter als ein aseptischer Wund verband
gemacht. Die Nachprüfung ergab uns, ebenso wie den zuletzt ge¬
nannten Autoren, daß mit einzelnen Ausnahmen die Cervikalskoliose
nach relativ kurzer Zeit verschwunden war.
Es liegt etwas Unheimliches in jener forcierten Ueberkorrektur,
wobei der bei der Tenotomie nicht durchtrennte Rest der verkürzten
Weichteile mehr oder weniger gewaltsam zerrissen wird. Es sind auch
Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 9.
Zentralbl. f. Chir. 1907, Nr. 16.
Digitized by L^ooQle
592
O. von Frisch.
gerade genug üble Zufälle (darunter ein Todesfall!) dabei beobacht^
worden (Reiner, Riedl, H o h m a n n, F ö d e r 1). Es ist ni::
von der Hand zu weisen, daß bei dem Redressement infolge der Ve:
kürzimg, welche mit den Muskeln auch die Gefäße und Nerven d-
Halses durch die seit der Geburt bestehende Deformität erlitten kb:
müssen, diese lebenswichtigen Organe einer Belastungsprobe unte
zogen werden, welche nicht ganz im Verhältnis zur Schwere des Leide:
steht. Dieses Lorenz sehe Redressement erfordert weiters eine re::
komplizierte Nachbehandlung. Zunächst ist ein nicht leicht anr^
fertigender Gipsverband zu machen, der mehrere Wochen liegen bleib:
der die Leidenszeit des Kranken nicht minder als die Dauer der or
mittelbaren Behandlung hinauszieht, v. A b e r 1 e gibt fernerhin
Lederdiadem mit Gummizug, Lange eine Zelluloid-Stahldrat:
krawatte, die 14 Tage ohne Unterbrechung getragen wird und wahrer:
der weiteren 2—3 Monate nur zum Zwecke der Suspension der Patientei i
in der Glisson sehen Schlinge täglich auf V 2 Stunde entfernt wiri
Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Behandlungsweise weseni
lieh kostspieliger und zeitraubender ist als die Nachbehandlung naci
Resektion oder Plastik des Muskels. Dabei sind die Resultate
orthopädischen Verfahrens keinesfalls besser als jene anderen (B ö c ker
1. c.). Darin liegt eben das Wesentliche des operativen Verfahren'
daß durch Exstirpation bezw. durch Plastik ohne GewaltanwenduBf
jenes Moment ausgeschaltet wird, welches in der Regel die Rezidive
verursacht; die Muskelnarbe. Und deshalb bedarf es hier auch keines
Redressements, während bei der Lorenz sehen Methode der durct
trennte Muskel so weit und so lange von seinem Ansätze künstlich ent¬
fernt gehalten werden muß, bis der ganze Prozeß der Granulation
Organisation in das Stadium der Ruhe gelangt ist und das neugebildete
Bindegewebe als derber fibröser Strang seine Eigenschaft, zu schrumpfen
nur mehr in geringem, imschädlichem Maße besitzt.
Wenn die Anhänger der orthopädischen Methode ihr Verfahren
im Gegensätze zu Mikulicz-Föderl als einfach, rasch un'
leicht ausführbar bezeichnen, so ist demgegenüber die nicht selten
V 2 ständige Dauer des Redressionsmanövers, sowie die damit verbundene
Nachbehandlung entschieden als kompliziert zu bezeichnen, umsomek
als bei Mißlingen derselben der ganze Erfolg in Frage steht.
Der Hauptangriffspunkt aber, welchen die Orthopäden am
operativen Verfahren zu haben glauben, ist die Kosmetik.
chirurgischen Methoden wird zur Last gelegt, daß sie eine deutliche.
Digitized by C^ooQle
Zur Frage der Therapie des angeborenen Schiefhalses. 593
sichtbare, häufig in Keloid übergehende Narbe verursachen, insbesondere
aber, daß das Relief des Halses zerstört wird oder — mit den Worten
A b e r 1 e s — daß „an Stelle der einen unschönen Deformität ein
ebenso häßliches Loch erzeugt wird“.
Was zunächst die Hautnarbe betrifft, so ist es kaum jemals
nötig, den Schnitt länger als 3, höchstens 4 cm zu machen. Es gelingt
bei der Methode von Mikulicz, wie bei jener nach F ö d e r 1, leicht,
eine exakte Hautnaht anzulegen und es steht nichts im Wege, dieselbe
stets nach Halstedzu machen, wodurch die Narbe nach 1—2 Jahren
nicht mehr sichtbar ist.
Ein Keloid entwickelt sich anscheinend tatsächlich häufiger nach
der Operation eines Schiefhalses als nach anderen nicht angeborenen
Leiden der Halsgegend (in unseren Fällen 2mal). Aber schon Miku¬
licz hat darauf hingewiesen — was später wiederholt bestätigt wurde
— daß sich derartige Narben Verdickungen bereits nach einigen Wochen
oder Monaten wieder zurückbilden. Auch an der Klinik von E i s e 1 s-
b e r g wurde ein Gleiches beobachtet.
Daß durch die Mikulicz sehe Operation „an Stelle der un¬
schönen Deformität ein ebenso häßliches Loch erzeugt wird“, ist ent¬
schieden zu viel gesagt; zunächst kann ein eventuell bleibender Defekt
leicht duch die Kleidung verdeckt werden; weiters ist ein solcher nur
in einem Teile der operierten Fälle beobachtet worden imd zwar dann,
wenn durch die Totalexstirpation auch der sternale Teil des Kopf¬
nickers entfernt wurde.
Diesen einzigen Nachteil der Resektions¬
methode beseitigt vollends Föderl durch seine
Plastik. Er löst durch einen 3 cm langen Längsschnitt zwischen
beiden Portionen des Sternocleidomastoideus die clavikulare Portion
von ihrem Ansätze und der Unterlage bis zum Vereinigungspunkt mit
dem stemalen Teil ab. An dieser Stelle wird letzterer ebenfalls durch¬
trennt und nach der Aufrichtung des Kopfes, wodurch sich die beiden
Muskelquerschnitte einander nähern, werden dieselben durch einige
Nähte aneinander fixiert.
Durch die Erhaltung der stemalen Portion bleibt die Kon¬
figuration des Halses bestehen. Das Fehlen der clavikularen
Portion ist von untergeordneter Bedeutung, wie es sich bei ge¬
nauer Nachprüfung der Fälle Föderls und jener unserer Klinik
herausstellte.
Die eigens diesbezüglich befragten Patienten und Patientinnen
Digitized by L^ooQle
594
O. von Frisch.
unserer Klinik erklärten durchwegs, daß sie mit dem kosmetischen i
Erfolg vollkommen zufrieden seien. f
Eine leichte Abflachimg der seitlichen Halspartie war nur ba |
zwei besonders fettarmen, langhälsigen Individuen zu konstatieren |
Alle anderen hatten einen vollkommen geraden und |
symmetrischen Hals, und selbst für die Palpation war ein [
Defekt der clavikularen Portion nicht immer nachweisbar, offenbar
infolge von Organisation des durch die Operation im Bette des ver¬
lagerten Muskels gesetzten Hämatoms. ;
Dem Postulat der Vermeidung einer schrumpfenden Narbe m
durch die Methode ebenfalls Eechnung getragen; es gelingt auch in
den schwersten Fällen, die Muskelquerschnitte bei korrigierter Kopf ’
haltung ohne Spannimg miteinander zu vereinigen.
Daß eine Tendenz zur Eezidive nicht besteht, erhellt aus Föderlj
wie aus meiner Statistik. Ersterer verfügt über 14 Beobachtungen. |
nachgeprüft nach 1—4 Jahren. Unsere Statistik bezieht sich ebenfalb j
auf 14 nach dieser Methode behandelte Fälle; 10 von diesen konnten i
nachgeprüft werden und zwar:
1 nach 2 Jahren
2 „ 5 „
O Q
^ n
F ö d e r 1 verzeichnet durchwegs Dauerheilimgen imd auch vb
haben, mit Ausnahme eines Falles, in welchem infolge von Vereitcruni"
des Operationsfeldes wieder eine leichte Neigung des Kopfes eintra:
— ein Mißerfolg, welcher der Methode nicht zur Last gelegt werden
kann — tadellose Eesultate.
Noch einige Worte über die von Lange empfohlene Methode:
Dieselbe erscheint uns wesentlich ungefährlicher als die Stromeyer-
sehe (subkutan) Tenotomie, am proximalen Ansatz.
Zunächst macht Lange die Myotomie offen; auch Hegt in de:
Durchtrennung am oberen Ende des Muskels keine Gefahr der \er-
letzung einer größeren Vene. Die subkutane Durchschneidung
Jugulum, wofür v. A b e r 1 e eintritt, muß, wenn auch nicht in hohen
Grade, so doch als gefährlich bezeichnet werden. Sie geschieht ohne
Leitimg des Auges und kann bei Vorhandensein atypischer Gefäße
Digitized by CiOOQie
Zur Frage der Therapie des angeborenen Schiefhalses.
595
oder durch zu starkes Aufdrücken mit dem Messer sehr ernste Ver¬
letzungen zur Folge haben. Bei entspr^hender Asepsis ist es besser,
die vollkommen ungefährliche offene Tenotomie (v. V o 1 k m a n n)
auszuführen. Der Nachteil besteht in einer nur 5 mm längeren Narbe!
Eine größere Bedeutung der Lange sehen Methode liegt aber
darin, daß hier das Eedressement ein weniger gefährlicher imd gewiß
auch leichterer Eingriff ist, als nach der v. Volkmann sehen Teno-
tomie. Dieser Vorteil besteht, wie bereits H o h m a n n richtig betont,
darin, daß die Korrektur der Kopfstellung ziemlich imabhängig von
der Verkürzung der Fascien imd anderen unter dem Muskel liegenden
Weichteile vorgenommen werden kann. Es gelingt jedenfalls mit ge¬
ringerer Gefahr der Kompression der großen Halsgefäße, den Kopf
aus der pathologischen Neigung und Dehnung aufzurichten. Freilich
ist damit noch nicht die Cervikalskoliose korrigiert und muß, ähnlich
wie es Lange angibt, durch modellierende Gewalt eine Ueberkorrektur
erreicht werden. In diesem, Punkte der möglichsten Dislokation des
durchtrennten Muskels von seinem Ansatz, sowie in der Art und Weise
der Nachbehandlung stimmen beide Methoden ziemlich überein.
Lange respektiert die Gefahr der forcierten Ueberkorrektur;
er treibt dieselbe nicht so weit wie Lorenz, legt lieber eine besondere
Sorgfalt und Ausdauer in die Nachbehandlung. Darin imd in der eben
begründeten Zweckmäßigkeit der Myotomie am Warzenfortsatz unter¬
scheidet sich Langes Methode vorteilhaft von jener Lorenz’.
Unsere Fälle haben gezeigt, daß auch bei der F ö d e r 1 sehen
Operation eine Ueberkorrektur nicht notwendig ist. Ich empfehle das
Verfahren, insbesondere fürschwereFälle von Caput obstipum,
auf Grund imserer Resultate imd gebe ihm wegen der relativen Un¬
gefährlichkeit des Eingriffes und der Einfachheit der Nachbehandlung
vor den anderen in Frage stehenden Methoden, besonders der von
Lorenz angegebenen, den Vorzug. Bezüglich der Kosmetik ist
es durchaus zufriedenstellend, imd was den Dauererfolg betrifft, ge¬
bührt ihm der erste Platz.
Digitized by L^ooQle
XXXV.
l
t
Aus der Königl. Universitäts-Poliklinik für orthopädische Chimrp* :
in Berlin. (Interimistische Leitung: Prof. Dr. C. Helbing.) ■
Ein Beitrag zur Frage der Vererbung der
angeborenen Hüftgelenksverrenknng.
Von
Dr. Paal Glaessner,
orthop. Assistent der Königl. chirurgischen Universitätsklinik an der Charite
In der Frage der Aetiologie der angeborenen Hüftgelenksv^ ■
renkung stehen sich noch immer zwei Theorien gegenüber, deren Ver
treter in ebenso sachlicher wie scharfsinniger Weise ihre Argnmentc
vorgebracht und verteidigt haben: die Theorie, welche die genannte i
Deformität als durch einen primären Keimfehler entstanden auffaßt |
und die Theorie, welche die angeborene Hüftverrenkimg als eine intra¬
uterine Belastungsdeformität hinstellt. Nach dem Stande der Dinp .
scheint es aber, als ob keine der beiden Theorien heute in allen FäDen
eine zureichende Erklärung für das Entstehen dieser nun als durchaus
nicht so selten erkannten Deformität geben könnte.
Wenn die Beobachtung richtig ist, daß man sich in der Orthopädie
in neuerer Zeit mehr denn je der ätiologischen Forschung zu wendet,
so ist es gewiß berechtigt, alle Faktoren, die da fördernd wirken können,
wieder etwas mehr ins Licht zu rücken und auf Gnmd der Sichruii^
eines größeren Materials statistische Tatsachen mitzuteilen, besondere
dann, wenn die letzteren deutlich zu weiteren Fragen bezüglich der
Aetiologie auffordern.
Man hat sich vielfach mit der Tatsache abgefunden, daß die an¬
geborene Hüftgelenksverrenkung „gar nicht so selten“ vererbt wird.
Einige Autoren, Delanglade, Vogel, Blencke u. a., habeu
auf Grund eines größeren Materials diesbezüglich ziffernmäßige Angaben
gemacht, die auch von Wollenberg in seiner interessanten Arbeit
„Die Bedeutung der Vererbung für die Aetiologie der angeborenen i
Hüftgelenksverrenkung“ zusammengestellt sind. Auf Grund dieser 1
Digitized by C^ooQle
Ein Beitrag zur Vererbung der angeborenen Hüftgelenksverrenkung. 597
Mitteilungen nun wächst die Bedeutung der Heredität für die Aetiologie
der genannten Deformität ganz erheblich. Deshalb scheint es berechtigt,
diesen Daten neue hinzuzufügen, die umso objektiver sind, als sie sich
bei der Untersuchung eines zu ganz anderem Zwecke gesammelten
Materials ergeben haben.
In dem folgenden möchte ich mir nun erlauben, über alle Fälle
von echter Vererbung imd familiärem Auftreten der angeborenen Hüft-
gelenksverrenkimg Mitteilung zu machen, welche ich imter 200 Fällen
der genannten Deformität habe feststellen können. Das Material zu
dieser Untersuchung entstammt zum größeren Teil der Privatklinik
meines verstorbenen Chefs, Herrn Geheimrats H o f f a, zum Teil der
Kgl. Universitätspoliklinik für orthopädische Chirurgie in Berlin und
wurde ursprünglich zum Zwecke einer größeren Sammelforschung über
die in Rede stehende Deformität zusammengetragen.
Bezüglich der Einteilung der Vererbungsfälle folge ich dem Modus,
den Wollenberg in seiner oben zitierten Arbeit angewendet hat,
und unterscheide 1. eine echte Heredität (alle diejenigen Fälle, bei
denen die Vererbung der Luxation durch Vater oder Mutter oder einen
Blutsverwandten derselben zu stände kam) und 2. ein familiäres Auf¬
treten, bei welchem mehrere Kinder in einer bisher von der Luxation
freien Familie die Deformität mit zur Welt brachten.
Wir haben also unter unseren Fällen folgende Gruppierung zu
treffen:
1. Direkte Vererbung durch den Vater.
II. Indirekte Vererbung durch den Vater.
III. Direkte Vererbung durch die Mutter.
IV. Indirekte Vererbung durch die Mutter.
V. Erbliche Belastung von väterlicher und mütterlicher Seite.
VI. Erbliche Belastung von väterlicher oder mütterlicher Seite
(ohne diesbezügliche genauere Angabe).
VII. Rein familiäres Auftreten der Luxation.
I. Direkte Vererbung durch den Vater.
1. Bruno L., 28 Jahre, linkseitige Luxation. Der Vater hat eine
rechtseitige Luxation.
II. Indirekte Vererbung durch den Vater.
1. Ella K., 14 Jahre, doppelseitige Luxation. Ein Vetter des
Vaters hat eine einseitige Luxation.
Digitized by L^ooQle
598
Paul Glaessner.
2. Annie N., 6 Jahre, doppelseitige Luxation. Eine Tante de;
Vaters hat eine (?) Luxation.
3. Johanna K., SVa Jahre, linkseitige Luxation. Zwei Cousine:
des Vaters gleichfalls mit linkseitiger Luxation.
4. Gerda B., 3 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Tante (fc
Vaters hat eine Luxation.
5. Martha H., 13 Jahre, doppelseitige Luxation. Eine Schwebte:
des Vaters und ein älterer Bruder der Patientin haben eine Lnxatior.
6. Lucie St., 4 Jahre, rechtseitige Luxation. Eine Cousine un-
eine Stiefschwester des Vaters haben eine Luxation.
7. Hermann H., 26 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousb*
des Vaters hat auch eine Luxation.
8. Stephanie Fr., 13 Jahre, rechtseitige Luxation. Eine Gro3-
cousine und eine Enkelin der Schwester des Urgroßvaters (väterlicher
seits) haben eine Luxation.
9. Anna F., 14 Jahre, linkseitige Luxation. Die Urgroßmutter
väterlicherseits hat auch eine Luxation gehabt.
10. Käthe D., 20 Jahre, linkseitige Luxation. Zwei Nichten
Großvaters väterlicherseits hatten auch eine Luxation.
11. Julie CI., 3 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousine väter¬
licherseits hat eine doppelseitige Luxation.
12. Hilde B., 4 Jahre, doppelseitige Luxation. Ein Bruder de?
Vaters hat eine einseitige Luxation.
13. Nora v. E., 6 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousint
väterlicherseits hat eine Luxation.
14. Anneliese K., 5 Jahre, rechtseitige Luxation. Zwei Cousine:
des Vaters haben auch eine Luxation.
15. Johann A., 50 Jahre, doppelseitige Luxation. Die UrgroS^
mutter des Vaters und zwei andere Urenkel derselben hatten
Luxation, die Urgroßmutter eine doppelseitige.
III. Direkte Vererbung durch die Mutter.
1. Margarete H., 26 Jahre, linkseitige Luxation. Die Mutte:
hatte auch eine linkseitige Luxation.
IV. Indirekte Vererbung durch die Mutter.
1. Charlotte M., 6 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Tante de:
Mutter hatte eine Luxation.
2. Elfriede W., 6 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousine der
Mutter hatte eine Luxation.
Digitized by CjOOQle
Ein Beitrag zur Vererbung der angeborenen Hüftgelenksverrenkung. 599
3. Kurt P., 31/2 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousine der
Mutter (?) hatte eine Luxation.
4. Irene v. K., 2 Jahre, linkseitige Luxation. Zwei Brüder der
Mutter (als Kinder gestorben) hatten angeblich eine Luxation.
5. Else W., 7 V 2 Jahre, doppelseitige Luxation. Eine Großcousine
mütterlicherseits hat eine Luxation.
6. Max U., 4 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Schwester der
Mutter hat eine einseitige Luxation.
7. Eveline N., 37 Jahre, linkseitige Luxation. Ein Bruder der
Großmutter mütterlicherseits hatte eine Luxation.
8. Erna K., 11 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Schwester der
Mutter hat eine linkseitige Luxation.
9. Käthe H., 9 Jahre, linkseitige Luxation. Ein Vetter mütter¬
licherseits hat eine linkseitige Luxation.
10. Lori H., 12 Jahre, doppelseitige Luxation. Ein Bruder der
Mutter hat auch eine Luxation.
11. Gretchen G., 7^/2 Jahre, Luxation. Großmutter mütterlicher¬
seits hat auch eine Luxation.
12. Erna D., 177*2 Jahre, rechtseitige Luxation. Urgroßmutter
mütterlicherseits hatte eine Luxation.
13. Ruth B., 4 Jahre, linkseitige Luxation. Zwei Cousinen der
Mutter hatten auch eine Luxation, eine eine doppelseitige.
14. Else B., 5 Jahre, rechtseitige Luxation. Die Nichte der Gro߬
mutter mütterlicherseits hatte eine Luxation.
V. ErblicheBelastung von väterlicher und mütter¬
licher Seite.
1. Martha W., 10 Jahre, doppelseitige Luxation.
Maria W., 7 Jahre, doppelseitige Luxation.
Eine Cousine der Mutter und eine Nichte des Vaters hatten doppel¬
seitige Luxationen.
2. M., 18 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousine des Vaters
und eine Cousine der Mutter hatten Luxationen.
3. Paula H., 8 Jahre, linkseitige Luxation.
Erika H., 6 Jahre, linkseitige Luxation.
Eine Cousine des Vaters hat eine einseitige, eine Cousine der Mutter
eine doppelseitige Luxation.
Digitized by L^ooQle
Ein Beitrag zur Vererbung der angeborenen Htiftgelenksverrenkung. 601
Vergleichen wir diese Werte mit den Berechnungen Wellenbergs
aus dem in der Literatur mitgeteilten Material von 666 Fällen von
Vererbung der genannten Deformität, so stehen unseren 18,5 Proz. —
16,6 Proz. und unseren 2 Proz. — 4,3 Proz. Wellenbergs gegen¬
über. Diese Zahlen sprechen doch eine deutliche Sprache. Die in so
geringen Grenzen sich bewegenden Differenzen lassen immerhin ein
gewisses konstantes Zahlenverhältnis erkennen und beweisen,
1. daß das familiäre Auftreten der angeborenen Hüftgelenks¬
verrenkung weit seltener ist als die echte Heredität;
2. daß in mindestens 20 Proz. der Fälle von angeborener Hüft¬
gelenksverrenkung eine Vererbung nachzuweisen ist.
Vielleicht ist die Zahl von 20 Proz. noch etwas zu niedrig. Es
wrar nämlich auffällig, daß unter dem Material der Privatklinik sich
verhältnismäßig mehr Angaben über Vererbung fanden als irnter dem
poliklinischen Material. Die Erklärung dafür liegt nahe. Die minder¬
begüterten Klassen besonders in der Großstadt kennen oft eine ganze
Zahl ihrer weiteren Verwandten gar nicht und wissen oft noch weit
weniger von der gegenseitigen Aszendenz.
Auf die Bedeutung des Mißverhältnisses in den Zahlen für echte
Heredität und familiäres Auftreten für die Aetiologie der angeborenen
Hüftgelenks Verrenkung hat schon Wollenberg eingehend hin¬
gewiesen. Mir kam es nur darauf an, an der Hand eines größeren, völlig
vorurteilslos beobachteten und zum größten Teil schon vor der Wollen¬
berg sehen Publikation gesammelten Materials zu zeigen, daß minde¬
stens jeder fünfte Fall von angeborener Hüftgelenksverrenkung vererbt
ist und daß die Vererbung im wahren Sinne weit häufiger ist als das
familiäre Auftreten.
Diesen 20 Proz. von vererbten Fällen stehen aber noch immer
80 Proz. gegenüber, für welche uns, wie schon eingangs betont, keine
der beiden Theorien eine befriedigende Erklärung für die Entstehung
der Deformität zu geben vermag. Vielleicht lassen die geistvollen Aus¬
führungen LeDamanys über die Aetiologie der angeborenen Hüft¬
verrenkung die ganze Frage in einem neuen Lichte erscheinen. Jeden¬
falls stehen sie mit der Theorie des primären Keimfehlers durchaus
nicht in Widerspruch und auch die mechanischen Theorien kämen,
wenn auch in etwas anderem Sinne, zu ihrem Rechte.
Zeitschrift für orthopildische Chirurgie. XXII. Band.
39
Digitized by C^ooQle
I
XXXVI. 1
i
Zur Aetiologie und Pathologie des &enu recurvatm
und der Tibia recurvata. ;
Von j
Dr. Siegfried Peltesohn, [
1. Assistenten der König!. Universitäts-Poliklinik für orthopäd. Ghiriirgie zu :
(Direktor: Prof. Dr. G. Joachimsthal).
Mit 10 Abbildungen.
Je größer die kasuistische Literatur über das Genu recurvati: j
wird, umso deutlicher wird es, wie verschieden sich die Aetiokc \
dieser Erkrankung gestaltet. Auch in pathologischer Beziehung ,
das Genu recurvatum kein einheitliches Bild dar, wenn man unt?:
diesen Begriff alle diejenigen Stellungsanomalien des Unterschenkels ge^ '
den Oberschenkel subsumiert, bei denen diese beiden Komponente* '
des Kniegelenks einen nach vom offenen Winkel miteinander bilden ode’
bilden können. Denn abgesehen davon, daß eine solche Durchbiegnu
ein versteiftes oder ein bewegliches Kme betreffen kann, wird
Krankheitsbild ein noch komplizierteres dadurch, daß die Ursacb
der ßekurvation oft gar nicht im Kniegelenk selbst ihren Sitz
sondern vielmehr in den benachbarten Knochen.
Um den Begriff des Genu recurvatum genau zu charakterisier^:!
ist es von Bedeutung, sich über die Streckfähigkeit des Kniegeleüi?
zu unterrichten. Daß ein Winkel von 180®, gebildet durch Ober- urc
Unterschenkel, nicht die Grenze des Normalen darstellt, ist bekannt
entsteht doch schon bei der militärischen Haltung mit „durchgedrückte:
Knieen“ ein nach vorne offener Winkel.
Während nun bei gesunden Kindern die Hyperextension im Knit'
oft um 100 über die Gerade, d. h. über 180o, gesteigert werden kann
muß man beim Erwachsenen eine derartige Eekurvation bereits al‘
abnorm bezeichnen. Da indessen die Durchbiegungen zwischen ISO
Digitized by LjOOQle
Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. @03
und 1700 an sich Beschwerden wohl kaum einmal auslösen und auch
in der Regel nicht beachtet, daher auch nicht zum Arzt gebracht werden,
so dürften als krankhaft nur solche E^egelenke anzusehen sein, die
einen um mehr als 10° nach vorne offenen Winkel, also einen solchen
von mindestens 170o mittels ihrer Komponenten bilden. Dieses Maß
wird auch in neueren Arbeiten meistens als die Grenze des Normalen
angenommen.
Im landläufigen Sinne des Wortes versteht man aber imter Genu
recurvatum zumeist nur die noch hochgradigeren Stellungsanomalien,
die sofort als krankhaft in die Augen fallen.
Von vornherein sind nun zwei große Gruppen des G. r. zu imter-
scheiden, nämlich das G. r, congenitum und das G.r. acquisitum, Erstere
Erkrankung, als Initialstadium der angeborenen Bmiegelenksluxation
bekannt, ist in neuerer Zeit der Gegenstand gründlicher Untersuchimgen
gewesen. Dagegen ist die Kasuistik des erworbenen G. r, noch nicht
sehr beträchtlich.
Wir verdanken Le Fort eine jüngst erschienene ausführliche
Bearbeitung aller in die Rubrik des G. r. acquisitum gehörigen Erkran¬
kungen; vor ihm hatte nur Worobief dieses Thema in extenso be¬
handelt, doch existiert meines Wissens keine Uebersetzung der in russi¬
scher Sprache geschriebenen Abhandlung, so daß man sich auf kurze Refe¬
rate derselben beziehen muß. Worobief teilt die primären Ursachen
des G, r, nach ätiologischen Gesichtspunkten ein in Erkrankungen des
Nervensystems, so daß es nach ihm ein paralytisches G, r, nach Kinder¬
lähmung oder Läsion des Rückenmarks und ein arthropathisches bei Tabes
oder bei progressiver Paralyse gibt, und in Erkrankungen des Femur oder
der Tibia oder des Kniegelenks. Diese als osteopathogenetische be-
zeichnete Abart sah Worobief nach Bruch der Tibia, nach Osteo¬
myelitis, Rhachitis, Tuberkulose, Syphilis und Kniegelenksentzündung
auftreten, endlich als Begleiterscheinung des Pes equino-varus. —
Ohne dem G, r. einen eigenen Abschnitt zu widmen, bespricht Schanz
im Handbuch von Joachimsthal an verschiedenen Stellen folgende
Arten; das G. r. bei Arthritis deformans, bei Tabes, das osteomyelitische,
das paralytische und das rhachitische. Außer diesen letzteren erwähnt
noch Reichel im Handbuch der praktischen Chirurgie das G. r.
nachCoxitis, dem auch Dollinger in Joachimsthals Handbuch
einige Zeilen widmet. H o f f a führt weiterhin das G. r, durch un¬
passende Lagerung oder fehlerhafte Extension an. Weitaus am besten
ist das Einteilungsprinzip von L e F o r t, der einmal nach anatomischen
Digitized by
Google
604
Siegfried Peltesohn.
Gesichtspunkten von einem G. r. bei nicht ankylosierenden, von eint:'
solchen bei ankylosierenden Knieerkranknngen, endlich von dem G.: i
nach Resectio genu spricht, dann aber in ausführlichster Weise auf c * ^
Basis dieser ersten Einteilung nach der Aetiologie das traumatiscl^: ■
das funktionelle oder Anpassungs-, das rhachitische, das osteomalaci=cii |
das achondroplastische, das paralytische und das tabisch-neuropatliisc:
G. r. behandelt, alles Erkrankungen bei Beweglichkeit des Kniegeleit
Stößt nun schon die Erklärung der Entstehung des eigentlich"
G.r. acquisitum hie imd da auf Schwierigkeiten, so trifft dieses in ua: j
höherem Grade in denjenigen Fällen zu, wo die eigentliche Erkranh::
nicht im Kniegelenk selbst sitzt, d. h. wo der Scheitel des Knickung' I
winkeis nicht in den Gelenkspalt fällt, sondern juxta-artiloilär lie-r
Mit Recht wird auch dieser Typus des G. r. meist abgetrennt behände
und, wenn die Knickung an der Tibia sitzt, teils als Tibia recurvau
teils als pathologische Abknickung der oberen Tibiaepiphyse beschriebe:
Im Laufe mehrerer Jahre habe ich Gelegenheit gehabt, eine AniaL
von höhergradigen erworbenen G. r.-Fällen verschiedenen Ir
Sprungs und verschiedener Pathologie zu sehen und zu untersuche:
Ueber Aetiologie und Pathologie dieser Fälle zu be
richten, ist der Hauptzweck der vorliegenden Arbeit.
Um zunächst zwei Fälle von G. r. bei ankylosierender j
Erkrankungen des Knies mitzuteilen, so handelte es sich indei
einen Falle, den ich noch im Stadt. Krankenhause am Urban zu Berlinale j
Assistenzarzt beobachtete und für dessen Ueberlassung ich auch an dieser
Stelle Herrn Oberarzt Dr. Brentano meinen verbindlichsten Dank an-
spreche, um ein Genu recurvatum osteomyeliticun
Leo K., 31 jähriger Zigarrenmacher, war früher stets gesunc
gewesen, bis er am 18. März 1888 eine Stichverletzung des linken
und zwar nach außen und unten von der Blniescheibe erlitt. K. hattt
damals zunächst keine Beschwerden. Erst, als etwa 2 Monate nacii
der Verletzung das Knie anschwoll, suchte er ein Krankenhaus
und es wurden dort mehrfache Inzisionen am Kme gemacht, bei denen
sich angeblich kein Eiter entleerte. Er wurde danach 4 Monate nin
Schienenverbänden behandelt und als geheilt mit fast unbeweglicbeir
Kniegelenk entlassen. 2 Jahre später bemerkte der Patient, welcte
auch nach seiner Entlassung aus dem Krankenhause meist im
arbeitete, daß sich sein linkes Kniegelenk ohne besonderen Grund nack
hinten durchdrückte. Die jetzige Form des Kniegelenks besteht seit
dem Jahre 1894, seit welcher Zeit die Verbiegung zum Stillstand p*
Digitized by C^ooQle
Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. ßOS
kommen ist. Patient hat angeblich niemals Schmerzen in dem Knie
gehabt.
Bei der Krankenhansaufnahme im August 1903 erhob ich folgenden
Befund: Untersetzter, kräftig gebauter, gut genährter Mann mit ge¬
sunden inneren Organen. Das linke Kniegelenk ist in Ueber-
streckung ankylosiert, so daß Ober- und Unterschenkel einen nach
vorne offenen Winkel von 120^ miteinander bilden, die Kniescheibe ist
unbeweglich. Zu beiden Seiten des Knies finden sich je zwei eingezogene,
von der Operation im Jahre 1888 herriihrende stichförmige Narben.
Kig. 1 zeigt die damaligen Verhältnisse des linken Knies. Die Mus-
Fig. 1.
kulatur war stark atrophisch; die Kondylen des Femur waren deutlich
abzutasten. Es bestand ein hochgradiger Spitzfuß. — Die Röntgen¬
aufnahme, die leider zu schwach zur Reproduktion ist, klärte über die
weiteren anatomischen Einzelheiten auf. Das Bild zeigt die feste
Ankylose von Femur imd Tibia in einem nach vorn offenen Winkel
von 1200, so daß die Konturen der Gelenkflächen noch eben zu erkennen
sind. Die normalerweise vorhandene leichte Rundung, mit der die
Kondylen des Femur das untere Ende dieses Knochens bilden, ist im
Sinne der Streckung ausgeglichen, so daß die Kondylen nur wenig
nach hinten prominieren. Die Tibiagelenkfläche steht nicht lotrecht
auf der Längsachse dieses Knochens, sondern verläuft schräg von vom
Digitized by C^ooQle
606
Siegfried Peltesohn.
unten nach hinten oben und bildet mit der vorderen Tibiakante eine |
Winkel von ISO^. Die Fibula endet etwa in Höhe des hinteren Bande •
der Tibiagelenkfläche.
Am 11. August 1903 wurde von Herrn Oberarzt Dr. Brei
tano in Alkoholchloroformäthemarkose zur operativen Ge^ad^
Stellung geschritten. Freilegung des Knies durch Bogenschnitt m
die Patella mit zentral gelegener Basis; die mit dem Femur ver
wachsene E^escheibe wird abgemeißelt imd nun der Lappen mit der
Kniescheibe nach oben präpariert. Dann wird aus der knöcherner .
Ankylose ein an seiner Basis 4 cm hoher Keil, dessen Basis nach liinte
liegt, in zwei Hälften reseziert. Nach Exstirpation der Kniescheik 1
wurden Femur- imd Tibiasägeflächen durch zwei Silberdrahtnähte fe*
aneinander fixiert und die Quadricepssehne mit dem Ligamentni:
patellae proprium durch Katgutnähte vereinigt. Schließung der Hacr
Fig. 2.
wunde durch Zwimnähte nach Mobilisienmg der Haut am Unter
Schenkel durch zwei seitliche Einschnitte.
Der Verlauf war fieberfrei, die Heilung der Wunde erfolgte asep
tisch. Die Nachbehandlung bestand in Gips verbänden bis zum Eintrin
der Konsolidation, welche nach etwa 4 Monaten vollendet war (Fig. 2'
Eine Nachuntersuchung 4 Monate nach der Entlassung ergab
daß das Bein in gerader Stellung des Knies fest verheilt war; die Ver¬
kürzung betrug 2 Y 2 cm. Entsprechend der geringen Verkürzung va:
der Gang wenig hinkend; das Fußgelenk war frei beweglich.
Die auf Osteomyelitis beruhenden Verbiegimgen des Knies nach
hinten gehören zu den seltenen Vorkommnissen. Bisher existieret
2 derartige Beobachtungen von Nikolaisen, welche von Kiscl
zitiert sind, 2 weitere dieses letzteren Autors und 1 Fall von Romano
(Genu recurvatum di alto grado di origine patologica con sinostos fe
moro-tibiale: Archivio di ortopedia 1908 Nr. 3). Was die Entstehung
Digitized by LjOOQle
Aetiologie und Pathologie des Genu reciirvatum Und der Tibia recurvata. 607
des vorstehenden Falles betrifft, so ist, da andere ätiologische Mo¬
mente nicht vorliegen, ein direkter Zusammenhang zwischen der Stich¬
verletzung des Kmes im Jahre 1888 und der späteren Verbiegung anzu¬
nehmen. Der Stich verletzte das obere Ende der Tibia, etwas lateral
vom Ansatz des Lig. patellae eindringend. Die sich anschließende,
offenbar nur leichte Infektion verursachte eine zirkumskripte Osteo¬
myelitis der Tibiaepiphyse und ergriff erst etwa 2 Monate später das
Gelenk, so daß es zu einem serösen Erguß kam, der auch mehrfach
punktiert wurde. Es kam zu einer Verwachsung der Gelenkflächen
von Tibia, Femur und Patella. Wie erklärt sich nun das Entstehen
des Genu recurvatum? Den ersten Anstoß zur Verbiegung hat hier
zweifellos die Verletzimg des vorderen Teils der Tibiaepiphyse dadurch
gegeben, daß eine zirkumskripte, blande, chronische Osteomyelitis
Platz griff, die zu einem, wenn auch nur geringen, Substanzverluste
dieser Knochenpartie führte. Diese Annahme wird durch das Röntgen¬
bild gestützt, auf welchem die Abschrägung der Tibiagelenkfläche
von hinten oben nach vorn unten zu erkennen ist. Es hieße den Tat¬
sachen Gewalt antun, wollte man die seröse Gelenkentzündung als
Ursache für die Rekurvation ansehen. Zuzugeben ist selbstverständlich,
daß eine Arthritis zu Stellungsanomalien des Knies führen kann.
Indessen kommt es doch dann wohl stets zu einer Ankylose in gerader
oder flektierter Stellung. Um die Rekurvation zu erklären, muß im vor¬
liegenden Falle der Defekt an der vorderen Tibiakante mit herange¬
zogen werden.
Bei der Unmöglichkeit, zu entscheiden, ob bei der Stichverletzung
die Epiphyse selbst oder die Epiphysenlinie getroffen wurde, ist als
Grund für die Rekurvation eine Hinderung des normalen Knochen¬
wachstums an der Tibiavorderseite nicht a limine zurückzuweisen.
Daß Läsionen der KLnorpelknochengrenze noch dazu bei einem im
Wachstum begriffenen 16jährigen Jüngling zu Störungen in der nor¬
malen Knochenneubildung führen können, ist einleuchtend und dürfte
wohl auch in unserem Falle auf die Gestaltung des Beins nicht ohne
Einfluß gewesen sein.
Kisch hat nun zur Erklärung der Hochgradigkeit seiner Fälle
ein verschiedenes Wachstum der vorderen imd hinteren Knochen¬
partien am Femur dui'ch differente Verteilimg des Druckes auf die
Epiphyse heranziehen zu sollen geglaubt. Was die Tibia anbetrifft,
so scheint jedenfalls in unserem Falle eine derartige Annahme nicht
wahrscheinlich; denn das Röntgenbild ergibt einmal ein normales
Digitized by L^ooQle
608
Siegfried Peltesohn.
Lageverhältnis zwischen Tibiahinterkante und Fibula, anderseits aber
für die Fibula der erkrankten Seite dieselbe Länge wie für die der ge¬
sunden Seite, so daß man also auf ein normales Wachstum der Tibb
an ihrer intakt gebliebenen Hinterseite daraus schließen darf. Wä?
den Femur anbetrifit, so ist bei der festen knöchernen Ankylose niclt
mehr zu erkennen, wo die Gelenkfläche saß. Doch glauben wir auci
hier die H)T)othe3e des ungleichen Wachsens der Vorder- und Hinter¬
seite zur Erklärung der Deformität nicht zu benötigen. Vielmehr scheict
uns das Moment der Belastung zu genügen, um bei einmal in ihren
Anfängen vorhandener Rekurvation sowohl das Fortschreiten dieser,
wie die Durchbiegung des Femurknochens zu erklären. In der Tat
sehen wir, daß in unserem Falle die Rekurvation nur zum Teil an
Rechnung des Epiphysendefektes an der Tibiavorderkante zu setzei
ist, daß vielmehr der an der ursprünglichen Erkrankung völlig unb^e-
teiligte Femur wesentlich zur Verbildung des Beins beiträgt, indem
hier die Diaphyse eine ausgesprochene Schweifung mit der Konka\’ität
nach vorn aufweist. Diese Schweifung dürfte vielleicht so zu erklären
sein, daß der Druck des beginnenden G. r. auf den vorderen Partien
der Femurepiphyse gelastet und dadurch die Verbiegung des distalen
Diaphysenendes nach vorn begünstigt hat. Die Belastung hat besonders
intensiv einwirken können, da der zur Zeit des Beginns der Rekurvation
eben 16 Jahre alte Patient dauernd im Stehen als Zigarrenmaclier zu
arbeiten gezwungen war.
Hofmeister, der die Ursachen der Femurverkrümmungen
bei Flexionsankylosen des resezierten Kniegelenks untersucht hat,
sucht in der physiologischen Weichheit der Epiphysenlinienbezirke (he
Quelle der Wachstums Verbiegungen und erachtet das pathologische
Moment in der abnormen Beanspruchung dieser physiologisch weniger
resistenten Teile gegeben. Einen derartigen Vorgang müssen auch wir
für die Durchbiegung des Femurschaftes in unserem Fall anerkeimen
und möchten in Analogie mit der Hofmeister sehen Erklärung bei
dem in Hyperextension ankylosierten Knie den ganzen nach abwärts
von der Femurepiphyse gelegenen Gliedabschnitt als einen einheitlichen,
langen Hebelarm ansehen, an welchem die Biegungsgewalt in Form der
Körperlast angreift. So würde sich das Geradebleiben der Tibia und (he
Rekurvierung des Femur erklären.
Was die Bezeichnung dieses Falles als ein G. r. osteomyeliticum
rechtfertigt, ist der Umstand, daß das primäre, die Rekurvierung
auslösende, Moment die ßubakute Osteomyelitis der Tibia-
Digitized by O^ooQle
Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. ß09
epiphyse war. Der Begriff des traumatischen 6. r., das ja auch
unserem Falle zukommen würde, dürfte besser für die nach Frakturen
und schweren Bandzerreißungen auf tretenden Fälle reserviert werden.
Interessant sind endlich noch die Veränderungen, welche die
bei der Operation entfernte Kniescheibe in struktureller
Beziehung aufweist. Im ganzen ist, wie Furnierschnitte zeigen
(Fig. 3), die normale Parallelogrammform gewahrt. Dagegen zeigt
sich eine auffallende Rarefikation der gesamten Knochensubstanz,
speziell der Corticaliszugbälkchen an der konvexen Außenseite. Diese
Strukturverhältnisse entsprechen der funktionellen
Bedeutungslosigkeit der ankylosierten Kniescheibe Fig. 3.
bei gleichzeitiger Ankylose des Genu recurvatum.
Einen weiteren für die Aetiologie und Patho¬
logie des G. r. bemerkenswerten Befund stellt
die folgende Beobachtung aus der Reihe
der ankylotischen Rekurvations-
deformitäten dar. Da dieser Fall, der
ebenso wie die folgenden aus der Anstalt des
Herrn Professor Joachimsthal stammt, bereits
die Grundlage zu der Inauguraldissertation von
Zwirn (Leipzig 1906) abgegeben hat, so sei er
hier nur noch einmal auszugsweise mitgeteilt. Die von diesem Falle
stammenden photographischen und radiographischen Bilder, welche
bisher nicht reproduziert sind, verdienen zweifellos unser Interesse.
Es handelte sich um eine 27jährige Friseursfrau L. T. (R.-Nr.
3619/05), die sich eine gonorrhoische Gonitis zuzog, deretwegen sie von
Anfang Januar bis Ende Mai 1903 in einem hiesigen Krankenhause
behandelt wurde. Die Mitte Januar 1903 sich ausbildende Flexions¬
kontraktur mit leichter Subluxation der Tibia nach hinten erforderte
Mitte April 1903 in Aethernarkose die Mobilisierung mit folgendem
Streckverband mit einem Zug, der fußwärts, und einem Zug, der am
proximalen Tibiaende nach aufwärts gerichtet war. Nach 8 Tagen
begann man mit Gipsverbandbehandlung, welche bis zum August 1903
fortgeführt wurde. Als die Patientin Ende Mai 1903 zur ambulanten
Nachbehandlung entlassen wurde, soll nach ihrer eigenen Angabe be¬
reits eine leichte Rekurvation bestanden haben, die sich im Laufe der
folgenden anderthalb Jahre bis zu dem folgenden, im Februar 1905 fest¬
gestellten Befimde verschlimmerte. Es bestand (Fig. 4, 5) eine Knie-
Digitized by L^ooQle
610
Siegfried Peltesohn.
gelenksankylose mit Rekurvation von 145® und ganz geringer Valgns*
deviation.
Das Röntgenbild (Fig. 6) zeigt Unter- und Oberschenkel mit¬
einander knöchern verwachsen, ebensc
Fig. 4.
die Kniescheibe mit dem Femur. Tiläa
und Femur bilden einen nach vome
offenen Winkel von 148 o. Die Kon*
turen des Femur sind zwar noch
deutlich vorhanden, doch zeigt der
hintere Teil der Kondylen eine erheb¬
liche Aufhellung; letzteres gilt auct
von der Patella und dem hinteren Ab¬
schnitt der Tibiakondylen, ein Zeichen
für die funktionelle Ausschaltung dies»
Teile. Der vordere Abschnitt der Tibia-
kondylen fehlt, so daß die Tibiagelenk-
fläche schräg von hinten oben nach
vorn unten verläuft. Stark dunkle
Knochenmassen zeichnen die Ankylose
zwischen Tibia und Femur aus.
Da von der Patientin jeder re-
dressierende Eingriff abgelehnt wurde,
beschränkte man sich auf die An¬
legung eines Schienenhülsenapparate?
zum Zwecke der Entlastung des dauernd schmerzhaften Knies und
der Vorbeugung einer weiteren Rekurvation.
Fig. 5.
Digitized by
Google
Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. 611
Kurz zusammengefaßt, handelt es sich also in dem vorstehenden
Fall um ein Genu recurvatum nach Mobilisierung
und Redressement einer Flexionskontraktur mit
Subluxatio tibiae nach Gonitis gonorrhoica.
Hyperextensionskontrakturen bei deformierenden Gelenkent-
Fig. 6.
Zündungen — und schließlich deformiert die Arthritis gonorrhoica
die Gelenke auch — kommen hie und da, allerdings meist nur in leichtem
Grade, zur Beobachtung, Indessen kann man den vorliegenden Fall
kaum in diese Kategorie einreihen; denn tatsächlich war ja hier zuerst
die für gonorrhoische Entzündung typischere Beugekontraktur aus-
Digitized by L^ooQle
612
Siegfried Peltesohn.
gelöst worden. DasG. r. ist hier zweifellos erst die Folge des thera
peutischen Eingriffes gewesen. Eine derartigeEntstehungsursacb^
gehört glücklicherweise immerhin zu den Seltenheiten. OfFenbar kc
der Entstehungsmechanismus hier so, daß das durch den ExtensioiL-
verband gestreckte Knie in geringer Rekurvatumstellung im Gip
verband fixiert wurde, daß die fixierenden Verbände vor Eintritt völfe
Konsolidation entfernt worden waren und die Patientin zu früh das Beii
belastet hatte. Sehr wahrscheinlich war zuerst eine stärkere Zerstömnc
des vorderen Teils des Tibiagelenkknorpels eingetreten und hat*'
schnell zu einer Verwachsung dieses Teils der Gelenkflächen mit der
Femur geführt. Der Streckverband hatte vielleicht auch die hinterer
Kapselteile und die Beugemuskeln an der Hinterseite des Oberschenkel'
gedehnt, so daß auch von dieser Seite der Durchbiegung des Knies
ein Widerstand nicht entgegengesetzt wurde.
Was nun die Form der Knochen im Röntgenbilde anbetriflt, sc
muß noch auf eine ungewöhnliche Schweifung des Femur iis
Sinne einer Steigerung der normalen Schweifung hingewiesen werden:
diese Deformierung erklärt sich einfach durch die Belastung des Femir
bei rekurviertem Knie, ein Vorgang, der leicht mit Hilfe biegsamer
Stäbe nachgealimt werden kann und bei dem sich zeigt, daß bei
Belastung eines solchen Modells die normale Schweifung des Femur
stärker werden muß. Offenbar liegen beim erwachsenen Indi\dduuffi
die Belastungsverhältnisse ganz anders als beim noch wachsenden,
bei dem eine gewisse physiologische Weichheit der Kinochen den durci
ungleiche Epiphysenbelastung hervorgerufenen Umformungsfaktorei
keinen beträchtlichen Widerstand zu leisten vermögen. Auch fällt ja
hier das von Kisch angenommene ungleiche Wachstum an der
Vorder- resp. Hinterseite der Schenkelknochen von vornherein fort.
Handelte es sich in den beiden vorstehenden Fällen um Genua
recurvata ankylotica, so betreffen die beiden noch folgenden Beob¬
achtungen Knierekurvationen beträchtlichen Grades bei
freier Beweglichkeit; es liegt also abnorm gesteigerte Extension
bei freier Flexion vor.
Der erste Fall betraf ein Kind mit Genu recurvatum sini*
strum bei Coxitis dextra: Erna St., geboren im August 1901.
R.-Nr. 6314/07. Ein Bruder des Kindes starb an Gehirnhautentzündung:
sonst waren keine tuberkulösen Krankheiten in der Familie. Im zweiten
Lebensjahr soll das Kind an schwerer Rhachitis gelitten und starke
Digitized by C^ooQle
Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. 613
O-Beine gehabt haben. Trotzdem lief sie bis zum Alter von 3 Jahren
gut. Damals fing sie an zu hinken und über Schmerzen in der rechten
Hüfte zu klagen. Eine regelrechte Behandlung fand aber nicht statt.
Als sich das Kind im Frühjahr 1907 in der Poliklinik einfand, konnte es
überhaupt nicht gehen; es bestand eine noch floride Coxitis mit starker
Adduktion und Flexion. Das Kind wurde
mit Gipsverbänden nach Streckung in F*g- 7.
Narkose behandelt; die Verbände konnten
erst im Mai 1908 fortgelassen werden.
Um diese Zeit stellte es sich heraus, daß
trotz der in Abduktion und Streckung
getragenen Verbände eine Luxation des
stark zerstörten Schenkelkopfes nach oben
eingetreten war. Im März 1908 war mir
das jetzt bestehende Genu recurvatum
des gesunden Beines aufgefallen.
