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Full text of "Zeitschrift Für Orthopädische Chirurgie Einschließlich Der Heilgymnastik Und Massage 22.1908 UC"

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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 
SAN FRANCISCO MEDICAL CENTER 
LIBRARY 


EX LIBRIS 


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^ZEITSCHRIFT 

FÜR 

ORTHOPÄDISCHE CHIRURGIE 

EINSCHLIESSLICH DER 

HEILGYMNASTIK UND MASSAGE 

BEGRÜNDET VON 

ALBERT HOFFA. 


UNTER MITWIRKUNG VON 

Dr. G. DREHMANN in Bre«lau, Prof. Dr. C. HELBING in Berlin, Prof. 
Dr. L. HEUSNER in Bannen, Dr. H. KRUKENBERG in Elberfeld, Prof. 
Dr. F. LANGE in München, Prof. Dr. A. LORENZ in Wien, Sanitäterat 
Dr. A. SCHANZ in Dresden, Privatdoz. Dr. W, SCHULTHESS in Zürich, 
Privatdoz. Dr. H. SPITZT in Graz, Prof. Dr. 0. VULPIUS in Heidelberg, 
Privatdoz. Dr. G. A. WOLLENBERG in Berlin 

HERAUSGEGEBEN VON 

DR- G. JOACHIMSTHAL. 

a. 0. PROFESSOR AN DER ÜNIVERSIT.ÄT UND DIREKTOR DER UNIVERSIT.ATS- 
POLIKLINIK FÜR ORTHOPÄDISCHE CHIRURUIE IN BERLIN. 


XXII. BAND. 


MIT 315 IN DEN TEXT GEDRUCKTEN ABBILDUNGEN. 



STUTTGART. 

VERLAG VON FERDINAND ENKE. 

1908. 


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Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart. 


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1 










Inhalt, 


Seite 


I. Ferd. Schnitze: Zur Behandlung der Deformitäten der unteren 

Extremität. Mit 35 Abbildungen. 1 

n. Georg Joachimsthal: Die angeborene Hüftverrenkung als Teil- 
erscheini^ng anderer angeborener Anomalien. Mit 89 Abbildungen 31 

III. A. Schanz: Korrektionsresultate an schweren Skoliosen. Mit 

21 Abbildungen. 57 

IV. E. Gramer: Ueber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen 

Assimilationswirbeln. Mit 15 Abbildungen ..68 

V. - Wilhelm Schultheß:* Ueber eine Form von Berufsskoliose. Mit 

1 Abbildung.90 

VI. Otto Fischer: Ueber die Wirkung der Muskeln.94 

VII. W. Böcker: Zur Frage der Entstehung uhd Behandlung der 

Myositis ossificans traumatica. Mit 4 Abbildungen.106 


VIII. J. Riedinger: Ueber Veränderungen an Kaninchenextremitäten 

nach Darcbscbneidung des Intermediärknorpels. Mit 2 Abbildungen 117 
IX. Robert Werndorff: Zur Frage der multiplen Sarkomatose des 
jugendlichen Knochens und der Ostitis fibrosa-Recklinghausen. Mit 


5 Abbildungen.122 

X. Rudolf Ritter v. Aberle: Ueber einen eigentümlichen Knochen- 

und Gelenkprozeß. Mit 6 Abbildungen.134 

XF. J. G. Chrysospathes: Beitrag zu den intrauterin entstehenden 

Frakturen resp. Knochenverbiegungen. Mit 5 Abbildungen . . 150 

XII. K. Gramer: Ueber Heilung von Wunden jdes Gelenkknorpels. 

Mit 7 Abbildungen.172 

XIII. Karl Evler:- Ueber die Verwendbarkeit des Chromleders zu ortho¬ 

pädischen Apparaten, insbesondere zu Schienenhülsenstreckver¬ 
bänden, welche dem Körper ünniittelbar an- und nachzupassen 
sind. Mit 7 Abbildungen.192 

XIV. 0. Förster: Ueber eine neue operative Methode der Behandlung 

spastischer Lähmungen mittels Resektion hinterer Rückenmarks¬ 
wurzeln .203 

XV. Peter Bade: Zur Technik der Arthrodesenoperation .... 224 

XVI. Peter Bade: Der orthopädische Operationstisch im hannover¬ 
schen Erüppelbeim Anna-Stift. Mit 14 Abbildungen.283 

XVII. H. Gocht: Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen aus 

dem Bereiche des kongenital verrenkten Hüftgelenks. Mit 15 Ab¬ 
bildungen .252 


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4 7 . ' • 















IV 


Inhalt. 


Seite 


XVIII. K. Ludloff, Zur blutigen Einrenkung der angeborenen Hüft* 

luxation. Mit 2 Abbildungen.272 

XIX. Froelich: Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverren¬ 
kungen werden kann.277 

XX. Adolf Lorenz: Grundsätze der Behandlung veralteter traumati¬ 
scher Hüitgelenksverrenkungen. Mit 4 Abbildungen.287 

XXL Carl Deutschländer: Zur Frage des traumatischen Plattfußes. 

Mit 7 Abbildungen.304 

XXII. V. Chlumsky: lieber den schlechten Einfluß der schwedischen 
Gymnastik und ähnlicher Lockerungsverfahren auf die Skoliose. 

Mit 3 Abbildungen ..317 

XXIII. K. Biesalski: Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in 

Deutschland.323 

XXIV. Leonhard Rosenfeld: Rationelle Hilfe in der KrUppelfürsorge 344 

XXV. Arnold Wittek: Bandagistenkurpfuscherei und Krüppelfürsorge 371 

XXVI. Rudolf Ritter v. Aberle: lieber Krüppelfürsorge in Oester¬ 
reich-Ungarn .875 

XXVII. Robert W. Lovett: Krüppelfüi-sorge in den Vereinigten Staaten 

von Amerika.389 

XXVIII. Izabella Czarnomska: Bericht über das 10jährige Bestehen 
der „Werkstatt für Krüppel an der orthopädischen Abteilung der 
Maximilian-Heilanstalt“ in St. Petersburg (Direktor: Prof.Wellia- 

m in off). Mit 22 Abbildungen.401 

XXIX. S. Kofmann: Die Erfahrungen über die Behandlung des spondy- 

litischen Buckels nach Calot. Mit 2 Abbildungen.433 

XXX. Michael Horvath: Beiträge zur Pathologie und Therapie der 

angeborenen Hüftverrenkung. Mit 81 Abbildungen.441 

XXXI. W. Röpke: Angeborener Klumpfuß, entstanden durch Einwirkung 

amniotischer Fäden. Mit 2 Abbildungen.557 

XXXII. Max Meyer: Ueber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten. 

Mit 4 Abbildungen.563 

XXXIII. Henning Waldenström: Die operative Behandlung von Tuber¬ 
kulose im Schenkelhals. Mit 2 Abbildungen.581 

XXXIV. 0. V. Frisch: Zur Frage der Therapie des angeborenen Schief¬ 
halses .589 

XXXV. Paul Glaessner: Ein Beitrag zur Frage der Vererbung der an¬ 
geborenen Hüftgelenksverrenkung.596 

XXXVI. Siegfried Peltesohn: Zur Aetiologie und Pathologie des Genu 

recurvatum und der Tibia recurvata. Mit 10 Abbildungen . . 602 

Referate.628 

Berichtigung. 707 

Autorenregister.709 

Sachregister. ...711 


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I. 


Znr Behandlnng der Deformitäten der unteren 
Extremität'). 

Von 

Prof. Dr. Ferd. Schultze-Duisburg, 

Chirurg. Oberarzt am St. Vipzenz-Hospital. 

Mit 35 Abbildungen. 

Die drei unblutigen Operationstypen in der Chirurgie sind die 
Osteoklase, das Brisement force und das Redressement force. Alle 
drei Methoden haben eins gemeinsam, sie erstreben die Korrektur 
von Deformitäten. 

Das Brisement und Redressement sind verwandte Ausdrücke, 
welche sich fast decken. Mit Rücksicht darauf dürfte eine Verein¬ 
fachung der Nomenklatur berechtigt sein. Somit möchte ich den 
Vorschlag machen, das Briseraent auszuschalten und durch Redresse¬ 
ment — das Geraderichten — zu ersetzen. Wir werden dann nur 
zwei unblutige Operationstypen zu unterscheiden haben, die Osteoklase 
und das Redressement. 

Vor Beginn der antiseptischen Aera wurden diese Methoden 
nicht geübt. In dieser früher gelegenen Zeitperiode suchte man 
durch Apparatotherapie die Korrektur der Deformitäten zu erreichen. 
Die in dem Sinne konstruierten Apparate, Reduktionsapparate ge¬ 
nannt, waren dazu bestimmt, durch allmähliche Geraderichtung im 
Laufe von Monaten und Jahren die Heilung einer Deformität zu 
erreichen. Trotz der verbesserten Operationsmethoden sind die 
Anhänger der Reduktionsapparate noch nicht vom Plan verschwun¬ 
den und treten sogar dort auf, wo wir unter Ausnutzung unserer 
modernen anerkannten Hilfsmittel rascher und sicherer zum Ziel 
gelangen. So empfahl Guradze-Wiesbaden auf der Stuttgarter 

*) Lichtbildervortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Ge¬ 
sellschaft für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 1 


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2 


Ferd. Schultze. 


Naturforscherversammlung 1906 die Schienenhülsenapparate zur Be¬ 
handlung des Genu valgum. In derselben Weise plädierte jüngst 
Lange-München für eine Behandlung des Genu valgum mit Wider¬ 
standsgymnastik und Reduktionsapparaten. 

Im allgemeinen jedoch dürfen wir wohl behaupten, daß den 
Reduktionsapparaten eine immer engere Grenze gezogen wurde, daß 
die Indikation von Guradze und die von Lange zu den Ausnahmen 
gehören. Lange motiviert seine Rückkehr zu dem Reduktionsapparat, 
resp. zu einer mit mediko-mechanischen üebungen verbundenen Be¬ 
handlung durch die vielen beobachteten Rezidive. 

Nachdem ich die von Lange gehandhabte Methode als Rück¬ 
schritt bezeichnete und die unblutige resp. blutige Operation emp¬ 
fahl, als die Methode der Wahl, äußert sich Lange dahin, daß er 
diese bereits hinter sich habe. 

Meine Herren! Wenn dies der Fall ist, und Lange war nicht 
mit seinen Resultaten zufrieden, so möchte ich glauben, daß er keine 
genügenden üeberkorrekturen gemacht hat, ein erstes Erfordernis 
zur Erlangung eines guten Resultates bei allen Deformitäten. 

Bestärkt wurde ich in dieser Auffassung durch die letzte 
Mitteilung Langes über Klumpfußbehandlung. Die jüngst im Archiv 
für Orthopädie erschienene Arbeit enthält eine größere Anzahl von 
Abbildungen. Die Mehrzahl der dort abgebildeten Klumpfu߬ 
korrekturen habe ich als Vollkorrekturen nicht bezeichnen können. 

Unsere Stellung zur Therapie mittels Reduktionsapparaten soll 
eine sehr reservierte sein. Nur für Ausnahmefälle ist dieser Apparat 
zu bestimmen. Dies hindert uns nicht, voll und ganz das anzu¬ 
erkennen, was die Technik in früheren Jahren nach dieser Richtung 
hin geleistet hat. Die vielen vorzüglichen Konstruktionen verschwin¬ 
den deshalb doch nicht vom Schauplatz orthopädisch-chirurgischer 
Wissenschaft, es wird ihnen nur eine andere Indikation zudiktiert, 
aus den Reduktionsapparaten werden Retentionsapparate. Dieselben 
werden die Aufgabe übernehmen, das Resultat, welches wir durch 
die unblutigen Operationen gewonnen haben, festzuhalten. Es soll 
keineswegs verkannt werden, daß die Reduktionsapparate, in voll¬ 
wertiger Form angewandt, Gutes geleistet haben. Einen engeren 
Indikationskreis zu ziehen, ist jedoch unsere Aufgabe, sobald wir 
in der Lage sind, durch einfachere und sicherere Maßnahmen in kür¬ 
zerer Zeit eine Heilung herbeizuführen. Die moderne Richtung, 
allenthalben orthopädische Werkstätten einzurichten, wirkt nach einer 


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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 3 

Seite hin nicht segensreich, es werden noch viel zu viel Apparate 
verordnet. Ich halte dies für einen Mißstand und kann die Not¬ 
wendigkeit derartiger Einrichtungen in dem gegenwärtigen Umfange 
nicht anerkennen. Da wo sie zur Verbilligung beitragen, so bei 
großen Krankenanstalten, sind sie indiziert. 

Im übrigen glaube ich, daß man mit einem gut geschulten 
Bandagisten voll und ganz das erreicht, was in der eigenen Werk¬ 
stätte fabriziert wird. Eins muß man vom Arzt verlangen, ein 
volles Verständnis für die Anfertigung und Konstruktion von Appa¬ 
raten. Ich gebe zu, daß es schwierig ist, konstruktionsgerechte 
Reduktionsapparate herzustellen. Diese verlangen eine volle Ein- und 
Umsicht des Arztes, um den vielseitigen technischen Anforderungen 
gerecht zu werden. Der Retentionsapparat jedoch ist wesentlich 
einfacher, weil er der korrigierten normalen Form entspricht und 
nur fixieren und nicht korrigieren soll. 

Der Bandagist soll nur nach Angabe des Arztes arbeiten. 
Ein selbständiges Verordnen von Apparaten ist absolut zu verwerfen. 
Wie auch heute noch auf diesem Gebiete indikationslos gearbeitet 
wird, konnte ich bei einem Patienten beobachten, welcher von Hessing 
wegen eines paralytischen Klumpfußes behandelt worden war. Eine 
Korrektur des Klumpfußes war nicht erreicht, trotz einer einjährigen 
stationären Behandlung. Der Patient, im Besitz einer genügenden 
Muskelkraft, sowohl im Unter- als im Oberschenkel, war nicht da¬ 
von zu überzeugen, daß er auch ohne seinen, das ganze Bein um¬ 
fassenden Apparat über einen guten Gang verfügen würde. Dies 
war durch die Untersuchung des nunmehr 40jährigen Patienten 
nachgewiesen. Sicherlich würde nach erreichter Vollkorrektur des 
Fußes, welche leicht auszuführen wäre, die Leistungsfähigkeit nicht 
unwesentlich erhöht worden sein. Dieser Fall war charakteristisch 
für die nicht sachgemäße, sondern schematisch laienhafte Beurteilung 
derartiger Krankheitsfälle, und für die schematische Verordnung 
von Schienenhülsenapparaten. 

Das Verdienst Hessings in der Konstruktion seiner technisch 
vollendeten Stützapparate soll voll und ganz gewürdigt werden. 
Nach diesem vorliegenden Fall beurteilt, ist Hessing ein Kurpfuscher 
auf dem Gebiete d^r Orthopädie, welcher unendlich viel Schaden 
anrichtet. Letzteres um so mehr, je mehr er dem Krüppel nach¬ 
jagt, bald in dieser, bald in jener Zentrale. In Bad Kissingen wird 
wohl kaum ein Patient sein, der, wenn er nur Miene macht eine 


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4 


Ferd. Schultze. 


Deformität der Extremität zu verraten, nicht Gefahr läuft, ein Opfer 
der Apparatotherapie zu werden. 

Vollends ist es geradezu als grober Unfug zu bezeichnen, wenn 
erstklassige Firmen, wie es bei uns im Rheinland der Fall ist, es 
unternehmen, ohne Bestimmung des Arztes Korsette, Beinschienen 
und Klumpfußschienen zu verordnen, wie ich dies wiederholt er¬ 
fahren habe. 

Je weniger Apparate wir verordnen, desto mehr haben wir 
geleistet. In der Beschränkung zeigt sich hier der Meister. Unser 
Streben muß dahin gehen, uns tunlichst von den Apparaten los¬ 
zusagen, so lehren es die Fortschritte auf dem Gebiete der Lähmungen. 
Die Reduktionsapparate können wir voll und ganz bei Behandlung 
der Deformitäten der unteren Extremität entbehren. Als besseren 
Ersatz haben wir dafür die zwei unblutigen Operationsmethoden 
eingestellt, Redressement forcö und die Osteoklase. 

Unter Redressement verstehen wir das Geraderichten einer nicht 
normalen Stellung im Gelenkbezirk. Die Osteoklase bedeutet ein 
Zerbrechen der Knochen ohne blutigen Eingriff. 

Diese therapeutischen Maßnahmen können nun manuell und 
maschinell vorgenommen werden. Gerade im Laufe der letzten 
Jahre hat sich allenthalben das Bestreben bemerkbar gemacht, die 
manuelle Therapie einzuschränken und durch die maschinelle zu er¬ 
setzen. Die Gesichtspunkte, bestimmend für diese Bestrebungen, 
waren die Präzision, die Sicherheit und die größere Leistungsfähig¬ 
keit der Maschine. Der geschickteste Handgriff“ und die andauerndste 
exakteste Assistenz sind nicht in der Lage, mit der Maschine zu kon¬ 
kurrieren. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Fixation durch die 
eigene Hand oder durch die des Assistenten sehr viel zu wünschen 
übrig läßt, oder überhaupt nicht in der gewünschten präzisen Form 
ausführbar ist. Da finden wir eine willkommene Unterstützung in 
der Maschine, welche nicht allein als Fixations-, sondern auch als 
Präzisionsapparat arbeitet. 

Für die Ausführung der in Frage stehenden Methoden ist von 
größter Wichtigkeit die absolute Mobilisation des betreffenden Gliedes. 
Letztere muß eben so ausgiebig gemacht sein, daß der stets anzu¬ 
wendende Gips- oder Schienenverband nur als Retentionsapparat zu 
betrachten ist, welcher die durch die Operation gegebene Stellung 
aufrecht erhält. Also eine Korrektur soll nicht durch den Kontentiv- 
verband bewirkt werden, letzterer darf nur die erreichte Korrektur 


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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 5 

stützen, er soll einen nach jeder Richtung genügend mobilisierten 
Körperteil fesseln. 

Unter Würdigung dieser Gesichtspunkte sind eine große An¬ 
zahl von Deformitäten sowohl der oberen als auch der unteren Ex¬ 
tremität zu behandeln. Eine bestimmte Auswahl ist zu treffen. Die 
Indikation für blutige und unblutige Behandlung ist eingehend zu 
erwägen. Eine genaue Grenze läßt sich nicht ziehen. Abgesehen 
davon, da*ß stets von Fall zu Fall entschieden werden muß, dürfte 
man daran festhalten, daß vorwiegend im L Dezennium der größte 
Indikationskreis für die unblutige Behandlung der Deformitäten liegt. 
Auch hier gibt es Ausnahmen. Jenseits des II. Dezenniums ist die 
blutige Behandlung vorherrschend, hier wird die unblutige Me¬ 
thode zu den Ausnahmen gehören. Eine besondere Stellung nehmen 
nun nach meiner Auffassung die Klumpfüße und Plattfüße ein. 
Diese Deformitäten sind ausnahmslos für die unblutige Behandlung 
reserviert. 

Wir haben nun mehrere Apparate konstruiert, welche eine 
maschinelle Bearbeitung der verschiedenen Deformitäten gestatten. 
Ohne auf die vielen Konstruktionen näher einzugehen, will ich 
doch die wirksamsten Apparate kurz erwähnen, das sind die Kon¬ 
struktionen von Lorenz, Hoffa-Stille, Graff, ferner die Kon¬ 
struktion von Heusner, welche den vielseitigsten Charakter hat. 
Die Methode von Do Hing er war bisher bei der Korrektur der 
Coxitis maßgebend. 

Die Besprechungen über die Behandlung einzelner Deformitäten 
erfolgt am besten an der Hand der zu diesem Zwecke konstruierten 
Apparate. Die systematische Gruppierung der Deformitäten würde 
zu Wiederholungen führen. 

Beginnen wir mit dem Beckenfixator. Die Konstruktion des¬ 
selben ist eine sehr einfache. Auf einem kleinen Brett 30 : 60 cm 
findet man am unteren Pol einen im Schlitten verschiebbaren Hebel, 
welcher einen auf einer Platte montierten Riemen in T-Bindenform 
trägt. Der Patient wird so aufgelegt, daß die T-Binde geschlossen 
werden kann. Durch einen an der T-Binde angebrachten Zug wird 
das Becken in der Weise festgelegt, daß eine Drehung um jede 
Achse ausgeschaltet wird. Letzterer Zug wird reguliert durch eine 
endwärts unterhalb des Brettes angebrachte Welle. Die Schlitten¬ 
führung des Hebels ermöglicht, das betreffende Hüftgelenk frei nach 
außen zu bringen, so daß es nach allen Seiten bewegt werden kann. 


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6 


Ferd. Schultze. 


Fig. 1. 



Erst erfolgt das Anlegen der T-Binde, dann die Einstellung des 
Schlittens und zum Schluß das Anziehen der Welle. 

Sie sehen hier den Beckenfixator (Fig. 1), welcher auf jedem 
Tisch angebracht werden kann. Auf dem Bild (Fig. 2) erblickt 


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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 


7 


man eine im Apparat fixierte Flexionskontraktur der Hüfte, korri¬ 
giert durch langsames schonendes Redressement (Fig. 3). Dem letzten 
Bilde entnehmen Sie die volle Korrektur, welche durch die in der¬ 
selben Ebene ruhenden Extremitäten charakterisiert ist. 

Unter extremer Flexion der gesunden Hüfte wird das Becken 
im Fixator gefesselt. Alsdann kommt die pathologische Stellung 
präzise zum Ausdruck. Durch langsam sich steigernde Mobilisation 
wird die Korrektur erledigt, welche vollendet ist, wenn beide Beine 


Fig. 3. 



in gleicher Höhe herabhängen. Dies erreicht man auch unter schwie¬ 
rigen Verhältnissen in relativ kurzer Zeit. Nach vollendeter Korrektur 
wird ein Kontentivverband angelegt. 

Auch bei Luxationen der Hüfte, der Luxatio congenita, Luxatio 
paralytica, Luxatio destructiva, findet man durch die Fixation des 
Beckens eine vorzügliche Stütze. Der Apparat gestattet bei Fixa¬ 
tion des Beckens eine volle Exkursion des Hüftgelenks. Für das 
Einrenkungsmanöver ist dies von einer nicht zu unterschätzenden 
Bedeutung. 

Fig. 4 präsentiert das Bild einer Luxatio coxae paralytica in- 
frapubica dextra, kompliziert mit Luxatio coxae sin. und ausgedehnter 
Lähmung des rechten Beines mit hochgradiger Spitzfußstellung; links 
besteht außerdem ein Klumpfuß. Bei dem 17jährigen Mädchen ge- 


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8 


Ferd. Schultze. 


lang die unblutige Einrenkung der rechten Hüfte mit günstigen^ 
Dauerresultat. Erwähnt sei noch, daß die Arthrodese des rechten 
Kniegelenks, die Korrektur des rechten Spitzfußes, sowie die des 
linken Klumpfußes alles in einer Sitzung, zugleich mit der Einrenkung 
der paralytischen Luxation erfolgte. Nach IV^stündiger Arbeit 
waren die sämtlichen Pathologien beseitigt. Fig. 5 zeigt Ihnen die 
Korrektur der von ihren Krücken befreiten Patientin. 


Fig. 4. 



Nicht unerwähnt lassen möchte ich einen Fall von Destruktions¬ 
luxation, einen Fall von Pfannenwanderung auf tuberkulöser Basi» 
(Fig. 6). Das Röntgenbild (Fig. 7) zeigt Ihnen deutlich, wie der 
Kopf seine Pfanne verlassen hat. Nicht durch Extension wurde die- 
Behandlung vorgenommen, sondern durch rechtwinkelige Stellung: 


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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 


9 


der Hüfte in Abduktion und Hyperextension des Gelenks (Fig. 8a); 
Patient konnte nach 10 Monaten geheilt entlassen werden (Fig. 9). 
Die Heilung des Hüftgelenks präsentiert sich auf dem Bilde Fig. 7 b. 

Durch die Verbindung der Extension mit dem Beckenfixator 
wird die Indikation des letzteren wesentlich erweitert. Die Ex¬ 
tension muß so eingerichtet Averden, daß sie zugleich jede Exkursion 
des Hüftgelenks gestattet. Zu dem Zwecke verbinde ich ein Eisen- 


Fig. 6. 



rohr mit dem Beckenfixator und zwar so, daß dessen einfach ge¬ 
arbeitetes Kugelgelenk in Hohe des Hüftgelenks sich befindet. Am 
Ende ist ein Extensionsschloß angebracht, welches in Verbindung 
mit der Extensionsgamasche den Zug des Beines vermittelt. 

Von dieser Verbindung des Beckenfixators mit der Extension 
kann man erfolgreich bei Kontrakturen und Luxationen Gebrauch 
machen, wie dies der ganzen Konstruktion leicht zu entnehmen ist. 
Hinweisen will ich nur auf die Vorzüge bei Behandlung der kon¬ 
genitalen Luxation. Hier kann beim Redressionsmanöver bei jeder 


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10 


Ferd. Schultze. 


Stellung des Gelenks — Abduktion, Adduktion, Rotation — die 
Extension wahrgenommen werden (Fig. 10, 11, 12). 

Nicht allein bei Korrekturen der Hüfte, sondern auch bei 
solchen des Femur leistet uns der Beckenfixator in Verbindung mit 
der Extension besondere Dienste. Hierhin gehören die Femora vara 
rhachitica mit den verschiedensten Formen. Die Korrektur vollzieht 

Fi?. 7 



sich unter horizontaler Extension und Abduktion im Beckenfixator. 
Zwei Seitenzüge bewirken die Korrektur der Deformität z. B. im 
oberen Drittel, von denen der wirksame auf den Kulminations¬ 
punkt eingestellt, angezogen wird, wohingegen der andere, direkt 
unterhalb des ersten, angelegte Zug das Femur fixiert. Umgekehrt 
ist die Anordnung der Züge bei Korrektur des Genu valgum, hier 
ist der untere der wirksame und der obere der Fixationszug. Alle 
diese Eingriffe erfolgen unter Ausnutzung des Beckenfixators (Fig. 13). 

Bei diesem Manöver ruht die Hand des Operateurs stets auf der 
Stelle, welche korrigiert werden soll. Das Kommando „Halt!“ er¬ 
folgt, wenn sich durch das stets fühlbare Einknicken die Korrektur 
vollzogen hat. 


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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 


11 


Wir kommen nun zu einem zweiten Apparat, das ist der von 
mir so benannte elastische „Osteoklast I“ (Fig. 14). 

Die Konstruktion deckt sich im Prinzip mit der Mehrzahl der 
bisherigen Konstruktionen, Lorenz, Hoffa-Stille, Heusner. 
Der Unterschied besteht nur darin, daß in erster Linie die Presse 
eine vielseitige Einstellung des betreflfenden Körperteils, auch des 


Kig. 7 a. 



kleinsten, gestattet. Dies wird möglich durch die Pelotten mit einer 
selbständigen Führung. Dadurch wird einerseits ein Druckpunkt 
in verschiedenen Ebenen erreicht, anderseits eine Verstärkung der 
Einstellung und zwar eines bestimmten Teiles des in der Presse 
befindlichen Gliedes. — Die Konstruktion ist folgende: 

Zwei galgenförmig gebaute eiserne Stative tragen drei Schrauben, 
jede mit selbständiger Führung. An jeder Schraube findet sich 
eine Pelotte, welche nach der Mitte und nach oben hin ihre Ex¬ 
kursionsfähigkeit besitzt. Außerdem gestattet eines der galgen¬ 
förmigen Stative noch eine parallele Exkursion, so daß die Pelotten 
eine wechselständige Stellung einnehmen können. Montiert ist das 
Ganze auf einem festen Eichenbrett; seitwärts wird es mittels Klauen 


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n 


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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 


13 


an den Tisch befestigt. Die ausführende Kraft besorgt eine kleine 
Welle mit Zahnrad und Sperrhaken (Knarre), ein Hanfseil mit Leder¬ 
riemen vermittelt den Zug. Um dies nun wirksam machen zu 


Fig. 10. 



können, habe ich ein 1 m langes Brett quer vor der Fußpresse fest¬ 
gelegt. Am äußersten Ende, rechts oder links, ist die Welle (Knarre) 
durch eine Klaue fixiert. Durch diese Einrichtung wird jeder Wider¬ 
stand allmählich schonend überwunden, es ist ein in kurzen Inter- 

Fig. 11. 



vallen rückwärts, vorwärts sich bewegender Zug, welcher Schüttel¬ 
bewegungen auslöst. Diese Einrichtung ist bei Beseitigung der 
Fußdeformitäten von einschneidender Bedeutung. Durch Vorschaltung 
des 1 m langen Brettes kann außerdem ein Schrägzug erreicht werden. 


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14 


Ferd. Schnitze. 



Fig. 12. 


Fig. 1.3. 



Diesem Apparat fällt die Korrektur der Beugekontraktur im Knie¬ 
gelenk, der Genua vara, Genua valga, des Pas varus und valgus zu, 
Zwecks Beseitigung einer Flexio genu ist Seitenlage erforderlich. 
Genu vara et valga werden entweder gebogen, geknickt oder ge¬ 
knackt, ebenso wie beim Oberschenkel. Die Einstellung des Kul¬ 
minationspunktes ist das wesentliche, üeberkorrektur wie überall 
ist auch hier besonders zu betonen (Fig. 15, 16). 

Der Pes varus ist ein für diesen Apparat besonders geeignetes 
Objekt, er gab mir die Veranlassung zu dieser Konstruktion. Diese 


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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 


15 


Fiflr. 14. 



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16 


Feld. Schultze. 


Deformität wird nun besonders eingestellt. Die Presse wirkt auf 
den Calcaneus und auf der anderen Seite auf den Buckel. Unter dieser 
Einstellung beginnt die Welle ihre Tätigkeit durch Schüttelbewegung. 
Es ist ganz erstaunlich, in welch kurzer Zeit sich hier die Korrektur 
der Adduktionsstellung vollzieht. Bei der Einstellung des Fußes 
in die Presse ist Eines zu beachten von größter Wichtigkeit, das 
ist die Rotation des Kniegelenks nach außen. Hat man die 
Adduktion des Fußes vermindert, so mindert man auch diese Rotation 
nach außen und geht allmählich zur Rotation nach innen über. So 
wird in kui*zer Sitzung die Adduktion beseitigt und der Fuß steht 
in Spitzfußstellung. Liegt der Fall nun so, daß wesentliche Wider¬ 
stände in der Planta vorhanden sind, so halte ich hier stets eine 
vorherige subkutane Tenotomie der Planta für notwendig. Gerade 
um die allerdings stets harmlos hingestellten Einrisse der Fußsohle — 
nach meiner Auffassung eine nicht wünschenswerte Zugabe — zu 
vermeiden. Macht man die subkutane Plantartenotomie, so ist die 
erwähnte Komplikation zu umgehen. Sollte jedoch trotzdem ein 
wesentlicher Riß der Fußsohle sich zeigen, so bin ich für die Fort¬ 
setzung der Korrektur in einer Sitzung, da sonst bei jeder erneuten 
Manipulation wieder die Fußsohle einzureißen pflegt. Geht die 
Korrektur der Adduktion ohne diesen unangenehmen Zwischenfall 
von statten, so begnüge ich mich mit der Spitzfußstellung in Ab¬ 
duktion. Es folgt dann noch eine 2. eventuell 3. Sitzung bis zur 
vollendeten Korrektur (Fig. 17, 18). Auf diese Weise wird man mit 
Sicherheit jedem Klumpfuß eine normale oder der Norm nahekommende 
Konfiguration geben können. Der Grundsatz bei der Behandlung des 
Pes varus muß lauten: Herstellung einer möglichst normalen Form 
und nicht Korrektur des Klumpfußes. Den Klumpfuß bis zu einer 
relativ günstigen Funktion zu korrigieren, ist also nicht unsere Auf¬ 
gabe, wir müssen die normale Form herzustellen suchen und dann 
auch die Funktion der Norm zuführen. Die Pedes vari des I. De¬ 
zenniums und vielleicht auch einzelne des II. Dezenniums sollen bei 
der Ausmusterung keine Veranlassung zur Ablehnung vom Militär¬ 
dienst geben. Die übrigen Patienten jenseits des II. Dezenniums 
sollen über einen guten, nicht mehr normwidrigen Gang verfügen. 

Nun, meine Herren, kommen wir zu einer dritten Konstruktion. 
Das ist der Osteoklast II, welchen ich schon wiederholt als Klump¬ 
fußosteoklasten demonstriert habe. Einzig und allein mit diesem 
Apparat läßt sich keine Korrektur vollenden, auch nicht ohne be- 


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Zur Behamllung der Deformitäten der unteren Extremität. 17 

stimmte Vorschriften. Das Maßgebende sind die Gummikissen, 
welche auch bei den oben erwähnten Apparaten als Polstermaterial 


Fig. 17. 



allein in Frage kommen dürften, hier aber als Conditio sine qua non 
zu betrachten sind. Dies ist deswegen zu betonen, weil gerade dieser 

Fig. 18. 



Apparat das manuelle und maschinelle Prinzip verbindet. Der Ope¬ 
rateur übernimmt stets die Führung des Fußes, er arbeitet nicht mit 
eigener Kraft, sondern läßt die Kraft durch den Osteoklasten ein wirken. 

Die Konstruktion ist folgende: zwei Bretter sind buchförmig 
durch Scharniere verbunden und gestatten Auf- und Niederklappen. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 2 


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18 


Ferd. Schultze. 


Das größere, Grundbrett genannt, mißt 30 : 80, das kleinere, Fu߬ 
brett genannt, 30 : 60. Diese Bretter sind am Fußende eines Ope¬ 
rationstisches angebracht, so daß die Scharniere am Fußende liegen. 
Am zentralen Ende des Grundbrettes findet sich eine Welle mit 
Zahnrad und Sperrhaken. Auf der Außenseite des Fußbrettes sind 
zwei Extensionsschlösser angebracht. Als Bandagen sind bestimmt 
eine Gamasche für den Unterschenkel, um zentrifugale Richtung 
zu unterstützen und ein Fersenzug, um zentripetale Richtung zu 
verhindern (Fig. 19, 20, 21, 22). 

Fig. 19. 



Fig. 20. 



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20 


Ferd. Schultze. 


Beim gewöhnlichen Klumpfuß benutze ich nun die Gamasche 
und erreiche damit eine erstklassige Gewalteinwirkung unter abso¬ 
luter Schonung des Skeletts. Angenommen, die volle Spitzstellung 



ist erreicht, so erfolgt nach 8 Tagen, wie dies gewöhnlich der Fall 
ist, die Korrektur im Osteoklasten II. Entsprechend der Spitzstellung 
wird das Fußbrett des Osteoklasten eingestellt (Fig. 20). Die Fu߬ 
sohle wird durch die Gamasche gegen das Fußbrett gezogen und 
zwar unter Führung der Hand des Operateurs (Fig. 21). Ist dies 
unter der notwendigen vielseitigen Polsterung erledigt, so beginnt 
die Tätigkeit des Operateurs dadurch, daß das Fußbrett zugeklappt 
wird und allmählich aus seiner stumpfwinkligen Stellung zur 
spitzwinkligen übergeht. Die Bewegungen werden wippend gemacht, 
unterstehen dem Kommando des Operateurs, welcher je nach der 
Gewalteinwirkung kommandiert. Die Hand des Operateurs führt 


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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 


21 


den Fuß, stellt jeden Widerstand ein und hält den Druck aus. Nur 
die Schlußkorrektur wird ohne Handführung erledigt. Man zieht 
dann die Hand langsam zurück, unter Wahrung einer korrekten 



Fußstellung und läßt für kurze Zeit die Gewalt wirken. Vorher 
hat man stets unter Kommando die sich bietenden Widerstände ein*- 
gestellt (Fig. 22). 

Der Apparat, sachgemäß angewandt, leistet das, was andere 
Konstruktionen bisher nicht zu leisten im stände waren, er bricht ^ 
jeden Widerstand unter größter Schonung (Fig. 23, 24, 25). 


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22 


Ferd. Schnitze. 


Ich demonstriere Ihnen hier die Korrektur eines 12jährigen 
Mädchens (Fig. 23, 23 a), welches in zwei Sitzungen behandelt wurde, 
sowie die eines Mannes von 30 bezw. 35 Jahren (Fig. 24, 24 a, 25, 25 a). 


Fig. 25 a. 



Die beiden letzten Fälle wurden in drei Sitzungen korrigiert, innerhalb 
eines Zeitraumes von 4 Wochen. Der 30jährige hat noch ca. 8 Wochen, 
der 35jährige nur 6 Wochen den Verband in Vollkorrekturstellung 
getragen, um mit Schuhen zur Ambulanz entlassen zu werden. 

Das folgende Bild zeigt Ihnen einen paralytischen Hohlfuß. 
Die Schwierigkeiten, welche sich gerade hier der Behandlung ent¬ 
gegenstellen, sind allgemein bekannt. Innerhalb eines Zeitraumes 


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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 


23 


Fig. 26. 



Fig. 27. 



von 3 Wochen vollzog sich auch hier vollständige Geraderichtung 
des Fußes. 

Die Tenotomie der Achillessehne resp. Verlängerung derselben 
beschließt die Korrektur, sowie ein gut gepolsterter Gipsverband. 
Patienten in den ersten Lebensmonaten werden ohne Narkose 
korrigiert. 


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24 


Ferd. Schultze, 


Der Gipsverband wird über Trikot angelegt. Letzteres dient 
als Zügel zur Korrektur. Ein im Verband fixiertes Heftpflaster 
geht auf den Oberschenkel über, um ein Ausziehen des Gipsstiefels 
zu vermeiden. 

Bei Erwachsenen ist in einer resp. drei Sitzungen die Korrek¬ 
tur erledigt, wohingegen bei kleinen Kindern nicht selten eine 
wiederholte Korrektur notwendig ist. Die Intervalle zwischen den 
einzelnen Korrekturen sollen 8—10 Tage nicht überschreiten. 

Das rechtwinklige Brett (Fig. 26, 27) leistet bei der Anlage 
des Gipsverbandes gute Dienste, um während Erstarrens des Gips¬ 
verbandes die Kraftleistung zu übernehmen. 

Der letzte Apparat ist der Plattfußosteoklast (Fig. 28), Dieser dient 
zur Korrektur des Plattfußes, welche manuell nicht so vollendet zu 

Fig. 28. 



erreichen ist. Auch hier ist die manuelle und maschinelle Methode 
vereint. Die Konstruktion ist sehr einfach. Sie entspricht genau 
dem Modell des Osteoklasten II; nur das Fußbrett ist verändert und 
trägt an seiner Basis einen Einschnitt, welcher dem Fuße genügend 


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Zar Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 25 

Passage gewährt. Der ganze Apparat wird umgekehrt auf den Tisch 
gestellt, so daß die Welle am Fußende sich befindet. Als Fessel 


Fig. 29, 



Fig. 30. 



für den Fuß dient ein Fersenzug, welcher seine Führung zentrifugal 
nimmt und durch ein am Fußbrett befindliches Schloß in Spannung 
gehalten wird. 


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Ferd. Schultze. 