Die Untersuchimg zeigte uns jetzt
(August 1908) ein für sein Alter gut
entwickeltes Mädchen von blasser Ge¬
sichtsfarbe mit gesunden inneren Or¬
ganen. Rechte Hüfte: Der Ober¬
schenkel steht zum Becken in Adduk¬
tion von 1300, Flexion von 100® und
Einwärtsrotation von 45®. Wird der
Oberschenkel auf die Unterlage gedrückt,
so entsteht eine beträchtliche Lenden¬
lordose. Der Trochanter steht 4 cm
über der Roser - Nelaton sehen
Linie. Der Abstand von der Spina
ant. sup. bis zum Malleolus extemus
beträgt rechts 47, links 51 cm. Das
linke Kniegelenk ist frei be¬
weglich , doch kann der Unterschenkel
aktiv überstreckt werden, so daß sich im Liegen die Malleolen um
7 cm von der Unterlage entfernen, was einer Hyperextension von
150 0 entspricht. Auch im Stehen prägt sich diese Rekurvation
deutlich aus (Fig. 7). Man sieht auf dem Bilde die Atrophie des
rechten Beines imd bemerkt ferner, wie das Kind die Verkürzung
durch Beckenneigung und entsprechende Lumballordose ausgleicht;
Digitized by L^ooQle
614
Siegfried Peltesohn,
die ebenfalls vorhandene Beckensenkung nach der kranken Seite üt
auf dem Bilde natürlich nicht zu erkennen.
Es liegt hier also ein 6 e n u recurvatum der gesunden
Seite bei coxitischerKontraktur vor. Wenn auch ohne
Frage das Vorkommen dieser Stellungsanomalie keine aUzugroße
Seltenheit darstellen dürfte, so sind doch einzelne Beobachtungen dieser
Art bisher in der deutschen Literatur nicht mitgeteilt worden, Reiche!
sagt darüber im Handbuch für praktische Chirurgie nur, daß das G. r.
zuweilen bei chronischer Coxitis mit starker Verkürzung des Beines
entsteht in ähnlicher Weise wie das paralji:ische, indem der an
der Rückseite des Kniegelenks durch Belastung beständig in An¬
spruch genommene Bandapparat allmählich nachgibt und sich dehni.
Dollinger sah 6. r. am gesunden Bein auftreten imd bezeichnet
es als eine der Bestrebungen zur Ausgleichimg der Verkürzung, da
dadurch auch das gesunde Bein verkürzt wird. Zweckmäßig unter¬
scheidet man mit Le Fort das coxalgische G. r. der bettlägerigen Kin¬
der von demjenigen der herumgehenden, noch floriden Coxitiker und der
alten Hüftgelenkskontrakturen, Das G. r. der Bettlägerigen sah diese:
Autor in 27 Fällen und führt es auf die lange Ruhelage, die damit
verbundene Spannung der Ligamenta cruciata und die hieraus resul¬
tierenden Knochen Veränderungen, bestehend in übermäßigem Wachstum
der hinteren Teile der Femur- und Tibiaepiphyse, zurück. Bei den
umhergehenden Patienten mit G. r. kann nun entweder die kranke oder
die gesunde Seite die Rekurvation auf weisen. Was die letztere Kate¬
gorie betrifft, so hat Le Fort einschließlich seiner eigenen 3 Beobach¬
tungen im ganzen nur etwa 10 hierher gehörige Fälle finden können.
In unserem Fall war das G. r. schon zu einer Zeit vorhanden, als
die Coxitis noch nicht völlig abgelaufen war und das Bein in der Hüfte
flektiert war. In völliger Streckung war das Kind niemals, auch nicht
im Gipsverband, umhergegangen. Analog den bisher bekannten Fällen
handelt es sich auch in unserem Falle um einen statischen Aus¬
gleich der verkürzten kranken Extremität, Indessen ist diese Erklärung
insofern doch nicht ausreichend, als der Längenausgleich auch durch
Flexion in Hüfte und Knie der gesunden Seite stattfinden könnte,
wobei dann allerdings diese beiden Beugungen noch höhere Grade
annehmen müßten, als es auf der kranken Seite schon der Fall ist,
G a s n e und Courtelemont haben zur Erklärung angegeben,
daß, da der Kranke beim Stehen das Becken wegen der Hüftflexion
nach vorne neigen müßte, die anatomische Achse der gesimden Ex-
Digitized by C^ooQle
Aetiologie und Pathologie des Qenu reeurvatum und der Tibia recurvata. ßl5
tremität hinter die mechanische fallen muß, woher die Neigung zur
Rekurvation entstehe. Ein dem Schema obiger Autoren analoges
Schema unseres Falles zeigt diese Verhältnisse recht deutlich. Man
sieht in b der Fig. 8, daß, wenn die Kranke auf dem kranken Bein
stehen will, d. h. wenn die anatomische Achse des Femur mit der me¬
chanischen Achse zusammenfallen soll, das Becken stark nach vom
geneigt werden muß. Dann ist aber der gesimde Oberschenkel ge¬
zwungen, nach hinten zu gehen. Man erkennt, wie die anatomische
Achse des gesunden Beins (ausgezogene Linie) ganz beträchtlich hinter
die mechanische (punktierte Linie) fällt. Auf diese Weise muß die
Fig. 8.
physiologische Rekurvation des gesunden Beins gesteigert werden, soll
der Körper von beiden Beinen und nicht nur von dem der kranken
Seite getragen werden.
Hier sei zum Schluß noch auf das absolute Fehlen jeglicher
Knochenveränderung des rekurvierten Knies hingewiesen, wie ein
Böntgenbild ergab, dessen Reproduktion sich daher erübrigt. Es be¬
stehen normale Epiphysen, normale Diaphysen, normale Intermediär¬
knorpel an Tibia und Femur, also keines der Symptome, die L e F o r t
als anatomisches Substrat der Rekurvation auch dieser Fälle fand.
Damit ist natürlich die Möglichkeit, daß in der Zukunft bei etwaigem
Digitized by LjOOQle
614
^Aecfned IVacBcaa,
^ Tvcikudeste Bacfamtgiircag der kTMV«i >ä»
uf d«r Euie nkii m frcra^nffgi.
E< ij«r «i Ger Ti reciirxmiiiii: der gesaic
Seite tei eoxiiiJcierKortrÄkirr ’ne. Wer?: «ci -
Frxee OBS V v"V- r-- d>e?€r St TT^! p« ^T> nfrai i-Eiae iZtcT.
SeCieT.^ffT ctr^e- sc* szti 5:ci erLÄZie Seccafcr^rrrrgg. i*;
dfcrrr^ irr fir priikrzifcije L i-zxrpe rxr. di-i iis
xtvf‘£Vfx 'Sä rir.'ciscifc .':xra5 HuI s^iKrker Tercizxiiz^ 5?= B-i:
ix üz-b:i»Ä“ '»Tie öäs , ntS^ (k
SfJT des 'S.x>f.£?f‘JÄ[ik5 dirri x»eikf;nmr r»s?rl^f£^r — i
scrmrx *.
7' i' i -: X r e r sud. v
es ÄHif ^
LiT'TÄjru r: ^ LL.i.i r- .i hähl^-Tu xitiz an.
. iXL gfsctiSfa. x*«rt h^jizrt^sr xirif
niiTÄL xnr * "xnmr T~*r ~i r.-rm
Aetiologie und Pathologie des Genu reeurvatum und der Tibia recurvata« ßl5
-tiremität hinter die mechanische fallen muß, woher die Neigung zur
Rekurvation entstehe. Ein dem Schema obiger Autoren analoges
Schema unseres Falles zeigt diese Verhältnisse recht deutlich. Man
sieht in b der Fig. 8, daß, wenn die Kranke auf dem kranken Bein
: stehen will, d. h. wenn die anatomische Achse des Femur mit der me¬
chanischen Achse zusammenfallen soll, das Becken stark nach vom
geneigt werden muß. Dann ist aber der gesunde Oberschenkel ge¬
zwungen, nach hinten zu gehen. Man erkennt, wie die anatomische
Achse des gesunden Beins (ausgezogene Linie) ganz beträchtlich hinter
die mechanische (punktierte Linie) fällt. Auf diese Weise muß die
Fig. 8.
a b
physiologische Rekurvation des gesunden Beins gesteigert werden, soll
der Körper von beiden Beinen und nicht nur von dem der kranken
Seite getragen werden.
Hier sei zum Schluß noch auf das absolute Fehlen jeglicher
Knochenveränderung des rekurvierten Knies hingewiesen, wie ein
Röntgenbild ergab, dessen Reproduktion sich daher erübrigt. Es be¬
stehen normale Epiph 5 ^en, normale Diaphysen, normale Intermediär¬
knorpel an Tibia und Femur, also keines der Symptome, die L e F o r t
als anatomisches Substrat der Rekurvation auch dieser Fälle fand.
Damit ist natürlich die Möglichkeit, daß in der Zukunft bei etwaigem
Digitized by LjOOQle
61 Ü
Siegfried Pelt^isohn.
längeren Bestehen der gleichen ungünstigen statischen VerhältnLvr
die von Le Fort festgestellten Knochen Veränderungen auch in
unserem Falle noch eintreten, nicht ausgeschlossen. Zurzeit handeh
es sich aber jedenfalls pathologisch-anatomisch aus¬
schließlich um eine Schlaffheit der Weichteil?,
vornehmlich der hinteren Kapselpartien.
Fig. 9.
Wenn auch die nun folgende vierte Beobachtung nicht direkt
in die Kategorie des Genu reciirvatum fällt, d. h. der am Anfang dieser
Arbeit gegebenen Definition nicht völlig entspricht, so steht doch die Affek¬
tion, welche diesen Fall charakterisiert, in so innigem Zusammenhang, so¬
wohl was die Aetiologie wie das khnische Aussehen betriflFt, daß die Be¬
schreibung desselben an dieser Stelle ebenfalls gerechtfertigt sein dürfte.
Digitized by LaOOQle
Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. (}17
“ Was zunächst den Fall selbst anlangt, so handelt es sich um eine
- 12jährige Küferstochter, welche sich Anfang April 1908 in der Poli-
- klinik des Professors Joachimsthal wegen ihres schlechten Ganges
und der Verkürzung ihres linken Beines vorstellte (R.-Nr. 8089/08)
und bei welcher ich bei der Untersuchung die ungewöhnliche Affektion
des linken Knies feststellte. Leider kam uns die Patientin nur einmal
zu Gesicht, so daß die anamnestischen Angaben nicht die der Bedeu¬
tung des Falles angemessene Genamgkeit aufweisen. Immerhin konnten
wir aus der Vorgeschichte erfahren, daß das Kind mit 3 Jahren eine
tuberkulöse Entzündung am rechten Fußgelenk durchgemacht hatte,
die aber ohne weitere Störung nach einer Inzision ausgeheilt war, daß
weiter im 9. Lebensjahr, also vor nunmehr 4 Jahren, eine Coxitis der
linken Hüfte einsetzte, wegen deren sie zunächst mit Gipsverbänden,
später von einem Naturheilkundigen mit Licht- und Wasserbädem,
Packungen und Massagen behandelt worden war.
Aus dem Befund ist hervorzuheben, daß das sonst gut entwickelte
Mädchen eine Ankylose des linken Hüftgelenks aufweist; der Ober¬
schenkel ist um etwa 60^ flektiert, um 60<> adduziert und ein wenig
einwärts rotiert. An der Außenseite des Oberschenkels vor dem Tro¬
chanter ist eine etwa 10 cm lange, leicht eingezogene Narbe. Die durch
die Stellungsanomalie hervorgerufene scheinbare Verkürzung beträgt
10 cm. Sie wird durch Tragen einer starken Sohlenerhöhung ziemlich
ausgeglichen. Das linkeKnie zeigt folgende Besonderheiten (Fig. 9).
Der Unterschenkel bildet mit dem Oberschenkel in der . Streckung
keine gerade, vielmehr eine gebrochene Linie, so daß die Verlänge¬
rung des Oberschenkels nach abwärts vor den Unterschenkel zu fallen
kommt und für gewöhnlich, so beim Stehen, mit dem Unterschenkel
parallel läuft. Die Kniescheibe, an normaler Stelle in Bezug auf die
Femurkondylen gelegen, prominiert stark; dann folgt nach abwärts
davon eine Strecke von etwa 5 cm, die nach hinten und unten zieht;
es schließt sich der Unterschenkel an, der mit diesem letztgenannten
Stück einen nach vorne offenen Winkel von etwa 45 ^ bildet. Das Knie
hat also eine richtige Bajonettform. Das Kniegelenk ist anscheinend
frei beweglich und kann überstreckt werden, so daß der Unterschenkel
mit dem Oberschenkel einen nach vorn offenen Winkel von 135^ bildet.
Während ich wegen der gesteigerten Extensionsmöglichkeit des
linken Knies die Deformität zunächst für ein Genu recurvatum coxiticum
der kranken Seite hielt, welches mehrfach von französischen Autoren
beschrieben und in Analogie mit dem als Ausgleich der Adduktions-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Band. 40
Digitized by C^ooQle
618
Siegfried Peltesohn.
kontraktur im Hüftgelenk vorkommenden Genu valgum zu Stollen k
fiel mir bereits damals die an eine Subluxation der Tibia nach hinten
erinnernde Form des Knies auf. Die eigenartige Erkrankung wurde
aber erst durch die Radiographie entschleiert.
Auf dem Röntgenbilde (Fig. 10), das in stärkster passiver
Hyperextension des Knies aufgenommen ist, fällt die BajonettsteUimr
von Unter- und Oberschenkel sofort in die Augen. Femur und Femui
Fig. 10.
kondylen sind normal gebildet, ebenso die an richtiger Stelle befindliche
Patella. Mit den Femurkondylen artikuliert in normaler Weise die
Gelenkfläche der Tibia; die Epiphyse der Tibia, die entsprechend
dem Alter der Patientin sich noch mit deutlicher Linie von der Diaphyse
absetzt, ist überall gleich hoch und zwar durchschnittlich
13 mm. DieEminentia intercondylica markiert sich schwach erkennbar.
Eine auf der Gelenkfläche in deren Mitte errichtete Senkrechte schneidet
die Femurachse an normaler Stelle. Es zeigt sich dabei, daß da«
Digitized by C^ooQle
Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. ßlQ
Kniegelenk in Wahrheit bei stärkster Streckung eine Beu-
g u n g V o n 1500 a u f w e i s t; eine Verschiebung nach hinten besteht
nicht. In ihrem vordersten Teil ist das Knochengewebe der Epiphyse
aufgehellt. Während nun die vordere Kante der Tibia in ihrem obersten
Teil von der Margo infraglenoidalis auf eine Strecke von 3 cm senkrecht
zur Tibiagelenkfläche verläuft, weist sie hier plötzlich einen scharfen
Knick auf, biegt mit einem nach vorn konkaven Winkel von 140o
um, um nach abwärts davon wieder in gerader Linie weiterzugehen.
An der Stelle der Winkelbildung ist der Knochenschatten tief dunkel,
ebenso ist der Schatten der Corticalis der Tibiavorderkante deutlich
verbreitert und dunkel gefärbt. Die hintere Fläche der Tibia weist
keine Einknickung auf, sie verläuft von der Epiphysenfuge in leicht
geschwungener Linie nach abwärts. Die Fibula ist zart, in ihrer Diaphyse
leicht nach vom geschweift, der proximale Teil durchscheinend. Das
Ganze macht den Eindmck, wie wenn an der Stelle der Knickung ein
Zerstömngsprozeß stattgefunden hätte, der zu einer Infraktion des
Knochens geführt hat.
Es handelt sich nach diesem Befunde um eine Tibia recur¬
vata. Dieser Zustand ist durch eine Winkelbildung zwischen oberstem
Ende und Diaphyse der Tibia gekennzeichnet. Von dieser merkwürdigen
Affektion existiert in der Literatur bisher keine Röntgenabbildung;
besclirieben ist die Affektion 9mal.
Sonnenburg hat als erster auf eine besondere Form des
Kniegelenks aufmerksam gemacht, wobei eine Abbiegung in der oberen
Tibiaepiphyse im Verlaufe chronischer Kniegelenksentzündungen vor¬
kommt. Diese Erscheinung deutet er bei bettlägerigen Kindern so,
daß sich das Knie bei Entzündungen in Beugung begibt. Die Tibia¬
epiphyse ist nun durch starke Bänder fest mit den Femurkondylen
verbunden, anderseits mht das Glied mit dem Hacken auf der Bett¬
ebene, wodurch die Beugung verhindert wird und die Tibia sich gegen
den Femur nach hinten verschieben muß. Bei der festen Verbindung
zwischen Femurkondylen und Tibiaepiphyse, besonders auch durch
die fest kontrahierten Muskeln, kann sich nun die Streckung nicht
in der Gelenklinie abspielen, sondern nur in der Epiphysenlinie. Für
die Erwachsenen, bei denen man ebenfalls diese Knieform beobachtet,
nimmt Sonnenburg eine Ernährungsstörung der in der Nähe befind¬
lichen Knochen infolge der Gelenkentzündung an, eine Art Osteoporose.
Im ganzen schließt sich K i r m i s s o n diesen Erklämngen bei
der Besprechung seiner, auch von Hoffa erwähnten Beobachtungen
Digitized by CjOOQle
620
Siegfried Peltesohn.
an. Diese betrafen zunächst zwei Kranke, bei denen die Defonniüt
wenn auch in ungleicher Stärke, beiderseits vorhanden war, trotzdem
es sich vorher beidemal nur um eine einseitige Gonitis, die in mkom-
pleter Ankylose ausgeheilt war, gehandelt hatte. Bei beiden war die
Deformität ganz allmählich, ohne je Beschwerden verursacht zu babeü,
entstanden. Noch wunderbarer mutet uns der dritte Kirmisson-
sche Fall eines 16jährigen jungen Mannes an, bei dem einseitig die^
Affektion entstanden war, ohne daß auch nur das geringste sonstige
Krankheitssymptom oder in der Anamnese irgend eine schwerer?
Erkrankung je Vorgelegen hätte. Kirmisson schuldigt in dieses
Fällen eine auf den Epiphysenknorpel lokalisierte Rhachitis an; für die
Erklärung der Erkrankung bei Erwachsenen folgt er den Sonnen-
bürg sehen Erklärungen, da auch er in derartigen Fällen eine ^Rare
fikation und fettige Degeneration des Knochengewebes, also eine
richtige Osteoporose“ beobachtet hat. lieber die Natur dieser lokalen
Rhachitis ist irgend eine Tatsache nicht bekannt, so daß Kirmisson
auf den Wert neuer anatomisch-pathologischer und klinischer Unter¬
suchungen hinweist.
Weiterhin hat Ja b o u 1 a y, wie Le Fort angibt, einen Fall
von Tibia recurvata beobachtet, der mir aber leider nicht zugänglich
war. Dann berichtete Jalaguier über einen 14Y 2 jährigen Knaben
mit hereditärer Syphilis, der mit 8 Jahren eine unbekannte Knieaffektioa
durchgemacht hatte, in deren Verlauf sich eine Flexion einstcllte, die
3inal gestreckt wurde; nach 2 Jahren war das Knie in gerader Stellung
verheilt. Ganz allmählich entstand dann ohne Schmerzen die Rekur-
vation der Tibia, die also vor 472 Jahren angefangen hatte. Jala¬
guier glaubt, daß bei dem wachsenden Individuum die Epiphysenlinie
eine Störung erleidet und zwar nur der vordere Teil; da nämlich das
Kind stets mit steifem Knie herumgegangen war, als die IiiflexioD
anfing, so lag mehr Druck auf den vorderen Teilen des Knorpels und
daher auch der Epiphysenlinie als auf den hinteren.
Die folgenden und letzten 3 Fälle stammen von P a t e 1 und
C a v a i 11 o n, die hierfür den Ausdruck „genou en baionette“ gebrauchen.
Kurz zusammengefaßt, handelte es sich um geringe Flexionsaiikylosen
der Hüfte nach Coxitis im 13., 15., resp. 6. Lebensjahr, deren Träger
mit kurzen Unterbrechungen gehfähig waren. Zur Zeit der Beobachtung
waren 18, 27 resp. 36 Jahre seit der Goxitis verflossen. Außer den be¬
kannten gleichzeitig vorhandenen kompensatorischen Deformitäten
(Spitzfuß, Beckensenkung etc.) fiel eine Rückwärtsbiegung der Femur-
Digitized by C.ooQle
Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. 621
kondylen (enroulement des condyles femoraux) und die Abknickung
des oberen Tibiaendes (Tibia recurvata) auf. Die Autoren fassen
auch diese Skelettveränderungen als kompensatorische und die Funktion
verbessernde auf, da gleichzeitig abnorm gesteigerte Beweglichkeit im
Knie- und Fußgelenk bestand. Ohne sich auf genauere Untersuchung
dieser Fragen einzulassen, weist Le Fort auf die Schwierigkeit der
Diagnose dieser Deformität hin, indem er erwähnt, daß er mehrere
Fälle anscheinender Tibia recurvata gesehen habe, die sich aber im
Röntgenbilde als nicht vorhanden erwies.
Zweckmäßig dürften folgende Hauptgruppen dieser Affektion
unterschieden werden: 1. diejenigen Fälle, bei denen die Rekurvation
ein früher erkranktes Knie ergriffen hat, 2. solche, welche bis dahin
gesunde Kniee betrafen. Bei diesen letzteren ist weiterhin zu sondern,
ob die Erkrankung bei Gonitis der anderen Seite auftrat oder bei
Coxitis. Zu der ersten Hauptgruppe, bei der übrigens stets Ankylose
des betroffenen Knies vorlag, gehören die Fälle von Sonnenburg
und der von Jalaguier; zu der ersten Unterabteilung der zweiten
Hauptgruppe die beiden ersten Fälle von Kirmisson. Zur zweiten
Unterabteilimg der zweiten Gruppe sind endlich die Fälle von P a t e 1
imd C a V a i 11 o n und der meinige zu rechnen. Abseits von allen diesen
steht der dritte Kirmisson sehe Fall und zwei von H u m p h r y
gemachte Beobachtungen, bei denen überhaupt keine anderweitigen
Erkrankungen Vorlagen.
Alle Autoren gehen bei dem Versuch, die Erkrankung zu
erklären, von der Voraussetzung aus, daß es sich dabei um eine Schä¬
digung der Epiphyse oder eine solche in Höhe der Epiphysenfuge handelt.
Trifft diese Annahme wirklich zu? Soweit die Möglichkeit einer Klar¬
stellung dieser Frage nach den Beschreibimgen vorliegt, können wir diese
Voraussetzung als richtig nur für die Fälle gelten lassen, wo die primäre
Erkrankung in dem affizierten Kniegelenk lag. Hier können wir uns
auch sehr wohl mit Sonnenburg eine abnorme entzündliche
Erweichung der dem Kniegelenk benachbarten Knochensubstanz
denken. Es scheint aber, wie wenn bei den anderen Fällen der Sitz
der Erkrankung weder in der Epiphyse noch in der Epiphysenlinie,
sondern vielmehr distal von letzterer, also in der D i a p h y s e liegt.
Zu dieser Annahme werden wir durch unseren Fall und die Betrachtung
seines Röntgenbildes gedrängt. In der Tat sehen wir hier, daß die
Winkelbildung distal von der Epiphysenlinie statthat. Es ist imgefähr
die Stelle des Ansatzes des Ligamentum patellae, also der Tuberositas
Digitized by C^ooQle
622
Siegfried Peltesohn.
tibiae. Diese Beobachtung findet sich auch in dem von J a 1 a g u ier
gegebenen Krankheitsbericht, der sagt; „La tuberosite tibiale anterieure
avait disparu et etait remplacee par une depression.“ Analysieren vir
die einzelnen Teile des proximalen Tibiaendes auf unserem Röntgenbild
so bietet die Epiphyse normale Verhältnisse dar; man sieht die Kappen^
form derselben, wie auf Röntgenbildem gleichaltriger Individuen,
gewahrt und findet, daß der Gelenkteil derselben überall eine gleich*
mäßige Höhe aufweist. Auch die Epiphysenfuge ist in ihrem ganze::
Verlauf deutlich ohne wesentliche Verändenmg zu verfolgen. Beweisend
dafür, daß es sich nicht um eine Läsion der Epiphysenlinie handelr.
ist aber, daß der Scheitelpunkt des Knickungswinkels in diesem Falle
zweifellos proximaler sitzen würde, als es in der Tat der Fall ist. Wir
halten uns daher auch nicht für berechtigt, die Entstehung der Knie¬
deformität auf Wachstumsdifferenzen an der Vorder- und Hinterseite
der Tibia zurückzuführen, so verlockend und einfach auch diese Erklärung
wäre, da die Affektion auch bei uns wrieder, wrie fast immer, ein noch
wachsendes Individuum betroffen hat. Jalaguier hat das direkt
behauptet und aus Messungen der Vorder- und Hinterkante der Tibia
zu beweisen gesucht. Er rechnet folgendermaßen: Fällt man von dem
Scheitel des Knickungswinkels ein Lot auf die Achse der Tibia, so
mißt in seinem Falle nach aufwärts von dieser Linie die Vorderkante 4.
die Hinterkante 8 cm; es fehlt also ein Stück von 4 cm. Für unseren
Fall würde nach dieser Berechnung ein Stück von 17 mm fehlen. Diesen
Befund kann ich nicht als pathologisch ansehen. Bei der Betrachtung
der Radiographien normaler gleichaltriger Individuen fand ich stets,
daß die Epiphysenlinie der Tibia nicht senkrecht, sondern etwas schräg,
und zwar von hinten oben nach vom unten, zur Längsachse der Tibia
verläuft. Im übrigen beweist unserer Meinung nach diese Berechnung
noch nicht, daß zu wenig Knochen gebildet worden ist; es kann die
gleiche Deformität durch ein Zusammensinken normal gebildeter
Knochenmassen eintreten. Dieser Vorgang braucht kein plötzlicher
zu sein, wie etwa bei einer Fraktur, sondern kann auch ganz allmählich
herbeigeführt werden, analog dem allmählichen Zusammensinken des
Schenkelhalses bei der Coxa vara statica. Daß das Primäre der De¬
formität in unserem Falle ein solches Insichzusammensinken ist, scheint
auch aus der Häufung von Knochensubstanz an der Knickungsstelle
hervorzugehen, die wolü kaum ausschließlich als eine sekundäre funktio¬
neile Strukturveränderung gedeutet w^erden kann. Daß möglicherweise
sekundär durch die Veränderung der Druckverhältnisse die Knochen-
Digitized by CjOOQle
Aetiologie und Pathologie des Grenu recurvatum und der Tibia recurvata. ß23
Produktion beeinflußt werden kann, ist zwar zuzugeben; doch dürfte
dieser Vorgang hier nur eine untergeordnete Rolle zweiten Ranges
spielen. Die Frage kann jedenfalls mit einiger Sicherheit nur entschieden
werden, wenn es gelingt, ein jugendliches mit dieser Affektion behaftetes
Individuum über Jahre hinaus zu beobachten und festzustellen, ob bei
gleichbleibenden statischen Bedingungen die Rekurvation zunimmt und
wie sich die Längenverhältnisse des proximalen Tibiaendes an der
vorderen und hinteren Seite gestalten. Solange die Lage Verhältnisse
der Epiphysenlinie so regelrechte und die Diaphysenknickung eine so
deutliche ist, wie in unserem Falle, ist man nicht berechtigt, das Primäre
der Tibia recurvata in einer Wachstumsstörung zu erblicken.
Wir zweifeln nicht daran, daß in den drei bereits erwähnten Fällen
von P a t e 1 und C a v a i 11 o n dieselben anatomischen Veränderungen
wie in unserem Falle Vorgelegen haben. Die Photographien imd die
Beschreibung stimmen damit überein. Diese Autoren fassen auch die
Tibia recurvata als kompensatorischen Vorgang zum Ausgleich der
Hüftkontraktur auf und sehen speziell die vorliegende Knie Veränderung
als einen Ausgleich für die Flexion der Hüfte an, da der Schwerpunkt
des Körpers allein durch die Lumballordose nicht genügend nach hinten
verlegt würde. Es müßte noch ein weiteres Gegengewicht in Form der
Rekurvierung des Knies geschaffen werden. Daß die statischen Ver¬
hältnisse durch die Zurückverlagerung des Knies auch in unserem Falle
wesentlich günstigere werden, ist zweifellos richtig. Trotzdem genügt
diese Erklärung durchaus nicht für die Tibia recurvata; denn das
Gleichgewicht könnte ebensogut durch Entstehung einer Rekurvation
im Kniegelenksspalt, also durch ein einfaches Genu recurvatum com^
pensatorium hergestellt werden. Worin dieses weitere Moment zu suchen
ist, warum nicht das einfachere Genu recurvatum entsteht, ist die
wichtige Frage.
Von der größten Bedeutung hierfür scheint mir nun das Verhalten
des Kniegelenks selbst zu sein. Ein Umstand, auf den ich schon bei
der Beschreibung unseres Röntgenbildes hinwies, ist der, daß auch
bei stärkster Geradestreckung des Beines die Articulatio genu
in deutlicher, ziemlich beträchtlicher Flexion
steht. Dieser Tatsache wurde meines Erachtens bisher nicht genügend
Rechnung getragen. Nur L e F o r t macht gelegentlich der Besprechung
der pathologischen Anatomie des kompensatorischen Genu recurvatum
darauf aufmerksam, daß die Schlaffheit der Kniebänder bei Genu recur¬
vatum nur eine scheinbare ist, indem sich ja das Gelenk bei Streckung
Digitized by C^ooQle
624
Siegfried Peltesohn.
von 180® in Wahrheit noch in leichter Beugung befinde, weil nämlicL
die Ueberstreckung auf Knochenbiegung beruhe. Wir stellen füi
unseren Fall einwandfrei das Vorhandensein einer dauernden F1 e-
xionskontraktur des Kniegelenks von 150® fest.
Das Auftreten von sekundärer Flexionskontraktur im Kniegelenk
bei Coxitis beobachtet man nun nach Dollinger entweder bei stark
flektiertem Hüftgelenk, wenn Patient mit Krücken herumgeht, oier
bei beiderseitiger Hüftgelenkskontraktur, wenn Patient beständig sitzt
und die Kniegelenke lange Zeit hindurch nicht gestreckt werden. Wel¬
chen Grund die Kontraktur des Kniegelenks in unserem Falle hat,
kann ich leider wegen der mangelnden anamnestischen Daten nicht
entscheiden; daß sie existiert, unterliegt keinem Zweifel. Diese Flexions¬
kontraktur aber als eine sekundäre Erscheinung, d. h. als Folge der
Verbiegung der Tibia aufzufassen, liegt kein Grund vor. Wir sehen
doch nicht selten derartige Verbiegungen dicht imter dem Kniegelenk
z. B. nach Frakturen jahrelang bestehen, ohne daß sich deswegen
das Kniegelenk selbst in Flexionskontraktur begibt, d. h. einer passiven
Streckung bis 180® nicht mehr fähig ist. Wir glauben nun, daß ein
Teil der Schuld für die Ausbildung der Tibia recurvata dieser Kontraktur
beizumessen ist, indem selbstverständlich eine Rekurvation im Knie¬
gelenk selbst durch die Tatsache der Flexionskontraktur verhindert
wird; es kann Flexionskontraktur und Hyperextension nicht gleich¬
zeitig an einer und derselben Stelle auf treten.
Wie ich schon oben ausführte, drängen aber die statischen Ver¬
hältnisse bei Flexionsankylose der Hüfte geradezu zu einem Ausgleich,
zu einer Rückwärts Verlagerung des Körperschwerpunktes, also zu einer
Rekurvierung des Knies. WTe groß in unserem Falle speziell die Ver¬
lagerung des Körperschwerpunktes nach vorne war, geht aus dem
Umstande zur Genüge hervor, daß es unserer Patientin nicht möglich
war, ohne Stütze nach vom mit durchgedrücktem linken Knie zu stehen,
was auch die Notwendigkeit ergab, ihr bei der photographischen Auf¬
nahme einen Halt an einer Stuhllehne zu gewähren.
Da nun die Rekurvation des Beins im Kniespalt selbst nicht
zu Stande kommen konnte, mußte sie entweder am Femur oder an der
Tibia Platz greifen. Für den Femur bestand aber weder von seiten
der Hüfte noch des Kniegelenks ein Grund, diese Durchbiegimg zu
besorgen; denn er war in der Hüfte in Flexion ankylosiert und wurde
daher nur selten über die Vertikale nach abwärts gesenkt; auch war
er im Kniegelenk flektiert, so daß auch hier eine Rekurvierung nicht
Digitized by C^ooQle
-Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvatÄ. 625
stattfinden konnte. Zu diesem Verhalten trug vielleicht auch noch die
Tatsache des physiologischen Uebergewichts der Beugemuskeln über die
Streckmuskeln bei.
Wie liegen nun die Verhältnisse bei der Tibia? Riedinger
setzt bei der Besprechung der Entstehung der Deformitäten im
J oachimsthal sehen Handbuch auseinander, daß die Ausbildung
der Belastungsdeformitäten des Unterschenkels wesentlich von dem
Verhalten des Kniegelenks abhängt, speziell wie bei der Rhachitis aus
der Beugung des Kniegelenks sich eine Disposition für Verkrümmung
der Unterschenkeldiaphyse mit Konvexität nach vom ergibt. Eigentlich
würde also auch in unserem Falle, wo allerdings von einer Rhachitis
zunächst nicht die Rede sein kann, eine Biegung der Tibia mit Kon¬
vexität nach vorn zu erwarten sein. Indessen walten hier doch durch
die eigenartigen statischen Verhältnisse, namentlich aber auch durch
die Wirkung der Muskeln veränderte Umstände ob. Es ist zu bedenken,
daß in unserem Falle stets das Bestreben bei der Patientin vorhanden
war, den Unterschenkel zu strecken, daß hier also an der Vorderseite
des Unterschenkels ein dauernder starker Zug von seiten des Quadriceps
femoris ausgeübt werden mußte, um die Streckung zu erreichen. Der
Scheitel des Knickungswinkels bei unserer Tibia recurvata entspricht
nun, ebenso wie bei den analogen Fällen P a t e 1 s und Cavaillons,
fast genau dem Ansatz des Ligamentum patellae, also des Quadriceps
femoris. Wie auf dem Röntgenbilde zu erkennen ist, setzt das Ligament
sogar dicht unterhalb dieses Punktes an. Es erscheint also durchaus
möglich, daß dieser Muskelzug mit zu der eigenartigen Verbiegimg
beiträgt. Aber es ist nicht zu vergessen, daß der bloße Muskelzug bei
gesundem Knochengerüst keine derartige eingreifende Knochenum¬
gestaltung herbeiführt. Man kann also nicht umhin, noch das Vor¬
handensein eines Locus minoris resistentiae anzunehmen, wie es auch
bereits Kirmisson für seine Fälle getan hat, indem er von einem
„rachitisme local“ sprach. Wir möchten einen solchen neuen Begriff hier
umsoweniger einführen, als sonst an unserer Kranken von Rhachitis-
symptomen nichts zu bemerken war. Es scheint uns näher zu liegen,
diesen Locus minoiis resistentiae als den Ausdruck der Gesamtschädigung
des erkrankten Beins aufzufassen; wdr wissen durch neuere Forschungen,
besonders französischer Autoren, daß die Tuberkulose auch in einer ab¬
geschwächten Form—der sogenannten „Tuberculose inflammatoire“ —
auftreten kann und möchten daher bei einem Individuum, das
tuberkulöse Herde an verschiedenen Stellen des Körpers auf weist.
Digitized by C^ooQle
626
Siegfried Peltesohn.
1
lieber annehmen, daß auch hier die Knochenweichheit die Manifestadcc
eines solchen Knochenherdes ist. Ueber die Natur der lokalen Ver* ;
änderung kann allerdings erst die Zukunft Aufschluß geben, wenn der !
Zufall einen derartigen Fall zur au toptischen Untersuchung liefen
sollte. Will man nun auch diese Annahme, für die Beweise zu exbrinreL
wir in unserem Falle natürlich nicht in der Lage sind, nicht akzeptiererL
so vrird man sich der Tatsache erinnern, daß durch eine sich über JaLr? •
erstreckende tuberkulöse Coxitis der ganze, distal davon gele^reii? I
Gliedabschnitt zweifellos in seiner Ernährung gestört werden kann.
Ob auch in den Fällen von Tibia recurvata, die bei Knieaffektic^cen
der gleichen Seite auf traten, also den Kirmisson sehen Beobac li-
tungen, unseren Ausführungen analoge pathologische VerhälmL^
vorliegen, oder ob hier in der Tat die Erkrankung eine reine Epiphysen-
erkrankung ist, kann durch die vorliegende Beobachtung natürlich
nicht entschieden werden.
Was aber die Tibia recurvata bei Flexionsankylose der gleich¬
seitigen Hüfte anbetrifft, so möchte ich zusammenfassend das Weser
derselben in einer in Höhe der Tuberositas tibiae be¬
findlichen Einknickung und darauf beruhender
Schweifung des ganzen proximalen Teils des
Knochens, vergesellschaftet mit einer leichten
Flexionskontraktur des Kniegelenks, erblicken.
Diesem seltenen Leiden begegnen wir bei Fle¬
xionskontraktur des Kniegelenks. Die sich an¬
schließende Rekur vie r ung des proximalsten Teils
der Tibiadiaphyse ist als eine Folge der stati¬
schen Verliältnisse und gewisser uns noch nicht
bekannterKnochenerweichungsprozesse anzusehen.
Literatur.
L e F o r t, Le genu recurvatum acquis. Revue d’orthopedie 1907.
W o r o b i e f, O genu recurvatum. WraLsch 1901. Ref. Zentralbl. f. Chir. 19tü.
Schanz, Deformitäten im Bereich des Kniegelenks. Handb. d. orthop. Chir..
herausgeg. von Joachims t ha 1. Jena 1905/07. II S. 2.
Reichel, Verletzungen und Erkrankungen des Kniegelenks und Unterschenkels.
Handb. d. prakt. Chir. Bd. 4.
D o 11 i n g e r, Hüftgelenkentzündung, Kontraktur und Ankylose. Handb. d.
orthop. Chir. von J o a c h i m s t h a 1. Jena 1905/07. II, S. 2.
Digitized by
Google
5d ^
Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. 627
K. i 8 c h, Uebar das Genu recurvatum osteomyeliticum. Beiträge zur klin. Chir.
Bd. 41 S. 2.
Hof m e i 8 t e r, lieber Verkrümmungen des Beins nach Kniegelenksresektion
im Kindesalter. Beiträge zur klin. Chir. Bd. 37 Heft 1.
Zwirn, Das Genu recurvatum acquisitum. Inaug.-Diss. Leipzig 1906.
Gasne et Courtelemont, Le Genu recurvatum dans la coxalgie. Nouv.
Iconographie de la Salpetriere 1901.
Sonnenburg, Die spontanen Luxationen des Kniegelenks. Deutsche Zeitschr.
f. Chir. Bd. 6, 1876.
ICirmisson, Sur une d^formation particuliere du genou simulant la luxation
du tibia en arriere. Revue d’orthop. 1890.
J alaguier, Flexion ant4ro-posterieure de la partie sup^rieure du Tibia. Revue
d’Orthopädie 1890.
atel etCavaillon, Ankylose de la hanche etc. Revue d’Orthopädie 1904.
o m a n o, Genu recurvatum di alto ^ado di origine pathologica con sinostosi
femoro-tibiale. Archivio di ortopedia 1908 Heft 3.
Digitized by L^ooQle
Referate.
Paul Reichel, Lehrbuch der Nachbehandlung nach Operationen. 2. Auflage.
J. F. Bergmann. Wiesbaden 1909.
Es ist mit Freuden zu begrüßen, daß der Autor sich entschlossen hat.
das seit fast 9 Jahren im Buchhandel vergriffene Werk, das auch dem Orthopädec
vielfache wertvolle Fingerzeige bietet, in einer Neubearbeitung^ erscheinen la
lassen. Von neu hinzugekommenen Abschnitten erwilhne ich die Behandlucg
der akuten Entzündungen mit Stauungshyperämie, sowie eine kurze Besprechußg
der für die Begutachtung von Unfallverletzten maßgebenden Gesichtspunkte.
Joachimsthal.
Mauclaire, Maladies des os. Nouveau traite de Chirurgie. Bailliere et hls
Paris 1908.
ln der Einleitung dieses neuen Werkes über die Erkrankungen der Knochen
weist Mauclaire darauf hin, daß die Pathologie der Knochen nur ein Spiegel
der allgemeinen Pathologie ist; so führen die Infektionskrankheiten zur Ostec»-
myelitis, die Lungenerkrankungen zu Osteoarthropathia pneumica, die Maeen*
krankheiten zu Rhachitis und Gicht, die malignen Neubildungen zu Spontan¬
frakturen, die Erkrankungen der Drüsen mit innerer Sekretion zu Zwergwuchs
und Riesenwuchs etc. Bei dem heutigen Stande der allgemeinen Pathologie
scheint die Ostitis die Grundlage der meisten nicht traumatischen Knooben-
erkrankungen zu sein. Unter Berücksichtigung der verschiedenen pathogeneti¬
schen und ätiologischen Krankheitsursachen der Knochen bespricht Mauclaire
das gesamte Gebiet der nichttraumatischen Knochenaffektionen in folgenden fünf
nach klinischen Gesichtspunkten geordneten Hauptgruppen: 1. Infektiöse Er¬
krankungen (Osteomyelitis, Tuberkulose, Syphilis). 2. Parasitäre Krankheiten
(Echinococcus und Aktinomykose). 3. Chemische Intoxikationen (Phosphor- und
Quecksilbervergiftungen). 4. Trophische oder nervöse Knochenkrankheiten, di?
wiederum in atrophierende (Achondroplasie, Rhachitis, Osteomalacie, Osteo-
psathyrosis) und hypertrophierende (Pagetsche Krankheit, Osteoarthropathie
pneumique, Akromegalie, Leontiasis ossea) eingeteilt werden, wobei Verfasser
aber selbst auf das Schematische dieser die verschiedensten Knochenaffektionen
aufweisenden Gruppenteilung hinweist. 5. Neubildungen der Knochen. — Di?
Nekrose und die Abszesse werden nicht gesondert abgehandelt, da sie ja nur
ein Syndrom, keine selbständigen Knochenkrankheiten darstellen; sie finden Er¬
ledigung bei der Besprechung der einzelnen obengenannten Affektionen.
Wie schon die obige Inhaltsangabe beweist, ist das gesamte Gebiet der
Digitized by L^ooQle
Referate.
629
nichtraumatischen KnochenafFektionen vollständig behandelt. Trotz der Fülle
des Materials findet man sich, dank der großen Uebersichtlichkeit der Gruppie¬
rung, schnell zurecht, üeber 160, zum Teil sehr gute Bilder illustrieren das
Werk. Peltesohn-Berlin.
K. Ewald, Hilfsbuch zum Anlegen chirurgischer Krankengeschichten und
Ordnen der gemachten Beobachtungen. Franz Deuticke. Leipzig und
Wien 1909.
Ewald hat in diesem Buche seine eigenen und die Erfahrungen der
Ko eher sehen Klinik im Anlegen und Ordnen chirurgischer Krankengeschichten
niedergelegt. Er bringt das Schema eines Allgemeinstatus und eine Anzahl
Schemata der hauptsächlichsten chirurgischen Erkrankungen, in denen alle
Punkte berücksichtigt sind, die einem jungen Hilfsarzt beim Anlegen wissen¬
schaftlich verwendbarer Krankengeschichten nützlich sein können. Geordnet
werden sie durch einen Archivar mit Hilfe von Registerblättern in zwei Zettel¬
katalogen: alphabetisch nach den Namen der Kranken und mit Ordnungs-
Dummern nach Diagnosen, die in einem besonderen Verzeichnis aufgeführt
werden. In ähnlicher Weise erfolgt die Ordnung der Röntgen platten, Photo¬
graphien und mikroskopischen Präparate. Eh ringhaus-Berlin.
V. Baeyer, Die Aufgaben der modernen Orthopädie. Münch, med. Wochenschr.
1908, 36.
In seiner Probevorlesung bespricht v. Baeyer zunächst die Ansichten ver¬
schiedener Orthopäden (Hoffa, Lorenz, Vulpius) über dieses Thema, gibt
sodann eine kurze Uebersicht über die Vergangenheit der Orthopädie und
schildert die Aufgaben der modernen Orthopädie, indem er die Erfolge der
mechanischen, unblutigen und operativen Behandlung der hauptsächlichsten
Gruppen von Erkrankungen des Bewegungsapparates beschreibt. Für die näch¬
sten Aufgaben der Zukunft hält er die Ausarbeitung der Nerven- und Sehnen¬
plastiken und fordert auch Beschäftigung mit theoretischen Aufgaben, von denen
er zwei Probleme, 1. den normalen und den kranken Knochen, 2. das Verhalten
von Fremdkörpern im Organismus, etwas ausführlicher schildert.
Bl en cke-Magdeburg.
Jahrbuch der Pfeifferschen Stiftungen zu Cracau bei Magdeburg
für das Jahr 1907.
Aus dem Bericht interessiert den Orthopäden wohl in der Hauptsache
nur der der Krüppelanstalt gewidmete Abschnitt. Die Zahl der Krüppelkinder
betrug Anfang 1908 inkl. der Handwerkerlehrlinge 175. 40 Proz. der aufge-
noramenen Kinder eigneten sich noch für eine Behandlung. Besonders zahl¬
reich waren die schweren schlaffen und spastischen Lähmungen, ferner die
Fälle von ausgeheilter oder noch mit Fisteln verbundener Knochentuberkulose,
besonders der Wirbelsäule und der Hüfte. Operiert wurden 18 Kinder, an
denen 6mal Operationen an den Sehnen und Muskeln, 6mal am Knochen¬
system, und zwar 3mal Oberschenkeldurchmeißelung bei hochgradigem X-Bein,
alle mit vorzüglichem Erfolge, 2mal Versteifung eines gelähmten Beines, Imal
Entfernung des tuberkulös zerstörten Hüftgelenks vorgenommen wurden. Wieder*
Digitized by L^ooQle
630
Referate.
holt wurden difforme Gelenkstellungen operativ korrigiert. Rein orthopädisd- i
Verfahren richteten sich in erster Linie auf die Besserung schwerer Skolic^
mit ihren Beschwerden; es wurden 6mal Gipskorsette und 5inal Lederkorjcit^r
angefertigt, ferner wurden wiederholt * Gehgipsverbände und Gipsschienen 1«
gestellt. Bl encke-Magdeburg.
Gelhaar, Sport und Schule. Aerztlicher Verein zu Frankfurt a. M., 11.^
1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 36.
Gel haar empfiehlt zur körperlichen Ausbildung der Schuljugend a ,
Sommer obligatorische Turnspiele, Vermehrung der Spielplätze, im Winter h-
lauf, Fußball und Hockeyspiel für die Kräftigeren. Er verlangt weiter reg^
mäßige Wanderungen für alle und endlich tunlichste Förderung des Flii>
Schwimmens. Bl encke-Magdeburg.
Schmiedicke, Erfahrungen über körperliche Entwicklung im militärpflichlires
Alter. Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M., 11. Mai 1908. Münch, mei
Wochenschr. 1908, 36.
Schmiedicke weist auf die Zunahme der Herzkrankheiten unter d«
Gestellungspflichtigen hin, die auf Sport, besonders Radfahren, znröckzufübw
sind. Anderseits ist aber nach seiner Meinung eine ausgiebige Tätigkeit is
freier Luft gerade für den Großstädter sehr nötig, da unter den Gestelloßg*^
pflichtigen der Großstädte sich der niedrigste Prozentsatz von Tauglichen find«
Schmiedicke empfiehlt daher sorgfältige, dem Arzt zu überlassende
derer, die bestimmte Maximal- oder Dauerleislungen anstreben, während
dazu nicht geeigneten sich mit leichten Körperübungen begnügen sollen.
Blencke-M agdeburg.
Altschul, Geschichte des Sports. Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M., 11
1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 36.
Altschul schildert die geschichtliche Entwicklung des Sports von der
Zeit der alten Kulturvölker her bis in die neueste Zeit unter besonderer
rücksichtigung des Turnens und des Fahrradsports, sowie der literarischen
samkeit des ärztlichen Stiindes in dieser Frage von Hippokrates an bis
Neuzeit. Bl encke-Magdeburg.
Lazarus, Vorläufige Mitteilung über konzentrische Gelenkstützapparate. Zentnl-
blatt f. Chirurg, und mechan. Orthopädie Bd. II, Heft 9.
Lazarus hat für Schulter und Hüftgelenk Apparate konstruiert, derto
geometrischer Drehpunkt mit demselben Punkt des anatomischen Gelenkes
saramenfällt. Infolgedessen beeinträchtigen diese Apparate die normalen Be¬
wegungen dieser Gelenke nicht nur nicht, sondern sie beugen auch jeglkl’^“
unregelmäßigen Bewegungen vor. Aus diesem Grunde sollen sie hauptsac^^'^
Verwendung finden bei Luxationen (angeborenen sowohl wie akquirierten)
als Hilfsapparate bei der Nachbehandlung von Gelenkresektionen. Eine
Beschreibung der Apparate hat sich der Verfasser noch Vorbehalten.
fahren nur, daß die Bewegungen derart vor sich gehen, daß zwei konzentriKk^-
das ganze Gelenk umgebende Kugelabschnitte, deren Mittelpunkt mit dem Drel>
Digitized by L^ooQle
Referate.
631
punkt des Gelenkes zusammenfallen, sich ineinander bewegen, ebenso wie sich
der Kopf in der Pfanne des Gelenkes dreht. Pfeiffer-Frankfurt a. M.
Thilo, Orthopädische Technik. Archiv f. Orthopädie Bd. VI, Heft 2—3.