Fig. 81. 



Fig. 32. 



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Zur Behandlung der Deformitäten der unteren Extremität. 


27 


Die Hftüd des Operateurs übernimmt beim Redressement auch 
hier die Führung. Jeder Plattfuß hat zur Beseitigung der Abduk¬ 
tion den ersten Akt im Osteoklasten I durchgemacht. Der zweite 
Akt vollzieht sich in dem Plattfußosteoklasten. Der Oipsverband 
wird in Klumpfußstellung angelegt (Fig. 28, 29). 

Es geht also der Korrektur im Plattfußosteoklasten stets die 
Behandlung im Osteoklasten I voran. Kurz skizziert ist der Gang 


Fig. 33. 



der Methode folgender: Primär wird die Verlängerung der Achilles¬ 
sehne gemacht, ein Hackenfußzug wird angelegt und der Fuß in 
extremer Hackenfußstellung im Osteoklasten I fixiert (Fig. 30). Ein 
Steigbügelzug beeinflußt nun den Vorderfuß im Sinne der Plantar¬ 
flexion und ein Seitenzug in Verbindung mit der Knarre im Sinne der 
Adduktion. Diese einzeln sowohl als auch gemeinschaftlich wirkenden 
Kräfte sind von ganz hervorragender Wirkung (Fig. 31, 32, 33). 

Fig. 34, 35 zeigt Ihnen hochgradigsten Plattfuß. Die Leistungs¬ 
fähigkeit des Patienten war fast völlig aufgehoben. Die Korrektur 
zeigt deutliche Hohlfüße. Letztere sinken im Laufe der Zeit mehr 
ein und machen einem flachen Gewölbe Platz. Die Beschwerden 
jedoch sind verschwunden und die Gehfähigkeit ist zur Norm zurück¬ 
gekehrt. 


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28 


Ferd. Schultze. 


Fij?. 34. 


Fig. 35. 




Z u s a ni ni e n f a s s u n g. 

1. Die unblutigen Methoden, die Osteoklase und das Redresse¬ 
ment forcd kommen bei Behandlung der Deformitäten in erster Linie 
in Frage. 

2. Die Reduktionsapparate sind durch die Osteoklase und das 
Redressement überholt worden. 

3. Der Indikationskreis soll möglichst weit gesteckt werden. 
Erreicht wird dies durch die entsprechenden modernen Hilfsmittel. 

4. Die Hilfsmittel bestehen in bestimmten maschinellen Vor¬ 
richtungen, welche in Verbindung mit der manuellen Methode oder 
ohne dieselbe zur Anwendung gelangen. 

5. Die Maschine muß ein Präzisionsapparat sein, welcher sicherer 
und exakter arbeitet, als die Hand. Durch Verbindung mit der 
manuellen Methode wird der Wert der Maschine erhöht. 


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Zur BehandlUDg der Deformitäten der unteren Extremität. 


29 


6. Um eine Vollkorrektur zu erreichen, ist eine absolute Mo¬ 
bilisation und Üeberkorrektur erforderlich. 

7. Der Beckenfixator entspricht den an ihn gestellten For¬ 
derungen, er bewirkt eine absolut sichere Fixation des Beckens. 
Sein Wert wächst durch die Verbindung mit einer nach jeder 
Richtung hin beweglichen Extensionsvorrichtung. 

8. Bei Flexionskontrakturen der Hüfte, bei Luxatio congenitalis, 
paralytica, destructiva, leistete der Beckenfixator gute Dienste, ebenso 
bei rhachitiscber Verkrümmung des Oberschenkels. 

9. Der Osteoklast I wirkt durch seine vielseitige Konstruktion 
präziser, als die bisher gebräuchlichen Apparate. Indiziert ist der¬ 
selbe bei Korrektur der Flexio genu, des Genu varum und valgum, 
des Pes equino-varus, Pes cavus und Pes valgus. 

10. Ein für die Korrektur des Klumpfußes und Hohlfußes nicht 
zu entbehrender Apparat ist der Osteoklast II. 

Derselbe verbindet die maschinelle und manuelle Methode. 
Letzteres ist nur möglich geworden durch die Einlage der Gummi¬ 
kissen. 

Jeder Widerstand wird durch den Apparat ganz allmählich 
und schonend beseitigt, so daß die schwersten und hartnäckigsten 
Deformitäten der Füße keine Kontraindikation bedeuten. 

Die Unterschenkelgamasche, sowie der Fersenzug sind unent¬ 
behrlich, und von erhöhter Bedeutung durch die regulierbare Zug¬ 
vorrichtung. 

11. Die durch den Osteoklasten I und II begründete Behand¬ 
lung des Klumpfußes bedeutet eine neues Verfahren, welches darin 
gipfelt, daß das manuelle Redressement durch die Kraft der Maschine 
einen höheren Wert erhält, und zwar durch sichere, präzise Wirkung. 

12. Der Plattfußosteoklast ist ebenso wirksam und garantiert 
in Verbindung mit dem zentrifugal wirkenden Hackenfußzug eine 
volle Rekonstruktion des Gewölbes. 

Auch hier ist das manuelle Redressement, verbunden mit dem 
maschinellen, von ausschlaggebender Bedeutung. 

13. Jeder Plattfußkorrektur ist stets die Verlängerung der 
Achillessehne sowie die Behandlung im Osteoklasten I vorauszu¬ 
schicken. 

Von Bedeutung ist hier: 

a) die Hackenfußstellung unter Hackenfußzug und deren 
Fixation im Osteoklasten, 


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30 


Ferd. Schultze. Zur Behandlung der Deformitäten etc. 


b) die nun folgende Einwirkung des Steigbügelzuges, 

c) die des Adduktionszuges, sowie die gleichzeitige Wirkung 
der Züge b) und c). 

14. Das Verfahren der Plattfußbehandlung bedeutet eine voll¬ 
ständig neue Methode. 

15. Jeder Klumpfuß, sowie jeder Plattfuß ist zu 
rekonstruieren. Die unblutige Methode ist hier allein 
die Methode der Wahl. Die blutige Behandlung zer¬ 
stört den anatomischen Aufbau, ohne ihn zu ersetzen. 

Die Indikation für die blutige Behandlung der 
Pedes eq. vari et valgi ist durch die Verbesserung der 
modernen Technik vollständig ausgeschaltet. 

Nach meiner Auffassung ist die blutige Behand¬ 
lung des Pes varus und valgus stets ein Kunstfehler.**; 


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11 . 


Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscbeinung 
anderer angeborener Anomalien'). 

Von 

Prof. Dr. Georg Joachimsthal in Berlin. 

Mit 39 Abbildungen. 

Meine Herren! Die im Gegensatz zu den in der Literatur vor¬ 
liegenden spärlichen analogen Mitteilungen verhältnismäßig große Zahl 
von Fällen meiner Beobachtung, in denen sich angeborene Hüft¬ 
verrenkungen mit anderen während des intrauterinen 
Lebens entstandenen Verbildungen kombinierten, gibt mir 
die Veranlassung dazu, Ihnen diese Fälle mit kurzen Worten vorzu- 
führen. Bei dem großen Interesse, das im Augenblick der Aetio- 
logie der angeborenen Hüftverrenkung entgegengebracht wird, er¬ 
schiene es verlockend, gerade an der Hand unserer Beobachtungen 
der Frage der Entstehung der kongenitalen Luxationen näher zu 
treten; doch möchte ich mich bei der Kürze der mir für meine 
Demonstration zur Verfügung stehenden Zeit an dieser Stelle ledig¬ 
lich auf das tatsächliche Material beschränken. 

Hervorheben möchte ich nur eins. Man sollte a priori an¬ 
nehmen, daß die mit anderen angeborenen Anomalien kombinierten 
Hüftverrenkungen hochgradigere Verunstaltungen der Gelenkkörper 
resp. der das Gelenk bildenden Weich teile zeigen würden, als dieses 
bei den für sich bestehenden Luxationen der Fall ist, daß damit die 
Schwierigkeiten der Behandlung wachsen und die Aussichten auf eine 
vollständige Wiederherstellung ungünstigere werden würden. Das 
trifft nun aber, wie Sie sich bei der Betrachtung der Bilder und der 
Untersuchung der Patienten überzeugen werden, wenigstens für die 
Fälle meiner Beobachtung nicht zu. Bei den von mir behandelten 

*) Nach einem Projektionsvortrage auf dem VI1. Kongreß der Deutschen 
Oesellschaft für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908. 


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32 


Georg Joacbimsthal. 


Fig. 1, 





Beckenbild eines 4jilhrigen Mädchens mit rechtsseitigem Schiefhals und rechtsseitiger 
angeborener Hüftverrenkung. 


Fig. 2. 



Beckenbild derselben Patientin li Monate nach der Einrenkung der rechtsseitigen Hüft¬ 
verrenkung. 


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Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc. 


33 


Kranken, soweit dieselben mir in einem verhältnismäßig günstigen Alter 
zugeführt wurden, sind die durch die unblutige Reposition erzielten 
Resultate nicht nur in funktioneller, sondern auch in anatomischer 
Beziehung günstig gewesen, so daß ich nicht anstehe, den mit an¬ 
deren Anomalien kombinierten Hüftluxationen — natürlich abgesehen 
von monströsen Bildungen, bei denen schon von Anfang an die Lebens¬ 
fähigkeit ausgeschlossen erscheint — eine wenigstens nicht ungünstige 
Heilungstendenz zuzuschreiben. So wird es sich vielfach bei Indi- 

Fig. 3. Fig. 4. 



4jälirige Patientin mit rechtsseitigem Schiefhals und rechtsseitiger angeborener Hüftvei- 
renkong (vgl. auch Fig. l n. 2) vor und l Jahr nach der operativen Beseitigung des Schiel- 

halses. 

viduen, deren sonstige Anomalien durch unsere Maßnahmen nicht 
zur vollen Beseitigung gebracht werden können, wenigstens ermög- 
hchen lassen, den durch das Vorhandensein der Hüftverrenkung be¬ 
dingten Defekt zu beheben, während in einer anderen Zahl von 
Fällen durch die gleichzeitige Beseitigung auch der übrigen Stö¬ 
rungen die Betreffenden zu vollständig gleichwertigen Mitgliedern 
unserer Gesellschaft gestaltet werden können. 

Mit auffallender Häufigkeit ist in den letzten Jahren das gleich¬ 
zeitige Vorkommen der Luxatio coxae congenita mit dem angeborenen 
Caput obstipum beschrieben worden. Ich selbst habe diese Kom¬ 
bination bisher 4mal beobachtet. Zwei von diesen Kranken, ein 

Zeitschrift für orthopftdisohe Chirurgie. XXII. Bd. 8 


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34 


Georg Joachimethal. 


2 V* jähriger Knabe mit linksseitigem Schief hals und linksseitiger 
Hüftverrenkung, sowie eine 12jährige Patientin mit linksseitigem 
Schiefhals und rechtsseitiger Hüftluxation sind bereits von mir in 
dem Handbuch der orthopädischen Chirurgie abgebildet worden. 
Ich möchte Ihnen daher heute nur die Bilder der beiden anderen 
Patientinnen zeigen, zunächst das Beckenbild eines 4jährigen Mäd¬ 
chens mit rechtsseitigem Schiefhals und rechtsseitiger angeborener 


Fig. 5. 



ßeckenbild eines ejahrigeu MiiJcliens mit linksseitigem Schiefhals und linksseitiger an¬ 
geborener Hmtverrenkung. 

Hüftverrenkung (Fig. 1). Das darunter befindliche, 11 Monate nach der 
unblutigen Einrenkung angefertigte Bild (Fig. 2) zeigt zwar noch ein 
schräges Pfannendach und eine Differenz in der Größe beider Kopf¬ 
epiphysen, im übrigen aber eine anatomische Reposition, der auch 
die tadellose Funktion des Hüftgelenks entspricht. Die erfolgreiche 
Beseitigung des Schiefhalses durch offene Durchschneidung des Kopf¬ 
nickers hat nach Abschluß der Behandlung der Hüftverrenkung statt- 
gefunden. Das Verhalten vor und nach der Operation wird in 
Fig. 3 u. 4 veranschaulicht. 

In dem folgenden Falle betreffend ein zu Beginn der Behand¬ 
lung fijiihriges Mädchen mit linksseitigem Schiefhals und linksseitiger 
Hüftverrenkung (Fig. 5 zeigt das Beckenbild vor Beginn der Be- 


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Die angeborene HOftverrenkung als Teilerscheinung etc. 
Fig. 6. 


35 



Beckenbild derselben Patientin im Alter von is Jahren, s Jahre nach der Einrenkung der 
linksseitigen Hüftverrenkung. 


Fig. 7. 



Linkes Hüftgelenk derselben Patientin ira Alter von 15 Jahren, 9 Jahre nach deifReposition 
, <ler linksseitigen Hüftverrenkung. 



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36 


Georg Joachimsthal. 


Handlung) liegt die Einrenkung nunmehr 9 Jahre zurück. Der Kopf 
steht, wie Sie sich an den Bildern überzeugen können, im Pfannen¬ 
niveau. Das Pfannendach hat sich durch eine osteophytenartige Bil¬ 
dung verbreitert und gewährt so dem Oberschenkel einen guten Halt. 
Die Behandlung des Schiefhalses durch offene Durchschneidung des 
verkürzten Kopfnickers hat gleichfalls den vollen Erfolg gebracht. 

Relativ häufig findet sich bekanntlich die Hüftluxation gemein¬ 
sam mit angeborenen Verrenkungen anderer Gelenke. Ich 


Fig. 8. 



Röntgenbild des rechten Ellbogengelenkes eines löjilhrigen Knaben mit angeborener Luxa¬ 
tion beider Radiusköpfchen nach vorne und doppelseitiger angeborener Hüftverrenkung. 

zeige Ihnen hier beispielsweise das Bild des rechten Ellbogengelenks 
(Fig. 8) eines 15jährigen Knaben meiner Beobachtung mit beider¬ 
seitiger Luxation des Radiusköpfchens nach vorn, bei dem 
von anderer Seite im Alter von 6 Jahren die blutige Behandlung 
einer doppelseitigen Hüftluxation — leider ohne ein sehr günstiges 
Resultat — durchgefübrt worden ist. 

Die rechte Hüfte ist nach oben stark erweitert. Linkerseits 
steht der Kopf außerhalb des Pfannenniveaus und ist durch Stalak¬ 
titen förmige Auswüchse deformiert. Beiderseits besteht eine fast 
vollkommene Hüftankylose. 


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Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc. 


37 


Das Zusammentreffen von Hüftluxationen mit einem Genu recur- 
vatum congenitum resp. mit angeborenen Eniegelenks- 
luxationen habe ich 3mal, in einem Falle doppelseitig, gesehen. 

Die erste Patientin war ein Zwillingskind, bei dem die Störung am 
rechten Kniegelenk sofort nach der Geburt aufgefallen war. Als ich 
sie im Alter von 2 Monaten zuerst sah, stand der rechte Unter¬ 
schenkel in einem nach vorn offenen Winkel von ca. 130® hyper¬ 
extendiert. Im Sinne der Beugung war die Bewegung des ünter- 


Fig. 9. 



Röntgenbild des Beckens desselben Patienten. 


Schenkels unter leichtem Druck nur bis zur Geradestellung des Beines 
möglich. Aus dieser Stellung federte dasselbe nach Aufhebung des 
Drucks in die Hyperextension zurück. In der Kniekehle sah und 
fühlte man die hinteren Abschnitte der Kondylen des Femur vor¬ 
springen. Die Gelenkfläche der Tibia stand nach vorn vor der¬ 
jenigen des Oberschenkels, ohne vollständig von derselben abgeglitten 
zu sein. Trotz der Unmöglichkeit, an dem damals gefertigten Skia- 
gramm (Fig. 10) die Konturen der noch knorpeligen Gelenkenden zu 


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38 


Georg Joachimsthal. 


Fig. 10. 


erkennen, ist doch aus der Stellung der diaphysären Teile des 
Femur einerseits, der Tibia und der Fibula anderseits die Ver¬ 
schiebung des Gelenkes im Sinne eines Genu recurvatum zu beurteilen. 

Nachdem wegen der schwächlichen 
Konstitution der Patientin und einer von 
mir in einem anderen Falle von Genu 
recurvatum congenitum beobachteten 
Spontanheilung zunächst von einer Be¬ 
handlung Abstand genommen worden 
war, habe ich die Kranke erst 2 Jahre 
später wieder gesehen und dabei die 
erstaunliche Tatsache konstatiert, daß das 
rechte Knie sich spontan zu einem voll¬ 
kommen normalen umgestaltet hatte. 
Beugung und Streckung erfolgten nun¬ 
mehr in normalen Grenzen; eine Hyper¬ 
extension war auch passiv unmöglich. 
Dagegen bestand jetzt eine Verkürzung 
der rechten unteren Extremität um 2 cm, 
als deren Ursache sich auch im Röntgen¬ 
bilde (Fig. 11) eine Luxation gleichfalls 
der rechten Seite ergab. Die Einrenkung 
nach Lorenz hat hier, wie Sie an den 
l\2 (Fig. 12) und 5 Jahre nach der 
Reposition gefertigten Bildern (Fig. 13) 
sehen, ein auch in anatomischer Hin¬ 
sicht vollkommenes Resultat erbracht. 

Ganz dieselbe Beobachtung habe 
ich weiterhin bei einem Mädchen mit 
rechtsseitigem Genu recurvatum machen 
können. Auch hier kam es zur voll¬ 
kommenen Spontanheilung des Knielei¬ 
dens. An dem im Alter von 6 Monaten 
gefertigten Bilde des rechten Kniegelenks 
(Fig. 14) sehen Sie nur noch eine leichte Verschiebung des Unter¬ 
schenkels nach vorn, die sich weiterhin vollkommen ausgeglichen 
hat. Auch hier habe ich die gleichseitige Hüftluxation, die ich 
allerdings früher, da ich auf ihr Vorhandensein fahndete, entdeckt 
hatte, im Alter von 2 Jahren reponiert und, wie Sie an den vor 



RöiitgcnUilcl tleH rechten Kniege¬ 
lenks eines 2 Monate alten M.iil- 
chens mit rechtsseitigem (ienii 
recurvatum und spater festgestell¬ 
ter rechtssititiger angeborener 
Hüftverrenkung. 


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Röntgenbild des Beckens der in Fig. lo abgebildeten Patientin mit rechtsseitigem Genu 
recurvatum congeuitum und rechtsseitiger angeborener Hüftverrenkung im Alter von 2 Jahren. 


Fijf. 12a. 


Fig. 12 b. 






12 a u. b. Hüftbilder der in Fig. il abgebildeten Patientin im Alter von 31/2 Jahren, 
1>,'2 Jahre nach der Einrenkung. 


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40 


Georg Joachimsthal. 


Fig. 13 a. 


Fig. 13 b. 



13a n. b. HUftbilder der in Fig. li abgebildeten Patientin im Alter von 7 Jahren, 
5 Jahre nach der Einrenkung. 



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Beckenbild eines 2jähngen Mädchens mit Genu recurvatum congenitum dextrnm and 
rechtsseitiger angeborener Hüftverrenkung. 

Fig. 16. 


Böntgenbild der in Fig. 16 abgebildeten Patientin 5 Monate nach Einrenkung der rechts¬ 
seitigen HOftverrenkuug. 


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42 


Georg Joachimsthal. 


(Pig. 15) und 5 Monate nach der Reposition (Fig. 16) hergestellten 
Bildern sehen, eine anatomische Heilung erzielt. 

Ganz besonderes Interesse bietet der folgende Fall, der viel 
Analogie mit einer von Bade vor kurzem in der Gedenkschrift für 
Hoffa publizierten Beobachtung darbietet. Es handelte sich um ein 
Mädchen, zu dem ich schon am Tage nach der Geburt zugezogen 


Fig. 17. 



Röntpenbild des Beckens eines B Wochen alten Miidchens mit doppelseitiger angeborener 
^ Hüftverrenkung, doppelseitiger Kniegelenksluxation und doppelseitigem Hackenfuß. 

wurde. E.s bestand hier eine ausgeprägte Kniegelenksluxation auf 
beiden Seiten mit so hochgradiger Ueberstreckung der Kniee, 
daß Unter- und Oberschenkel mit ihrer Vorderfläche direkt 
aneinander lagen. Die Kondylen des Femur standen in der Knie¬ 
kehle spitz hervor, während die Tibiakondylen direkt vor den unteren 
Enden der Oberschenkel zu fühlen waren. Daneben bestanden hoch¬ 
gradige Pedes calcanei. 

Es gelang mir nun mit Leichtigkeit unter einem deutlichen 
Einschnappen die Reposition der verrenkten Unterschenkel zu be¬ 
werkstelligen und damit sofort die normalen Konturen wieder her¬ 
zustellen. Ich habe die Gelenke dann durch Heftpflastertouren in 


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Röntgenbild des in Fig. 17 abgebildeten Kindes im Alter von lo Monaten. Die rechte 
ÜUfte ist spontan geheilt« 



Fig. 19. 






Röntgenbild der in den Fig. 17 u. 18 abgebildeten Patienten 4 Monate nach der Einrenkung 
der linksseitigen Hüftverrenkung. 


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42 


Oeorg Joachimsthal. 


(Fig. 15) und 5 Monate nach der Reposition (Fig. 16) hergestellten 
Bildern sehen, eine anatomische Heilung erzielt. 

Ganz besonderes Interesse bietet der folgende Fall, der viel 
Analogie mit einer von Bade vor kurzem in der Gedenkschrift für 
Hoffa publizierten Beobachtung darbietet. Es handelte sich um eia 
Mädchen, zu dem ich schon am Tage nach der Geburt zugezogen 


Fig. 17. 



Röntgenl)il(l des Beckens eines 5 Wochen alten Mädchens mit doppelseitiger angeborener 
^ Hüftverrenkung, doppelseitiger Kniegelenksluxation und doppelseitigem Hackenfuß. 

wurde. Es bestand hier eine ausgeprägte Kniegelenksluxation auf 
beiden Seiten mit so hochgradiger Ueberstreckung der Kniee, 
daß Unter- und Oberschenkel mit ihrer Vorderfläche direkt 
aneinander lagen. Die Kondylen des Femur standen in der Knie¬ 
kehle spitz hervor, während die Tibiakondylen direkt vor den unteren 
Enden der Oberschenkel zu fühlen waren. Daneben bestanden hoch¬ 
gradige Pedes calcanei. 

Es gelang mir nun mit Leichtigkeit unter einem deutlichen 
Einschnappen die Reposition der verrenkten Unterschenkel zu be¬ 
werkstelligen und damit sofort die normalen Konturen wieder her¬ 
zustellen. Ich habe die Gelenke dann durch Heftpflastertouren in 


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Röntgenbild dea in Fig. 17 abgebildeten Kindea im Alter von lo Monaten. Die rechte 
Hüfte ist spontan geheilt. 



Fig. 19. 


1 



Röntgenbild der in den Fig. 17 u. 18 abgebildeten Patienten 4 Monate nach der Einrenkung 
der linksseitigen Hüftverrenkung. 


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44 


Georg Joachimsthal. 


Fig. 20. Fig. 22. 



6 Jahre alter Knabe mit doppelseitigem Der in Fig 20 u. 2i abgebildete Patient in den 
Klumpfuti und beiderseitiger Hüftver- nach dem Redressement der Klumpfüße ange- 
renkung. legten Verbünden. 


Fig. 21. 



Der in Fig- 20 abgebildete Patient in seiner Lieblingsstellung. 


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Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc. 


45 


starker Beugestellung fixiert und konnte bereits am 8. Tage nach 
Entfernung derselben ihre vollkommene Stabilität feststellen, so daß 
nach weiteren 8 Tagen von jedem weiteren Verband abgesehen 
werden konnte. 

Während sich nunmehr rechts die Patella an dem normalen 
Standort befand, konstatierte ich links eine Luxation derselben 


Fig. 23. 



Fig. 24. 



Fip. 23 ii. 24. 9 Tage altes Mädchen mit linkssei- 
ti;;em angeborenem Klumpfuß, rechtsseitigem an¬ 
geborenem Hackenfuß und (später festgestelltei M 
rechtsseitiger angeborener Hüftverrenkung. 


Fig. 25. 



Dieselbe Patientin im 
Alter von 0 Jahren. 


nach außen, die bei jedem Flexionsversiich eintrat und die sich 
zunächst durch keinerlei Verbände oder anderweitige Maßnahmen 
beseitigen ließ. 

In der Erinnerung an meine beiden eben erwähnten Fälle, in 
denen sich Knie- und Hüftluxationen miteinander kombinierten, unter¬ 
nahm ich am 8. Tage eine Untersuchung beider Hüften. Ich konnte 
mich dabei nicht nur mit Leichtigkeit von der Existenz von 
Verrenkungen überzeugen, sondern auch unter deutlich 
sicht- und hörbarem Ein- und Ausschnappen die Reposi- 


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Röntgenbild des Beckens der in den Fig. 23—25 altgebildeten Patientin mit linksseitigem 
angeborenem Klumpfuß, rechtsseitigem angeborenem Hackenfuß und linksseitiger au- 
geborener Hüftverrenkung im Alter von 2 Jahren. 

Fig. 27. 



Beckenbild derselben Patientin im Alter von 6 Jahren. 4 Jahre nach Einrenkung der links¬ 
seitigen Hüftverrenkung. 


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Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc. 47 

tion resp. Reluxation der Gelenke herbeiführen und dem Arzt 
der Familie demonstrieren. Im Gegensatz zu Bade, der in seinem 
Falle sofort nach der Geburt die Fixation der Hüften in der repo- 
nierten Stellung mit Hilfe einer Schiene bewirkte, habe ich zunächst 

Fig. 28. 



Skia^amm eines 3 Monate alten Mädchens mit totalem Defekt der linken Fibula und links¬ 
seitiger angeborener Hüftverrenkung. 


die Einrenkung der Hüften, an denen ich im Alter von 5 Wochen 
auch durch ein Röntgenbild (Fig. 17) das Vorhandensein von Luxa¬ 
tionen nachweisen konnte, auf eine spätere Zeit verschoben. Als 
ich dann im Alter von 10 Monaten ein neues Beckenbild des Kindes, 
dessen Kniegelenke auch in Bezug auf die zuerst konstatierte Neigung 
der Patella zur Verschiebung inzwischen vollkommen normal geworden 


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Deckenbild derselben Patientin im Alter von 2 Jahren. 




Beckenbild derselben Patientin 4 Monate nach Einrenkung der linksseitigen Hüftverrenkang 


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Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc. 
Fig. 31. 


49 



Skiagramm derselben Patientin nach weiteren 6 Monaten. 


Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 


4 


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Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc. 51 

10 Wochen die Reposition der linken Seite vollführt und hier, wie Sie 
an dem 1 Monat nach Abnahme des benutzten Verbandes ge¬ 
wonnenen Bilde (Fig. 19) sehen, den Kopf in die Pfanne überführt. 
Die Patientin wird weiter beobachtet werden müssen ^), doch glaube 
ich schon jetzt annehmen zu dürfen, daß wir rechterseits einen der 


Fig. 34. 



22jührige Patientin mit linksseitiger angeborener Hüftverrenkung und Defekt des rechten 

Oberschenkels. 


Fälle von Spontanheilung einer angeborenen Hüftverrenkung vor uns 
haben. 

Die Pedes calcanei sind in diesem Falle, wie wir es ja viel¬ 
fach sehen, lediglich durch die Wirkung der Schwere des Vorder¬ 
fußes zur Ausheilung gekommen. 

Die folgenden Fälle zeigen uns die Kombination der Hüft¬ 
verrenkung mit anderweitigen Fußverbildungen. 

Der erste Knabe, der im Alter von 6 Jahren in die Behand¬ 
lung eintrat (Fig. 20), zeigte doppelseitige Hüftverrenkungen, doppel¬ 
seitige Klumpfüße, Bewegungsbeschränkungen in den Kniegelenken, 


0 Anm. bei der Korrektur: Die Patientin zeigt jetzt, 1 Jahr nach der 
Einrenkung, ein in funktioneller und anatomischer Beziehung tadelloses Ver¬ 
halten beider Hüftgelenke und läuft ohne jede Spur von Hinken. 


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52 


Georg Joachimsthal. 


die nur bis zum rechten Winkel gebeugt werden konnten, und Paresen 
im Bereiche beider unteren Gliedmaßen. Die Stellung, in der er Nachts 
zu liegen pflegte, die vielleicht noch eine Erinnerung an eine intra¬ 
uterine Zwangslage darstellt, veranschaulicht das zweite Bild (Fig. 21). 
Ich habe die Füße redressiert (Fig. 22 zeigt den Knaben in den ihm 
nach dem Redressement angelegten Verbänden) und die Hüften ein¬ 
gerenkt, kann Ihnen aber leider nicht über ein Ergebnis berichten, 
da ich den Kranken aus der Beobachtung verloren habe. 

Fig. 35. 



Die in Fig. 34 ahgebildete Patientin in ihrer Prothese. 


Bei dem Mädchen, das die folgenden Bilder zeigen, habe ich im 
Alter von 9 Tagen die beiden ersten Aufnahmen hergestellt (Fig. 23 
und 24). Sie zeigen Ihnen einen linksseitigen Pes varus und einen 
rechtsseitigen Pes calcaneus, die sich genau ineinander fügen. Die 
Behandlung mit redressierenden Verbänden wurde von mir innerhalb 
des ersten Lebensjahres erfolgreich durchgeführt. Dasselbe Kind im 
Alter von 0 Jahren mit der normalen Fußstellung beiderseits ver¬ 
anschaulicht das nächste Bild (Fig. 25). 

Bei derselben Patientin wurde von mir im Alter von 2 Jahren 
eine linksseitige Hüftluxation festgestellt. Im Röntgenbilde (Fig. 26) 
konnte ich an der rechten Hüfte wiederum die vorhin erwähnten, von 


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Die aDgeborene Hüftverrenkung als Teilerscheinung etc. 


53 


Hoffa und Bade angegebenen Veränderungen konstatieren. Die Re¬ 
position der linken Seite hat ein in jeder Beziehung tadelloses Resultat 
ergeben. An dem im Alter von 6 Jahren hergestellten Skiagramm 
(Fig. 27) erkennen Sie auch, daß die Störungen der rechten Hüfte 
sich in vollkommenster Weise zurückgebildet haben. 


Fig. 36. 



Skiagramm des Beckens der in Fig. S4 abgebildeten Patientin. 


Ich zeige Ihnen dann noch einige Fälle von Kombination der Hüft¬ 
verrenkung mit Defekt-resp. Spaltbildungen einzelner Knochen. 

In dem ersten Falle haben wir es, wie es das im Alter von 
3 Monaten angefertigte Skiagramm (Fig. 28) zeigt, bei einem Mädchen 
mit einem Defekt der ganzen linken Fibula und einem Fehlen 
zweier Zehen und der entsprechenden Fußknochen zu tun. Daneben 
besteht, wie Sie es schon an diesem Bilde erkennen werden, wieder 
eine Hüftluxation derselben Seite, die Sie deutlicher an dem im Alter 
von 2 Jahren aufgenommenen Bilde (Fig. 29) wiederfinden. Ich habe 
zu dieser Zeit die unblutige Reposition vollführt. Sie sehen 3 Monate 
später nach Abnahme des Verbandes den Kopf, dessen Epiphyse im 


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54 


Georg Joachimsthal. 


Vergleich zur anderen Seite noch sehr klein erscheint, in der Pfanne 
(Fig. 30). Das V* später gefertigte Skiagramm (Fig. 31) zeigt 
dann eine wesentliche Zunahme auch in der Ossifikation des Kopfes. 
Zur Bekämpfung des sehr hochgradigen Pes valgus (Fig. 32) wurde 
zunächst im Alter von 3 Monaten eine Tenotomie der Achillessehne 


vollführt, es wurden dann Verbände und Schienenhülsenapparate an¬ 
gelegt. Zur Zeit habe ich den erfolgreichen Versuch unternommen, 
das Kind mit einem festen, lediglich die Verkürzung von 5 cm aus¬ 
gleichenden Stiefel herumgehen zu lassen. Fig. 33 zeigt die Patientin 


pjg 37 in sitzender und stehender Position. 

^ y zweiten Fall, den ich der 

f / Freien Vereinigung der Chirurgen Ber- 

I lins am 8. Mai 1905 vorgestellt habe, 

\ handelte es sich um eine Kombination 

t einer linksseitigen Hüftverrenkung mit 

1 einer Defektbildung an dem rechten 

I Oberschenkel und der rechten 

t y' 1 Beckenhälfte bei einer 22jährigen 

f Patientin (Fig. 34). Am Becken (siehe 

/ das Röntgenbild Fig. 36) fehlt auch 

m S linkerseits der horizontale Schambein- 

I I ast, rechterseits ist eigentlich von den 

einzelnen Knochen nur das Sitzbein 
S‘fum^>airu^d”lW®’l‘eU vollkorumea vorhanden. Dasselbe hat 

luxcitiou. gedreht, daß das Tuber 

ischii vollkommen nach außen gerichtet ist. Das Darmbein fehlt 
fast in der ganzen Ausdehnung des Darmbeintellers; es ist eigent¬ 
lich nur derjenige Teil des Os ilei vorhanden, der die Verbindung mit 
dem Kreuzbein herstellt. Von dem Schambein können wir höchstens 


Bjährige Patientin mit Spina bifida oc- 
ciilta liimbalis und doppelseitiger Hüft- 
luxatiou. 


einen geringen Teil des absteigenden Astes als vorhanden annehmen. 
Das Verbindungsstück zwischen Fuß und Becken enthält zwei Kno¬ 
chen, einen medial gelegenen, der eine nach innen konvexe Schwei¬ 
fung aufweist, nach oben mit einem abgerundeten Ende abschließt und 
an der unteren Grenze des oberen Drittels einen nach innen gerichteten 
Fortsatz zeigt, der in der Höhe des linksseitigen Tuber ischii abgeht 
und in einer Entfernung von 4 cm frei endigt. An der lateralen Seite 
liegt ein dünner Knochen, der zweifellos der Fibula entspricht, während 
ich geneigt bin, den medial gelegenen als aus einer Verschmelzung 
der Tibia mit einem Femurrudiment entstanden aufzufassen. 


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Die angeborene Hüftverrenkung als Teilerscbeinung etc. 


55 


Fig. 35 zeigt die Patientin in einer in meiner Werkstatt angefer- 
tigien Prothese, in der ihr nicht allein das Herumgehen, sondern auch 
das bequeme Sitzen ermöglicht wurde. Sie besteht aus einem einfachen 
Beckengürtel, an dem mittels Kugelgelenks ein Schienenhülsenapparat 
für die rechte untere Extremität befestigt ist. Dieser Schienenhülsen¬ 
apparat steht in Verbindung mit einem künstlichen Unterschenkel und 
Fuß. ln der Höhe des Kniegelenks der linken Seite befindet sich ein künst¬ 
liches Kniegelenk, das automatisch in Streckstellung festgestellt wird. 


Fig. 38. 



Beckenbild einer 2jährigen Patientin mit Spina bifida occulta lambalis und linksseitiger 

angeborener Uilftluxation. 


Zum Schluß noch 2 Fälle der Kombination einer Hüftluxation 
mit einer Spina bifida occulta. 

Die Wirbelspalte ist in dem ersten Falle bei einer 5jährigen 
Patientin mit doppelseitiger Hüftluxation, die ich der Berliner medi¬ 
zinischen Gesellschaft vorstellen konnte, durch eine Hypertrichose 
gekennzeichnet (Fig. 37). Im Bereiche des 3. und 4. Lendenwirbel¬ 
bogens fand sich eine deutliche Lücke, in die man die Kuppe des 
kleinen Fingers hineinlegen konnte. In dem 2. Falle wird sich die 
bei der 2jährigen Patientin vorhandene Vorwölbung im Bereiche der 
Lendengegend oberhalb der Wirbelspalte im Bilde kaum erkennen 
lassen. Man fühlt an dieser Stelle deutlich eine Schwellung von der 


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56 Joachimsthal. Die angeborene Hüftverrenkung als Teilet av iicii.uti^ etc. 


Konsistenz eines Lipoms und das Röntgenbild (Fig. 38 u. 37) zeigt im 
Bereiche des 1. Lendenwirbels eine breite Spaltbildung. Irgendwelche 
Ausfallssymptome im Bereiche der unteren Gliedmaßen waren weder 
in diesem noch in dem vorhergehenden Falle vorhanden. 


Fig. 39. 



Beckenbild derselben Patientin 1 Jahr nach der Reposition der linksseitigen Hüftverrenkung. 


Die bei der letzten Patientin nachgewiesene linksseitige Hüftluxa- 
tion (Fig. 38 zeigt das Röntgenbild des Beckens im Alter von 2 Jahren) ist 
von mir wiederum nach dem Lorenzschen Verfahren reponiert worden. 
An dem 1 Jahr nach der Reposition gefertigten Bilde (Fig. 39) fällt nur 
das Zurückbleiben in der Ossifikation der Kopfepiphyse, sowie im 
Bereich der ganzen linken Beckenhälfte auf. Im klinischen Bilde waren 
irgendwelche Abweichungen von der Norm nicht mehr zu erkennen. 


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III. 


(Aus der orthopädischen Heilanstalt des Sanitätsrat Dr. A. Schanz 

in Dresden.) 

Eorrektionsresultate an schweren Skoliosen’). 

Von 

A. Schanz-Dresden. 

Mit 21 Abbildungen. 

Meine Herren, ich habe Ihnen vor 2 Jahren im Anschluß an 
den Vortrag über Resultate und Indikationen des Skoliosenredresse¬ 
ments eine Kollektion von stereoskopischen Photographien demon¬ 
striert, welche den Verlauf solcher Redressementskuren zur Dar¬ 
stellung brachten. Aus dieser Kollektion, welche inzwischen noch 
weiter gewachsen ist, habe ich eine Anzahl von Projektionsbilderserien 
herstellen lassen. Daraus möchte ich Ihnen die Bilder eines Falles 
zunächst vorführen (Fig. 1—12). 

Welche Einwendungen man gegen diese Bilder machen kann, 
das habe ich bei meinem Vortrag vor 2 Jahren selbst ausgesprochen. 
Dem Kundigen zeigen dieselben aber doch, zumal wenn man die 
stereoskopischen Aufnahmen dagegen hält, daß man mit dem 
Skoliosenredressement bedeutende Korrekturen erreichen 
kann, und sie zeigen auch, daß es möglich ist, die mit 
dieser Methode erzielten Resultate dauernd zu erhalten. 

Nun, meine Herren, so sehr ich mich der Resultate, welche 
mir das Skoliosenredressement gegeben hat, gefreut habe, und so 
sehr ich mich derselben auch heute noch freue, so habe ich doch 
bald erkannt, daß das Redressement nicht das letzte sein 
kann. Dieser üeberzeugung habe ich auch schon Ausdruck ge¬ 
geben. Bei meinem Vortrag vor 2 Jahren habe ich z. B. an dieser 
Stelle gesagt: „daß mit dem Skoliosenredressement noch nicht das 

*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908. 


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Fig. 1. 


Fig. 2. 