Die obige Monographie ist eine kurze Zusammenfassung zahlreicher, in
verschiedenen Zeitschriften zerstreuter Arbeiten Thilos über orthopädische
Technik, die Herstellung einfacher, aber sinnreicher Verbände und Apparate
und über Bewegungstherapie. Der reiche Inhalt der Arbeit und die Vielseitig¬
keit und Mannigfaltigkeit der abgehandelten Themata lassen jedes Referieren
als zwecklos erscheinen. Es genügt der Hinweis, daß hier nicht nur der prak¬
tische Arzt, der ja naturgemäß auf einfache Mittel angewiesen ist, sondern auch
der Fachorthopäde manchen nützlichen Wink erhält, und manche Vereinfachung
und last but for patients not least manche Verbilligung kostspieliger Apparate
lernen kann. Pfeiffer-Frankfurt a. M.
Patrik Haglund, Om bandagebehandling vid forlamningar i de nedre ex-
treraiteterna. (lieber Bandagebehandlung bei Verkrüppelungen in den unteren
Extremitäten.) Allmänna svenska Läkartidningen 1908, Nr. 7 — 8.
Vortrag über Behandlung der spinalen Kinderparalyse mit Schienenhülsen¬
apparaten unter Betonung der schönen funktionellen Resultate, die eintreten, wenn
man die Patienten sorgfältig lehrt, sich in Apparaten zu bewegen. Er fordert, daß
man diese Apparate nicht als ein ultimum refugium, sondern frühzeitig zu einer
üebungstherapie benutzen soll: „Wenn es in meiner Macht stände, so wollte
ich ein allgemeines Gymnastikschlagwort ausrotten, welches in der ganzen
Welt Poliomyelitispatienten daran hindert, eine gute Bandagebehandlung bei
saohkundigen Orthopäden zu erhalten. Es wird nämlich, übrigens sehr ver¬
lockend gesagt, daß man sich möglichst lange enthalten soll, die schwachen
Beine in Bandagen zu setzen, sie werden nur mehr und mehr zu Grunde
gerichtet.“ Im Gegenteil, denn nur dadurch, daß man den Extremitäten zu
ihrer normalen Funktion verhilft, können sie sich den Verhältnissen ent¬
sprechend entwickeln. — Restiert nur ein einzelner Muskel (z. B. tibialis ant.),
so erachtet H. es für schädlich, diesen mittels Massage und Gymnastik zu
entwickeln, da ein derartiger einzelner Muskel nur zü Kontrakturen Veran¬
lassung gibt. Nyrop Kopenhagen.
Louis Bramson, Om Traktionsbehandling og et Apparat hertil (lieber Trak¬
tionsbehandlung und einen hierzu benutzten Apparat). Hospitalstitende
1908, 5.
Bramson beschreibt einen von ihm konstruierten „Sugetrakmassage“-
Apparat. Er hat Aehnlichkeit mit Bi er-Klapps Saugglaa, an welches ein
Handgriff’ zur Ausführung der Traktion angebracht ist. Hat sich die Glocke
festgesaugt, so erzeugt man mit Hilfe des Handgriflfs abwechselnd Zug und
Druck. Man soll hierdurch eine gleichzeitig mechanische und lokal kongestio-
nierende Behandlung des subkutanen Gewebes erzielen. Der Apparat wird bei
Ischias, Myositiden, Neuralgien, zikatriziellen Festheftungen, Hämatomresten etc.
empfohlen. Ny rop-Kopenhagen.
Digitized by L^ooQle
632
Referate.
Bade, Ein neuer orthopädischer Operationstisch. Zentralbl. f. chirurg. dic
mechan. Orthopädie Bd. II, Heft 5.
Der neue Badesche Operationstisch ist aus dem Schedeschen rei
Heu8nersehen Extensionstische entstanden. Er ist mit einer auswechsellire
Beckenschwebe, die der Gochtsehen ähnelt, versehen, ferner mit verscbiec-
baren niederzuklappenden und herausnehmbaren Zwischenplatten und mit Ko^
traextensionsvorrichtungen am Kopf und nach unten. Sämtliche Tischplatte
tragen Schlitze, durch welche die verschiedenen Züge hindurcbgeleitet werde:
können. Die vorderen Tischplatten besitzen herunterklappbare Griffe and s
konstruierte Scharniergelenke, daß sie vollständig aufgeklappt werden könne:
und auf diese Weise den Schulz eschen Klumpfußosteoklasten ersetzen. Scisie.
daß keine Abbildung dieses Tisches der Empfehlung beigegeben ist.
Pfeiffer - Frankfurt a. IL
V. Wreden (Petersburg), Eine künstliche Hand mit aktiv beweglicie:
Fingern. Zentralbl. f. chirurg. und mechan. Orthopädie Bd. H, Heft 10
V. Wreden hat die Idee Vanghettis, einen Amputationsstuinpf ber
austeilen, der der Prothese aktive Beweglichkeit MithjUt, mit Erfolg verwirk
licht. Er hat die „Kinematisation* des Stai0fifi*ii in der Art ausgeführt. dä5
er an einem Handamputationsstumpf a«ir der Sehne des oberflächlichen Fing?*'*
trägers eine Schlinge bildete, die er aus der Wunde hervorragen ließ, um he
dann mit Haut ringsum zu decken. Es trat rasche Heilung ein und scbca
nach kurzer Zeit war der Patient im stände, mit seiner Sebnenscblinge 6 kg
Gewicht zu ziehen. Nun wurde die Schlinge mittels eines vernickaUen
hakens mit den Drahtsehnen der künstlichen Hand in Verbindung gehrAcbt,
wodurch der Patient befähigt war, aktiv seine Finger zu beugen und
schiedene Gegenstände zu fassen und festzuhalten. Die Extensionsbewegungen
waren durch elastische Züge ersetzt worden. Noch größere Erfolge ließen sicii
natürlich durch die Bildung von zwei Schlingen, für den Daumen und für die
übrigen Finger, erzielen, was im Moment der Amputation natürlich leichter n
bewerkstelligen sein wird. Pfeiffer-Frankfurt a.-M.
Charles M. Paul, An extension without use of wights, for fractures.
York med. Journ., 15. August 1908, S. 299.
Verfasser gibt einen Verband an, durch den eine Extension ohne Gewich
erreicht wird, lieber einen Pflastersteigbügel verband legt er einen bis zum ober»
Drittel des Oberschenkels reichenden Eisenbügel. Indem er Gummizüge von deis
Pflastersteigbügel zu dem Fuße des Eisensteigbügels führt, übt er eine EitenMO»
aus. Im einzelnen muß die illustrierte Arbeit eingesehen werden.
F. Wo blauer- Charlottenburg.
A. Hofmann, Die Umsetzung der longitudinalen Extension in transversai?
Extension, ein leicht zu improvisierender, wie auch als Dauerextension
benützender Streckverband. Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59, Heft- 2, S. 2So.
Die erste der beiden von Hof mann beschriebenen Modifikationen is'l
dadurch cliaraktcrisiert, daß die longitudinale Extension in queren
zwei Seiten umgesetzt wird, während die zweite Extensionsart eine l®*
Setzung des longitudinalen Zuges in einen solchen transversalen nur nach ein^^
Digitized by VjOOQle
Referate.
633
Seite darstellt. Die Technik der Extensionsübertragung nach zwei Seiten ge¬
staltet sich so, daß zunächst die Heftpflasterstreifen an der unteren Ex¬
tremität in der gewöhnlichen Weise befestigt werden. An Stelle des üblichen
Spreizbrettes kommt ein Spreizbrett, das aber dem weiteren Zweck dient, als
Träger der Umsetzung zu wirken. Dasselbe besteht aus einer halbkreisförmigen
2—3 cm dicken Holzscheibe, an welcher an jeder Seite je eine Ringschraube
angebracht ist. Die Extensionsstreifen laufen um die Peripherie dieser Holz¬
scheibe und werden von den Ringschrauben durchbohrt. Die Holzscheibe be¬
findet sich also genau an derselben Stelle, an welcher bei der sonst üblichen
Extension das Spreizbrett eingeschaltet ist. Um das untere Brettende wird eine
Schnur gelegt, welche in sich selbst zurückläuft. Dieselbe muß straff angezogen
sein. Um den dem Bette zugewendeten Teil dieser Schnur wird eine quer
verlaufende Schnur heruingeführt, welche nach links wie nach rechts durch je
eine der vorhin erwähnten Ringschrauben gleitet und nun mit beiderseits gleich
schweren Gewichten belastet wird. Dieser Zug zieht zunächst die um das untere
Bettende gelegte Schnur fest an und übt dann einen Zug an der unteren Ex¬
tremität direkt nach unten aus.
Bei der Umsetzung des longitudinalen Zuges in einen solchen nur nach
einer Seite geschieht die Ablenkung distal von dem in der üblichen Weise
benutzten Spreizbrette mit Hilfe einer Fadenrolle, welche die die Uebertragung
der Extension bewirkende, einerseits an dem Spreizbrett, anderseits an einer
das Bettende umgebenden Schnur wirkende Zugvorrichtung aufnimmt.
Das beschriebene Extensionsverfahren stellt zunächst eine Improvisation
dar. In jedem Haushalt kann es schnell und ohne besonderen Aufwand aus¬
geführt werden. Alles, was man dazu braucht, ist in dem einen Falle eine
Fadenrolle, im anderen ein halbkreisförmiges Spreizbrett, welches aus einem
Stück Holz leicht zurecht geschnitzt werden kann. Das Extensionsverfahren
besitzt aber nicht nur den Zweck, einer Improvisation zu genügen. In dem
städtischen Krankenhause zu Karlsruhe werden seit 2 Jahren sämtliche Streck¬
verbände an der unteren FiXtremität in der gleichen Weise angelegt.
Joachimsthal.
Vogel, Zur Technik des Gipsverbandes. Zentralbl. für Chirurgie 1908, 42.
Um den Gipsverband leichter zu machen, setzt Vogel Chemikalien
hinzu, die im Moment, wo die Binde ins Wasser getaucht wird, Kohlensäure
entwickeln. Er nimmt ein Gemisch von
Gumm. arab. 10,0
Amyl. 20,0
Cretae alb. subtill. pulv. 27,0
Alum. sulf. 60,0
und vermengt dieses innig mit dem gewöhnlichen Gips und zwar im Verhältnis
von 1 (Gemisch) zu 6 (Gips).
Festigkeit, Dauerhaftigkeit und Billigkeit des Gipsverbandes leiden dar¬
unter ebensowenig, wie die bequeme Art der Herstellung und die schnelle Er¬
härtung. Blencke-Magdeburg.
Zeitschrift für orthopiidische Chirurgie. XXII. Bd. 41
Digitized by CjOOQle
634
Referate.
Frankel, Die Technik der Gehgipsverbände. Mdnch. med. Wochenschr. v
Fränkel empfiehlt den mittels des Lorenzschen Tretbügela hergesteKte^
Gipsgeh verband, der bisher nur bei der Behandlung der Gelenktuberkulose vr
wendet wurde, auch zur ambulanten Behandlung von ünterschenkelfraktnr«: ^
von fixiertem Plattfuß und als Verband, der einen operierten Fuß oder Unt-r
Schenkel vor Belastung schützen soll. Für die Fälle, in denen ein abnehmbarer Gi;- [
verband erwünscht ist (z. B. zur Applikation der Bier sehen Stauung bei Geloi
tuberkulöse) hat Fränkel den Lorenzschen Bügel durch Finfügen eiie i
Hodgenschamiergelenks in einen Schenkel der Doppelschiene zum Auf- und Z:
klappen eingerichtet. Als besondere Vorzüge dieses abnehmbaren entlastenia ,
Gipsgehverbandes gegenüber den Hessing- und Zelluloidapparaten hebt Vtr
fasser die Billigkeit und Einfachheit der Herstellung hervor. i
Blencke-Magdeburg. |
Kofmann, Die Technik der Gehgipsverbände. Randbemerkungen zu dem Artikel [
von Dr. Fränkel in der Münch, med. Wochenschr. 1908, 33. — Müd.^ I
med. Wochenschr. 1908, 36.
Kofmann hebt hervor, daß er bereits 1904 den Lorenzschen Gehböz:- 1
zur Anlegung des Gehverbandes bei Oberschenkelfrakturen und auch die tci
F ränkel angegebenen Sandalen empfohlen hat, legt aber bei Erkrankungen dö
Fußgelenkes mehr Wert auf die Immobilisation als auf die Entlastung nti
nimmt deshalb den Fuß mit in den Verband hinein.
Blencke-Magdeburg. i
I
Dibbelt, Die Pathogenese der Rhachitis. Aerztlicher Verein zu Marburg.
22. Juli 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 35.
Das wesentliche Ergebnis der Untersuchungen und Stoffwechselvei^ock
Dibbelts ist der Nachweis, daß das Wesen der Rhachitis in einer Störung
Kalkstofi'wechsels besteht. Der Calciumgehalt der Frauenmilch deckt nur ud* ^
genügend das Kalkbedürfnis der Säuglinge, läßt sich aber durch kalkreicb?
Nahrung, vor allem viel Kuhmilch und Darreichung anorganischer Kalkpräparate. |
erhöhen. Kuhmilch enthält zwar mehr Kalksalzc als Frauenmilch, aber die
Ausnutzung ist eine viel schlechtere. Noch ungünstiger sind die Ansatz Verhält¬
nisse für das Calcium bei Mehlpräparaten. Therapeutisch ergibt sich daraus die
Forderung, die Rhachitis prophylaktisch zu bekämpfen durch Ausschaltung da
künstlichen Nahrung und Erhöhung des Kalkgehaltes der Frauenmilch dard
kalkreiche Nahrung. Blencke-Magdeburg. i
Palagi, Ricerche sul ricambio materiale nella rachitide tardiva. SocietA di
medicina e biologia. Sitzung vom 2. März 1908.
Bei zwei Kranken mit Spätrhachitia hat Redner Untersuchungen üb»er
den Phosphor-, Kalk- und Magnesiastoffwechsel angestellt, auf Grund welcher
er zu folgenden Schlüssen kommt:
1. Es besteht bei diesem Leiden eine sehr geringe Kalkausscheiduiu:
durch den Harn, welche als der Ausdruck des alterierten Stoffwechsels des
Knochengewebes zu betrachten ist.
Digitized by CjOOQle
(
Referate.
635
2. Eine gleiche Bedeutung ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Uneu*
länglichkeit der Phosphorsäure zuzuschreiben.
3. Der Magnesiastoffwechsel dürfte ebenfalls alteriert erscheinen.
Ros. Buccheri-Palenno.
Arcangeli, Ancora poche parole sulla teoria Bossi. Societa Lancisiana degli
ospedali di Roma, 25. April 1908.
Arcangeli bespricht die Theorien über die Osteomalacie und kommt
zu dem Schluß, daß eine große Anzahl experimenteller und klinischer Tatsachen
für die Infektionstheorie sprechen. Die Adrenalinbehandlung ist nicht ge¬
nügend durch das Experiment und die klinische Beobachtung begründet, sie
kann überdies gefährlich sein.
Bis jetzt haben Chloroformnarkose, Phosphor, Kalksalze voi*zügliche
therapeutische Resultate gegeben.
Ros. Buccheri-Palermo.
De Gregorio, La cura adrenalinica delf osteomalacia. Societa Lancisiana
degli ospidali di Roma, 25. April 1908.
De Gregorio teilt die Resultate der Adrenalinbehandlung in drei Fällen
von Osteomalacie nach Bossi mit. Dieselben sind:
1. In allen drei Fällen erhebliche Efesserung der subjektiven Beschwerden,
aber keine Besserung der objektiven Läsionen, außer der Besserung, die gewöhn¬
lich durch Ruhe und Phosphorkur erzielt wird.
2. In allen drei Fällen während der Behandlung Allgemeinbeschwerden,
die zuweilen so schwer waren, daß die Behandlung selbst ausgesetzt wer¬
den mußte.
3. In einem Fall Glykosurie, die nach Aussetzen der Adrenalininjektionen
rasch verschwand.
4. In einem Fall schwere Läsion der Aorta, bestehend in hyaliner Nekrose
der Media.
Bei sämtlichen drei Kranken haben wiederholte Radiographieen in den
Veränderungen des Skeletts (Rarefaktion der Knochen) keinerlei wahrnehmbaren
Unterschied nachgewiesen.
Ros. Buccheri-Palermo.
T. 0. Schobad, Ein Fall von durch Schädeltrauma bedingtem Zwergwuchs
im jugendlichen Alter, ßerl. klin. Wochenschr. Nr. 45.
Bei dem 9 Jahre alten Knaben mit proportionaler Entwicklung aller
Körperteile, dessen Längenwachstum und Gewicht dem 3. Lebensjahre ent¬
sprechen, während die am Röntgenbilde erkennbare Entwicklung des knöchernen
Skeletts und der Zahnwechsel nur auf eine Verlangsamung der Entwicklung
hinweisen, trat der Stillstand im Wachstum im Alter von 3 Jahren nach einer
Schädelfraktur ein. Am Stirnbein fühlt man 1V* cm nach links von der
Mittellinie und 5* 2 cm über den Augenbrauen eine Einsenkung des Knochens
mit unregelmäßigen Rändern. Die geistigen Fähigkeiten sind normal.
Joachiinsthal.
Digitized by L^ooQle
036 Referate.
Hans Iselin, Wachstumshemmung infolge von Parathyreoidektomie bei Raret
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, 93.
In neuerer Zeit sind den Glandulae parathyreoideae Sandströms, d-i j
jetzt unter den Namen „Epithelkörperchen“ (Cohn) allgemein bekannten er: j
zusehends mehr gewürdigten kleinen Organen, eine größere Anzahl experimri
toller Arbeiten gewidmet worden. Sie bestanden in Exstirpationen oder
plantationen. Dank einer Reihe ausgezeichneter Arbeiten kann heute als fe?t
stehend angesehen werden, daß die Cachexia strumipriva und das kongeniUi-
Myxödem auf dem Ausfall der Schilddrüsenfunktion (Thyreoaplasie) benihL
während die Tetanie auf den Ausfall der Epithelkörperfunktion zuruckzufübrei
ist. In einer außerordentlich exakten Arbeit hat Erdheim im Jahre
den Nachweis erbracht, daß bei den Tieren, die die Tetanie überstanden haben
längere Zeit am Leben blieben, trophische Störungen auftraten, insbesonder-
an den Nagezähnen. Es gelang Erdheim der Nachweis, daß die Brüchigkez!
der Zähne auf mangelhafter Kalkablagerung im Dentin beruht; er hob berver
daß es von Interesse sein würde, den Einfluß der Epithelkörperfunktion auf
das Wachstum und namentlich die Kalkablagerung des wachsenden Skeiet^
bei jungen Tieren zu studieren. An die Erd heim sehen Versuche und Be¬
merkungen nun knöpfen die Versuche Iselins an.
Es gelang Iselin, an? Ratten, die die Ektomie überlebt haben ud
über einen Monat beobachtet wurden, die Feststellung, daß die Tiere eid
Verzögerung oder gar einen Stillstand in Gewichtszunahme und Wachstas
aufwiesen. Allerdings fehlt bei allen Tieren der Sektionsbefund, der das ln-
taktsein der Schilddrüse beweist. Eine der Arbeit beigefügte Gewichtstabelir
und die photographischen Bilder zweier Exemplare mit Kontrolltier veransebatr
liehen die Wachstumsstörung. Sie kommt auch in einem angefügten Rontgec-
bilde des Skeletts klar zum Ausdruck. Sollte es gelingen, diese Beobachtungea
Iselins durch Experimente in großer Zahl und an verschiedenen Tierarten m
bestätigen, so müßte die Lehre von der Tyreoaplasie (d. h. von den Folgen der
sogen, reinen Tyreoidektomie) eine gewisse Modiflkation erfahren.
Bibergei I-Berlin.
J. Schrumpf, lieber das klinische Bild der Achondroplasie (Chondrodjstrophie'
beim Erwachsenen und eine ihr sehr ähnliche, bisher noch nicht be¬
schriebene Form von mikromelem Zwergwuchs bei einer 56jährigen Frao.
Berl. klin. Wochenschr. Nr. 48 S. 2137.
In dem von Schrumpf beschriebenen Fall handelt es sich um eine
50jährige Patientin, die bis zum 7. Lebensjahr normal entwickelt, in diesem
Alter im Anschluß an eine kurze fieberhafte Erkrankung, die mit Gelenk¬
schwellungen einhergegangen ist, ziemlich plötzlich das Gehen verlernte und
die Gebrauchsfähigkeit der Arme und Beine verlor. Rumpf und Kopf ent¬
wickelten sich weiterhin normal, während die Extremitäten ihre Größe beib^-
hielten. Die geistigen Fähigkeiten sind von der Krankheit nicht beeinflußt
worden. Die Patientin zeigt eine Körperlänge von 119 cm, Rumpf und Kopf
erweisen sich als ziemlich normal, während die Extremitäten denjenigen eines
6—7jährigen Mädchens entsprechen. Die Schultergelenke sind partiell, die Ell¬
bogen fast vollkommen rechtwinklig ankylosiert. Ferner besteht eine starke
Digitized by C^ooQle
Referate.
637
Drehung beider Hände nach außen mit partieller LuJtation der Handgelenke.
Die linke Hand ist in dieser Stellung fixiert, die rechte schlottert. Als Schlotter¬
gelenke sind auch die meisten Metakarpophalangealgelenke, sowie Interpha-
langealgelenke zu bezeichnen. Es besteht teilweise Ankylose der Hüftgelenke
und völlige Ankylose der Knie* und Fußgelenke. Die Zehen sind beweglich.
Die Röntgenuntersuchung ergibt gerade, dicke Diaphysen und verdickte Epi¬
physen. Die Epiphysenfugen sind deutlich sichtbar, jedoch nirgends offen.
Auch nach des Ref. Ansicht kann es sich in dem vorliegenden Falle
keineswegs um eine Achondroaplasie handeln; die eingehende Besprechung
dieser Störung erscheint daher als Einleitung zu der Krankengeschichte wenig
angebracht. Joachimsthah
H. W. Takkenberg, lieber idiopathische Osteopsathyrosis. Nederh Tijdschrift
voor Geneeskunde 1908, II, 4.
Das Hauptsymptom dieser Krankheit, die nur bei Kindern vorkommt und
in oder nach der Pubertät immer allmählich verschwindet, ist das Auftreten
von vielen Knochenbrüchen. Entweder sind diese nur auf ein Glied (meist ein
Bein) beschränkt, oder verschiedene Glieder werden von der Krankheit befallen.
Takkenberg berichtet über einen 38jährigen Zigarrenarbeiter, der nach
geringfügigen Anlässen sechs Knochenbrüche am linken Bein erlitten hatte.
3 Jahre alt, brach er den linken Oberschenkel (diese Fraktur wurde nicht
behandelt), 6 Jahre alt, brach er wieder den linken Oberschenkel, 9 Jahre alt,
das linke Bein (die Stelle war nicht zu eruieren), im Alter von 11 Jahren hatte
er einen Knochenbruch am Unterschenkel, 1 Jahr nachher wieder einen am linken
Bein (die Stelle konnte Patient nicht angeben) erlitten. Januar 1908 hatte er
den Unterschenkel gebrochen; der Bruch ist im Gipsverbande gut geheilt.
Die Brüche waren nicht sehr schmerzhaft. Das Bein ist jetzt um 18 mm
verkürzt. Patient legt mit einer Korksohle von 18 mm ohne Ermüdung mehr¬
mals täglich einen Weg von ‘20 Minuten zurück; er hinkt aber deutlich.
Patient war übrigens immer gesund; Symptome von Rhachitis, Syphilis,
Nervenkrankheiten fehlen. Die Eltern, Geschwister und Kinder des Patienten
haben nie Knochenbrüche erlitten,
Ueber das Wesen der Krankheit sind die Meinungen sehr geteilt. Die
Ergebnisse der histologischen Untersuchungen widersprechen einander.
Die Krankheit an sich können wir therapeutisch nicht beeinflussen;
ira späteren Alter werden die Brüche von selbst immer seltener. Die
Knochenbrüche heilen im allgemeinen ebensogut und schnell als bei nor¬
malen Knochen. Man soll nach den üblichen Methoden die Dislokation be¬
seitigen. Leider versäumen die Kranken wegen der geringen Schmerzen öfters,
sich zur rechten Zeit behandeln zu lassen. So wurde bei diesem Patienten die
erste Fraktur von der Mutter für eine unbedeutende Verletzung gehalten; es
wurde kein Arzt zu Kate gezogen. van Assen-Amsterdam.
Alexander Lipschütz, Ueber idiopathische Osteopsathyrose. Berl. klin.
Wüchenschr. Nr 18 S. 866.
Der von Lipschütz beschriebene Fall zeichnet sich dadurch aus, daß
die Frakturen vorzugsweise an den spongiösen Teilen des Knochens lokalisiert
Digitized by L^ooQle
638
Referate.
sind: Epiphyse des rechten Vorderarms (Oleokranon), Oberschenkelhals. Frc:
oberhalb des rechten Knies und linkes Fußgelenk. Die Frakturen in der link-i
und rechten Tibia sind auch tief im unteren Drittel gelegen. Gebrochen
der rechte Vorderarm Imal, der rechte Oberschenkelhals Imal, der unterste Air
schnitt des rechten Oberschenkels Imal, der rechte Unterschenkel 4mal, der liri-
8mal, das linke Fußgelenk Imal, der linke Radius Imal. Joach imst hal
Frederik Wood Jones, Some lessons from ancient fracturea. The
medical Journal, 22. August 1908, S. 455.
Verfasser berichtet über 200 Fälle von geheilten Knochenbrüchen, a-
6000 Skeletten entstammen, welche in Nubien ausgegraben wurden und
dem Zeitraum von ca. 4000 v. Chr. bis 500 n. Chr. angehören. Verfasser jr.:*
eine vergleichende statistische Tabelle über die prozentuale Häufigkeit der
zelnen Frakturarten in seinen Fällen und denen der heutigen Zeit und zwar
dem London Hospital und dem Hudson Street Hospital in New York. K« iv
auffallend, daß keine Patellarfraktur in den 6000 Fällen sich fand, überha:':
sind die Frakturen unterhalb des Knies sehr selten. Verfasser meint, dieses rüh^
von dem Barfußgehen, dem Fehlen von Treppen und Bordschwellen her.
Zusammenhang damit steht, daß von 10 Oberschenkelfrakturen 9 auf christliciifs
Kirchhöfen gefunden wurden, die christlichen Ansiedler trugen Schuhe und
wurden auch in der Nähe der Leichen gefunden.
Fuß- und Handfrakturen wurden prozentualiter sehr selten gefunden, c:-
ersteren wegen des fehlenden Wagenverkehrs, die letzteren wegen des Fehles?
von Maschinenverletzungen.
Vorherrschend waren Vorderarm- und Claviculafrakturen. Dies wird
das Tragen des „Naboot“, eines langen Stocks zuröckgeführt, der der stete
Begleiter des Nubiers war und stets das ultimum refugium wurde.
Humerusfrakturen finden sich im selben Prozentsatz wie heute.
Was die Behandlung anlangt, so hat man auf einem Kirchhof der fünftem
Dynastie, anderseits auf einem christlichen Kirchhof Schienen gefunden, worau?
mit Wahrscheinlichkeit hervorgeht, daß auch die Jon es sehen Fälle mit Schiecen-
verbänden behandelt worden sind — mit Ausnahme der pradynastischen und
der Fälle, die so komplizierte Verbände benötigt hätten, daß sie die Kunst der
alten Aerzte übersteigen mußten. Trotzdem also eine Anzahl Fälle unbehandrlt
waren, so sind doch die Heilungsresultate ebenso gute, ja teilweise bessere
heute. So wurde z. B. in einer Serie von über 40 Frakturen des distalen Uln*-
endes kein einziges schlechtes Resultat gefunden; bei einfachen Frakturen
schient eben der Begleitknochen, hier der Radius. Bei der Fraktur beidtr
Knochen — z. B. Radius und Ulna — waren die Resultate teilweise recht schlechtr'
Vorzügliche Resultate zeigten Femurfrakturen (Verkürzung nur 11 miui.
Humerusfrakturen, an Ulna und Fibula markierte nur eine geringe Auftreibur.g
die Frakturstelle (Abbildungen).
Die einzigen Fälle von Nichtheilungen fanden sich bei Claviculafrakturea.
Sepsis nach Frakturen fand sich nur sehr selten. Die guten Resultate
dieser zum Teil gar nicht, zum Teil kunstlos behandelten Fälle erweisen,
durch ausschließliche Ruhe gute Frakturheilungen zu stände kommen können.
F. Wohlaner-Charlottenburg.
Digitized by c^ooQle
Referate.
639
Bernardi, Di alcune modificazioni citologiche nel eangue dei fratturati. Tipo-
grafia Editrice Mariotti. Pisa 1907.
In vorliegender Arbeit teilt Verfasser die Resultate von über 1000 Blut¬
untersuchungen an normalen und frakturierten Individuen mit. Bei sämt¬
lichen Frakturierten hat er ausnahmslos eine Gesamtvermehrung der zirkulie¬
renden Leukozyten konstatiert. Die cytologischen Aenderungen in den ver¬
schiedenen Verhältnissen sind in zahlreichen Tabellen zusammengestellt, aus
^enen Verfasser folgende Sclilüsse ziehen zu können glaubt:
1. Beim Bestehen einer Fraktur bekommt man im Blut eine Vermehrung
der absoluten Leukozytenzahl, die im Verhältnis steht zu dem Alter des Frak¬
turierten, zu der Bedeutung des verletzten Knochens und zu der Schwere der
V erletzung.
2. Diese Vermehrung erreicht ihr Maximum 10—15 Tage nach der Fraktur
und neigt dazu, allmählich mit dem Heranrücken der Heilung zu verschwinden.
3. Es findet sich im Blut sämtlicher Frakturierter eine ziemliche Anzahl
von Myelozyten, welche weder zu der Schwere der Verletzung und der Be¬
deutung des frakturierten Knochens noch zu dem Alter des Patienten in Ver¬
hältnis steht.
4. Die vielkernigen neutrophilen Zellen, die großen einkernigen und die
Uebergangsformen sind stets (außer in sehr hohem Lebensalter) bedeutend zum
Kachteil der Lymphozyten vermehrt.
5. Die eosinophilen Zellen streben dahin, sich in den ersten Tagen der
Fraktur zu verringern, um späterhin, falls keine Komplikationen bestehen, sehr
hohe Ziffern zu erreichen.
6. Das Fehlen, die erhebliche Spärlichkeit oder das allmähliche Ver¬
schwinden der zirkulierenden eosinophilen Zellen bei den Frakturierten ist ein
prognostisches Zeichen von mehr oder weniger schweren Komplikationen im Ver¬
lauf der Verletzung. Ros. Buccheri-Palermo.
Piovesana, Di una complicanza infrequente nella cura delle fratture degli arti.
Rivista Veneta di scienze mediche 1908, Nr. 2.
Die Komplikation besteht in Schmerz in der Extremität, Anschwellung
und mehr oder weniger erheblicher Abkühlung. Die Rückbildung der Gewebe
zum normalen oder fast normalen Aussehen erfolgt nach 8—20 Tagen, worauf
unmittelbar eine Muskelschrumpfung, eine Kontraktur folgt, welche von ver¬
schiedener Stärke, von allgemein progressivem Charakter ist und zuweilen in
wenigen Wochen den äußersten Grad erreicht. Die Schnelligkeit des Verlaufes
bildet sogar das Wesentlichste zur Unterscheidung des Krankheitsprozesses
von anderen paralytischer Natur, welche üebereinstimmungen besitzen können.
Am meisten trifft die Störung von den Muskelgruppen die Beuger des Vor¬
derarmes, die Fuß- und Unterschenkelstrecker, kann aber auch eine isolierte
Gruppe ergreifen. Die Sensibilität erhält sich intakt; die elektrische Muskel¬
reaktion ist zuweilen normal, zuweilen herabgesetzt, seltener umgekehrt in ihrer
Kontraktionsformel.
Ursache dieser Kontraktur ist stets die arterielle Ischämie, welche zumeist
durch einen zu engen Verband hervorgerufen wird.
Ros. Buccheri-Palermo.
Digitized by L^ooQle
640
Referate.
C. Ewald-Wien, Beiträge zur Behandlung von Knochenbrüchen und Vf
renkungen. Wien. klin. Wochenschr. 1908, Nr. 39, S. 1347.
Ewald stellt die mobilisierende oder funktionelle Therapie der Kdc-tl-'’
brtiche der älteren Behandlungsart mit längerer Fixationsperiode gegenüber ^
weist darauf hin, daß nicht immer unliebsame Folgezustände auf zu Ur.
Ruhigstellung zurückzuführen sind, sondern häufig ihre Ursache in der Ar: 4r
Nebenverletzung von Nerven, Blutgefäßen, Sehnen und Muskeln haben. Er Tr
wirft jede schematische Behandlung und läßt sich in seinem Vorgehen iL-
schließlich von der Verschiebung der Bruchstücke bestimmen. Frakturen ijbi
Dislokation und Fissuren behandelt er mit unwatlierten Gips- bezw. Gii-g-
verbänden. Letztere Tverden mit Flanellbinden unterfüttert; eine auf die S -
geklebte Filzplatte erleichtert das Umhergehen. Nach 3—4 Wochen seu:
Nachbehandlung mit Plattfußeinlage und festem hohem Schnürstiefel ein. Ir-
Knickungsbrüchen der Vorderarmknochen sucht Ewald durch Anlegen eirr'
Schiene an die dem Scheitel des Knickungswinkels gegenüberliegende Seite er
stärkeres Anziehen der über dem Scheitel des Winkels verlaufenden Bindenzh^
ein günstiges Resultat zu erzielen. Zur Verhütung bezw. Behandlung d«
valgus traumaticus nach Knöchel- und anderen Unterschenkelbrüchen gibt r-
einen Apparat an, bei welchem eine äußere Schiene einen von innen nach
abgeschrägten Absatz mit einem in Höhe des Knickungswinkels kräftig asj
zogenen Riemen verbindet und nun durch diesen bei jedem Schritt eneriT.^:
redressierend auf die Verbiegung ein wirken soll. — Verschiebungen ad Ior£
tudinem behandelt Ewald nach den Bardenheuerschen Prinzipien. — fi-
Auswärtsrolluug des proximalen Bruchstückes der Oberarmfrakturen zwingt
das distale Bruchstück durch stärkste Elevation mit Gewichtszug in die ent^preche^:^
Stellung. Die gleiche Dislokation beseitigt er bei Oberschenkelbrüchen
eine am Fuß befestigte rechtwinklige Armschiene, deren freier Schenkel uä:"
außen absteht. Für hartnäckige Fälle empfiehlt er eine Zinkschiene, die j-vi:
mit einem entsprechend gebogenen weichen Teil der Extremität anschmie^t-
während der feste gerade Teil entweder der Unterlage aufliegt oder mineb
Gewichtszug über eine Stelle an der gegenüberliegenden Seite des Bettes nio'
weniger gehoben wird und so eine besonders wirksame Innenrotation des du-
talen Frakturstückes herbeiführt. — Ganz desolate Fälle und solche nait l^te^
Position von Weichteilen sind der blutigen Behandlung Vorbehalten.
Schulter- und Hüftverrenkungen richtet Ewald in der Weise ein, di:
der Patient auf einer Bettdecke am Boden gelagert wird, dann ergreift d-
Operateur mit beiden Händen die betreffende Extremität und kann, indem er
mit dem vom Schuh entblößten Fuß eine Gegenstütze am Körper des Krankes
findet, einen besonders kräftigen Zug ausüben; oder aber die Extremität wira
über Schulter bezw. Nacken des Operateurs gelegt und nun wird durch Aüf
richten eine sehr energische Wirkung erzielt, die noch durch Manipulationrs
der Hände unterstützt wird. Ellbogenverrenkungen werden durch eine Art toe
H ebelwirkung reponiert, indem das an der Innenseite des oberen Vorderaiß*
drittels angesetzte Knie des Operateurs als Hypomochlion dient, und die fr^'^
Hand die Ulna herabzuachiebeu sucht; doch fehlen Ewald hierüber noch eigeßt-
Erfahrungen. Eine größere Zahl von Textfiguren erläutert das Gesagte.
E h r i n g h a u s - Berlin.
Digitized by C^oogle
Referate.
G41
Pucci, Sülle pseudo-artrosi con speciale riguardo al tessuto muscolare inter-
posto. La clinica chirurgica 1908, Nr. 4.
Pucci spricht in seiner Arbeit von den Pseudarthrosen im allgemeinen
und glaubt, daß die Hauptursache derselben im Kindringen von Weichteilen
zwischen die Bruchstücke zu suchen sei. Bei 54 an Kaninchen vorgenommenen
Versuchen hat er das eingedrungene Muskelgewebe untersucht und ist zu folgen¬
den Schlußfolgerungen gekommen:
In dem Muskelgewebe, welches sich in den ersten Tagen zwischen die
Bruchstücke geschoben hat, findet man eine sehr deutliche Vermehrung der
Sarcolemmkerne, während die Muskelfaser entartet und nach und nach atrophiert.
Indessen sucht die Proliferation der Sarcolemmkerne sich von ihrem Ausgangs¬
punkt zu entfernen und sich zwischen die einzelnen Muskelfasern zu lagern,
dabei sich mit ihren Zellen in einer oder mehreren Reihen anordnend. Während
die kontraktile Substanz sich zu einer Art von feinem, staubförmigen Detritus zu¬
rückbildet, verwandeln sich die proliferierten Sarcolemmkerne in bald spindel¬
förmige, bald sternförmige Zellen mit zentralem Kern, welche an dem die beiden
Stümpfe einhüllenden Keimgewebe teilnehmen und je nach ihrer Lage sich in
Osteoblasten oder Knorpelzellen verwandeln, die die Bildung des Gallus ver¬
mehren, sowohl des Periosts als des Knochenmarkes und des Zwischencallus. In
diesen Fällen hat Pucci stets Konsolidierung der Fraktur erhalten.
Nur selten hat Verfasser die sogenannte Muskelverbindung gesehen und
in diesen seltenen Fällen Pseudarthrose bekommen.
Das Muskelgewebe bildet demnach kein ernstliches Hindernis für die
Callusbildung, und wenn dies ausnahmsweise der Fall ist, verursacht es im all¬
gemeinen keine Pseudarthrose. Ros. Buccheri-Palermo.
Reinhardstoettner, lieber Pseudarthrose und ihre Behandlung, Diss.
München 1908.
Nach kurzen einleitenden Worten über Pseudarthrosen und deren Be¬
handlungsmethoden berichtet Reinhardstoettner über die in den Jahren
1901—1908 in der Münchener chirurgischen Klinik behandelten Pseudarthrosen-
fälle, bei denen die Naht, Stauung und Blutinjektion angewandt wurden. Es
handelt sich um 14 Fälle, von denen 2 Fälle mit Naht, 6 mit Stauung und
6 mit Blutinjektion behandelt wurden, und zwar wurde in 12 Fällen Heilung
erzielt, bei einem Fall ist die Heilung noch im Gang und bei einem sind die Nach¬
fragen unbeantwortet geblieben. Die 6 gestauten Fälle gingen durchwegs in
iVa—4 Monaten in Heilung aus, ebenfalls gute Resultate ergab die Blutinjektion
mit —6V2 Monaten Dauer. Auf Grund dieser seiner Erfahrungen scheinen
demnach nach Reinhardstoettners Ansicht Stauung und Blutinjektion be¬
rufen, die Naht bei Pseudarthrosenbildung zu verdrängen; die Resultate beider
halten sich das Gleichgewicht. B1 e n c k e - Magdeburg.
Steinmann, Eine neue Extensionsmethode in der Frakturenbehandlung. Zen¬
tralblatt f. Chirurgie 1907. Heft 32.
Steinmann empfiehlt statt der heute allgemein üblichen Heftpflaster¬
extensionsmethode das Einschlagen langer Nägel in das periphere Fragment,
an denen dann die nötigen Gewichte mittels Draht angehängt und über Rollen
Digitized by CjOOQle
642
Referate.
geleitet werden. Die Nägel sowie die Haut müssen natürlich sterilisiert werdes
ferner müssen die Nägel, da sie sich später lockern, schräg in der Zugrichtos^
eingetrieben werden. Die Lockerung ist umso geringer, je kompakter de:
Knochen ist. Nennenswerte Schmerzen „soll* die Operation nicht herromifci
jedenfalls „soll* die spätere Extension vollständig schmerzlos sein, worin de
Verfasser einen Hauptvorzug seiner Methode sieht. Sie soll ferner einfache
sein als die Heftpflasterextension und jegliche Reizung der Haut amsschlife^en.
so daß die ständige Kontrolle fortfällt. Sie gestattet sicher die sofortige Aif
nähme der gymnastischen Behandlung und ist bei komplizierten wie unkompb-
zierten Brüchen verwendbar. Es fragt sich nur, ob sich die Methode in Deutsch'
land rasch einbürgem wird. Pfeiffer-Fi-ankfurt a. M
Bülo W'Hansen, Om behandling, speciell efterbehandling af frakturer i Ini
(lieber Behandlung, speziell Nachbehandlung der Gelenk frakturen.) Nor^k
Magazin for Lagevidenskaben. Februar 1908.
Bülow-Hansen hebt die Schädlichkeit passiver Bewegungen zur Mobiiw*
rung eines frakturierten Gelenkes hervor. Durch diese Bewegungen werden nämlich
in der Kapsel und in dem neugebildeten Gallus kleine Läsionen hervorgerufen; manch¬
mal sieht man sogar stärkere Geschwülste, welche auf Blutexti-avasate zurück¬
geführt werden müssen. Infolgedessen erhält man eine Calliishyperplasie, welche
der späteren Funktion schädlich ist. Außerdem sind diese Bewegungen in hohem
Grade schmerzhaft. Bülow-Hansen benutzt Massage und aktive Bewegungen
mit und ohne Apparat. Nyrop-Kopenhagen.
Vignard et Grüber, Du plombage des os par le procede deMosetig. Joum
med. fran 9 ais 1908, Nr. 643.
Seit einem Jahre haben die Verfasser in mehreren Fällen von Knock-^c-
höhlen die Mosetigsche Jodoformplombierung in ihrer ursprünglichen Zq-
sammensetzung angewendet und berichten nun über ihre Resultate, die äutWr^
günstig sind und daher verdienten, auch in Frankreich mehr geübt za werden.
Wenn die Methode noch keine weitere Verbreitung gefunden hat, so liegt da«
an der, übrigens unberechtigten Furcht vor der Jodoformintoxikation resp. an
den auf fehlerhafter Technik beruhenden Mißerfolgen. Die Verfasser unterscheh
den zwei Anwendungsarten des Mosetigschen Gemisches, je nachdem es sich
um reine Knochenhöhlen oder um Knochenhöhlen mit Eiterung der Weichteiie
handelt.
Im ersteren Falle, d. h. bei wenig infizierten, wenig eiternden Höhlen
mit intakten Weichteilbedeckungen, kann man die Füllung der Höhlen und den
Schluß der Wunde durch die Naht sofort vornehmen. Unter diesen, allerdings
ziemlich seltenen Voraussetzungen kann man auf Heilung per primam inten-
tionem rechnen. Bildet sich aber immerhin eine kleine Fistel, so wird doch
der Zweck, bestehend in schmerzloser Vernarbung mit seltenem Verbandwechsel
erreicht, wenn der größte Teil der Plombe an Ort und Stelle bleibt.. Diese
Heilung per primam oder mit kleiner Fistel kann aber auch bei Fällen nut
stärker sezernierenden Knochenhöhlen und gleichzeitig geringeren Weichteil¬
läsionen erzielt werden, wenn die Plombierung zweizeitig vorgenommen wird.
Man muß dann in der ersten Sitzung die Höhle durch sorgfältigen Verband
Digitized by C^ooQle
Referate.
G43
aseptisch machen und sie so erhalten, um die Füllung und Naht nach einiger
Zeit auszuführen. Diese eigentliche Plombierung tritt in ihre Rechte bei tuber¬
kulösen Ostitiden und chronischen fistulösen Osteomyelitiden.
Bei der Behandlung alter Knochenprozesse mit Zerstörung und Unter¬
minierung der Weich teile kann von der oben besprochenen eigentlichen Plom¬
bierung nicht die Rede sein. Immerhin bietet auch hier die Mosetigsche Masse
als lokales Mittel große Vorteile, indem die Wundhöhle verkleinert, die Eite¬
rung wesentlich vermindert, namentlich aber das jedesmalige Wechseln der
Tampons überflüssig wird. Aus diesem Grunde bietet sie auch für den Kranken
eine große Erleichterung.
Was die Technik anbetrifft, so muß die Höhle völlig rein sein, d. h. neue
Wandungen erhalten und größter Wert auf minutiöse, namentlich auch
nach Lösung der Konstriktionsbinde andauernde Blutstillung gelegt werden.
Hierzu bedienen sich die Verfasser einer Saugvorrichtung zur Aspiration des
Blutes und gleichzeitig eines heiße Luft ausströmenden Thermokauters. Ferner
muß die Plombenmasse fest in die Höhle und ihre Rezessus mit Gazestückchen
hineingedrückt werden. Ist Drainage nötig, so soll sie jedenfalls nicht durch
die Nahtlinie geführt werden.
Daß trotz der großen Menge des eingeführten Jodoforms keine Intoxi¬
kation auftritt, führen Verfasser auf die außerordentlich langsame Resorption
des mit dem Walrat und Sesamöl fest verbundenen Jodoforms zurück. Im
Gegenteil befanden sich die Kranken in einem äußerst günstigen Allgemein¬
zustand bei gutem Appetit.
Peltesohn-Berlin.
Vignar d, Sur le plombage de TarticulationTibio-tarsienne apres astragalektomie.
Soc. de chir. de Lyon, Mai 1908. Arch. gen. de chir. 1908, 11, p. 176.
Vignard teilt seine Erfahrungen über die Plombierung von Höhlen nach
Gelenkresektionen mit und führt den Fall eines Knaben an, der seit 15 Monaten
an Tuberkulose des Fußgelenks litt. Der Talus wurde exstirpiert, die ganze
Gegend gründlichst gesäubert, dann die Höhle mit Plombenmasse gefüllt und
zugenäht. Nach 2 Monaten fast völlige Heilung. Auf dem Röntgenbilde
sieht man noch einen nußgroßen Schatten der Plombe. In Fällen von ge¬
schlossener Tuberkulose kann diese Methode ohne Risiko versucht werden.
Pe 1 tesohn-Berlin.
Nove-Joss erand, Plombage des os. Soc. de chir. de Lyon, März 1908. Arch.
gen^r. de chir. 1908, II, p. 50.
Die Plombierung war bei einem Kinde ausgeführt worden, bei dem wegen
Spina ventosa eine Auskratzung des ersten Metetarsalknochens vorgenommen
worden war. Da die Vernarbung nicht von statten ging, wurde der Knochen voll¬
ständig ausgeräumt, und dann nach Plombierung die Haut darüber vernäht.
Ha die Wunde nicht vollkommen geschlossen wurde, trat hhterung und Aus¬
stoßung eine« Teils der Plombenmasse ein. Trotzdem wurde in kurzer Zeit Ver¬
narbung erzielt, so daß sich Verfasser als ausgesprochener Anhänger dieses Ver¬
fahrens erklärt. Peltesohn-Berlin.
Digitized by LjOOQle
644
Referate.
John Ridlow und Wallace Blanchard-Chicago, A new treatment for ck
tubercular sinuses. Amerie. joum. of orthoped. surg. August 1908, S. 13.
Emil Beck machte vor kurzem, als er zum Zweck einer röntgeii>
graphischen Untersuchung eines tuberkulösen Hüftgelenkes einen alten Fist--
gang mit einer Wismutpaste injizierte, die Beobachtung, daß die letztere ?ik
für die Fistel als ein entschiedener Heilfaktor erwies. Ridlow und Wallace
haben nun den Vorgang Becks an 26 Fällen von alten tuberkulösen Fisteln kl
K rüppelheim in Chicago nachgeprüft und in einem auffallend großen Prozentfüti
ein vollkommen befriedigendes Resultat erzielt. Für diagnostische Zwecke wurdr
eine Mischung von einem Teil Bismutum subnitr. und zwei Teilen Vaselin ^
gewandt. Diese, auf etwas über Körpertemperatur erwäi*mt und mit sanfte-
Druck in die Fistel injiziert, ermöglichte im Röntgenbilde eine sehr g^ute Ceber-
sicht über die sämtlichen Verzweigungen und Ausbuchtungen der Fistelgänge
und wurde in der Regel nach 24 Stunden von den Fisteln wieder ausgeschieden.
Zu therapeutischen Zwecken wurde eine zweite Mischung benutzt, welche in
folgender Weise durch Kochen hergestellt wurde:
Bismutum subnitr. . . 6 Teile
Weißes Wachs ... 1 Teil
Weichparaffin . . . . 1 Teil
Vaselin.12 Teile.
Die Paste, in die Fisteln injiziert, erhärtete daselbst innerhalb von 3 Minnteo.
wurde jedoch in den meisten Fällen nach 1 oder 2 Tagen teilweise wieder ao?-
gestoßen, worauf die ausgestoßene Masse durch erneute Injektionen ersetit
wurde. In günstigen Fällen, unter den 26 Fällen in 9, war am zweiten U?
dritten Tage das vorher eitrige Sekret serös geworden und verschwand nad
und nach, so daß die Heilung der Fisteln in einem Zeitraum von 7—30 Tages
erfolgte. In 7 weiteren Fällen ließ sich eine entschiedene Besserung feststelien.
indem das Sekret serös geworden war, die Fisteln sich aber noch nicht
schlossen hatten, in 5 Fällen konnte man von einem bestimmten Resultate noei
nicht sprechen, und nur I Fall mit großem Sequester blieb unverändert, Is
4 Fällen von Senkungsabszessen wurde der Abszess mit einem kleinen Inzision?-
schnitt eröflnet, der Eiter abgelassen und in die kleine Wunde die Injektion
mit der Wismutpaste vorgenommen mit dem Erfolg, daß in sämtlichen Fällen
in einem Zeitraum von 18—28 Tagen eine vollständige Heilung der Abszesse
eintrat. Im Gegensätze zu Beck, der geneigt ist, dem Wismut eine direkte
Heilkraft zuzuschreiben, suchen Ridlow und Wallace eine Erklärung für
diese auffallend guten Heilungsvorgänge auf mechanischem Wege zu geber,
indem sie annehmen, daß durch die harte Wismatwachsplombe der Eiter herein-
gedrückt, der Eintritt von Infektionsträgern aus der Luft durch die kompakte
Füllung der I^istelgäiige verhindert wird, die ungesunden Granulationen zer¬
drückt werden, so daß neue gesunde an deren Stelle treten können.