0. B., 11 Jahre. Rückansicht vor dem 
Redressement, Juli 1902. 


Nach (1cm Redressement, November 1902 


Fig. 3. 



Kontrollaufuahme Marz 1903. 


Fig. 4. 



Koiitrollaufnahme August 1905. 


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Fig. 5. 


Fig. 6. 




G. B., Seitenansicht vor dem Nach dem Redressement, November 1902. 

Redressement, Juli 1902. 


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Fig. 10. 







Korrektionsresultate an schweren Skoliosen. 


61 


höchste Ziel erreicht ist, daß wir noch unendlich viel zu arbeiten 
haben, um Methoden zu gewinnen für die Fälle, welche für die An¬ 
wendung des Redressements nicht geeignet sind, Methoden, welche 
die Resultate des Redressements übertreffen, und Methoden, welche 
leichter zu handhaben sind als das Redressement/ 

Dementsprechend habe ich nach anderen Methoden gesucht, 
und ich will Ihnen heute kurz berichten, mit welchem Erfolg. 

Ich habe mich leiten lassen von der Ueberzeugung, daß 
Druck und Zug, in geeigneter Form und genügender Größe 
an die Wirbelsäule herangebracht, die beabsichtigte Um¬ 
formung der Wirbelsäule zu stände bringen müßten, und 
von der Ueberzeugung, daß dieser Druck und Zug nicht nur 
in der Form plötzlicher mächtiger Gewalten, wie beim 
Redressement, sondern auch durch minder kräftige, aber 
langdauernd fortwirkende Einwirkungen erhalten werden 
könne. So gut wie man einen Klumpfuß tatsächlich nicht 
nur mit dem forcierten Redressement, sondern auch mit 
langsam wirkenden, weniger starke Kräfte als das Re¬ 
dressement verwendenden Apparaten korrigieren kann, 
ebensogut muß es doch schließlich auch möglich sein, mit 
analogen Apparaten eine Skoliose zu korrigieren. 

Wenn die bisherigen, dahinzielenden Versuche nicht die er¬ 
strebten Resultate gehabt haben, so muß es doch wohl daran liegen, 
daß es nicht gelungen ist, die von unseren Apparaten gelieferten 
Kräfte in wirksamer Weise an die Wirbelsäule heranzubringen. An 
dieser Stelle muß der Fehler liegen. 

Ich habe versucht, diesen Fehler zu finden. Bei meinen darauf 
gerichteten Rechnungen bin ich zu der Ueberzeugung gekommen, 
daß es die auf der Wirbelsäule ruhende Last ist, welche bewirkt, 
daß der Korrektionsdruck, den wir durch Vermittlung der 
Rippen an die Wirbelsäule zu bringen suchen, nicht dort¬ 
hin gelangen kann, sondern in unbeabsichtigten, ja schäd¬ 
lichen Deformierungen der Rippen verloren geht. Der Gang 
meiner Rechnung ist niedergelegt in meiner Monographie der Stati¬ 
schen Belastungsdeformitäten der Wirbelsäule (Stuttgart, 
Enke, 1904, S. 163 ff.). Unter Verweis darauf verzichte ich auf 
Wiederholung an dieser Stelle. 

Wenn diese Rechnung richtig ist, meine Herren, dann müßte 
langsam wirkender Korrektionsdruck, der auf einen skoliotischen 


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Eorrektionsresultate an schweren Skoliosen. 


63 



im Dezember 1907. Die bis Ende Februar 1908 erreichte Aenderung 
zeigt Fig. 16, das Resultat, das zu Ostern 1908 erreicht ist, zeigt Ihnen 
das zweite Bild (Fig. 17). Es sind jetzt noch ganz geringe Reste 
der Deformität Yorhanden, die hier auf dem Bild kaum noch zum 
Ausdruck kommen. Es ist vor allem auch die obere Gegenkrümmung, 
welche nach Korrektur der Hauptkrümmung schärfer als vorher zum 
Ausdruck kam, beseitigt. Das Ziel der Kur kann als erreicht an¬ 
gesehen werden. Es stellt sich jetzt bei dem Knaben die Aufgabe, 

Fig. 14 a. Fig. 14 b. 


Fig. 14 a u. b. Streckkorsett. 

das Korrektionsresultat zum Halten zu bringen. Wie das zu ge¬ 
schehen hat und welche Aussichten für den Erfolg dabei bestehen, 
darauf werde ich noch zu sprechen kommen. 

Dieser Fall ist die einzige bisher ganz durchgeführte Kur. 
Die anderen Fälle, welche sämtlich jünger in Behandlung sind, haben 
sämtlich auch sehr gute Fortschritte aufzuweisen. Die Kuren sind 
aber nicht so weit gediehen, daß sie geeignete Demonstrationsobjekte 
wären. Nur einen Fall möchte ich daraus noch zeigen. 

Es handelt sich hier um ein Kind mit einer schweren dorso- 
cervikalen Skoliose (Fig. 18). Sie wissen, meine Herren, daß diese 
Varietäten ganz besonders schwierige Korrektionsobjekte darstellen, 


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Korrektionsresultate an schweren Skoliosen. 


65 


auch dem Redressement gegenüber. Gerade deshalb habe ich an dem 
Fall, den das Bild zeigt, einen Versuch mit der neuen Methode an« 
gestellt. Aeußere Verhältnisse yerhinderten leider die volle Durch¬ 
führung desselben. Aber wenn Sie das zweite Bild (Fig. .19), das 
ich Ihnen hier zeige, mit dem ersten vergleichen, so sehen Sie doch 


Fig. 20. Fig. 21. 



E. Sch., 12 Jahre, vor dem Re- Korrektar durch Redressement 

dressement, September 1907. und Streckkur, Ostern 1908. 


ganz deutlich einen Eorrektionseffekt, der tatsächlich an der Er¬ 
scheinung der Patientin noch viel besser hervortritt, als hier auf der 
Photographie. 

Nun noch einen Fall! 

Als ich in die Versuche mit dieser neuen Methode eintrat, 
hatte ich eine Patientin, an welcher ich das Redressement ausge¬ 
führt hatte, eben so weit, daß der Gipsverband abgenommen werden 
sollte. Ich habe nun diese Patientin ebenfalls nach der Abnahme 
des Verbandes in der geschilderten Weise weiterbehandelt. Das Re¬ 
sultat in diesem Fall war noch eine bedeutende Verminderung des 
beim Redressement zurückgebliebenen Restes der Deformität. Die 
Differenz, welche durch die kombinierte Kur bis heute erreicht 

Zeitschrift fftr orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 5 


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66 


A. Schanz. 


werden konnte, veranschaulichen Ihnen die beiden nächsten Bilder 
(Fig. 20 u. 21). 

Betreffs der Qualität der Bilder will ich eine Bemerkung 
einfügen. Wenn wir Skoliosenkorrekturen im Bilde darzustellen ver¬ 
suchen, so haben wir immer die Gefahr, daß Scbeinkorrekturen zur 
Darstellung gebracht werden. Daraus können die folgenschwersten 
Täuschungen entstehen und sind auch schon entstanden. Vor solchen 
Täuschungen ist man bei der hier bekanntgegebenen Methode sicher, 
wenn man dies sein will. Im ganzen Verlauf der Kur werden die 
Patienten nicht dazu angehalten, «Selbstredressionen“ vorzunehmen. 
Sie können sich darum auch im Moment der Untersuchung oder der 
Photographie nicht unwillkürlich korrigieren. Die daraus entstehende 
Täuschungsmöglichkeit ist somit ausgeschlossen. 

Nun, meine Herren, werden sich dieKorrektionsresultate, 
die auf dem geschilderten Weg erhalten werden, dauernd er¬ 
halten lassen? und welche Mittel sind für ihre Erhaltung 
anzuwenden? 

Diese Fragen sind durch einen Vergleich mit den Redresse¬ 
mentsresultaten zu beantworten. 

Ebenso wie durch das Redressement wird natürlich auch durch 
diese Korrektionskuren der skoliosierende Prozeß nicht ausgetilgt. Der 
Effekt der Kur kann hier wie da nur zum Dauerresultat gemacht 
werden, wenn nach der Korrektur der Deformität dieser Prozeß in 
Angriff genommen wird und seine Ausschaltung gelingt. Der ein¬ 
zuschlagende Weg ist in beiden Fällen ganz genau der gleiche. Da 
ich denselben vor 2 Jahren hier beschrieben habe, kann ich auf eine 
Wiederholung verzichten. Nur auf eines möchte ich hinweisen, 
nämlich darauf, daß die Korrektionsresultate, welche bei der neuen 
Kur erhalten werden, sich durch ihre Standfestigkeit von den 
Redressemeutsresultaten vorteilhaft unterscheiden. 

Während man nach Abnahme eines Redressementsverbandes 
zunächst stets ein sehr labiles Resultat findet, besonders bei bedeu¬ 
tenden Korrekturen, erscheinen die Resultate bei diesen langsam 
fortschreitenden Korrektionskuren für die momentane Beobachtung 
vollständig fest. Der Patient, dem man seinen Korrektionsapparat 
abnimmt, zeigt niemals Schwierigkeiten, seinen Rumpf in der Kor¬ 
rektionsstellung aufrecht zu erhalten, wie man das nach der Ab¬ 
nahme des Redressementsverbandes so oft sieht. 

Wenn es trotzdem möglich ist, Redressementsresultate 


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Eorrektionsresultate an schweren Skoliosen. 


67 


aufrecht zu erhalten — und das zeigt meine erste Bilderserie 
doch unbestreitbar — dann muß es noch viel leichter mög¬ 
lich sein, die Korrektionsresultate zu bewahren, welche 
mit meiner neuen Methode erzielt wurden. 

Welche Stellung sich diese Methode nun erringen wird, ob sie 
einen dauernden Platz in der Skoliosentherapie haben kann, welche 
Leistungsfähigkeit, welche Entwicklungsfähigkeit dieselbe besitzt, in 
welches Verhältnis zu den übrigen Methoden der Skolioseukorrektur 
sie treten kann? — das alles ist nur durch langjährige Arbeit mit 
der Methode festzustellen. 

Ich vermeide es, darüber irgendwelche Vermutungen zu äußern. 

Dafür möchte ich auf diesem Platze und zum Schluß meiner 
Demonstrationen etwas anderes aussprechen. Die Skoliosen- 
forschung, meine Herren, steht seit langer, langer Zeit vor 
dem Problem der Korrektur der schweren Deformitäten. 
Dieses Problem erweist sich als ein äußerst harter Stein. Aber setzen 
wir unverzagt den abgeglittenen Meißel wieder und wieder an, lassen 
wir uns durch die Stürme, welche, wie so oft, auch gegenwärtig 
wieder, den ruhigen Fortschritt der Skoliosenforschung gefährden, 
in unserer Arbeit nicht stören, so gibt der Stein schließlich doch 
Splitter her. Der kleinste Erfolg aber, den wirerzielen, hat 
seinen Wert, mindestens dadurch, daß er neuer Ansporn 
wird zu neuer Arbeit, 

Einen solchen Ansporn zu geben, war der Zweck meiner De¬ 
monstration. 


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IV. 


(Akademie für praktische Medizin zu Köln a. Rh., orthopädisch¬ 
chirurgische Abteilung.) 

Ueber RückgratsverkrünmiTmgen bei liunbosakralen 
Assimilationswirbeln ‘). 

Von 

Dozent Dr. K. Cramer^ dirig. Arzt. 

Mit 15 Abbildungen. 

Rückgratsverkrümmungen, welche ihre Entstehung verdanken 
kongenital veränderten sogen. Assimilationswirbeln mit abgeschrägten, 
verdrehten Flächen sind den Orthopäden bisher nur sehr spärlich 
bekannt geworden; wie denn überhaupt die Lehre von den kon¬ 
genitalen Skoliosen erst in allerneuester Zeit beginnt, aus den Kinder¬ 
schuhen herauszuwachsen. In den Lehrbüchern der Orthopädie 
werden die lumbosakralen Uebergangswirbel nur ganz kurz oder 
gar nicht besprochen. Hoffa erwähnt sie in seinem Handbuch mit 
keinem Wort. Schultheß widmet in dem Handbuch von Joachims¬ 
thal den Varietäten der Lumbosakralwirbel einige Zeilen: er er¬ 
wähnt auch die Formfehler an der lumbosakralen Grenze, während 
die Werke von Lorenz und Kirmisson die angeborene Rück- 
gratsverkrümraung nur kurz berühren. Besser bekannt war die 
Skoliose, besonders nach asymmetrischen Assimilationswirbeln an der 
sakrolumbalen Grenze den Gynäkologen und Anatomen. Sie sind 
von diesen öfters beschrieben worden, so z. B. von Dürr schon im 
Jahre 1869 und von Frenkel im Jahre 1871, der ebenfalls schon 
zu einer Zeit, als die wissenschaftliche Orthopädie noch gar nicht 
existierte, auf Skoliosen bei Assimilationswirbeln mit ungleicher 
Seitenhöhe hin wies. In den orthopädischen Fachzeitungen finden 

9 Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908. 


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üeber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 60 


sich nur zwei Arbeiten, die sich mit dieser Frage beschäftigten« Sie 
gehören den letzten Jahren an. Es ist das der Vertrag von Böhm 
auf dem Orthopädenkongreß 1907 und der Aufsatz von Peronne 
aus dem Jahre 1906. Böhm bat 52 Wirbelsäulen mit numerischer 
Varietät genau beschrieben und analysiert. Er kommt hierdurch 
zu der Ueberzeugung, daß «diese Varietäten Teilerscheinungen sind 
eines Phänomens, das mehr oder weniger das ganze Rumpfskelett 
in seinen einzelnen Segmenten trifft und an dessen Grenzen in be«- 
sonderer Weise zu Tage tritt. Das Wesen dieses Phänomens besteht 
in der Assimilation von kostospinalen Segmenten, an ihre kaudalen 
oder kraniellen Nachbarsegmente^. In dem klinischen Teile seiner 
Arbeit schließt er, daß an der Hälfte aller Wirbelsäulenskelette mit 
numerischer Variation Verkrümmungen leichteren Grades sich vor-» 
finden. Ich lasse hier seine Worte folgen:. «Jene Entwicklungs-» 
Störung des menschlichen Körpers, welche in der numerischen Varia¬ 
tion der Wirbelsäule ihren Ausdruck findet, führt unter bestimmten 
Umständen zu jenen idiopathischen, seitlichen Verkrümmungen der 
Wirbelsäule, welche ungefähr zu Beginn des 2. Lebensdezenniums 
auftreten und scheint der hauptsächlichste Faktor der habituellen 
Skoliose zu sein.* Jedenfalls ist es bei eingehendem Studium einer 
größeren Reihe derartiger lumbosakraler Assimilations- oder Zwitter¬ 
wirbel ohne weiteres augenfällig, daß ihr Anteil an der Aetiologie 
der Wirbelsäulendeformierung ein großer sein muß. Peronne 
(1906) bezeichnet ganz allgemein das Vorkommen einer kongenitalen 
Skoliose als eine Seltenheit. Eine Ansicht, mit der ich mich nicht 
einverstanden erklären kann. Vielmehr bin ich meinen Beobachtungen 
nach fest davon überzeugt, und kann es auch durch Röntgenplatten 
beweisen, daß angeborene Rückgratsverkrümmungen und speziell die¬ 
jenigen, welche lumbosakralen asymmetrischen Assimilationswirbeln 
ihre Entstehung verdanken, nicht selten sind. Bei achtsamer Unter* 
Buchung und genauerem Studium der Röntgenplatten findet man 
eine ziemlich große Anzahl Abnormitäten an den Wirbeln resp^ 
ihren Fortsätzen oder den Rippen, die kongenitaler Herkunft sein 
müssen. Peronne beschreibt exakt drei Beckenpräparate derartiger 
Skoliosen, die bedingt sind durch asymmetrische lumbosakrale 
üebergangswirbel. «Die wirkliche Ursache der Skoliose ist bei ihnen 
unzweifelhaft in der Abschrägung der Flächen des Körpers des 
mifibildeten Wirbels zu sehen.* 

Zum besseren Verständnis zunächst einige Worte zur fötalen 


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70 


K. Gramer. 


Anatomie dieser Assimilationswirbel an der lumboskkralen Grenze^ 
die man auch kurz als Uebergangsformen an den Orenzwirbeln des 
Kreuzbeins und der Lendenwirbelsäule definieren kann. Ueber die 
Bildung des Kreuzbeines, über dessen erste Anlagen und deren 
Einzelheiten in frühester Zeit seiner Entwicklung ist sehr wenig 
Positives bekannt. Die drei obersten Kreuzbeinwirbel haben bekannt¬ 
lich in ihrer juvenilen Periode fünf Knochenkerne, die zwei unteren 
Wirbel nur drei. Aus diesen Kernen entwickelt sich die Verknöcherung 
des knorpelig präformierten Kreuzwirbels. Von den fünf Kernen der 
oberen Sakralwirbel bildet einer den Wirbelkörper, je einer den 
rechten resp. den linken Wirbelbogen mit Quer- und Gelenkfortsatz, 
wobei die Verknöcherung vom seitlichen Teile der Bogenwurzel fort¬ 
schreitet, und weiter je einer den rechten resp. den linken Processus 
eostalis. Letzterer macht hauptsächlich die Massa lateralis aus. 
Erst im Pubertätsalter beginnen die Wirbel des Kreuzbeins zu ver¬ 
knöchern. Die vollständige Verschmelzung des 1. und 2. Sakral¬ 
wirbels tritt erst im 25.—30. Lebensjahre ein. Hierbei mache ich 
auf die Bedeutung auch besonders in morphologischer Hinsicht der 
KreuzbeinflUgel aufmerksam. Nach Gegenbaur muß man sie 
streng trennen in einen ventralen Proc. eostalis und einen dorsalen 
Proc. transversus. Der erstere entwickelt sich aus den beiden Ossi¬ 
fikationspunkten zu beiden Seiten des Wirbelkörpers, der letztere 
aus den Knochenkernen für die Wirbelbögen. Diese Separierung 
ist auch beim Erwachsenen nicht selten noch deutlich wahrzunehmen. 
Der Proc. eostalis ist es auch, der nach Frenkel dem weiblichen 
Becken seine weite charakteristische Form gibt, durch starke Ent¬ 
wicklung seiner Breitenausdehnung. Die Proc. costales allein ohne 
Mitbeteiligung der Proc. transversus bilden die Facies auricularis und 
zwar meist nur die drei obersten. Ihr Verhalten prägt zum größten 
Teil den Charakter des Assimilationswirbels, je nachdem der Costalis 
einseitig oder doppelseitig, vollkommen oder unvollkommen aus¬ 
gebildet ist und sich beteiligt an der Facies auricularis. Weiter ist 
zu beachten die Stellung des Uebergangswirbels zum Becken; ob er 
über, unter, oder im Beckeneingang sich befindet. So koqimt es, 
daß sowohl sein kranieller als sein kaudaler Rand das Promontorium 
bilden können. Normaliter befindet sich bekanntlich das Vorgebirge 
zwischen Lumbalis V und Sacralis I. Ein doppeltes entsteht, wenn 
der erste Kreuzwirbel frei oder nahezu frei ist und einen lumbalen 
Charakter angenommen hat. Das doppelte Promontorium wird dann 


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lieber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assi milations wirb ein. 71 


gebildet: Erstens von der Synchondrosis sacralis I und zweitens von 
der Synchondrosis lumbosacralis. Waldeyer fand derartige Ver¬ 
hältnisse bei 265 Fällen 33mal. Der Assimilationswirbel kann 
ferner ventral sich vordrängen oder dorsal Zurückbleiben. Alle diese 
Stellungen sind von rückwirkendem Einfluß auf die spätere Form 
oder Deformierung der Wirbelsäule. So ist besonders von Wichtig¬ 
keit der Stand des Promontoriums, die Neigung, die Krümmung, 
des Sacrums, auf die anteroposterioren, normalen oder übernormalen 
Verbiegungen der Wirbelsäule (flacher, hohler Rücken). Kurz sei 
hier eine interessante Beobachtung von Raab angeführt. Er hat 
bei Assimilation des 5. Lendenwirbels mit dem Kreuzbein ungleiche 
Länge der unteren Extremitäten beobachtet, die natürlich eine sta¬ 
tische Skoliose im Gefolge haben mußten. Der Fall ist kurz folgender: 
Leichenbefund: ,An der Wirbelsäule außer der Assimilation nichts 
Besonderes. Becken asymmetrisch. Die Crista und Spina ossis ilei 
stehen links höher als rechts. Das linke Ileum ist nach oben ver¬ 
schoben, das Becken schräg verengt. Es finden sich sechs Lenden¬ 
wirbel. Der Querfortsatz des 5.. Lendenwirbels ist massiger als an 
den anderen Lendenwirbeln, übertrifflb diese um das zwei- oder drei¬ 
fache an Dicke; an seiner unteren Partie eine knopfartige Ver¬ 
dickung.Raab fand ferner, daß auf der Seite der abnormen 
Partie des einseitig assimilierten Wirbels Crista und Spina des Ileum 
höher stehen und damit durch nach Obenrücken der Pfanne eine 
scheinbare Verkürzung eintritt. 

Die numerische Stellung des Assimilationswirbels ist bedingt 
durch die Höhe der Darmbeinanlage. „Findet die Anlage des Darm¬ 
beines in einer etwas anderen Höhe der embryonalen Wirbelsäule 
statt, 80 daß sie im Laufe der Entwicklung nicht ganz wie gewöhn¬ 
lich auf Wirbel 25, 26, 27 fällt, sondern kommt sie etwas höher 
oder tiefer an der Wirbelsäule zu stände, so wird dies auch dadurch 
zum Ausdruck gebracht, daß entweder der 24. einen mehr oder 
weniger vollkommenen Costalis akquiriert, oder der 25. Wirbel nicht 
zur völligen Ausbildung eines solchen kommt oder ganz in lumbaler 
Form bleibt* (Breuß und Kollisko). Nach Rosenberg findet 
ontogenetisch eine Transformierung des Kreuzbeins statt, zugleich 
nnt einer kraniellen Fortbewegung. „Im allgemeinen läßt sich also 
sagen, daß bei Halbaffen und Affen Sacrum und untere Thoraxgrenze 
uni so weiter distal stehen, je niedriger die Stellung ist, die dem 
Tiere wegen seiner Gesamtorganisation in der Systematik angewiesen 


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72 


K. Gramer, 


wird. Hierbei sind die extremen Formen einesteils Formen der 
Vergangenheit, andern teils Formen der Zukunft. Ein Kreuzbein, das 
mit Wirbel 27 und 26 beginnt, ist Zukunftsform.“ Er findet den 
Grund für . das häufige Vorkommen der Assimilationswirbel in dem 
kraniellen Vorrücken der Beckenanlage in der Embryonalzeit. »Daß 
bei der Entwicklung des menschlichen Sacrum ein Umbildungs¬ 
prozeß stattfindet, der mehr Wirbel betrifil, als in den einzelnen 
Stadien des Prozesses im Sacrum enthalten sind, der deshalb ein 
fortschreitender ist und sein Fortschreiten speziell dadurch zu stände 
kommen Jäßt, daß er die am proximalen Ende des yon ihm be¬ 
herrschten Abschnittes befindlichen Wirbel nach Entfaltung ihres 
kostalen Elementes ins Sacrum hinüberführt.“ Disse erkennt die 
Rosenberg sehen Untersuchungen an. »Beim Eymbro hat, wie 
Rosenberg fand, regelmäßig im frUhen Stadium die Bauch Wirbel¬ 
säule bei normaler Gesamtzahl der Wirbel 5 Stück. Der 21. Wirbel 
ist der erste Bauchwirbel; der 26. Wirbel ist der embryonale 
1. Kreuzwirbel. Dann wird der 25. dem Kreuzbein assimiliert. Das 
Kreuzbein wandert nachweisbar während der embryonalen Lebens¬ 
zeit um einen Wirbel nach dem Schädel hin vorwärts.“ Dieser 
fortschreitende Prozeß kann in einem embryonalen Stadium halt 
machen, so daß man als 1. Sakralwirbel gefunden hat den 24., 
25., 26., 27. Wirbel. In den beiden Fällen von Varaglia wurde 
sogar der 28. Wirbel als 1. Sakralwirbel gezählt. Ueber die Häufig¬ 
keit des Vorkommens geben die Arbeiten von Paterson, Adolphi 
und Wald ey er Aufschluß. Adolphi untersuchte 84 Leichen, lauter 
Erwachsene, und zwar 48 Männer und 35 Frauen. Bei den 35 Frauen 
war einmal Wirbel 26 erster Sakralwirbel; die Krümmung des Sacrum 
war wie gewöhnlich einfach. Einmal hatte Wirbel 25 auf der einen 
Seite einen Querfortsatz von lumbalem Charakter, auf der anderen 
Seite dagegen von sakralem Charakter, der mit dem Ileum artiku¬ 
lierte. Wirbel 25 war mit dem übrigen Kreuzbein nicht synostotisch 
verbunden. Das Promontorium lag zwischen Wirbel 25 und 26. 
Einmal war Wirbel 25 erster Sakralwirbel bei doppeltem Promon¬ 
torium. 32mal war Wirbel 25 erster Sakralwirbel bei einfacher 
Sakralkrümmung, 5mal war Wirbel 25 erster Sakralwirbel bei dop¬ 
peltem Promontorium. 38mal war Wirbel 25 erster Sakral wirbel 
bei einfacher Sakralkrüramung. Einmal beteiligte sich Wirbel 24 
an der Pars lateralis des Kreuzbeins und hatte an der anderen Seite 
einen Querfortsatz von lumbalem Charakter. Das Promontorium lag 


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lieber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 73 


zwischen Wirbel 24 und 25. Zweimal war Wirbel 24 erster Sakral¬ 
wirbel bei doppeltem Promontorium. Im ganzen war in 3,6 ^/o 
.Wirbel 25, in 92,8 ^/o Wirbel 24, in 3,6 ^/o Wirbel 23 der letzte 
reine Lumbalwirbel, oder mit anderen Worten auf seiner kraniellen 
Wanderung kann das Sacrum das übliche Ziel entweder nicht er¬ 
reichen oder über dasselbe hinausschießen und es entsteht so ein 
Assimilationswirbel mit bald mehr sakralem, bald mehr lumbalem 
Charakter. Auf diese Weise kommen natürlich die verschiedensten 
Variationen, Spielarten und Abstufungen vor, je nachdem der Proc. 
costalis, der ja den Typus des Uebergangswirbels bestimmt, voll¬ 
kommener oder unvollkommener ausgebildet ist. Die sakrale Form 
dokumentiert sich in möglichst fehlerfreier Ausbildung des costalis, 
die lumbale Form in gänzlichem oder fast gänzlichem Fehlen des¬ 
selben. So kommt es, daß man beidseitige symmetrische oder beid¬ 
seitige asymmetrische Assimilierung unterscheiden kann, je nachdem 
beide Seiten mehr lumbal oder sakral, oder die eine Seite lumbal 
und die andere sakral charakterisiert ist. Durch letzteren Vorgang 
entstehen nicht selten Niveaufehler oder Abschrägungen in der 
obersten Partie des Kreuzbeins als Grundlage für eine Skoliose, der 
sich darauf schief oder verdreht aufbauenden Lendenwirbel und so 
wird die Gestalt, räumliche Ausdehnung und Stellung des Kreuz¬ 
beins von maßgebendem Einfluß durch die sich entwickelnde Skoliose 
auf die Form der Wirbelsäule und des Beckens. Bei symmetrischen 
Assiroilationswirbeln muß ferner die Beckenneigung und damit der 
Grad der physiologischen Lendenlordose variieren, je nachdem das 
Sacrum verlängert oder verkürzt ist durch Fehlen des 5. oder Hin¬ 
zuziehung eines 6. Wirbels, oder der Höhenzunahme seiner einzelnen 
Wirbel und der dadurch hervorgegangenen mehr oder weniger aus- 
gebildeten Beckenneigung. Die Länge des Kreuzbeines ist ja be¬ 
kanntlich großen Schwankungen unterworfen; sie differiert zwischen 
15, 5 und 9 cm (Hyrtl). Hierzu kommt noch, daß die gelenkige 
Kommunikation des Darmbeins mit dem Sacrum in wechselnder 
Höhe stattfindet, numerisch nicht immer dieselben Sakralvvirbel die 
Facies auricularis bilden. Diesen Wirbel, dessen kostales Stück vor¬ 
zugsweise in Verbindung mit dem Darmbein steht, hat Holl seiner 
.Wichtigkeit wegen mit einem besonderen Namen belegt; er nennt 
ihn Fulcralis. 

Die Assimilationswirbel sind streng zu trennen von denjenigen 
mißbildeten Sakralwirbeln, deren Mißbildung zu suchen ist in einem 


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74 


K. Gramer. 


kongenitalen Ossifikationsdefekte oder mit anderen Worten in pri¬ 
mären Fehlern des anatomischen Aufbaues einzelner Sakralwirbel. 
Hierbei kann deren knorpelige Anlage schon abnorm gewesen sein, 
Defektbildung an den Ossifikationsherden gezeigt haben, oder die 
eine oder die andere Verknöcherungsstelle ist zwar angelegt gewesen, 
hat sich aber nicht zu ihrer Vollkommenheit entwickelt. Breuß 
und Kollisko teilen sie ihrer Anatomie und Genese nach in 
drei Gruppen: 

1. Sacrum mit keilförmigen Wirbelrudimenten, 

2. Sacrum mit Defekt eines ganzen Flügels, 

3. Sacrum mit Defekt eines Querfortsatzes. 

Die Einschiebung eines keilförmigen, rudimentären, nur halb¬ 
seitig entwickelten Wirbels in das Sacrum ist zuerst von Roki¬ 
tansky beschrieben worden. Sie bedingt eine Asymmetrie des 
Kreuzbeines, die wiederum eine seitliche und rotatorische Ver¬ 
krümmung der Wirbelsäule nach sich ziehen muß. Der Assimi¬ 
lationswirbel zeigt im Gegensätze hierzu stets einen vollkommen aus¬ 
gebildeten Wirbelkörper, der allerdings Höhendifferenzen zwischen 
rechts und links resp. seitliche Abschrägung zeigen kann. Im Roki¬ 
tansky sehen Falle ist Steiß und Kreuzbein zu einem Stücke ver¬ 
schmolzen, an dem die Zahl der Kreuzbeinlöcher rechts vier, links 
fünf beträgt. Der 1. Kreuzbeinwirbel besteht nämlich in seiner linken 
Hälfte infolge seiner Höhe und des gedoppelten Dorn- und Gelenk¬ 
fortsatzes aus zwei untereinander verschmolzenen Wirbelhälften. Der 
5. Lendenwirbel ist rechts mit dem Kreuzbein zusammengeflossen, 
d. i. „seine rechte Hälfte zu einem Kreuzwirbel entwickelt, wodurch 
jene Höhe der linken Kreuzbeinhälfte ausgeglichen wird.“ v. Meyer 
beschreibt ein Kreuzbein mit verkümmerter Ausbildung des 1. Kreuz¬ 
beinwirbels als Ursache der sakralen Asymmetrie. Ferner findet 
man bei Paterson ein Kreuzbein mit Einschaltung keilförmiger 
Wirbelrudiraente. Weiter ist ein Sacrum von Kuiidrat bei Br euß 
und Kollisko erwähnt, bei dem kongenital rechts der ganze 
Flügel des 1. Sakralwirbels fehlt. Das Kreuzbein stand schief, die 
Lendenwirbelsäule zeigte eine rechtskonvexe Skoliose. Thomas 
hat einen Fall beschrieben, der kongenitale Defekte aufweist, rechts 
des Seitenflügels des ersten und links des dritten Sakralwirbels. 
Einen sehr interessanten Fall schildern Breuß und Kollisko: 
Beiderseits Fehlen des Proc. transversus des 1. Sakral Wirbels. Rechter- 
seits ist die Pars costalis nach oben luxiert. 


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üeber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 75 


Ich lasse jetzt die Beschreibungen meiner Beobachtungen folgen. 
Die Präparate gehören der Anatomie in Marburg a. L. Sie sind noch 
nicht publiziert worden. 


Fig. 1. 

Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 11,5 cm. Sagittaldurch- 
messer 11,5 cm, Conjug. infer. 11 cm, Diam. obliqua 14,5 cm, 
Diam. transversa 14 cm. 

Beckenmitte: Conjug. 14 cm, Transversa 13 cm. 


Fig. 1. 



Beckenausgang: Conjug. 13 cm, Spina ischii 12,5 cm, Tubera 
iscbii 12 cm. 

Kreuzbein: Breite 10,5 cm, Höhe 10 cm, Gelenklänge 6,5 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 5,5 cm, Pars ilei 7 cm, 
Pars pub. 7,5 cm. Höhe der Sjmphysis pubis 4,5 cm. Seitliche 
Beckenwand 10 cm, Spinae 23 cm, Cristae 26,5 cm. 

Alle Sakralwirbel sind untereinander verknöchert, die drei 
unteren nach links abgewichen. Der Sacralis 1 zeigt links nor¬ 
male Verhältnisse. Rechts ist der Processus costalis nach oben er¬ 
höht und trägt eine Gelenkfläche. Der letzte Lumbalwirbel hat 
rechts sakrale Assimilation, zeigt hier einen teilweise ausgebildeten 
Proc. costalis, dessen Gelenkfläche mit dem erhöhten Proc. costalis 
des 1. Sakralwirbels gelenkig verbunden ist. Sein Körper ist oben 


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76 


K. Gramer. 


nach links abgeschrägt; seine untere Fläche ist gerade. Seine stärkste 
Höhe beträgt rechts 3,5 cm, links 2,5 cm. Es sind vier Sakralwirbel 
vorhanden. 

Fig. 2. 

Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 11 cm, Conj. infer. 11cm, 
Sagittaldurchmesser 11cm, Diam. obliq. 14 cm, Diam. transversa 
13,5 cm. 

Beckenmitte: Conjug. 14 cm. Transversa 13 cm. 

Beckenausgang: Conjug. 9,5 cm, Spina ischii 12,5, Tubera 
ischii 13 cm. 

Kreuzbein: Breite 11cm, Höhe 8,5 cm, Gelenklänge 6 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 5,5 cm, Pars iliac. 7 cm, 
Pars pub. 7,5 cm, Höhe der Symphysis pubis 4,5 cm, seitliche 
Beckenwand 9 cm, Spinae 25 cm, Cristae 28,5 cm, 

Fig. 2. 



Zwei Promontorien sind vorhanden. Eines zwischen letztem 
Lumbalis und erstem Sacralis; und ein zweites zwischen letztem und 
vorletztem Lumbalis. Links hat der Costalis des ersten Sacralis eine 
Erhöhung nach oben mit einer Gelenkfläche. 

Die aurikuläre Gelenkfläche des Costalis des Sacralis I reicht 
links höher nach oben wie rechts. Der letzte Lumbalis ist links 
assimiliert, trägt einen deutlichen Costalis mit breiter nach unten 
sehender Gelenkfläche. Er steht nicht in Verbindung mit der Facies 
auricularis. 


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üeber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 77 


Rechts reicht der Proc. transversus sehr nahe an den Sacralis I 
heran. Durch die Verbindung des Costalis des letzten Lendenwirbels 
mit dem Costalis des ersten Kreuzbeinwirbels entsteht links ein 
fünftes Sakralloch. Die Wirbelbögen des letzten Lumbalis sind 
asymmetrisch, schief, der rechte steht tiefer wie der linke. Der 
Körper zeigt eine geringe Asymmetrie; seine obere Fläche ist nach 
links abfallend abgeschrägt, seine untere gerade. Die anderen Lenden¬ 
wirbel bauen sich ziemlich gerade auf. 

Fig. 3. 

Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 9 cm, Conjug. inf. 9 cm, 
Sagittaldurchmesser 9 cm, Diam. obliqua 12,5 cm, Diam. transversa 
13 cm. 

Beckenmitte: Conjug. 12 cm, Transversa 13 cm. 

Fig. 3. 



Beckenausgang: Conjug. 9,5 cm, Spina ischii 10 cm, Tubera 
ischii 10,5 cm. 

Kreuzbein: Breite 10,5 cm, Höhe 8 cm, Gelenklänge 6 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7,5 cm, Pars iliac. 6 cm, 
Pars pub. 7 cm, Höhe von Symphysis pubis 3 cm, seitliche Becken¬ 
wand 9,5 cm, Spinae 24 cm, Cristae 25 cm. 

Es bestehen zwei Promontorien. Eines zwischen erstem Sacralis 
und letztem Lumbalis und ein zweites zwischen letztem und vor¬ 
letztem Lumbalis. Fünf Sakralwirbel. Das Sacruin ist stark nach 
hinten konvex ausgebogen 


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78 


K. Gramer. 


Der letzte Lumbalis ist rechts assimiliert, hat hier einen 
deutlichen Costalis, der mit dem Costalis des ersten Sacralis eine 
knöcherne Masse bildet und so ein fünftes Sakralloch entstehen läßt. 
Sein Costalis ist an der Facies auricularis beteiligt. Diese reicht 
rechts höher hinauf wie links. Die Zwischenbandscheibe unter dem 
Körper des Assimilationswirbels ist erhalten. Seine untere Gelenk- 
flache ist gerade; die obere nach links abhängig. Die größte Höhe 
des Wirbelkörpers beträgt rechts 2,8 cm, links 2,5 cm. Die Linea 
terminalis ist rechts deutlich gedoppelt, links einfach. An dem 
linken Gelenkfortsatz des Assimilationswirbels keine auffallenden Ab¬ 
normitäten. 

Fig. 4. 

Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 8,5 cm, Conjug. inf. 8,5 cm, 
Sagittaldurchmesser 8,5 cm, Diam. obliqua 11 cm, Diam. transversa 
11,5 cm. 

Beckenraitte: Conjug, 11,5 cm. Transversa 11 cm. 

Beckenausgang: Conjug. 9,5 cm, Spina ischii 9 cm, Tubera 
ischii 7 cm. 

Kreuzbein: Breite 9,5 cm, Höhe 8 cm, Gelenklänge 5 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 6,5 cm, Pars iliac, 5 cm, 
Pars pub. 6 cm, Höhe der Symphysis pubis 3 cm, seitliche Becken¬ 
wand 9,5 cm, Spinae 22,5 cm, Cristae 24,5 cm. 

Das Kreuzbein steht sehr tief. Das Promontorium befindet sich 
zwischen letztem Lumbalis und erstem Sacralis, Ob noch ein zweites 


Fig. 4. 



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üeber Rückgratsverkrümraungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 79 

Promontorium vorhanden ist, läßt sich nicht positiv sagen, da die 
anderen Lumbalwirbel fehlen. Wahrscheinlich handelt es sich nur 
um ein Promontorium, welches 1 cm zu tief sitzt. Fünf Sakralwirbel, 
die drei unteren sind nach links abgebogen. Das Sacrum ist stark 
ausgehöhlt. Der letzte Lumbalwirbel hat rechts einen stark 
ausgebildeten Costalis, ist hier sakral assimiliert. Dieser Costalis ist 
mit dem Kreuzbein knöchern verbunden, bildet mit diesem morpho¬ 
logisch ein Ganzes. Die Zwischenwirbelscheibe zwischen Sacralis I 
und letztem Lumbalis ist erhalten. Links ist ein normaler Proc. 
transversus ohne jede Andeutung eines Costalis. Links vier, rechts 
fünf Sakrallöcher. Die untere Fläche des letzten Lendenwirbelkörpers 
ist gerade, die obere abgeschrägt. Seine Höhe beträgt rechts 2,7 cm, 
links 1,8 cm. Der dritte Sacralis ist rechts höher wie links, während 
der fünfte Sacralis links höher ist wie rechts. 