Bö sch-Berlin.
Eggenberger, Wismutvergiftung durch Injektionsbehandlung nach Beck.
Centralbl. f. Chirurgie 1908, 44.
Eggenberger behandelte verschiedene Fisteln nach der Beckschen
Methode mit gutem Erfolg, sah aber in einem Falle von spondylitischem Abszeß
Digitized by C^ooQle
L
Referate.
G45
im Abdomen bei einem 7jährigen Knaben eine Wismutvergiftung, die zum Tode
führte. Bei der Autopsie fanden sich ausgeprägte anatomische Veränderungen
im Verdauungstraktus. Eggenberger ist deshalb der Ansicht, daß man sich
bei der Wismuttherapie nach Beck stets bewußt sein muß, daß man es mit
einer unter Umständen sehr giftigen Substanz zu tun hat.
B1 e n c k e ^ Magdeburg.
Becker, Fälle von Ersatz defekter Knochen. Aerztl. Verein Rostock. 12. Sept.
1908. Münch, raed. Wochenschr. 1908, 45.
Becker ersetzte eine wegen Spina ventosa resezierte Diaphyse durch
freie Transplantation einer dem distalen Ulnaende desselben Armes entnommene
Periostknochenspange und wandte das gleiche Verfahren in einem anderen
Falle von Myxochondrom der Grundphalanx des Mittelfingers an. In einem
dritten Fall ersetzte er einen wegen Diaphysentuberkulose operativ geschaffenen
4 cm langen Defekt der Tibia durch freie Ueberpflanzung einer Periostknochen¬
schlinge aus der Tibia des anderen Beines. B1 e n c k e - Magdeburg.
Seedorf, Ueber Knochenplastik nach Exstirpation eines Knochensarkoms.
Diss. Kiel 1908.
Bei einem 42jährigen Mann hatte sich im Anschluß an eine Verletzung
an der Innenseite des rechten Fußes eine allmählich zunehmende Geschwulst
entwickelt, die, wie die Röntgenaufnahme zeigte, sich auf das Os metatars. I und
das Os cuneiforme I beschränkte und bei der nach der Operation vorgenom¬
menen mikroskopischen Untersuchung als Osteochondrosarkom erkannt wurde.
Bei der Operation wurde mit dem Tumor das Os metatars. I und Os cunei¬
forme I entfeiTit. Der dadurch entstandene Defekt wurde gedeckt, indem das
Os cuneiforme II und Os metatars. II gespalten und die abgespaltenen Teile
in die Lücke verpfianzt wurden. Die verpflanzten Knochen heilten ein.
Blencke - Magdeburg.
A. Barth, Ueber Osteoplastik. Arch. f. klin. Chir. Bd. 86, Heft 4, S. 859.
Barth hält die Auto- und Homoplastik mit periostgedeckten Knochen¬
stücken für den Ersatz von Kontinuitätsdefekten der Röhrenknochen für die
souveräne und allein sicher zum Ziele führende Methode, während die Fremd¬
körpertherapie im Sinne Glucks durch die Erfolge der osteoplastischen Chi¬
rurgie mehr denn je zurückgedrängt wird. Ganz anders liegen die Verhältnisse
bei wandständigen höhlenförmigen Defekten der Röhrenknochen und bei Schädel¬
defekten. Hier verlangt der ossifikationsfähige Boden den knöchernen Ersatz
auch bei Implantation sterilen toten Materials, wovon sich Barth namentlich
bei komplizierten Schulterbrüchen des öfteren überzeugen konnte. Er pflegt
hier die beschmutzten Fragmente durch Auskochen zu sterilisieren und zu
replantieren. Bei aseptischem Verlauf hat er noch stets binnen weniger Wochen
knöchernen Verschluß des Schädels erzielt. In einem Falle erreichte er das¬
selbe Resultat durch sekundäre Einheilung ausgeglühter Knochenstücke in die
granulierende Schädelwunde, der knöcherne Verschluß des Schädeldefektes er¬
folgte hier allerdings langsamer, im Verlauf einiger Monate. In solchen Fällen
erscheint die Autoplastik überflüssig. Einen schönen Erfolg mit der Implan-
Digitized by LjOOQle
646
Referate.
tation von toten Knochen erzielte Barth bei einem 17jährigen Mädchen, i '
im 5. Lebensjahre eine ganz abenteuerliche Verkrümmung der Gliedmaßen. •
scheinlich infolge von juveniler Osteomalacie erworben hatte und sieh ::,
kriechend und rutschend auf der Erde fortbewegen konnte. Verschiedene Ve |
suche, das Mädchen durch Osteotomien wieder auf die Beine zu bringen, we?- j
fehlgeschlagen, weil jedesmal Pseudarthrosen zurückblieben, die allen Behä; [
lungsversuchen durch Jahre getrotzt hatten. Ein Versuch durch Einlegen m
K nochenkohle in die Markhöhle eine bessere Callusbildung herbeizufuhren, b- !
vollen Erfolg. Binnen 10 Wochen war die Konsolidierung eingetreten. Barth b; *
dann nacheinander sechs Osteotomien (Keilezzisionen) an Femur und Tibiä te
der Beine ausgeführt und jedesmal Knochenkohle in die Markhöhle implanr^
stets mit demselben günstigen Erfolg. Es gelang auf diese Weise eine £.
rektur der verkrümmten Beine herbeizuführen, die dem Mädchen das selbri:
dige Gehen (unter Sicherung der atrophischen Knochen durch Scliienenafp
rate) ermöglichte. Joachimsthil
M. Hofmann, Weitere Untersuchungen und Erfahrungen über Perio^ttriE'
plantationen bei Behandlung knöcherner Gelenkankylose. Beitr. z. klin. Ca
Bd. 59, Heft 3, S. 717.
Hof mann hat eine Reihe von Tierversuchen unternommen, um
zustellen, ob das Periost seine spezifischen Fähigkeiten der Knochenapposr.a
und Resorption auch nach der Transplantation auf wunde Knochenflächeu W:
behält, also als Periost weiterfunktioniert oder nicht Von allen Gelenken
Hundes eignet sich das obere Sprunggelenk am besten zu diesen VeRUcheDu:.
wurde deshalb ausschließlich verwendet. Es zeigt nach Abtragung der beleb
knorpel zur Transplantation gutgeeignete, d. h. genügend große, relativ eintV-
gestaltete Resektionsfliichen. Hofmanns Versuche zeigen, daß bei Huntic^
frei auf wunde Knochenflächen transplantiertes Periost dort nicht nur anheb
sondern auch als Periost am neuen Orte weiterfunktioniert. Es muß nor dt
Periost zur Transplantation den Knochen so entnommen werden, daß seiir
Osteoplastenschicht möglichst erhalten bleibt, was am besten imter nur geringeir
Zug bei der Ablösung mittels Raspatorium unter Druck desselben gegen
Knochenoberfläche geschieht. Die Frage, ob der Knochen etwa durch
entnähme in größerer Ausdehnung geschädigt wird und ob sich an den
Periost entblößten Stellen neues Periost bildet, sei es nur durch Hinüberwucbr
des Periosts der Nachbarschaft über den Defekt oder durch Regeneration
bei der Entnahme zurückgebliebenen Osteoblasten her, hatte Hof mann Gelegec
heit, auch in einem Falle beim Menschen zu erörtern, indem er, nachdem SMocst^
zuvor die vordere Tibiafläche in ganzer Breite und großer LängenausdehnuEJ
ihres Periosts beraubt worden war, ein Stück Corticalis samt dem deckendem
festhaftenden Bindegewebsüberzug, über dem die Haut vollständig verschieblib
geblieben war, mikroskopisch zu untersuchen Gelegenheit hatte. Die deck^®'^
Bindegewebshülle des Knochens hatte mikroskopisch rein bindegewebigen Chi
rakter ohne Osteoblastenschicht; nur an einer Stelle unter vielen Präparat®
schien eine kleine Insel von Osteoblasten vorhanden zu sein, die offenbar lu®
bei Ablösung des Periosts zurückgeblieben waren. Es dürfte also wohl
nehmen sein, daß ein weitgehender Ersatz großer Periostdefekte durch neo^
Digitized by CjOOQle
Referate.
647
Periost nur dann stattfinden kann, wenn die Periostentnahme in der Weise ge¬
schieht, daß Osteoblasten vielfach am Knochen haften bleiben, daß dagegen,
wenn das Periost vollständig mittels Raspatoriums entfernt wird, der Defekt
rein bindegewebig zur Deckung kommt. Daß der auf letztere Weise seines
Periosts beraubte Knochen keinen späteren Schaden nimmt, zeigten Hofmanns
2 Fälle, in welchen er 8 Monate und 3 Jahre nach der Periostentnahme Kranke
wieder zu sehen Gelegenheit hatte. Die Haut über der periostentblößten vorderen
Tibiafläche war vollständig verschieblich geblieben, die Knochenoberfläche fühlte
sich glatt an, dagegen konnte man im Bereich der Periostentnahme eine Ge>
staltsumänderung der sonst planen Tibiafläche in der Weise konstatieren, daß
dieselbe nun konvex gestaltet war, offenbar durch Wegfall der sonst vom Periost
ausgehenden, die Gestaltung der Knochenflächen regulierenden Resorptions¬
vorgänge der Knochensubstanz. Hof mann hatte weiterhin außer in einem
bereits früher publizierten Falle von Ellbogengelenksankylose noch Gelegenheit,
in 4 weiteren Fällen das Verfahren der Periosttransplantation^ auf seine Brauch¬
barkeit zu prüfen. Es wurden ein knöchern-ankylotisches Knie-, Schulter- und
Interphalangealgelenk operiert und in einem schon einmal operierten, aber
rezidivierten Falle von Brückencallus zwischen Radius und Ulna neuerlich
knöcherne Vereinigung durch Periostüberkleidung der wunden Knochenflächen
zu hindern gesucht. In allen Fällen hatte die Periosttransplantation auf die
wunden Resektionsflächen der Gelenkenden genügt, um neuerlich Ankylosierung
zu hindern, und in der Folge trat mit zunehmendem Gebrauch sich steigernde
aktive Bewegungsmöglichkeit der mobilisierten Gelenke ein. In keinem Falle
kam es zu einem Schlottergelenk. Das die Knochenenden überkleidende Periost
bildet einen natürlichen Abschluß der Knochen gegen ihre Umgebung und
hindert dadurch Ausbildung von Callusmassen zur Vereinigung mit dem gegen¬
überliegenden Knochen, sowie Osteophyten. Man muß ferner annehmen, daß das
Periost, das als solches weiterfunktioniert, durch Resorptioiis- und Appositions¬
vorgänge an der Knochenoberfläche, wie Röntgenbilder zeigen, eine besonders
rasche Anpassung der neuen Gelenkkörper an ihre Funktion in hohem Grade
begünstigt. Joachimsthal.
Hentschel, Ueber Wachstumsstörungen am Unterschenkel nach akuter Osteo¬
myelitis. Diss. Jena, 1908.
Im Anschluß an einen Fall aus der chirurgischen Poliklinik zu Jena,
bei dem es nach einer akuten Osteomyelitis der Tibia bei einem 3 Jahre alten
Kinde zu einer starken seitlichen Verbiegung von Tibia und Fibula gekommen
war, bespricht Hentschel die nach akuter Osteomyelitis vorkommenden
Wachstumsstörungen am Unterschenkel. Er stellt alle darüber bisher veröffent¬
lichten Fälle zusammen und hat dabei folgende Veränderungen gefunden: 1. Ver¬
kürzungen der erkrankten Knochen, 2. Verlängerungen, 3. Defekte, 4. Pseud-
arthrosen und 5. Verbiegungen und Deformitäten. Blencke-Magdeburg.
Putzu, Contributo allo studio dell’ eziologia, patogenesi e cura dell’ osteo-
mielite. La clinica chirurgica 1908, Nr. .5.
Die Osteomyelitis der Erwachsenen ist nichts weiter als das Wieder¬
aufflackern eines schon im Wachstumsalter aufgetretenen Prozesses und könnte
daher als rezidivierende Osteomyelitis bezeichnet werden.
Digitized by L^ooQle
648
Referate.
Bei der akuten Osteomyelitis wird man die Markhöhle öffnen, wenn
wisse Anzeichen für zentrale Läsionen des Knochens vorhanden sind, in anderr-
Fällen dagegen wird man sich auf die einfache Inzision des Perioets te
schränken.
Bei den ausgedehnten Knochenresektionen soll man die Reprodokt;::
des Knochens abwarten. Wenn dies nicht möglich ist, verdient vor
anderen Knochenplastikmethoden das Hahn sehe Verfahren den Vorzug.
Ros. Bucche r i-Palerma.
Edwin und Kyerson, Blastomycosis. Report of two cases resemblini: U--
tuberculosis. Americ. journ. of orthoped. surg. August 1908, S.79.
Es handelte sich um 2 Fälle von destruktiven Knochenerkrankungen, b
ersten Falle am linken Knie- und Knöchelgelenke, im zweiten Falle an der Hjb
Wirbelsäule. Beide Erkrankungen traten unter dem Bilde der Knochen!ub^ei
kulose auf, bis die mikroskopische Untersuchung im Spätstadium der letal t-:
laufenden Erkrankungen ergab, daß es sich um seltene Formen von Blastomvi j^-
handelte. Bösch- Berlin.
Anschütz, Knochencyste des Humerus (Ostitis fibrosa). Med. Gesellschaft n
Kiel. 19. Juni 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 32.
Ein 13jähriger Junge erlitt innerhalb von 5 Jahren 3mal eine Fraktur d*
Oberarmes an derselben Stelle, Das Röntgenbild zeigte das typische Bild einrr
Knochencyste im oberen Drittel des linken Humerus, sonst waren am Skelen
keine Veränderungen nachzuweisen. Der Krankheitsprozeß ist nach der vir
genommenen Untersuchung als eine Ostitis deformans fibrosa localisata aufn
fassen, als ein Krankheitsbild, welches mit der v. Recklinghausen be
schriebenen Ostitis deformans fibrosa generalisata und wohl auch mit
Pag et sehen Krankheit und den Fällen von multiplen Riesenzellensarkon-
bildungen in den Knochen in engsten Beziehungen steht oder sogar nahen
identisch ist. Anschütz hat vier ausgesprochene Fälle dieser seltenen Krank¬
heit gesehen; bei einem Falle, bei dem man zuerst auch glaubte, eine lokali¬
sierte Erkrankung vor sich zu haben, zeigten sich im Laufe der Jahre an
anderen Stellen noch weitere Krankheitsherde. Blencke-Magdeburg.
Anschütz, Multiple Enchondrome im Femur und Tibia bei einem gesunden
9jährigen Mädchen. Med. Gesellschaft in Kiel. 19. Juni 1908. Münd.
med. Wochenschr. 1908, 32.
Bei einem 9jährigen Mädchen, das 3 Jahre vorher nach einem Stoß ein-
Schwellung am rechten Schienbein und 2 Jahre vorher eine Fraktur des rechten
Femur im unteren Drittel erlitten hatte, zeigte das Röntgenbild zwei Enchon-
drome im rechten Femur und zwei an der rechten Tibia. Das sonstige Skelet!
war frei. Diese Herde wurden in mehreren Sitzungen durch Auskratzung udJ
Aufmeißelung entfernt, die mikroskopische Untersuchung zeigte Konglomerate
regelmäßig gebauter, typischer, hyaliner Knorpelzellen, aber nur wenig Rare
fizierung der Knochensubstanz in der Umgebung, nirgends Bindegewebszüge.
also ein von der Ostitis fibrosa ganz abweichendes Bild,
Blencke- Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
Referate.
649
Anschütz, Sarkom der Fibula nach Fractura malleoli. Med. Gesellschaft
in Kiel. 19. Juni 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 32.
In dem vorliegenden Falle handelte es sich um ein Sarkom der Fibula
nach einer Malleolarfraktur, bei dem zwischen der Konstatierung und dem Unfall
nur 3 Wochen lagen, eine für die traumatische Entstehung des Tumors recht kurze
Frist. Wenn auch das Gewebe ringsum erweicht war, so liegt nach des Vor¬
tragenden Ansicht doch die Möglichkeit vor, daß die Fraktur bereits eine
spontane war, was in einem anderen Falle, den Anschütz beobachten konnte,
^anz sicher aus der Eburnisierung des das Sarkom umgebenden Knochens
geschlossen werden konnte. B1 e n c k e - Magdeburg.
Pauchet, Sarcome de l’omoplate. Soc. de chir. de Paris. Mai 1908. Arch.
gen. de chir. 1908, II, p. 174.
Vorstellung eines an Sarkom des Schulterblatts erkrankt gewesenen
Patienten, bei dem die Scapula in toto exstirpiert und ein bisher 4jähriges
Dauerresultat erzielt worden war. Reseziert war das äußere Viertel der Clavi-
cula, der Humeruskopf, das ganze Schulterblatt und die Muskulatur worden.
Der Patient kann den Oberarm nicht abduzieren; aber er kann sich anziehen
und seiner Beschäftigung, dank der Gebrauchsfähigkeit des Unterarms und der
Hand, nachgehen, so daß er also wesentlich besser daran ist, als ein Ex¬
artikulierter. — In der Diskussion betont Qudnu die Wichtigkeit der Fort-
nahme der angrenzenden Muskulatur, da das Rezidiv erfahrungsgemäß von dieser
ausgeht. Peltesohn - Berlin.
Carl Goebel, Ueber kongenitales Feraursarkom, geheilt durch operative und
Röntgenbehandlung, nebst Bemerkungen über kongenitale maligne Tumoren.
Arch. f. klin. Chir. Bd. 87, Heft 1, S. 191.
Es handelt sich um ein Swöchiges Kind mit einem kongenitalen, d. b.
bei der Geburt sofort bemerkten und dann rasch gewachsenen periostalen Spindel¬
zellensarkom der rechten unteren Femurepiphyse (vor allem der Innenseite), das
durch kombinierte operative und Röntgenbehandlung (56 Minuten) bis zur
Zeit der Publikation (14 Monate lang) vollkommen geheilt wurde. Mikroskopisch
fanden sich in dem Tumor zunächst deutliche Zeichen schrankenlosen Wachs¬
tums, als Eigentümlichkeit das Vorkommen eines mit Rundzellen erfüllten
Kanalsysteras, als Zeichen der Röntgenstrahlenwirkung beginnende und ausge¬
sprochene nekrobiotische Vorgänge mit mehr oder weniger intensiven entzünd¬
lichen Erscheinungen. Joachimsthal.
Rovsing, Ueber die Sicherheit der histologischen Geschwulstdiagnose als Basis
radikaler chirurgischer Eingriffe. Münch, med. Wochenschr. 1908, 38.
Rovsing warnt davor, sich hei der Diagnose von Geschwülsten allein
auf das mikroskopische Bild zu verlassen. Er führt einige Fälle an, in denen
die histologische Untersuchung Geschwülste als gutartige kennzeichnete, die sich
bei der Operation als bösartige erwiesen, während umgekehrt in einigen Fällen
die Untersuchung von zur Probe aus dem Uterus ausgeschabten Gewebe Karzi¬
nom ergeben hatte, bei denen sich aber nach der Totalexstirpation keine Spur von
maligner Neubildung fand. Besonders interessant sind einige Fälle, in denen auf
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 42
Digitized by CiOOQle
650
Referate.
Grund der histologischen Diagnose „Osteosarcoina femoris“ OberscbenkelaDp.
tationen gemacht werden sollten, und bei denen es sich, da die betreffcsk:
Patienten die Operation verweigerten, später herausstellte, daß es sich um 0>ir
myelitis handelte. Rovsing empfiehlt zur Sicherung der Diagnose st^tsR':
genaufnahmen zu machen, die die Probeinzisionen überflüssig machen, und
dann zu letzteren zu greifen, wenn die Röntgenuntersuchung sich außer Sti::
gezeigt hat, klaren Bescheid zu geben. B1 e n c k e - Madgebor^
Matsunami, Zwei Fälle von primärem Muskelangiom. Diss. Greifm-
1908.
Im ersten Fall handelte es sich um ein zum Teil sarkomatös enturt^w
Angioma cavernosum im Muscul. temporal, sin. einer 37 Jahre alten Frau, ei
sich im Laufe eines Jahres bis zur Größe einer Männerfaust entwickelt bu:.
Der zweite Fall betraf einen 21 Jahre alten Bauersmann, bei dem sich im
vastus int. ein kavernöses Angiom in der Zeit von 7 Jahren bis zu Mänufr
faustgröße ausgebildet hatte. Beide Kranke wurden vom Verfasser in seit-:
Klinik in Japan durch Operation (Exstirpation) glatt geheilt. Matsunasi
gibt dann noch eine Zusammenstellung aller bisher beschriebenen Falle n:
primärem Muskelangiom mit besonderer Berücksichtigung des raikroskopi^s??
Befundes. Bl enck e - Magdeburg.
Meriel, Gros sarcome du triceps brachial ä evolution cutanee. Consideratifisf
cliniques et therapeutiques. Arch. provinc. de chir. 1908, p. 407.
Die Beobachtung betrifft einen zur Zeit der Operation 32jährigen Mari,
dem 2 Jahre früher unter der Diagnose eines Lipoms ein Tumor am linkrt
Arm exstirpiert worden war. Der Tumor war rezidiviert und hatte die Grüte
eines Kindkopfes; er war stark ulzeriert. Es handelte sich um ein primäre
Sarkom des M. triceps brachii ohne Beteiligung der Knochen. Der Tumo:
wurde im Gesunden exstirpiert und ergab noch nach 8 Jahren eine Dauer¬
heilung. Derartige Resultate gehören zu den Seltenheiten, ln therapeutkbrr
Hinsicht genügt die Enukleation der Weichteilsarkome durchaus nicht; dagegen
kommt man mit der weitgehenden Exstirpation aus, wenn der Tumor ns
schrieben ist, mag er auch ulzeriert sein. Endlich bedürfen die schlecht
grenzten, am Knochen anhaftenden Weichteilsarkome der Amputation.
Peltesohn* Berlin.
Sencert, Un cas de myosteome traumatique. Archives generales de mbe
eine 1908, Nr. 6.
Bei einem 34jährigen Manne bildete sich bereits 1 Woche nach einer
Luxatio cubiti posterior ein Flexionshindernis aus; der Grund wurde is
einem von dem Processus coronoideus ausgehenden, 8 cm nach oben wach>«*
den Myosteom gefunden. 3 Monate später wird der Tumor operativ entfernt;
trotzdem bestand bei Beendigung der Operation noch keine gute Beweglichkeit
was auf einer das ganze Gelenk umgebenden Stalaktitenbildung von Kno<hec-
Bubstanz beruhte. Obgleich kein lokales Rezidiv eintrat, blieb das funktior-ik
Resultat minderwertig. Verfasser neigt der Ansicht zu, daß die traumatisches
Myosteome Folgezustände von Myositis ossificans sind. Unter dem Reiz de?
Digitized by e^ooQle
Referate.
651
Traumas erlangen offenbar die bereits in Muskel-, Bindegewebs- oder Knorpel¬
zellen differenzierten Mesenchymzellen ihren indifferenten Typus wieder und
können nun knöchernen Typus erlangen. Peltesohn-Berlin.
H ausen. Beitrag zur Kasuistik der Myositis ossificans traumatica des Musculus
brachialis internus. Dissert. Greifswald 1908.
In 2 Fällen hatte sich im Anschluß an eine nicht allzuschwere Verletzung
(Schlag bezw. Fall auf den Arm, keine Fraktur oder Luxation) eine Myositis
ossificans im Muscul. brachial, intern, entwickelt. Die Bewegungsstörungen und
Schmerzen machten beide Male die Operation nötig, zu der man sich umso eher
entschließen konnte, als nach dem Röntgenbild der Prozeß zum Stillstand ge¬
kommen war. Es wurde der ganze Muscul. brach, int. entfernt. Dabei zeigte
sich, daß die Verknöcherung beide Male vom Periost, im 2. Fall außerdem noch
vom Muskel ausgegangen war. Als Ursache für das Eintreten der Myositis ossi¬
ficans sieht Hausen die frühzeitige Massage und Bewegungsübungen an, die
gerade den Mu.scul. brach, int. immer von neuem schädigten und reizten.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Würth V. Würthenau, Beitrag zur Trommlerlähmung und deren Behandlung.
Militärärztl. Zeitschr. Heft 10, S. 073
In dem von Würth v. Würthenau mitgeteilten Falle von ,Trommler¬
lähmung“ wurde die gestellte Diagnose einer Zerreißung der Sehne des linken
langen Dauraenbeugmuskels bei der vorgenommenen Operation bestätigt. Das
etwa 6 cm oberhalb des Handgelenks zurückgezogene obere Sehnenende ließ sich
leicht hervorziehen, das untere Sehnenende lag ungefähr in der Mitte des Mittel¬
handknochens. Die beiden kolbig verdickten, ebenso wie die Sehnenscheide mit
rötlichen Auflagerungen bedeckten Sehnenstümpfe wurden angefrischt und durch
Katgutnaht miteinander vereinigt. Bei der mikroskopischen Untersuchung der
Sehnenstümpfe fanden sich Auffaserungen der Sehnenbündel, quere Zerreißungen
der Sehnenfasern, Degenerationserscheinungen und Nekrose; die VVundheilung
erfolgte in normaler Weise. Die Beweglichkeit des Daumens blieb indessen
erheblich beschränkt, indem die Abspreizung des Daumens nur in geringem
Grade, Beugung und Streckung des Nagelgliedes nur in unvollkommener Weise
möglich wurden. Patient wurde dauernd Halbinvalide mit 20 prozentiger Erwerbs¬
beschränkung. Joachimsthal.
Bardenheuer, Behandlung der Nerven bei Amputationen zur Verhütung der
Entstehung von Anii)utationsneuronien und zur Heilung der bestehenden
Neurome durch die sogen. Neurinkampsis. Zeitschr. f. ärztliche Fortbil¬
dung 1908, 19.
Ausgehend von dem Gedanken, daß die von Witzei zur Verhütung von
Neuromen an Amputationsstümpfen angegebene Methode, den Nerven zentral-
wärts in weiter I^ntfernung von der Wundfläche des Amputationsstumpfes zu
durchtrennen, nicht in allen Fällen genügte, schlägt Bardenheuer die Um-
schlagung des eventuell gleichzeitig gekürzten Nerven vor und die Umlagerung
des umgeklappten Nervenendes mit einem Muskellappen. Er gibt vier Me¬
thoden an. Die erste ist die einfache Umschlagung des Nervenendes, die zweite
Digitized by CjOOQle
652
Referate.
das Hindurchziehen des um geschlagenen Endes durch einen höher in
Nerven angelegten Schlitz und die Vernähung und die dritte die Spaltung
Nerven und das Umschlagen jeder Hälfte zur Schnittfläche hin. Ebenso
man auch zwei benachbarte Nerven Umschlägen und miteinander vemiL-'i-
Zur Naht nimmt er dünne Katgutnähte. In 10 Fällen von Amputationen, rei
denen er so verfuhr, hat er keine Neuralgien mehr beobachtet^ und auch ie
6 Fällen von vorhandenen Neuromen hat sich diese Methode sehr gut
wobei aber alle Nervenäste aufs genaueste berücksichtigt werden
Bardenheuer nennt sein Verfahren Neurinkampsis von xapsTs-.v irs-
schlagen. Bl encke-Magdeburg
Fr. Purpura, Processo di rigenerazione, ripristino funzionale e cura da
nervi periferici. Gazzetta niedica italiana 1908, Nr. 7 u. 8.
Die sorgfältigen Untersuchungen, über die wir bereits verfügen, gtlrs
uns Gewißheit über das Funktionsvermögen der regenerierten Fasern; belrhres
uns über die Wichtigkeit der Naht durchtrennter Nerven und zeigen uns
Art und Weise, wie dieselbe auszuführen ist.
Für die Maßnahmen, die vorzunehmen sind, wenn die beiden Stümcte
eines durclitrennten Nerven nicht in Kontakt gebracht werden können,
noch das klare Licht der mit den heutigen feinen Methoden geführten Uni^
suchungen. Dieselben werden feststellen, welches die Behandlungsweisen sisi
die mit Grund den Vorzug verdienen.
Für die Einpflanzung und Kreuzung der Nerven werden neue anatomisib^
Untersuchungen und neue Erfahrungen an Kranken eine Besserung in die
Technik bringen und zu besseren Resultaten führen. Neue Gebiete
indessen dem Studium erschlossen. Ros. Bucch eri- Palermo.
Vulpius, Erfolge der orthopädisch-chirurgischen Behandlung schwerer Kinder¬
lähmungen. 2. Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte.
3. u. 4. Okt. 1908. Heidelberg.
Vulpius berichtet über die bei schweren Kinderlähmungen in Betracht
kommenden mechanischen und chirurgischen Behandlungsmethoden, über die
Arthrodese, die Sehnenüberptianzungen, die Nervenplastik etc. und stellt eic-
Reihe von Patienten vor, die mit gutem Erfolg nach diesen Methoden behandelt
worden sind. Blencke-Magdeburg.
W. R. Townsend, The necessity for early orthopedic treatment in poliom^eliti?-
Americ. journ. of orfhoped surg. August 1908, S. 91.
Townsend betont die Wichtigkeit einer sorgfältigen Ueberwachung der
Fülgezustände einer frischen Kinderlähmung; er warnt davor, ein solches ge
lähmtes Glied allzufrüh zu belasten oder mit Uebungen zu beanspruchen, di
durch die dadurch erfolgende Kräftigung der gesund gebliebenen Muskeln der
Kontrakturstellungen resp. der Deformierung der Gelenke Vorschub geleistet
werde. Er empfiehlt möglichst lange Ruhigstellung und bei drohender Def'r-
iiiität rechtzeitige Korrektur im Apparat und meint, daß auf diese Weise
in der überwiegenden Anzahl der Fälle die Bildung der paralytischen Deformität
verhindert werden könne. Bösch-Berlin.
Digitized by VjOOQle
Referate.
653
Arthur T. Legg, The cause of atrophj in joint disease. Americ. journ. of
orthoped. surg. August 1908, S. 84.
Legg hat an einer Reihe von Versuchstieren experimentelle Studien über
"die Frage angestellt, ob die Muskelatrophie oberhalb eines erkrankten Ge¬
lenkes auf reflektorischer Basis beruhe oder als Inaktivitätsatrophie anzusehen
sei. Er bildete drei Gruppen von Versuchstieren. Den ersten wurde ein Knie¬
gelenk infiziert und man ließ die Tiere umherlaufen; die Tiere der zweiten
Gruppe wurden ebenfalls infiziert, das erkrankte Gelenk aber immobilisiert und
man ließ die Tiere umherlaufen; den Tieren der dritten Gruppe wurde nur das
Gelenk immobilisiei-t und die Tiere durften nicht umherlaufen. Als Ergebnis
dieser Versuche zeigte sich, daß die Atrophie infolge funktioneller Ausschaltung
eines Muskels sich in demselben Maße ausbildete wie dort, wo, wie in der
zweiten Versuchsreihe, das Gelenk infiziert und immobilisiert war, während die
Muskeln oberhalb des infizierten aber nicht immobilisierten Gelenkes einen ge¬
ringeren Grad von Atrophie aufwiesen (erste Versuchsreihe), so daß Legg an-
tiehmen zu dürfen glaubt, daß bei der Muskelatrophie infolge einer Gelenk¬
erkrankung das Nervensystem nicht die bedeutungsvolle Rolle spiele, wie man
früher annahm, sondern daß die Atrophie als eine Inaktivitätsfolge aufzufassen sei.
Bösch-Berlin.
Preiser, Ueber die praktische Bedeutung einer anatomischen und habituell¬
funktionellen Gelenkflächeninkongruenz. Fortschritte auf dem Gebiete der
Röntgenstrahlen Bd. 12, H. 5.
Preiser weist auf die Bedeutung einer Gelenkflächeninkongruenz hin,
die zur ,idiopathischen“ monartikulären Arthritis defornians disponiert. Er
bespricht das Vorkommen dieser Gelenkflächeninkongruenz an Hüfte, Knie,
Schulter und Ellbogen. An der Hüfte kann die Inkongruenz auf traumatischer
Basis beruhen (Coxa vara, Coxa valga träum.) oder die Folge von infektiösen
Arthritiden (Tuberkulose, Gonorrhoe) sein, und zwar findet man dann eine
anatomische Inkongruenz, während eine funktionell-habituelle Inkongruenz der
Gelenkfläche durch eine Stellungsveränderung der Pfanne zur frontalen Lage
(bei Rhachitis) oder lateraler Lage (bei Außenrotation des Femur) bedingt ist.
Am Kniegelenk kommt die Inkongruenz der Gelenkflächen durch seitliche Hüft-
pfannenstellung oder Plattfüße oder ein anderes valgierendes Moment, auch
durch Außenrotation des Unterschenkels infolge traumatischen oder infektiösen
Ergusses zu stände. Auch am Ellbogen findet sich eine anatomische Inkongruenz
der Gelenkflächen, meist verbunden mit gesteigerter Valgität. Im Schulter-
gelenk endlich besteht schon eine physiologische Inkongruenz. In allen Fällen
von Inkongruenz kann schon allein dadurch, daß ein Teil der Gelenkfläche
nicht zur Artikulation gebracht wird, Knorpelauffaserung hervorgerufen und
damit Arthritis defornians eingeleitet werden. Von größter Bedeutung aber
wird die Inkongruenz, wenn ein Trauma die infolge der Inkongruenz nicht
geschützte Gelenkfläche trifft und Kapselquetschung, Bluterguß oder gar Knorpel¬
verletzung setzt; dann schließt sich meist die Arthritis deformans direkt an die
Verletzung an. Dies wdrd besonders für Knie- und Schultergelenk wichtig sein.
Die Arbeit wird durch Abbildung und Röntgenogramme erläutert.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
654
Referate.
P r e i 8 e r , lieber pathologische Gelenkflächeninkongruenz. Zentralblatt i
Chirurgie 1908, 33.
Preis er fand bei 28 Fällen von monartikulärer idiopathischer Arthnti*
deforinans des Kniegelenks eine Gelenkflächeninkongruenz, die er als
dieser Form der Arthritis deformans angesehen wissen möchte, die mit Kapsd-
verdickungen, Knorpelauffaserungen, Krepitation und schließlich mit Zu:?p:t 22 ii^
der Gelenkkondylen im Röntgenbild einhergeht und die man bisher oft irnci=
licherweise auf klimatische Einflüsse zurückzuführen geneigt war. Die Ii
kongruenz macht sich auf der Platte dadurch bemerkbar, daß der laterak
Tibiacondylusschatten seitlich unter dem des lateralen Femurcondylus frei fcer-
vorragt bis 1V* und 2 cm. Bei der idiopathischen Arthritis deformaus culiti
fand Preiser ein ganz analoges laterales Hervorragen der überknory^ekea
Gelenkfläche des Radiusköpfchens. Blencke-Mag-debur^
Rodler, lieber einen eigenartigen Fall des sogen, chronischen im Kiudesalte:
beginnenden Gelenkrheumatismus mit deformierender Arthritis. Fort^ckrinr
auf dem Gebiete der Röntgenstnihlen 1908, XII, 6.
Rodler beschreibt einen Fall von chronischer, ohne Schmerzen uri
akute Entzündungserscheinungen einhergehenden Erkrankung, die sieh stresr
auf Finger und Zehen beschränkt und anscheinend im 3. oder 4. Lebensjahre
mit Wachstumshemmung der Fingerglieder beginnt. Dazu tritt später chroniMhe
Entzündung und Wucherung in den Interphalangealgelenken, die dann zu mehr
oder minder starken Deformitäten führt. Die Erkrankung trat in der Familk
des Patienten in fünf Generationen vererbt auf. Betreffs der Aetiologie lie5e
sich am ehesten an die Theorie des «trophoneurotischen Ursprungs rhecmati'
scher Gelenkatfektionen“ denken. Auf den beigefügten Röntgen bildern sini
die Veränderungen sehr deutlich zu sehen. Blencke-Magdeburg.
Palagi. Ricerche del ricambio materiale in casi die osteo-artrite deformante
giovanile delT anca. Societä Milanese di medicina e biologia. 2- März 19<}',
Palagi hat Gelegenheit gehabt, 3 Fälle dieses Leidens zu beobachteB.
und hat bei denselben Untersuchungen über den Stoffwechsel des Phosphors,
des Kalks und der Magnesia angestellt In allen 3 Fällen konnte er als
Haupterscheinung eine bedeutende Verminderung dieser Stoflfe im Organismoi
konstatieren.
Das Resultat ist von umso größerem Interesse, als eine ähnliche Reduk¬
tion von den Autoren nachgewiesen worden ist, welche dementsprechende Unter¬
suchungen bei typischer chronischer Arthritis deformans des Mannes- oder
Greisenalters angestellt haben. Die Verwandtschaft, welche nach der klinischen
und pathologisch-anatomischen Seite hin zwischen der jugendlichen und senika
Form des fraglichen Leidens anerkannt werden zu müssen scheint, findet darja
eine Stütze. Ros. B ucch er i-Palermo.
K. Sohäffer, Om reoidiverende tuberkulös Polyarthritis, {üeber rezidi¬
vierende tuberkulöse Polyarthritis; tuberkulöser Gelenkrheumatismusl
Hospitalstidende 190'^, 23. 24.
S 0 h ä f f e r beleuchtet die tuberkulöse Polyarthritis unter Zuhilfenahme von
13 Krankenberichten und schließt sich der Lehre über deren toxischen Ursprung an.
Digitized by e^ooQle
Referate.
G55
Die 6 ersten Fälle betreffen Patienten mit verschiedenen tuberkulösen
Affektionen; sie bekommen wiederholt Gelenkleiden, welche in groben
Zügen das Bild der Febris rheumatica wiedergeben, doch geringe Temperatur¬
erhöhung und indolente Ansammlungen. In einem der Fälle hatte eine
Tuberkulininjektion besonders ausgeprägte Lokalreaktion des ergriffenen Ge¬
lenks zur Folge.
Die zwei folgenden Krankenberichte zeigen, was auch König beobachtet
hat, daß ein Hydrarthros auf tuberkulöser Basis vollständig verschwinden kann.
Vier Fälle zeigen, daß die tuberkulösen Gelenkaffektionen sich schließlich
auf ein bestimmtes Gelenk lokalisieren, nachdem sie sich kürzere oder längere
Zeit unter polyartikulären Attacken manifestiert haben.
Im letzten Krankenbericht gibt S. ein Beispiel von chronisch deformie¬
rendem Rheumatismus von zweifellos tuberkulösem Ursprung.
Ny r 0 p - Kopenhagen.
Melchior, Zur Kasuistik des tuberkulösen Gelenkrheumatismus. Therapie der
Gegenwart 1908, Heft 10.
Melchior bespricht ini Anschluß an 7 selbst beobachtete Fälle von
tuberkulösem Gelenkrheumatismus (Poncet) die Pathogenese dieser Erkrankung,
ihre Symptome, ihren Verlauf und die Therapie. Er erblickt in dem tuberku¬
lösen rielenkrheumatismus, der in der Regel mehrere Gelenke befällt, eine
direkte Manifestation der Tuberkulose allein. Den Grund für die Gelenk¬
veränderungen (multiple Ergüsse, auch noch nach dem febrilen Stadium zurück¬
bleibende Versteifungen, Kontrakturen und Knochenatrophie) sieht er in der lokalen
Anwesenheit der Bazillen selbst. Die Therapie besteht in einer lokalen und
ullgemeinen. Salizyl bleibt wirkungslos, was differentiell-diagnostisch wichtig
ist. Dagegen erschien Heißluftbehandlung günstig; aktive und passive Be¬
wegungen waren zu schmerzhaft. Die Allgemeinbehandlung deckt sich mit der
initialer Tuberkulosen überhaupt. Ueber das von Poncet empfohlene Cyrogenin
fehlen noch Erfahrungen. Die Tuberkulinbehandlung hat noch keine günstigen
Resultate ergeben. Pfeiffer-Frankfurt n. M.
Hellin, Die Behandlung von Abszessen. Zentralbl. f. Chir. 1908, 43.
Hell in behandelt Abszesse mit minimalen Inzisionen ohne Tamponade
oder Drainage. Bi er sehe Hyperämisierung wurde dabei in keiner Form ange¬
wandt. Die Vorteile dieser Behandlung sollen sein: Abkürzung der Heilungs¬
dauer, geringere Schmerzen, minimale Narben. Große Schnitte und Tamponade
verzögern nach Hel lins Ansicht die Heilung. Bien cke-Magdeburg. .
Schreiber, Erfahrungen mit Fibrolysin. Med. Gesellschaft zu Magdeburg.
30. April 1908. Münch, ined. Wochenschr. 1908, 37.
Schreiber sah gute Erfolge unter anderem auch bei chronischer
Arthritis, empfiehlt aber, da Fibrolysin nur aufwe»chend wirkt, daneben fleißig
Massage und orthopädische Uebungen anzuwenden, die unbedingt zur Er¬
zielung eines guten Erfolges notwendig seien. Blencke-Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
656
Referate.
Kölliker, Kin Fall von partiellem Riesenwuchs. Med. Gesellschaft zu Leip^:g.
14. Juli 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 39.
Es handelt sich um einen Fall von echtem Riesenwuchs, der den vierten
und fünften Finger der rechten Hand betraf bei einem 13 Jahre alten Mädchen.
B1 e n c k e - Magdt*bürg.
Broca et Barbet, Hypertrophie congenitale de toute la moitie droite Ja
corps. Revue d’orthop. 1908, II, p. 467.
Mitteilung eines Falles von Riesenwuchs der ganzen rechten Körper¬
hälfte. Bei dem 4jährigen Mädchen, dessen Vorgeschichte nichts Bemerkens¬
wertes ergibt, entsprach der rechte Arm demjenigen eines 6Va—7jährigen
Kindes bei absoluter Wahrung normaler Proportionen. Die Hypertrophie er¬
streckte sich nicht etwa auf das Fettgewebe; die Muskulatur war kräftig, die
Knochen waren derb und kräftig. Die linke Seite war nicht atrophisch. Dass-c-lbc
Verhalten zeigte die rechte untere Extremität. Das Radiogramm ergab Volums¬
vermehrung der rechtseitigen Knochen in allen Dimensionen. Der Händedruck
war rechts wesentlich stärker als links. Auch das Gesicht bot eine gerintre
Asymmetrie mit stärkerem Hervortreten des Tuber frontale dextrum dar. Eine
*/4 Jahre später vorgenommene Untersuchung ergab eine gleichmäßige
längerung der Beine um 2 cm und Wachstum des rechten Arms um 1 cm.
während der linke stehen geblieben war. Peltesohn - Berhn.
Lamy, Hypertrophie congenitale du membre inferieur gauche. Revue d orthi p.
1908, Nr. 471.
Beschreibung eines Falles von partiellem Riesenwuchs bei einem Tjährigim
Knaben, der einen die ganze Vorder- und Außenseite des linken Oberschenkels
einnehmenden Naevus piloso-pigmentosus aufwies. Der ganze linke Oberschenkel
war hypertrophisch, in der Länge um 2 cm, im Umfang um 6 cm vergrößert.
Auch das Becken schien nach der Messung und dem Röntgenbilde links hyper¬
trophisch. Pel t e s o h n - Berlin.
Coville, Malformation congenitale des membres inferieurs. Revue d’orthop,
190S, Nr. 4.
Der Fall betrifft ein 4 Monate altes Kind mit angeborenem doppel¬
seitigem Klumpfuß, Knie- und Hüftluxation. Zuerst wurden die Klumpfüße
redressiert, dann 6 Wochen später die Kniee in rechtwinkliger Beugung fixiert:
zur Reposition der Hüftluxationen ist das Kind noch zu jung. Auffallend war.
daß im Anfang eine offenbare vollständige Anästhesie der unteren Extremitäten
bestand, tür die ein Grund nicht auffindbar war und die allmählich zu ver-
schv/inden scheint. Coville nimmt für die Deformitäten Druck seitens des
Amnions in Anspruch; die Sensibilität^störung wäre auf Zerrung der Nerven
des I lexus sacralis infolge starker Beugung des Fötus in utero zurückzuführen.
Peltesobn - Berlin.
Gerard Renvall, Till kännedomen om kongenitala i non samma slägt upp-
trädande extremitetsmissbildningar. (üeber kongenitale in demselben Ge
Digitized by i^ooQle
Referate.
657
schlechte vorkommende Mißbildungen.) Finska Läkaresälskapets Handlingar.
April 1908.
Der Verfasser gibt unter Zuhilfenahme einer Stammtafel von fünf Genera¬
tionen ein Beispiel von Vererbung von Mißbildungen durch die weibliche Linie. Bei
a.llen Mitgliedern des Geschlechts, welche mit dem Leiden behaftet waren, wurde
ein kongenital gekrümmter kleiner Finger gefunden. Außerdem war zu finden:
Defekt der Ulna, Defekt der drei ulnaren Finger, Syndaktylie etc.
N y r o p - Kopenhagen.
Viannay, Absence des muscles pcctoraux et atrophie du sein correspondant.
Revue d’orthop. 1908, S. 459.
Das 14jährige Mädchen, dessen Anamnese nichts Bemerkenswertes ergab,
zeigte einen kongenitalen Defekt der Mm. pectorales raajor und minor der
rechten Seite, sowie eine Hypoplasie der rechten Mamma. Die drei ersten
Rippen und die Clavicula markierten sich ungewöhnlich stark; das Skelett
wies nichts Abnormes auf. Die Adduktion des Oberarmes war stark beschränkt
und wurde durch die Rückenmuskeln notdürftig besorgt. Weiterhin bestand
eine Art von Flughaut, gebildet durch eine zwei Querfinger oberhalb der rechten
Mamilla beginnende, sich in ganzer Länge an der Innenseite des Oberarmes
ansetzende Hautfalte. Bei Elevation des Armes spannte diese sich straff an
und ließ erkennen, daß sich in der Falte ein Fascienstrang mit äußerst scharfer
vorderer Kante befand. Bei der Operation, die in Z-förmiger Plastik bestand,
erwies sich dieser Strang als Ausläufer ^der oberflächlichen Armfascie. Seine
Insertion am Thorax entsprach dem Ursprung des Pectoralis major. Nach seiner
Durchtrennung kam ein zweiter, dem Pectoralis minor entsprechender Strang zu
Gesicht. — Das operative Resultat war sehr günstig. Peltesohn-Berlin.
Ganser, Ein Fall von Akromegalie. Gesellschaft für Natur- und Heilkunde
zu Dresden, 4. April 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 35.
Ganser stellt einen Fall von Akromegalie mit charakteristischen Knochen¬
veränderungen an Kopf und Händen vor. Das Leiden hatte sich erst nach dem
20. Jahre entwickelt, ohne daß eine Ursache gefunden werden konnte.
B1 en ck e -Magdeburg.
Schlippe, Ein Fall von Akromegalie. Dissertation. München 1908.
Schlippe beschreibt einen Fall von Akromegalie bei einer 72jährigen
Frau; der Beginn der Erkrankung lag 14 Jahre zurück. Es fanden sich die
typischen Veränderungen: Volumenzunahme der Hände und Füße, Nase und
Lippe unter gleichzeitiger Verdickung und Verstärkung der Haut der betreffenden
Körperteile. Daneben fanden sich schwere Veränderungen an den Augen, vor
allem bitemporale Hemianopsie, Lähmung einzelner Augenmuskeln, teilweise
Optikusatrophie. In dem gleichzeitigen Bestehen dieser Augenveränderungen
sieht Schlippe den Beweis für die Theorie Maries, daß die Akromegalie auf
einer Erkrankung und zwar Wucherung der Hypophysis cerebri beruht.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
658
Referate.
Vorschütz, Röntgenologisches und Klinisches zum Bilde der Akromegalie. Zei
Schrift f. Chir. Bd. 94, S. 371.
An der Hand von drei eigenen Beobachtungen von Akromegalie ce-
schäftigt sich Vor schütz vornehmlich mit der röntgenologischen Seite des Krasi-
heitsbildes. In dem einen Falle war es möglich, die Befunde des klini^cfc«
Bildes post mortem durch die Sektion zu kontrollieren und teilweise die kinu-
schen Untersuchungen zu bestätigen, teilweise denselben eine andere Deutirsf
zu geben. So war z. B. im Röntgenbilde der erweiterte Türkensattel sehr scL:s
zu sehen und die Sektion ergab einen Hypopliysisturaor. Anderseits stellte
eine über dem Sternum bestehende Dämpfung nicht als eine vergrößerte TcymuS,
wie man angenommen hatte, sondern als ein tuberkulöses Drüseni>aket henjcs.
Neben der starken Hypertrophie der Knochen konnte Vorschütz ebenst»
wie Curschmann starke Atrophie konstatieren, die sich vornehmlich is
Händen und Füßen zeigte und zwar in der Weise, daß, je weiter die einzeineE
Körperteile peripherwärts entfernt w’aren, um so deutlicher die Atrophie sich
zeigte. So sah Vorschütz in zweien seiner Fälle an den Fingern und Zehec,
daß sowohl die Diaphysen, als auch die Epiphysen starke atrophische Ver¬
änderungen aufwiesen, während weiter proximalwärts nur die Epiphysen be¬
fallen waren. Neben dieser sich vornehmlich auf die Extremitäten erstreckcn<i«eE
Atrophie konnte Vorschütz deutlich atrophische Erscheinungen auch an dtn
einzelnen Kippen erkennen. Alles in allem genommen gewann man den Er¬
drück, daß die hypertrophischen Erscheinungen umso stärker auÜreten, jt
weiter die Knochenteile peripherwärts entfernt sind, und daß in Analogie hiena
auch die Atrophie eine umso stärkere ist. Diese an den Phalangen sowohl der
Hände wie auch der Füße ausgeprägte Knochenhypertrophie an der Basis und
an der Spitze möchte Vorschütz nicht, wie andere Autoren annehmen, ah
sekundär osteoarthritische Erscheinungen ansprechen, sondern als selbständige
außerhalb der Gelenkkapsel entstandene Knochenwucheningen, was schon daraas
hervorgeht, daß man niemals am Knorpel diese Vorsprünge findet, und daß die
Hypeitrophieen vornehmlich an der Spitze der letzten Phalange zum Ausdruck
kommen. Joachimsthal.