Fig. 5. 

Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 12 cm, Conjug. inferior 
12 cm, Sagittaldurchmesser 12 cm, Diam. obliqua 14 cm, Diam. 
transversa 14 cm. 

Beckenmitte: Conjugata 13,5, Transversa 13 cm. 

Beckenausgang: Conjug. 11,5 cm, Spina ischii 11,5 cm, Tubera 
ischii 12 cm. 

Kreuzbein: Höhe 8,5 cm, Breite 11,5 cm, Gelenklänge 6,5 cm. 


Fig. 5. 



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80 


K. Gramer. 


Seitenbeckenknochen; Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 7 cm, Pars 
pub. 7,5 cm, Höhe der Symphysis pubis 4,5 cm, seitliche Becken¬ 
wand 10 cm, Spinae 25 cm, Cristae 28 cm. 

Das Kreuzbein steht gerade, ist symmetrisch. Von seiten des 
Promontoriums nichts Besonderes. An der Hinterseite ziemlich nor¬ 
male Verhältnisse. Der letzte Lumbalwirbel ist stark verändert, 
teilweise sakralisiert. Rechts ein unvollkommen ausgebildeter Co- 
stalis, der in gelenkige Verbindung tritt mit dem Costalis des Sa¬ 
cralis I. In diesem Gelenk ein Schaltknochen. An dem Kreuzdarm¬ 
beingelenk beteiligt sich dieser Costalis nicht. Der linke Processus 
transversus des letzten Lumbalis ist ziemlich normal geformt; er ist 
mit dem Costalis des ersten Sacralis gelenkig verbunden. Die untere 
Fläche des letzten Lumbalis ist gerade, die obere neigt sich von 
rechts nach links. Die Höhe des Wirbelkörpers beträgt rechts 3 cm, 
links 2,3 cm. 

Fig. 6. 

Maße: Beckeneingang: Conjugata vera 11 cm, Conjug. inferior 
11,5 cm, Sagittaldurchmesser 11 cm, Diam. obliqua 11,5 cm, Diam. 
transversa 12 cm. 

Beckenmitte: Conjug. 12 cm. Transversa 11 cm. 

Beckenausgang: Conjug. 10 cm, Spinae ischii 8 cm, Tubera 
ischii 8 cm. 

Kreuzbein: Breite 10 cm, Höhe 10 cm, Gelenklänge 5 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 6 cm, 


Fig. 0. 



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Ueber Rückgratsverkrümraungen bei lurabosakralen Assimilationswirbeln. 81 


Pars pub. 7 cra, Höhe der Syniphysis pubis 4 cm, seitliche Becken¬ 
wand 10,5 cm, Spina 22 cm, Cristae 24 cm. 

Das Sacrum ist symmetrisch gebaut, ziemlich steil gestellt, 
wenig ausgehöhlt. Der letzte Lendenwirbel hat links einen schön 
ausgebildeten Costalis, ist hier sakralisiert. Dieser bedingt linker¬ 
seits eine Doppelung oder Gabelung der Linea terminalis. Das Pro¬ 
montorium steht 1 cm über dieser Linie. Die Zwischenbandscheibe 
oberhalb des ersten Kreuzwirbels ist deutlich vorhanden. Die Co- 
stales des letzten Lenden- und ersten Sakralwirbels sind knöchern 
ankylosiert. Der lumbale Costalis beteiligt sich ebenfalls am Ileo- 
sakralgelenk. Dieser reicht infolgedessen links höher hinauf wie 
rechts. Seine obere Grenze befindet sich 1,5 cm über der recht¬ 
seitigen. Rechts beteiligen sich die Costales des ersten und zweiten 
Sacralis an der Facies auricularis. Die untere Fläche des letzten 
Lumbalwirbelkörpers ist gerade, die obere von links nach rechts ab¬ 
geschrägt. Höhe des Wirbelkörpers rechts 2 cra, links 3 cm. An 
der Hinterseite des Beckens nichts Besonderes. 

Fig. 7. 

Maße: ßeckeneingang: Conjug. vera 11 cm, Conjug. inferior 
11 cm, Sagittaldurchmesser 10,5 cm, Diam. obliqua 12 cm, Diam. 
transversa 11 cm. 

Beckenmitte: Conjug. 13,5 cm, transversa 11 cm. 

Beckenausgang: Conjug. 12,5 cm, Spina ischii 11 cm, Tubera 
ischii 11 cm. 

Kreuzbein: Breite 9,5 cm, Höhe 10 cm, Gelenklänge 6 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 6,5 cm, 
Pars pub. 6 cm, Höhe der Symphysis pubis 4 cm, seitliche Becken¬ 
wand 9 cm, Spinae 20 cra, Cristae 22 cm. 

Das Sacrum steht gerade, ist stark gewölbt, schmal; beider¬ 
seits fünf vollkommen ausgebildete Sakrallöcher. Den obersten 
Wirbel kann man als Sacralis I oder als letzten Lumbalis auffassen. 
Jedenfalls ist er ein Assimilationswirbel. Rechts hat er einen voll¬ 
kommen sakralisierten Costalis, der sich am Kreuzdarmbeingelenk 
beteiligt und mit dem übrigen Kreuzbein knöchern verschmolzen ist. 
Links ein unvollkommen ausgebildeter Costalis, der sich ebenfalls 
am Kreuzdarmbeingelenk beteiligt und mit dem unter ihm liegenden 

Costalis gelenkig verbunden ist. Die Linea terminalis steht rechts 
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 6 


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82 


K. Gramer. 


Fig. 7. 



um einen Wirbel höher wie links. Der Körper des Assimilations¬ 
wirbels ist asymmetrisch, verdreht, so daß seine ventrale Fläche 
links mehr nach hinten steht wie rechts. Die obere und untere 
Fläche des Wirbelkörpers ist ungefähr parallel. Seine Höhe be¬ 
trägt rechts und links 2,8 cm. 


Fig. 8. 

Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 10 cm, Conjug. inferior 
10 cm, Sagittaldurchmesser 10 cm, Diam. obliqua 13 cm, Diam. trans¬ 
versa 13,5 cm. 

Beckenmitte: Conjugata 11 cm, Transversa 12 cm. 


Fig. 8. 



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üeber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 83 


Beckenausgang: Conjugata 9,5 cm, Spina ischii 11 cm, Tubera 
ischii 10,5 cm. 

Kreuzbein: Breite 11 cm, Höhe 9 cm, Gelenklänge 5 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 6 cm, 
Pars pub. 7,5 cm, Höhe der Symphysis 4 cm, seitliche Beckenwand 
9.5 cm, Spinae 19 cm, Cristae 24 cm. 

Es besteht ein doppeltes Promontorium. Eines zwischen Sa¬ 
cralis I und letztem Lumbalis und ein zweites zwischen letztem und 
vorletztem Lumbalis. Der Beckeneingang ist asymmetrisch; das 
Kreuzbein ziemlich gerade, normal gekrümmt. Fünf ausgebildete 
Sakrallöcher. Der letzte Lumbalis ist stark assimiliert, trägt beider¬ 
seits einen unvollkommen ausgebildeten Costalis. Dieser ist rechts 
stärker entwickelt wie links. Die Costales beteiligen sich auf beiden 
Seiten am Ileosakralgelenk, sind mit den darunterliegenden Costales 
gelenkig verbunden. Rechterseits an diesem Gelenk ein Schalt¬ 
knochen. Dieses Gelenk steht tiefer als das linkseitige. Die untere 
Fläche des Assimilationswirbelkörpers ist gerade, die obere abge¬ 
schrägt nach links. Höhe des Körpers rechts 2,7 cm, links 2,4 cm. 

Fig. 9. 

Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 11 cm, Conjug. inferior 
12 cm, Sagittaldurchmesser 12 cm, Diam. obliqua 12 cm, Diam. 
transversa 11,5 cm. 

Beckenmitte: Conjugata 13 cm. Transversa 10 cm. 

Beckenausgang: Conjugata 12 cm, Spina ischii 6,5 cm, Tubera 
ischii 7,5 cm. 

Kreuzbein: Breite 10 cm, Höhe 9 cm, Gelenklänge 7 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 6 cm, 
Pars pub. 7 cm, Höhe der Symphysis pubis 4 cm, seitliche Becken¬ 
wand 10,5 cm, Spinae 23,5 cm, Cristae 24 cm. 

Die linke Beckenhälfte steht 1 cm höher als die rechte. Das 
Promontorium befindet sich 2 cm oberhalb der Linea terminalis. 
Fünf Sakralwirbel. Die Gelenkfläche wird durch die Costales der 
drei obersten Wirbel gebildet. Links hat der Proc. costalis des 
ersten Kreuzbeinwirbels nach oben zu eine Gelenktläche für den 
leicht sakralisierten Transversus des letzten Lumbalis. So entsteht 
links ein sechstes Kreuzbeinloch. Keine deutliche Asymmetrie des 
Assimilationswirbelkörpers; keine Abschrägung. 


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84 


K. Crainer. 


Fig. 9. 



Fig. 10. 

Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 12,5 cm, Conjug. inferior 
12,5 cm, Sagittaldurchmesser 12,5 cm, Diam. obliqua 14,5 cm, Diam. 
transversa 14 cm. 

Beckenmitte: Conjug. 14,5 cm. Transversa 13 cm. 

Beckenausgang: Conjug. 13 cm, Spina ischii 11cm, Tubera 
ischii 12 cm. 

Kreuzbein: Breite 11 cm, Höhe 11,5 cm, Gelenklänge 6 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 7 cm, 
Pars pub. 8 cm, Höhe der Symphysis pubis 4 cm, seitliche Becken¬ 
wand 10 cm, Spinae 22 cm, Cristae 25 cm. 

Links befindet sich die Linea terminalis über der Massa late¬ 
ralis des Sacrums an gewöhnlicher Stelle; rechts rückt sie um die 
Höhe eines Wirbelkörpers nach oben. An der Stelle, wo sie rechts 
sein sollte, ein auffallend großes Kreuzbeinloch. Die Körper der 
Sakralwirbel I, 11 und HI stehen gerade; IV und V sind nach rechts 
konvex abgebogen. An der Gelenkbildung sind beteiligt rechts der 
Costalis des Assimilationswirbels und des Sacralis I und II. Links 
nur der Costalis I und II. Der assimilierte Wirbel dürfte dem letzten 
Lumbalis entsprechen. Er ist rechts vollkommen sakralisiert, knö¬ 
chern mit dem Kreuzbein verschmolzen. Keine Spur einer Zwischen¬ 
bandscheibe. Der Costalis des Assimilationswirbels ist nur in seiner 
unteren Hälfte mit dem Ileum artikuliert. Seine obere Gelenkfläche 


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I eher Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 85 



Fig. 10. 


ist stark nach links abgeschrägt, sein Körper torquiert asymmetrisch. 
Seine Höhe beträgt rechts 3 cm, links 2,5 cm. Die rechte Körper¬ 
hälfte ist breiter als die linke, steht vor, die linke zurück. Rechts 
fünf, links vier Kreuzbeinlöcher. 


Fig. 11. 

Maße: Beckeneingang: Conjug. vera 9 cm, Conjug. inferior 
9 cm, Sagittaldurchmesser 9 cm, Diam. obliqua 12,5 cm, Diam. trans¬ 
versa 12,5 cm. 

Beckenmitte: Conjug. 10,5 cm. Transversa 12 cm. 

Beckenausgang: Conjug. 9 cm, Spina ischii 9,5 cm, Tubera 
ischii 10,5 cm. 

Kreuzbein: Breite 10,5 cm, Höhe 9,5 cm, Gelenklänge 5 cm. 

Seitenbeckenknochen: Pars sacralis 7 cm, Pars iliac. 5,5 cm, 
Pars pubica 7 cm, Höhe der Symphysis pubis 3,5 cm, seitliche 
Beckenwand 8 cm, Spinae 23 cm, Cristae 25 cm. 

Das Promontorium steht sehr hoch, weit über der Linea ter- 
rainalis. Sechs Kreuzbeinwirbel. Die Gelenkfläche wird von den 
Costales der drei obersten Sacrales gebildet. Keine Asymmetrie. 
Die Seitenfortsätze des letzten Lumbalis stehen sehr tief, sind in 
abnormer Weise gestaltet, nach oben hin zugespitzt und geschweift, 
den Costales der obersten Sacrales genähert. 


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8G 


K. Gramer. 


Fig. 11. 



Fig. 12. 

Kreuzbein 1: Jugendlicher Knochen. Länge 9 cm. Breite 
8,5 cra. Zwischenwirbelscheiben deutlich erhalten. Fünf Kreuzbein¬ 
wirbel. Der letzte Lumbalis ist teilweise assimiliert resp. links un- 


Fig. 12. 



vollkommen sakralisiert, trägt hier einen Costalis, der mit seinen 
Nachbarn vom ersten Sacralis gelenkig verbunden ist und ein sechstes 
Kreuzbeinloch bildet. Der Körper des Assimilationswirbels ist nicht 
asymmetrisch, nicht abgeschrägt. Die Kreuzbeinkrümmung ist sehr 
gering. Rechts ist nur der erste Sacralis artikuliert, links außer 
diesem noch der Costalis des Assirailationswirbels. 

Kreuzbein 2: Den obersten Wirbel kann man bezeichnen 
als ersten unvollkommen ausgebildeten Sacralis oder als stark sakral 
assimilierten letzten Lumbalis. Bei der ersteren Benennung hätte 


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üeber Rückgrats Verkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswirbeln. 87 

das Kreuzbein sechs Wirbel, fünf Sakrallöcher. Der Costalis des 
obersten ist rechts unvollkommen gebildet. Beiderseits treten die 
Costales mit den darunterliegenden in gelenkige Verbindung. An 
beiden Gelenken Schaltknochen. Die Zwischenwirbelscheibe ist er¬ 
halten. Der vierte und fünfte Sakralwirbel ist stark nach vorne 
konkav abgebogen. Das Promontorium befindet sich an der oberen 
Kante des Assimilationswirbels. Keine Asymmetrie dieses Wirbels. 
Länge des ganzen Knochens 10,5 cm, Breite 10,5 cm. 

Fig. 13. 

Kreuzbein 3: Der oberste Wirbel bietet deutliche Zeichen 
der unvollkommenen Assimilation linkerseits. Hier hat er den Cha¬ 
rakter des Sacralis, rechts des Lumbalis. Links ist sein Costalis 
vollkommen ausgebildet, knöchern mit seinen darunterliegenden Nach¬ 
barn verschmolzen. Der Wirbelkörper ist asymmetrisch; seine obere 


Fig. 13. 



Fläche fällt stark nach rechts ab, die untere ist gerade. Die Höhe 
beträgt rechts 2,5 cm, links 3 cm. Zwischen dem ersten und zweiten 
Wirbel eine Zwischenwirbelscheibe. Das Kreuzbein ist stark nach 
hinten konvex ausgebogen. Die Sakrallöcher sind auffallend groß. 
Wahrscheinlich zwei Promontorien. Die Gelenkfläche wird 
gebildet rechts vom zweiten und dritten Costalis, links vom ersten 
und zweiten. 

Fig. 14. 

Kreuzbein 4. Es bestehen zwei Promontorien. 

Der oberste Wirbel ist ein Assimilationswirbel. Seine Costales 
sind nicht vollkommen sakral und nicht beiderseits gleichmäßig aus- 


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88 


K. Gramer. 


gebildet. Sie artikulieren mit den darunterliegenden Costales. Das 
linke Gelenk liegt höher als das rechte; seine Flüchen zeigen andere 
Form und Verhältnisse als das rechte. Die Zwischen wir beischeibe ist 

Fig. 14. 



erhalten. Keine Asymmetrie des Wirbelkörpers. Beiderseits fünf 
Sakrallöcher. Der Körper des Sacralis III ist von sehr geringer Höhe 
(Fraktur?). Die Sacrales IV und V biegen sich beinahe rechtwinklig 

nach hinten konvex ab. Breite des Kreuz¬ 
beines 10 cm, Höhe 8 cm. 

Kreuzbein 5: Es ist auffallend 
lang. Der oberste oder Assimilations¬ 
wirbel zeigt rechts vollkommene, links 
unvollkommene Sakralisierung. Rechts 
ist sein Costalis mit den darunterliegen¬ 
den knöchern, links gelenkig verbunden. 
Die Gelenkfläche wird gebildet rechts 
vom ersten und zweiten, links nur vom 
zweiten Costalis. Beiderseits fünf Kreuz¬ 
beinlöcher. Der Körper des Assimi¬ 
lationswirbels ist nicht asymmetrisch. Das Kreuzbein ist stark kypho- 
tisch gebogen. Seine Höhe beträgt 8,5 cm, seine Breite 10 cm. 

Fig. 15. 

Kreuzbein 6: Das typische Bild des sechs wirbeligen Kreuz¬ 
beines oder mit anderen Worten des vollkommen symmetrisch sakrali- 
sierten letzten Lendenwirbels. Die Kreuzbeinhöhe beträgt 12,5 cm, 
seine Breite 13 cm, die Gelenklänge 7 cm. 



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Ueber Rückgratsverkrümmungen bei lumbosakralen Assimilationswiibeln. 89 


Dem Direktor der Marburger Anatomie, Herrn Geheimrat 
Gasser, sage ich für die liebenswürdige Ueberlassung der Präparate 
besten Dank. 


Literatur. 

Bergmann, Ueber dorsolumbule elc. Zeitschr. f. rationelle Medizin 1862, 
Bd. 14 Heft 2. 

Rokitansky, Handbuch der speziellen pathologischen Anatomie. Wien 1844. 
W. Raab, Ueber das Zustandekommen etc. Wiener med. Jahrbücher 1880, 
Heft 1. 

Hoffa, Lehrbuch der orthopäd. Chirurgie. 

Schultheß (im Handbuch der orthopäd. Chirurgie von Joachimsthal). 
Holl, Ueber die richtige Deutung etc. Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie 
der Wissenschaften Bd. 85 Heft 3. Wien 1882. 

Hasse, Ungleichheit der beiden Hälften etc. Arch. f. Anatomie u. Physiologie, 
Anat. Abteilg. 1891. 

Waldeyer. Das Becken. 1899. 

A. M. Paterson, The human Sacrum. 1893. 

Luschka, Anatomie des Menschen. 1864. 

Hyrtl, Ueber Anomalien des menschlichen Steißbeines. Wien 1886. Sitzungs¬ 
berichte der k. k. Akademie der Wissenschaften. 

Petersen, Untersuchungen zur Entwicklung des menschl. Beckens. Arch. f. 

Anatomie u. Entwicklungsgeschichte 1893. 

Rosenberg, Ueber die Entwicklung der Wirbelsäule etc. Morphol. Jahrbücher 
von Gegenbauer 1876, Bd. 1. 

Gegenbauer, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 1899. 

Bisse, Skelettlehre. 

Dürr. Zeitschr. f. rationelle Medizin 1860. 

Thomas, Das schräg verengte Becken. Leyden 1860. 

Rokitansky, Beiträge zur Kenntnis der Rückgratsverkrümmungen etc. Med. 

Jahrbücher. Wien 1839. 

Hr. Meyer, Mißbildungen des Beckens. 1886. 

H. Adolphi, Ueber dje Variationen des Brustkorbes etc. Gegenbauers Mor¬ 
phol. Jahrbuch 1905, Bd. 33. 

Böhm, Kongreß f. Orthopädie J907. 

Perönne, Ueber kongen. Skoliose. Zeitschr. f. Orthopädie. 

Hr. Gegenbauer, Zur Bildungsgeschichte lumbosakraler Uebergangswirbel. 

Jenaische Zeitschr. f. Medizin etc. 1871, Bd. 7. 

Frankel, Beiträge zur anatom. Kenntnis etc. Jenaische Zeitschr. f. Medizin etc. 
1871, Bd. 7. 

Böhm, Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen. 1907. 

Breuß und Kollisko, Pathologische Beckenformen. 


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V. 


(Mitteilungen aus dem orthopädischen Institut von Dr. A. Lüning 
und Dr. W. Schultheß, Privatdozenten in Zürich.) 

Ueber eine Form von Bernfsskoliose*). 

Von 

Dr. Wilhelm Schultheß. 

Mit 1 Abbildung. 

Während eines kurzen Aufenthaltes in Venedig ist mir dort die 
eigentümliche Haltung der Gondolieri aufgefallen. Sie führen be¬ 
kanntlich meistens ihre Gondel mit einem Ruder, welches hinten an 
der rechten Schiffsseite seinen Stützpunkt hat. Sie sind dabei ge¬ 
nötigt, eine vollständig asymmetrische Stellung einzunehmen und zwar 
gerade im Momente der größten Kraftanstrengung. Der Gondoliere 
faßt das lange Ruder mit der linken Hand am äußeren Ende, mit 
der rechten 40—50 cm weiter unten und stellt den rechten Fuß auf 
ein am hinteren Schiffsende vorhandenes, schief ansteigendes Brettchen. 

Die Ruderexkursion wird nun wie bei allen Stehrudern nicht 
nur durch Strecken der Arme, sondern auch durch eine Senkung 
des Kumpfes unter Biegung im Hüftgelenk erreicht. Diese Beugung 
geht so weit, daß sich der Rumpf bei kräftiger Arbeit fast horizontal 
vorwärts legt, und weiter wird die Exkursionsgröße vermehrt durch 
den Zehenstand des rechten zurückstehenden Beins. Der vorge¬ 
schobenste Punkt ist demnach die linke, das Ruder umfassende 
Hand, der am weitesten zurückliegende der rechte im Zehenstand 
befindliche Fuß. 

Diese Stellung gibt nun ohne weiteres die Veranlassung zu einer 
S-förmigen Biegung der Wirbelsäule und zwar zu einer rechtskon¬ 
vexen Abbiegung über dem Kreuzbein und zu einer linkskonvexen 
im oberen Teile der Wirbelsäule, denn je mehr sich der Rumpf hori- 

’) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 24. April 1908. 


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lieber eine Form von Berufsskoliosc. 


91 


zontal legt und die Beine ebenfalls eine Neigung nach vorn annehmen, 
desto mehr äußert sich der ungleiche Stand der Füße in einer Wen¬ 
dung des Beckens nach rechts, und je weiter die Exkursion 
des Ruders getrieben wird, desto mehr entsteht für den Ruderer das 
Bedürfnis, mit allen Kräften die linke Schulter vorzuschieben bezw., 
wenn wir die horizontale Lage in die vertikale normale übersetzen, 
emporzudrängen. Er wird zur Unterstützung den Thorax auf der 
linken Seite und oben stärker wölben als rechts und in mehrfacher 
Beziehung das allgemein gültige Gesetz an seiner Bewegung erkennen 
lassen, wonach jeder Krafteinwirkung auf das Skelett womöglich ein 
durch aktive Kräfte hergestelltes Gewölbe entgegengesetzt wird. 

Aber nicht nur in dem erwähnten Punkte liegt die Veranlassung 
zu der beschriebenen Biegungsform der Wirbelsäule. Man sieht bei 
Beobachtung des Gondoliere, wie er durch die Führung des Ruders 
im Momente des stärksten Vorstoßes durch seinen linken, am Ruder 
fixierten Arm mit seinem Oberkörper über den Rand des Schiffes 
hinausgeführt wird, umsomehr, je flacher das Ruder im Wasser faßt. 
Der Oberkörper bekommt beinahe das Uebergewicht, und um nicht 
das Gleichgewicht zu verlieren, bewegt er seinen Unterkörper durch 
eine leichte Schwenkung der Beine im Fußgelenk nach rechts und 
vermehrt dadurch die S-förraige Abbiegung der Wirbelsäule. Die Ab¬ 
wicklung der Ruderbewegung gewinnt dadurch etwas Schlangenartiges. 

Eine so eigenartige. Tag für Tag sich wiederholende Bewegungs¬ 
form kann selbstverständlich nicht ohne Folgen für die Form des 
Skelettes sein, umsoweniger, als gerade die typische Form der Aus¬ 
biegung der Wirbelsäule im oberen Teil nach links in dem Moment 
am deutlichsten ist, in welchem das Skelett den größten Gegendruck 
gegen die Arbeit der eigenen Muskulatur auszuhalten hat. Es wird 
sich hier eine Prägung dieser Form nach und nach geltend machen 
müssen. Die Betrachtung der Figuren der Gondolieri hat denn auch 
meinen ersten Eindruck, daß es sich hier um eine typische Berufs- 
forra handle, bestätigt. 

Da ich mich leider nicht in der Lage befand, eine Massen¬ 
untersuchung vorzunehmen, so mußte ich mich damit begnügen, eine 
der typischen Figuren photographisch zu fixieren. Man sieht an dem 
Bilde (siehe Figur), daß hier wirklich eine linkskonvexe dorsale 
Skoliose vorliegt, welche ziemlich weit hinab reicht, so daß in der 
Gegend der rechtseitigen unteren Rippen noch eine deutliche Ein¬ 
ziehung, mit anderen Worten rechtseitige Konkavität vorhanden ist. 


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92 


Wilhelm Schultheß. 


Links oben steht der Thorax hoch, das Schulterblatt ist nach außen 
abgeschoben, man sieht, daß die Wölbung der linkseitigen Rippen 
erheblich deutlicher ist als die der rechtseitigen. Der Schulterstand 
ist dadurch auch in der Höhe ein sehr ungleicher geworden, was 
sich unter anderem auch sehr gut an der ungleichen Höhe der beiden 
Ellbogen ausspricht. Das kyphotische Moment ist bei dieser Form 
der Skoliose ziemlich stark ausgeprägt, was damit Zusammenhängen 
mag, daß das Objekt ein öOjähriger Mann war. Die Abknickung 



der Wirbelsäule über dem Kreuzbein ist in unserem Bilde kaum 
sichtbar. Sie macht sich nur durch den rechts etwas stärker ent¬ 
wickelten Muskelwulst der Lendengegend geltend. 

Obwohl ich nun keine weiteren Untersuchungen zur Verfügung 
hatte, so paßt die hier dargestelltc Skoliose so ganz und gar in den 
Bewegungs- und Arbeitstypus des Gondoliere und ist bei so vielen, 
so weit ich durch die Kleider entdecken konnte, vorhanden, daß ich 
nicht anstehe, denselben als typisch zu bezeichnen. Wie meine Unter¬ 
haltung mit einzelnen Gondolieri ergab, ist ihnen übrigens selbst 
bekannt, daß sie alle schief seien. Daß die Skoliose nicht sehr 
auffällt, ist nicht zam mindesten der beliebten Pose zuzuschreiben, 
welche diese Leute unter Vorstellung und Biegung des rechten Beins 


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lieber eine Form von Berufsskoliose. 


93 


im Kniegelenk einnehmen, welche sie beispielsweise auch dann öfters 
innehalten, wenn sie, mit der linken Hand den Hut lüftend, die 
rechte zum Empfang des Honorars ausstrecken. 

Das Interesse dieser Berufsdeformität liegt darin, daß sie auf 
dynamischem Wege entsteht und deshalb sehr geeignet ist, die 
alten Ideen, wonach immer tote ruhende Belastung für die Entstehung 
der Deformitäten beigezogen wird, zu durchbrechen. Die Muskel¬ 
arbeit in Kombination mit den zu überwindenden Wider¬ 
ständen und der durch dieselben gegebenen Führung der 
Bewegung in bestimmter Bahn hat die Formveränderung zu 
stände gebracht, und so ist hier, trotzdem auch die rechte Seite 
kräftig mitarbeitet, eine Deformität entstanden. Sie ist entstanden 
unter den Bedingungen, welche wir früher bei der Besprechung der 
funktionellen Orthopädie als wesentlich für die Erreichung eines Re¬ 
sultats aufgestellt haben: unter Umkrümmung und Arbeit in 
bestimmter Stellung. In der uingekrümmten, der Last 
sich entgegenwölb enden Biegungsform der Wirbelsäule 
und der Rippen stemmt sich die Muskelkraft des Gon¬ 
doliere gegen das Ruderende. 

Ich will nicht unterlassen, auf die im allgemeinen sehr gut 
entwickelte Muskulatur der Gondolieri aufmerksam zu machen. Bei 
dieser Arbeit ist das nicht anders zu erwarten. 

Der Freundlichkeit des Herrn Kollegen Bin da aus Mailand 
verdanke ich einen Artikel von Professor Fabio Vitali aus Venedig, 
in welchem derselbe sich am internationalen Kongreß für die Berufs¬ 
krankheiten, Mailand 1906, über die Veränderungen des Skeletts und 
des Zirkulationsapparates der venezianischen Gondolieri und Barcajoli 
ausläßt. Er erwähnt hier die eigentümliche hohe Kyphose der Dorsal¬ 
wirbelsäule bei den älteren Männern und bemerkt, daß öfters eine 
leichte rechtskonvexe lumbale Deviation vorhanden sei. Die letztere 
Beobachtung würde demnach mit der upserigen übereinstimmen. Im 
übrigen findet aber Vitali, daß nur selten erhebliche Deformationen 
des Skeletts nachweisbar seien und betrachtet die Muskelentwicklung 
als eine gleichmäßige. Trotz seiner Beobachtung möchte ich aber 
doch an meiner oben gegebenen Auseinandersetzung festhalten, es 
handelt sich ja auch nicht um erhebliche Deformierung, aber doch 
um eine außerordentlich charakteristische Ausprägung der 
in nicht zu verkennendem Grade asymmetrischen Arbeits¬ 
form am Skelett. 


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VI. 


lieber die Wirkung der Muskeln’). 

Von 

Prof. Dr. Otto Fischer-Leipzig. 

Der Aufforderung Ihres Herrn Vorsitzenden, Ihnen aus meinem 
speziellen Arbeitsgebiet irgend einen Vortrag zu halten, leiste ich 
um so lieber Folge, als dieselbe mir die erwünschte Gelegenheit 
bietet, Ihnen zu zeigen, daß die Anwendung exakter mathematisch¬ 
physikalischer Methoden auch in manchen Zweigen der Medizin nicht 
nur möglich, sondern vielmehr unentbehrlich ist, wenn man die 
Funktion und Wirkungsweise bestimmter Bestandteile und Einrich¬ 
tungen im lebenden Körper richtig beurteilen, und Abweichungen 
von der Norm auf ihre Ursachen zurückführen will. Um dies an 
einem besonders einleuchtenden Beispiele zu erörtern, habe ich als 
Thema die Wirkung der Muskeln gewählt. 

Es kann natürlich nicht meine Aufgabe sein. Ihnen auch nur 
von den wichtigeren Muskeln und Muskelgruppen des menschlichen 
Körpers die Wirkung genau auseinander zu setzen und die Rolle 
klarzustellen, welche einem jeden Muskel bei der Erzeugung be¬ 
stimmter Bewegungen des lebenden Menschen zufällt. Ich sehe mich 
im Gegenteil genötigt die Illusion zu zerstören, als ob man nach 
unserer heutigen Kenntnis der Muskeltätigkeit schon im stände wäre, 
diese Aufgaben in allen Fällen zu lösen. Da, wie Sie erkennen wer¬ 
den, mit wenigen Worten überhaupt nicht die Wirkungsweise eines 
Muskels beschrieben werden kann, sondern man über jeden Muskel 
eine besondere Monographie schreiben müsste, um das Thema in 
nur einigermaßen erschöpfender Weise zu behandeln, so würde auch 
die mir zugemessene Zeit ein derartiges Eingehen auf spezielle Fälle 
gar nicht zulassen. 

’) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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üeber die Wirkung der Muskeln. 


95 


Ich muß mich vielmehr darauf beschränken, Ihnen in ganz 
groben Zügen einige allgemeine Gesichtspunkte, Grundsätze, sowie 
Flegeln und Gesetze anzuführen, welche für die Beurteilung der 
Muskeltätigkeit in Rücksicht zu ziehen sind. Dabei werden Sie 
selbst erkennen, inwiefern die verschiedenen Methoden, welche man 
für die physiologische Untersuchung der Muskeln anzuwenden pflegt, 
zu einem einwandfreien und erschöpfenden Resultate führen können. 

Um Ihre Geduld nicht zu lange in Anspruch zu nehmen, werde 
ich hauptsächlich nur solche Punkte hervorheben, welche vielfach 
nicht in genügendem Maße berücksichtigt worden sind, und deren 
Außerachtlassung in der Regel zu falschen Vorstellungen über die 
Tätigkeit der Muskeln führen muß und auch tatsächlich geführt hat. 

Ein erster Punkt, welcher für die Beurteilung der Muskel¬ 
wirkung fundamentale Bedeutung besitzt, ist die zweiseitige Kraft¬ 
entfaltung eines Muskels. Sobald ein Muskel zur Kontraktion ge¬ 
bracht wird, oder auch nur durch seine rein elastische Spannung 
wirkt, übt er stets in zwei entgegengesetzten Richtungen Kräfte 
aus. Er zieht nicht nur mit einer bestimmten Kraft am sogenannten 
Ansatzpunkte, bezw. einem mittleren Punkte der Ansatzfläche, in der 
Richtung nach dem Ursprung hin, sondern er zieht unter allen Um¬ 
ständen gleichzeitig mit einer gleich großen Kraft am Ursprung in 
der Richtung nach dem Ansatz hin. Dieses Gesetz gilt ganz allgemein, 
ohne irgend welche Ausnahme. Es verhält sich in dieser Beziehung 
ein Muskel genau so wie ein über seine natürliche Länge ausgedehnter 
Gummistrang, welcher auch stets seine beiden Enden einander zu 
nähern sucht. Diese zweiseitige Kraftentfaltung ist auch ganz un¬ 
abhängig davon, welche Vorgänge im Innern des Muskels die Kon¬ 
traktion verursachen; sie ist im Grunde nur ein spezielles Beispiel 
für das allgemein gültige Newton sehe Gesetz der Gleichheit von 
Aktion und Reaktion. 

Als unmittelbare Folge dieser doppelten Krafteinwirkung eines 
Muskels ergibt sich, daß in der Regel beide Insertionsstellen in Be¬ 
wegung geraten, wenn ein Muskel allein zur Kontraktion gebracht 
wird. Schon mit dieser Tatsache stehen die Angaben mancher Lehr¬ 
bücher über die Wirkung einzelner Muskeln insofern im Widerspruch, 
als dieselben oft stillschweigend den Ursprung als feststehend an¬ 
nehmen und nur die Bewegung des Ansatzkörperteils berücksichtigen. 

Wenn nun auch die im Ansatz und im Ursprung angreifenden 
Muskelkräfte an Größe gleich und nur in der Richtung verschieden 


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96 


Otto Fischer. 


sind, so ist damit doch keineswegs gesagt, daß auch der Umfang 
der Bewegungen der beiden In.sertionsstellen gleich groß zu sein 
braucht. Die unter dem Einfluß einer Kraft eintretende Bewegung 
eines Körpers hängt ja nicht allein von der Größe dieser Kraft, 
sondern auch von der Masse und der Massenverteilung innerhalb 
des Körpers und den Bedingungen für die Beweglichkeit desselben 
ab. So spielen auch die Masse und die Massenverteilung innerhalb 
der einzelnen Abschnitte des menschlichen Körpers und die dieselben 
verbindenden Gelenke eine bestimmende Rolle bei der Erzeugung 
des Effektes der Kontraktion eines Muskels. 

Stellen Sie sich ein frei im Raume schwebendes und der Schwere 
nicht unterworfenes lebendes Wesen vor, welches nur aus zwei etwa 
durch ein Kugelgelenk verbundenen Gliedern von gleicher Masse 
besteht, und bei welchem beide Glieder in Bezug auf das Gelenk 
symmetrische Gestalt und Massenverteilung besitzen, dann würde ein 
in gleicher Entfernung vom Gelenk in entsprechenden Punkten der 
beiden Glieder inserierender Muskel bei seiner Kontraktion dem 
Ursprung eine gleich große Bewegung erteilen wie dem Ansatz, nur 
mit dem Unterschied, daß die Richtungen beider Bewegungen ver¬ 
schieden wären. Denken Sie sich aber das Ursprungsglied von 
größerer Masse, oder aus irgend einem Grunde schwerer beweglich 
als das Ansatzglied, so ist vorauszusehen, daß der Ursprung eine 
kleinere Bewegung ausführen würde als der Ansatz. An seiner Stelle 
würde der Ursprung bei der Kontraktion des Muskels aber nur dann 
verharren können, wenn sich entweder die Masse des Ansatzgliedes 
verschwindend klein gegenüber der Masse des Ursprungsgliedes her¬ 
ausstellte, oder wenn durch besondere Kräfte das Ursprungsglied 
festgestellt wäre. 

Der Fall, daß die Masse eines Körperteils gegenüber der eines 
anderen Teiles vernachlässigt werden darf, kann natürlich im mensch¬ 
lichen Körper nicht im strengen Sinne Vorkommen; immerhin findet 
er sich aber bei manchen Muskeln, wie den Augenmuskeln, den 
beiden Muskeln im Mittelohr und einigen anderen wenigstens an¬ 
nähernd verwirklicht. Daher begeht man in diesen Fällen keinen 
nennenswerten Fehler, wenn man für die Untersuchung der Wirkung 
der genannten Muskeln den Ursprung als feststehend annimmt. Ganz 
anders gestalten sich aber die Verhältnisse, wenn man einen Ex¬ 
tremitätenmuskel in Betracht zieht. Hier hat man es in der Regel 
nicht mehr mit einem auch nur annähernd unendlich großen Massen- 


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lieber die Wirkung der Muskeln. 


97 


Verhältnis der beiden Körperteile zu tun. Infolgedessen werden dann 
im allgemeinen auch beide Körperteile bei alleiniger Kontraktion 
des Muskels in Bewegung gesetzt, falls nicht etwa einer der beiden 
durch besondere, dem Muskel fremde Kräfte an der Bewegung ge¬ 
hindert wird. 

Eine zweite wichtige Tatsache, welche ebenfalls von grund¬ 
legender Bedeutung für die Wirkungsweise der Muskeln, insbeson¬ 
dere der Skelettmuskeln ist, besteht darin, daß ein Muskel nicht in 
erster Linie die Gelenke, sondern die Körperteile selbst in Drehung 
zu versetzen sucht ^). Die Wirkung auf die Gelenke ist erst eine 
sekundäre Erscheinung. Bei einem eingelenkigen Muskel tritt dieser 
Unterschied nicht so deutlich hervor wie bei den mehrgelenkigen 
Muskeln. Denn ein eingelenkiger Muskel sucht bei seiner Kon¬ 
traktion in der Regel die beiden Körperteile, an denen er inseriert, 
in entgegengesetztem Sinne zu drehen, d. h. also ihre Richtung im 
Raume zu ändern; er wird daher auch gleichzeitig eine Bewegung 
im Gelenk verursachen. Ein mehrgelenkiger Muskel kann dagegen 
sehr wohl zwei benachbarte Körperteile im gleichen Sinne und um 
den gleichen Winkel im Raume drehen; infolgedessen wird er in 
diesem Falle überhaupt keine Aenderung in der Gelenkstellung her¬ 
vorbringen, also keine Wirkung auf das die beiden Körperteile ver¬ 
bindende Gelenk ausüben. 