Rosalia Rafilsohn, Aetiologie. Pro;.ino8e und Therapie der Erb sehen
Lähmung Diss. Freiburg 190S.
Verfasserin bringt die Krankengfschichten von 3 Fällen Erbscher Lähmung.
In dem ersten ließ sich eine Aetiologie nachträglich nicht mehr feststellen;
wenn die Zange schuld war, so müßte der hintere rechte Löffel auf der hinten
liegenden Halsseite gedrückt haben, oder die Verletzung wäre durch Leber*
drehiing des hinteren Plexus bracliialis entstanden. Im zweiten Fall scheint
der Druck einer schlecht angelegten Geburtszange für die Erklärung der be¬
treffenden Lähmung nicht unwahrscheinlich zu sein, und im dritten Fall war die
Lähmung entstanden durch Zug am Kopf und durch üeberdrehung der Pleius-
fasern an der linken Halsseite, ln den beiden ersten Fällen, in denen aller
Wahrscheinlichkeit nach keine schwere Zerreißung der Nerven vorlag, trat Hei¬
lung in relativ kurzer Zeit ein, in dem dritten Falle war bei der Entlassung aus der
Klinik noch keine Be.sserung eingetreten; jedenfalls handelte es sich hier um eine
totale oder partielle Zerreißung der Nervenstämme. Blencke*Magdeburg.
Digitized by CjOOQle
Referate.
659
Krüger, Doppelseitige GeburtsUlhmung. (Erb u. Klumpke.) Verein der
Aerzte in Halle a. S., 3. Juni 1908. Münch, med. Wochenscbr. 1908, 38.
Bei einem 4jährigen Kind fand sich beiderseitige Geburtslähmung, Typus
Krb-Duchenne und Klumpke. Die Entbindung soll ziemlich normal ge¬
wesen sein, nur die Schultern machten Schwierigkeiten beim Durchtritt. Eine
Fraktur irgend eines Knochens oder eine Luxation war auch durch Röntgenunter¬
suchung nicht festzustellen. Die Lähmung war eine atypische insofern, als
neben der 5. und 6. Cervikalwurzel auch der 1. Dorsalnerv befallen waren.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Brückner, 2 Fälle hereditärer Ataxie, Typ Friedreich. Gesellschaft f. Natur-
und Heilkunde zu Dresden, 4. April 1908. Münch, med. Wochenschr.
1908, 35.
Brückner stellt zwei Schwestern mit hereditärer Ataxie (Typ Fried¬
reich) vor, bei denen sich außer starker Ataxie und Gehstörungen Skoliose
und Spitzfußstellung fanden. Bl encke-Mogdeburg.
Ganser, Ein Fall von hereditärer Ataxie (Friedreich). Gesellschaft f. Natur-
und Heilkunde zu Dresden, 4. April 190S. Münch, med. Wochenschr.
1908, 35.
Demonstration eines 17jährigen schwachsinnigen Menschen mit hereditärer
Ataxie (Friedreich). Es handelte sich um einen typischen Fall, so daß ein
näheres Eingehen auf den Fall nicht nötig erscheint. Blencke-Magdeburg.
Hahn, Radialislähmung nach Oberarmfraktur. Aerztlicher Verein in Nürn¬
berg, 7. Mai 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 36.
10 Wochen nach der Verletzung wurde der gelähmte Nerv freigelegt,
der gerade über der Bruchstelle verlief und mit dem Periost innig verwachsen
war. Er wurde an den M. brachialis angeheftet und das alte Bett wurde über¬
näht. Der Erfolg, der lange Zeit äußerst fraglich erschien, war schließlich doch
ein sehr guter, da, nachdem von nervenärztlicher Seite die elektrische Behand¬
lung geraume Zeit fortgesetzt wurde, völlige funktionelle Heilung eintrat.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Bardenheuer, Entstehung und Behandlung der subkutanen Kompressions¬
lähmungen. (Versamml. der Rheinisch-westfälischen Gesellschaft für innere
Medizin und Nervenheilkunde 1908.)
Die Kompressionslähmungen können verschiedene Ursachen haben Zum
Teil sind sie die Folge davon, daß bei der Kompression die intra- und peri¬
neuralen Blut- und Lymphgefäße zerreißen und daß durch den Druck des Blutes
und der Lymphe eine Entzündung entsteht, die die Nervenleitung unterbricht
und bei längerem Bestehen zur sekundären Degeneration des peripheren Stückes
führt. In anderen Fällen wird die Lähmung durch das den Nerv umgebende
Narbengewebe verursacht. Je nach der Ursache ist die Behandlung der Kom-
pressionslähmung eine verschiedene. So gelang z. B. die Heilung einer trau¬
matischen Lähmung durch Inzision und Entfernung des in der Nervenscheide
Vorgefundenen Blutes, der Lymphe, und des entzündlichen h]xsudates. In einem
Fall von Drucklähmung des Rückenmarks bei Kyphosis als Folge von Caries
Digitized by L^ooQle
660
Referate.
tuberc. gelang Bardenheuer die Heilung durch die Laminektomie in der
Ausdehnung vom 5. bis 11. Wirbel. Eine Lähmung des Nerv, tibial. und peräx.
wurde durch Exzision des Narbengewebes beseitigt. In einem Fall rief eine
Einklemmung des Nerv, ischiadicus nur eine Neuralgie und nicht gleichzeiüf
eine Lähmung hervor. Die Heilung gelang ebenfalls durch Exzision des Narb«-
gewebes und Verlagerung des Nerven zwischen zwei aus dem Glutaeus niaxicLni
gebildete Muskellappen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Zrenner, Ein Fall von traumatischer Hämatoiuyelie. Dissert. Erlangen
Der 24 Jahre alte Patient war, nachdem er vorher eine schwere körper¬
liche Arbeit verrichtet hatte, plötzlich vornübergefallen und dabei zunächst mit
den Händen auf den Boden gekommen und mit der Stirn auf eine SieinpUtie
aufgeschlagen. Ohne das Bewußtsein zu verlieren, war er sogleich nicht meiir
im stände, sich zu bewegen, beide Arme und Beine waren gelähmt. Die Läh¬
mungen bildeten sich allmählich zurück. Bei der Aufnahme in die Erlanger
Klinik (4 Monate nach dem Unfall) fanden sich noch folgende Störungen: Auf
der linken Körperhälfte Lähmungserscheinungen am Arm, Andeutung des okulo¬
pupillären Phänomens, Erhöhung der Sehnenreflexe am Bein und leichte By w
ästhesie, auf der rechten Seite ausgedehnte Analgesie und Thermanästhe>ie.
Es handelte sich also um eine Blutung infolge eines Traumas, die einen Herd
in der linken Rückenmarkshälfte in der Höhe vom 7. Cervikal- bis 1. Dorsal-
segment mit fast völliger Zerstörung der Vorderhörner und Veränderung in
Vorderseitenstrang und Pyramidenseitenstrang hinterlassen hatte.
Bl encke-Magdeburg.
Dietrich, Ueber die Conus- und Caudaerkrankungen des Rückenmarks. DisserL
Jena 1908.
Dietrich rekapituliert zunächst die Anatomie und Physiologie des
Conus- und Caudagebietes, gibt dann einen Ueberblick über Diagnostik und
Pathologie der Conus- und Caudaerkrankungen und führt zum Schluß 5 Kranken¬
geschichten aus der Jenenser Klinik an. Die Erkrankungen sind hervorgerufen
durch primitive pathologische Aft'ektionen der die genannten Organe zusamruen-
set/.enden Gewebe selbst, dann durch solche ihrer Umgebung, Tumoren, tut^er-
kulö.se und luetische Prozesse, Häraatomyelie, traumatische Myelitis nach Frak¬
turen und Luxationen der Kreuzbeingegend, ferner Stich- und Schuß Verletzungen
des unteren Wirbelsäulenabschnittes. Die dififerentialdiagnostischen Merkmale
werden eingehend besprochen. Bien cke-Magdeburg.
Mainzer, Mitteilung über das Fehlen des Patellarreflexes bei scheinbarer Ge¬
sundheit des Rückenmarks. Aerztlicher Verein in Nürnberg, 18. Juni llKG.
Münch, med. Wochenschr. 1908, 88.
Mainzer berichtet über 2 Fälle, bei denen, ohne daß einer der be¬
kannten Gründe vorlag, trotz aller angewandten Methoden die Kniescheiben-
reflexe nicht nachzuweisen waren. Es handelte sich um ein Tjähriges Kind
und um eine 8Jjährige Frau; die Väter beider hatten Lues gehabt, die von
anderer Seite als die Ursache angeschuldigt wird, wenn auch in einer gegen¬
wärtig noch nicht genau zu bestimmenden Weise. B1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by C^oogle
Referate.
661
V 0 ß, Zur Frage der erworbenen Myotonien und ihrer Kombination mit der
progressiven Muskelatrophie. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde 1908,
Bd. 34.
V 0 ß berichtet über die Erkrankung eines 46jährigen Patienten der
Greifswalder Nervenklinik, bei dem sich ein teilweiser Defekt (wahrscheinlich)
aller Bauchmuskeln linkerseits fand, der angeboren war, außerdem eine Kom¬
bination von Myotonie mit progressiver Muskelatrophie, die sich allmählich
in den letzten 10 Jahren entwickelt hatte. Nach V o ß’ Ansicht handelt es sich
nicht um ein zufälliges Zusammentreffen, sondern es beruht der Muskeldefekt
auf mangelhafter Keimesanlage des neuromuskulären Apparates, ebenso wie
die progressive Myatrophie nichts anderes als der Ausdruck einer mangelhaften
Anlage oder unzureichender Vitalität des neuromuskulären Apparates ist.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Bähr, Zur Behandlung der Pseudohypertrophia musculorum. Zentralbl. f.
chirurgische und mechanische Orthopädie 1908, 8.
Bähr berichtet über einen Fall von Pseudohypertrophia musculorum,
bei dem vorsichtige, leichte Gymnastik, in der Hauptsache mit möglichster Be¬
schränkung auf die atrophischen Muskeln, daneben leichte, schonende Massage
eben dieser Muskeln insofern einen Erfolg brachte, daß der Junge kräftiger
wurde, der Gang den watschelnden Charakter verlor und das Treppensteigen
leichter ging. Objektiv war insbesondere eine Volumszunahme des Quadriceps
nebst vermehrter Konsistenz der atrophischen Muskulatur zu verzeichnen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Wandel, lieber nervöse Störungen der oberen Extremität bei Arteriosklerose
(Dyskinesia und Paraesthesia intermittens). Münch, med. Wochenschr.
1908, 44.
Auf Grund seiner an 32 Fällen gemachten Beobachtungen kann Wandel
die auch schon von De t er mann betonte Tatsache bestätigen, daß beim weib¬
lichen Geschlecht die Folgen der Arteriosklerose sich häufiger an der oberen
Extremiiät äußern, während Männer mehr das Kontingent der Beinarterio¬
sklerose mit den charakteristischen Funktionsstörungen ausmachen. Von den
für die Aetiologie der Arteriosklerose anerkannten Allgemeinschädlichkeiten
spielte keine in diesen Fällen eine bemerkenswerte Rolle. Nur das Alter mit
seinen allgemeinen und besonderen Abnützungserscheinungen kam in allen
Fällen in Betracht. Auch die neuropathische Diathese kam nicht in Frage,
wohl aber die funktionelle Belastung der befallenen Extremitäten, d. h. lokale
Erkältung und Durchnässung der Glieder, thermische und funktionelle Reize,
wie sie die einförmigen beruflichen Anstrengungen auf die Länge der Zeit mit
sich bringen. Von 13 Frauen, die die Zeichen der Armarteriosklerose mit den
erwähnten Parästhesieen und gewissen Störungen der motorischen Sphäre zeigten,
waren 4 Wasch- und Scheuerfrauen, 1 Lumpensortiererin, 1 Scheuerfrau, 1 Ar¬
beiterin in der Gelatinefabrik, 1 Melkerin, 1 Zeitungsausträgerin, 1 Handarbeits¬
lehrerin, 1 Haushälterin und 3 Arbeiterinnen ohne nähere Angabe des Berufs.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by y^ooQle
662
Referate.
Rostoski, Ein Fall von Lähmung des Deltoides und Serratus anticus maior |
bei erhaltener Abduktion des Armes. Gesellschaft für Natur- und HeH-
künde zu Dresden, 14. März 1908. Münchener med. Wochenschr. j
Nr. 27.
Trotzdem die beiden Muskeln, welche zur Erhebung des Armes dieneü.
gelähmt waren, konnte Patient doch den Arm erheben, je länger, je besser,
zuletzt sogar 30 Grad über die Horizontale hinaus. Dies war dem Patien^ea
dadurch möglich, daß der Pectoralis maior und die mittlere Partie des Trapexios
vikariierend eingetreten waren, vielleicht auch noch der Supra- und Infraspinats?.
ßlencke - Magdeburg.
M omburg, Die künstliche Blutleere der unteren Körperhälfte. Zentralbl. L
Chirurgie 1908, 23.
Um bei eingreifenderen Operationen im oberen Teil des Oberschenkel?
und am Becken Blut zu sparen, empfiehlt Momburg in der Taille zwisch-n
Beckenschaufel und unterem Rippenrand einen abschnürenden Gummischlauch
anzulegen, was angeblich die Bauchorgane nicht schädigen soll. Eine Störung
der Herztätigkeit bei Lösung des Gummischlauches will er durch Abschnür^n
beider Ober- und Unterschenkel und succesives Lösen der einzelnen Abschnü¬
rungen vermeiden. Bl encke-Magdeburg.
M omburg, Zur Blutleere der unteren Körperhälfte. Zentralbl. f. Chirurgie
1908, 41.
Momburg empfiehlt nochmals sein Verfahren, durch Anlegen mehrerer
— 3 bis höchstens 4 — Touren eines Gummischlauches um die Taille, die
untere Körperhälfte blutleer zu machen, und teilt einen Fall mit, in dem der
Schlauch 30 Minuten lang ohne jede Schädigung lag. Er beschreibt ferner
seine Methode, auch am Becken eine fast absolute Blutleere zu erzielen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Dejardin, L’hcmophilie et rhemostase chez les hemophiles: Comment il faut
preparer un hemophile ä une Intervention chirurgicale. Arch. provinc, de
chir. 1908, p. 38ö.
Dejardin empfiehlt bei der Behandlung von Blutungen bei Hämophilen,
als allgemeine Behandlung der Hämophilie, endlich als Vorbereitung für chi¬
rurgische Eingriffe bei Blutern die Anwendung von frischem Serum vom Kaninchen,
vom Pferde oder vom Menschen. Er injiziert entweder 10—20 ccm intravenös oder
10—30 ccm subkutan, bei Kindern halb so viel. Ist kein frisches Serum vor¬
handen, so bedient er sich des Antidiphtherieserums, das in einem Fall von
Blutung aus einer Zahnalveole einem 4jährigen Bluterkind nach Versagen aller
anderen während 13 Tagen fortgesetzten Verfahren das Leben rettete,
Pel tes oh n- Berlin.
Schanz, Jodpinselungen zur Erzielung schmaler Narben. Zentralbl. f. Chir.
1908, Nr. 32.
Ausgehend von der Beobachtung, daß oftmals Wunden, die uns in ihrem
Aussehen nicht vollständig befriedigen, weil sie leichte Reizerscheinungen zeigen.
Digitized by LjOOQle
Referate.
663
günstige Narbenbildung gaben, rät Schanz in Fällen, bei denen es uns darauf
ankommt, denkbar schmale Narben zu erhalten, die Ränder ideal aseptischer
Wunden in einen leichten Reizzustand zu versetzen, und zwar geschieht dies
am besten mit Jodtinktur, mit der man vor der Entfernung der Nähte die
Wunde ein- oder mehreremal bepinselt, am besten 3—5 Tage nach der Opera¬
tion. Der Einfluß dieser einfachen Manipulation auf die Narbenbildung ist
nach des Verfassers mehrjährigen Erfahrungen ein deutlich sichtbarer in dem
gewünschten Sinne. Blencke-Magdeburg.
Krajca, Zur Epithelisierung granulierender Flächen durch Scharlachrotsalbe.
Münch, med. Wochenschr. 1908, 38.
Krajca berichtet über günstige Erfolge bei granulierenden Wundflächen
mit 8prozentiger Scharlachrotsalbe, die abwechselnd mit Borsalbe verwendet
wurde. Ceber die Salbenläppchen wurde wasserdichter Verbandstoff gebreitet.
Diese Salbenbehandlung wurde mit Thierschschen Hauttransplantationen
kombiniert. B1 e n c k e - Magdeburg.
Hörrmann, Zwischenfälle bei der Lumbalanästhesie. Münch, med. Wochenschr.
1908, 40.
Hörrmann gibt die Krankengeschichten zweier Fälle wieder, bei denen
nach Lumbalanästhesie schwere Erscheinungen auftraten, einmal ein 25 Tage
lang anhaltender schwerer Symptoraenkomplex von Meningismus, der für den
Arzt dadurch besonders peinlich war, daß er ihm gänzlich machtlos gegentiber-
stehen mußte. In dem anderen Falle handelte es sich um eine Kokainvergiftung,
höchstwahrscheinlich um eine Idiosynkrasie gegen Kokain. Glücklicherweise
kam es in keinem Falle zu einer Katastrophe, obwohl im 1. Fall ein 4tägiges,
unstillbares Erbrechen, im 2. ein 12tägiges schweres Delirium das Schlimmste
befürchten ließen. B1 e n c k e - Magdeburg.
T ach au, Beiträge zur Lumbalanästhesie mit Stovain. Diss. Göttingen 1908.
Nach einer kurzen geschichtlichen Einleitung berichtet T ach au über
57 Fälle, bei denen in der Göttinger Universitäts-Frauenklinik die Lumbal¬
anästhesie angewandt wurde. Verwendet wurde das Billonsche Präparat. In
39 Fällen gelang die Analgesie gut und reichte bis zum Schlüsse der Operation,
in 11 Fällen mußte, nachdem die Lumbalanästhesie mindestens 1 Stunde ein
schmerzloses Operieren gestattet hatte, wegen Rückkehr der Schmerzempfindung
die Operation in Chloroform- oder Aethernarkose beendet werden, in 4 Fällen
war die Anästhesie ungenügend, in 3 Fällen versagte sie vollständig, ln 3 Fällen
erfolgte nach mehreren Tagen der Exitus, doch war nicht mit Sicherheit ein
ursächlicher Zusammenhang mit der Lumbalanästhesie nachzuweisen. In einem
von diesen Fällen fand sich bei der Sektion hochgradige Arteriosklerose, im
zweiten war bei der Operation eine Meningocele (Folge von Spina bifida lumbo-
sacralis anterior) irrtümlich für eine Ovarialcyste gehalten und eröffnet worden,
und im dritten Fall war eine Apoplexie die Todesursache. Nach- und Neben¬
wirkungen waren häufig. Blencke-Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
664
Referate.
Noeaske, Ueber die Technik der Saugbehandlung der Extremitäten. Med. Ge¬
sellschaft zu Kiel. 19. Juni 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 32.
Noeaske benutzt statt einer Saugspritze eine WasserstmhlluftpuEupe tnit
regulierbarem Sicherheitsventil und Quecksilbermanometer. Er erzielte gnt?
Erfolge und Nachlassen der Schmerzen mit dieser Behandlun^methode
chronischen rheumatischen Prozessen, bei Distorsionen an Gelenken und be:
Kontusionen von Knochen und Weichteilen, nach Operationen, Frakturen ucd
dergleichen mehr. Die Saugbehandlung bewährte sich häufig besser als dir
Heißluft- und Massagekuren. Biencke-Magdeburg.
Feliziani, F., Sulla iperemia passiva come metodo di cura. Esperieui?
cliniche. Societä Lancisiana degli ospedali di Roma 1907.
Nach einer sorgfältigen Darlegung der Anschauungen und Versuche Biers
in Bezug auf den Gegenstand, der auseinandergehenden Meinungen, der em-
gegengesetzten und häufig sich widersprechenden Resultate vieler anderer, be¬
sonders deutscher, französischer, englischer und italienischer Forscher bis ani
die neueste Zeit, kommt Verfasser zur Beschreibung von 28 Fällen persönlicher
Versuche, die auf der chirurgischen Abteilung von Prof. Postempski im
Ospedale di S. Giacomo ausgeführt wurden. Es handelt sich um 5 Panaritiec.
5 Phlegmonen der Hand, 6 akute Phlegmonen des Fußes, 2 akuto Periostitiiieo
des Unterschenkels, 2 Adenophlegmonen des Halses, 2 Gonokokkenarthro- uri
2 Gonokokkentendosynovitiden, 2 vollständige Frakturen des Unterschenkels mit
Verzögerung in der Konsolidierung, 2 Gelenkdistorsionen, davon eine schwer?.
Verfasser erzielte eine vollkommene Heilung in den letzteren 3 Fällen; unsichere
Resultate bei den beiden Halsphlegmonen, bei zwei der Finger, bei zwei der
Hand und bei zwei Phlegmonen des Fußes; schwere Ausgänge bei einer Phle^^monc
des Fußes und des Unterschenkels, bei einer der Hand, bei einem Panaritian.
Die übrigen Fälle heilten, doch handelte es sich um leichte Formen. Verfasser
führt die verschiedenen Erklärungen und die verschiedenen experimentellen
Untersuchungen an, um sich über die verschiedenen Resultate Rechenschaft rn
geben, die mit der Methode bei den verschiedenen Phlegmonearten erhalten wer¬
den, und sucht selbst, sich auf die Theorien von der Immunität stützend,
Grund der verschiedenen Resultate zu erklären, welche bei den schweren akuten
Infektionen und bei den leichten erhalten werden. Er kommt zu dem Schlab.
daß er die Methode bei den deutlich phlegmonösen Formen widerrät und sie
bei den leichten zirkumskripten Phlegmonen, in den traumatischen Fällen mit
anormalem Verlauf und den Gonokokkensynovitiden empfiehlt.
Ros. ßuccheri-Palermo.
Iselin, Behandlung akut eitriger Entzündungen mit heißer Luft, Zentralbl
f. Chir. Nr. 43.
Iselin berichtet über günstige Erfolge der Behandlung phleginonöie^
Entzündungen mit heißer Luft, wie sie seit Y 2 Jahr in der Baseler chirurgi¬
schen Poliklinik geübt wird. Der Heißlufttherapie geht immer der chirurgisch?
Eingriff voran, am Tage nach der Operation beginnt das .Heizen* in ßie^'
sehen Ilolzheizkästen 2nial täglich 2—3 Stunden bei Temperaturen von 44—
an der Haut. Die Heilung war eine schnelle, bei Panaritien mit teilweiser
Digitized by L^ooQle
Referate. ß 65
Nekrose der Sehnenscheide und bei eitrigen Sehnenscheidenphlegmonen blieben
die Sehnen mit ganzer Bewegungsfähigkeit erhalten.
B1 e n c k e • Magdeburg.
Ferrari-Modena, ün caso di trömbosi dell* arto inferiore sinistro (phlegmatia
coerulea dolens) al termine di una polmonite diplococcica. La riforma
medica 1908, Nr. 22.
Beschreibung eines klinischen Falles, der wegen seiner relativen Selten¬
heit von Interesse ist. Ros. Buccheri-Palermo.
Schürmayer, Zur Kenntnis der chemischen Vorgänge beim Verderben der
Emulsionen der Röntgenplatte und die hierdurch bedingten Entwicklungs¬
fehler. Zeitschr. f. med. Elektrologie und Röntgenkunde 1908, 10.
In einem früheren Bande dieser Zeitschrift hat Verf. seine Mißerfolge
der letzten Jahre mit mehreren Packungen von Schleußner-Röntgenplatten
publiziert und versuchte auf Grund chemischer Tatsachen die Erklärung für
einige Erscheinungen zu geben. Er empfahl damals die Lumi^re-X-Platte und
hob deren Vorzüge hervor, was eine Abwehrschrift eines Anonymus der Aktien¬
gesellschaft vormals Dr. Schleußner zur Folge hatte. Mit dieser beschäftigt
sich Verf. in der vorliegenden Arbeit ausführlich. Da sie zum großen Teil
polemischer Natur ist, eignet sie sich nicht für ein kurzes Referat.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Gilmer* üeber chirurgische Schnellaufnahmen. Münch, med. Wochenschr,
1908, 42.
Gilmer hat mit einem Instrumentarium der Firma Reiniger, Gebbert
& Schall chirurgische Schnellaufnahmen gemacht, von denen 15 auf 2 Tafeln
beigefügt sind. Die Bilder lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Die Expositionszeit schwankte zwischen V* und 5 Sekunden. Die technischen
Einzelheiten sind im Original zu ersehen. Blencke-Magdeburg.
Steiner (Rom), Sulla radioderroite. Societä Lancisiana degli ospedali di Roma,
Sitzung vom 7. März 1908.
Redner macht darauf aufmerksam, daß die Radiodermititiden von dei)
physikalischen Verhältnissen der strahlenerzeugenden Röhren abhängig sind,
und daß Haarausfall, Insensibilität, Avantreaktion, welche für besondere Merk¬
male derselben gehalten worden waren, dies ganz und gar nicht sind. Er be¬
schreibt die verschiedenen klinischen Formen, unter denen die Radiodermatitis
auftritt. In Abrede stellt er, daß eine besondere Idiosynkrasie für die X-Strahlen
bestünde, und beschreibt sämtliche zur Vorbeugung dieser Komplikation ge¬
eigneten Mittel, so z. B. die Dosimetrie, die Filtration der Strahlen, die Ver¬
wendung elektrostatischer Maschinen, die Immunisierung der Gewebe. Redner
verweilt sodann bei dem Nachweis, daß die Radiodermatitis als Heilmittel dienen
kann. So ist sie notwendig, wenn man eine sichere Enthaarung oder eine
Pigmentierung zur Begünstigung der Weiterleitung der Strahlen in die Tiefe
oder eine Analgesie zur Ermöglichung ausgedehnter Applikationen in Fällen
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXIl. Pd. 43
Digitized by C^ooQle
666
Referate.
von ausgedehnten und unoperierbaren oberflächlichen Krebsen erzielen wi!].
Er stellt zwei Kranke vor; bei dem einen rief er eine Radiodermatitis ersten and
zweiten Grades zur Behandlung eines Epithelioms des inneren Winkels de?
rechten Auges hervor. Bei dem anderen gaben 8 Applikationen wegen Tuber¬
kulose des Calcaneus nicht zu dem geringsten Anzeichen von Dermatitis Anlab.
Ros. Buccheri-Palermo.
Graeßner, Die Röntgenuntersuchung der Wirbelsäule, insbesondere ihr Werl
bei der Beurteilung von Wirbelsäulenverletzungen. Zeitschr. f. Chir. Bd. 94.
S. 241.
Graeßner gibt einen Ueberblick über seine Erfahiningen bei der
Röntgenuntersuchung und Beurteilung von Wirbelsäulen verletzten. In Bezug aaf
die Technik folgt er im wesentlichen den Weisungen, wie sie Al b e rs*
Schönberg in seinem bekannten Lehrbuche gibt, und macht in ausgiebiger
Weise von seiner Kompressionsblende Gebrauch. Die Aufnahmen der Hal?-
wirbelsäule hat Graeßner bisher nur in sagittaler und frontaler Strahlen-
richtung hergestellt. Zur Darstellung der beiden obersten Halswirbel zieht er
die Einstellung auf den geöflheten Mund deijenigen mit Schnigstellang des
Kompressionszylinders vor, um die erheblichen Verzeichnungen zu vermeiden
Bei der Brustwirbelsäule kommen für Erwachsene seitliche Aufnahmen wohl
nicht in Betracht. Daß die Aufnahme bei schräger Einstellung etwa unter
einem Winkel von 50® mehr Aufschluß über krankhafte Prozesse ergeben hätten,
als solche in sagittaler Richtung, kann Graeßner nicht behaupten. Vor der
Aufnahme der Lendenwirbelsäule muß der Darm durch Abführmittel, eventuell
Klistiere, gründlich gereinigt und dann durch Opiate ruhig gestellt werden.
Die Aufnahme des Patienten muß zur Ausgleichung der physiologischen Lordose
mit erhöhten Schultern, gleichzeitig der Brust genähertem Kopfe und mit er¬
höhten angezogenen Beinen erfolgen. Es kommt dann die Wirbelsäule mög¬
lichst nahe an die Platte heran, auch werden die Bauchmuskeln entspannt und
so kann eine kräftigere Kompression ausgeführt werden. Der Uebelstand, daß
bei neutraler Einstellung die Processus articulares durch den Wirbelkörper ge¬
deckt werden und Veränderungen an ihnen und am Gelenkspalt nur schwer za
erkennen sind, kann vermieden werden, wenn man bei der Aufnahme mit
der Kompressionsblende den Focus der Röhre nicht über der Mitte, sondern
dicht unter dem oberen Rande der Blende einstellt, wodurch die Gelenkfort¬
sätze der unteren im Bilde sichtbaren Wirbel in den Zwischenwirbelraum pro¬
jiziert werden.
In der Zeit vom 1. April 1905 bis zum 31. März 1908 wurden von
Graeßner von 283 Personen Wirbelsäulenaufnahmen gemacht, darunter in
206 Fällen, bei denen nach einem vorausgegangenen Trauma eine Wirbel¬
säulenverletzung vorliegen konnte. In diesen Fällen von fraglicher Wirbel-
Säulenverletzung wurden 75mal traumatische Veränderungen nachgewiesen. Der
Arzt hat nach Graeßner als Begutachter die Pflicht, namentlich in den
Fällen, bei denen nach einer verhältnismäßig geringfügigen Gewalteinwirkung
auf die Wirbelsäule der Verletzte über mehr oder minder erhebliche Beschwerden
klagt und die klinische Untersuchung keinerlei Veränderungen nachzuweisen
vermag, so daß diese Leute oft als Uebertreiber, wenn nicht gar als Simulanten
Digitized by L^ooQle
Referate.
667
hingestellt werden, durch eine röntgenologische Untersuchung den Wirbelbefund
klarzustellen. Es wird dann mancher von diesen Verletzten zu seinem Rechte
kommen. Joachimsthal.
Earl Rosenthal, Einfluß der Massage auf die Erhöhung der Hauttemperatur.
Zeitschr. f. physikal. u. diätetische Ther. Bd. 12 S. 401.
Bei den von Rosenthal ausgeführten Versuchen wurde ein von Rosin
angegebenes Hautflächenthermometer auf der Mitte des Vorderarms und zwar
stets an derselben Stelle mittels einer Binde ohne Anwendung eines starken
Druckes befestigt. Zunächst wurde die normale Hauttemperatur auf das ge¬
naueste festgestellt, worauf dann die Beugeseite des betrefiTenden Vorderarms
5 Minuten lang, und zwar bei den verschiedenen Untersuchungsreihen mit den
verschiedenen Massagehandgriffen, behandelt wurde. Unmittelbar nach be¬
endeter Prozedur wurde dann die Hauttemperatur wiederum ermittelt.
Die Erhöhungen der Hauttemperatur durch eine 5 Minuten währende
Effleurage belief sich in zahlreichen Versuchen auf 0,9—1,6® C. Im Mittel
wurde 1,5® C. festgestellt. Die höheren Werte betrafen stets Personen weib¬
lichen Geschlechts. Um vieles bedeutender zeigt sich die Wirkung einer
5 Minuten lang währenden Vibrationsmassage. Die betreffenden Zahlen be¬
trugen im Mittel 3,25® C. Eine Knetung von 5 Minuten Dauer erzielte in der
Regel nur geringfügige Erhebung der Temperatur (im Durchschnitt nur 8® C.)
Ungefähr dieselbe Ziffer wurde bei einem 5 Minuten dauernden Tapotement
erzielt.
Verfasser ist geneigt, der Friktionswärme bei der durch die Massage
bewirkten Temperaturerhöhung den Löwenanteil zuzumessen. Er wurde in
dieser Auffassung bestärkt durch Versuche an blutleer gemachten Glied-
abschnitten. Es ergab sich aus denselben, daß, ob Blutleere oder nicht be¬
stand, durch die Massage fast stets dieselben hohen Temperaturziffem erreicht
wurden. Joachimsthal.
H. Lehr, Sandwasserbäder. Zentralbl. f. Chirurg, u. mechan. Orthopädie. Bd. II,
Heft 4.
Lehr empfiehlt speziell gegen Plattfußbeschwerden laue Sandwasserbäder
von 5—10 Minuten Dauer; dabei sollen die Füße im Sande kräftig arbeiten,
jedoch ohne daß Ermüdung eintritt. Die Absicht dabei ist, eine Hyperämie zu
erzielen; die Tretbewegungen stellen eine Art Uebungsbehandlung dar, und
durch die aufgewirbelten Sandkörner wird ein starker Hautreiz ausgeübt.
Pfeiffer -Frankfurt a. M.
König, Die traumatische Knochengelenkentzündung in ihrer Bedeutung für
das Gutachten des Unfallarztes. Berl. klin. Wochenschr. Nr. 37, S. 166.
Sowohl der Tierversuch als auch die Erfahrung an Menschen haben er¬
wiesen , daß sich die große Mehrzahl der traumatischen Tuberkulosen alsbald
nach dem Stattönden des Traumas entwickelt. Die Kenntnis des klinischen
Verlaufs dieser Fälle lehrt, daß sie in der Regel bereits in den ersten 14 Tagen
nach der Verletzung auftreten. Immerhin darf man aber auch den Zeitraum,
bis zu welchem große Wahrscheinlichkeit für den Zusammenhang spricht, auf
Digitized by L^ooQle
6G8
Referate.
etwa 2 Monate, und wenn man bedenktj daß sich manche Formen sehr lauf
sam entwickeln, bis sie der Kranke bemerkt, auf 3 Monate bestimmen.
allen später auftretenden Erkrankungen muß, um die Wahrscheinlichkeit ein^s
Zusammenhanges anzugeben, nachgewiesen werden, daß bis zum Offenkundig
werden der Erkrankung von dem Moment des Unfalles an krankhafte Erscbri-
nungen (Schmerz, Schwellung, Funktionsstörung) vorhanden waren. Ist
nicht der Fall, so ist nach Königs Auffassung die Erkrankung nicht als Be¬
triebsunfall anzuerkennen« Es wird dann auch öfter möglich sein direkt natb
zuweisen, daß andere im Wesen der tuberkulösen Erkrankung gelegene Ycr
hältnisse die Entstehung derselben erklären. JoachimsthaL
Zweig, Traumatische Erkrankung oder Muskeldefekt. Aerztliche Sachver
ständigen-Zeitung 1908. 18.
Im Anschluß an einen Fall von einem beladenen Heuwagen hatten sici
bei einer 40jährigen Frau motorische Störungen einer Seite entwickelt, die ein
Begutachter auf einen 3 Wochen post trauma erfolgten Schlaganfall, eie
anderer wegen sich findender Differenzen im Umfang der beiderseitigen Muskeln
auf ein Rückenmarksleiden, ein dritter ohne Berücksichtigung des Muskel-
befundes auf eine funktionelle Nervenerkrankung bezog. Alle nahmen überein¬
stimmend einen ursächlichen Zusammenhang des Leidens mit dem Unfall an.
In der psychiatrischen Klinik zu Königsberg kam man dagegen zu der Ansicht,
daß es sich um eine Kombination von traumatischer Hysterie mit angeborenem
Muskeldefekt handelte. Und zwar lag ein vollkommener Defekt des Muscolos
interosseus primus vor und eine Hypoplasie der anderen Muskeln, wofür die
Volumensverminderung und die quantitative elektrische Herabsetzung sprach.
Der Fall beweist nach Zweigs Ansicht, wie schwierig oft die Begutachtung
besonders von Nervenkranken ohne längere Beobachtungs- und öftere eingehende
Untersuchungsmöglichkeit ist, und regt zu gleicher Zeit an, bei Veränderung
isolierter Muskeln vor der Annahme einer zentralen Ui-sache immer an die Mög¬
lichkeit einer angeborenen Hypoplasie oder eines Defektes zu denken.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Zweig, Beiträge zur Begutachtung der Wirbelsäulenverletzungen. Aerztliche
Sachverst.-Zeitung 1908, 15.
Die Erfahrungen, die an der psychiatrischen Klinik zu Königsberg an
6 Fällen von Wirbelsäulenverletzungen gemacht wurden, bei denen nur in einem
Falle die Erkrankung und auch erst IV* Jahre nach dem Unfall richtig erkannt
wurde, veranlaßten den Verfasser, die diesbezüglichen Beobachtungen zu ver¬
öffentlichen zur Warnung vor derartig folgenschweren diagnostischen Irrtümem.
Im 1. Falle wurde trotz vieler Hinweise auf die Wirbelsäule von drei
Gutachtern Neurasthenie angenommen, l*/* Jahre nach dem Unfall fand sich
zum erstenmal der Verdacht einer Versteifung der Wirbelsäule. In der Klinik
wurde dann erst eine Spondylitis traumatica der Lendenwirbelsäule fest-
gestellt; auch im 2. Falle, bei dem auch eine traumatische Neurose an¬
genommen wurde, lag eine Spondylitis traumatica infolge wahrscheinlicher
Wirbelverletzung vor, daneben auch noch eine Arthritis deformans der
Schulter. Im 3. Falle wurde 14 Tage nach der Rückenverletzung durch Röntgen-
Digitized by L^ooQle
Referate.
069
aufnabme eine Veränderung an der Wirbelsäule festgestellt. Alle folgenden
Gutachter sprechen immer, ohne auf den ersten Befund Rücksicht zu nehmen
und gründlich die Wirbelsäule nachzuuntersuchen, von funktionell nervösen
Störungen. Erst in der Klinik wurde die frühere Wirbelverletzung wieder
festgestellt. Im 4. und 6. Falle handelte es sich um eine Spondylitis de-
formans; in beiden Fällen wurden die Verletztea als Simnlanten erklärt und
für voll arbeitsfähig angesehen. Im 5. Falle wurde der Verletzte 2 Monate
nach dem Unfall als gesund bezeichnet. Trotz dauernder Klagen und trot? ob¬
jektiven Befundes wurde ohne Durchleuchtung die Diagnose Altersskoliose ge¬
stellt und der Patient mit seinen Ansprüchen abgewiesen. Bei der Untersuchung
in der Klinik wurden Frakturen an Querfortsätzen der Wirbel gefunden. —
Auf Grund dieser Fälle formuliert Verfasser die Schlußsätze seiner Arbeit
folgendermaßen:
1. Jeder Unfall, der bezüglich seiner Lokalisation und der subjektiveil
Klagen auf die Gegend der Wirbelsäule hinweist, erfordert wiederholte Röntgen¬
untersuchung.
2. Die sogenannte traumatische Neurose ist in nicht wenigen Fällen nur
ein für einen Reizzustand des Nervensystems sprechender Symptomenkomplex.
3. Hinter diesem Symptomenbilde der traumatischen Neurose verbirgt
sich oft eine schwere körperliche Erkrankung, in den vorliegenden Fällen stets
eine Schädigung der Wirbelsäule, Blencke-Magdeburg.
Boettiger, Ueber traumatische Gelenkneurosen. Altonaer ärztlicher Verein.
6. Mai 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 86.
Auf dem Boden einer neuropathischen Veranlagung, einer Chlorose öder
Anämie beginnen häufig, meist nach geringen traumatischen oder rheumatischen
Schädlichkeiten Schmerzen, teils neuralgischen, teils neurotischen Charakters in
dem betreflPenden Gelenk, an dem sich objektiv sonst nichts nachweisen läßt,
auch nicht mit Röntgenstrahlen. Dagegen treten in der Umgebung der Ge¬
lenke Veränderungen auf, besonders Atrophie der Muskulatur und Störungen
in der Haut und im Unterhautzellgewebe, die Boettiger für trophoneurotische
hält. Differentialdiagnostisch kommt Hysterie in Betracht, bei der aber auch
diese objektiven Symptome fehlen und die subjektiven ins Ungeheuerliche
wachsen. Bl encke-Magdeburg.
Karl Dahlgren, Fall af sentransplantation. Hygiea, Februar 1908.
Dahlgren hat mit gutem Resultat einen Patienten mit Paralysis musc.
quadric. d. post haematomyelit. traumat. operiert. Da Tensor fasciae latae
und sartorius ebenfalls paretisch waren, benutzte D. das Caput long. bicip.
und den Semimembranosus. Um eine gute Zugrichtung zu erhalten, führte
er den Biceps durch das Sept. intermusc. ext. und die restierenden Teile
vom Vastus und Semimembranosus durch das Sept. intermusc. int.
D. ist zu der Auffassung gelangt, daß die Sehnenplastik —- in weitester
Bedeutung des Wortes — an vielen Stellen in einem Umfang betrieben wird,
der sich kaum durch die gewonnenen Resultate motivieren läßt. -
N y r 0 p - Kopenhagen.
Digitized by L^ooQle
670
Referate.
Walzberg, Tenotomie des Musculus ileopseas am Trochanter minor. MüdcIl
med. Wochenschr. 1908, 41.
W a 1 z b e r g hat bei einem 40jährigen Patienten mit spastischer Spinä]
paralyse, dem infolge schwerster Kontrakturen das Gehen fast unmöglich wir,
nach zahlreichen Tenotomieen die Adduktoren offen durchschnitten und, da sich
dann noch als einziges Hindernis der M. ileopsoas stark anspannte, auch dir
Sehne dieses Muskels an ihrem Ansatz am Trochanter minor durcbschnittem
Er ging dabei von einem 15—20 cm langen schrägen Hautschnitt am äuberes
Rande des M. sartorius aus am medialen Rande des M. rectus femoris tot
wiegend stumpf in die Tiefe. Der Zweck der Operation wurde erreicht, es
gelang, die Beine zu strecken, und Patient konnte im Schienenhülsenapparit
mit gestreckten Beinen stehen. Blencke-Magdeburg.
Riedinger, Zur Technik der Achillotenotomie. Zentralbl. f. chir. u. me<hiiL
Orthopädie Bd. II, Heft 2,
Zur Erleichterung der Tenotomie bei schwach entwickeltem und hoch¬
stehendem Galcaneus empfiehlt Riedinger, mittels eines Häkchens mit nicht
konzentrisch verlaufender Krümmung die schlaffe Achillessehne hervorzuziehen
und die möglichst gespannte Sehne von außen nach innen zu durchschneitiec
Er durchsticht, während ein Assistent die Sehne mit dem Häkchen anspaiiDt.
die Haut neben der Sehne mit einem Skalpell, führt das Guerinsche voni
stumpfe Tenotom ein, bringt den Fuß in stärkste Dorsalflexion und durch
schneidet die Sehne von außen nach innen.
Auch für die Tenotomie in anderen Körpergegenden empfiehlt Rie¬
dinger das Herausheben der Sehne durch seinen Haken, wenn die Sehne deut¬
licher hervortreten soll. Pfeiffer-Frankfurt a. M.
Tixier, Osteite-malaire tuberculeuse limitee. Soc. de chir. de Lyon, März 19C^S
Arch. gän. de chir. 1908, TI, p. 51.
Bei einem mit Tuberculosis fistulosa des Fußgelenks behafteten jungen
Manne mußte der Fuß exartikuliert werden. Trotzdem Fortdauer der Schmerzen
in der Tibia. Daher Aufmeißelung des Knochens, dessen Markhöhle sich aU
mit Fungusmassen durchsetzt erwies. Tixier schritt daher sofort zur Exart:-
kulation im Kniegelenk. Die entfernten Knochen waren weich und osteomala-
cisch. — In der Diskussion fragt Berard, ob das Mark echte Tuberkeln ent
hielt, da Osteomalacie ohne solche und entfernt von dem Tuberkuloseheri
spontan ausheilen kann. Gangolphe sah einen ähnlichen Fall wie Tixier.
Ein Kind mit Fußgelenkstuberkulose zeigte eine von einem ausgedehnten kaltes
Abszeß durchsetzte Tibiamarkhöhle. Es handelte sich um eine echte tuberkulc?^^
Osteomyelitis, die sich von der Osteomalacie dadurch unterscheidet, daß t'Ci
letzterer das erkrankte Knochenmark rot und angiomatös aussieht. Die lokale
Osteomalacie der Tuberkulösen hat nichts gemein mit Osteomalacia generali¬
sata. Bei ersterer sind stets nur die Knochen des erkrankten Gliedes osteo-
malacisch, die anderen Knochen zeigen im Gegenteil oft eine erhöhte Festig¬
keit. Gayet weist schließlich darauf hin, daß das Markgewebe sich bei diesen
beiden Formen der Osteomalacie histologisch nicht unterscheiden lasse.
Peltesohn-Berlin.
Digitized by L^ooQle
Referate.
671
ubiz Galeazzi, Sui criteri d’intervento nelle tubercolosi articolari delF et4 giovane.
Societä Milanese di medicina e ohirurgia. 18. März 1908.
ntöL Redner teilt kurz seine Erfahrungen Über die schlechten funktionellen
§ tekiH: Dauerresultate nach radikalen Eingriffen bei Gelenktuberkulose in der Eind-
:ik 1 ? heit und im Jünglingsalter mit, hebt auf Grund seiner persönlichen Erfahrung
: niri is: deren Häufigkeit hervor und sucht sich über die Ursachen klar zu werden,
ii't’rr Darauf legt G. seinen persönlichen Standpunkt von der Güte einer kon-
211 hx: servativen Therapie dar und bespricht die mit derselben erzielten vorzüglichen
k i X, Resultate (definitive Heilungen in 80 Proz.) sowohl unter dem Gesichtspunkt
des ursächlichen Prozesses wie unter dem der Gelenkfunktion.
,, 5 . SM G. hat ein warmes Wort für die Einrichtung von Seesanatorien, deren
außerordentlichen erzieherischen Einfluß er hervorhebt.
Ros. Buccheri-Palermo.
Laussedat, Sur un cas de rhumatisme tubcrculeux ayant evolue pendant
li ?:tTi cinq ans, termine par une tuberculose pulmonaire. Soc. de Medec. de Paris,
Seance du 13 raars 1908 (Gaz. des hop. 1908, p. 379).
ilfe Laussedat berichtet über eine Kranke, deren Beschwerden zunächst
. X'ii' auf einen entzündlichen Plattfuß hinwieseii. Ganz allmählich stellte es sich im
Laufe von 5 Jahren heraus, daß es sich um einen Rheumatismus tuberculosus
rt handelte. Die Frau starb an Lungentuberkulose. — In der Diskussion weist
[1 rC Poncet darauf hin, daß sich die Tuberkulose nicht nur durch Erkrankung der
Gelenke manifestiert, sondern auch durch Organläsionen, weswegen man stets
..T k an die larvierte Form der Tuberkulose denken soll. Poncet will einen zweifel-
.^ 2 . T-c losen Zusammenhang zwischen schmerzhaftem Plattfuß, Skoliose, Coxa vara und
V tuberkulöser Infektion gesehen haben. — Dupuy fragt, ob bei Rheumatismus
tuberculosus Mobilisierung und Massage des erkrankten Gelenks angezeigt seien,
was Poncet für die blanden Formen des Leidens bejaht; nur bei den schmerz¬
haften, entzündlichen Formen sei Immobilisierung indiziert. Größter Wert sei auf
,t . -die hygienischen Verhältnisse zu legen. Peltesohn-Berlin.
r ;
Hör and, Tuberculose sclerosante. Revue d’orthopedie 1908, Nr. 4.
Hör and wendet sich unter Anführung eines neuen Falles von Kampto-
daktylie gegen die Anschauung, daß diese Erkrankung ossärer Natur sei. Die
in der Tat beobachteten Knochenveränderungen — Durchbiegung der Phalangen
selbst und Hypertrophie des Phalangenköpfchens—sind sekundäre Erscheinungen;
-das Primäre sind sklerosierende Prozesse in den periartikulären Weichteilen.
Die Radiographieen des neuen Falles zeigen, daß gar keine Knochendeformierungen
XU bestehen brauchen. Peltesohn-Berlin.
Vignard und Mouriquand, Tuberculose diaphysaire, spina ventosa des os
longs. Revue d’orthop. 1908, Nr. 6 , S. 481.
Die Spina ventosa der langen Röhrenknochen wird gegenüber den anderen
tuberkulösen Affektionen der Knochen verhältnismäßig selten beobachtet Verff.
unterziehen die bekannten Fälle unter Hinzufügung einiger neuen einem ge¬
nauen Studium. In Bezug auf das Vorkommen ergibt sich, daß die Majorität
Digitized by LjOOQle
672
Referate.
der Fälle in den ersten 4 Jahren vorkohimt, weniger in den folgenden 10 Leuc-
Jahren; indessen gibt es auch Fälle, wo die Krankheit erst im reiferen Alter,
im 18., sogar erst im 33. Lebensjahre begann. Dieses Prävalieren in der Kind¬
heit beruht wohl darauf, daß die Tuberkulose Knochenpartien mit nicht zu ge¬
ringer und mit nicht zu reicher Blutversorgung bevorzugt, also Stellen mli
langsamem Blutstrom; auch fehlt der Diaphyse der Erwachsenen das zur Ent
Wicklung der Tuberkeln geradezu unentbehrliche Mark. — Der Beginn der Er¬
krankung ist meist unbestimmt, da erst mit wachsender Schwellung iin Stadici::
der Fistelbildung Beschwerden auftreten. — Am häufigsten ist die L'lna der
Sitz der Spina ventosa (5mal), dann kommt der Radius, endlich die Fibula.