Eine Drehung eines Körpers kann nun niemals durch eine 
Kraft allein hervorgebracht werden. Es ist dazu stets die Ein¬ 
wirkung eines sogenannten „Kräftepaares“ erforderlich, d. h. zweier 
Kräfte, welche an Größe gleich, aber in ihrer Richtung entgegen¬ 
gesetzt sind, und dabei nicht in dieselbe Gerade hineinfallen, son¬ 
dern in parallelen Geraden wirken. Dieser Lehrsatz der Mechanik 
findet sich überall bestätigt, wenn auch die beiden Kräfte des Paares 
nicht immer ohne weiteres zu erkennen sind, indem sie zuweilen 
erst durch einen Druck oder Zug, oder durch die Reaktion gegen 
einen an irgend einer Stelle des Körpers verursachten Druck oder 
Zug verursacht werden. 

So läßt sich in der Tat in allen Fällen, in denen ein Muskel 
einen Körperteil in Drehung zu versetzen sucht, nachweisen, daß er 
durch Vermittlung des Gelenkdrucks auf denselben mit einem Kräfte¬ 
paar einwirkt ^). Auch die übrigen an einem Körperteil angreifenden 

Um nicht falsch verstanden zu werden, will ich hier gleich hervor¬ 
heben, daß ich unter „Drehung“ wie es in der Mechanik üblich ist, die Rich- 
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 7 


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98 


Otto Fischer. 


\ 


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Kräfte, wie z. B. die Schwerkraft, die Bänderspannungen und andere 
wirken, wie sich im gegebenen Falle leicht ableiten läßt, mit Kräfte¬ 
paaren auf denselben ein, sobald sie ihn in Drehung zu versetzen 
suchen. Dabei ist das sogenannte Moment eines jeden Kräftepaares, 
d. h. das Produkt aus der Kraftgröße und dem Abstand der beiden 
parallelen Geraden, maßgebend für das auf den Körperteil ausgeübte 
Drehungsbestreben; man bezeichnet es deshalb auch als „Drehungs¬ 
moment“. 

Hat man für einen Muskel die sämtlichen Drehungsmomente 
bestimmt, mit welchen er die einzelnen Körperteile zu drehen sucht, 
so ist damit die Wirkungsweise desselben klargestellt, so weit sich 
der Muskel an der Hervorbringung von Ruhehaltungen und Gleich¬ 
gewichtsstellungen des ganzen Körpers oder einzelner Abschnitte des¬ 
selben beteiligt. Denn im Falle des Gleichgewichts ist nur erforder¬ 
lich, daß für jeden einzelnen Körperteil alle an ihm angreifenden 
Kräftepaare sich gegenseitig in ihrer drehenden Einwirkung aufheben. 
Für die Beurteilung der von einem Muskel hervorgerufenen Glieder¬ 
bewegungen reicht dagegen die Kenntnis seiner Drehungsmomente 
allein nicht aus. Die Gesamtheit der Drehungsmomente eines Muskels 
bildet daher nur ein statisches Maß für seine Wirkungsweise. 

Aus der Tatsache, daß ein Muskel bei seiner Kontraktion, oder 
auch nur infolge seiner rein elastischen Spannung, auf alle zwischen 
seinen Insertionsstellen befindlichen Körperteile Drehungsmomente 
ausübt, folgt unmittelbar das lange Zeit verkannte und auch heute 
wohl noch nicht allgemein bekannte und richtig verstandene Resultat, 
daß die Muskeln in der Regel nicht nur auf die Gelenke einzuwirken 
suchen, über welche sie hinwegziehen, sondern auch auf Gelenke, 
welche scheinbar ganz außerhalb ihres Wirkungskreises liegen. 

Nehmen wir z. B. irgend einen Muskel, welcher wie der 
Brachialis, der Brachioradialis, die eingelenkigen Köpfe des Triceps 
brachii am Oberarm seinen Ursprung hat, so sucht derselbe nach 
dem eben Gesagten mit einem Kräftepaar nicht nur den Unterarm, 
sondern auch den Oberarm zu drehen. Die Drehung des Oberarms 
wird keineswegs dadurch unmöglich gemacht, daß der Oberarm im 

tungsänderung eines Körpers im Raume im Gegensatz zu der Parallelverschie¬ 
bung desselben, bei welcher alle Punkte konkruente Bahnen beschreiben, ver¬ 
standen wissen will. Tn der Anatomie ist es ja üblich, mit „Rotation“ nur eine 
bestimmte Bewegung zu bezeichnen, nämlich die Drehung eines Körperteils um 
seine Längsachse. 


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üeber die Wirkung der Muskeln. 


99 


Schultergelenk an den Schultergürtel und den Rumpf geheftet ist. 
Es wird daher ein jeder dieser Muskeln nicht nur im Ellbogengelenk, 
sondern auch im Schultergelenk eine Drehung hervorzubringen suchen, 
trotzdem er gar nicht über dasselbe hinwegzieht. Desgleichen werden 
die drei eingelenkigen Teile des Quadriceps femoris und schließlich 
auch der Gastrocnemius auf das Hüftgelenk einwirken, trotzdem sie 
mit keiner Faser an demselben vorüberziehen. Daß das Schulter¬ 
gelenk im einen und das Hüftgelenk im anderen Falle wirklich in 
Bewegung versetzt werden, sobald die betreffenden Muskeln nicht 
bloß sich an der Sicherung einer Gleichgewichtsstellung beteiligen, 
sondern eine Gliederbewegung hervorbringen, davon werden wir 
nachher noch zu reden haben. 

Von großer Wichtigkeit für die Untersuchung der Wirkung 
eines Muskels, insbesondere für die Bestimmung seiner Drehungs¬ 
momente, und auch von nicht zu unterschätzender praktischer Be¬ 
deutung, z. B. für die Beurteilung des Erfolges einer Sehnentrans¬ 
plantation, ist ein weiterer Punkt, der sich auf den Einfluß bezieht, 
den die Insertionsweise eines Muskels auf seine Wirkung ausübt. 

Die wirklichen Inseiiiionspunkte bezw. Insertionsflächen eines 
Muskels kommen nämlich nur dann für seine Funktion in Betracht, 
wenn es dem Muskel gestattet ist, sich ungehindert zwischen den¬ 
selben auszuspannen. Ist er dagegen durch Knochenvorsprünge, 
Rollen, Bänder, Bandschleifen, Sehnenscheiden oder auch unter ihm 
liegende Muskeln aus dem geradlinigen Verlaufe abgelenkt, so ist 
für die Wirkungsweise des Muskels stets nur der Verlauf und die 
Richtung desjenigen Stückes maßgebend, welches sich frei von einem 
Körperteil zum benachbarten erstreckt. An Stelle der wahren In¬ 
sertionen zeigen sich daher als ausschlaggebend für die Wirkung 
diejenigen Punkte, welche das maßgebende Stück des Muskels be¬ 
grenzen. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob auf dieser Strecke 
Muskelfasern vorhanden sind, oder ob, wie es vielfach der Fall ist, 
der Muskel nur mit einem kleinen Teile seiner Endsehne sich ge¬ 
radlinig von einem Gliede zum anderen hinüberspannt. 

Nehmen wir beispielsweise den Tibialis anterior, so braucht 
man nur diejenigen Punkte des oberen und unteren medialen Schen¬ 
kels vom Ligamentum cruciatum cruris aufzusuchen, zwischen denen 
seine Ansatzsehne sich von der Tibia nach der Fußwurzel erstreckt, 
um die Drehungsmomente bestimmen zu können, mit denen er auf 
den Unterschenkel einerseits und auf den Fuß als Ganzes anderseits 


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100 


Otto Fischer. 


einwirkt. Daß der Ursprung dieses Muskels über eine große Fläche 
am Condjlus lateralis und der Facies lateralis der Tibia und außer¬ 
dem an der Membrana interossea cruris und der Fascia cruris aus¬ 
gedehnt ist, hat auf seine Wirkungsweise gar keinen Einfluß. Die 
Wirkung des Tibialis anterior würde der Art nach dieselbe bleiben, 
wenn er seine Ursprungsfläche etwa mit der des Tibialis posterior, 
des Soleus, des Peronaeus longus oder irgend eines anderen am 
Unterschenkel entspringenden Muskels vertauschte, sofern nur das 
maßgebende Stück seiner Endsehne nicht geändert würde, und die 
Längen der einzelnen Muskelfasern sich den veränderten Verkürzungs¬ 
möglichkeiten angepaßt hätten. 

Welche Vereinfachung für die Untersuchung der Satz von der 
maßgebenden Strecke eines Muskels mit sich bringt, geht vielleicht 
bei keinem Muskel deutlicher hervor als bei den drei am Femur 
entspringenden Teilen des Quadriceps femoris, nämlich dem Vastus 
lateralis, Vastus intermedius und Vastus medialis, für deren Ge- 
samtwirkung nur der Verlauf des zwischen der Patella und der 
Tuberositas tibiae sich erstreckenden Ligamentum patellae in Frage 
kommt. Es sind daher genaue Untersuchungen über die Lage der 
Ursprungsflächen dieses dreiteiligen Muskels, über seine Gestalt und 
den Verlauf seiner Fasern ganz belanglos für die Wirkungsart; von 
Bedeutung ist nur die Anzahl der Muskelfasern, insofern von ihr 
die Größe des physiologischen Querschnitts des Muskels abhängt. 

Welchen Vorteil aber der Satz für die orthopädische Chirurgie, 
insbesondere für die Sehnentransplantation darbietet, brauche ich Ihnen 
nicht auseinanderzusetzen. Es ist im Prinzip durchaus möglich, 
einen Muskel betreffs seiner Wirkungsart vollkommen durch einen 
anderen zu ersetzen, wenn man nur durch geeignete Mittel, wie 
Verlegen der Endsehne und Erzeugen künstlicher Bandschlingen, 
das maßgebende Stück des zu ersetzenden Muskels richtig herstellt. 

Die bisherigen Beispiele bezogen sich in der Hauptsache auf 
eingelenkige Muskeln. 

Handelt es sich nun um einen mehrgelenkigen Muskel, welcher 
sich nicht ungehindert zwischen seinen Insertionsstellen ausspannen 
kann, so findet man oft, daß derselbe durch Knochenvorsprünge 
oder andere Einrichtungen in mehrere eingelenkige Muskeln zerlegt 
erscheint. Die Wirkung des Muskels ist dann in der Tat die gleiche, 
als ob er aus einzelnen, voneinander getrennten, eingelenkigen 
Muskeln bestände. Der Zusammenhang zwischen denselben kommt 


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üeber die Wirkung der Muskeln. 101 

nur dadurch zum Ausdruck, daß stets alle Teile gleichzeitig dieselbe 
Spannung besitzen. 

Nehmen Sie als Beispiel den langen Kopf des Biceps brachii, 
80 ergibt sich, daß derselbe durch den Humeruskopf, über welchen 
sich seine lange ürsprungssehne hinweglegt, in zwei eingelenkige 
Teile zerlegt wird, von denen der eine über das Schultergelenk und 
der andere über das Humeroradialgelenk hinwegzieht. Trotzdem der 
eine Teil überhaupt keine Muskelfaser enthält, so besitzt er doch 
stets die gleiche Spannung wie der andere. 

In ähnlicher Weise werden die langen Fingerbeuger und 
-Strecker durch Bänder und Sehnenscheiden bezw. Knochenvor¬ 
sprünge in eine Reihe gleichgespannter eingelenkiger Muskeln zer¬ 
legt, welche in ihren wirksamen Stücken gar keine Muskelfasern 
aufweisen. 

Es ist, um einen naheliegenden Vergleich anzustellen, bei allen 
diesen Muskeln so, als ob die Kraftmaschine in einem besonderen 
Raume sich befände und die von derselben erzeugte Kraft durch 
Transmissionen, als welche hier die langen Sehnen aufzufassen sind, 
nach einer entfernten Stelle verlegt worden wäre. 

Während man mit der Aufstellung der von einem Muskel aus¬ 
geübten Drehungsmomente die statische Wirkungsweise desselben 
vollkommen klargelegt hat, läßt sich, wie gesagt, aus dieser Kennt¬ 
nis allein noch kein Schluß auf die bei alleiniger Kontraktion des 
Muskels oder unter Mitwirkung anderer Kräfte eintretende Bewegung 
ziehen. Denn diese hängt ja außerdem von der Masse und der 
Massenverteilung innerhalb der einzelnen Körperteile, soweit sie in 
der Lage des Schwerpunktes und der Größe der Trägheitsmomente 
ihren Ausdruck findet, ab; sie wird außerdem nicht nur von der 
Art der Gelenkverbindungen zwischen den einzelnen Gliedern und von 
den bei der Kontraktion vorhandenen Gelenkstellungen, sondern auch 
noch von anderen Bedingungen für die Bewegungen beeinflußt. 

So ist es z. B. für den Effekt der Kontraktion eines Muskels 
der unteren Extremität nicht gleichgültig, ob das betreffende Bein 
auf dem Fußboden aufsteht oder ob es im Hüftgelenk frei hin und 
her schwingen kann. Es lassen sich daher die mittels lokaler Fara- 
disation eines Muskels im bestimmten Falle gefundenen Resultate 
durchaus nicht ohne weiteres auf andere Ausgangsstellungen und 
andere Bewegungsbedingungen übertragen oder gar als allgemein¬ 
gültig auffassen, wie es vielfach geschehen ist. Infolge der großen 


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102 


Otto Fischer. 


Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, unter denen ein Muskel sich kon¬ 
trahieren kann, und der Menge von Faktoren, von denen der Effekt 
der Kontraktion abhängt, läßt sich unmöglich auf rein experimen¬ 
tellem Wege allein die Wirkungsweise eines Muskels in erschöpfender 
Weise ableiten. 

Ich bin weit davon entfernt, die Bedeutung der experimentellen 
Forschung, insbesondere der Leistungen eines Duchenne und seiner 
Mitarbeiter für die Bewegungsphysiologie zu gering anzuschlagen. 
Zu vollkommen einwandfreien und umfassenden Ergebnissen kann 
es aber auf diesem Gebiete nur kommen, wenn die experimentelle 
Forschung mit der exakt mathematisch-physikalischen Untersuchung 
Hand in Hand geht. Wenn man auch bei der letzteren nicht, wie 
man zuweilen geglaubt hat, mit der Kenntnis des Hebelgesetzes und 
einiger anderer elementarer Gesetze der Mechanik auskommt, so sind 
doch die für eine derartige Untersuchung nötigen mathematischen 
Hilfsmittel in vielen Fällen nicht gar zu schwierige. Es bricht sich 
ja neuerdings immer mehr die Ueberzeugung Bahn, daß nicht 
nur für den Physiker und Chemiker und die Vertreter anderer 
Zweige der Naturwissenschaft, sondern auch für den Mediziner ein 
gewisses Maß mathematischer Kenntnisse, insbesondere aus der 
Differential- und Integralrechnung, notwendig ist, wenn er zum vollen 
Verständnis aller auf seinem Gebiete ihm entgegentretenden Er¬ 
scheinungen und Gesetzmäßigkeiten gelangen will. Und ich glaube, 
es ist nur eine Frage der Zeit, daß man von dem Studierenden der 
Medizin einen gewissen Fonds von Kenntnissen in diesen Zweigen 
der Mathematik verlangen muß. Wer aber im Besitze dieses mathe¬ 
matischen Rüstzeuges ist, der wird auch ohne Schwierigkeit zum 
Verständnis der Beziehungen zwischen den von den Muskeln aus¬ 
geübten Kräften und den durch dieselben hervorgerufenen Be¬ 
wegungen gelangen. 

Da ich in Anbetracht der großen Reihe von Vorträgen, welche 
noch auf der Tagesordnung stehen, Ihre Geduld schon zu sehr in 
Anspruch genommen habe, so muß ich es mir leider versagen, näher 
auf den Gang einer derartigen Untersuchung einzugehen. Ich will 
nur zum Schluß noch ganz kurz anführen, daß es im wesentlichen 
zweierlei Aufgaben sind, welche sich dabei darbieten, und deren 
Lösung für die Praxis besondere Bedeutung beanspruchen kann. 

Die eine Gruppe von Aufgaben nimmt die Spannung eines 
oder mehrerer Muskeln als bekannt an und fragt nach den Be- 


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üeber die Wirkung der Muskeln. 


103 


wegungen, welche dieselben allein oder im Verein mit anderen 
Kräften dem lebenden Körper erteilen. Auf diesen Fall beziehen 
sich beispielsweise die Angaben der anatomischen Lehrbücher über 
die Wirkung der einzelnen Muskeln. Inwieweit die in der Regel 
anzutreffenden kurzen Angaben, wie „ein bestimmter Muskel beugt, 
ein anderer abduziert, ein dritter rollt einen bestimmten Körperteil 
oder gar nur ein bestimmtes Gelenk,^ richtig sein und die Tätigkeit 
eines Muskels in erschöpfender Weise darstellen können, werden 
Sie nach dem Gesagten selbst zu beurteilen im stände sein. Ich 
will nur in dieser Beziehung noch einmal hervorheben, daß ein 
Muskel in der Regel tatsächlich auch Gelenke in Bewegung setzt, 
über welche er gar nicht hinwegzieht. Wenn derartige Angaben 
nur einigermaßen vollständig sein sollen, so müssen sie sich also 
auch auf Gelenke beziehen, welche man bisher gewöhnlich als ganz 
außerhalb des Wirkungsbereiches des Muskels gelegen angenommen 
hat. Diese Gelenkbewegung, welche durchaus nicht, wie man ge¬ 
meint hat, prinzipiell von der Bewegung auf das Zwischengelenk zu 
unterscheiden ist, unterliegt für eingelenkige Muskeln, bei denen die 
Wirkung auf das Zwischengelenk in der Regel nicht zweifelhaft 
sein kann, im allgemeinen dem Gesetz, daß sie gerade im entgegen¬ 
gesetzten Sinne stattfindet wie die Bewegung im Zwischengelenk. 
So stellen sich alle eingelenkigen Beuger des Ellbogengelenks gleich¬ 
zeitig als Rückwärtsstrecker des Schultergelenks heraus und umge¬ 
kehrt. In entsprechender Weise wird ein eingelenkiger Beuger des 
Kniegelenks, wie z. B. der kurze Kopf des Biceps femoris, das Hüft¬ 
gelenk nach vorwärts beugen, während die drei Teile des Vastus 
dasselbe rückwärts strecken u. s. w. 

Bei den mehrgelenkigen Muskeln läßt sich ein so allgemeines 
Gesetz nicht anführen; denn hier ist in vielen Fällen schon die 
Wirkung auf die Zwischengelenke verschieden mit der Ausgangs¬ 
stellung, in welcher der Muskel zur Kontraktion gelangt. Dabei 
kommt es gar nicht selten vor, daß ein Muskel bei einer Ausgangs¬ 
stellung gerade die entgegengesetzte Bewegung in einem Gelenk 
hervorruft als bei einer anderen. 

So ergibt, um nur noch ein Beispiel anzuführen, die Unter¬ 
suchung für den Rectus femoris das Resultat, daß er zwar in allen 
Gelenkstellungen das Kniegelenk streckt, daß er dagegen das Hüft¬ 
gelenk bei nicht zu stark gebeugtem Knie nach rückwärts streckt, 
trotzdem er auf der vorderen, d. h. also auf der Beugeseite über 


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Otto Fischer. 


dasselbe hinwegzieht. Erst wenn das Knie über die rechtwinklige 
Beugestellung hinausgebeugt ist, beugt der Muskel auch das Hüft¬ 
gelenk. Dazwischen gibt es eine Stellung, in welcher er gar nicht 
auf das Hüftgelenk einwirkt. Diese Resultate gelten natürlich nur 
so lange, als keins der beiden Gelenke in seiner Beweglichkeit durch 
andere Einflüsse beeinträchtigt ist. Denkt man dagegen das Knie¬ 
gelenk unbeweglich gemacht, so kann der Rectus femoris im Hüft¬ 
gelenk natürlich nur Beugung hervorbringen. 

Aus diesen kurzen Andeutungen können Sie sehen, daß in der 
Tat mit zwei Worten die Wirkungsweise eines Muskels nicht er¬ 
ledigt werden kann. 

Die andere Gruppe von Aufgaben der speziellen Muskelmechanik 
setzt die durch einen Muskel oder eine Gruppe von Muskeln im 
Verein mit anderen Kräften, wie z. B. der Schwere, verursachte Be¬ 
wegung in allen Einzelheiten als bekannt voraus und fragt nach 
den hierzu nötigen Muskeln und Muskelspannungen. 

Derartige Aufgaben lassen sich im Prinzip mit Hilfe der 
Mathematik immer lösen. Es kommt nur darauf an, daß man sich 
auf empirischem Wege die vorausgesetzte Kenntnis der Glieder¬ 
bewegungen mit genügender Genauigkeit verschaffen kann. Hierbei 
leistet die Moraentphotographie, insbesondere die mehrseitige Chrono¬ 
photographie unschätzbare Dienste. Bei Verwendung derselben ist 
es unter anderem gelungen, z. B. für die Schwingungsbewegung des 
Beins beim Gehen die vielfach umstrittene Frage definitiv zu ent¬ 
scheiden, ob bei dieser Schwingung des Beins Muskeln in Aktion 
treten, oder ob, wie es vor allen Dingen die Brüder Weber zuerst 
angenommen haben, diese Bewegung wie die Schwingung eines 
Pendels allein durch die Schwere hervorgebracht wird. Es hat sich 
herausgestellt, daß dieselbe in noch stärkerem Maße der Einwirkung 
der Muskeln als dem Einfluß der Schwere zuzuschreiben ist, und 
es haben sich aus dem Ergebnis der mathematisch-physikalischen 
Analyse der betreffenden Bewegung auch Schlüsse auf die Muskeln 
ziehen lassen, welche hauptsächlich an der Hervorbringung der 
Schwingungsbewegung beteiligt sind. 

Es würde eine verlockende Aufgabe sein, nunmehr die haupt¬ 
sächlichsten Methoden, welche man für die Erforschung der Muskel¬ 
wirkung ausgebildet hat und auch heute noch vielfach verwendet, ein¬ 
gehend daraufhin zu prüfen, inwieweit dieselben zu einwandfreien 


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lieber die Wirkung der Muskeln. 


105 


Resultaten führen können. Ich sehe mich aber in Anbetracht der 
vorgeschrittenen Zeit genötigt, zu schließen. 

Wenn ich auch nur in ganz skizzenhafter Weise einiges heraus¬ 
greifen konnte, was mir nicht ganz unwichtig schien, so hoffe ich 
doch, daß Sie aus meinen kurzen Ausführungen die üeberzeugung 
gewonnen haben, daß zur Lösung des Problems der Muskelwirkung 
die Hilfsmittel, welche uns die Mathematik und Physik an die Hand 
geben, nicht entbehrt werden können. 


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VII. 

(Aus Dr. W. Böckers chirurgisch-orthopädischer Klinik in Berlin.) 


Zur Frage der Entstehimg und Behandlung der 
Myositis ossificans traumatica‘). 

Von 

Dr. W. Böcker. 

Mit 4 Abbildungen. 

Meine Herren! üeber Muskelverknöcherungen ist im letzten 
Dezennium viel gearbeitet, ohne daß über ihre Genese bisher eine 
einheitliche Auffassung erzielt worden ist. In zwei Fragen ist man 
sich noch nicht einig: 1. ob das Periost sich aktiv an der Muskel¬ 
verknöcherung beteiligt und 2. ob die als Tumor erscheinende Ver¬ 
knöcherung der Muskulatur als Entzündungsprodukt oder als wahre 
Neubildung aufzufassen ist. Die meisten Autoren neigen der An¬ 
sicht Virchows zu, daß der Krankheitsprozeß auf der Grenze 
zwischen Entzündung und Neubildung stehe und eine scharfe Ab¬ 
grenzung derselben unmöglich sei, während die neueren Lehrbücher 
von Ziegler, Birch-Hirschfeld den geschwulstartigen Charak¬ 
ter der Erkrankung betonen. Damit erklärt sich auch der ganze 
Zustand durch die Cohnheimsche Theorie der embryonalen Keim¬ 
anlagen umsomehr, als die Mikrodaktylie an embryonale Störungen 
der Knochenanlage denken läßt (Virchow, Helferich). Doch 
hat dies mehr theoretisches Interesse. 

Wir unterscheiden drei Krankheitsbilder, die sich klinisch sehr 
wohl voneinander trennen lassen: 

1 . Die Myositis ossificans progressiva, die sich durch ihr multiples 
Auftreten kennzeichnet und der eine angeborene Konstitutionskrank- 

’) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. 107 

heit zu Grunde liegt, die seit den anatomischen Untersuchungen 
von Mays in einer leichteren Vulnerabilität und gesteigerten Pro¬ 
duktivität des gesamten Knochensystems und der Bindegewebs- 
elemente des Lokomotionsapparates zu suchen ist. 

2 . Die Myositis ossificans circumscripta, die durch wiederholte 
traumatische Reize entsteht. Diese Entstehung erklärt man sich eben¬ 
falls durch eine besondere Anlage des Muskelbindegewebes, das die 
Eigenschaft besitzt, Knochen zu produzieren. Hierher rechnet man 
die Reit- und Exerzierknochen, Turner- und Bajonettierknochen. 

3. Die Myositis ossificans traumatica im engeren Sinne, oder 
traumatisches intramuskuläres Osteom genannt (Kienböck u. a.), das 
durch ein einmaliges heftiges Trauma hervorgerufen wird, wie nach 
schweren Kontusionen, Luxationen und Frakturen. 

Während Virchow den Ossifikationsprozeß bei der ersten 
Gruppe vom Knochen aus seinen Ausgang nehmen läßt und dem 
Kapitel der Exostosis luxurians angliedert, haben die neueren histo¬ 
logischen Untersuchungen von Lexer, Stempel und Zöge 
V. Manteuffel ergeben, daß die Verknöcherung sowohl nach 
periostalem wie enchondralem Typus vor sich gehen kann bei 
vollständigem Ausschluß periostaler Läsion. Sie haben in dem 
Muskelgewebe zellreiches Keimgewebe, das eine knochenbildende 
Fähigkeit besitzt, gefunden und ira Beginn dieser Zellwucherung 
entzündliche Erscheinungen in Gestalt von kleinzelliger Infiltration 
festgestellt. Damit ist der Beweis erbracht, daß sowohl vom Periost 
als auch vom Muskelbindegewebe aus die Verknöcherung entstehen 
kann. Die erste Gruppe unterscheidet sich nach Ansicht einiger 
Autoren von der zweiten nur dadurch, daß die Verknöcherung 
lediglich auf einen Muskel beschränkt bleibt, den wiederholte kleinere 
Insulte treffen. Wir kommen jetzt zur dritten Gruppe, die uns hier 
beschäftigen soll, weil sie dem Chirurgen das bei weitem größte 
praktische Interesse bietet. Diese Gruppe ist die rein traumatisch 
entstandene, die sich gewöhnlich nach einmaligem schweren Trauma 
vorzugsweise im Musculus brachialis nach Ellbogenluxation und im 
Quadriceps femoris nach starken Kontusionen (Hufschlag) entwickelt. 
Nur einmal hat Strauß eine Verknöcherung ira M. subclavius nach 
einer Schlüsselbein Verrenkung im Röntgenbild und Regnier eine 
solche im M. subscapularis nach einer Schulterluxation durch Ope¬ 
ration festgestellt. Dreimal ist die Myositis ossif. träum, im Rectus 
abdominis von Röpke und Fichtner beobachtet. 


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108 


W. Böcker. 


Die traumatische Form der Myositis ossificans ist in manchen 
Fällen von den Knochenneubildungen, die aus einem Gallus luxurians 
nach Fraktur oder einfacher Periostverletzung (Honseil, Schüler) 
hervorgegangen sind, nicht mit absoluter Sicherheit zu trennen. Wie 
aus der zahlreichen Literatur über diesen Gegenstand hervorgeht, 
gehen, wie eingangs erwähnt, die Ansichten unter den Autoren 
über den Ausgangspunkt der Erkrankung immer noch auseinander. 
Die einen halten die Wucherung des Periosts für das Primäre, die 
anderen die des intermuskulären Bindegewebes. 

Lassen wir zunächst die Ansichten einzelner Autoren, die den 
Verknöcherungsprozeß vom Periost ausgehen lassen, folgen: 

1. Rasmussen beschreibt 2 Fälle von Verknöcherung im 
Brachialis internus und nimmt an, daß dieselbe ihren Ursprung im 
Periost genommen hat. 

2 . Berthier kommt auf Grund seiner experimentellen Unter¬ 
suchungen zu dem Schlüsse, daß alle Muskelverknöcherungen nach 
Trauma von einer gleichzeitigen Periostverletzung ihren Ausgang 
nehmen. 

3. Reg nie r nimmt ebenfalls für seine beiden Fälle von 
Myositis ossificans traumatica im Brachialis periostalen Ursprung an. 

4. Berndt sagt zum Schluß seiner interessanten Arbeit, daß 
die nach einmaligem Trauma entstehenden Muskelverknöcherungen 
bedingt sind durch eine aktive Tätigkeit des mitverletzten Periosts, 
speziell der inneren zellreichen Schicht derselben. 

5. Schulz, aus der Rostocker Klinik, kommt auf Grund 
seiner histologischen Untersuchungen zu dem Resultat, daß er 
den Fall von Rammstedt aus der Hallenser Klinik, der als einer 
der ersten auf Grund des Operationsbefundes und der histologischen 
Untersuchungen die interrauskuläre Entstehungsweise befürwortet hat, 
nicht als Myositis ossificans traumatica anerkennen kann, und über¬ 
haupt das Vorkommen einer solchen verneint. Er will in allen 
Fällen eines starken Traumas, wie man dies auch bei allen in der 
Literatur niedergelegten Fällen verzeichnet findet, die Knochen¬ 
neubildung auf das Periost, das allein normalerweise Knochen 
produziert, zurückführen, weil „überall typische periostale Ossi¬ 
fikation gefunden und es bis jetzt in keiner Weise erwiesen ist, daß 
Muskelgewebe die Funktionen des Periosts haben kann, ausgenommen 
die Myositis ossificans progressiva“. 


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Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. 109 


6 . Honsell, aus der v. Brunsschen Klinik, hat darauf auf¬ 
merksam gemacht, daß auch nach einfacher Periostverletzung ohne 
Fraktur eine exzessive Knochen Wucherung auftreten kann, und nennt 
seine beiden Fälle, die eine unverkennbare Aehnlichkeit mit den 
Schulzschen Fällen haben, „traumatische Exostosen“. 

7. Schüler, aus derselben Klinik, hat 4 Jahre später in 
4 Fällen die gleichen Befunde wie Honseil erhoben. 

Von den Autoren nun, die die Existenz einer rein traumatischen 
Muskelverknöcherung befürworten, möchte ich folgende anführen: 

1 . Cahen hält die Erkrankung der Muskulatur im verletzten 
Femurschaft für das Primäre, die Periostbeteiligung für das Sekun¬ 
däre, weil in seinen Fällen entweder die Geschwulstmasse leicht ab¬ 
gelöst werden, oder das Periost sogar erhalten werden konnte. Die 
Mitbeteiligung des Knochens sei entweder auf ein direktes üeber- 
greifen der Geschwulst auf das Periost oder als Folgezustand einer 
traumatischen Periostitis anzusehen. 

2 . Bremig will die in den Muskeln vorkommenden Ossi¬ 
fikationen in zwei Gruppen teilen: nämlich in die primär vom Periost 
ausgehenden, sekundär in die Muskeln reichenden und in die primär 
in den Muskeln entstehenden, die in gar keiner oder nur loser Ver¬ 
bindung mit dem Periost stehen. Er glaubt zur Unterscheidung 
dieser beiden Gruppen die Röntgenstrahlen verwerten zu können; 
eine vom Periost ausgehende Erkrankung (Exostose) ließe sich aus¬ 
schließen, wenn die Konturen des betreffenden Knochens scharf er¬ 
scheinen. Endlich betont er aber auch die Schwierigkeit, bei den 
mit dem Periost verbundenen Tumoren zu entscheiden, ob sie 
primär vom Periost ausgehen, oder erst nachträglich mit ihm in 
Verbindung getreten sind. Ist die Verbindung mit dem Periost 
keine knöcherne, sondern eine bindegewebige, ist ferner der ver¬ 
knöcherte Muskel leicht vom Periost abzuheben, so kann man dies 
als gegen einen Ausgang vom Periost sprechend auffassen. 

3. Rammstedt gibt für einzelne Fälle einen periostalen 
Ursprung zu oder wenigstens eine Mitwirkung des Periosts bei dem 
Verknöcherungsprozeß, meint aber für die Mehrzahl der Fälle einen 
solchen ausschließen zu müssen, da meist die Verwachsung mit dem 
Knochen nur lose und schmal, zuweilen gar nicht vorhanden war. 

4. Rothschild ist der Ansicht, daß eine eigentlich primär 
im Muskel entstehende Verknöcherung, die in gar keinem oder nur 
losem Zusammenhang mit dem Periost steht, sich von einer vom 


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W. Böcker. 


Periost ausgehenden, sekundär in den Muskel hineinreichenden 
Knochengeschwulst im Röntgenbilde unterscheiden läßt, wenn ge¬ 
trennt vom Knochen im Muskel ein Knochenschatten sichtbar ist. 

5. Frangenheim, aus der Lex ersehen Klinik, weist noch 
kürzlich darauf hin, daß man der periostalen Genese der Muskel¬ 
verknöcherungen immer noch zu große Bedeutung beimesse, sagt 
aber, daß, wenn die Muskelknochen fest mit dem Knochen des be¬ 
fallenen Gliedes verwachsen sind, eine Beteiligung des Periosts nicht 
ganz auszuschließen ist, anderenfalls ist der Ursprung des neu¬ 
gebildeten Knochengewebes im intermuskulären Bindegewebe zu 
finden und histologisch einwandfrei nachzuweisen. 

Bei den Verknöcherungen ini Brachialis kann auch das Kapsel¬ 
gewebe als Ausgangspunkt für den neugebildeten Knochen ver¬ 
antwortlich gemacht werden (Cahier). In der Lexerschen Klinik 
wurde bei einer veralteten Ellbogenluxation ausgedehnte Knochen¬ 
neubildung gefunden, die das ganze Gelenk umgab und auf Grund 
der Röntgenbilder, des Operationsbefundes und der mikroskopischen 
Untersuchungen zu der Annahme führte, daß diese periostitischen 
Ossifikationen größtenteils von dem Kapselgewebe ausgehen. Auch 
Bunge hat bei der blutigen Operation veralteter Ellbogenluxationen 
mehrmals einen ähnlichen Befund erhoben. 

Wenn man nun die oben angeführten Ansichten über die Ent¬ 
stehung der Muskelverknöcherung, ob vom Periost oder vom Muskel¬ 
bindegewebe ausgehend, näher prüft, so muß man zugeben, daß 
beide ihre Berechtigung haben und daß der Ausgangspunkt sich in 
einer Reihe von Fällen, sei es durch Röntgenbilder, sei es durch 
Operation oder schließlich durch histologische Untersuchungen fest¬ 
stellen läßt. 

Es ist aber kaum zweifelhaft, daß in manchen Fällen die 
Beurteilung über den Ausgang der Verknöcherung großen Schwierig¬ 
keiten unterliegt, ja sogar eine bestimmte Entscheidung unmöglich 
ist. Es ist wohl im allgemeinen richtig, daß, wenn die Verbindung 
mit dem Periost keine knöcherne, sondern eine bindegewebige ist 
und der verknöcherte Muskel leicht vom Periost abzuheben ist, dies 
mehr für eine Entstehung im Muskel selbst, als für einen periostalen 
Ursprung spricht, wie es teils im Röntgenbilde, teils durch die 
Operation nachgewiesen worden ist. Für die Frage der Periost¬ 
beteiligung ist jedenfalls der Umstand von Bedeutung, daß der 
Tumor dem Knochen fest aufsitzt und an der Anheftungsstelle das 


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Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. Hl 


Periost fehlt. Solche Tumoren, sei es, daß sie breit oder gestielt auf¬ 
saßen, sind in der Literatur in größerer Anzahl als vom Periost 
ausgehend beschrieben worden. Daß aber auch Fälle ohne Verbin¬ 
dung mit dem Knochen existieren, ist zweifellos, so ein Fall von 
Rothschild, wo das Periost intakt war nach Abheblung des Tumors, 
ein Fall von Meinhold, wo bei der Operation der Tumor mit 
dem Knochenperiost nicht in Verbindung stand, ein Fall von Vulpius, 
der bei der Exstirpation das Periost völlig unverletzt fand u, a. m. 
An sich kann dies kein absoluter Beweis dafür sein, daß die Ver¬ 
knöcherung im Muskelbindegewebe entstanden ist, denn nach 
Virchow steht fest, daß Muskelosteome, die ursprünglich mit dem 
Knochen in Verbindung stehen, sich später loslösen und dann nur 
noch im Muskel gefunden werden. Weiter hat Berndt bei der 
Operation in seinen Fällen gefunden, daß der Tumor, der auf dem 
Bilde keinen Zusammenhang mit dem Periost zeigte, mit demselben 
in Verbindung stand, und er führt dies darauf zurück, daß der relativ 
schmale, aus spongiösem Knochen bestehende Stiel der Muskel¬ 
verknöcherung keinen Schatten gibt. 

So können denn in einem Teile der Fälle nur die histologischen 
Untersuchungen eine sichere Entscheidung zulassen, deren Ergebnisse 
Frangenheim bestimmt haben, als Ausgangspunkt wenigstens für 
die Verknöcherungen im Musculus brachialis internus das inter- 
muskuläre Bindegewebe anzusprechen. 

Einen nicht unwillkommenen Beitrag zur Frage der Entstehung 
der Muskelverknöcherung liefert uns ein Fall, über den ich Ihnen 
hier kurz berichten möchte. 

Der Fall betrifft einen jungen Mann, der Ende November 1905 
durch Fall auf den rechten Ellbogen eine Luxation beider Vorder¬ 
armknochen nach hinten davongetragen hat, die aber ira Röntgen¬ 
bilde keine Knochenverletzung (Absprengung) erkennen läßt, worauf 
Bar den heu er die so häufig auftretende Kallusbildung bei Ell¬ 
bogenluxationen zurtickführt (Fig. 1). 

Die mehrere Male gemachten Repositionsversuche blieben ohne 
Erfolg, und es wurde Anfang Januar 1906 die blutige Reposition 
von zwei seitlichen Schnitten aus vorgenommen. Trotz einer kon¬ 
sequent durchgeführten Nachbehandlung mit gymnastischen Hebungen, 
Massage und Heißluftbädem wurde eine Beweglichkeit im Ellbogen¬ 
gelenk nicht erreicht; vielmehr blieb der Arm in einem stumpfen 
Winkel ankylotisch. 


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112 


W. Böcker. 


Im Juli 1906 untersuchte ich den Patienten zum ersten 
Male und fand in der rechten Ellenbeuge eine brettharte An¬ 
schwellung, die die ganze vordere Kapsel einzunehmen, dem Verlauf 
des Brachialis zu folgen schien und gegen die Unterlage nicht ver- 


Fig. 1. 



schieblich war. Gefäßstörungen fehlten; dagegen machte sich beim 
Patienten von seiten der Nerven ein leichtes taubes Gefühl in den 
Fingern bemerkbar, das sich bis zum heutigen Tage nicht ver¬ 
schlimmert hat. Die Finger können völlig gebeugt und gestreckt 

Fig. 2. 



werden. Das Röntgenbild zeigt neben einer knöchernen Verwachsung 
des Gelenks die vordere Kapselpartie mit einer ausgiebigen Knochen¬ 
masse ausgefüllt, die, von mehreren Stellen des Knochenperiosts aus¬ 
gehend, sich nach oben in der Richtung des Brachialis internus 
und nach unten bis zur Tuberositas ulnae hinzieht, deren Schatten 
sich noch nicht überall vereinigt haben (Fig. 2). 


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Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. 113 

Wenn man bei solchen Fällen in größeren Zwischenräumen wieder 
Röntgenbilder anfertigen läßt, kann man sich davon überzeugen, ob 
die Schatten sich vereinigt haben, ferner ob der Tumor an Ausdehnung 
zugenommen bezw. sein Wachstum beendet hat oder ob regressive 
Veränderungen eiugetreten sind. Zwei 1 Jahr später von verschie¬ 
denen Seiten angefertigte Bilder — einmal lag der Condylus internus, 
das andere Mal der Condylus extemus der Platte auf — zeigen uns, daß 
die Schatten sich wirklich vereinigt haben, die Enochenbildung wesent¬ 
lich zugenommen hat, und zwar nach dem Humerus zu, so daß es 
den Anschein hat, als ob der Brachialis in seiner ganzen Ausdehnung 
erfaßt ist, während nach abwärts 
vom Gelenkspalt die Verknöcherung 
fast dasselbe Bild zeigt und schlie߬ 
lich, daß die Ossifikationen, die 
scharfe Konturen aufweisen, breit 
dem Knochen aufsitzen und daß 
sich oberhalb der Olekranonspitze 
im Bereiche der hinteren Gelenk¬ 
kapsel Knochenwucherungen gebildet 
haben (Fig. 3 u. 4). 

Aus diesem Befunde können wir 
mit Sicherheit schließen, daß die 
Verknöcherungen primär vom Periost 
ihren Ausgang genommen haben und 
sekundär in den Muskel hineinge¬ 
wuchert sind. 

Das ist prognostisch von großer 
Wichtigkeit, weil erfahrungsgemäß 
die vom Periost ausgehenden Ver¬ 
knöcherungen nach der Exstirpation 
meist Rezidive geben, während die im Muskel entstandenen Ossi¬ 
fikationen ein gutes Resultat erwarten lassen. 

Wenn ich nun noch mit ein paar Worten auf die Behandlung 
eingehe, so können wir bestimmte Grundsätze nicht aufstellen. 
Wissen wir doch, daß sowohl die Verknöcherungen sich spontan 
zurückbilden (Nadler), als auch nach der Exstirpation Rezidive 
eintreten können, worauf Sudeck in seinem Handbuch für soziale 
Medizin, »Der Arzt als Begutachter“, besonders hinweist. Jeden¬ 
falls wird man sich zur Operation entschließen, wenn durch Druck 

Zeitschrift fttr orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 8 


Fig. 8. 



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114 


W. Böcker. 


des Tumors auf die Gefäße und Nerven stärkere Störungen, oder 
wie dies meistens bei der Muskelverknöcherung in der Ellenbeuge, 
nur ausnahmsweise bei der Verknöcherung im Quadriceps der Fall 
ist, noch Bewegungsstörungen im Gelenk vorhanden sind, die allein 
schon die Indikation für operative Maßnahmen abgeben können, 
wenn nicht — was immer zu versuchen ist — durch Massage, Heißluft 
und frühzeitige Bewegungen auf die behinderte Beweglichkeit im 
Ellbogengelenk bezw. Kniegelenk ein günstiger Einfluß ausgeübt wird. 
Wie günstig selbst schwere Bewegungsstörungen eines Gelenks nach 
Muskelverknöcherung beeinflußt werden können, hatte ich Anfang 


Fij?. 4. 



dieses Jahres an einem Falle von traumatischer Muskelverknöcherung 
im linken Quadriceps zu beobachten Gelegenheit, die allmählich nach 
Verlauf von Jahren zu einer völligen Ankylose des Kniegelenks in 
Streckstellung geführt hatte. Wie das Röntgenbild zeigte, nahm 
die Ossifikation, die dem Verlauf der Muskelfasern gefolgt war, das 
ganze untere Drittel des Quadriceps ein und ließ eine Verbindung mit 
dem Knochengerüst erkennen. Die Kniescheibe ist durch einen 
Strang mit dem Gelenk verwachsen, das übrige Gelenk schien von 
jeglichen Adhärenzen frei zu sein. Dieser Fall bietet in therapeu¬ 
tischer Hinsicht ein gewisses Interesse. Da die Patientin einen blutigen 
Eingriff ablehnte, versuchte ich durch physikalische und mechanische 
Behandlung eine Beweglichkeit im Gelenk zu erreichen. Ich war 
mir der Schwierigkeit meiner Aufgabe wohl bewußt. Zunächst wurde 
der Oberschenkel massiert und Heißluftbäder wurden täglich zweimal 
appliziert. Dann begann ich die Kniescheibe manuell zu lockern 


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Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. 115 


und den Unterschenkel gegen den Oberschenkel zu beugen. Ich 
konnte nun beobachten, wie allmählich eine gewisse Beweglichkeit 
im Kniegelenk selbst, die auch die Patientin bemerkte, sich ein¬ 
stellte. Durch diesen Fortschritt ermutigt, machte ich in Narkose 
in der 6. Woche in vorsichtiger Weise ein Brisement forcd, wobei 
ohne größere Anstrengung durch Nachgiebigkeit der Ossifikation 
dank der günstigen Einwirkung der Hitze eine Beugung bis zu einem 
rechten Winkel erreicht wurde. Wenn nun auch diese ausgiebige 
Beweglichkeit nicht erhalten blieb, so kann doch noch heute das 
Gelenk fast bis zu einem halben Rechten gebeugt werden, und es 
ist nicht anzunehmen, daß nach so langer Zeit wieder eine Ver¬ 
steifung eintritt. Nach einem solchen Resultat ist selbst bei einer 
jahrelang bestehenden Kniegelenksankylose nach traumatischer Muskel¬ 
verknöcherung die unblutige Behandlungsweise wohl zu versuchen 
und zu empfehlen. 

Wann soll man aber operieren? Da haben nun die Erfahrungen 
gelehrt, daß der Zeitpunkt der Operation dann gekommen ist, wenn 
der Muskelknochen sein Wachstum beendet hat. Wenn man in 
diesem Stadium den Muskelknochen gründlich entfernt, kann man 
am sichersten ein Rezidiv verhüten (Helferieh). Wir werden 
den Tumor in einem früheren Stadium bei einem raschen Wachs¬ 
tum nur dann operieren, wenn wir nicht mit absoluter Sicherheit 
einen malignen Tumor (Sarkom) ausschließen können, der differential¬ 
diagnostisch in Frage kommen kann (Schüler). Zur Entfernung 
der Geschwulst in der Ellenbeuge wird man meist mit zwei seitlichen 
Schnitten auskommen, wie sie für die blutige Reposition empfohlen 
sind, und man hat neuerdings gute Resultate erzielt. 

Wie wir gestern auf dem Chirurgenkongreß an dieser Stelle 
von Bunge gehört haben, soll man bei veralteten Luxationen des 
Ellbogengelenkes der blutigen Reposition vor der Resektion den Vor¬ 
zug geben. Was sollen wir aber tun, wenn nach einer blutigen Re¬ 
position neben einer knöchernen Verwachsung des Gelenks aus¬ 
gedehnte Ossifikationen im Bereiche der ganzen Gelenkkapsel und 
des Musculus brachialis, wie in diesem Falle vorzuliegen scheint, 
aufgetreten sind? Ich glaube, man wird sich in solchen Fällen nur 
dann zur Operation, d. h. Resektion entschließen, wenn unangenehme 
Störungen von seiten der Gefäße und Nerven vorhanden sind. Ist 
das nicht der Fall wie hier, so wird man besser tun, voraus¬ 
gesetzt, daß der Arm eine brauchbare Stellung einnimmt, von einem 


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116 W. Böcker. Zur Frage der Entstehung und Behandlung der Myositis etc. 


weiteren Eingriff abzusehen, da man für ein gutes Resultat nicht 
garantieren, d. h. der Arm im Ellbogengelenk leicht wieder anky- 
lotisch werden kann. 


Literatur. 

1. Bi rch-Hirschfeld, Lehrbuch der pathologischen Anatomie. 

2. Berndt, Zur Frage der Beteiligung des Periosts bei der Muskelverknöche¬ 

rung nach einmaligem Trauma. Arch. f. klin. Chir. 1902, Bd. 65. 

3. Berthier, Arch. de med. experim. 1894, T. 6. 

4. Bremig, üeber Myositis ossificans. Inaug.-Diss. Greifswald 1897. 

5. Bunge, Arch. f. klin. Chir. Bd. 60. 

6. Cahen, lieber Myositis ossificans. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1891, Bd. 31. 

7. Cahier, Sur les myosleomes traumatiques sur leur pathologie etc. Revue 

de chir. XXIV, 3—6. Ref. Zentralbl. f. Chir. 1905, 6. 

8. Fichtner, Myositis ossif. im Rectus abdom. (Dem.) mediz. Gesellsch. in 

Leipzig 1906, ref. Münchener mediz. Wochenschr. 1906. 

9. Frangenheim, Die Myositis ossificans im biachialis nach Ellbogenluxa¬ 

tion, ihre Diagnose und Behandlung. Deutsche med. Wochenschr. 1908, 
Nr. 12. 

10. Helferich, Kongreß Verhdlg. der Deutschen Gesellsch. f. Chir. 1887. 

11. Honseil, Ueber traumatische Exostosen. Beitr zur klin. Chir. 1898, Bd. 22. 

12. Kienböck, Münchener med. Wochenschr. 1900, Nr. 51. 

13. Lexer, Das Studium der bindegewebigen Induration bei Myositis ossificans 

progr. Arch. f. klin. Chir. Bd. 50. — Derselbe, Lehrbuch der allgem. 
Chir. 1905, Bd. 2. 

14. Mays, Ueber die sogenannte Myositis ossificans progr. Virchows Arch. 

1878, Bd. 174. 

15. Meinhold, Osteom im Muse. ext. cruris quadr. Deutsche militärärztl. 

Zeitschr. 1883. 

16. Nadler, Myositis ossificans träum, mit spontanem Zurückgang der Muskel¬ 

verknöcherung. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1904, Bd. 74. 

17. Rammstedt, Ueber träum, Muskelverknöcherungen. Arch. f. klin. Chir. 

1899, Bd. 61. 

18. Rasmussen, Osteom im Muse, brachialis int. Deutsche militärärztl. Zeit¬ 

schrift 1883. 

19. Regnier, Presse med. 1899, Nr. 47. 

20. Röpke, Zur Kenntnis der Myositis ossif. träum. Langenbecks Arch. 82, 1. 

21. Rothschild, Ueber Myositis ossificans träum. Beitr. zur klin. Chir. 1900, 

Bd. 28. 

22. Schüler, Ueber träum. Exostosen. Beitr. zur klin. Chir. 1902, Bd. 33. 

23. Schulz, Zur Kenntnis der sogenannten Myositis ossificans träum. Beitr. zur 
• klin. Chir. Bd. 33- 

24. Stempel, Die sogenannte Myositis ossificans progr. Mitteilungen aus den 

Grenzgebieten 1898, Bd. 3. 

25. Strauß, Myositis ossif. träum, im M. subclavius nach Lux. claviculae supra 

acromialis. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 89 S. 630. — Derselbe, 
Zur Kenntnis der sogen. Myositis ossif. träum. Langenbecks Arch. 78, V. 

26. Sudeck, Chirurgenkongreß 1901. 

27. Virchow, Verh. der med. Gesellschaft 1894, und Geschwülste II, S. 80. 

28. Vulpius. Zur Kenntnis der intramuskulären Knochenbildung nach Trauma. 

Arch. f. klin. Chir. 1902. 

29. Ziegler, Lehrbuch der pathologischen Anatomie. 

30. v. Zoege-Manteuffel, Chirurgenkongreß, Verh. 1896 (l). 


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VIII. 


Ueber Yerändemngeii an Kanincbenextremitäten 
nach Dnrcbscbneidnng des Intemediärknorpels')- 

Von 

Prof. Dr. J. Biedinger ‘ in Würzburg. 

Mit 2 Abbildungen. 

Um den Heilungsvorgang kennen zu lernen und um die Frage 
der Wachstumsstörungen nach blutiger Durchtrennung des Epiphysen¬ 
knorpels zu studieren, habe ich im Jahre 1904 die Trennung der 
Epiphyse am unteren Ende der Ulna bei 6—8 Wochen alten 
Kaninchen vorgenoramen. In verschiedenen Zeiträumen wurden die 
Kaninchen getötet und Röntgenbilder von den beiden Extremitäten 
angefertigt. Der untere Abschnitt der Ulna mit dem Intermediär¬ 
knorpel wurde sowohl an der operierten als an der nicht operierten 
Seite den Präparaten entnommen und behufs mikroskopischer Unter¬ 
suchung konserviert. Herr Professor Borst in Würzburg war so 
freundlich, die mikroskopische Untersuchung vorzunehmen. Um 
Nebenverletzungen bei der Durchtrennung möglichst zu vermeiden, 
um aber doch die ganze Epiphyse zu trennen, wählte ich als In¬ 
strument einen scharfen, schmalen und etwa die Breite der Knorpel¬ 
fuge einnehmenden Meißel, den ich nach der Freilegung der Knorpel- 
fuge genau in der Mitte der Knorpelfuge eingesetzt zu haben 
glaubte. 

Es war für mich nun von großem Interesse, als mikroskopisch 
zunächst für die meisten Fälle festgestellt wurde, daß der Schnitt 
durch die Verkalkungszone an der Diaphysenbasis verlief. Infolge 
des Verlaufes des Schnittes an der Basis der Diaphyse sind die 
Präparate umso eher geeignet, einen Einblick in die Heilungsvor- 

Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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118 


J, Riedinger. 


gange beim Menschen zu gewinnen, da traumatische Epiphysen¬ 
trennungen in der Regel an eben dieser Stelle Vorkommen. 

An den Präparaten vom 3., 6., 9., 12., 22., 28. und 80. Tag 
läßt sich das Fortschreiten der Heilung leicht verfolgen. Es zeigen 
sich zuerst Wucherungen, herrührend von der osteogenen Schicht 
des Periosts, von den perichondralen Schichten und vom Mark her. 
Gleichzeitig kommt es zur Ablagerung osteoider Massen und vom 
6.—9. Tag ab zur Proliferation von Knorpel. Durch die vom 
Knorpel und vom Mark ausgehende Gewebsneubildung und durch 
Periostkallus schließt sich der Defekt allmählich. Der Prozeß kann 
bis zum 28. Tag vollendet sein. Aber auch der Knochen der Epi¬ 
physe bleibt nicht immer untätig. Es wurde beobachtet, daß es 
in der Epiphyse zur Auflösung des Knochens und zur Bildung 
einer neuen Ossifikationszone kommen kann. Die unregelmäßige 
Anordnung der Knorpel- und Osteoidwudierungen und die Un¬ 
regelmäßigkeit der Ossifikation erinnert äußerlich an das Bild der 
Rhachitis. 

Nach 3G0 Tagen hatte das Knochenwachstum aufgehört. 
Das von diesem Tage stammende Präparat zeigt ebenso wie das vom 
510. Tage stammende mikroskopisch keine Besonderheiten. Makro¬ 
skopisch sind zwei interessante Befunde zu konstatieren. Einige 
Millimeter oberhalb der Epiphysenlinie findet sich nämlich an dem 
Präparat vom 300. Tage an der Medianseite der Ulna ein exostosen¬ 
artiger, kegelförmiger Fortsatz. Ich führe diesen zurück auf osteoide 
Massen, welche unter dem Einfluß der Belastung zungenartig nach 
außen vorgedrängt wurden. Die Exostose deutet anderseits das 
Auf hören der Wucherungsprozesse und den Beginn normalen Wachs¬ 
tums an. Am Bild des Präparates vom 510. Tage (Fig. 1) markiert 
sich diese Grenze durch eine spindelförmige Auftreibung, die un¬ 
zweifelhaft erkennen läßt, daß von einem bestimmten Termin ab 
die Extremität begonnen hat, von der Epiphyse aus gerade zu 
wachsen. 

Das Präparat vom 40. Tage zeigt starke Atrophie des Knorpels 
und knöcherne Brücken zwischen Diaphyse und Epiphyse. Auch 
das Präparat vom 210. Tage zeigte knöcherne Vereinigung. Es ist 
anzunehmen, daß in beiden Fällen die Verletzung eine stärkere war. 

Als ich im Anschluß an den Vortrag von Spitzy auf dem 
di’itten Kongreß für orthopädische Chirurgie im Jahre 1904 einige 
Röntgenbilder von meinen Präparaten demonstrierte, glaubte Reiner 


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Ueber Veränderungen an Kaninchenextremitäten etc. 


119 


die Veränderungen auf Infektion und chronische Osteomyelitis zurück¬ 
führen zu können. Die mikroskopische Untersuchung konnte wohl 
gewisse Zustande einer traumatischen Degeneration, aber in keinem 
einzigen Fall das Bestehen einer auf Infektion zurückzuführenden 
Entzündung feststellen. Die Annahme einer Osteomyelitis ist auf 
Grund dieser Untersuchung und wegen des ungestörten Verlaufes 
während der Heilung mit Entschiedenheit abzulehnen. Die in allen 
Fällen beobachtete Verkürzung der Ulna beruht nur auf Störung 


Fig. 1. 



im Längenwachstum, welches so lange sistiert, als der Prozeß der 
knorpeligen, der osteoiden und knöchernen Wiedervereinigung und 
die Unregelmäßigkeit der Verknöcherung andauert. Die Verkürzung 
beginnt vom Moment der Verletzung ab und war am 22. Tage 
makroskopisch zu erkennen. Der Grad der Verkürzung ist ein sehr 
verschiedener, da er vor allem abhängt von dem Grad der Schädigung 
des Knorpels. 

Das Präparat vom 510. Tag orientiert auch über die Wachs¬ 
tumsverhältnisse nach Vollendung der Heilung der Läsion. Die 
mechanische Störung war hier, wie aus der Wiederherstellung der 
Funktion unzweifelhaft hervorgeht, eine unbedeutende, und doch ist 
der Knochen in allen seinen Teilen in der Entwicklung zurück- 


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120 


J. Riedinger. 


geblieben. Letzteres ist erwiesen durch Röntgenbilder, welche Yon 
verschiedenen Seiten her aufgenommen worden sind, und nicht zum 
geringsten Teil durch die" mikroskopische Untersuchung, da die 
proximale Diaphyse der Ulna ohne strukturelle Abweichung als etwas 
atrophisch befunden wurde. 

Der Befund vom 510. Tag muß meines Erachtens so aufgefaßt 
werden, daß bei Kaninchen auch im günstigsten Falle die Tren¬ 
nung der Diaphyse an der Knorpel¬ 
knochengrenze nicht ganz ohne Nachteil 
auf die weitere Entwicklung des Knochens 
bleibt. Alle bisherigen experimentellen 
Untersuchungen hatten sich auf eine viel 
zu kurze Zeit beschränkt. 

Eine Schlußfolgerung für die Pro¬ 
gnose der traumatischen Epiphysentren¬ 
nung beim Menschen ist nicht ohne 
weiteres möglich, da ja beim Menschen 
das Knochenwachstum erheblich lang¬ 
samer vor sich geht und der Ausfall des 
Längenwachstums während der Dauer 
der Heilung der Epiphysenlösung ein 
verhältnismäßig sehr geringer ist. Außer¬ 
dem ist das Wachstum bei der Rhachitis 
an und für sich kein geordnetes. Wir 
dürfen annehmen, daß die Gefahr der 
Wachstumsstörungen eine geringe ist bei 
glatter Durchtrennung, bei Schonung der 
Epiphyse, bei aseptischem Verlauf und 
Ausbleiben einer seitlichen Dislokation. 

Gleichzeitig mit der Verkürzung 
entwickelte sich an den operierten Ex¬ 
tremitäten eine Verkrümmung der Kno¬ 
chen. Während nämlich die Ulna im 
Wachstum zurückbleibt, entwickelt sich 
der Radius weiter und es entsteht so ein kürzerer und ein längerer 
Bogeq, ähnlich wie beim angeborenen partiellen Defekt des Radius 
oder der Ulna. 

Die Aehnlichkeit mit rhachitischen Verkrümmungen ist eine 
außerordentlich große (siehe Fig. 2, 80. Tag). Zu erwähnen ist be- 


Fig. 2. 



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lieber Veränderungen an Kaninchen extrem i täten etc. 


121 


sonders die Verdickung der an die Epipliysenlinie angrenzenden 
Partien, die Säbelscheidenform der Knochen, ferner die mikro¬ 
skopisch festgestellte Ausbuchtung der Markhöhle auf dem Scheitel 
der Verkrümmung und die Abknickung an der Diaphysenbasis. Bei 
der Betrachtung der spindelförmigen Verdickung am Präparat vom 
510. Tage werden wir außerdem an den Heilungsvorgang bei der 
Streckung rhachitischer Deformitäten erinnert. 

Nähere Mitteilungen werden im Archiv für Orthopädie, 
Mechanotherapie und Unfallchirurgie erscheinen. 


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IX. 


(Aus dem k. k. Universitäts-Ambulatorium für orthopädische Chirurgie 
des Prof. Dr. A. Lorenz in Wien.) 

Zur Frage der multiplen Sarkomatose des 
jugendlichen Knochens und der Ostitis fihrosa- 
Recklinghausen'). 

Von 

Dr. Robert Wemdorff, Assistent. 

Mit 5 Abbildungen. 

Wenn ich mir Ihre Aufmerksamkeit zu einem Thema erbitte, das 
gerade in der letzten Zeit so oft und ausführlich besprochen wurde, 
nämlich zur Frage der jugendlichen multiplen und primären Knochen- 
sarkomatose, so geschieht dies in der Voraussetzung, durch die Mit¬ 
teilung meines Falles mit beizutragen zur Erklärung dieses in vielen 
Punkten dunklen Krankheitsbildes. Bedarf doch unter anderem die 
Beziehung, in welcher die primäre multiple Knochen sarkomatose zu 
der von Recklinghausen so genannten Ostitis fibrosa steht, 
durchaus einer Erklärung. 

Ich will Sie, meine Herren, nicht bitten, mir auf einem litera¬ 
rischen Rückblicke über diese Frage zu folgen, ich will Sie nicht 
von Czerny und Paget über Recklinghausen zu den vielen 
namhaften Autoren führen, die in allerjüngster Zeit einschlägige 
Fälle beschrieben haben, ich will nur kurz auf das klinische und 
pathologisch-anatomische Substrat hinweisen, die Trias der Symptome, 
Fraktur, Osteoraalacie und Tumorbildung hervorheben. 

Die Fraktur oder die durch die Fraktur entstandene Deformität 
des Knochens führt uns den Kranken zu, das Röntgenbild gibt uns, 

‘) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 123 

wie ich im folgenden zeigen will, die Wahrscheinlichkeitsdiagnose, 
welche durch die mikroskopische Untersuchung sicherzustellen ist. 

Auch in dem von mir beobachteten Falle hat die Fraktur und 
die im Anschluß daran allmählich entstandene Deformität zur Beob¬ 
achtung des Kranken geführt. Die Abbildung (Fig. 1 und 2) zeigt 

Fig. 1. Fig. 2. 


die in ihrer Art wohl kaum noch beobachtete Deformität. Es macht 
den Eindruck, als wenn das rechte Bein im Kniegelenke (Fig. 1) 
rechtwinklig gebeugt wäre. Wie groß wird aber das Erstaunen, 
wenn bei dem Versuche einer passiven Beugung handbreit unter dem 
vermeintlichen Kniegelenk, ein zweites, diesmal das wirkliche Gelenk 
zum Vorschein kommt. Tatsächlich hat die rechtwinklige Knickung 
des Oberschenkels bei der Umgebung des Kindes diese unrichtige 
Vorstellung und bei vielen Aerzten, die das Kind vorher untersucht 


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124 


Robert Wemdorff. 


hatten, die unrichtige Diagnose einer tuberkulösen Kontraktur hervor- 
rufen können. 

Die genaue Untersuchung ergibt folgenden Befund; Ilsower, Karl, 9 Jahre, 
Rseszow. Vier Geschwister sind gesund, ein Bruder leidet an Spondylitis 
tuberculosa, Iroal hat die Mutter abortiert. Lues der Eltern entschieden in 
Abrede gestellt. Der Patient war immer gesund. Von frühester Kindheit an 
bemerken die Eltern eine Verkürzung des rechten Beines, die, als das Kind zu 
laufen anfing, schon so beträchtlich war, daß ein Gehen ohne Krücke unmög¬ 
lich war. Der Knabe hat von jeher eine Krücke getragen, niemals mit dem 
ahinaufgezogenen** Beine den Boden berührt. Niemals wurde von den Eltern 
ein Trauma beobachtet, niemals Schmerzen. 

Status: Die rechte untere Extremität ist stark atrophisch und stark ver¬ 
kürzt. Sie wird im Stehen suspendiert durch nahezu rechtwinklige Beugung 
im Hüftgelenk und rechtwinklige Knickung des Oberschenkels, Im Liegen be¬ 
trägt die Knöcheldistanz bei gleichem Stand der Spinae anteriores superiores 
17 cm. Die Knickung liegt handbreit über dem Kniegelenksspalt im unteren 
Drittel des Oberschenkels. Sie bildet die Form eines Knies, darüber liegt ein 
Schleimbeutel, der die Konturen der Patella vortäuscht. Das Kniegelenk ist 
frei beweglich, durch maximale Beugung (Fig. 2) wird die Knickung anschaulich 
zur Darstellung gebracht. 

Der rechte Oberschenkel mißt in seinem oberen Fragment vom Trochanter 
major bis zum Scheitel der Knickung 21 cm, in seinem unteren Fragment vom 
Scheitel der Knickung bis zum Kniegelenksspalt 8 cm. Der linke Oberschenkel 
mißt in symmetrischer Beugestellung des Hüftgelenkes vom Trochanter major bis 
zum Kniegelenksspalt 31 cm. Der rechte Unterschenkel vom Gelenksspalt bis 
zum Malleolus medialis 27 cm, der linke Unterschenkel 29 cm. 

Der rechte Unterschenkel ist zwei Querfinger unter der Tuberositas tibiae 
nach vorn konvex und verdickt. Das ganze obere Tibiadrittel säbelscheiden¬ 
förmig deformiert. Die Sehnen der Kniebeuger vorsijringend. Am Gesichts¬ 
skelett keine sichtbaren Veränderungen. Oberarme und Vorderarme gleich 
lang. An den Phalangen und Metatarsen keine Veränderungen. 

Die klinische Diagnose mußte wegen des langen Bestehens, 
wegen der Wachstumsverkürzung und wegen der Deformierung des 
oberen Tibiaendes auf Spontanfraktur des Oberschenkels bei multipler 
Cystenbildung gestellt werden, wobei es dem Röntgenbilde Vor¬ 
behalten blieb, zu entscheiden, ob es sich um eine Chondrombildung 
nach Art der sogenannten Ollierschen Wachstumsstörung oder um 
eine multiple primäre Sarkomatose (Haberer) handelt. 

Die radiologische Untersuchung des ganzen Skelettes ergab 
hochgradige cystische Veränderungen im rechten Darmbein und an 
mehreren Stellen des rechten Ober- und Unterschenkels, Verände¬ 
rungen, welche ein radiologisch charakteristisches Krankheitsbild liefern 
und sich wohl unterscheiden lassen von den übrigen hier in Betracht 
kommenden Knochenerkrankungen. 


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Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 125 


Die radiologischen diflferentialdiagnostischen Eigentümlichkeiten 
des periostalen oder medullären Sarkomes, des zentralen Knochen¬ 
abszesses, des tuberkulösen Granulationsherdes im Knochen sind zu 
häufig beschrieben, um hier wiederholt werden zu müssen. Auch 
die sogenannte Olli ersehe Wachstumsstörung gibt einen charak- 


Fig. 3. 



teristischen Röntgenbefund, der wohl kaum mit den Radiogrammen 
des vorliegenden Falles verwechselt werden kann. 

Röntgenbefund: Der rechte Oberschenkel hochgradig atrophisch 
und in seinen metaphysären Anteilen, besonders aber in seiner unteren 
Metaphyse hochgradig deformiert (Fig. 3, 4 und 5). Der Schenkel¬ 
hals (Fig. 3) ist stark verkürzt, nahezu um die Hälfte verschmälert. 
Es besteht geringe Coxavarasteilung. 

Das obere Ende des Oberschenkels ist in eine große multi¬ 
lokulare Cyste verwandelt. Diese liegt mehr in dem medialen Ober- 


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126 


Robert Werndorff. 


schenkelteile, so zwar, daß die mediale Oberschenkelcorticalis 1 cm 
unterhalb des Trochanter minor beginnend, in der Mitte der unteren 
Schenkelhalslinie endend, stellenweise ganz ausgelöscht, stellenweise 
stark verdünnt erscheint. Die Cyste scheint also an der medialen Seite 
eine papierdünne, stellenweise knochenfreie Begrenzung zu haben, 


Fig. 4. 



während sie sich gegen die äußere, übrigens verdünnte Oberschenkel¬ 
corticalis deutlicher abgrenzt, die Apophyse des Trochanter major 
freilassend. Sie scheint durch einige Knochenleisten in einzelne 
Höhlen zerlegt, die Trabekelu in ihrer Struktur undeutlich, wie 
verwischt, ausgewaschen. Der ganze Innenraum der Cyste wolkig 
verschleiert. 

Der übrige der Cyste benachbarte Knochen, also das mittlere 
Oberschenkeldrittel, zeigt eine stark verdünnte Corticalis medial und 


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Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 127 


lateral, die Spongiosa sehr deutlich, stellenweise wolkig getrübt mit 
ausgelöschter Struktur und Andeutung von kleiner Vakuolenbildung. 

Das untere Oberschenkeldrittel (Fig. 4) vier Querfinger Über 
dem Gelenk rechtwinklig nach hinten umgebogen, der antero- 
posteriore Durchmesser im Be¬ 
reiche der Knickung nahezu um 
das Dreifache vergrößert. Das 
ganze untere Drittel des Ober¬ 
schenkels ist verwandelt in eine 
nach unten an der Knieepiphyse 
begrenzte, nach oben drei Quer¬ 
finger über die Knickungsstelle 
reichende multilokulare Cyste; 
die hintere Wand bis zwei Quer¬ 
finger über die Epiphysenfuge 
um das Dreifache verdickt, da¬ 
selbst eingeknickt, von hier an 
ist die Corticalis undeutlich ver¬ 
wischt, schollig. Dem vorderen 
Winkel der Knickung entspre¬ 
chend ist die Corticalis ein¬ 
gebrochen. Die ganze Cyste ist 
durch Trabekeln in mehrere 
Hohlräume zerlegt, die Struk¬ 
tur der Trabekeln verwaschen, 
wie „verwackelt“. Der Haupt¬ 
anteil der Cyste läßt radiologisch 
keinen Inhalt erkennen; dagegen 
sind im vorderen Knickungs¬ 
winkel einige unregelmäßig be¬ 
grenzte , erbsengroße, verwa¬ 
schene Flecken. Die oberste, 
oberhalb der Knickungsstelle ge¬ 
legene, etwa walnußgroße Kam¬ 
mer zeigt eine deutliche streifige 

Architektur ihres Grundes. Die Spongiosa des die Cyste nach oben hin 
begrenzenden Knochens ist deutlich streifig angeordnet, in ihrer Mitte 
zwei scharf umgrenzte erbsengroße Höhlen umschließend. Hochgradige 
Atrophie derKniegelenkskonstituentien. Die Gelenkkörper sonst normal. 



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Robert Werndorff. 


Bedeutende Atrophie des rechten Unterschenkels. Die oberen 
und unteren Partien des Waden- und Schienbeines zeigen ähnliche 
cystische Veränderungen, wie sie am Oberschenkel beschrieben wurden. 
Die Tibia ist unterhalb der Tuberositas tibiae nach vorn konvex 
gekrümmt. Sie ist im oberen Drittel im antero-posterioren Durch¬ 
messer vergrößert. Das ganze obere Drittel der Tibia ist von einer 
Cyste substituiert, die nach oben die Epiphyse unberührt läßt, deren 
vordere Wand stellenweise verdickt, deren hintere Wand stellenweise 
papierdünn, stellenweise ausgelöscht erscheint. Teilung in einige 
Kammern. Kein radiologisch nachweisbarer Inhalt; das obere Fibular- 
ende im antero-posterioren Durchmesser vergrößert, die Corticalis 
stark verdünnt, mehrere pflaumenkerngroße bis erbsengroße Höhlen¬ 
bildungen, die Spongiosa teils deutlich streifig, teils verwaschen, 
schollig verändert. 

Im mittleren Drittel der Tibia und Fibula zeigt die Spongiosa 
deutlich streifige Architektur. 

Das untere Tibia- und Fibuladrittel weist ähnliche Verände¬ 
rungen auf, wie das obere Drittel. Das Sprunggelenk ist frei. 
Starke Atrophie des Fußskelettes. Im rechten Darmbeine eine über¬ 
walnußgroße zweikämraerige Höhle. Am übrigen Skelett, einschlie߬ 
lich des Schädels, fanden sich nicht die geringsten Veränderungen. 

Charakteristisch ist also das multiple Auftreten von Cysten im 
Skelette eines jugendlichen Individuums. Wir waren nach der 
Röntgenuntersuchung nicht im Zweifel, daß diese Beobachtung dem 
von Habe rer aufgestellten Typus der sogenannten sarkomatösen 
Knochencysten jugendlicher Individuen zuzurechnen sei, umsomehr 
als, wie aus Fig. ö hervorgeht, die bei Olli er scher Wachstums¬ 
störung verkommenden Cysten radiologisch leicht von Hab er er sehen 
Cysten unterschieden werden können. 

Die Frage der Knochencysten vom Hab er er sehen Typus ist in 
der jüngsten Zeit so oft und ausführlich erörtert worden, daß der 
literarische Tatbestand als bekannt vorauszusetzen ist. — Die deutlich 
streifige Beschaffenheit der Spongiosa an einzelnen Stellen des cystisch 
veränderten Knochens, besonders aber in dessen Nachbarschaft, mußte 
den Gedanken nahe legen, daß der Fall unserer Beobachtung vielleicht 
io Beziehungen zu der von Recklinghausen beschriebenen Osteo- 
malacie des Knochens mit multipler Tumorbildung, Ostitis fibrosa, zu 
bringen sei. — Auch die Schilderungen Recklinghausens und seiner 
Epigonen müssen als bekannt vorausgesetzt werden, erinnert sei nur 


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Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 129 

an den großartigen Umbau des Knochens, der das Krankheitsbild 
der Ostitis fibrosa charakterisiert, die Neubildung eines kalklosen 
Knochens, die Halisterese des alten Knochens, die Umwandlung des 
Knochenmarkes in Fasermark und endlich das Auftreten von Riesen¬ 
zellensarkomen in dem osteomalacisch veränderten Knochen; im An¬ 
schluß daran die Spontanfrakturen. 

Zur Entscheidung der Frage, ob die multiple Sarkomatose des 
jugendlichen Knochens als eine primäre Skeletterkrankung in unserem 
Falle aufgetreten sei, oder ob sie in einem durch Osteomalacie im 
Sinne Recklinghausens veränderten Knochen sich entwickelte, 
kann nur durch eingehende mikroskopische Untersuchung entschieden 
werden. Die Entscheidung dieser Frage erschien umso wichtiger, 
als die bisher mitgeteilten und mikroskopisch erhärteten Fälle von 
fibröser Ostitis mittleren oder höheren Alters waren, niemals aber 
dem ersten Dezennium angehörten. Die mikroskopische Unter¬ 
suchung muß sich, wenn sie ein entscheidendes Wort sprechen will, 
auf das ganze Skelett erstrecken. Wenige sind so glücklich, über 
eine Autopsie zu verfügen. Die durch Operation und Probeexzision 
gewonnenen Präparate müssen ein unbefriedigendes Resultat geben; 
denn es hängt vom Zufall und vom Glück des Untersuchers ab, ob 
er gerade die richtige Stelle trifft, und ausgedehnte Eingriffe am 
Skelette zu diagnostischen Zwecken sind unausführbar und unerlaubt. In 
dem vorliegenden Falle konnte ein beträchtliches Stück des Knochens 
durch Operation entfernt werden: nahezu der ganze pathologisch 
veränderte Knochen an der Knickungsstelle des Oberschenkels, dazu 
das Knochenmark des benachbarten, anscheinend gesunden Knochens; 
ferner ein 5 cm langer Knochenspan aus der Tibia, entsprechend 
dem deformierten oberen Ende. Leider konnte die Einwilligung des 
Vaters zur Entnahme eines Stückes aus der Mitte der Tibia und 
Fibula nicht erhalten werden. Gerade diese Stelle hätte wegen der 
streifigen Struktur im Röntgenbilde untersucht werden müssen. 

Bei der am 20. März 1908 vorgenommenen Operation zeigte der durch 
Längsschnitt an der Knickungsstelle freigelegie Knochen in Farbe und Konsistenz 
keine Abweichung von der Norm. Der Knochen war an dem vorderen Scheitel 
der Deformität eingeknickt, die Fragmente bindegewebig verwachsen. Beim 
Durchtrennen dieses Bindegewebes stellten sich drei schrotkorngroße graue 
Körner von derber Konsistenz in die Wunde ein. Nach Eröffnung des Knochens 
präsentiert sich das Innere vollkommen ausgefüllt von einer braunrötlichen 
festen Tumormasse, die leicht zerreiblich ist. Keine Höhlenbildung, kein flüs* 
siger Inhalt; es wird nun möglichst im Gesunden die Tumormasse entfernt 
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 9 


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Robert Wemdorff. 


durch Entnahme eines Keiles mit vorderer Basis. Die Basis beträgt etwa 4 cm 
im Längsdurchmesser und geht durch die ganze Breite des Knochens, der übrige 
Knochen wird sorgfältig ausgekratzt, tief hinein bis ins gesunde Mark, nach 
oben und unten. 