Möglicherweise werden auch die anderen langen Röhrenknochen befallen, dxb
konnten VerfF. keine derartigen Fälle auffinden. Es liegt stets das Bild eia-r
zirkumskripten Knochengeschwulst vor, die keine Neigung zeigt, auf die Weied
teile überzugehen. Als Komplikationen, die aber äußerst selten sind, ist
Ausbreitung in der ganzen Diaphyse und das Fortschreiten auf die Sehner-
scheiden zu erwähnen. Nur die Clavicula erkrankt gewöhnlich in ihrer ganiei
Länge, was wohl durch ihren stark spongiösen Charakter bedingt ist. Die IV-
teiligung der benachbarten Gelenke gehört im schroffen Gegensatz zu der Er
krankung der kurzen Röhrenknochen zu den größten Seltenheiten. Ditferentiai-
diagnostisch kommen sowohl dieGummata, wie alle Knochentumoren in Betra-.M
— Die Behandlung kann zwar zunächst in konservativen Maßnahmen. Ruhi^
Stellung, Stauung etc. bestehen; doch sollte man, falls kein Stillstand der Köhler
bildung eintritt, nicht zu lange mit der Eröffnung des Herdes warten und lieber
breit öffnen und alles Krankhafte entfernen. Dann kann man entweder
Höhle sich per granulationem schließen lassen oder sie mit v. Mosetig^cbe^
Plombenmasse füllen und die Haut darüber vernähen. Dieses letztere Vorgehen
gab besonders gute Resultate. Peltesoh n-Berlin.
Strauß, Das Marmorek-Serum in der Therapie chirurgischer Tuberkuio>c-
Müneb. med. Wochensebr. 1908. Nr. 42.
Strauß hat in der Greifswalder chirurgischen Klinik das MarmoreV
Serum in 38 Fällen von chirurgischer Tuberkulose angewandt. Von den .3^ Pa¬
tienten erlitten 14 ausschließlich rektale, 3 lediglich subkutane und 21 rektal
und subkutane Injektionen. Rektal einverleibt, schien das Marmorek-Senini
durchaus unschädlich zu sein und in einer Reihe von Fällen eine günstige Wi:
kung auszuüben. Es dürfte daher als weiteres Hilfsmittel im Kampfe gegen
die chirurgische Tuberkulose des Versuchs wert sein und neben den bisherigen
erprobten Heilmetlioden verwendet werden. Bei ausgedehnter Infektion (Lungec-
und sonstiger Tuberkulose) ist die Wirkung eine recht unsichere, trotzdem er¬
scheint ein Versuch mit dem Serum auch in diesen Fällen gerechtfertigt,
Blencke - Magdeburg.
Albert H. Freiberg, A further report on the treatment of joint tnberculosi^
with Marmoreks serum. Araeric, journ. of orthoped. surg. August 1908, S. bi».
Freiberg berichtet über Versuche mit dem Marmorekschen Sernin
das er in 18 Fällen von tuberkulösen Knochen- resp. Gelenkerkrankungren an-
Digitized by L^ooQle
Referate.
673
gewandt hat, und zwar wurden durchBchnittlich pro Fall 200 ccm in Dosen von
10 ccm rektal injiziert. Trotz größter Reserve bei der Begutachtung der Heil¬
erfolge dieser beschränkten Anzahl voü Versuchen möchte sich Freiberg dem
Urteil nicht verschließen, daß in einzelnen Fällen von Knochen- und Gelenk¬
tuberkulose dem Marmorekschen Serum ein Heilungsfaktor nicht abzusprechen
ist, jedoch erwies sich das Serum in verzweifelten Fällen als durchaus unwirksam.
Bö sch-Berlin.
John Joseph Nutt and T. W. Hastings, Tuberculin in orthopedic surgery.
Americ. journ. of orthoped. surg. August 1908, S, 48.
Nutt und Hastings haben im New York State Hospital, einem Sana¬
torium für verkrüppelte Kinder im Staate New York, Tuberkulinversuche mit
24 Insassen der Anstalt gemacht. Sie benutzten ein Tuberkulinpräparat, welches
auf einen Kubikzentimeter 0,0047 Keime Trockensubstanz enthielt. Unter Kon¬
trolle des opsonischen Index suchten die Autoren einen bestimmten Maßstab für
die Dosierung der Tuberkulingaben festzustellen und fanden als günstigste Initial¬
dosis die Dosierung von 0,0001 bis 0,0002 mg des erwähnten Präparates, enthaltend
0,000001 Keime pro dosi. Bei langsamer Steigerung der Dosis wurde die Impfung
2 mal wöchentlich ausgeführt, bis die Dosierung von 0,001 mg mit einem Keini-
gehalte von 0,00001 erreicht war, von da ab wurde alle 5 Tage resp. einmal in
der Woche geimpft bis zur Maximaldosis von 0,01 mg mit einem Keimgehalt
von 0,0001. Diese Dosierung wurde nicht überschritten und von nun ab nur alle
10 Tage geimpft, wobei die Reaktion sorgfältig beobachtet wurde. Wenn die
Maximaldosierung einige Wochen angewandt worden war, wurde die Tuberkulin¬
behandlung für 1 oder 2 Monate unterbrochen, und dann wieder mit der Dosie¬
rung von 0,0001 bis 0,0002 angefangen. Die Temperatur muß vor und nach
der Impfung regelmäßig gemessen werden; wird das Allgemeinbefinden inner¬
halb 24 Stunden nach der Impfung stark alteriert, so ist die Dosis auf die
Hälfte herabzusetzen und die Steigerung zu verlangsamen. Die Autoren hatten
die Impfungen vorgenommen unter sorgfältiger Kontrolle des opsonischen Index,
in dem Bestreben, festzustellen, ob die Kontrolle des Index geeignet ist, für
die Tuberkulindosierung als Indikator zu dienen. Diese Erwartung hat sich
nicht erfüllt, es fand sich vielmehr, daß nur die klinischen Erscheinungen für
die Vornahme der Injektionen maßgebend sein können, und daß die Kontrolle
des Index für diesen Gesichtspunkt nicht von Belang ist. Tuberkulöse Individuen
weisen entweder einen sehr niedrigen oder einen sehr schwankenden Index auf.
Ein Index unter 0,6 oder über 1,3 spricht für eine aktive Tuberkulose. Be¬
kommen die Impfungen 6inem Patienten nicht und weist er dabei eine fort¬
gesetzte Reihe von niedrigen Indices auf, so ist dieser Umstand ein Fingerzeig,
die Tuberkulinbehandlung zu unterbrechen, doch weisen, wie oben erwähnt,
auch schon die klinischen Erscheinungen zur Genüge auf diesen Punkt hin.
Unter Beobachtung der festgestellten Regeln betrachten die Autoren das Tuber¬
kulin als ein gutes Mittel, um die übrigen Heilfaktoren in ihrer Wirkung zu
unterstützen. Die Krankengeschichten lassen eine günstige Einwirkung des
Tuberkulins auf den lokalen Erkrankungsherd, also in den untersuchten Fällen,
auf die Knochen- resp. Gelenktuberkulose, sowie auf die Konstitution im all¬
gemeinen erkennen. Bösch-Berlin.
Digitized by L^ooQle
674
Referate.
Charles Ogiloy, A contribution to the study of tuberculin in orthopedic
practice. The treatment of tubercular bone and joint disease with small
doses of tuberculin controlled by the opsonic Index. Americ. journ. of
orthoped. surg. August 1908.
Ogiloy hat die von Calmette und Wolf-Eisner angegebene Oph¬
thalmoreaktion des Tuberkulins bei 40 Patienten des Ruptured and Crij>p]ed
children Hospitals in New York geprüft und mit Ausnahme eines Falles jedesmal
ein positives Resultat erhalten. Ogiloy schildert die Gewinnung und Dosierung
des Tuberkulinpräparates, sowie die Technik des Verfahrens: Es darf nur ein
kleiner Tropfen der Lösung in die Conjunctiva eingeträufelt werden, die Con-
junctiva soll möglichst frei von Tränensekret sein. Ein anfangs negatives, im
Wiederholungsfälle positives Resultat spricht für einen Fehler in der Technik
beim ersten Verfahren, die reaktive Conjunctivitis darf nur von kurzer Dauer
sein. Ogiloy spricht dem Verfahren eine wichtige praktische Bedeutung zu,
um in zweifelhaften Fällen festzustellen, ob außer der lokalen tuberkulösen
Knochenerkrankung noch außerdem tuberkulöse Krankheitsherde im Körper vor¬
handen sind.
Derselbe Autor hat Versuche angestellt, tuberkulöse Knochen- und Ge¬
lenkerkrankungen mit kleinen Tuberkulingaben unter Kontrolle des opsonischen
Index zu behandeln. Er kommt zu dem Schlüsse, daß die Feststellung des
opsonischen Index sehr geeignet ist, um den unbestrittenen Wert der Behand¬
lung mit kleinen Tuberkulingaben zu illustrieren, doch sei es nicht notwendig,
jede Phase der Behandlung durch den Index zu kontrollieren. Für die Diagnose
der tuberkulösen Knochenerkrankungen hat der opsonische Index keine prak¬
tische Bedeutung. Die Hebung des Index geht mit einer Besserung des lokalen
Krankheitsherdes und des Allgemeinzustandes Hand in Hand. Praktische Be¬
deutung gewinnt der Index bei der Prognosestellung einer tuberkulösen Knochen¬
erkrankung und wenn es sich darum handelt, ob die mechanische Behandlung
noch fortzusetzen ist. Bösch-Berlin.
Houzel, Nouveau trocart pour ponctions d’absces tuberculeux. Arch. provinc.
de chir. 1908, p. 412.
Der Uebelstand des gewöhnlichen Troikarts, daß sich das Lumen desselben
durch Vorlagerung von korpuskularen Elementen bei Punktion tuberkulöser
Abszesse verstopft, wird bei dem beschriebenen Treikart dadurch vermieden,
daß das eingeführte Ende desselben zwei sich gegenüberstehende Spitzen auf¬
weist, zwischen denen sich tiefe Ausschnitte befinden, Peltesohn-Berlin-
Rhen ter, Un cas d’dlephantiasis nostras du membre infdrieur gauche. Revue
d’orth. 1908, Nr. 4.
Bei einem 40jährigen Landarbeiter bildete sich seit 5 Jahren unter Fieber¬
erscheinungen, Kopfschmerzen und Erbrechen eine Schwellung des linken Knies
und daran anschließend unter Rötung eine allmählich zunehmende Elephantiasis
des gesamten Beines aus. Da andere Aetiologien auszuschließen sind, Patient
aber eine chronische Epididymoorchitis hat und die Serumuntersuchung auf Tuber¬
kulose positiv austiel, so ist die Affektion als eine tuberkulöse zu deuten. Diese
Digitized by L^ooQle
Referate.
675
Annahme findet ihre Hauptstütze in der von Poncet inaugurierten Theorie dev
.entzündlichen Tuberkulose*. Pelteso hn-Berlin.
Hirschberg, Heilung schwerer Knochentuberkulose durch Sonnenbäder im
Hochgebirge. — Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M., 16. März 1908. —
Münch, med. Wochenschr. 1906, Nr. 30.
Hirschberg stellt einen Knaben vor, bei dem er wegen ausgedehnter
Ellenbogentuberkulose, die trotz weitgehender Resektion des Gelenks und trotz
zahlreicher Nachresektionen nicht heilen wollte, die hohe Oberarmaniputation
vorzunehmen im Begriff war, und der durch Sonnenbäder vollkommen im Hoch¬
gebirge geheilt wurde. Auch die mehrmals operierten tuberkulösen Knochen
im Gesicht, am Stirnbein, Jochbein und Oberkiefer kamen zur Ausheilung. Das
Ergebnis des vorliegenden Falles stellt nach der Ansicht Hirschbergs .einen
glänzenden Triumph* konservativer Behandlung von schwerer Knochentuber¬
kulose dar, wenn auch dieselbe 20 Monate lang dauerte.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Peters, Ueber Gesichts- und Schädelasymmetrien und ihr Verhältnis zum Caput
obstipum. Münch, med. Wochenschr. 1908, Nr. 34.
Gegenüber der Ansicht, daß dem Caput obstipum eine ursächliche Rolle
für die Entstehung der sogenannten sekundären Schädelskoliose zugeschrieben
werden müsse, weist Peters an der Hand zweier Beispiele darauf hin, daß
diese Asymmetrien des Schädels und des Gesichtes ohne Caput obstipum einher¬
gehen und erblich auftreten können. Er schließt daraus, daß es sich um eine
fehlerhafte Anlage im Keimplasma handelt, und daß dem Caput obstipum nicht
für alle Fälle von Schädelskoliose eine ursächliche Bedeutung zukomme, daß
es sich vielmehr nur um ein gleichzeitiges Vorkommen vererbbarer Anomalien
handeln könne. Dafür spricht auch das beim Caput obstipum beobachtete
gleichzeitige Vorkommen anderer vererbbarer Mißbildungen, z. B. Syndaktylie.
Da aber nach der Operation des Caput obstipum oft eine erhebliche Besserung
der Schädel- und Gesichtsasymmetrien erfolgen kann, so muß doch für einige
Fälle von Schädelskoliose ein Abhängigkeitsverhältnis vom Caput obstipum an¬
genommen werden. Blencke-Magdeburg.
Wittek, Ein Fall von Distensionsluxation im Atlantoepistrophealgelenk. Münch,
med. Wochenschr. 1908, 35.
Wittek beschreibt einen Fall von Luxation des Atlas gegen den Epi-
stropheus, der eine seltene Aetiologie hat. Von einer eitrigen Periostitis des
Unterkiefers aus (infolge von Zahnkaries) hatte sich ein metastatischer Erguß
in den Gelenken zwischen erstem und zweitem Halswirbel gebildet, der durch
Ueberdehnung von Gelenkkapsel und Bandapparat die Luxation ermöglichte.
Die Behandlung bestand in Anlegung einer fixierenden Krawatte.
B1 e n c k e - Magdeburg.
V. Baeyer, Halsrippen. — Aerztlicher Verein München, 6. Mai 1908. — Münch,
med. Wochenschr. 1908, 36.
Es handelte sich um ein skoliotisches Kind mit auffallend geradliniger
Digitized by LjOOQle
676
Refei-ate.
Nackenlinie, bei dem das Röntgenbild deutlich Halsrippen erkennen ließ. Im
Anschluß an diesen Fall erörtert v. Baeyer den Begriff der numerischen
Variation der Wirbelsäule. Blencke-Magdeburg.
Kirsch, Rhachitis und Skoliose. Deutsche med. Wochenschr. 1908, 30.
Kirsch hat eine große Anzahl von Schulkindern untersucht. Die Er¬
gebnisse dieser seiner Untersuchungen bespricht er in der vorliegenden Arbeit,
an deren Schluß er folgende Sätze aufstellt:
1 . Während der Schulzeit entwickeln sich in großer Anzahl habituelle
Schiefhaltungen, aber nur wenige und schwach fixierte Skoliosen, bei den
Mädchen mehr als bei den Knaben.
2. Es sind beim Eintritt in die Schule schon 7mal so viele fixierte
Skoliosen vorhanden, wie während der Schulzeit dazu kommen. Während der¬
selben verschlimmern sich die fixierten Skoliosen bei den Knaben mehr als bei
den Mädchen.
3. Die fixierten Skoliosen sind, soweit sie nicht kongenital bedingt sind,
fast alle rhachitieehen Ursprungs.
4. Die Schiefhaltung eines Schulkindes, die sicher keinerlei Fixations
Symptome erkennen läßt, führt nicht zur schweren Form, kann aber nach
langem Bestehen klinisch einige leichte Fixationssymptome zeigen.
5. Schiefhaltung und Schiefwuchs sind als zwei getrennte Krankheits¬
bilder aufzufiissen, von denen dieser in der Hauptsache auf Rhachitis beruht,
jene nicht. Prognostisch erscheint die Schiefhaltung spontaner Rückbildung
fähig, der Schiefwuchs nie oder selten. Therapeutisch ist jene in jedem Sta¬
dium zu beeinflussen, dieser nur in den meist vor dem Schulbesuch sich ab¬
spielenden Anfangsstadien.
Kirsch empfiehlt sehr und dringend, das Lagerungsbett anzuwenden.
Es muß mit der Ansicht, daß im frühesten Kindesalter noch nichts mit einer
Skoliose zu machen sei, endlich einmal aufgeräumt werden. Gerade bei den
weichen Torsionsbuckeln der rhachitischen Kinder ist das Lagerungsbett, da«
auch späterhin noch sehr befriedigende Erfolge gibt, von der frappantesten
Wirkung. Bl encke-Magdeburg.
Hutinel. Des troubles de nutrition dans la scoliose des adolescents. Patho¬
logie infantile 1908, p. 198.
Störungen in der Ernährung sind oft der Anfang von Skoliosen, und
zwar vornehmlich bei Mädchen im Alter von 8—16 Jahren, während Knaben,
die denselben Schädlichkeiten ausgesetzt sind, viel seltener Rückgi-atsverkrüm-
mungen zeigen, die allerdings dann infolge weniger guter Pflege viel schwerer
auftreten. Der Ursprung der Ernährungsstörung ist oft ererbt; es handelt sich
um Töchter von Gichtikern, Nervösen, Alkoholikern, Tuberkulösen (20®/o) oder
Syphilitikern. Daß Knaben seltener erkranken, beruht auf stärkerer Muskel¬
übung und größerer allgemeiner Widerstandsfähigkeit. Hutinel nimmt eine
Art Spätrhachitis zur Erklärung an, die erst nach vollzogener Ossifikation der
Extremitätenepiphysen, aber noch vor dem Auftreten der sekundären Ossi¬
fikationspunkte der Wirbel einsetzt. Die Ernährungsstörung kennzeichnet sich
Digitized by c^ooQle
Referate.
677
durch Magenatonie, Hyperacidität, Ructus, Magenschmerzen, abnorme Appetit-
gelüste, Stuhlträgheit, manchmal Zeichen chronischer Appendicitis; oft besteht
orthostatische Albuminurie. — Die Behandlung muß neben der orthopädischen
Seite hauptsächlich die allgemeine Kräftigung durch See- oder Höhenaufenthalt,
lange Bettruhe, Arsenverabreichung herbeizuführen trachten.
Peltesohn-Berlin.
E. H. Bradford and Robert Soutter, Studies in the treatment of lateral
curvature. Americ. journ. of orthoped. surg. August 1908, S. 99.
Bradford und Soutter legen bei der Behandlung der Skoliose
das größte Gewicht darauf, daß die gymnastischen üebungen die ganze Zeit
während des Wachstums fortgesetzt werden. Da dieser Forderung wegen Mangel
geeigneter Institute und auch aus anderen äußeren Gründen bei den meisten
Patienten schwer zu genügen ist, vielfach auch die Patienten schon aus ma¬
teriellen Gesichtspunkten nicht in der Lage sind, eine konsequente Behandlung
durchzuführen, so ist nach dem Vorschläge der Autoren zu billigen Improvi¬
sationen von Apparaten die Zuflucht zu nehmen. Bradford und Soutter
geben zu diesem Zwecke eine Reihe von Ideen, die für die Praxis gut durch¬
zuführen sind, Besonders ein billig herzustellender Apparat zur Redressierung
der skoliotischen Wirbelsäule verdient Erwähnung. Ein rechtwinkliges Gestell
aus Gasrohr von 6 Fuß Höhe mit quadratischer Basis ist an den zwei Vorder¬
stangen mit zwei verschiebbaren Eisenmuffen versehen, die je einen kräftigen
Haken tragen, ln diese Haken wird eine Schaukel aus starkem Eisendraht mit
verstellbarem Fußbrett gehängt. Der Patient wird seitwärts in die Schaukel
hineingestellt, einige an der Außenseite unter die Hüfte und den Oberschenkel
ziehende kräftige Riemen, sowie ein Paar Fußlaschen verhüten das Herabgleiten
von dem Fußbrett, während der Gegendruck von der anderen Seite gegen die
stärkste Konvexität der Skoliose durch eine winklig gebogene, ebenfalls ver¬
stellbare Stahlstange reguliert wird. Mittels dieses einfachen Apparates kann
man eine gut redressierende Wirkung auf die tiefergelegene Rückgratverkrüm¬
mung ausüben. Der Apparat läßt sich auch in der Weise variieren, daß der
Patient auf einen Hocker festgeschnallt in dem Gestell sitzt, und nun die früher
als Schaukel benutzte Vorrichtung als Schwungrahmen benutzt, mit dem er
den Oberkörper über die verstellbare Stahlstange herüberbiegt und so redres-
sierend auf den dorsalen Teil der deformierten Wirbelsäule einwirkt. An Stelle
des teueren Korsetts empfehlen die Autoren einfache Improvisationen starker
Eisenblechstreifen, die vorn am Thorax und hinten an der konkaven Seite des
deformierten Rückens herablaufen und durch Querschienen und Züge von starken
Stoffen die Wirbelsäule überzukorrigieren suchen. Das Hauptgewicht müßte
aber nach Ansicht von Bradford und Soutter auf einer Belehrung über das
Wesen der Rückgratverbiegungen den Lehrern und Erziehern gegenüber be¬
ruhen, welche durch sorgfältiges Beobachten der Kinder und Belehren viel zur
Verhütung schlimmerer Deformitäten beitragen könnten. Bösch-Berlin.
H. Lehr, Zur Behandlung der Cervikalspondylitis. Archiv f. klin. Chir. Bd. 87,
Heft 2.
Nach Lehrs Mitteilungen wird in der Schanzschen Klinik der von
Digitized by L^ooQle
678
Referate.
Schanz bei der Behandlung des angeborenen Schiefhalses nach der Durti |
schneidung des Kopfnickers verwendete Watteverband auch bei der Behandle^,- 1
der Cervikalspondylitis mit Vorteil benutzt. Beim Anlegen des Verbandes )
übt ein Assistent an dem leicht rückwärts gebeugten Kopf des auf
Operationstisch liegenden Patienten einen schwachen Extensionszug aus. D
werden dann mehrere Lagen Verbandwatte zirkulär um den Hals gelegt asi
mit Mullbinden sehr fest angewickelt. Eine leichte cyanotische Verrärbung ä-<
Gesichts zeigt an, daß der Verband fest genug angezogen ist. Bei der erst
maligen Anlegung kann man nicht immer so weit gehen. Wenn der Paticn:
sich aber etwas an den Verband gewöhnt hat, pflegt er sich gegen das strafe
Anziehen desselben nicht mehr zu sträuben; denn er empfindet gerade (ko
seine volle erleichternde Wirkung. Im übrigen drückt sich die Watte bald k
weit zusammen, daß die Cyanose vollständig verschwindet. Der fertige Verb^ind
stemmt sich gegen Schultern und Kopf, legt sich diesen Teilen fest an csa
preßt mit der der Watte innewohnenden Elastizität Kopf und Schultern auf¬
einander. So kommt eine ständig und ruhig fortwirkende Extension zu stände,
wälirend die Fixation durch die dicke zusammengepreßte Wattemasse selb?: .
und indirekt durch Vermittlung der Extension hergestellt wird. Drückt sich I
die Watte zusammen und wird der Verband dadurch gelockert, so ist darvs
eine neu überlegte Binde die Spannung rasch wieder hergestellt. Lockert aici
der Verband am Kopf oder Schulterende, so wird dort Watte nachgestoplt nci
durch eine übergelegte Binde mit dem Verband vereinigt. Jm allgemeinen li’t
sich ein solcher Watteverband V 2 —1 Woche, ohne daß nachgebessert wenlea
muß. Vollständiger Verbandwechsel braucht wesentlich seltener stattzuhndea.
Zur Nachbehandlung dient eine Lederkrawatte, die sich durch einen bewegliches
Kinnteil auszeichnet. Joacbimsthal |
Brenner, lieber klinisch latente Wirbel tuberkulöse. Frankf. Zeitschr. f. Patho
logie Bd. 1, Heft 2.
Brenner teilt die Sektionsberichte von 22 Fällen mit, bei denen sich
Wirbeltuberkulose fand, die klinisch latent geblieben war, und fugt noch den j
Bericht über 3 klinische Fälle hinzu, bei denen die Wirbelsäulenkaries sub¬
jektiv keine Beschwerden machte, so daß die Diagnose erst spät gestellt wurde.
Von den Ergebnissen seiner Beobachtung sind folgende besonders hervorzuheben:
„Die Wirbeltuberkulose macht auch bei hochgradigen Prozessen häufig keine
auffallenden klinischen Erscheinungen und wird daher häufig nicht erkannt,
besonders beim Erwachsenen. Der häufigste Sitz der Spondylitis sind der Wirbtl-
körper und die Zwischenwirbelscheiben. Die Gefahren örtlicher oder allgr-
meiner Komplikationen sind außer den bekannten Seukungsabszessen, der Pachv-
meningitis und Myelitis vor allem die Pleuritis und Peripleuritis, panmephriti-
sehe und Beckenabszesse, endlich die allgemeine Miliartuberkulose. An dtr
Wirbelsäule sind die am häufigsten befallenen Abschnitte die untere Brust- und
Lendenwirbelsäule. Scheinbar ausgeheilte, auch sklerosierte Fälle können später
wieder fortschreiten und bieten dann oft besondere Schwierigkeiten in der Dia¬
gnose. In fast allen Fällen von Wirbeltuberkulose finden sich ältere oder gleich¬
zeitige tuberkulöse Prozesse in anderen Organen, be 80 ndei *8 in den Lungen.* ^
B1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by c^ooQle
Referate.
679
Tridon, Mal de Pott et doigts hippocratiquea. Revue d’orthopedie 1908, Nr. 4.
Tridon beobachtete bei einem 15jäbrigen Jüngling mit einem Pott¬
seben Buckel mittleren Grades das Auftreten typischer Trommelschlegelfinger,
die sich auch im Röntgenbild deutlich markierten; ebenso bei einem 10jährigen
Knaben, der im dritten Lebensjahr eine Spondylitis mit Ausheilung in Gibbo-
sität durchgemacht hatte. Zwei Theorien existieren zur Erklärung des Phäno¬
mens der Trommelschlegelfinger, die der Toxinfektion und die der Zirkulations¬
störung. Tridon neigt der Ansicht zu, daß die mechanischen Hindernisse im
Lungenkreislauf mit Dilatation des rechten Herzens, die ja auch besonders bei
dorsalen Spondylitikern obwalten, der Grund der Veränderung sind. Die Frage,
ob die Trommelschlegelfinger einer Rückbildung fähig sind, bejaht Tridon für
die Fälle, wo der Gibbus noch nicht fixiert ist und das definitive Endstadium
der Spondylitis darstellt. Die Veränderung wird am ersten bei Individuen auf-
treten, die in frühester Jugend spondylitisch erkranken und je prominenter der
Buckel ist. Peltesohn-Berlin.
Codivilla, Un caso di spondilolistesi. Societä raedico-chirurgica di Bologna,
7. März 1908.
Redner stellt einen 28jäbrigen Eisengießer vor, der seit längerer Zeit an
Lumbosakralschmerzen während der Rumpfbeuge leidet. Es ist eine sakrale
Kyphose mit Lordose nach rechts offensichtlich. Bei der Palpation bemerkt
man einen plötzlichen Uebergang, eine Art von Stufe zwischen dem 4. und
5 . Lendenwirbel. Durch die Röntgenuntersuchung wird keine Aufklärung in
das Problem gebracht. Die an sich schwierige Diagnose wurde ausschlußweise
gestellt.
Das Aussetzen der Arbeit und das Tragen eines Korsetts werden nach
Codivillas Ansicht befriedigende therapeutische Resultate geben. Ein blutiger
Eingriff zur Bildung einer Synostose wird angezeigten Falles von Nutzen sein.
Ros. Buccheri-Palermo.
Putti, Beitrag zur Aetiologie, Pathogenese und Behandlung des angeborenen
Hochstandes des Schulterblattes. Fortschritte a. d. Gebiete der Röntgen¬
strahlen Bd. 12, H. 5.
Bei einem 3jährigen Mädchen, das früher bereits wegen Anus vulvaris
operiert worden war und eine heredosyphilitische Facialisparese gehabt hatte,
fand sich angeborener Hochstand des linken Schulterblattes, daneben Asym¬
metrie des Schädels und Gesichtes, linkseitige Cervikalskoliose mit dor.saler
Gegenkrümmung, eine Schulterblatt und Wirbelsäule verbindende Knochen¬
spange, Hypertrichose an verschiedenen Stellen des Rumpfes und angeborene
Leistenhernie. Röntgenographisch ergab sich außer genauer Feststellung von
Form und Stellung der Skapula, sowie der erwähnten Knochenspange, daß vom
6 . Halswirbel nur die linkseitigen Anteile vorhanden waren. Bei der Operation
wurde die Knochenspange entfernt, die Muskelansätze wurden durchtrennt, das
Schulterblatt herabgezogen und in normaler Lage fixiert durch Annähen des
unteren Endes an der 8. Rippe. Glatte Heilung. Gutes kosmetisches und funk¬
tionelles Resultat. — Als Ursache für die Entstehung dieser Mißbildungen nimmt
Putti die Lues des Vaters an und begründet diese seine Ansicht ausführlich.
ß 1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
680
Referatefc
Hahn, Totalexstirpatiön des Schulterblattes wegen chronischer Osteomyelitis. —
Aerztlicher Verein in Nürnberg, 7. Mai 1908. — Münch* med, Wochensebr.
1908, 36.
In dem vorliegenden Falle hatte sich das Schulterblatt vollkommen re¬
generiert, und die Funktion des betreffenden Schultergelenks ließ nichts la
wünschen übrig, so daß Patient den Arm völlig normal gebrauchen konnte.
B1 e n ck e - Magdeburg.
J. W. Rob, An unusual fracture of the clavicle. The Lancet, 1. August
S. 310.
Fraktur des Schlüsselbeins durch Fall auf die Schulter; Schmerzen ax
der Frakturstelle und an der Ulnarseite von Vorderarm und Hand, Zwiscbet
äußerem und innerem Fragmentende fand sich ein drittes queres Bruchstück,
welches über die beiden ersten hervorragte. In Narkose Einrichtung und Sayrt-
scher Verband. Darauf starke anfallsweise Schmerzen im Ulnaris- und Mediani;^
gebiet, die nach Abnahme des Verbandes nicht nachlassen. Kein Druck auf
die Gefäße. Die Röntgenuntersuchung ergibt, daß das mittlere Fragment 1,5 Zoll
lang ist und nach abwärts sich erstreckt. Operative Entfernung. Es saßen sd
dem Bruchstück der Musculus subclavius und die Membrana costocoracoidei.
Auf hören der Schmerzen und gute Fragmentteilung. Der Arm kann jedocb
nicht über den Kopf erhoben werden. Bemerkenswert ist die Verletzung dt?
Plexus brachialis bei einer durch indirekte Gewalt hervorgerufenen Claviculafraktur.
F. Wohlauer‘Charlottenburg.
Angl ad a, Luxations doubles simultandes scapulo humerales. Arch. gener. de
chir. 1908, Nr. 6.
Die gleichzeitige Verrenkung beider Skapulohumeralgelenke gehört m
den großen Seltenheiten. In dem vorliegenden Fall handelte es sich bei einer
55jährigen Frau, welche bei einem Sturz von der Treppe mit beiden nach vom
ausgestreckten Armen gegen eine Wand fiel, um die subkorakoidale Form.
Derartige Luxationen entstehen entweder durch heftige Muskelkontrak¬
tion, durch direkten Stoß gegen die Schultern oder durch Fall auf die Falec-
bogen oder die Hände. Letzterer Entstehungsmodus ist der häufigste; manch¬
mal bewirken verschiedene Mechanismen kombiniert die Luxation. Unter den
bilateralen Luxationen kann man ihnen nur diejenigen der Hüfte zur Seite
stellen, bei denen die gewöhnliche Entstehung auf forcierte Beugung des Rumpfes
gegen das Becken mit oder ohne sekundäre Torsion zurückzu führen ist.
Durch Fall auf Ellenbogen oder Schulter entstehen in der Regel bilate¬
rale, symmetrische, subkorakoidale Schulterluxationen; bei verschiedenartigem
Trauma finden sich auch meist differente Luxationsarten.
Poltes oh n-Berlin.
To dar 0 , Lussazione abituale della spalla. Firenze 1908.
Todaro behandelt in dieser seiner Monographie die habituelle Luxation
des Schultergelenkes. Er kommt zu dem Schluß, daß dieselbe von vielfältigen
Ursachen abhängig ist, und daß die einzig echte prophylaktische Behandlung
Digitized by L^ooQle
Referate.
681
in der Behandlung des primären Unfalles» d. h. in der Aufsuchung des ana¬
tomischen Zustandes der Verletzung, besteht.
Als symptomatische Behandlung genügt es, nach Malgaignes Weise
mit einer Sicherheitsnadel den Ellbogen an dem Aermel zu befestigen. Alle
Apparate sind unzureichend. Die kurative Behandlung muß eine blutige sein.
Ros. Buccheri-Palermo.
Borchgrevink, Ambulatorische Extensionsbehandlung der oberen Extremität.
Jena. Gustav Fischer 1908.
Als Leiter der chirurgischen Poliklinik des Reichshospitals in Christiania
hat Borchgrevink an einem größeren Material sich seit dem Winter 1894/95
mit dem weiteren Ausbau der Extensionsbehandlung der Frakturen der oberen
Gliedmaßen beschäftigt. Er behandelt diese Frakturen durchweg ambulatorisch
und zwar mit Schienen, bei denen ein oder mehrere Gummischläuche einen
Zug an dem der verletzten Extremität angelegten Heftpflasterverband ausüben.
Die Schienen bestehen aus einem Brett, das am unteren Ende eine Rolle trägt,
über die die Schnur des Heftpflasterverbandes zum Gummischlauch, der an der
dem Körper zugewandten Fläche des Brettes läuft, geleitet wird. Der Heft¬
pflasterverband wird nach Bardenheuers Vorschriften angelegt. Wird die
Schnur so stark verkürzt, daß sie den Gummischlauch spannt, tritt die Schiene
in Wirksamkeit. Der Gummischlauch sucht die verletzte Extremität abwärts
^egen die Rolle am unteren Ende des Brettes zu ziehen, dabei strebt das Brett
nach oben zu entweichen. Dieses wird bei der Oberarraschiene dadurch ver¬
hindert, daß am oberen Ende des Brettes ein elliptischer Metallbügel, welcher
am oberen Rande des Armloches einer Weste befestigt wird, angebracht ist.
Das Heraufgleiten der Weste muß durch einen zweiten durch den Schritt
laufenden Gummischlauch, Perinäalschlauch, verhütet werden. Bei der ünter-
armschiene ist eine bewegliche Vorrichtung vorhanden, mittels der sich das
Schienenbrett gegen die vordere Fläche des Oberarmes stützt. Die Hand-
Fingerschiene findet ihren Halt am muskulösen Teil des Vorderarmes mittels
eines zirkulären Pfiasterstreifens. Für die Extensionsbehandlung der Brüche
am unteren Humerusende ist noch eine besondere Schiene, die kombinierte
Oberarm-Unterarmschiene, angegeben (abgekürzte Oberarmschiene mit Schulter
bügel und Unterarmschiene, die am Ellenbogen gegeneinander bewegt werden
können). Heftpfiasterverband und Zug bei den drei letzten Schienen nur am
Vorderarm.
An allen diesen Schienen läßt sich auch ein Querzug überall anbringen.
Man schraubt zwei 7—8 cm lange Ringschrauben in den Rand des Schienen¬
brettes ein, legt in die Oesen dieser Schrauben ein Stück Metalldraht oder ein
Holzpflöckchen ein, und befestigt hierüber die Enden einer zirkulär angelegten,
elastischen Schlaufe, z. B. eines der Länge nach gespaltenen Kautschukrohres.
Oder aber man hilft sich einfacher noch durch Einlegen eines Gaze- oder
Wattebausches zwischen Arm und Brett und drückt das in der entgegengesetzten
Richtung verschobene Bruchstück mittels einer zirkulär um die Schiene und
den Arm angelegten, elastischen Binde gegen die Schiene. Als Zugmaterial
wird verlangt guter, frischer Gummi, der an keiner Stelle abgenutzt sein darf.
Für das Improvisieren der Schienen werden genaue Anweisungen gegeben, z. B.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 44
Digitized by CiOOQle
682
Referate.
Ausüben des Zuges mit elastischen Hosenträgern oder StrumpfbäJidern, bis mas
die nötigen Schläuche beschafft hat u. s. w.
Wir haben genau die Schienen, wie sie Bardenheuer für die Behänd
lung der einzelnen Frakturen der oberen Extremität angegeben hat, nur dai
sie einfacher, besonders aus einfacherem Material, hergestellt und dadard
billiger sind, daß sie leicht improvisiert werden können, ferner, mit dem Unter¬
schiede, daß die Behandlung aller Frakturformen, auch der suprakondjlärei
Humerusfraktur, für welche bei schwerer Verstellung Bardenheu er Verlränie
bei Bettruhe empfiehlt, ambulatorisch durchgeföhrt werden kann.
Die Barden heu ersehen Schienen sind teuer— wir haben es bis jetzt
nicht erreichen können, daß sie billiger geliefert werden, und wir wissen, da:
die hohen Kosten manchen Kollegen abhalten, die Schienen anzuschaffriL
Bardenheuer begrüßt daher jede Verbesserung, welche eine Vereinfachung,
besonders aber Verbilligung der Schienen bedeuten würde, mit Freuden, ver¬
langt aber von ihnen, daß sich gleich gute, resp. noch bessere Resultate, wie
mit den von ihm angegebenen Schienen erzielen lassen. Ich darf hier weh!
erwähnen, daß schon mehrfach angegebene Verbesserungen bei uns im Ge¬
brauch als solche sich nicht bewährt haben.
Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt die Borchgrevinkscbec
Schienen. Ich halte den von ihm angegebenen Schulterbügel nicht für eine
praktische Verbesserung, aus dem Grunde, weil einmal eine Weste zur Befe?t>
gung vorhanden sein resp. angeschafft werden muß, dann aber auch, weil der
Perinäalschlauch doch mindestens unbequem zum Tragen ist Die von Barden¬
heuer angegebene Schulterkappe geniert dagegen in keiner Weise.
Borchgrevink hat bei seiner Unterarmschienc Gurte zum Befestigen
am Vorderarm vermieden; er erreicht diese Befestigung durch die Stützvor¬
richtung auf den unteren vorderen Teil des Oberarmes (wie es bei der Barden¬
heu ersehen Ellbogenschiene die Druckbrücke an dieser Stelle bewirkt). Be:
-der Bardenheu er sehen Vorderarmschiene — diese entspricht der Borch-
grevink sehen Unterarmschiene — sind Gurte zur Befestigung angebracht.
Ich habe aber nie gesehen, daß diese einen solchen Druck beim Bruch eines oder
beider Vorderarraknochen ausgeübt hätten, daß die Stellung der Fragmente
beeinflußt wäre.
Bezüglich der Behebung der seitlichen Verschiebung durch Querzüge,
worauf Bardenheuer großen Wert legt, spricht sich Borchgrevink dahin
aus: „An der oberen Extremität ist ein Querzug bisweilen notwendig, meister«
entbehrlich, ab und zu schädlich. Mit einem hinreichend kräftigen Längszuir
kommt man in den meisten Fällen zum Ziel.“ Selbstverständlich kann in
vielen Fällen ein kräftiger Längszug die seitliche Verschiebung mehr oder
minder beheben, aber einen völligen Ausgleich erzielt er selten. Davon habe
ich mich in einer großen Zahl von Fällen (als Bardenheuers Assistent habe
ich über 1700 Frakturen mit Streckverbänden behandelt) im Röntgenbilde und
zwar, um nicht getäusclit zu werden, an Aufnahmen in zwei aufeinander senk¬
recht stehenden Ebenen, soweit möglich, überzeugen können. Ich meine, haben
wir die Möglichkeit, auch die seitliche Verschiebung, mag sie auch nur gering
sein, beheben zu können, sollten wir es tun. Borchgrevink warnt davor,
die Lateral Verschiebung beim Uorderarnibruch mit dem Bardenheuer sehen
Digitized by C^oogle
Referate.
683
Querzug zu behandeln, „da das Bruchstück, auf das die Pflasterschlaufe drücke,
nur einwärts gegen das Spatium interosseum geführt werde, und, weil der
andere Knochen unbeeinflußt bleibe, die Brucheiiden beider Knochen zusammen-
f^eführt würden“. Dieses triflft nur dann zu, wenn man nicht nach Barden¬
heuer sehen Voi-schriften (Bardenheuer-Gräßner, Technik der Extensions¬
verbände, 3. Aufl. 1907, S. 76) verfährt. Bardenheiier verlangt das Hinein¬
drücken einer keilförmigen Kompresse bei diesen Frakturen an der Beuge- und
Streckseite in das Spatium interosseum, wodurch dieses erweitert wird. Borch-
grevink sucht bei Vorderarmfrakturen durch Zug vermittels einer um das
Knochenfragment geführten Drahtschlinge die seitliche Verschiebung zu be¬
heben. Wenn es sich auch nur um einen kleinen, mit Lokalanästhesie leicht
ausgeführten operativen Eingrifi’ handelt, kann er doch böse Folgen haben.
Ein großer Vorteil der Schienen läßt sich aber nicht verkennen, nämlich der,
daß sie einfach und billig sind und leicht improvisiert werden können.
Borchgrevink hat eine Reihe von Krankengeschichten beigefügt,
konnte aber aus äußeren Gründen nicht immer die Röntgenbilder beigeben,
zum Teil, weil in vielen seiner Fälle solche nicht angefertigt waren. Wenn¬
gleich nun die Röntgenogramme vor und nach der Behandlung nichts über das
funktionelle Resultat sagen, so läßt sich doch aus ihnen die Leistungsfähigkeit
einer Methode insofern erkennen, als wir sehen, wie weit die Behandlung in
der Lage ist, die dislozierten Bruchstücke in ihre normale, anatomische Lage
zurückzubringen und bis zur festen Verheilung in dieser zu erhalten. In Fig. 43 ist
ein Bruch des Humerus nach Behandlung im Röntgenbilde wiedergegeben. Meines
Erachtens ist der Kopf im Gegensatz zu dem Verhalten vor der Behandlung völlig
quergestellt und sieht mit der Bruchfläche nach außen. Die Verstellung ist also
nicht gebessert. In Fig. 45 ist bei einer Humerusfraktur dicht unter dem Collum
chirurgicum die seitliche Verschiebung völlig behoben; ob aber die Längsver¬
schiebung ausgeglichen ist, kann ich aus dem wenig gut wiedergegebenen Bilde
nicht entscheiden; ein dichterer Schatten an der Bruchstelle könnte dafür
sprechen, daß die Fragmente zum Teil noch hintereinander stehen. In Fig. 59,
61 u. 66 bei der Fract. supracondylica humeri ist die winklige Verstellung nach
vorne (bei seitlicher Aufnahme) noch erheblich. Aufnahmen von vorne nach
hinten, um beurteilen zu können, ob die eventuellen seitlichen Verschiebungen
ausgeglichen sind, fehlen zum Teil, resp. ist es nicht ersichtlich, zu welchen
Fällen diese gehören. Fig. 77 u. 80 zeigen dagegen ideale Resultate. Soweit
sich nach den beigegebenen Röntgenogrammen urteilen läßt, habe ich den Ein¬
druck nicht gewonnen, daß die Resultate den Bar denh euer sehen ebenbürdig
sind, und ich glaube auch nicht, daß die Schienen dasselbe wie die Barden-
heuersehen leisten. Bei der Behandlung der suprakondylären Humerusfraktur
halte ich eine 2—Swöchige Bettruhe, zumal bei Kinhern, nicht für einen großen
Nachteil, wenn dieser durch ein ideales Resultat gut aufgewogen wird.
Anderseits möchte ich betonen, daß, wo die Behandlung nach Barden¬
heuer, sei es mit Schienen, sei es im Bettverband, aus irgend welchen Gründen
nicht durchgeführt werden kann, die ßorchgrevinkschen Schienen bezw.
seine Improvisationen zur Benutzung zu empfehlen sind, da sie gestatten, die
Prinzipien der Extensionsbehandlung nach Bar d en h eu er wenigstens größten¬
teils durchzuführen; auch werden die Resultate bei weitem bessere sein, als mit
Digitized by C^ooQle
684
Referate.
jedem fixierenden Verbände. Dann bitte ich auch vorstehendes Urteil, das sieb
nur auf das Buch stützt, als ein vorläufiges zu betrachten. Bardenhener
beabsichtigt, eine Reihe von Frakturen nach Borchgrevink zu behandeln,
und wird dann seiner Zeit darüber berichtet werden. Gräßner - Köln.
Hermann Coenen, Die Behandlung des suprakondylären Oberarmbruche?.
Beitr. z. klin. Chir. Bd. 60, Heft 1/2, S. 313.
Die von Coenen zusammengestellten suprakondylären Frakturen
sind mit einer Ausnahme sämtlich Extensionsfrakturen; die Fraktur betraf
9mal das erste, 17mal das zweite, ISmal das dritte und Imal das vierte Los-
trum. Es handelt sich demnach, wie übrigens auch andere Statistiken ergehen,
um einen echten Schülerbruch. Unter den vier blutig behandelten Brüchen ist
nur eine frische Fraktur, die am 2. Tage vernagelt wurde. Die Wundheilung
war nicht ungestört, das Resultat nicht günstig. Die übrigen drei blutig be¬
handelten suprakondylären Brüche wurden im späteren Stadium, um die Funk¬
tion zu verbessern, operiert. Bei einem wurde der übermäßige Callus entfernt,
bei einem zweiten wegen starkem Cubitus varus mit gutem Erfolg eine Keü-
osteotomie ausgeführt, bei dem dritten wegen schlechter Stellung der Fi-agraente
eine Verschraubung derselben vorgenommen. Coenen hält nach seinen Er¬
fahrungen die blutige Therapie dieser Fraktur nur für berechtigt bei verschleppten,
nicht reponierten Frakturen, die der unblutigen Behandlung trotzten.
Der Extensionsverband wurde 8mal benutzt. In 4 dieser Fälle kam es
zu Störungen in der Nervenfunktion. In 2 Fällen trat die Lähmung d« N.
medianus resp. ulnaris mehrere Wochen nach der Verletzung auf und ver¬
schwand nach Neurolyse. In den beiden weiteren Fällen machte sich die Para¬
lyse des Ulnaris aber schon nach 10—12 Tagen bemerkbar und ging nach Ab
nähme des Extensionsverbandes zurück.
Die Verhakung der Bruchstücke wird nach den Erfahrungen der Bres¬
lauer chirurgischen Klinik in Narkose durch Zug in stumpfwinkliger Richtung
leicht gelöst. Ph’ne Schiene oder ein Gipsverband, in stumpfwinkliger Stellung bei
starker Extension in Narkose angelegt, versprechen eine normale spätere Funktion.
Das Verfahren gestaltet sich im einzelnen so, daß der narkotisierte Patient mit
überstehendem gebrochenen Arm auf den Tisch gelegt wird. Mit Kraft zieht
nun ein Assistent bei stumpfwinklig gebeugtem Ellbogen an den flach neben¬
einander gelegten Fingern und dem nach oben gerichteten Daumen des ge¬
brochenen Armes. Der Vorderarm steht also in Supination. Ein anderer Assi¬
stent hat eine Schlinge um den Oberarraschaft gerade Über der Frakturstelle
gelegt und zieht stark nach hinten. So wird der Schienen- oder Gipsverband
angelegt und dabei durch direkten Druck, Polsterung oder Anmodellierung die
seitliche Verschiebung korrigiert. Nach Anlegung des Verbandes muß der
Bindenzügel entfernt werden, was am leichtesten durch einen kleinen Längs¬
schnitt im Verbände oberhalb der Ellbogenbeuge mit einem Langenbeck-
schen Haken geschieht. Joachimsthal.
Vignard und Barlatier, De Tintervention sanglante dans les fractures re-
centes du coude. Revue d’orthopedie 1908, Nr. 5.
Bericht über 6 Fälle von Frakturen im Bereich des Ellbogengelenks, aus
denen die Verfasser zu beweisen suchen, daß unter Beobachtung peinlichster
Digitized by c^ooQle
Referate.
685
Asepsis die blutige Reposition resp. die Entfernung der Fragmente die besten
Resultate anatomisch und funktionell auch in denjenigen Fällen gibt, in denen
die anderen Methoden versagen. Peltesohn-Berlin.
Schwenk, Isolierte Fraktur des Processus coronoideus ulnae. Zentralbl. f.
Chirurgie 1908, 32.
Der Fall, den Verfasser beschreibt, dürfte deshalb von Interesse sein, weil
es sich um eine isolierte Fraktur des Proc. coronoideus ulnae handelte, die
einen sehr günstigen Ausgang zeigte, im Gegensatz zu den Fällen mit kom¬
plizierender Luxation. Nach Abnahme des Verbandes war die Beweglichkeit
fast momentan eine vollständige und nach 10 weiteren Tagen eine durchaus
vollständige. Allerdings machten sich gelegentlich seitens des abgesprengten
Stückes Corpus-mobile-Beschwerden geltend, indem bei plötzlich ausgeführter
Beugung der Vorderarm mitten in der Bewegung stehen blieb, was sich nach
des Verfassers Ansicht nur so erklären läßt, daß die Heilung ligamentös er¬
folgt ist. B len cke-Magdeburg.
Müller, Luxation de la tete radiale avec fracture du tiers sup^rieur du cubitus.
Soci4te des Sciences medicales de Lyon. Lyon medical 1908, Nr. 30.
Müller demonstriert das Präparat einer Luxatio radii nach hinten mit
Bruch der Ulna im oberen Drittel; es stammt von einem 50jährigen Manne,
der die Verletzung in der Kindheit akquiriert hatte. Auffallend war die Atrophie
des Köpfchens, dessen Durchmesser nicht den der Radiusdiaphyse übertrifft,
seine Stellung außerhalb der Kapsel, die durch eine dünne Membran ersetzt
ist. Klinisch bestand keinerlei Bewegungsbeschränkung und keine Muskel¬
atrophie. Pel tesohn-Berlin.
Thon, Volare, mit typischer Radiusfraktur komplizierte ülnaluxation. Ulnaris¬
lähmung. Münch, med. Wochenschr. 1908, Nr. 29.