Dann wird aus dem proximalen Tibiaende, entsprechend der Auftreibung 
an der Tuberositas ein ca. 4 cm langer Knochenspan mit dem Periost entfernt, das 
dieser Knochenpartie entsprechende Knochenmark, sowie das Mark der angren¬ 
zenden Partien nach oben und unten wird mit entfernt 

Der folgende mikroskopische Befund wurde von Dr. Erd he im, 
Assistenten am Wiener Institut für pathologische Anatomie, verfaßt. 

,1. Querschnitt durch das resezierte Stück aus dem unteren Femurende. 
Es handelt sich um einen zentral im Knochen sitzenden Tumor, der von innen 
her den Knochen zerstört. Stellenweise ist der Tumor noch von einer mäch¬ 
tigen Schicht kompakter Knochensubstanz bedeckt, während an den anderen 
Stellen der Tumor über sich keine Knochendecke mehr aufweist, sondern direkt 
an das Periost grenzt, ohne an solchen Stellen sich besonders hervorzuwölben. 
Das Tumorgewebe dringt nicht nur gegen die Knochenbalken, sondern zwischen 
diesen durch in den Markräumen vor. Im Tumorgewebe finden sich daher 
insbesondere peripher sehr oft Knochenbalken eingeschlossen. 

Das Knochengewebe ist an verschiedenen Stellen sehr deutlich lamellar 
gebaut und weist spärliche, schlanke, parallel liegende Knochenkörperchen auf. 
An solchen Stellen sind Kittlinien recht häufig. An anderen Stellen wieder 
handelt es sich um geflechtartigen Knochen. Eine lamelläre Struktur ist nicht 
sichtbar, die Knochenkörperchen sind plump, groß, sehr zahlreich und liegen 
regellos durcheinander. Hier sind Sharpeysche Fasern oft von beträchtlicher 
Dicke sehr reichlich zu finden. Aber auch an solchen Stellen sind die Haversi- 
schen Kanäle nicht selten von Knochenlamellen umgeben und das Knochen¬ 
gewebe ist gegen den Kanal hin von Osteoblasten eingesäumt. Die Markräume 
sind zum Teil von einem feinfaserigen und dichten Bindegewebe mit mehr oder 
weniger reichlichen zelligen Knochenmarkselementen, zum Teile von Fettzellen 
erfüllt. Der Tumor ist seiner Hauptmasse nach aus großen, spindeligen Zellen 
mit lichtem Kern zusammengesetzt (Fig. 6 a), die zwischen sich reichlich Binde¬ 
gewebsfasern führen. Recht reichlich sind in das Tumorgewebe auch Riesen¬ 
zellen eingetragen (Fig. Gc), die eine sehr verschiedene Form aufweisen und 
von dichtstehenden ovalen mit je einem Kernkörperchen versehenen Kernen 
fast ganz erfüllt sind. Sehr häufig begegnet man im Tumor Hämorrhagien 
und ebenso auch großen Schollen eines grobkörnigen, sattgelbbraunen, häma¬ 
togenen Pigmentes. Das Turaorgewebe ist frei von elastischen Fasern. 

Da, wo das Tumorgewebe gegen einen Knochenbalken vordringt, weist der 
letztere zumeist schön ausgebildete Lakunen auf, in denen jedoch zumeist das 
spindelzellige Turaorgewebe (bei a, Fig. 6) und nur selten Riesenzellen liegen 
(Fig. 6d), die sich in nichts Wesentlichem von den anderen Riesenzellen des 
Tumors unterscheiden. 

II. Die schrotkornähnlichen Gebilde besitzen an ihrer Peripherie eine 
dünne Schichte wohlerhaltenen Bindegewebes mit guter Kemfärbung. In ihrem 
Innern weisen sie zahlreiche rundliche und unregelmäßig geformte Herde grob- 


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Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 131 

faserigen und hyalinen Bindegewebes auf, dem die Kemfärbung vollkommen 
fehlt. Zwischen diesen Herden ziehen bald schmälere, bald breitere Balken 
von faserigem, kemfQhrenden Bindegewebe, das mit der haspelartigen Binde* 
gewebsschicht kontinuierlich zusammenbängt. Ferner finden sich im Innern 
dieser Gebilde kleine Herde von körnigem Detritus, der sich bei der van Gieson- 
farbung gelb färbt. In einem dieser beiden Gebilde endlich liegt ein Stückchen 
sehr deutlich lamellär gebauten Knochengewebes, das einen vollständig lakunär 
zerfressenen Rand aufweist und nekrotisch ist. Die Knochenkörperchen nehmen 
nämlich mit vereinzelten Ausnahmen keinen Kernfarbstoff mehr auf. 

Fig. 6. 


III. Der Span von der Tibia besteht im wesentlichen’aus einem Stück 
normaler Knochenkompakta mit dem Periost. Im obersten Ende des Stückes 
liegt im Knochengewebe ein Nest von Tumorgewebe, das der Hauptsache nach 
mit dem oben beschriebenen übereinstimmt.“ 

Die mikroskopische Untersuchung hat also eindeutig das mul¬ 
tiple Auftreten von Riesenzellensarkomen festgestellt. Am Knochen 
selbst, soweit er durch das Tumorgewebe nicht verändert wurde, 
fanden sich nicht die geringsten Zeichen eines osteomalacischen 
Prozesses, kein Fasermark, ein Befund, der zu Ungunsten der Be¬ 
strebungen spricht, die Habe rer sehen Riesenzellensarkome als eine 
Teilerscheinung, als die letzte und höchste Entwicklungsstufe jener 
Knochenveränderungen aufzufassen, die von Recklinghausen mit 



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132 


Robert Wemdorff. 


dem Namen Ostitis fibrosa bezeichnet wurden. Die Meinung, in 
dem durch Osteomalacie vorher veränderten und durch diese Schädigung 
prädisponierten Knochen entstünden die Riesenzellensarkome, steht 
auf keinem festen Boden, wenn man in Erwägung zieht, daß in 
meinem Fall in einem durchaus gesunden Knochen — Compacta und 
Mark — ein Nest des Tumorgewebes eingebettet liegt. An dem 
resezierten Stück aus dem Oberschenkel mag man den Einwand hin¬ 
nehmen, es sei im Tuniorgewebe reseziert worden und die benach¬ 
barten nicht entfernten Teile könnten die für Ostitis fibrosa charak¬ 
teristischen Veränderungen enthalten, die mikroskopische Untersuchung 
des großen der Tibia entnommenen Spanes läßt darüber keinen Zweifel, 
daß inmitten eines vollkommen gesunden Knochens, bei vollkommen 
normaler Compacta, normalem Periost und Knochenmark ein Riesen¬ 
zellensarkom sich befindet. Leider konnte die mikroskopische Unter¬ 
suchung der im Röntgenbild so streifig erscheinenden Knochenpartien 
nicht ausgeführt werden, sie hätte vielleicht eine Erklärung gebracht. 
Nach den Untersuchungsergebnissen der mir zugänglichen Knochen¬ 
teile kann ich nur ein multiples Auftreten von Riesenzellensarkomen 
im jugendlichen sonst unveränderten Knochen feststellen. Versuche, 
diesen von Haber er so genau geschilderten Typus in Beziehungen 
zur Re ckli ng hausen sehen Ostitis fibrosa zu bringen, endigen bei 
Hypothesen, die umsoweniger Wert besitzen, je mehr Spielraum sie 
der Phantasie lassen. Man erwäge folgende Fragen: Ist der Ver¬ 
lauf der Ostitis fibrosa im jugendlichen Knochen, bei der jugend¬ 
lichen Gefäßanordnung ein anderer wie im mittleren oder späteren 
Alter? Tritt sie vielleicht lokalisiert, weniger ausgebreitet auf und 
sind zur Zeit der Untersuchung dieosteomalacisch veränderten Knochen¬ 
partien von dem langsam aber konstant wachsenden Tumor sub¬ 
stituiert worden? Oder kann jemand die Frage entscheiden, ob die 
osteomalacischen Veränderungen, die bei der Ostitis fibrosa im 
zweiten und dritten Dezennium mit Riesenzellensarkomen beobachtet 
wurden, nicht erst später in einem Knochen auftreten können, der 
lange vorher von einer Sarkomatose im Sinne Haberers be¬ 
fallen war? 

Die von Recklinghausen angenommene Entstehungsursache, 
seine Meinung, die pathologischen Veränderungen entstünden an 
Stellen des Skelettes, die mechanisch stark in Anspruch genommen 
werden, an Stellen, die Druck- und Zugwirkungen am meisten aus¬ 
gesetzt sind, wird durch meine Beobachtung nicht bestätigt. Zu- 


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Zur Frage der multiplen Sarkomatose des jugendlichen Knochens etc. 133 


nächst finden sich die Veränderungen an einem statisch unwichtigen 
Knochen in derselben Ausdehnung, nämlich der Fibula, und dann 
hat mein Patient niemals sein Bein benützt, sondern immer sus¬ 
pendiert getragen, es ist also hier das Gesetz von den Zug- und 
Druckwirkungen nicht anwendbar. Hingegen scheint es, daß die 
metaphysäre Gefäßanordnung zur Lokalisation in Beziehung gebracht 
werden kann. Unterstützt wird diese Auffassung durch die Beob¬ 
achtung, daß bei der Olli ersehen Wachstumsstörung die chondro- 
matösen Tumoren an eben denselben Stellen zur Entwicklung ge¬ 
langen. 

Die weitere Beobachtung des Falles wird vielleicht noch manche 
Aufklärung bringen. 


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X. 


(Aus dem Universitäts-Ambulatorium für orthopädische Chirurgie 
des Prof. Dr. A. Lorenz in Wien.) 

lieber einen eigentümlichen Knochen- und 
Gelenkprozeß‘). 

Von 

Dr. Rudolf Ritter v. Aberle, 

Assistenten des Ambulatoriums. 

Mit 6 Abbildungen. 

Meine Herren! Ich erlaube mir Ihnen über einen Fall zu 
berichten, den ich vor einigen Monaten im Ambulatorium des 
Professors Lorenz zu beobachten Gelegenheit hatte. Es handelt 
sich um einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß, der so¬ 
wohl beide rechte Vorderarmknochen, als auch das Ellbogen- und 
Handgelenk dieser Seite betrifft. Bevor ich auf die Einzelheiten 
des Falles näher eingehe, sei hier vorerst die Krankengeschichte 
auszugsweise mitgeteilt. 

M. Bernhard, 40 Jahre alt, Schuhmacher aus Turcz, ügocsa- 
Konütat in Ungarn. 

Aus der Anamnese ist hervorzuheben, daß Patient aus voll¬ 
kommen gesunder Familie stammt; sowohl die Eltern als auch alle 
Geschwister leben und weisen keinerlei Mißbildungen auf. Auch 
der Patient soll niemals krank gewesen sein, mit Ausnahme einer 
Erysipelerkrankung im 17. Lebensjahre. Mit 13 Jahren trat er als 
Schuhmacherlehrling in Dienst. 

Im 24. Lebensjahre stellten sich angeblich nach einer Ver¬ 
kühlung Schmerzen im rechten Ellbogengelenke ein, die allmählich 
begannen, später aber an Heftigkeit bedeutend Zunahmen. Patient 

0 Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für ortliopüdische Chirurgie am 25. April 1908. 


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lieber einen eigentümlichen Knochen* und Gelenkprozeß. 


135 


verlegte die Hauptschmerzen in die Olekranonspitze. Der ganze 
Prozeß, der ohne jede Eiterung und offene Wunde vor sich ging, 
dauerte ungefähr 1 Jahr. Während dieser Zeit bemerkte der Patient, 
daß das Radiusköpfchen immer mehr und mehr hervortrat. Im 
Gegensatz dazu schien es, als ob sich der distale Anteil des Humerus 
immer stärker verschmälem würde. Patient war damals arbeits¬ 
unfähig. Nach Ablauf des Prozesses am Ellbogengelenke arbeitete 
der Patient jedoch ohne besondere Störung 15 Jahre als Schuh¬ 
macher weiter. Er fühlte zwar hie und da noch unbestimmte 
Schmerzen, ein „Ziehen" an der Dorsalseite des Unterarmes, hatte 
aber im Ellbogengelenke selbst gar keine Schmerzempfindung. Un¬ 
gefähr im Mai 1906 trat spontan eine neuerliche Schwellung, dies¬ 
mal des rechten Handgelenkes, auf. Während bei Ruhestellung des 
Gelenkes keine Schmerzen vorhanden waren, war die Bewegung des 
Handgelenkes und die Berührung desselben ungemein empfindlich. 
Schwellung und Schmerzhaftigkeit haben seither etwas abgenommen. 
Andere Gelenksschwellungen waren nie vorhanden. Es ist noch zu 
erwähnen, daß Patient mit 17 Jahren eine Gonorrhöe durchmachte. 
Doch hing die Ellbogenschwellung damit zeitlich absolut nicht zu¬ 
sammen. Mit 20 Jahren soll Patient ein Ulcus molle akquiriert 
haben, welches nach 8 Tagen unter Lapistouchierung glatt aus¬ 
heilte. Patient hat angeblich nie einen Ausschlag gehabt. Nach 
Ausheilung des Ellbogenprozesses, also mit 25 Jahren, heiratete 
Patient und hat vollkommen gesunde Kinder. 

Status praesens am 27. Dezember 1906: Schwächlicher, 
aber gesund aussehender Mann von grazilem Knochenbau und gering 
entwickeltem Panniculus adiposus. Vollkommen normaler interner 
Befund. Nervenbefund ebenfalls normal. 

Linker Arm zwar mager, aber ziemlich muskulös und kräftig. 
Rechter Arm zeigt sehr schwache, atrophische Muskulatur. Er 
wird etwas im Ellbogengelenk gebeugt, der Vorderarm fast voll¬ 
kommen proniert gehalten. Es fehlen 40® auf die volle Streckung, 
Beugung jedoch bis zum spitzen Winkel, bis zur Hemmung durch 
die interponierten Weichteile möglich. Rollung des Vorderarmes 
vollkommen gesperrt. Die Rotationsbewegungen werden mit dem 
ganzen Arme ausgeführt. Bei der Inspektion des Ellbogengelenkes 
fällt sofort an der lateralen Seite, entsprechend der Gegend des 
Badiusköpfchens, eine kugelige Vorwölbung auf (Fig. 1), welche 
auch, wie die Palpation ergibt, tatsächlich dem Capitulum radii ent- 


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136 


V. Aberle. 


spricht. Dasselbe kann fast in vollem Umfange abgetastet werden, 
ebenso ist die proximale Delle, welche de norma die Eminentia 
capitata humeri aufnimmt, leer und deutlich fühlbar. Weiters er¬ 
scheint die ganze Ellbogengegend verbreitert, die Konturen derselben 
verwischt. Die das Ellbogengelenk konstituierenden Teile des Humerus 
und der Ulna sind aufgetrieben, undeutlich tastbar, nur an der 
Streckseite des Gelenkes läßt sich das Olekranon genau differenzieren. 


Fiff. 1. 



Das rechte Handgelenk ist in toto geschwollen. Umfang, in 
der Höhe des Processus styloideus radii gemessen, rechts 18 cm, 
links 15 cm. Die Hand weist in ganz geringem Grade eine Ulnar¬ 
flexion auf. Alle Handgelenksbewegungen möglich, aber teilweise 
bedeutend eingeschränkt. Die Palmarflexion ist rechts nur höchstens 
im Umfange von 10®, links bis fast zum rechten Winkel ausführbar. 
Die Dorsalflexion rechts nur wenig eingeschränkt, wenn auch nicht 
in so vollkommenem Maße als links möglich. Die Radialflexion 
beiderseits gleich, Ulnarflexion links stärker als rechts ausführbar 
(links 50®, rechts nur 40®). Die Palpation ergibt den Hacken des 
Hackenbeines besonders deutlich vorspringend. Proximalwärts davon 


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Ucber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß. 


187 


eine kleine Grube, welche die ganze Fingerkuppe des zweiten Fingers 
eindringen läßt. In der Tiefe harter Widerstand, proximalwärts von 
der Grube fühlt der tastende Finger deutlich die Diaphyse der Ulna. 
Links ist das Grübchen viel seichter, man tastet sofort das rundliche 
ülnaköpfchen mit dem Processus styloideus ulnae. 

Die Verhältnisse der rechten Hand sind normal. 

Die Haut der ganzen rechten oberen Extremität zeigt nicht die 
geringste Veränderung in Farbe, Behaarung und Beschaffenheit, an 
keiner Stelle eine Fistel oder eine Fistelnarbe bemerkbar. 

Die linke obere Extremität ergibt einen vollkommen normalen 
Befund. 

Die Maße der beiden oberen Extremitäten ergeben vergleichs¬ 
weise: 


Rechts . . , 

1 1 o i N Links 

(kranke Seite) 

Von der Akromionspitze bis zur Olekranon¬ 
spitze .82 cm, 32 cm. 

Von der Olekranonspitze bis zum Processus 

styloideus radii.-3 „ 25cm. 

Vom Processus styl, radii bis zur Spitze der 

Endphalanx des MittelHngers .... 17 „ 17 cm. 

Länge der oberen Extremität von der Akro- 
niionspitze bis zur Spitze der End¬ 
phalanx des Mittelfingers.72 cm, 74^/i cm. 


Es besteht also eine Verkürzung der rechten oberen Extremität 
von 2^/4 cm, welche ausschließlich den Unterarm betrifft. 

Eine genaue Aufklärung der tatsächlichen Verhältnisse des 
Ellbogen- und Handgelenkes, sowie der beiden Vorderarmknochen 
ergaben erst die im Ambulatorium angefertigten Röntgenbilder, die 
im Gegensatz zu dem namentlich am Handgelenke nicht besonders 
auffallenden objektiven Befunde einigermaßen verblüfi'end wirkten. 

Der Röntgenbefund (Fig. 2—5) ergibt nämlich neben einer 
hochgradigen Atrophie des ganzen rechten Vorderarmes, grobe 
destruktive Veränderungen, die sich hauptsächlich auf die Diaphyse 
der Ulna und auf die Konstituentien des Ellbogen- und Handgelenkes 
erstrecken. Die Metaphyse des Humerus ist verbreitert. Im Ellbogen¬ 
gelenk besteht eine Luxation des son.st normalen Radiusköpfcbens nach 
oben und außen. Das untere kaum veränderte Humerusende scheint 
wie in den Gelenkteil der Ulna hineingetrieben, der Gelenkspalt un- 


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V. Aberle. 


deutlich, aber erhalten. Das Olekranon ist verbreitert, nach hinten 
gedrängt, weit über die Fossa olecrani nach oben hinaufreichend 
mit knöchernen Appositionen. Eine besonders auffallende osteo- 
phytische Auflagerung verbindet das proximale Ulnaende entsprechend 
der Tuberositas ulnae mit der Tuberositas radii. Der Ulnaschaft 



ist im oberen und mittleren Drittel stark verdickt und hat zahlreiche 
osteophytische Auflagerungen an dem der Membrana interossea zur 
Insertion dienenden Rande. 

Das untere Ulnadrittel ist stark verjüngt und so konsumiert, 


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Ueber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß. 


139 


daß der Gelenkteil im Ausmaße von etwa 3 cm vollkommen fehlt. 
In dieser Höhe über der Gelenklinie endet die Ulna in einer scharfen 
Spitze. In diesem Drittel fehlen die Osteophyten vollkommen. 

Das karpale Ende des Radius stark destruiert. Es besteht 
eine Luxation des Handgelenkes nach der ulnaren Seite. Der 
Carpus scheint in den ulnaren, besonders stark konsumierten Anteil 
der Kadiusepiphyse hineingepreßt. 

Das ganze Handgelenk stark atrophisch, sonst unverändert. 


Fig. 4. 



Als Therapie wurde ein Stützapparat für die rechte Hand, 
überdies Einreibungen mit Unguentum cinereum und innerliche Dar¬ 
reichung von Jodkali verordnet. Schon nach ca. 10 Tagen verließ 
der Patient Wien, so daß eine längere Beobachtung unmöglich wurde. 

Erfreulicherweise stellte sich der Patient jedoch am 14. Sep¬ 
tember 1907 wieder vor. Ueber den Verlauf der Krankheit läßt 
sich berichten, daß der Patient durch 3 Wochen hindurch die Ein¬ 
reibungen mit Quecksilbersalbe in der Handgelenkgegend vornahm. 
Innerhalb dieser Zeit schwoll das Handgelenk allmählicli ab, während 
auch die Schmerzen abnahmen. Nach der Abschwellung kräftigte 
sich die Hand wieder so weit, daß der Patient nach weiteren 
3 Wochen die Arbeit wieder aufnehmen konnte. Da er aber bei 


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140 


V, Aberle. 


stärkerer andauernder Beschäftigung noch immer an leichten Schmerzen 
leidet, gab er das Schuhmacherhandwerk vollkommen auf und ver¬ 
richtet seither nur leichte Arbeit. 

Der Status praesens am 14. September 1907 ergab im 
wesentlichen dieselben Verhältnisse wie vor 9 Monaten. Doch ist 
das rechte Handgelenk nicht mehr geschwollen und kaum von dem 
linken zu unterscheiden. Der Umfang des rechten Handgelenkes 
beträgt über dem Processus styloideus radii gemessen jetzt nur 
16^/2 cm (früher 18 cm), links 15 cm. Auch die Beschränkung der 
Beweglichkeit ist die gleiche geblieben. Die Kraft der rechten Hand 

Fig. 5. 



ist abgeschwächt, doch ziemlich gut, so daß der Patient damit leicht 
schwere Gegenstände aufzuheben im stände ist. Am Ellbogen keine 
Veränderungen. Auch die neuerdings von uns angefertigten Röntgen¬ 
bilder zeigen keinerlei Veränderungen der Knochen Verhältnisse. 

Da der ganze Krankheitsprozeß sowohl am Ellbogen- als am 
Handgelenke trotz der ausgedehnten Defekte ohne jede Eiterung 
und Fistelbildung verlief, sind von vornherein Osteomyelitis und 
Tuberkulose auszuschließen. Es ist daher klar, daß man in diesem 
Falle zunächst an Lues denken muß, doch muß zugegeben werden, 
daß das Bild auch für einen luetischen Prozeß keineswegs charakte¬ 
ristisch ist. Während noch bis vor kurzem die Kenntnisse der lue- 


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lieber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß. 


141 


tischen Knochenerkrankungen sehr mangelhafte waren, ist durch die 
ausführlichen Arbeiten von Chiari, R. Hahn und Deycke Pascha, 
Holzknecht, Kienböck, Köhler, Hänisch, Reitter u. a. 
ein genaues Bild dieser nicht zu seltenen Affektionen gegeben wor¬ 
den. Im vorliegenden Falle fehlen uns sowohl für die Annahme einer 
luetischen Periostitis, als auch eines zentralen Markgumma, welches 
vielleicht noch am ersten in Frage käme, die Hauptmerkmale. Wir 
sehen nirgends eine periostitische Auflagerung, nirgends das besonders 
von Hahn und Deycke Pascha, sowie von Hänisch hervor¬ 
gehobene Auftreten zirkulärer Periostitis, welche von ersterem 
geradezu für pathognomonisch für Syphilis angesehen wird. Es 
fehlt ferner das wichtigste Charakteristikon, das fast alle Autoren 
übereinstimmend anführen, nämlich das gleichzeitige Bestehen 
von Osteoporose und Hyperostose an ein und demselben Knochen 
unmittelbar nebeneinander. 

Namentlich in der vorwiegend in Betracht kommenden Region, 
am distalen ülnaende, ist nicht die geringste Spur eines regenera¬ 
tiven Prozesses zu bemerken. Man müßte hier vielmehr reichliche 
hyperplastische Vorgänge, Verdickung und Sklerosierung am Rande 
des Gumma erwarten. Auch die Verknöcherungen im Ligamentum 
interosseura, die zwar sehr häufig bei Lues anzutreffen sind, dürfen 
keineswegs als für Lues allein beweisend angesehen werden. Solche 
Verknöcherungen kommen bekanntlich auch bei anderen Prozessen 
vor, namentlich sind sie oft dann anzutreffen, wenn eine erhöhte 
Arbeitsleistung von dem betreffenden Knochen gefordert wird, wenn 
dieselben also entweder auf Zug oder Druck mehr beansprucht 
werden. Diese Knochenauswüchse sind dann als einfache statische 
Bildungen aufzufassen. So kommen sie z. B. nicht selten nach Frak¬ 
turen und Luxationen vor. Auch in meinem Falle dürften die Ver¬ 
knöcherungen im Ligamentum interosseura, die hier von der Ulna 
ausgehen, nicht anders zu deuten sein. Denn nicht nur durch die 
Luxation des Radiusköpfchens, sondern auch ganz besonders durch 
den Schwund des distalen Ulnaendes, wodurch die aus ihrer Ver¬ 
bindung mit dem Radius gebrachte Ulna ihren Stützpunkt teilweise 
verloreu hatte, sind ganz andere statische Verhältnisse geschaffen 
worden. Gegen die Annahme einer luetischen Affektion spricht 
ferner die trotz ihrer Hochgradigkeit streng isolierte Erkrankung 
der beiden Vorderarmknochen. Denn es finden sich am ganzen 
übrigen Körper nicht die geringsten Spuren einer ähnlichen Er- 


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142 


V. Aberle. 


krankung. Auch das Übrige Skelett, welches Ton Dozent Dr. Holz- 
knecht aufs sorgfältigste unter dem Trochoskope abgesucht wurde, 
zeigte Tollkommen normale Verhältnisse. Es fehlt daher auch das 
bei syphilitischen Gelenkerkrankungen so häufige symmetrische Auf¬ 
treten der Aflfektion. Auch in den ausführlichen Arbeiten der oben 
genannten Autoren fand sich kein einziges Bild, welches auch nur 
annähernd mit dem meines Falles verglichen werden könnte. Ebenso 
konnten sich die Wiener Fachradiologen, denen ich fast allen die 
Bilder demonstriert hatte, an keinen ähnlichen Befund bei syphili¬ 
tischen Knochenerkrankungen erinnern. Ferner gab weder die 
Anamnese noch die klinische Untersuchung einen Anhaltspunkt für 
eine überstandene luetische Aflfektion. Leider wurde eine Probe¬ 
exzision nicht gestattet. 

Auch der weitere Verlauf der Erkrankung war für Lues nicht 
beweisend. Die Schwellung und die Schmerzhaftigkeit gingen zwar, 
wie erwähnt, unter lokaler Behandlung mit Unguentum cinereum 
innerhalb 3—4 Wochen vollständig zurück; doch muß dabei berück¬ 
sichtigt werden, daß erstens der Prozeß bei meiner ersten Unter¬ 
suchung bereits überhaupt im Abklingen war und daß zweitens Un¬ 
guentum cinereum bekanntlich auch andere Prozesse günstig beeinflußt. 
Ebenso hatte der Ellbogenprozeß seinerzeit ohne Behandlung eben¬ 
falls dieselbe Zeit, ca. 1 Jahr zur Ausheilung benötigt. Schließlich 
hätten die Röntgenbilder, die nach 9 Monaten angefertigt wurden, 
nach erfolgter Ausheilung zum mindesten andere Knochenverhält¬ 
nisse bieten müssen. Doch ergaben sie keine wesentlichen Ver¬ 
änderungen. 

Selbst Lues angenommen, hätten wir also hier einen einzig 
dastehenden Befund. 

Es drängt sich daher die Frage auf, ob es sich in diesem Falle 
nicht doch um einen anderen, vielleicht noch selteneren Prozeß 
handeln könnte, nämlich um eine trophone urotis che Störung 
ohne nachweisbares Rückenmarksleiden. Denn der auf der psychia¬ 
trischen Klinik aufgenommene Nervenbefund des Patienten war voll¬ 
kommen negativ. Es fanden sich, trotzdem die Untersuchung eigens 
darauf hin gerichtet war, keinerlei Symptome, die auf irgend eine 
Affektion des Nervensystems schließen ließen. Temperatur- und 
Tastsinn in keiner Weise gestört. 

Doch erinnert das destruierte distale Ulnaende entschieden an 
die bizarren Knochenformen bei Lepra, Syringomyelie und Tabes, 


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lieber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß. 


143 


die alle bekanntlich auf trophischen Störungen von seiten der Nerven 
beruhen und wenigstens bei Syringomyelie und Tabes stets ohne 
primäre Eiterung verlaufen. Denn die Eiterungen und Sequestrie¬ 
rungen sind nach Graf stets als sekundär aufzufassen. 

Die Annahme einer trophischen Störung gewinnt um so mehr 
an Wahrscheinlichkeit, als ich in der Nouvelle Iconographie de la 
Salpetri^re einen von Georges Gasne veröffentlichten Fall fand, 
der die größte Aehnlichkeit mit meinem aufweist. 

Prof. Gasne war so freundlich, mir die Reproduktion des in 
diesem Werke abgebildeten Röntgenogrammes zu gestatten. Ich er¬ 
laube mir an dieser Stelle sowohl ihm, als auch der Verlagsbuch¬ 
handlung Masson et Cie. in Paris für ihr Entgegenkommen meinen 
besten Dank auszusprechen. 

Die Krankengeschichte des Falles, die ich hier auszugsweise 
mitteile, war folgende: 

B., 20jähriger Mann, Spezereihändler. Eintrittstag 25. Dezem¬ 
ber 1897 bei Professor Raymond. 

Gut genährter Mann, Gesamteindruck eines rüstigen und in¬ 
telligenten Menschen. Vater an Lungentuberkulose gestorben, Mutter 
und Geschwister leben und sind gesund. Der Patient soll stets ge¬ 
sund gewesen sein; keine Infektionskrankheit, keine Konvulsionen. 
Die jetzige Krankheit begann ca. Anfang 1895. Erstes Symptom 
war eine Anschwellung der rechten Hand, die zu einer Ungeschick¬ 
lichkeit derselben führte. Doch muß betont werden, daß eine In¬ 
fektionskrankheit, fieberhafte Ursache oder eine venerische Alfektion 
auszuschließen war. Ohne jede Störung des Allgemeinbefindens 
schwoll die Hand langsam immer mehr an und zwar durch min¬ 
destens 14 Monate; Höhepunkt der Schwellung ca. Januar 1896. Zu 
dieser Zeit breitete sich die Geschwulst über den Vorderarm, 
Oberarm und Schulter aus. Die Geschwulst war bedeutend, die 
Finger waren wie dicke Würste aneinandergereiht. Der Handrücken 
erschien infolge der Schwellung abgerundet. Die Konsistenz der 
Schwellung war hart, der Fingereindruck blieb leicht sogar eine 
Stunde lang bestehen. Keine Schmerzempfindung. Die Finger¬ 
gelenke, Hand-, Ellbogen- und Schultergelenk waren leicht und ohne 
Schmerz frei beweglich. Das objektive Empfindungsvermögen war 
normal. Das Oedem verschwand nach und nach und blieb seit 
September 1896 stationär. Aber seit dieser Zeit ist die Beweglich¬ 
keit der Finger so eingeschränkt, daß das Schreiben zur Unmöglich- 


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144 


V. Aberle. 


keit wurde. Nicht wegen der Schmerzen, sondern wegen der Be¬ 
weglichkeitsstörungen suchte der Patient ärztlichen Rat auf. Erst 
seit 6 Monaten bemerkte der Patient die Verkürzung der Finger. 

Status praesens (Dezember 1897): Die genaueste Unter¬ 
suchung aller Organe negativ, kein Schmerz. Patient kann zwar 
die Hand etwas bewegen, sie ist jedoch zu Verrichtungen vollkommen 
unbrauchbar. Hochgradige Atrophie der ganzen rechten oberen 
Extremität. Der rechte Vorderarm mißt in der Mitte um 7 cm 
weniger als der linke und ist auch, vom Olekranon bis zur Spitze 
des Mittelfingers gemessen, um 4 cm kürzer. Die Hand sowie die 
Finger sind verkürzt, plump, die letzteren an der Basis verdickt. 
Daumen und kleiner Finger scheinen ihren Metacarpus verloren zu 
haben und in die Hohlhand eingedrungen zu sein. Man könnte 
sagen, der letztere füge sich an die Mitte seines Metacarpus an, 
während der Daumen direkt vom Vorderarm zu entspringen scheint. 

Die Mcv^jsung vom Handgelenk bis zur 

Interdigitalfalte ergibt.rechts 14 cm, links 18 cm, 

von der Interdigitalfalte des Mittel- und 

Ringfingers bis zur Fingerspitze . „ 6 „ „ 8 , 

so daß also Hand und Finger gleichmäßig je 2 cm an Länge ver¬ 
loren haben. 

Fingerumtäng.rechts 7^/2 cm, links 6 cm. 

Keine tropbische Störung der Epidermis, der Nägel und Haare. 
Das Subkutangewebe ist infiltriert und zeigt ein Oedem, in welchem 
ein Fingereindruck bestehen bleibt. 

Die Muskeln der ganzen rechten oberen Extremität sind von 
einer eigentümlichen Derbheit und unterscheiden sich auffallend von 
den geschmeidigen Muskeln der anderen Seite. Die faradische und 
galvanische Erregbarkeit ist nur in den Muskeln der rechten Hand 
und des rechten Vorderarmes vermindert; keine Entartungsreaktion. 
Die Bewegungen im rechten Ellbogengelenke sind begleitet von 
feinen, zahlreichen Reibegeräuschen. 

Die Bewegungen des Ellbogens, in der Extension begrenzt, 
lassen sich vollkommen im Sinne der Flexion ausführen. Die Su¬ 
pinationsbewegung beschränkt. Die Bewegungen im Handgelenke 
nur wenig ausgesprochen, die Hand hängt schlaff herab. Die Finger 
können nur im Metacarpo-Phalangealgelenke spontan bewegt werden, 
ausgenommen der Daumen, dessen sämtliche Gelenke beweglich 


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lieber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß. 


145 


blieben und willkürlich bewegt werden können; nur die Möglichkeit 
der Opposition ist verloren gegangen. Die objektive Sensibilität 
bei Berührung, Nadelstichen, gegen Wärme und Kälte ist vollständig 
normal. Die Sehnenreflexe des kranken Gliedes sind vorhanden, 
überall normal. Keine Störung der Sphinkteren. 


Fig. 6. 



Das Röntgenbild (Fig. 6) ergibt folgenden Befund : 

Der Carpus ist vollstöndig verschwunden. Von diesem am 
meisten betroffenen Anteile aus erstrecken sich die ossären Läsionen, 
sowohl nach oben gegen den Unterarm, als nach unten gegen 
die Phalangen zu. Der Rest des distalen Radiusendes ist in die 
Palma der Hand eingedrungen und an dem ersten Metacarpus 
vorbeigerutscht, so daß es nur 3 cm, statt 9 cm wie an der normalen 
Hand von dem proximalen Ende der Grundphalanx des Zeigefingers 
entfernt ist. Die Läsionen bestehen in einem wirklichen Schwund 
der Knochen. Dieselben sind entweder ganz verschwunden oder 
kleiner geworden, als wenn sie an einem Schleifstein abgeschliffen 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 10 


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146 


V. Aberle. 


oder vielmehr wie »Zuckerstangen von den Kindern abgelutscht* 
wurden. Der Radius scheint an seinem unteren Ende plötzlich wie 
abgeschnitten; nichts erinnert mehr an das frühere Aussehen des 
ehedem polyedrischen, distalen Radiusendes. Keine Spur eines Pro¬ 
cessus styloideus radii. Uebrigens ist der Radius unter Beibehaltung 
seiner natürlichen Richtung in die Palma vorgedrungen. Er scheint 
direkt in den zweiten Metacarpus überzugehen, mit welchem er in 
innigem Kontakt steht; der erste Metacarpus jedoch ist ganz außer 
Verbindung mit ihm. Die Ulna ist noch mehr verkürzt, am Ende 
aufgefasert und endet noch etwas oberhalb des Radiusendes, sozu¬ 
sagen frei in der Palma. Kein Knochen kommt zu einer normalen 
Artikulation. 

Das distale Ende des ersten Metacarpus ist normal und arti¬ 
kuliert auf dieser Seite mit den vollkommen gesunden Phalangen 
des Daumens, aber sein proximales carpales Ende ist geschrumpft, 
vollkommen geschwunden. Man sieht nur einen unbestimmten Fort¬ 
satz, der sich im Niveau der Handgelenksfalte bis zur Verbindung 
mit dem Radius verliert. Die anderen Metacarpen sind viel mehr 
beteiligt. Sie sind zu schlanken Knochenzylindern reduziert, die 
plötzlich an der Grenze ihres oberen Drittels abgeschnitten, ohne Spur 
von Epiphysenanschwellungen erscheinen und an ihrem distalen Ende 
enorme Veränderungen auf weisen, wie man leicht aus dem Bilde 
entnehmen kann. Diese sind am wenigsten am zweiten, am meisten 
am vierten Finger ausgesprochen. Die distalen Enden der Meta¬ 
carpen sind zwar noch nicht so zerstört, daß man nicht noch die 
Epiphysen sehen könnte, welche mit den Enden der Grundphalangen 
artikulieren, aber es sind anormale Gelenkverbindungen, die nur 
ganz entfernt an die normalen erinnern. Die Phalangen selbst sind 
im allgemeinen schlanker als normal. Besonders ihr proximaler An¬ 
teil ist vollkommen zusammengeschmolzen; man sieht nicht mehr 
ihre normalen Verbreitungen sondern nur unregelmäßige zuge¬ 
spitzte Enden, die mehr oder weniger über den entsprechenden 
Enden der Metacarpen liegen. Die zweite und dritte Phalanx ist 
ziemlich normal. 

Im übrigen gewähren die Knochen im Röntgenbild den An¬ 
blick ganz gesunder Knochen; die Compacta gibt vollkommen klare 
doppelte Kontur, sogar an den am meisten verschmälerten Stellen, 
z. B. an dem Rest des distalen Ulnaendes. Es wäre sogar eher 
ossäre Verdichtung am Radius und an der Ulna zu bemerken. 


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üeber einen eigentümlichen Knochen- und Gelenkprozeß. 


147 


Der Zustand blieb bis zum Austritt des Kranken im Ok¬ 
tober 1898 Tollkommen stationär. Es wurde neuerdings konstatiert, 
daß absolut keine Störung der oberflächlichen oder tiefen Sensibilität 
vorhanden war; ebenso waren sämtliche Reflexe erhalten. Interner 
Befund vollkommen normal, gutes Allgemeinbeflnden. 

Die beiden beschriebenen Fälle weisen ohne Zweifel eine sehr 
große Aehnlichkeit mit einander auf, sowohl was den Beginn als auch 
den Verlauf und das Endresultat betrifiFt. Der Unterschied liegt nur in 
der verschiedenen Lokalisation der Krankheit. Es handelt sich um 
eine Affektion, die anscheinend spontan mehr oder weniger aus¬ 
gedehnte Knochenpartien befällt und relativ schnell, in ungefähr 
einem Jahre, zu einer höchstgradigen Destruktion, bis zum voll¬ 
kommenen Knochenschwund führt. Der Beginn der Erkrankung 
ist schleichend, die Affektion nicht symmetrisch. Die Lokalisation 
der Erkrankung scheint vorwiegend an die Gelenke der Knochen 
gebunden zu sein, in meinem Falle an die Gegend der Meta- und 
Epiphysen, ln keinem Falle konnte irgend eine veranlassende Ur¬ 
sache, ein Trauma oder eine Infektion nachgewiesen werden. Be¬ 
sonders zu betonen ist, daß alle Anzeichen einer Lues fehlen. Auch 
ist kein Zeichen für irgend eine Nervenaffektion oder für ein be¬ 
stehendes Rückenmarksleiden vorhanden. Trotzdem ist auch Gasne 
geneigt, in seinem Falle eine trophoneurotische Störung anzunehmen. 
Diese müßte in beiden Fällen wohl in den peripheren Nerven selbst 
liegen. Ob dabei die Beschäftigung — bei beiden Patienten han¬ 
delte es sich um die rechte Hand — eine Rolle spielt, kann wohl 
nicht entschieden werden. 