In dem vorliegenden Falle handelte es sich um eine mit typischer Radius¬
fraktur komplizierte volare Luxation im unteren Radioulnargelenk mit nachfol¬
gender Lähmung des Ulnaris. dessen Schädigung wohl auf Zerrung und Quetschung
seines distalen Abschnittes durch das weit nach unten herausgetretene ülna-
köpfchen zurückzuführen ist. Obgleich die Luxation schon spätestens 2 Stunden
nach der Verletzung reponiert wurde, war die Läsion des Nerven doch schon
so stark gewesen, daß eine Lähmung die Folge war. Blencke-Magdeburg.
Boerger, üeber Radiusfrakturen und deren Behandlung. Dissert. Halle 1908.
Boerger bespricht die verschiedenen Theorieen über den Entstehungs-
mechanismus der Radiusfraktur und die Methoden ihrer Behandlung. Die
sichere Diagnose läßt sich durch Röntgenaufnahme stellen. Er bringt dann
eine Statistik über 226 vom 1. April 1900 bis 1. April 1906 in der Bramann-
schen Klinik behandelte Fälle. Bei Frakturen mit Dislokation wird Gipsverband,
bei solchen ohne Dislokation Pappschienenverband von der Mitte des Ober¬
arms bis zu den Fingern unter Extension und gleichzeitiger Flexion, Pronation
und ulnarer Abduktion der Hand angelegt. Dauer der Fixation 14 Tage, dann
Nachbehandlung mit Massage und Gymnastik. Die Resultate waren gute.
B1 e n ck e - Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
686
Referate.
Max Goerlich, lieber einige Radiusmißbildungen. Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59,
Heft 2, S. 421.
Goerlich beschreibt 2 Fälle von kongenitaler partieller Synostose der
Vorderarmknochen, weiterhin 1 Fall von angeborener Luxation des Radius nach
hinten, oben und außen mit Entwicklungshemmung des Oberarmes und der
Schulter und angeborener Asymmetrie der Brust und des Gesichts. Von den
beiden außerdem mitgeteilten Fällen von Radiusdefekt ist der eine totale an¬
geboren. Der Patient konnte im Alter von 11 und von 21Jahren untersucht werden.
Die Krümmung der Ulna hatte in der Zwischenzeit um 15 ® zugenommen. Der
erworbene partielle Radiusdefekt entwickelte sich im Anschluß an eine Osteo¬
myelitis. Die Erscheinungen dieses Falles, die Verkürzung des Vorderarme>,
die radial und proximal dislocierte Hand, die Krümmung der Ulna erinnern
lebhaft an den kongenitalen Radiusdefekt.
Die kongenitale Verwachsung des Radius und der Ulna fixierte in den
beiden ersten Fällen die Knochen in extremer Pronationsstellung. Die Synostose
fand sich im Bereiche der Kreuzungsstelle beider Knochen. Die Ulna war in
beiden Fällen distal von der Kreuzung im Verhältnis zum Radius ziemlich
schwach entwickelt. Der Oberarm zeigte keine Verkürzung, wogegen der Vorder¬
arm wesentlich kürzer und die Hand zarter gebaut war als auf der gesunden
Seite. JoachimsthaL
Vignard, Tuberculose du poignet. Plombage de Tarticulation. Soc. de chir.
de Lyon. 4. Juni 1908. Revue de Chir. 1908, Nr. 7.
Vorstellung eines jungen Mädchens, bei der Vignard vor 2 Monaten
die Resektion der zweiten Reihe der Handwurzelknochen wegen Tuberkulose
mit folgender Plombierung des Gelenks vorgenommen hatte. Ausgezeichnetes
funktionelles Resultat. Peltesohn-Berlin.
Stetten, Zur Frage der sogen. Madelun gschen Deformität des Handgelenks, mit
besonderer Berücksichtigung einer umgekehrten Form derselben. Zentralbl.
f. Chir. 1908, 31.
Stetten beschreibt einen Fall, der das genaue Gegenteil des gewohnten
Typus der Madelun gschen Deformität des Handgelenks darstellt und der nach
der Ansicht des Verfassers, gerade weil er atypisch ist, besonderes Licht auf diesen
rätselhaften Zustand wirft. Es handelte sich um ein 12jährige8 Mädchen, welches
alle Merkmale, die augenblicklich als charakteristisch für eine Madelungsche
Deformität angesehen werden, zeigte, mit dem Unterschiede, daß die untere
Radiusgelenkfläche nach hinten anstatt nach vom gerichtet war, daß eine
scheinbare Subluxation der Hand dorsalwärts anstatt volarwärts bestand, und
daß eine Luxatio anterior des unteren Ulnarendes im Radioulnargelenk anstatt
einer Luxatio posterior wie in den typischen Fällen vorhanden war. Hier war
die Deformität bedingt durch eine Verkrümmung des unteren Radiusendes und
eine Drehung der Gelenkfläche. Der Carpus behielt seine normalen Verhält¬
nisse zum Radius bei, aber die Ulna war im unteren Radioulnargelenk luxiert.
Stetten will die Deformität durch eine unregelmäßige Ossifikation des unteren
Endes der Radiusdiaphyse aufgefaßt wissen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by c^ooQle
Referate.
687
P. Bull, Luxatio dorsalia ossis magni carpi. Norsk Magazin for Laegevidenskab^,
August 1908.
Eine von mehreren Abbildungen begleitete kasuistische Mitteilung. B. hebt
die Untersuchungen Delbets hervor, der die Einheit einer Reihe traumatischer
Leiden in der Handwurzel, welche zur Zeit unter verschiedenen Namen gehen,
zu behaupten sucht (Luxatio carpi, Luxatio ossis lunati etc.). Das Zentrale
in diesen Verletzungen soll sein, daß Os magnum mehr oder weniger stark
nach hinten luxiert wird und hierbei die übrigen Knochen im Carpus mit sich
zieht, ausgenommen das Os lunatum. N y r o p - Kopenhagen.
Vogel, Zur Therapie der Narbenkontrakturen der Hand. Münch, med.
Wochenschr. 1908, 33.
Gegenüber dem Verfahren von Reismann, Narbenkontrakturen der
Hohlhand durch wiederholte Spaltung der Narbenmassen, Extension und
Thier sch sehe Transplantation zu beseitigen, wiederholt Vogel seinen bereits
1907 in derselben Wochenschrift gemachten Vorschlag, bei derartigen Kon¬
trakturen einen Finger zu entfernen, um mit der dadurch gewonnenen Haut
narbige Defekte der anderen zu decken und so diese wieder voll funktionsfähig
zu machen. Im Anschluß daran empfiehlt er nochmals, die zu operierende
Hand und die Hand des Operateurs durch mehrfach wiederholtes Schwitzen,
Schwitzenlassen im Bier sehen Heißluftkasten, für die Operation vorzubereiten.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Hartmann, R^traction de Taponevrose palmaire traitee par Tionisation sali-
cylee. Soc. de chir. de Paris, Mai 1908. Arch. gen. de chir. 1908, H,
p. 174.
Der vorgestellte Patient litt an Dupuytrenscher Kontraktur. Die Ioni¬
sation mit Salizylsäure (bekanntlich das Galvanisieren mit Anwendung von
Salizylsäurelösung als leitende Flüssigkeit) hatte das überraschende Ergebnis,
daß sich mit Beginn der vierten Sitzung die Retraktion besserte und fast die
vollkommene Extension erzielt wurde. Von der achten Sitzung an wurde keine
weitere Besserung erzielt, was wohl darauf beruht, daß die Ionisation nur die
jüngeren Prozesse beeinflußt. Doch genügte das erzielte Resultat in funk¬
tioneller Hinsicht vollständig. Peltesohn-Berlin.
Abadie, Malformation curieuse du membre superieur. Revue d’orthopedie
1908, Nr. 4.
Es handelt sich um ein 20jähriges, sonst wohlgebautes Mädchen mit an¬
geborener Mißbildung der rechten oberen Extremität, bestehend in einer Ent¬
wicklungshemmung des ulnaren Strahls, nämlich partiellem Defekt der Ulna,
des medialen Teils des Carpus und der medialen (4. und 5.) Finger. Ferner
besteht eine knöcherne Ankylose zwischen Humerus und Radius. Im ganzen
weist die Literatur nur 5 analoge Fälle auf, in denen das Ergebnis der Röntgen¬
untersuchung bekannt ist. Peltesohn-Berlin.
Brückner, Angeborener partieller Riesenwuchs. Gesellschaft f. Natur- und
Heilkunde zu Dresden. 4. April 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 35.
Es handelte sich in dem vorliegenden Falle um einen 5 Monate alten
Knaben mit partiellem angeborenem Riesenwuchs der rechten Hand. Das Röntgen-
Digitized by LjOOQle
688
Referate.
bild zeigte keine nennenswerte Vergrößerung des Knochengerüstes, die Grüßte*
Zunahme war durch lipomatöse Umbildung des ünterhautfettgewebes bedingt
B1 e n c k e - Magdeburg.
Becker, Ueber operativ behandelte Fingerverkrümmungen. Aerztlicher Yerdr
Rostock. 12. Sept. 1908. Münch, med. Wochenachr. 1908, 45.
Es handelte sich um eine 19Jährige Patientin, bei der nach spontan ac«
geheilter Phalangen-Spina-ventosa hochgradige Fingerverkrümmungen zurück
geblieben waren, die durch keilförmige Osteotomien gut korrigiert werden
konnten. Bien cke-Magdeburg.
Max Goerlich, Angeborene Ankylose der Fingergelenke und Brachydaktrlie.
Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59, Heft 2, S. 441.
In dem von Goerlich mitgeteilten Falle handelt es sich um eine
doppelseitige angeborene knöcherne Ankylose des 1. Zwischtn*
gliedgelenks am 4. und 5. Finger im Verein mit Brachydaktylie de:
Hand und symmetrischer kutaner Syndaktylie im Bereich der 2. und 3. Zek
bei einem im allgemeinen in der Entwicklung etwas zurückgebliebenen Manne.
Die Metacarpalia sind massig und länger als in der Norm, während die Grund*
Phalangen normal lang, die Mittel- und Endphalangen zu kurz und plamj
geraten sind, insbesondere am 1., 4. und 5. Finger. Joachimsthal.
S. Ko f mann. Kasuistischer Beitrag zur Frage der Fingerfrakturbehandlung. Arth,
f. Orthopädie Bd. VI, Heft 4.
Kofmann hat schon vor Jottkowitz eine Phalangenfraktur mitnacli
der Dorsalseite offenem Winkel in Flexionsstellung der Finger bandagiert and
damit einen vorzüglichen Erfolg erzielt. Er veröffentlicht den Fall, nicht um
für sich eine Priorität in Anspruch zu nehmen, sondern um die Wichtigkeit
der scheinbar kleinen Sache in das rechte Licht zu rücken.
Pfeiffer-Frankfurt a.M.
Oberst, Die Diagnose der Hüftgelenkserkrankungen. Zeitschr. f. äntlicbe
Fortbildung 1908, 17.
Oberst bespricht in sehr gedrängter Kürze die Symptome der tuber¬
kulösen Coxitis, der Coxa vara, der Arthritis deformans und von den
letzungen der Hüfte die Schenkelhals-, Trochanter- und Beckenfrakturen, sowie
die Luxationen, wobei er auch auf die angeborenen Hüftluxationen zu sprechen
kommt und auf deren Unterscheidungsmerkmale von der angeborenen Coxä
vara. Er ist der Ansicht, daß es uns stets gelingen wird und muß, eine pra:i->e
Diagnose zu stellen, zumal wenn wir uns noch der so schonenden und exakten
Röntgenuntersuchung bedienen, und dementsprechend auch einen rationellen
Heilplan mit Erfolg durchzuführen. Wenn auch die Arbeit dem Orthopäden nichts
Neues bringt, so gibt sie doch dem praktischen Arzt einen kurzen, aber klaren
Ueberblick über das nicht leichte Gebiet der erwähnten Erkrankungen.
B1 e n c k e - Magdeburg.
B1 en 0 k e, Einseitige Coxa vara. Med. Gesellschaft zu Magdeburg, 2. April 1908.
Münch, med. Wochenschr. 1908, 36.
Es handelte sich um einen 8jährigen Knaben mit stark ausgeprägte^
einseitiger Coxa vara. Die Geburt war sehr leicht; es war nicht das geringste
Digitized by c^ooQle
Referate.
689
Trauma in der Anamnese nachweisbar. Patient hinkte sogleich bei seinen ersten
Gehversuchen. B1 e n c k e - Magdeburg.
Elisabeth Rafilsohn, Coxa vara congenita. Dissertation. Freiburg 1908.
Zu den bisher in der Literatur veröffentlichten Fällen von Coxa vara
<:ongenita, die Verfasserin kurz beschreibt, fügt sie zwei weitere Fälle dieser
Erkrankung hinzu, bei denen sie, was die Aetiologie anbetrifft, auf Grund der
Anamnese und der Befunde annebmen zu müssen glaubt, daß es sich um eine
angeborene Mißbildung des Schenkelhalses handelt, die aus inneren Ursachen
entstanden sein könnte, als die sie alle jene bezeichnet wissen möchte, welche
«chon im Keime gegeben sind, so daß bei der Entwicklung des Embryo spontan,
ohne äußere Veranlassung, Mißgestaltungen auftreten.
B1 e n c k e - Magdeburg.
O. V. Frisch, Ein Fall von Coxa vara congenita. Wien. klin. Wochenschr.
Nr. 39, S. 1358.
V. Frisch bespricht einen Fall von angeborener doppelseitiger Coxa
vara bei einem 7jährigen Mädchen. Am Skiagramm bilden Hals und Kopf
miteinander einen spitzen Winkel. Die Epiphysenfuge ist unregelmäßig, sehr
breit, annähernd vertikal gestellt und so nahe dem Femurschaft, daß der
Schenkelhals kaum angedeutet ist. Sie teilt sich nach abwärts gabelförmig,
wodurch ein dreieckiges Knochenstück isoliert wird. Die vertikale Stellung der
Kopfepiphyse sowie ihre häufige Gabelung sucht v. Frisch so aufzufassen, daß
die in die bereits knorpelig in Varusstellung befindliche Kopfepiphyse allmäh¬
lich vordringende Knochenknorpelgrenze des Femurschaftes sich den abnormen
Verhältnissen nicht anpaßt. Durch das Zurückbleiben der diaphysären Ver¬
knöcherung in der unteren Hälfte des Schenkelhalses ist der Anstoß zu einer
atypischen Ossifikation gegeben, welch letztere nicht selten durch das Auftreten
eines überzähligen Knochenkerns besonders in Erscheinung tritt.
Joachimsthal.
Alfred Stieda, üeber Coxa valga adolescentium. Arch. f. klin. Chir. Bd. 87,
Heft 1, S. 243.
Stieda berichtet über 2 Fälle von Coxa valga adolescentium aus
der Königsberger chirurgischen üniversitätspoliklinik, in welchen die Diagnose
durch das Röntgenbild sichergestellt werden konnte. In einem Fall handelt es
sich um eine doppelseitige Erkrankung. Der andere Kranke bot dadurch be¬
sonderes Interesse, daß auf der einen Seite Coxa vara, auf der anderen Coxa
valga bestand. Klinisch bestand als Merkmal Außenrotation. Ein weiteres
wichtiges Merkmal ist die ungleiche Länge der Beine, welche durch die ver¬
schiedenen Schenkelneigungswinkel bedingt wird. Im Vergleiche zu den sonst
beobachteten Fällen von Coxa valga ist darauf hinzuweisen, daß in dem ersten
Falle eine Beschränkung der seitlichen Beweglichkeit nicht bestand. Es fehlte
nicht nur die gewöhnlich geforderte Abduktionsstellung, sondern die Adduktion
war in ausgiebiger Weise möglich. Erst bei der Beugung stellte sich der Ober¬
schenkel in Abduktion und Außenrotation. Im zweiten Falle war auch in
Strecksteilung Abduktion und Adduktion beschränkt. Die medico-mechanische
Digitized by LjOOQle
690
Referate.
Behandlung erzielte im Verein mit Schonung im ersten Falle auch bei einein
Rezidiv einen guten Erfolg. Beim zweiten Kranken trotzte besonders die Coxa
vara der Behandlung. Joacbimsthal.
Blencke, Ein Fall von doppelseitiger Anteversion im oberen Drittel de«
Femur. Med. Gesellschaft zu Magdeburg, 2. April 1908. Münch, med.
Wochenschr. 1908, 36.
Die 6jährige Patientin wurde mit der Diagnose angeb. HüfUoxation zur
Operation überwiesen. Der Gang war der für diese Erkrankung typische, aber
es handelte sich nicht um eine solche. Die Köpfe standen in der Pfanne und
der Schenkelhals erschien auf dem Röntgenbilde beiderseits ganz steil aof-
gerichtet im Sinne einer Coxa valga. Verzeichnungen infolge falscher Lagerung
bei der Aufnahme lagen nicht vor. Nach Blenckes Ansicht handelte es sich
um eine Anteversion im oberen Drittel des Femur, die hervorgerufen war durch
das Ueberwiegen gewisser Muskelgruppen über die infolge einer in frühester
Jugend durchgemachten Poliomyelitis ant. acuta gelähmten Antagonisten. Blencke
glaubt nicht fehlzugehen in der Annahme, daß dieser Fall vollkommen analog
ist dem seinerzeit von Reichardt auf dem Chirurgenkongreß vorgesteliten,
den er selbst geröntgent hatte und den man damals damit abtun zu könn^
glaubte, daß man sagte, es handle sich um Verzeichnungen des Schenkelhalses
infolge falscher Beinstellung bei der Aufnahme. Blencke-Magdeburg.
Perthes, lieber die unblutige Reposition der kongenitalen Hüftluxation. —
Med. Gesellsch. zu Leipzig, 16. Juni 1908. — Münch, med. Wochenschrift
1908, 33.
Bei 36 abgeschlossenen Fällen wurde 17mal ein anatomisch und funktionell
vollkommenes, 4mal ein funktionell gutes Resultat erzielt. Die 15 Mißerfolge
beruhten auf Relaxationen oder vorzeitiger Unterbrechung der Behandlung.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Harting, Ueber angeborene Hüftgelenkverrenkungen. Med. Gesellschaft zu
Leipzig, 2. Juni 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, Nr. 30.
Härting berichtet über 21 Fälle von angeborener Hüftverrenkung, die
zum Teil noch in Behandlung sind. 13 Fälle von einseitiger Hüftverrenkung,
soweit sie abgeschlossen sind, gaben anatomisch vollkommen normale Resultate;
von 3 doppelseitigen abgeschlossenen Verrenkungen ergaben 2 vollkommen ana¬
tomisch normales Resultat, in 1 Falle resultierte auf der einen Seite ein ana¬
tomisch richtiges Resultat, während auf der anderen Seite eine Transposition
des Schenkelkopfes erreicht wurde. Das betreffende Kind hinkte aber nur un-
merklich und die Eltern waren mit dem Resultat durchaus zufrieden. Bei
doppelseitigen Verrenkungen geht Härting noch zweizeitig vor; die in den
anderen 3 Fällen bereits eingerenkte Seite steht anatomisch richtig. Bei zwei
älteren Kindern wurden Einrenkungsversuche vorgenommen; bei einem 12jährigen
Mädchen glückte die Reposition in wenigen Minuten, das Kind erlag aber einem
Chloroformtod; bei einem 11jährigen Mädchen gelang die Reposition nicht
Blencke- Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
Referate.
691
I>ucroquet, Traitement de la luxation congenitale de la hanche. Presse
medicale 10. Oct. 1908, p. 649.
Ducroquet legt bei der Behandlung der angeborenen Hüftluxation
großen Wert auf den Grad der Abduktion und der Rotation, welcher dem ein¬
gerenkten Bein zu geben ist. Den Abduktionswinkel, den er nach der Reposition
gibt, findet er in der Mitte zwischen dem Winkel größter Stabilität und dem¬
jenigen, bei dem die Reluxation eintritt; er muß jedesmal durch Ausprobieren
festgestellt werden. Diesem Abduktionswinkel entspricht in jedem Falle eine
bestimmte Rotation, und zwar so, daß bei 90 Grad Abduktion die Außenrotation
ebenfalls 90 Grad beträgt, d. h. daß der Fuß in der Frontalebene steht. Mit
geringer werdender Abduktion muß auch die Rotation geändert werden, so daß
sie bei 20 Grad Abduktion zur Innenrotation von 60 Grad wird. Wird dieses
Verhältnis nicht beachtet, so wird nach Ducroquet die Einstellung der Kopf¬
epiphyse zum Pfannengrund eine ungenügende. Dadurch erklären sich die
häufigen Reluxationen und die Transpositionen nach vom. Ducroquet entfernt
den ersten Verband nach 2 bis 3 Monaten und verringert nunmehr die Abduktion
unter allmählicher Einwärtsrotation in weiteren Gipsverbänden. Daß die Luxation
nach Abnahme des ersten Gipsverbandes nicht sofort wieder eintritt, führt Ver¬
fasser übrigens auf eine fibröse Verwachsung zwischen Kopf und Pfanne zurück.
Peltesohn - Berlin.
Franz Wagner, Beitrag zur Frage der kongenitalen Hüftgelenksverrenkungen
und deren Behandlung. Inaug.-Diss. Berlin 1908.
Bericht über 15 Fälle aus der Anstalt des Dr. Zinsser in Gießen. Es
handelte sich um 3 doppelseitige und 12 einseitige Luxationen. Die Resultate
sind, eine Transposition bei einer einseitigen, eine solche bei einer doppel¬
seitigen Luxation, bei der auf der anderen Seite zentrale Einstellung des Kopfes
erreicht wurde. Die Reposition wurde nicht erzielt bei einer einseitigen und
zwei doppelseitigen Luxationen. In den übrigen Fällen ist die konzentrische
Kopfeinstellung erzielt worden. Der einzige Verband, den die Kinder erhielten,
blieb 4—5 Monate liegen, worauf den Patienten die Richtungstellung des Beines
überlassen wurde.
J oachimsthal.
Wallis, Zur Kenntnis der traumatischen Ischiadicuslähmung (nach Reposition
der angeborenen Hüftgelenksluxation). Dissertation. Leipzig 1908.
Wallis beschreibt 2 Fälle von Ischiadicuslähmung nach unblutiger Ein¬
renkung der Hüfte. Beide Male war die Verrenkung doppelseitig und beide
Male war trotz mehrfacher Versuche die Reposition nicht gelungen. Bei dem
einen, 7 Jahre alten Mädchen, trat nur eine einseitige, bei dem anderen, 3 Jahre
alten Mädchen, doppelseitige Ischiadicuslähmung ein, im letzteren Falle auch
Innervationsstörungen von Blase und Perineum, wahrscheinlich zurückzuführen
auf Hämatomyelie des Conus medullaris. In beiden Fällen trat nach mehr¬
monatlicher Behandlung mit Galvanisation, Hydrotherapie, Massage und Gym¬
nastik Heilung ein.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
692
Referate.
Pescbties, Ueber epontane und traumatische Luxationen des Hüftgelenks im
Kindesalter. Dissertation. Königsberg 1908.
Peschties berichtet über 3 Fälle von erworbenen Hüftluxationen im
Kindesalter, die in der Königsberger chirurgischen Universitätsklinik behandelt
worden sind. In dem einen Falle handelte es sich um eine traumatische Hüft-
luxation, die blutig reponiert werden mußte, und in den zwei anderen Fällen
um Spontanluxationen nach Typhus bezw. nach akutem Gelenkrheumatismuf.
Diese wurden nach der Lorenzschen Methode eingerenkt mit nachfolgendem
typischen Gipsverband. Blencke-Magdeburg.
Des tot, Fracture de la cavite cotyloide. Soc. de chir. de Lyon, Mai
Arch. gen. de chir. 1908, p. 178.
Es handelte sich um einen aus 6 m Höhe gefallenen Zimmerer mit Frak¬
tur der Hüftpfanne. Das Haupterkennungszeichen ist das Erscheinen einer
Blutung in Höhe der Gelenktaschen. Die Rektaluntersuchung bleibt häufig er¬
gebnislos, besonders wenn der Bruch nur eine nach oben gerichtete scharfe
Kante oder Spitze gebildet hat. Sieht aber eine derartige Spitze nach unten,
so kann die Rektaluntersuchung entscheidend sein. Die Prognose ist ganz ver¬
schieden; die Behandlung hat in Dauerextension zu bestehen.
Peltesohn - Berlin.
Tixier, Fracture du col du femur traitee pat la suture. Soc. de chir. de
Lyon, März 1908. Arch. gen. de chir. 1908, II, p. 49.
Die Knochennaht des intrakapsulär gebrochenen Schenkelhalses betraf
einen Mann, der trotz permanenter Extension eine Pseudarthrose davongetragen
hatte. Der Eingriff bestand in Anfrischung des Kopf- und Halsfragmentes und
Vereinigung derselben durch eine große Elfenbeinschraube nach starker Exten-
sion. Gipsverband mit Extensionsvorrichtung während 100 Tagen; nach 140 Tagen
Beginn von Gehübungen. Die Operation hatte 3’/* Stunden gedauert; sie gab
ein funktionell und anatomisch sehr gutes Resultat. — In der Diskussion warnt
Berard vor übertriebenen Traktionen, wenn der Kranke ein gr^wisses Alter
überschritten hat. Er enij>tiehlt die Anwendung der Lorenzschen Schraube un¬
mittelbar nach dem Unfall. — Gay et wandte bei einer 6 Wochen alten trau¬
matischen Luxation einen Zug von 80 kg ohne Erfolg an. — Gangolphe er¬
zielte in einem Falle ein sehr gutes Resultat durch Trochanterplastik, indem
er den Schenkelkopf und den Trochanter anfrischte. Die Prognose der Opera¬
tion hängt von der Stärke des Zuges ab, der Muskelzerreißungen und Hämatome
verursacht. Peltesohn-Berlin.
V. P. Gibney, The influence of weight-bearing on the treatment of tuberculous
hip-joint disease. Americ. journ. of orthoped. surg. August 1908, S. 21.
Gibney schildert seine Beobachtungen über den Einfluß der funktionellen
Belastung bei der Behandlung der tuberkulösen Hüfigelenksentzündung. Er
hatte dem von Lorenz inaugurierten Verfahren im Anfänge großes Mißtrauen
entgegengebracht, ist aber durch den überraschenden Erfolg, der bei 8 bisher
mit Extonsionssohienen resp. Verbänden resultatlos behandelten Coxitisfällen
durch lange Zeit fortgesetzte Anwendung des nur bis zum Knie reichenden Gips-
Digitized by c^ooQle
Referate.
693
Verbandes, erzielt wurde, bekehrt worden. In sämtlichen Fällen trat die Heilung
mit einer bald mehr bald weniger ausgesprochenen Beweglichkeit des Gelenkes
ein, ein Vorgang, den Gibney als Ergebnis der funktionellen Belastung be¬
sonders hervorheben möchte. Ohne natürlich von Fall zu Fall auf die übrigen
Hilfsmittel bei der Behandlung der tuberkulösen Coxitis verzichten zu wollen,
räumt er der Immobilisierung des Gelenkes den ersten Platz als Hauptfaktor
der Heilung ein. Bei einzelnen Fällen hatte er im Anfänge der Behandlung
die Extensionsschiene mit dem Lorenz sehen Verbände kombiniert, jedoch bald
die Extensiousschiene wieder entfernt, da sich die Patienten in dem Verbände
allein sehr gut und sicher bewegten. Sehr klare Röntgenbilder illustrieren im
einzelnen Falle die Fortschritte der Heilung der erkrankten Gelenke.
Bösch-Berlin.
Ahrens, Ein Fall von Resektion des Hüftgelenks mit Interposition eines
Muskellappens. Münch, med. Wochenschr. 1908, Nr. 41)
Um eine Ankylose zu verhüten, hat Ahrens bei einem 22jährigen Pa¬
tienten mit florider Coxitis bei der Resektion einen aus dem Muscul. glutaeus
maximus gebildeten zungenförmigen Lappen mit unterer Basis in die Pfanne
gelegt und dort durch Naht fixiert. Es resultierte eine verhältnismäßig gute
Bewegungsmöglichkeit bei absoluter Schmerzlosigkeit der ersten und späteren
Bewegungen im neugebildeten Gelenk. Patient konnte 47* Monate nach der
Operation wieder arbeiten. Ahrens empfiehlt diese Methode nicht nur bei
Resektion wegen florider Coxitis, sondern auch bei der Operation bei Ankylose
zur Verbesserung einer fehlerhaften Stellung. Im letzteren Falle empfiehlt es
sich, nur so viel Knochen abzutragen, als für die Einpflanzung des Weichteil¬
lappens gerade erforderlich ist, und zur Einpflanzung das dünne Fettgewebe
zu gebrauchen. B1 e n c k e - Magdeburg.
H. Luxembourg, Statistik der in den Jahren 1902—1906 im Kölner Bürger¬
hospitale behandelten Oberschenkelbrüche mit Ausnahme der Schenkelhals¬
frakturen. Zeitschr. f. Chir. Bd. 94, S. 387.
Luxembourg gibt die genaueren Einzelheiten der Untersuchung be¬
treffend die Behandlung der Frakturen des oberen und unteren Endes des Femur
mittels Extension, deren Resultate Bardenheuer bereits auf dem 36. Kongresse
der deutschen Gesellschaft für Chirurgie im vorigen Jahre mitgeteilt hat.
Joachimsthal.
Graf, Extensionsschiene für den Transport der Oberschenkelfraktur im Kriege.
Militärärztl. Zeitschr. Heft 16, S. 680.
Graf empfiehlt eine 2 m lange, 10 cm breite Cramersehe Schiene, die
ohne Schwierigkeit zusammengelegt wird und dann im Sanitätswagen gut unter¬
zubringen ist. Das Anlegen der Schiene geschieht in der Weise, daß sie von
den untersten Rippen an der Außenseite von Rumpf und Bein bis ein oder zwei
Handbreit (je nach dem Grade der vorhandenen Verkürzung) unterhalb des
äußeren Fußrandes geführt, hier rechtwinklig nach innen (parallel zur Fußsohle)
umgebogen wird und nach einer Fußbreite von etwa 15 cm nunmehr wieder
nach außen umgebogen und an der Außenseite zurückgeführt wird. Die Ex-
Digitized by LjOOQle
694
Referate.
tension übt Graf mittels eines runden Holzknebels aus, der in zwei Bindezü;?el
eingreift, welche, um die gut mit Watte gepolsterten Knöchel geschlungen,
nochmals geknotet werden Damit die zwischen den Zügeln gelegenen Quer-
drähte durch die Knebelung nicht zusammengedrückt werden, empfiehlt es sich,
zwischen Knebel und Schiene ein Holzbrettchen zu legen. Der Gegenzug findet
in bekannter Weise am Damm statt. Auf diese Weise kann, wenn als Binden-
material die sehr zugfesten Leinenbänder genommen werden, ein kräftiger Zog
und Gegenzug ausgeübt werden. Nach genügenden Umdrehungen wird der
Knebel an der Schiene befestigt. Die so angelegte Extensionsschiene wird für
den Transport durch lange Schienen aus Pappe oder Schusterspan an der
vorderen und hinteren Seite des Beckens und der Extremität verstärkt, welche
mit einigen Gaze- oder Gipsbinden, die zweckmäßig auch das Hüftgelenk der
gesunden Seite umschließen, befestigt werden. Joachimsthal.
Montadon, Le traitement des fractures diaphysaires de la cuisse et de la
jambe. Arch. gener. de chir. 1908, II, p. 133.
Die aus der Krönleinschen Abteilung der Universitätsklinik in Zürich
stammende Arbeit beschäftigt sich mit der Behandlung der Diaphysenbrüche
der unteren Extremität unter besonderer Berücksichtigung theoretischer Unter¬
suchungen über die mechanischen Prinzipien der bekannten Zuppingerschen
Extensionsschiene. Es ergab sich, daß die Dislokation der Fragmente im wesent¬
lichen durch die passive Elastizität der Muskulatur aufrecht erhalten wird. Da
dieser wichtige Faktor nur bis zu einem gewissen Grade, der durch die stärkste
Spannung der Muskeln gegeben ist, ausgeschaltet werden kann, so ist es von
Bedeutung, daß die Extension in derjenigen Stellung des Gliedes ausgeführt
wird, bei der die Muskeln am meisten entspannt sind. Für die untere Extremi¬
tät ist dies erreicht, wenn Hüft-, Knie- und Fußgelenk in halber Flexion stehen.
Diese Bedingungen erfüllen die Zuppingerschen Apparate in idealer Weise
und führen daher auch zu den besten bisher bekannten Resultaten.
Pe 11 eso hn-Berlin.
Bettmann, Ueber eine Schraubvorrichtung zur Heilung des Kniescheibenbruchs.
Münch, med. Wochenschr. 1908, 36.
Bettmann empfiehlt an Stelle der Naht, für die er übrigens Katgut
dem Silberdraht vorzieht, besonders bei veralteten Fällen von Patellarfraktur
mit großer Diastase der Bruchstücke eine Schraubvorrichtung, deinen Konstruk¬
tion und Anwendungsweise am besten im Original nachgesehen wird, da eine
Beschreibung derselben ohne Abbildungen doch nur schwer verständlich sein
Blencke-Magdeburg.
Krempl, Ueber Patellarfrakturen. Dissertation. Erlangen 1908.
Krempl bespricht die verschiedenen Formen von Patellarfrakturen und
deren unblutige und blutige Behandlung und schließt daran eine Statistik aus
der Graserschen Klinik in Erlangen an. Von 12 Fällen wurden 4 mit un¬
blutigen Methoden, 7 mit olfener Knochennaht behandelt, 1 Fall war nur zur
Begutachtung eingebracht. Das beste Resultat gaben die genähten Fälle. Zur
Digitized by LjOOQle
Keferate.
695
Enochennabt kam Silberdraht in Verwendung, die übrigen Nähte wurden mit
Katgut ausgeführt, stets wurde ein Längsschnitt gemacht und nach der Operation
ein Gipsverband angelegt. Blencke-Magdeburg.
Delbet, Des luxations du genou en dehors et de leur irreductibilit4. Revue
d’orthop. 1908, p. 387.
Delbet glaubt, daß ein großer Teil der unter der Flagge einer Distorsio
gravis genu segelnden Fälle ursprünglich Luxationen des Knies sind, die erst
nach Reposition zum Chirurgen kommen. Während nun die kompletten Enie-
luxationen mit totaler Zerreißung aller Bänder einhergehen und daher nicht
leicht reponierbar sind, ist dies bei den inkompletten nicht der Fall. Diese
letzteren, speziell die Luxationen nach außen, unterzieht Delbet einem genauen
Studium. Hierbei ist von größter Bedeutung, daß man sich über die Rolle der
seitlichen Ligamente klar wird, wozu niemals die Untersuchung des Knies in
Extension genügt. An der Leiche beobachtete Delbet stets, daß das zerrissene
Ligamentum laterale internum seitliche Abduktionsbewegungen im Knie nur
bei Beugung erlaubt; sind aber derartige Bewegungen möglich, so müssen nicht
nur das Lig. lat. internum, nicht nur beide Ligamenta cruciata, sondern auch
die inneren Fascienbänder und der mediale Teil der hinteren Kapselteile mit
dem medialen Teil des Gastrocnemius zerrissen sein. Dann hat wahrscheinlich
eine richtige Luxation bestanden. Demgegenüber ist die bloße Zerreißung des
Lig. lat. internum durch das Fehlen abnormer Abduktion in der extendierten
Stellung und Vorhandensein derselben in der flektierten Stellung charakteri¬
siert, und zwar beträgt sie, gemessen an dem Klaffen der inneren Gelenk¬
flächen, 10—15 mm.
Was die Reponibilität der Luxationen nach außen betrifft, so gibt es
Fälle, die schwer, und solche, die unblutig überhaupt nicht einzurenken sind. Zu
den ersteren gehören diejenigen, bei denen sich der Rand des Femurkondylus gegen
die Tibiakante stemmt; sie sind bei Flexion des Kniegelenks fast stets reponibel.
Bei den unblutig überhaupt nicht reponierbaren Luxationen ist das Hindernis
durch die Weichteilinterposition gegeben, die entweder einen sich aus dem Lig.
lat. internum, den seitlichen Kniescheibenbandmassen und der Aponeurose zu-
samraensetzenden fibrösen Lappen oder durch einen aus dem unteren Teil des
Vastus internus bestehenden Muskellappen betrifft. Diese Lappen liegen bei
der Streckung, wie aus den beigefügten Präparatzeichnungen deutlich zu er¬
sehen ist, im Gelenk, und zwar so, daß der Condylus medialis femoris wie der
Knopf in einem Knopfloch festgehalten wird. Das eigentliche Repositions¬
hindernis liegt nun nicht darin, daß der Femurcondylus nicht durch diese
Oeffnung zurückgebracht werden kann, sondern darin, daß der Fascien- resp.
Muskellappen im Gelenk eingezwängt ist.
Für diese Fälle, deren Diagnose aus der fixierten abnonnen Lage der
Kniescheibe und einer deutlichen Hauteinziehung unterhalb des inneren Con¬
dylus femoris stets zu stellen ist, tritt die Arthrotomie in ihre Rechte, wenn
bei tiefer Narkose, rechtwinkliger Beugung des Knies und Druck der Tibia und
Patella nach innen unter Vermeidung gewaltsamer Manöver die Luxation nicht
zufällig und sofort einzurenken ist. Bei der Operation soll das interponierte
Band nicht durchschnitten, sondern hebelnd über den Femurcondylus zurück-
Digitized by CjOOQle
696
Referate.
gebracht werden. Die Prognose richtet sich dann ausschließlich danach, ob die
Asepsis gewahrt wurde, da selbst schwere Zerreißungen nach Einrenkung sich
schnell und vollkommen reparieren. Pe 11esohn-Berlin.
Hartl eib, Behandlung des Hydrops genu traumaticus. Münch. med.Wochenschr.
1908, 43.
Hartleib berichtet über seine am eigenen Körper bei traumatischem
Kniegelenkserguß gemachten Erfahrungen und ist auf Grund dieser zu der An¬
sicht gekommen, daß die am schnellsten wirkende Behandlung die folgende ist;
Heißluftkastenbad bis 150° eine halbe Stunde lang, dann Schwammkompressions¬
verband, dann Massage und für die Nacht ein feuchter Verband. Sollte man
so wider Erwarten nicht zum Ziel gelangen, erst dann wird man sich ent¬
schließen, das Gelenk mit einer 3° oigen Karbolsäurelösung auszuwaschen, unter
Umständen mehrere Male. Die Patienten sollen erst aufsteben, wenn der Erguh
einige Tage vollständig verschwunden ist, und zwar sollen dann feste Flanell¬
bindenwicklungen des Knies vorgenommen werden. Biencke-Magdeburg.
H agen, Demonstration photographischer Aufnahmen von Patienten mit X- und
0-Beinen vor und nach der Behandlung. — Aerztlicher Verein in Nürnberg.
16. Juli 1908. — Münch, med. Wochenschr. 1908, 39.
Die Behandlung war in den demonstrierten Fällen stets operativ; die
Resultate waren sehr gute. Bei Horizontalrichtung des Kniegelenkspaltes wurde
die Tibia, an der also die wesentliche Verkrümmung bestand, osteotomiert. bei
schief gestelltem Gelenkspalt (Verkrümmung des Femur) wurde die Mac - E wen'sche
Operation gemacht, in schweren Fällen eine zweizeitige Osteotomie au Tibia
und Femur. Bei der Verbiegung im Unterschenkel genügte oft eine Keilexzision
aus der Tibia, zuweilen mußte auch die Fibula schräg durchmeißelt werden.
B1 e n c k e - Magdeburg.
Luther, üeber Genu valgum und seine Behandlung und die Erfolge derselben.
Dissertation. Halle 1908.
Luther bespricht zunächst die Aetiologie des Genu valgum, um dann
auf die verschiedenen Behandlungsmethoden überzugehen, von denen er vor
allem die re dressieren den Gipsverbände, die Apparate mit elastischem Zug, das
Redressement forc6, die Osteoklase und die Osteotomie einer eingehenden Be¬
sprechung unterzieht. Er gibt der von Mac Ewen empfohlenen keilförmigen
Osteotomie des Femur oberhalb der Epiphysenlinie den Vorzug und berichtet
über 31 mit dieser Methode behandelte Fälle, deren Krankengeschichten aus¬
führlich mitgeteilt werden. Blencke-Magdeburg.
Muskat, Ein Beitrag zur Behandlung des Genu valgum. Deutsche med.
Wochenschr. 1908, 28.
Muskat ist der Ansicht, daß das X-Knie behandelt werden muß. im
Gegensatz zu anderen auf Rhachitis beruhenden Verbiegungen. Als Behand¬
lung empfiehlt er neben gymnastischen Bewegungen einen Lagerungsapparat
für die Nacht und Plattfußeinlagen. Die orthopädischen Apparate sollen so
einfach gestaltet sein, daß die Herstellung ohne besondere Vorrichtungen mög¬
lich ist. Blencke-Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
Referate.
697
Hans V. Salis, Zur Frage der blutigen Reposition bei Luxatio genu congenita.
Zeitschr. f. Chir. Bd. 93, S. 149.
V. Salis berichtet über einen durch Mangel der Patella komplizierten
Fall von angeborener linkseitiger Kniegelenksverrenkung bei einem 7^ Jahre
alten Mädchen mit gleichzeitigem Pes varus, bei dem Hübscher die blutige
Reposition unter plastischer Verlängerung der Quadricepssehne nach Bayer
und Bildung einer Kniescheibe aus der Tuberositas tibiae auszuführen genötigt
war. Ein vorderer Bogenschnitt legt die Vorderseite des Gelenks frei. Stumpfes
Herauspräparieren des Weichteillappens und Längsspaltung der in einer Aus¬
dehnung von ca. 6 cm freiliegenden Quadricepssehne, deren innere Hälfte oben,
deren äußere Hälfte im Bereich ihrer Anfaßstelle an der Tibia quer inzidiert
wird, indem man gleichzeitig ein kleinmandelgroßes Stück der Tuberositas tibiae
auslöst. Beim Versuch der Reposition weichen die Sehnenhälften auseinander;
doch gelingt die Einrenkung und zwar ruckweise unter schnappendem Geräusch
erst, nachdem mit gedecktem Messer die vordere Gelenkkapsel durchtrennt ist.
Die beiden Sehnenhälften sind voneinander abgeglitten, das Ende der lateralen
Hälfte mit der neugebildeten Patella läßt sich ohne Spannung mit dem Ende
der medialen Sehnenhälfte durch drei Knopfnähte vereinigen. Die Basis der
medialen Sehnenhälfte wird mit dem lateralen Rand des KnorpeldefeKle an
der Tibia durch drei Periostnähte vereinigt, um ihr einen direkt über die Mitte
des Gelenkes gehenden Verlauf zu sichern, l'/a Monate nach der Operation ist
die aktive Streckung des Kniegelenks noch nicht möglich, dagegen kann das
Kind das erkrankte Bein zum Stehen benutzen.
Joachimsthal.
Patrik Haglund, Concerning some rare but important surgical injuries
brought on by violent exercise. Lancet, July 4, 1908, S. 12.
Die Arbeit behandelt in der Hauptsache die Schlattersche Krankheit,
also Beschwerden, die bei Sport treibenden Kindern und jungen Leuten be¬
obachtet werden und in starken Schmerzen an der Ansatzstelle des Ligamentum
patellae an der Tuberositas tibiae bestehen. Die Röntgenuntersuchung hat erst
Licht in diese Krankheit gebracht — es handelt sich um Frakturen des
Knochenkernes der Tuberositas tibiae. Die Beschwerden steigern sich bei
Bewegungen — Entzündungen treten auf.
In schweren Fällen ist Bettruhe, eventuell Schiene — in leichteren nur
Schonung nötig. — Gehen auf ebenem Boden ist erlaubt, Treppensteigen zu
vermeiden.
Jedenfalls dauert die Erkrankung bis zur völligen Restitution 6 Monate
bis 2 Jahre.
Verfasser bespricht noch kurz Verletzungen des Epiphysenkerns des
Calcaneus am Achillessehnenansatz. Da die Wirkung der Wadenmuskulatur
schwer auszuschalten ist, so muß der Kranke auf ein Invalidenleben von einem
Jahre und länger gefaßt sein.
Die dritte Verletzung dieser Kategorie sind Absprengungen am Kern
des Tuberculum ossis navicularis. Verursacht werden sie durch heftige Be¬
wegungen beim Tennisspielen und Tanzen, und werden deshalb häufiger bei
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 45
Digitized by C^ooQle
698
Referate.
Mädchen beobachtet. Durch Ruhe und Vermeidung von Anstrengungen kann man
den Patienten vor einer Invalidität von Monaten, ja selbst von Jahren bewahren.
F. Wo hl au er-Charlottenburg.
Martini, Sopra un nuovo apparecchio di cura delle fratture oblique e com-
plicate della gamba. La clinica chirurgica 1908, Nr. 5.
Es handelt sich um einen Reduktions- und Kontentivapparat, welcher
eine genaue Reposition der Knochenfragmente gestattet, und der dadurch, daß
er den Frakturherd offen läßt, die direkte üeberwachung des frakturierten
Teiles, die Ausführung der Massage, die Behandlung eventueller Wunden u. s. w.
ermöglicht. Ros. Buccberi-Palermo.
V. Baeyer, Kongenitaler Defekt der Fibula und des V. Fußstrahles. Aerzt*
lieber Verein München. 6. Mai 1908. Münch, raed. Wochenschr. 1908. 3^.
Es war eine starke Atrophie und Verkürzung des Beines vorhanden mit
starker Valgusstellung des Fußes. Da keine Narben zu finden waren, handelte
es sich jedenfalls nicht um eine amniotische Abschnürung, sondern um eine
intrauterine Belastungsdeformität. Blencke-Magdeburg.
Stich, Ueber die Erfolge der operativen Behandlung der Fußgelenktuber¬
kulose. Deutsche med. Wochenschr. 1908, 28.
Stich berichtet über die Erfahrungen, die in der Bonner chirurgischen
Klinik mit der konservativen und operativen Behandlung der Fußgelenktuber¬
kulose gemacht wurden, und kommt auf Grund dieser zu der Ansicht, daß
man sich nicht mit konservativen Maßnahmen aufhalten, sondern sofort operieren
soll, wenn man einen nachgewiesenen Knochenherd entfernen kann, bevor er
das Gelenk infiziert hat. Ist bereits eine Gelenkerkrankung vorhanden, so kann
man in frischen Fällen ohne Fisteln bei gutem Allgemeinbefinden und jugend¬
lichem Alter des Kranken dann einen Versuch mit konservativen Methoden
machen, wenn das Röntgenbild keine ausgedehnteren Knochenzerstörungen auf¬
weist und nur ein Gelenk erkrankt ist In allen anderen Fällen rät Stich
sofort zur Operation, sofern nicht gegen jeden operativen Eingriff geltende
Kontraindikationen vorliegen. Macht das Leiden trotz konservativer Behand¬
lung, die dauernd durch Röntgenbilder zu kontrollieren ist, in kurzer Zeit
wesentliche Fortschritte, oder tritt nach längerer Zeit keine merkliche Besse¬
rung ein, so soll gleichfalls operiert werden. Blencke-Magdeburg.
Bien cke, Arthropathia tabica des Fußgelenks. Med. Gesellschaft zu Magde¬
burg, 2. April 1908. Münchn. med. Wochenschr. 1908, 36.
Blencke demon.striert die Röntgenbilder einer tabischen Fußgelenks¬
erkrankung. Auf dem ersten Bilde war nur eine Fraktur an der Tibia, im
übrigen keinerlei Veränderung am Gelenk sichtbar. Das zweite Bild wurde
6 Wochen später aufgenommen und ließ zahlreiche Frakturen an der Tibia.
Fibula und am Talus erkennen. Das Gelenk war ganz deformiert. Irgend ein
Trauma hatte in der Zwischenzeit nicht stattgefunden. Sonstige Zeichen einer
Tabes waren nicht vorhanden. Patient trägt einen Schienenhülsenapparat und
kann seinem Beruf nachgehen. Blencke-Magdeburg.
Digitized by
Google
Referate.
699
Zoeppritz, Arthropathia tabica pedis. Med. Gesellschaft zu Kiel, 19. Juni 1908.
Münch, med. Wochenschr. 1908, 32.
Zoeppritz stellt einen Fall von Arthropathia tabica pedis vor, der in¬
sofern sehr interessant war, als zunächst nichts auf eine schwere Zerstörung
der Fußwurzelknochen hinwies. Der Sitz des Leidens schien vielmehr das untere
Drittel des Unterschenkels zu sein, das eine starke Schwellung zeigte, während
Fußgelenk und Fußrücken weniger geschwollen waren. Die Röntgenbilder er¬
gaben eine völlige Zertrümmerung des Talus, dessen Hals fehlte; das Os na-
viculare erschien wie breitgedrückt, die Zeichnung des Calcaneus war ver¬
schwommen. Trotz dieser Veränderungen war der Patient zu Fuß in die Klinik
gekommen, wo dann die vorgenommene Nervenuntersuchung das Vorliegen
einer Tabes im präataktischen Stadium ergab. B1 e n c k e - Magdeburg.
Sievers, Isolierte Talusluxation. Med. Gesellschaft zu Leipzig, 30. Juni 1908.
Münch, med. Wochenschr. 1908, 35.
Die genaue Diagnose wurde in dem vorliegenden Fall erst durch eine
Röntgenaufnahme ermöglicht. Es handelte sich um eine isolierte Talusluxation
nach innen und außen, kombiniert mit Drehung des Talus um die sagittale
Achse um 45 ®, während zugleich der hintere Teil des Taluskörpers mit dem
Proc. post, tali abgebrochen war. Der Talus wurde exstii*piert; es erfolgte
glatte Heilung mit gutem funktionellem Resultat. Blencke-Magdeburg.
Nast-Kolb. Ueber indirekte Mittelfußbrüche. Münch, med. Wochenschr,
190S, 35.
Verfasser teilt die Krankengeschichten von zwei jungen Mädchen mit,
bei denen ohne vorhergegangenes nennenswertes Trauma eine schmerzhafte
Anschwellung eines Fußes eintrat. Bei der Röntgenuntersuchung zeigte sich
in beiden Fällen eine Fraktur eines Metatarsus. Solche Fälle sind bis jetzt
fast ausschließlich bei Soldaten als sogen, militärische Fußgeschwulst beobachtet
und beschrieben worden, kommen aber sicher auch im Zivilleben bei jugend¬
lichen Individuen nicht so selten vor. Nast-Kolb empfiehlt, in allen ähn¬
lichen Fällen die Diagnose durch Röntgenaufnahmen zu sichern.
Blencke- Magdeburg.
Lenorraant, L’intervention chirurgicale dans les luxations irreductibles et
anciennes de Tarticulation de Lisfranc. Arch. gener. de chir. 2. Jahr¬
gang Nr. 6.
Die Luxationen im Lisfrancschen Gelenk gehören zu den Seltenheiten.
In einem Falle von totaler Luxation des gesamten Metatarsus nach außen und
ein wenig nach oben, die 3 Monate alt und irreduktibel war, schritt Lenor-
mand zur Operation. Diese bestand in partieller Resektion des Cuneiforme I,
Reposition der Luxation, die aber erst, und zwar nicht völlig, durch Fixation
mittels dreier Silbernähte und Eingipsen aufrecht zu erhalten war.
Bisher sind 86 Fälle von Luxatio tarso-metatarsea bekannt; davon be¬
treffen 50 Luxationen den ganzen Metatarsus, 46 solche von Teilen desselben.
Aus dem Studium aller dieser Fälle ergibt sich, daß ein großer Teil (23,6®)o)
von vornherein irreduzierbar ist, daß die totalen hierbei ein größeres Kontingent
Digitized by LjOOQle
700
Referate.
stellen als die partiellen. Die hauptsächlichsten Üi-sachen für den Mißerfolg
geben ab die Interposition der Sehne des Tibialis anticus in Höhe der Articu-
latio cuneo-metatarsea prima und die Einkeilung von Fragmenten, wenn gleich¬
zeitig Frakturen bestehen. Da der operative Eingriff diese Hindernisse leicht
beheben kann, ist er immer indiziert, umsomehr, als die Resultate dann sehr
befriedigend sind. — Bei den veralteten Luxationen sind die Erfolge der Opera¬
tion infolge der Veränderungen der Gelenkflächen, der Adhäsionen und der
Verknöcherung der Bänder ziemlich mittelmäßig. Ein sicheres Urteil über den
Wert des Eingriffs läßt sich aber noch nicht abgeben; man sollte ihn auf die
Fälle mit dauernden und schweren funktionellen Störungen beschranken und
sich desselben enthalten, wenn die Luxation einen Gang ohne Ermüdung oder
Schmerz erlaubt. Peltesohn -Berlin.
Wette, Zwei Fälle von Luxation im Metatarsophalangealgelenk. Doppelseitiger
Abriß der Streckaponeurose am Mittelfinger. Münch, med. Wochenschr.
1908, 37.
In dem einen Fall handelt es sich um eine plantare Luxation der drei
mittleren Zehen. Da unblutiger und blutiger Repositionsversuch in Narkose
mißlangen, mußten die Köpfchen der drei Metatarsi reseziert werden. Der
Gipsverband wurde in Supinationsstellung angelegt; die Nachbehandlung be¬
stand in Massage und mediko-mechanischen Uebungen und im Tragen einer
Plattfußeinlage. Im zweiten Falle waren die drei mittleren Zehen dorsal luxiert
Die Reposition gelang in Narkose, und es wurde ein Gipsverband in Valgus-
Stellung angelegt.
Sodann berichtet Wette noch über einen Fall von Abriß der Aponeurose
an beiden Mittelfingern durch gleiche Ursache. — Hängenbleiben des Fingers
zwischen Strumpf und Strumpfband. Patientin war rhachitisch, hatte zugleich
habituelle Patellarluxation, ebenso eine Schwester und die Mutter. Die Röntgen¬
aufnahme ergab normale Knochenverhältnisse. Biencke-Magdeburg.
Adolph Hoff mann, Ueber die isolierte Fraktur des Os naviculare tarsi.
Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59, Heft 1.
Ho ff mann beobachtete bei einem 20jährigen Lehrling, der 4 Monate
zuvor von einem 5 m hohen Dache mit beiden Beinen auf Steinpflaster und
zwar mehr mit der rechten Seite aufgefallen war, eine Kompressionsfraktur
des rechten Os naviculare tarsi. Im Liegen bestanden zur Zeit der Unter¬
suchung keine Schmerzen, wohl aber bei der Belastung des Fußes. Die Kon¬
turen der Malleoli, besonders des Malleolus internus, waren infolge eines leichten
Oedems rechts nicht so scharf als links. Das rechte Os naviculare war aut
Druck schmerzhaft. Am Röntgenbilde erwies sich der ganze mediale Abschnitt
des Kahnbeins intakt, etwa bis zu seiner Mitte, der laterale war schwer ver¬
ändert, in der Richtung der Längsachse des Fußes beträchtlich verschmälert;
auch erkannte man in dorsoplantarer Ansicht mehrere Fragmente. Trotzdem
der mediale Teil des Naviculare gar keine Veränderungen aufwies, war doch
klinisch eine Verkürzung der Innenseite des Fußes um ca. V* cm zu konstatieren,
eine Tatsache, die übrigens auch durch Messungen an den sowohl in tibio-
fibularer als auch dorsoplantarer Richtung aufgenommenen Röntgenbildem be-
Digitized by
Google
Referate.
701
«tätigt wurde. Dieser zunächst etwas befremdende Befund findet eine sehr
einfache Erklärung darin, daß bei dem Bruch des Naviculare auch seitlich, nach
Sprengung der Bänder etwas herausgepreßt worden ist, wodurch zwischen
Taluskopf und die Cuneiformia ein etwas schmälerer komprimierter Teil des
Naviculare zu liegen kam, demgemäß sich auch die Distanz zwischen diesen
Knochen veränderte. Mit einem Plattfußstiefel konnte Patient ohne Beschwerden
gehen, ohne denselben waren trotz der angewandten Massage und Bewegungs¬
behandlung die Beschwerden dieselben, wie früher. Joachimsthal.
Tietze, Beiträge zur Kenntnis des Entstehungsmechanismus und der wirt¬
schaftlichen Folgen von Fersenbeinbrüchen. Arch. f. Orthopädie, Mechano-
therapie und Unfallchirurgie Bd. 6, Heft 4.
Tietze bespricht zunächst die pathologische Anatomie und Entstehungs¬
weise der Fersenbeinbrüche und stellt sich auf die Seite derjenigen, die an¬
nehmen, daß die Vorstellung eines Kißbruches nur sehr selten zur Erklärung
ausreicht, und daß es sich wohl ausnahmslos um Eompressionsbrüche des Cal-
caneus handelt, deren besondere Gestaltung teils durch die Art der einwirkenden
Gewalt, teils durch den eigentümlichen Faserverlauf der Spongiosa und die
Wirkung des vorhandenen Bandapparates hervorgerufen wird. Das Studium
der Röntgenbilder der von ihm beobachteten Fälle hat ergeben, daß sich keine
isolierten Brüche seitlicher Fortsätze fanden und niemals eine Bruchform, die
als Rißfraktur hätte gedeutet werden müssen; es lagen im Gegenteil stets so¬
genannte Kompressionsfrakturen vor, deren Zustandekommen nicht allein auf
Rechnung einer Belastung von oben kam, sondern bei denen auch der Boden¬
druck, der Handapparat und die Spaltrichtung des Knochens eine entscheidende
Rolle spielten. Die Bruchform wechselte im hohen Grade je nach der Richtung
der einwirkenden Gewalt. Die Ansicht mancher Autoren, daß nach einer Cal-
caneusfraktur wohl niemals eine normale Funktion zu erwarten sei, sucht
Tietze durch eine beigegebene Statistik aus dem Breslauer Institut für Unfall¬
verletzte zu widerlegen, der 200 Fälle zu Grunde gelegt sind. Von 76 Patienten,
deren definitives Schicksal bekannt ist, wurden 24 vollkommen erwerbsfähig,
die übrigen erhielten Dauerrenten, und zwar mehr als die Hälfte durchschnitt¬
lich nur 15®/o- Tietze legt seine Patienten für 10—14 Tage in einen Gips¬
verband in Vnrusstellung, den er dann durch eine Gipshülse mit Gehbügel er¬
setzt, welche den Fuß freiläßt und Bewegungen und Massage gestattet; nach
6 Wochen erhalten sie dann einen Schienenhülsenapparat, den sie mindestens
*'2 Jahr tragen müssen. Blencke-Magdeburg.
Klingelhöfer, Ueber die Kirchnersehe Fußgeschwulst. Aerztl. Verein in
Frankfurt a. M. 6. Juli 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 45.
Klingelhöfer zog sich selbst einen Bruch des 2. Metatarsus, etwa
1 cm hinter dem Köpfchen zu, der unbemerkt in einem dünnen Stiefel auf nassem
Waldweg entstanden war, wahrscheinlich dadurch, daß K. den Fuß beim Treten
in ein feuchtes Wagengeleise unvermutet belastete. Sechs Wochen später war
<lie Gesamtstörung eine sehr beträchtliche, was für die Begutachtung derartiger
Fälle von Wichtigkeit sein dürfte. B1 e n c k e - Magdeburg.
Digitized by L^ooQle
702
Referate.
Köhler, üeber eine häufige, bisher anscheinend unbekannte Erkrankung ein¬
zelner kindlicher Knochen. Mönch, med. Wochenschr. 1908. 37.
Köhler beschreibt 3 Fälle, bei denen sich eine eigentümliche Erkran¬
kung des Os naviculare, in einem Falle außerdem auch noch der Patella fani
Alle drei Patienten klagten über mehr oder weniger heftige Schmerzen in der
Gegend der medialen Hälfte des Dorsum pedis, vorwiegend in der Gegend des
Os naviculare, ohne daß sich äußerlich etwas feststellen ließ. Die Knochen
waren, wie die beigegebenen Röntgenbilder erkennen lassen, bedeutend kleiner
als normal, von unregelmäßiger Gestalt; die Corticalis und Spongiosa waren
verschmolzen, der Kalkgehalt vermehrt. Die Beschwerden besserten sich don'h
die Behandlung und Schonung der betreffenden Gliedmaßen, um schließlich
ganz nachzulassen. In allen 3 Fällen trat nach 1 \ 2 —2V* Jahren Heilung ein.
Die Aetiologie war nicht klar, jedenfalls schienen Tuberkulose und Rhachia«
nicht die Ursache zu sein. B1 e n c k e - Magdeburg.
D o b i s c h, Zur Aetiologie der Köhler sehen Knochenerkrankung. Mönch, med.
Wochenschr. 1908. 44.
Dobisch berichtet über einen Fall von heftigen Schmerzanfällen in der
Gegend der unteren Epiphysen beider Schienbeine und später beider Kniee bei
einem 3jährigen Knaben, dessen Mutter während der Schwangerschaft mit Gonor¬
rhöe infiziert wurde und eine schwere gonorrhoische Kniegelenksenizündung
durchmachen mußte. Dobisch wirft die Frage auf, ob nicht die gonorrhoische
Infektion der Mutter in der Aetiologie der Köhlerschen Knochenerkrankung
eine Rolle spielen könnte. Biencke-Magdeburg.
0. V. Frisch, Die Gleichsche Operation und ihre Bedeutung in der Therapie
des Plattfußes. Archiv f. klin. Chir. Bd. 87, Heft 2.
V. Frisch empfiehlt auf Grund von Erfahrungen an der v. Eisels-
bergschen Klinik die Gleichsche Operation für die Behandlung schwerer
statischer Plattfüße. Dieselbe wurde in den letzten 5 Jahren 18mal ausgeführt,
durchwegs bei schweren Plattfüßen, 5mal einseitig, ISmal an beiden Füßen.
Es wurden dazu ausschließlich junge Leute gewählt, welche durch ihr Leiden
arbeitsunfähig waren. Von den 15, welche vor mehr als 2 Jahren operiert
worden sind, sind 10 vollkommen geheilt und üben durchweg einen schweren
Beruf aus. Drei weitere Patienten sind gebessert, sie können mehrere Stunden hin¬
durch gehen oder stehen, klagen aber, daß sie leicht ermüden und bei stärkerer
Anstrengung oder bei Witterungswechsel Schmerz empfinden. Die Operation
wurde stets in der von Brenner modifizierten Weise ausgeführt. Eine Keil¬
exzision, wie sie Gleich neben der einfachen Osteotomie angab, "wurde an
der V. Eiselbergschen Klinik nie ausgeführt, vielmehr stets nur die Ver¬
schiebung des Fersenhöckers nach innen, unten und vorn. Ein schräger
Schnitt, fingerbreit hinter dem Malleolus externus, durchtrennt die Haut des
Unterhautzellgewebes, die Achillessehne und das Periost des Calcaneus. Beim
Durchtrennen des Knochens wählt man den Meißel gleich so breit, daß mit dem
einmaligen Durchschlagen desselben der Knochen vollkommen abgetrennt wird.
Damit vermeidet man Splitterungen und erhält eine ebene Meißelfläche, wie sie
zur nachfolgenden Verschiebung vorteilhaft ist. Nach vollzogener Osteotomie
Digitized by c^ooQle
Referate.
703
lEuß auch das Periost an der Innenseite der Ferse durchschnitten werden; dies
gelingt leicht mit einem starken Messer, welches in die bereits klaffende Knochen¬
spalte eingeführt wird, ist aber notwendig, um eine freie Verschieblichkeit des
abgemeißelten Knochenstückes nach allen Richtungen zu erhalten. Solange
letzteres nicht in ausgiebigem Maße möglich ist, ist das Periost noch an irgend
einer Stelle intakt und muß durchtrennt werden. Hierauf gelingt es leicht, das
Fragment parallel zur Schnittfläche nach Gutdünken zu verschieben. Es emp¬
fiehlt sich in jedem Falle, dasselbe um die Dicke eines kleinen Fingers nach
abwärts und etwas weniger nach innen zu verschieben. Ist in dem gegebenen
Falle die Valgität des Fußes besonders stark, so nimmt man die seitliche Dis¬
lokation etwas größer. Die gewählte Lage des Fersenhöckers muß mit einem
Fingerdruck von außen und oben fixiert werden, während ein kräftiger Nagel
von der Kuppe der Ferse aus in gut zentrierter Richtung das Fragment an das
Corpus calcanei festheftet. Nach 10—14 Tagen schneidet man an der Ferse
ein kronenstückgroßes Loch in den nach der Operation angelegten Verband und
entfernt, ohne die Haut freizulegen, den bis dahin meist lockeren Nagel, indem
man ihn mit einer Kornzange faßt und heraustorquiert. Nach den ersten
3 Wochen, die Patient im Bette zubringt, wird ein zum Auftreten geeigneter
Oipsverband angelegt. Nach Ablauf weiterer 2 Wochen wird den Bewegungen
des Fußes durch Entfernen resp. Weichklopfen einzelner Teile des Verbandes
ein größerer Spielraum gelassen. 6 Wochen nach der Operation ist meist ein
weiterer Verband nicht mehr nötig. Es dauert in jedem Falle einige Monate,
ehe die Operierten eine gehende oder stehende Beschäftigung wieder aufnehmen
können. Das Tragen von Einlagen oder Schienen nach der Operation ist nicht
nötig. Die Besserung nimmt spontan zu. Bei den geheilten Kranken ist nach
Ablauf mehrerer Jahre häufig eine vollkommene Rückbildung der Difformität
zu konstatieren. Nicht selten treten trotz reaktionsloser Heilung Fisteln in der
Narbe auf, welche sich lange Zeit nicht schließen wollen, bis endlich ein kleiner
Sequester abgestoßen wird, worauf die Wunde rasch verheilt. Es handelt sich
in diesen Fällen offenbar um kleine Splitter, die während der Operation durch
ungleiches Meißeln gelöst werden und nicht mehr einheilen. Eben wegen dieser
Komplikation ist es ratsam, mit einem möglichst breiten Meißel zu arbeiten.
Joachimsthal.
Hübscher, Die Behandlung des kontrakten Plattfußes im Schlafe. Zentralbl.
f. Chirurg. 1908. Nr. 421.
Ausgehend von der Erfahrung, daß der reflektorische Muskelspasmus
während des natürlichen Schlafes verschwindet, empfiehlt Hübscher, während
der Nachtruhe den Fuß in volle Supination zu bringen. Er verwendet dazu
eine anschnallbare Sandale aus Lindenholz, an der zwei Gummischläuche innen,
einer außen so angebracht sind, daß sie durch enge Löcher des Brettchens
durchgezwängt sind und hier selbsttätig halten. Oben werden sie an einem
am inneren Tibiaknorren anbandagierten Heftpflasterstreifen befestigt. Durch
Nachziehen der unteren Schlauchenden kann ein kräftiger Supinationszug aus¬
geübt werden. Das Brettchen wird angeschnallt und der Zug in Aktion gesetzt,
«obald Patient sich zur Ruhe begeben hat. Bereits am nächsten Morgen soll
Digitized by L^ooQle
704
Referate.
der Fuß ohne jede Anstrengung aktiv supiniert und proniert werden können.
Die Immobilisierung der Füße im Gipaverband soll durch diese Behandlung
umgangen werden können. B1 e n c k e - Magdeburg.
Muskat, Stauungshyperämie bei fixiertem Plattfuß. Berl. klin. Wochenschr.
1908, 26.
Muskat sieht in der Hyperämie ein Mittel gegen die Fixation des be¬
ginnenden Plattfußes, das geeignet ist, schnell und mühelos zu wirken. Er
verwendet sowohl die aktive wie auch die passive Hyperämie, die aktive durch
Bestrahlung mit einer intensiv heiß wirkenden elektrischen roten Lichtquelle,
die passive mittels Anlegen einer Staubinde. Mitunter gelingt es schon nach
einer einmaligen Sitzung, die Beschwerden und die Spannung so weit zu lösen,
daß die inzwischen angefertigte Einlage benutzt werden kann.
B1 e n c k e • Magdeburg.
Girardi, Sullo stiramento dei nervi plantari come preteso metodo di cura
deir ulcera perforante del piede.
Verfasser beschreibt drei klinische Fälle von Ulcus perforans des Fußes,
in denen er gewissenhaft die von Chipault für die Behandlung dieses Leidens
diktierten Regeln durchgeführt hat. Er kommt zu dem Schluß, daß die
Streckung der Plantarnerven keine Garantie für Heilung gewährt, da sie nicht
im stände ist, die normale physiologische Integrität der beschädigten Gewebe
wieder herzustellen. Ros. Buccheri*Palermo.
Kölliker (Leipzig), Zur Klumpfußbehandlung. Zentralbl. f. chirurg. und
mechan. Orthopädie Bd. II, Heft 11.
Köl liker beschreibt in Kürze die Grundsätze der Klumpfußbehandlung
in der Leipziger Poliklinik für Orthopädie. Danach enthält er sich bei Kindern
unter einem Jahre aller eingreifenden Maßnahmen, er wendet nur Massage
und redressierende Manipulationen an, sowie seine Klumpfußschiene. Ist der
Klumpfuß gut beweglich geworden, so folgen Heftpflasterzugverband, Gips¬
verbände und zur Nachbehandlung ein Schienenhülsenapparat. Bei älteren
Kindern erfolgt das gewaltsame Redressement in einer oder in mehreren
Sitzungen, Gipsverbände und Schienenhülsen. Erst bei Klumpfüßen, die ,dem
einfachen Redressement nicht mehr zugänglich* sind, werden Sehnen- und
Faszienschnitte ausgeführt, die Tenotomie der Achillessehne, die offene Durxb-
schneidung der Sehne des Tibialis posticus und die offene oder subkutane Durch¬
schneidung der Plantarfaszie. Genügen auch diese Eingriffe nicht zur Korrektur,
so wird noch die supramalleolare Osteotomie der Fibula oder die subperiostale
Resektion des Malleolus lateralis ausgeführt. Nur bei schwerstem Klumpfuß
Erwachsener ist die Talusexstirpation angezeigt.
Danach scheint in Leipzig bei der Behandlung junger Klumpfüße etwas
wenig, bei derjenigen älterer etwas viel zu geschehen.
Pfeiffer-Frankfurt a. M.
Lange, Zur Behandlung des Klumpfußes. Archiv für Orthopädie, ßd. 6,
Heft 2—3.
Lange benutzt eine Kritik Schultz es, um die Methode seiner Klump¬
fußbehandlung, in der Hauptsache eine Schienenbehandlung, ausführlicher za
Digitized by C^ooQle
Referate.
705
beschreiben. Er unterscheidet dabei die Klumpfußbehandlung von Kindern in
den ersten Lebensjahren und von älteren Kindern und Erwachsenen. Bei
ersteren beläßt Lange nach dem Redressement den Gipsverband nur 2 Tage,
um dann eine nach dem redressierten Fuße gearbeitete Schiene aus Zelluloid-
«tahldraht anzulegen. Er vermeidet dadurch Decubitus- und Ekzemgefahr und
die schwere Schädigung der Muskulatur durch die Gipsverbände. Dagegen
haben seine Schienen den Vorteil, ebensogut zu redressieren wie der Gipsverband
und von der zarten Haut des kindlichen Körpers gut vertragen zu werden. Ihre
Herstellung ist so einfach, daß sie vom Arzt ohne Hilfe des Bandagisten an¬
gefertigt werden können, und ferner sind sie so einfach zu handhaben, daß sie
von den Eltern selbst angelegt werden. — Die Lange sehe Behandlung
älterer Klumpfüße ist von der allgemein üblichen nicht verschieden. Freilich
sind mit dem Redressement in späteren Lebensjahren oft schwere Gefahren
verbunden. Deshalb empfiehlt Lange mit Recht, mit der Klumpfußbehandlung
so früh wie möglich zu beginnen und sich durch die Schwierigkeiten, welche
die Klumpfüße der Säuglinge der Behandlung entgegensetzen, nicht abschrecken
zu lassen. Pfeiffer-Frankfurt a. M.
Schultze, Entgegnung auf die Arbeit Langes ,Zor Behandlung des Klump¬
fußes*.
Lange, Zur Behandlung des Klumpfußes. Schlußwort. Arch. f. Orthopädie,
Mechanotherapie und Unfallchirurgie Bd. 6, Heft 4.
Da die beiden Arbeiten rein polemischen Charakters sind, eignen sie
sich nicht zu einem kurzen Referat. Ich muß mich deshalb darauf beschränken,
auf die Arbeiten zu verweisen. Blencke-Magdeburg.
Oskar Vulpius, Die Behandlung des angeborenen Klumpfußes. Therapeutische
Rundschau Nr. 44, S. 645.
Vulpius sucht dem Praktiker Direktiven für sein Verhalten gegenüber
dem angeborenen Klumpfuß zu geben. Die Behandlung soll so früh als möglich
begonnen werden. Dieses ,möglich* ist bedingt einmal durch den Zustand des
Neugeborenen. Wir werden ein an sich schwaches Kind nicht durch schmerz¬
hafte Manipulationen schädigen dürfen, in jedem I'alle aber auch bei gut ent¬
wickelten Patienten das Ende des ersten Lebensmonats abwarten. Eine weitere
wesentliche Bedingung sind die sozialen Verhältnisse der Eltern. Da eine im
ersten Lebensvierteljahr eingeleitete Therapie fast tägliche Inanspruchnahme des
Arztes nötig macht, so wird man bei Armen lieber etwas länger zuwarten, um
dann bei den drei und vier Monate alten Kindern energischere und darum
rascher zum Ziele führende Mittel anzuwenden. Gegenüber den Erfolgen des
,modellierenden* Redressements bei der überwiegenden Mehrzahl der Klump¬
füße verweist Vulpius auf die nach seinen Erfahrungen immerhin 10—15 Prozent
der Klumpfüße betragenden Ausnahmetälle, in denen hochgradige Knochendeformi-
täten, insbesondere des Talus und zwar sowohl im Bereiche des oberen w'ie des
unteren Sprunggelenks, vorliegen, die es unmöglich erscheinen lassen, die nach
vorn verbreiterte Rolle des in Equinusstellung stehenden Talus auf unblutigem
Wege in die Malleolengabel hineinzuzwängen oder den rechtwinklig abgeknickten
Vorderfuß in die Längsachse des Calcaneus zu stellen, ohne zugleich eine Sub¬
luxation zu erzeugen. Hier glaubt Vulpius nicht ohne blutige Eingriffe — Aus-
Digitized by L^ooQle
706
Iteferate.
höhlung des Talus, Exstirpation des Talus, Durchmeißelung oder Infraktion des
äußeren Malleolus, Keilresektionen — auskomraen zu können.
Joachimsthal.
Riedinger, Hackenfuß nach Spitzfuß (Pes calcaneus traumaticus). Archiv
f. physikalische Medizin Bd. III, Heft 2.
Riedinger beschreibt einen der seltenen Fälle von doppelseitigem Pfö
calcaneus traumaticus, der sich nach Tenotomieen der Achillessehne wegen
Spitzfußes entwickelt hatte. Für die mechanische (speziell dynamische) Ursache
der Deformität hält Riedinger mit Recht die Funktion des Musculus peroneus
longus, für die kritische den Umstand, daß der Unterschenkel, wenn der Zug
am Calcaneus fehlt und der Musculus tibialis anterior intakt ist, beim auf¬
rechten Stehen nach vorn sinkt und den Fuß in Dorsalflexionsstellung versetzt
Um nun dem Bein eine festere Stütze zu verschaflfen, ist der Patient genötigt,
durch Steilstellung des Calcaneus und Verlagerung der Schwerlinie nach rück¬
wärts das Tuber calcanei möglichst in die verlängerte Tibiaachse nach vorn
und sogar darüber hinaus zu bringen. Der Peroneus longus wird dadurch zum
Dorsalflektor des hinter dem Chopar t sehen Gelenk gelegenen Fußabschnittes.
Pfeiffer -Frankfurt a. M.
Heinlein, Ueber Hallux valgus. Nürnberger med. Gesellschaft. Sitzung vom
2. April 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 35.
Demonstration eines Leichenpräparates mit den für dieses Leiden charak¬
teristischen Veränderungen. An Stelle der äußeren Seitenbandinsertion am
Köpfchen des I. Metatarsus findet sich eine mit Osteophyten bedeckte Hervor-
ragung; sonst überwiegen an Synovialis und knorpeligen Gelenkflächen die Vor¬
gänge des Schwundes. Biencke-Magdeburg.
Berard et Rendu, Hallux varus acquis avec clinodactylie interne des autres
orteils. Revue d'orthop. 1908, p. 411.
Der vorliegende Fall betrifft eine 60jährige Frau, bei der zufällig die
ungewöhnliche Zehenstellung bemerkt wurde. Die große Zehe steht rechte in
Varusstellung von 85®, die übrigen Zehen ebenfalls, doch in von der medialen
nach der lateralen Seite abnehmender Hochgradigkeit. Diese Cliuodaktvlie be¬
trifft bei der dritten Zehe nur die beiden Fmdphalangen, bei den übrigen alle
drei Phalangen. Schmerzen bestehen nicht, dagegen Analgesie und Wärme¬
anästhesie der Zehen. Der Patellarreflex ist erloschen. Auf dem Röntgenbilde
erscheinen Osteophyten an den meisten Gelenken. Unter Ausschluß der anderen
Aetiologieen (kongenitale Deformität, Gicht, Rheumatismus tuberculosus) ge¬
langten Verfasser zu der Ansicht, daß die Affektion als eine Erscheinung ent¬
weder der myelopathischen Phase (dritte Periode) des chronischen deformieren¬
den Rheumatismus oder einer latenten, mit osteoarthritiseben Veränderungen
einhergehenden Tabes aufzufassen ist. Peltesoh n-Berlin.
Martin, Zur Behandlung der Zehenkontrakturen, insbesondere der .Hammer¬
zehe*. Zeitschr. f. ärztliche Fortbildung 1908, 19.
Martin verwendet bei Zehendeformitäten den elastischen Zug in Form
eines schmalen Gummistreifens nach Korrektur der Deformität, die meist keine
Digitized by e^ooQle
Referate.
707
großen Schwierigkeiten bereitet. Der mittlere Teil des Streifens wird so durch
die Zehen geflochten, daß er die Stellung derselben korrigiert, und seine Enden
spiralig am Fuß und Unterschenkel in die Höhe geführt und dort durch ein
Paar nicht zu feste Bindentouren befestigt. Der Gummistreifen gestattet, wenn
er richtig angelegt ist, den Zehen die nötigen Bewegungen, die einem eventuell
beim Stehen und Gehen erfolgenden Druck ausweichen können, aber doch
jedesmal durch den elastischen Zug des Streifens in die korrigierte Stellung
zurückkehren. Der Gummistreifen stört den Patienten in der Regel gar nicht;
man kann mit demselben, je nachdem man ihn von oben oder von unten über
die difForme Zehe führt, eine Zehe niederdrücken oder heben, man kann auch
mehrere Zehen gleichzeitig in ihrer Stellung korrigieren.
Blencke - Magdeburg.
Couteaud, Etüde sur Torteil en marteau. Revue de Chirurgie Bd. 28,
Nr. 7, p. 68.
Die Hammerzehe, welche Couteaud auch bei sehr vielen wilden Völker¬
stämmen antraf, kann dreierlei Ursachen haben, mechanische, anatomische,
dyskrasische. Während bei den Kulturvölkern das mechanische Moment prä¬
dominiert, kann bei gewissen wilden Völkern nur das dyskrasische angeschuldigt
werden. Seine Anschauung stützt sich auf die Beobachtung, daß in den Hoch¬
plateaus von Madagaskar die weitaus größte Zahl von Deformitäten der unteren
Extremitäten vorkommt, Klumpfüße, überzählige Zehen, Hallux valgus, Hohl¬
füße, Hammerzehen etc., und daß hier 80 Proz. aller Einwohner syphilitisch
oder hereditär-syphilitisch sind. Er betrachtet also die Hammerzehe ebenfalls
als eine Folge der Lues, wie ja Fournier auch die angeborenen Extremitäten-
mißbildungen als solche ansieht.
Bei leichten Fällen der Kinder, soll man mit Apparaten die Hammer¬
zehe zu heilen suchen; in leichten oder mittelschweren Fällen der Erwachsenen
muß die keilförmige Osteotomie an den Phalangen ausgefübrt, in den schweren
Fällen letztere Methode mit der Durcbschneidung der Flexor- und der
Extensorsehne kombiniert werden. Peltesohn-Berlin.
Zur Richtigstellung betr. die Publikation des Herrn Dr. Brandenberg
betitelt:
Ein Fall von Spondylolistbesis mit Mißbildung des Kreuzbeins bei einem Jüngling
von 17 Jahren (Bd.XXI, Heft 1—3, S. 219).
Von Dr. Gustav Baer, Zürich.
Der Unterzeichnete sieht sich veranlaßt, zur oben zitierten Arbeit folgende
Bemerkungen zu machen.
Der in genannter Veröffentlichung erwähnte Patient wurde mir von Herrn
Dr. Brandenberg zur Untersuchung gesandt (4. September 1907), nachdem
bereits eine zweimal anderwärts versuchte radiographische Aufklärung resultat¬
los verlaufen war. Gemäß der erhaltenen Zuschrift wurde ich um Klarstellung
der „Geschwulst“, „röntgenologische Festlegung des Sitzes, der Ausdehnung und
Struktur des Tumors“, sowie „um meine Ansicht in diagnostischer Hinsicht“
gebeten.
Digitized by CjOOQle
708
Richtigstellung.
Es gelang mir dann, durch die äußere Untersuchung lestzustellen, daß
der Sitz der ,Geschwulst* nicht identisch war mit der vorhandenen Lenden¬
kyphose und daß die Kyphose auch wegen ihrer Ausgleichbarkeit sekundären
Charakter hatte. Die Röntgenogramme zeigten dann auch, daß die .Geschwulst*
den unterhalb liegenden Abschnitten des 1. und 2. Sakralsegmentes angehörte
und einfach in einer Mißbildung dieser Knochen mit Einsenkung derselben nach
vorn zu bestand. Die spondylolisthetische Form konnte durch eine Quer¬
aufnahme des Beckens gesichert werden.
Diese Ergebnisse berichtete ich einläßlich dem Verfasser obigen Artikels
in einer Zuschrift.
Trotzdem aus obigem Tatbestand ersichtlich ist, daß eine auch nur ver¬
mutungsweise zutreflPende Diagnose von Herrn Dr. Brandenberg vor meinen
Untersuchungen nicht gemacht worden ist, hat er die Sache im genannten
Artikel so dargestellt, als ob es sich nur um eine Bestätigung seines selbst¬
gefundenen Untersuchungsresultates handle.
Sein Verlangen, ihm die Originalplatten auszuhändigen, damit er den
Fall unter seinem eigenen Namen allein publizieren könne, mußte ich nach
obiger Sachlage abschlägig beantworten, trotzdem er dasselbe damit motivierte,
daß der .Patient“ sein .eigenes geistiges Eigentum“ sei.
Die von ihm angesuchte Entscheidung durch den Ehrenrat und das Plenum
der Gesellschaft der Aerzte der Stadt Zürich hat alsdann das radiologische
Publikationsrecht ausdrücklich mir zugesprochen und ihn mit seiner Beschwerde
ganz abgewiesen.
Dennoch hat er sich nunmehr erlaubt, ohne vorherige Verständigung mit
mir, die ihm seinerzeit übersandten Pausen und Kopien, die von meinen Auf¬
nahmen herstainmen, im obigen Falle direkt zu publizieren.
Die Beurteilung seiner Handlungsweise habe ich dem Ehrenrat der Ge¬
sellschaft der Aerzte in Zürich überlassen. Hier kann ich nur erwähnen, daß
obige Darstellung sich genau aus schriftlich belegbaren Tatsachen ergibt, wie
mir namens der Gesellschaft der Aerzte in Zürich Herr Dr. W. Schult-
heß, Privatdozent für Orthopädie in Zürich, der Mitarbeiter dieser Zeitschrift,
bestätigen wird.
Zürich, den 11. Dezember 1908.
Dr. Gustav Baer.
Nachschrift zu der Richtigstellung etc. von Herrn Dr. Gustav Baer.
Der Unterzeichnete bestätigt im Namen und Auftrag der Gesellschaft der
Aerzte in Zürich, daß die obige Darstellung des Herrn Dr. Baer den Verhand¬
lungen und den Beschlüssen entspricht, die in der vorliegenden Sache in dieser
Gesellschaft gepflogen und gefaßt worden sind.
Zürich, im Dezember 1908.
Dr. Wilhelm Schultheß.
Digitized by c^ooQle
Autorenregister.
Originalarbeiten sind mit ♦ versehen.
A.
Abadie 687.
Aberle, v. 134*. 375*.
Ahrens 693.
Altschul 630.
Anglada 680.
Anachütz 648. 649.
Arcangeli 635.
B.
Bade 224*. 233*. 632.
Bardenheuer 651. 659.
Bähr 661.
Baeyer, v. 629. 675. 698.
Barbet 656.
Barlatier 684.
Barth 645.
Becker 645. 688.
Berard 706.
Bernardi 639.
Bettmann 694.
Biesalski 323*.
Blanchard 644.
Blencke 688. 690. 698.
Boecker 106*.
Boettiger 669.
Borchgrevink 681.
Bradford 677.
Bramson 631.
Brenner 678.
Broca 656.
Brückner 659. 687.
Bull 687.
Bülow-Hansen 642.
C.
Chlumsky 317*.
Ohrysospathes 150*.
Codivilla 679.
Coenen 684.
Couteaud 707.
Coville 656.
Gramer 68*. 172*.
Czarnomska 401*.
D.
Dalgreen 669.
Dejardin 662.
Delbet 695.
Destot 692.
Deutschländer 304*.
Dibbelt 634.
Dietrich 650.
Dobisch 702.
Ducroquet 691.
E.
Edwin 648.
Eggenberger 644.
Evler 192*.
Ewald 629. 640.
F.
Feliciani 664.
Ferrari 665.
Fischer 94*.
Fo erster 203*.
Frankel 634.
Freiberg 672.
Frisch, v. 589*. 689. 702.
G.
Galleazzi 671.
Ganser 657. 659.
Gelhaar 630.
Gibney 692.
Gilmer 665.
Girardi 704.
Gläßner 596*.
Gocht 252*.
Goebel 649.
Goerlich 686. 688.
Graf 693.
Graeßner 666.
Gregorio, de 635.
Grüber 642.
H.
Hagen 696.
Haglund 631. 697.
Hahn 659. 680.
Härting 690.
Hartleib 696.
Hartmann 687.
Hastings 653.
Hausen 651.
Heinlein 706.
Hellin 655.
Hentschel 617.
Hirschberg 675.
Hoffmann 700.
Hofmann 632. 646.
Horand 671.
Hörmann 663.
Horvath 441*.
Houzel 674.
Hübscher 703.
Hutinel 676.
I.
Iselin 636. 664.
Digitized by L^ooQle
710
Autorenregister.
J.
Joachimsthal 31*.
Jones 638.
K.
Kirsch 676.
Klingelhöfer 701.
Kofmann 483*. 634. 688.
Köhler 702.
Kölliker 656. 704.
König 667.
Krajca 663.
Krempl 694.
Krüger 659.
Kyerson 648.
L.
Lamy 656.
Lange 704.
Laussedat 671.
Lazarus 680.
Legg (553.
Lehr 667. 677.
Lenormant 699.
Lorenz 287*.
Lovett 389*.
Ludloff 272*.
Luther 696.
M.
Mainzer 660.
Martin 706.
Martini 698.
Matsunami 6.50.
Mauelaire 628.
Melchior 655.
Meriel 650.
Meyer 568*.
Momburg 662.
Montadon 694.
Mouriquand 671.
Müller 685.
Muskat 696. 704.
N.
Nast-Kolb 699.
Noeßke 664.
Nove-Josserand 643.
Nutt 673.
0 .
Oberst 688.
Ogiloy 674.
P.
Palaghi 634. 654.
Paul 682.
Peltesohn 602*.
Perthes 690.
Peschties 692.
Peters 675.
Piovesana 639.
Posche 649.
Preiser 653. 654.
Pucci 641.
Purpura 652.
Putti 679.
Putzu 647.
R.
Rafilsohn 658. 689.
Reichel 628.
Reinhardstoettner 641.
Ren du 706.
Renval 656.
Rhenter 674.
Riddlow 644.
Riedinger 117*. 670. 706.
Rob 680.
Rodler 654.
Roepke 557*.
Rosenfeld 344*.
Rosenthal 667.
Rostock! 662.
Rovsing 649.
S.
Salis, V. 697.
Schaeffer 654.
Schanz 57*. 662.
Schlippe 657.
Schmiedicke 630.
Schobad 635.
Schreiber 655.
Schrumpf 636.
1 Schultheß 90*.
Schultze 1*. 705.
Schürmayer 665-
Schwenk 685.
Seedorf 645.
Sencert 650.
Sievers 699.
Soutter 677. '
Steiner 665.
Steinmann 641.
Stetten 686.
Stich 698.
Stieda 689.
Strauß 672.
T.
Tachau 663.
Takkenberg 637.
Thilo 631.
Thon 685.
Tietze 701.
Tixier 670. 692.
Todaro 680.
Townsend 652.
Tridon 679.
V.
Viannay- 657.
Vignard 642. 643. 671.
684. 686.
Vogel 633. 687.
Vorschütz 658.
Voß 661.
Vulpius 652. 70-5.
W.
Wagner 691.
Waldenström 581*.
Wallis 691.
Walzberg 670.
Wandel 661.
Werndorff 122*.
Wette 700.
Wittek 371*. 675.
Wreden, v. 632.
Würth-Würthenau 651.
Z.
Zoeppritz 699.
Zrenner 660.
Zweig 668.
Digitized by LjOOQle
Sachregister.
711
Sachregister.
Originalarbeiten sind mit * versehen.
A.
Abszeßbehandlang 655.
Achillotenotomie 670.
Achondroplasie 636.
Akromegalie 657. 658.
Amniotische Fäden und Klumpfuß 557*.
Amputationsneurome 651.
Ankylosenbehandlung durch Periost¬
transplantation 646.
Apparate aus Chromleder 192*.
— konzentrische Gelenk- 630.
Arthritis 654.
Arthrodese, Technik 224.
Arthropathia tabica pedis 699.
Ataxie Friedreich 659.
Atlantoepistrophealgelenkluxation 675.
B.
Bandage für Bein 631.
Bandagistenkurpfuscherei 371*.
BerufsskoHose 90*.
Blastoinykosis 648.
Bluterkrankheit 662.
Blutleere, künstliche 662.
Brachydaktylie 688.
C.
Calcaneusbrüche 701.
Caput obstipum s. Schiefhals.
Caudaverletzungen 660.
Chrondrodystrophie 686.
Chromlederapparate 192*.
Claviculabruch 680. •
Clinodaktylie 706.
Conusverletzungen 660.
Coxa valga adolescentium 689.
Coxa vara 688.
-congenita 689.
Coxitis, Behandlung 692.
D.
Deltoideslähmung 662.
D u p uy tren sehe Kontraktur 687.
Dy&kinesia intermittens 661.
£.
Elephantiasis, halbseitige 656.
— tuberkulöse 674.
Ellbogenbruch, frischer 684.
Enchondrome, multiple 648.
Epithelisierung durch Scharlachrotsalbe
663.
Erbsche Lähmung 658.
Extensionsbehandlung der oberen Ex¬
tremitäten 681.
Extensionsschiene für Femurbruch 693.
Extensionsverband 632. 641.
F.
Femuranteversion 690.
Fersenbeinbrüche 701.
Fibrolysin 655.
Fibuladefekt 698.
Fingerbrüche 688.
Fingerverkrümmungen 688.
Fistelbehandlung 644.
Fraktur im Altertum 638.
— Behandlung 640.
— Blutzusammensetzung bei 639.
— Extensionsbehandlung 632. 681.
— intrauterine 150*.
Fußgelenkstuberkulose 698.
Fußgeschwulst 701.
G.
Geburtslähmung, doppelseitige 659.
Gehgipsverband 634.
Gelenke, Brüche 642.
— Deformitäten, angeborene 563*.
— eigentümlicher Prozeß 134*.
Gelenkerkrankung und Muskelatrophie
653.
Gelenkflächeninkongruenz 653. 654.
Gelenkneurosen, traumatische 669.
Gelenkplotnbierung 648.
Gelenkrheumatismus, deformans 654.
— infantiler 654.
— tuberkulöser 654. 655. 670. 671.
Gelenkstützapparate 630.
Gelenkwunden, Heilung 172*.
Genu recurvatum 602*.
— valgum 696.
Digitized by LjOOQle
712
Suchregister.
Genu varum 696.
Geachwulstdiiignose 649.
Gipsverband 633.
U.
Hackenfuß nach Spitzfuß 706.
Hallux valgus 706.
— varus 706.
Halsrippen 675.
Hämatomyelie 660.
Hammerzehe 706. 707.
Hämophilie 662.
Hand, künstliche 632.
Handgelenkstuberkulose 686.
Heißluftbehandlung 664.
Hochgebirgsbehandlung der Tuber¬
kulose 675.
Hüftgelenkentzündung s. Coxitis.
Hüftgelenkerkrankungen, Diagnose der
688 .
Hüftgelenkresektion 693.
Hüftpfannenbruch 692.
Hüftverrenkung s. a. Luxatio coxae.
— alte traumatische 287*.
Humerusbruch, suprakondylärer 684.
Hydrops genu traumaticus 696.
Hyperämie, passive 664.
Hypertrophie, angeborene 656.
I.
Intermediärknorpeldurchschneidung
117 ^
Intrauterine Fraktur 150*.
Jschiadikuslähmung, traumatische 691.
K.
Klumpfuß, angeborener 557*.
— Behandlung 704. 705.
Kniegelenksentzündung 695.
Kniegelenksluxation 695.
Knochencyste 648.
Knochendefektersatz 645.
Knochen, eigentümlicher Prozeß 134*.
Knochenkrankheiten 628.
Knochenplastik 645.
Knochenplombierung 642.
Knorpelwundenheilung 172*.
Kompressionslähmung, subkutane 659.
Kongenitales Femursarkom 649.
Krankengeschichten, chirurgische 629.
Krüppelfürsorge 344*.
— in Amerika 389.
— in Deutschland 323*.
— und Kurpfuscherei 371*.
— in Oesterreich 375*.
— in St. Petersburg 401*.
L.
Lähmungen, orthopädisch-chirurgische
Behandlung 652.
Lumbalanästhesie 663.
Luxatio carpi 687.
— coxae congenita, blutige Einrenkung
212 *.
-Ischiadikuslähmung nach 691.
-— Mißbildungen und 31*.
-— Pathologie 252*.
-Pathologie und Therapie441*.
— -Späterscheinungen 277*.
-Vererbung 596*.
-unblutige Behandlung 690.
- spontane 692.
-traumatica beim Kind 692.
— genu congenita 697.
— metatarsi 700.
M.
Madelungsche Deformität 686.
Mammadefekt, angeborener 657.
Marmoreksches Serum 672.
Massage 667.
Mikronielie 636.
Militärtauglichkeit 630.
Mißbildungen, kongenitale 81*. 656.
657. 668. 687.
Mittelfußbrüche, indirekte 699.
Muskelangiom 650.
Muskelatrophie bei Gelenkkrankheiten
653.
— progressive 661.
Muskeldefekt, angeborener 657. 668.
Muskelsarkom 650.
Muskelwirkung 94*.
Myositis ossificans traumatica 106*. 650
651.
Myotonie, erworbene 661.
N.
Narben, schmale 662.
Narbenkontrakturen der Hand 687.
Digitized by c^ooQle
.Sachregister.
71B
.Naviculare tarsi, Brach des 700.
-- Erkrankung *701.
Nervenregeneration r»52.
Neurinkainpsifl 651.
' ' 0 . ■ * ■
Oberschenkelbriiche 693.
Operi^tion, Nachbehandlung 62S.
Operationstisch (Bade) 233*. 632.
Orthopädie, Aufgaben der 629.
Orthopädische Technik 631.
Osteoarthritis 654.
— traumatica 667.
O.steomalacie 635.
Osteomyelitis, Wachstumsstörung nach
647.
Osteopsathyrosis 637.
Ostitis fibrosa 122’*. 648.
— tuberculosa 670.
P.
Paraesthesia intermittens 661.
Parathyreoidektomie 636.
Partieller Riesenwuchs 687.
Patellarreflex, Fehlen des 660.
Pektoralisdefekt, angeborener 657.
Periosttransplantation 646.
Phlegmasia coerulea dolens 665.
Plantamervenstreckung 704.
Plattfuß, Gl eich sehe Operation 702.
— entzündlicher 703.
— Stauungshyperämie bei 704.
— traumatischer 304*.
Poliomyelitis, Behandlung 652.
Polyarthritis 654.
Pseudarthrose 641.
Pseudohypertrophia musculorum 661.
Punktion von Abszessen 674.
R.
Radialislähmung nach Oberarmbruch
659.
Radiodermatiiis 665.
Radiusluxation 685.
Radiusfrakturen 685.
Radiusmißbildungen 686.
Rhachitis, Pathogenese 634.
— und Skoliose 676.
— Spät- 634.
Rheumatismus tuberculosus 654. 671.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie.
Riesenwehs,^ partieller 687.
Röntgentechnik 665.
... s. ■ ;
Sandwaisserbäder 667. ' ,
Sarkom des Femur, kongenitales 649.
— naph Fibulabruch 649.
— der Skapula 649.
Sarkomatose, multiple 122*.
Saugbeh and lang 664.
Scharlachrotsalbe 663.
Schenkelhalstuberkulose, Operation der
581*.
Schenkelhalsbruch, Naht bei 692.
Schiefhals, Behandlung 589*. [
— Schädelasymmetrie 675.
Schienenhülsenstreckverbände 192*.
Schlatt er sehe Krankheit 697.
Schlüssßlbeinbruch 680.
Schnellaufnahmen, chirurgische 665.
Schule und Sport 630.
Schulterblatt, Exstirpation 680.
— Hochstand, angeborener 680.
Schaltergelenkluxation, doppelseitige
681.
— habituelle 681.
Sehnentransplantation 670.
Serratuslähmung 662.
Skoliose bei Assimilationswirbeln 68*.
— Behandlung 677.
— Behandlungsresultate 57*.
— Berufs- 90*.
— Ernährungsstörung bei 676.
— Lockerungs verfahren bei 317*.
— und Rhachitis 676.
— Schwedische Gymnastik 317*.
Sonnenbäder 675.
Spastische Lähmungen, Behandlung
203*.
Spätrhachitis 634.
Spina ventosa der langen Knochen 671.
Spitzfuß 706.
Spondylitis, Behandlung 433*.
— cervikale 677.
— latente 678.
— und Trommelschlegelfinger 679.
Spondylolisthesis 679.
Sport und Schule 630.
— Geschichte 630.
Stovain 663.
T.
Tabische Arthropathie 699.
Talusluxation, isolierte 699.
XXII. Bd. 46
Digitized by L^ooQle
714
Saahregister.
Tenotomie des lleoiMoas 670.
Tibia recurvata 602*.
Tortikollis s. Schiefhals.
Traktionsbehandlung 631.
Trokart, neuer 674.
Trommelschlegelfinger bei Spondylitis
679.
Trommlerlähmung 651.
Tuberkulin 673.
Tuberkulose der Diaphysen 671.
— Serumbehandlung 673.
— Sonnenbehandlung 675.
U.
Ulnabruch 685.
Ulnaluxation 685.
Untere Extrefmität, Deformitäten 1*31*.
Unterschenkelbrache 697.
W.
Wachstumshemmung durch Parathy-
reoidektomie 636.
Wirbelsäulenverletzungen 666. 668.
Wirbeltuberkulose, latente 678.
Wismutinjektion bei Fisteln 644.
Z.
Zehenkontrakturen 706.
Zwergwuchs durch Schädeltrauma 63a.
IP 4 p - ^
Digitized by L^ooQle
Digitized by
Digitized by
Digitized by
Digitized by