Vielleicht trägt die Veröffentlichung des Falles dazu bei, daß 
nun auch andere vereinzelte Beobachtungen, über die man sich wegen 
der großen Seltenheit nicht Rechenschaft zu geben wußte, zur Kennt¬ 
nis gelangen und so Aufklärungen über die noch sehr dunkle Er¬ 
krankung geben. Ich habe noch einige ähnliche Bilder in der 
Literatur gefunden, die sich vielleicht in diesem Sinne deuten ließen, 
doch würde mich dies hier zu weit führen. 

Ich betone jedoch nochmals, daß natürlich die Diagnose Lues 
nicht von der Hand zu weisen ist; doch würde der Fall auch dann, 
wie ich glaube, wegen des ganz atypischen Verlaufes Interesse 
verdienen. 


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148 


V. Aberle. 


Literatur. 

Babe8, V.^ Die Lepra. Spezielle Pathologie und Therapie, Nothnagel, Bd. 24 
Teil II. 

Chiari, Hans, Zur Kenntnis der gummösen Osteomyelitis in den langen 
Röhrenknochen. Vierteljahresschr. f. Dermatologie u. Syph., Jahrgang 
1882, S. 389—401 Tafel V. 

Cr eite, 0., Ueber Dactylitis syphilitica. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1908, 
Bd. 92 Heft 1—3 S. 70—78. 

Deycke Pascha, Knochen Veränderungen bei Lepra nervorum im Röntgen¬ 
bilde. Fortschr. auf d. Gebiete der Röntgenstrahlen 1905/1906, Bd. 9 
S. 9-28 Tafel IV—VI. 

Derselbe, Knochenveränderung bei Lepra tuberosa im Röntgenogramm. Ibidem 
1906/1907, Bd. 10 S. 279-287 Tafel XXVII. 

Fürnrohr, W., Die Röntgenstrahlen im Dienste der Neurologie. Berlin 1906, 
Verlag Karger. 

Gasne, Georges, Un cas rare d’osteo-arthropathie. Nouvelle Iconographie 
de la Salpetriere 1900, Bd. 13 S. 404—410 Tafel LVII und LVIII. 

Gnesda, M., Ueber Spontanfraktur bei Syringomyelie. Mitteil, aus d. Grenz¬ 
gebieten d. Med. u. Chir. 1897, Bd. 2 S. 275—288 Taf. V. 

Graf, E., Ueber die Gelenkerkrankungen bei Syringomyelie. Beitr. z. klin. 
Chir. 1893, Bd. 10 S. 517—550. 

Hänisch, G. F., Beitrag zur Röntgendiagnostik der Knochensyphilis. Fort¬ 
schritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen 1907, Bd. 11 S. 449—452 
Taf. XXIII Fig. 1-5. 

Hahn, R., Einige syphilitische Erkrankungen im Röntgenbilde. Ibidem 1898/99, 
Bd. 2 S. 132—135 Taf. XII Fig. 3-6. 

Derselbe und Deycke Pascha, Knocliensyphilis im Röntgenbild. Ibidem 
1907, Ergänzungsbd. 14. 

Holzknecbt, G. und Kienböck, R., Ueber Osteochondritis syphilitica im 
Röntgenbild. Ibidem 1900—1901, Bd. 4 S. 247-252 Taf. XX—XXIII 
Fig. 1. 

Isaak, J., Syphilitische Knochenerkrankungen am Handgelenk und Arm. Ver- 
handl. der Berliner Dermal. Gesellschaft. Arch. f. Derm, u. Syphilis 
1901, Bd. 56 S. 251-253. 

Kienböck, R., Zur radiographischen Anatomie und Klinik der syphilitischen 
Knochenerkrankungen an Extremitäten. Zeitschr. f. Heilk. Bd. 23 (neue 
Folge Bd. 3) Jahrg. 1902, Heft 6 Abt. f. Chirurgie u. verw. Disziplinen. 

Derselbe, Zur radiographischen Anatomie und Klinik der tuberkulösen Er¬ 
krankung der Fingerknochen „Spina ventosa* etc. Ibidem. 

Koch, K., Die syphilitischen Finger- und Zehenentzündungen. Samml. klin. 
Vorträge v. Volkmann 1890, Nr. 359 S. 3205—3244. 

Kofend, A., Ueber einen Fall von Syringomyelie mit Spontanfraktur beider 
Humerusköpfe und Resorption derselben. Wiener klin. Wochenschr. 1898, 
Nr. 13 S. 314—318. 


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lieber einen eigentümlichen Enocben- und Gelcnkprozeß. 


149 


Köhler, A., Knochenerkrankungen im Köntgenbilde. Atlas der Knochenerkran¬ 
kungen im Röntgenbild 1901, Verlag Bergmann, Wiesbaden. 

Derselbe, Lues-Arteriosklerose. Fortschr. auf dem Gebiete der Röntgen¬ 
strahlen 1902/03. Bd. 6 S. 247—251 Taf. XXVII. 

Derselbe, Typische Röntgenogramme von Knochengummen. Ibidem 1906/07, 
Bd. 10 S. 73—77 Taf. VII u. VIII. 

Laese, Ein Beitrag zur Aetiologie und Symptomatologie der Syringomyelie. 
Deutsche med. Wochenschr. 1898, Nr. 18 S. 279—282. 

Lewin. Die syphilitischen Affektionen der Phalangen der Finger und Zehen 
(Phalangitis syphilitica). Charite-Annal. 1879, IV, Jahrg. S. 618—683. 

Mertens, lieber einen atypischen Fall von Syringomyelie mit trophischen 
Störungen an den Knochen der Füße. Beitr. z. klin. Chir. 1901, Bd. 30 
S. 121-158. 

Nonne, Der gegenwärtige Stand der Lehre von der Lepra anaesthetica, mit 
besonderer Berücksichtigung der nervösen Erscheinungen derselben und 
ihrer Stellung zur Syringomyelie. Lepra 1904, Vol. V Fase. I. 

Reitter, C., Zur differentiellen Diagnose der Knochenverdickungen. Wiener 
klin. Wochenschr. 1907, Nr. 6 S. 162—165. 

Rumpel, 0., lieber Geschwülste und entzündliche Erkrankungen der Knochen 
im Röntgenbild. Fortschr. auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen 1908, 
Ergänzungsbd. 16 Taf. XVII Fig. 86—87. 

Sokoloff, N. A., Die Erkrankungen der Gelenke bei Gliomatose des Rücken¬ 
marks (Syringomyelie). Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1892, Bd. 34 S. 505—548. 

Derselbe, Beiträge zur Kasuistik der Erkrankung der Gelenke bei der Glio¬ 
matose des Rückenmarkes (Syringomyelie). Ibidem 1899, Bd. 51 S. 506 
bis 544. 

Sonnenburg, E., Ein Fall von Erkrankung des Schultergelenks bei Glio¬ 
matose des Rückenmarks. Berliner klin. Wochenschr. 1893, Nr. 48 S. 1161 
bis 1162. 

Stadler, Ed., lieber Knochenerkrankung bei Lues hereditaria tarda. Fort¬ 
schritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen 1907, Bd. 11 S. 82—85 
Taf. IX Fig. 1—5. 

Tscherniawski, W. A., üeber einen Fall von Osteochondritis und Dactylitis 
luetica hereditaria. Zeitschr. f. orthopäd. Chir. 1906, Bd. 16 S. 313. 

Wieting, J., Zur Säbelscheidenform der Tibia bei Syphilis hereditaria tarda. 
Beitr. z. klin. Chir. 1901, Bd. 30 S. 615—637. 


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XI. 


(Aus der chirurgisch-orthopädischen Privatheilanstalt von 
Dr. J. G. Chrysospathes in Athen.) 

Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen 
resp. Knochenverhiegungen‘). 

Von 

Dr. J. 0. Chrysospathes, 

Dozent für Orthopüdie und Kinderchirurgie an der Universität zu Athen. 

Mit 5 Abbildungen. 

Anlaß zu dieser Mitteilung gab mir ein 15 Tage altes Mädchen^ 
an dessen Bild, wie Sie hier sehen, die ungewöhnlichen Verkrüm¬ 
mungen der unteren sowohl wie der oberen Extremitäten in die 
Augen fallen. 

Die Mutter des Kindes, den niederen Volksständen angehörig, 
machte uns über dieses, sowie ihre Familienverhältnisse folgende 
Angaben: 

Sie sowohl wie ihr Mann, einander übrigens nicht verwandt, 
stehen noch in jüngeren Jahren (25 und 38) und sind gesund, nicht 
luetisch; nur ist der Mann ein starker Trinker. Ebenfalls sind in 
ihren Familien, sowie in denen ihrer nächsten Anverwandten keine 
Knochendeformitiiten, überhaupt Knochenerkrankungen, sowie Lues, 
Tuberkulose oder Nervenerkrankungen, vorgekommen. Aborte hat 
die Frau nicht gehabt. 

Ihr erstes Kind, jetzt 5 Jahre alt, ist gesund. Davon konnten 
wir uns persönlich überzeugen, indem wir dieses zu untersuchen 
verlangten. Wir fanden bei diesem, übrigens blühend aussehenden 
Knaben, Körper- speziell Knochenbau normal und ohne Zeichen 
von Rhachitis. 


*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. 


151 


Das zweite Kind, ein Mädchen, das 1 Jahr nach dem ersten 
geboren wurde, zeigte an den Beinen und Armen, selbst an den 
Fingern, dieselben Verbildungen wie das jetzige, und starb 46 Tage 
nach seiner Geburt. Ein 1 Jahr später geborenes Mädchen war mit 
denselben Deformitäten, sogar mit etwas mehr flektierten Beinen als 
die anderen behaftet. Es kam blau zur Welt, ohne daß dafür ein 
sichtbarer Grund von seiten der Hebamme gefunden wurde, und 
starb, ohne sich von diesem Zustand zu erholen, 3 Stunden nach 
seiner Geburt. Diese beiden letzten Kinder, sowie das jetzige sind 
dick geboren, während das erste normale, mager zur Welt kam und 
später zugenommen hat. Sie hatten alle größere Köpfe, ebenso 
wie ihr Vater, mit Ausnahme des zweiten mißgebildeten, dessen Kopf 
relativ klein gewesen sein soll. 

Das erste und letzte mißgebildete Kind waren Steißlagen, das 
zwischen diesen beiden war in Kopflage geboren. Alle Entbindungen 
waren leicht und nicht vor dem Termin erfolgt. Die Hebamme, 
die die Entbindungen der Frau besorgt hatte und welcher man eine ge¬ 
wisse Intelligenz nicht absprechen kann, versichert uns, keine amnio¬ 
tischen Stränge an den Neugeborenen oder ihren normalen Mutter¬ 
kuchen bemerkt zu haben. Was die bei den Geburten der Frau 
abgegangene Fruchtwassermenge betrifft, so war sie bei der ersten 
derselben nicht so groß, bei der zweiten und der letzten auffallend 
wenig, dagegen bei der dritten sogar größer als bei der ersten. 

Alle Schwangerschaften der Frau verliefen ohne jedwede Stö¬ 
rung. Ein Trauma hat während derselben nicht stattgefunden, nur 
litt die Frau bei allen Schwangerschaften, bei welchen sie ein mi߬ 
gebildetes Kind trug, an Nasenbluten, was jeden zweiten Tag erfolgte 
und unbedeutend war. Dadurch, daß sie das erste Kind selbst ge¬ 
stillt hat und mit jedem weiteren Jahre von neuem schwanger wurde, 
hatte sie bis vor einigen Monaten, d. h. 3 volle Jahre, keine Periode 
gehabt; sonst wird sie regelmäßig menstruiert. 

Status: Wie aus der Photographie des Kindes ersichtlich (siehe 
Fig. 1), handelt es sich um ein dick aussehendes Mädchen von kre- 
tinistischem Gesichtsausdruck, dessen Kopf bedeutend größer als nor¬ 
mal ist, hinten aber nicht besonders weich sich anfühlt. Der Rumpf 
desselben hält sich, abgesehen vom aufgetriebenen Bauch, in nor¬ 
malen Formen, auch sind an den Rippen keine Unebenheiten resp. 
Auftreibungen zu fühlen. 

Die hier in Frage kommenden Deformitäten betreffen ausschließ- 


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152 


J. G. Chrysospathes. 


lieh die Extremitäten, und zwar alle vier zusammen. Diese werden in 
Flexion gehalten und fallen durch stärkere Verbiegungen der Unter¬ 
schenkel und Vorderarme und durch ihre Verkürzung in die Augen. 

Die unteren Extremitäten, kürzer als normal imd von 
plumpem Aussehen, sind, von der Seite betrachtet, in toto stark 
konvex nach oben resp. vom gebogen, während sie von vorn be¬ 
trachtet im unteren Drittel der Unterschenkel eine mit der Spitze nach 
außen gerichtete feste Knickung aufweisen (siehe Fig. 1) und zwar 


Fig. 1. 



ist die der Tibien nach vorn, während die der Fibulae eher nach 
außen als nach vorn mit ihrer Spitze gerichtet ist. 

An diesen Stellen, d. h. auf der Spitze jeder Knickung, befindet 
sich je ein Hautgrübchen. Ueber der stärksten Knickung aber, 
der rechten Fibula, ist statt eines Grübchens ein deutlich ausgebildetes 
längliches Hautwärzchen zu sehen. Unmittelbar unter diesen Haut¬ 
veränderungen ist der spitze Knochen zu fühlen, ein Verwachsensein 
aber desselben mit genannten Hautgrübchen resp. Wärzchen ist nicht 
zu konstatieren. Die Oberschenkelknochen, und zwar der linke 
mehr als der rechte, scheinen stark bogenförmig gebogen, jedoch 
ohne daß die Haut, wie an den Unterschenkeln, über ihrer höchsten 
Krümmung Veränderungen aufweist. 

Versucht man die Kniee aus ihrer flektierten Stellung zu strecken^ 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. 


153 


so gelingt dies nur in mäßigem Grade, und zwar nicht etwa, weil 
das Gelenk in seiner Beweglichkeit irgendwie gehindert ist, sondern 
weil die Haut auf der unteren Seite der Extremität, besonders unter 
dem Knie, bedeutend kürzer ist als auf der oberen (siehe Fig. 2 und 3). 
Dieses Mißverhältnis ist links mehr ausgesprochen als rechts, daher 
erscheint die linke untere Extremität kürzer als die rechte. 

Die Füße werden beiderseits in ausgesprochener Spitzfußstel¬ 
lung gehalten und die Achillessehne spannt sich stark, wenn man 
bei gestrecktem Knie den Spitzfuß auszugleichen versucht. 

Die oberen Extremitäten, ebenfalls flektiert gehalten und 
von kurzer, daher plumper Form wie die Beine, sind in der Mitte 
der Vorderarme nach außen gebogen, wenn auch nicht in dem Maße 
wie die unteren. Palpiert man dieselben an diesen Stellen, so findet 
man die Vorderarmknochen, und zwar die Ulna mehr als den Radius, 
nach außen geknickt und wie die ünterschenkelknochen daselbst 
nicht pseudarthrotisch. Die Oberarmknochen scheinen in derselben 
Richtung, aber nur leicht gebogen, nicht geknickt zu sein, üeber 
den geknickten, spitz zu fühlenden Stellen der Vorderarmknochen 
nehmen wir Andeutungen von Hautgrübchen wahr, die auch hier mit 
den darunter liegenden Knochenspitzen nicht verwachsen sind. 

Die Streckung in den Ellenbogen ist. wenn auch nicht völlig, 
möglich, so doch etwas ausgiebiger als die der Kniee. Wie dort, 
so auch hier liegt das Hindernis in der auf der Beugeseite des Ge¬ 
lenks, im Vergleich zu seiner Streckseite, kürzeren, d. h. weniger vor¬ 
handenen Haut. 

An einigen Fingern findet man infolge derselben Ursache ähn¬ 
liche Streckungsbehinderungen, und zwar in dem ersten Interphalan- 
gealgelenk des rechten dritten und vierten und des linken dritten, 
weniger des linken vierten Fingers. Alle diese lassen sich in den 
genannten Gelenken nicht über 135® strecken, besitzen aber nor¬ 
male gerade Phalangen. 

Andere Abnormitäten, einige teleangiektatische Flecke ersten 
Grades in der Mitte der Stirn, auf den oberen Augenlidern und über 
der Nasenspitze (fissurale Angiome) ausgenommen, speziell amnio¬ 
tische Einschnürungen, sind an dem Kinde nicht zu sehen. Auch 
ist an der Beschaffenheit seiner Haut, abgesehen von einer beson¬ 
deren Weichheit derselben, und einem reichlichen Unterhautzell¬ 
gewebe (siehe Fig. 2) nichts weiter Abnormes zu bemerken. 

Das Kind, trotzdem es von der Mutter selbst gestillt wurde, wurde 


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J. G. Chrysoapathes. 


von Sommerdiarrhöe befallen, erholte sich zwar von dieser, starb 
aber im 6. Lebensmonat an Krämpfen ohne Fieber. Diese setzten 
ziemlich plötzlich ein, nachdem das Kind angeblich einige Tage vorher 
seine Augen zu verdrehen begann. Aehnlich sollen auch die anderen 
mißgebildeten Kinder geendet haben. 

Die Röntgenbilder der unteren Extremitäten zeigen uns 
rechts (siehe Fig. 2) eine Verbiegung des Femurs mit der Konvexität 
nach unten, während die rechte Tibia und Fibula nach oben geknickt 
erscheint und zwar so stark, daß an ihren höchsten Knickungsstellen 


Fig. 2. 



je eine recht ansehnliche Spitze, an der Fibula mehr als an der 
Tibia, ziemlich weit nach oben vorragt. Von Knochenkemen sieht 
man hier bereits schön groß ausgebildet: den der unteren Epiphyse 
des Femur, übrigens fast zur Hälfte in seine Diaphyse eingebettet, 
dann den der oberen Epiphyse der Tibia, des Calcaneus, Talus und 
selbst den des Cuboideum, endlich die der Metatarsen. An der 
oberen Epiphyse des Femurs kann inan aus einem eben sichtbaren 
schwachen Schatten den Knochenkern daselbst vermuten. 

Wie aus dem Köntgenbild der linken unteren Extremität (siehe 
Fig. 3j hervorgeht, scheinen, bis auf den hier nach oben geknickten, 
nicht wie rechts nach unten gebogenen Femur, dieselben Verhält¬ 
nisse wie rechts vorzuliegen, nur werden sie auf diesem Bilde nicht 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. 


155 


so schön wiedergegeben wie auf jenem, da das Kind bei dieser Auf¬ 
nahme sich bewegt hat. Schön ist dagegen auf dieser Figur der 
ira Vergleich zur vorderen, groß geschweiften Kontur der unteren 
Extremität, kurze, enge Bogen ihrer unteren Fläche zu sehen. 

Die Röntgenbilder der oberen Extremitäten zeigen, wie 
schon aus der klinischen Untersuchung zu entnehmen war, die Ulna 
und den Radius nach außen geknickt, mit relativ stumpfer Spitzen¬ 
bildung auf der Höhe ihrer Knickungen, die rechterseits (siehe Fig. 4) 
ausgesprochener erscheint als links (siehe Fig. 5). Ebenso sieht 


Fig. 3. 



man den linken Humerus nach außen etwas gebogen, während 
der rechte fast gerade verläuft. 

Von Knochenkernen ist auf der Röntgenplatte der deutlicheren 
Figur des linken Armes der kleine, eben sichtbare Kern des Capi- 
tatum, hinter- und etwas ulnarwärts von der Basis des dritten Meta- 
carpus zu sehen. 

Andere Abnormitäten an den hier in Betracht kommenden 
Knochen sind, abgesehen von einer mäßigen Abplattung, besonders 
der der unteren Extremitäten, nicht wahrzunehmen. 

Die Knochenschatten im Röntgenbilde, von anderen (Lange) 
schwach gefunden, sind es bei uns nicht, im Gegenteil erscheinen 
sie eher kräftig und dabei so diffus, daß man deswegen eine bei 


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156 


J. G. Chrysospathes. 


ihnen dünn vorhandene Corticalis nur vermuten kann, da sie sich 
von der übrigen Knochensubstanz nicht gut unterscheidet, lieber die 

Fig. 4. 



an Stelle der Knickungsfrakturen vorhandenen stärkeren Schatten 
werden wir uns weiter unten des breiteren auslassen. 


Fig. 5. 



Wollen wir nach erfolgter Beschreibung unseres Falles die Er¬ 
krankung, zu welcher er gehört, nach den Hand- und Lehrbüchern, 
selbst denen neueren Datums, über Kinderheilkunde, Knochenerkran- 


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Beitrag zu den intrauterin entstebenden Frakturen. 


157 


kudgen, speziell fötale Enochenerkrankungen, näher zu bezeichnen 
resp. zu präzisieren versuchen, so geraten wir angesichts der mannig¬ 
fachen Benennungen dieser Erkrankungen in eine gewisse Ver¬ 
legenheit. Diese große Mannigfaltigkeit in der Nomenklatur resp. 
Einteilung der fötalen Knochenerkrankungen scheint besonders bei den 
französischen Autoren vorzuherrschen. Wir finden z. B. im Buche 
Aperts „Maladies familiales et maladies congenitales“ (1907), unter 
den Dysostoses h^reditaires congenitales drei resp. vier voneinander 
getrennte fötale Knochenerkrankungen: L'achondroplasie, la dysostose 
cleidocranienne heröditaire, Posteopsathyrose et la dysplasie periostale. 
Apert, welcher diese Trennung selbst auf pathologisch-anatomische 
Unterschiede genannter Erkrankungen untereinander stützt, findet, 
daß bei der Achondroplasie die periostale Ossifikation die enchon- 
drale überwiegt und zwischen Diaphyse und Epiphyse ein binde¬ 
gewebiger Streifen (bande) sich interponiert. Die „Dysostose cläido- 
cranienne“ hält er zwar für eine der Achondroplasie analoge, indes 
dieser entgegengesetzte Erkrankung, da bei ihr umgekehrt als bei der 
Achondroplasie die enchondrale Ossifikation der periostalen überwiegt, 
und dies besonders an den membranös angelegten Knochen der Klavikel 
und Schädelkapsel, woher auch ihr Name. Die Osteopsathyrosis 
unterscheidet er von den beiden eben erwähnten Erkrankungen erstens 
makroskopisch durch die multiplen intra- oder extrauterin entstan¬ 
denen Frakturen und dann mikroskopisch durch die mangelhafte 
Umformung (rdmaniement) des Knochens durch die Osteoklasten, wor¬ 
aus Abwesenheit oder Unvollständigkeit der Hävers sehen Knochen¬ 
lamellen resultiert. Als letzte Variation der fötalen Knochenerkran¬ 
kungen fügt er die von Porak und Durante im Jahre 1905 be¬ 
schriebene „Dysplasie periostale“ provisorisch hinzu, da sie, wie er 
sagt, intime Berührungspunkte bald mit der einen, bald mit der 
anderen der beiden eben genannten Erkrankungen aufweist. Bei 
dieser klinisch ebenfalls durch Brüchigkeit und dadurch bedingte 
multiple Frakturierung der Knochen, sowie durch schlechte Ent¬ 
wicklung der Schädelkapsel charakterisierten Krankheit fanden Porak 
und Durante die enchondrale Ossifikation nicht gestört, dagegen die 
periostale, speziell die Betätigung der Osteoklasten, abnorm gesteigert. 

Versucht man nun über das uns hier interessierende Thema in 
einem anderen französischen Werke, dem von Mauclaire „Les maladies 
des os“ (1908), sich zu orientieren, so findet man in diesem die 
Achondroplasie als kongenitale und infantile, vom „Rhachitisme intra- 




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158 


J. G. Chrysospathes. 


uterin“ getrennt und unter den Maladies trophonerveuses, speziell 
unter den Vari^t^s atrophiantes derselben figurieren. 

Die Osteopsathyrosis oder konstitutionelle Knochenbrüchigkeit, 
wie er sie nennt, bringt Mauclaire unter die Rubrik der Rhachitis 
und Osteomalacie und betrachtet sie als eine einesteils mit diesen 
beiden Knochenkrankheiten, anderenteils aber mit den nervösen Osteo¬ 
pathien manche Berührungspunkte aufweisende Erkrankung. Er unter¬ 
läßt indes nicht zu erwähnen, daß viele kongenitale Varietäten der¬ 
selben unter die Achondroplasie oder die periostale Dysplasie ein¬ 
zureihen sind. 

Einfacheren Verhältnissen begegnet man bei der Einteilung der 
fötalen Knochenerkrankungen seitens der deutschen Autoren. So finden 
wir in dem uns zur Verfügung stehenden Atlas und Grundriß der 
Kinderheilkunde von Hecker und Trum pp (1905) unter den an¬ 
geborenen Knochenwachstiimsstörungen die fötale Rhachitis, die Osteo¬ 
genesis imperfecta, die Chondrodystrophia congenita und das fötale 
Myxödem angegeben. Während nun Hecker und Trumpp die 
Fälle von fötaler Rhachitis und die von fötalem Myxödem, wenigstens 
was die pathologisch-histologischen Befunde an den Knochen betrifft, 
als krankhafte Zustände betrachten, die meist entweder unter den 
Begriff der Osteogenesis imperfecta oder der Chrondrodystrophie 
fallen, halten sie die beiden letzten Erkrankungen strikt auseinander, 
ohne die Osteopsathyrosis für sich zu erwähnen. 

Von der Osteogenesis imperfecta sagen sie: „Die Kinder 
kommen mit auffallend kurzen, plumpen und vielfach verbogenen und 
frakturierten Extremitäten zur Welt, an den platten Schädelknochen, 
den Kiefern, am Becken u. s. w. fühlt man deutliches Krepitieren. 
Der übrige Körper zeigt in der Regel nichts Außergewöhnliches. Die 
Kinder können am Leben bleiben. Die Ursachen sind unbekannt.“ 

Anatomie: „Die kurzen, plumpen Röhrenknochen zeigen dünne 
Corticalis, spröde spärliche Spongiosa, erweiterte Markhöhle, mehr¬ 
fache Frakturen. Mikroskopisch: Die Zonen der Knorpelwucherung, 
der vorläufigen Verkalkung und der primären Markraumbildung sind 
im ganzen normal entwickelt, dagegen herrscht größte Unregel¬ 
mäßigkeit in der eigentlichen Knochenbildung: an Größe und Zahl 
zurückstehende Knochenbalken ohne lamellöse Anordnung, mangel¬ 
hafte Ausbildung und Funktion der Osteoblasten, übermäßige Knochen¬ 
resorption. Die enchondrale Ossifikation ist meist stärker gestört als 
die periostale; zellenarmes, gelatinöses, inaktives Mark. An den 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. 


159 


Frakturstellen ungestörte Ossifikation und Callusbildung. Die Schild* 
drUse ist normal.“ 

Die Chondrodystrophia congenita beschreiben Hecker und 
Trumpp folgendermaßen: „Auffallend kurze, meist gerade, zuweilen 
auch etwas verbogene Extremitäten. Keine Frakturen. Reine Form 
des Zwergwuchses. Die Knochen sind hart, sklerosiert, an den Epi¬ 
physen verdickt. Mikroskopisch; Störung der enchondralen Ossi¬ 
fikation durch Hemmung der Knorpelwucherung (kein Säulenknorpel!) 
und Eindringen von perichondralem Bindegewebe zwischen Knorpel 
und Knochen, hiermit Behinderung des Längenwachstums. Durch 
asymmetrisches Einschieben von Perioststreifen erfolgt unregelmäßiges 
Wachstum nnd Bildung von Verkrümmungen.“ 

Ueberblickt man die über die fötalen Knochenerkrankungen 
weiter oben erwähnten Ansichten, so muß man aus der Verschieden¬ 
heit derselben bei den einzelnen Beobachtern mit Recht auf die 
große Unklarheit, die über die genannten Erkrankungen bis zur 
Stunde herrscht, schließen. 

Am deutlichsten beweist dies die verschiedene Benennung, die 
zwei oder mehrere Autoren den gleichen Abbildungen geben. So 
wird z. B. dasselbe Skelett, das in Fig. 45 des Atlas von Hecker 
und Trumpp als Osteogenesis imperfecta (fötale Rhachitis) abge¬ 
druckt ist, in Fig. 47 des Buches von Apert als Osteopsathyrosis 
(Osteogenesis imperfecta des Allemands) bezeichnet; und die in Fig. 42 
bis 43 des Apertschen Buches abgebildeten Föten, die der Achon- 
droplasie zugezählt werden, finden wir ira Atlas Heckers und 
Trumpps in Fig. 47—48 unter der Chondrodystrophia foetalis 
wieder. Dasselbe gilt für ein Skelett, das Apert in Fig. 40 seines 
Werkes als einem Achondroplasten angehörig abbildet, und welches 
wir im Atlas von Hecker und Trumpp in Fig. 46 mit der Be¬ 
zeichnung „Chondrodystrophia foetalis, Skelett eines mikroraelen 
Zwerges,“ wiederfinden. 

Schließlich bezeichnet Mauclaire in Fig. 92—93 seines Werkes 
einen Fall von Porak als Achondroplasie, der nach den eigenen 
daneben abgebildeten, durch Knickungsfrakturen verbildeten Unter¬ 
schenkeln und Oberschenkeln zu urteilen, eher als der Osteogenesis 
imperfecta zugehörig zu betrachten wäre. Auch das in Fig. 95 des¬ 
selben Werkes abgebildete Skelett eines angeblich rhachitischen Kin¬ 
des, welches einige Stunden nach seiner Geburt starb, sieht, soweit 


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160 


J. 6. Chrysospathes. 


man aus der Kleinheit der Figur beurteilen kann, einem solchen mit 
Chondrodystrophie behafteten Kinde sehr ähnlich. 

Entschließt man sich nun, in diesem stark verworrenen Kapitel 
der Knochenerkrankungen eine gewisse Sichtung der verschiedenen 
Ansichten vorzunehnien, so muß man zugeben, daß, was die fran-> 
zösischen Autoren als Achondroplasie bezeichnen, die deutschen als 
Chondrodystrophia foetalis, resp. reine Form des Zwergwuchses be¬ 
nennen und umgekehrt^); was aber Apert mit anderen französischen 
Autoren Dysostose clöidocranienne und Osteopsathyrose und Porak 
mit Durante „Dysplasie periostale“ nennen, scheint wenigstens nach 
den uns bekannten diesbezüglichen deutschen Arbeiten neueren Da¬ 
tums unter die Rubrik Osteogenesis imperfecta zusammenzufallen. 

Allein völlige üebereinstimmung gibt es da, wenigstens in histo¬ 
logisch-pathologischer Beziehung auch nicht, und zwar nicht nur nicht 
zwischen den Fremden und Deutschen, sondern auch selbst zwischen 
den letzteren untereinander. Wenn Hecker und Trumpp z. B. 
bei der Osteogenesis imperfecta eine größere Störung der enchon- 
dralen Ossifikation im Vergleich zur periostalen annehmen, so be¬ 
tont Apert bei der Dysostose cldidocranienne gerade das Gegenteil, 
nämlich eine ausschließliche Störung der periostalen gegenüber der 
normal erhaltenen enchondralen Ossifikation. Für die Osteopsathy- 
rosis dagegen nimmt Apert, wie weiter oben erwähnt wurde, nur 
ein mangelhaftes Umformen des Knochens durch die Osteoblasten 
an bei völlig ungestörtem Ossifikationsprozeß. 

Aber selbst unter den Deutschen herrscht, wie schon angedeutet, 
keine volle Einigung in diesem Punkte. 

So bestreitet Loos er in einer „Zur Kenntnis der Osteogenesis 
imperfecta congenita und tarda“ betitelten Arbeit^), daß, wie Hecker 
und Trumpp annehmen, eine abnorme Knochenresorption bei dieser 
Krankheit statthat, daß bei ihr die Osteoblasten mangelhaft ausge¬ 
bildet sind und die enchondrale Ossifikation stark gestört ist u. s. w., 
wie wir des näheren weiter unten sehen werden. 

Letztgenannte Arbeit von Looser dürfte unserer Ansicht nach 

Aehnliche Namenbezeiclinungen wie die deutschen Autoren, scheinen 
auch die englischen für die beiden in Frage stehenden Krankheiten zu haben, 
wie dies aus einigen Arbeiten von Ran kl in, Mackay, Lunn, C ranke und 
Porter über Achondroplasie, in Brit. med. Journal 1907, Jan. 5, hervorgeht. 

*) Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 1906, 
Bd. 15. 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. 


161 


nicht wenig zur Klärung dieser uns hier beschäftigenden Frage bei¬ 
tragen und erlauben wir una, die Befunde dieses Autors umso aus¬ 
führlicher hier anzuführen, als uns nicht vergönnt war, unseren 
eigenen Fall pathologisch-histologisch auszunutzen. 

Loos er war in der glücklichen Lage, beide amputierten Unter¬ 
schenkel eines an Osteopsathyrosis leidenden jungen Mannes einer 
erschöpfenden histologischen Untersuchung zu unterziehen und zieht 
hieraus den Schluß, daß es sich sowohl bei dieser wie bei der Osteo¬ 
genesis imperfecta congenita um einen und denselben Bildungsfehler 
handle und daß es zu der bekannten Trennung dieser beiden Typen 
nur deswegen gekommen ist, weil die meisten der Beobachter wich¬ 
tige und nebensächliche Befunde nebeneinander angeführt und von 
solchen lokalen auf ähnliche allgemeine Befunde Rückschlüsse gezogen 
haben. 

Diesen Bildungsfehler findet Loos er, wio die meisten der Be¬ 
obachter, einzig und allein in der mangelhaften Funktion der Osteo¬ 
blasten, sowohl des Periosts wie des Marks, die eine mangelhafte Appo¬ 
sition zur Folge hat, welche wiederum zu einer hochgradigen Atrophie 
der Knochen und einem mangelhaften Dickenwachstum derselben führt. 

Diese mangelhafte Apposition bekundet sich im feineren Bau 
der Knochensubstanz durch das dichte Beieinanderliegen der weiten, 
plumpe Ausläufer sendenden, miteinander kommunizierenden Knochen¬ 
körperchen in den Bälkchen und durch die körnig-krümlige Ver¬ 
kalkung der Knorpelgrundsubstanz. Also die mangelhafte Funktion 
der Osteoblasten überhaupt und nicht der Mangel an solchen, die 
von einigen (Buday) sogar vermehrt gefunden wurden, oder eine 
besonders abnorme Bildung derselben gibt nach Loos er das ur¬ 
sächliche Moment hierfür ab. 

Auch die Resorption ist nach ihm im allgemeinen nicht ver¬ 
mehrt, wie einige, welche auf ein lokales oder vorübergehendes Vor¬ 
handensein derselben gestützt, angenommen haben. Die von einigen 
gefundene Vermehrung der Hawshipsehen Lakunen bei nicht ver¬ 
mehrten Osteoblasten kann nicht als Zeichen einer gesteigerten Re¬ 
sorption betrachtet werden, sondern muß eher auf eine verminderte 
Apposition zurückgeführt werden. 

Die feineren Verhältnisse an den Epiphysenknorpeln sowie an 
der vorläufigen Verkalkungszone etc. sind, w’ie alle Beobachter zu¬ 
geben, normal, nur persistieren, nach Looser, die in derselben 
vorkommenden Pfeiler in einzelnen Fällen abnorm lange, so daß sie, 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. H 


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162 


J. G. Chrysospathes. 


nur selten von feinen Knochenlamellen bedeckt, fast bis in die Mitte 
der Diaphyse hinabreichen, während sie in anderen Fällen schon 
einige Millimeter von der Verkalkungszone entfernt verschwunden 
sind. Diese Abweichung von der Norm hält Loos er nicht für 
wichtig, da sie, nach ihm, ihren Grund in kleinen Verschiedenheiten 
der Resorption in den einzelnen Fällen hat. 

Die Epiphysenknorpel sind zunächst normal, sagt er, in späteren 
Stadien der Krankheit treten regressive Veränderungen in ihnen auf 
infolge von Raumbeengung der normal in die Breite wachsenden 
Epiphysenscheibe durch die mangelhaft wachsende, sie einschließende 
Knochenschale. Die an die Epiphysenknorpel sich anschließende 
Knochenbildung geschieht in normaler Weise, ist aber in ihrer 
Intensität stark herabgesetzt. 

Auch die von einigen beobachteten und beschriebenen Mark¬ 
veränderungen, wie fibröse Degeneration des Marks und nekrotische 
Massen im Markraume, spielen, wie Looserbemerkt, keine wesent¬ 
liche Rolle, da sie erstens nicht von der Gesamtheit der Beobachter 
angeführt werden und zweitens als Folge der in ihrer Nähe an¬ 
getroffenen Frakturen und Infraktionen aufgefaßt werden müssen. 

Das Periost ist nach demselben Autor normal, und einige in 
ihm beschriebene Knorpelinseln müssen ebenfalls als Folgen der 
Frakturen, d. h. als multiple Kallusbildungen, angesehen werden. 
Ihr Fehlen im Periost der traumatischen Insulten weniger aus¬ 
gesetzten Wirbelkörper und ihr ausschließliches Vorhandensein im 
Periost der diesen Insulten stark ausgesetzten langen Röhrenknochen 
beweist nach Looser diese seine Annahme. Dies veranlaßt ihn, die 
bei der Osteogenesis imperfecta zuweilen vorkommenden Verkür¬ 
zungen und Verdickungen der langen Röhrenknochen als Folgen 
von Frakturen und Zertrümmerungen, oder richtiger gesagt, Zer¬ 
quetschungen des Knochens, also als Kallusbildungen zu betrachten. 
Diese Umstände sind es also, und nicht eine Störung der enchon- 
dralen Ossifikation, die für die bei der Osteogenesis imperfecta an¬ 
getroffenen Verkürzungen zu beschuldigen wären. Letztere haben 
auch bisher den Anlaß gegeben, die in Rede stehende Krankheit mit 
der von ihr im Grunde verschiedenen Chondrodystrophia foetalis zu 
verwechseln, bei welcher tatsächlich die enchondrale Ossifikation ge¬ 
stört ist. 

Nach dem Vergleich also der pathologisch-anatomischen Be¬ 
funde der Osteogenesis imperfecta mit denen der Osteopsathyrosis, 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. Iß3 

die sich nach Loos er als identisch erweisen, empfiehlt dieser, 
die Bezeichnung ersterer Krankheit auch auf die sogenannte idio¬ 
pathische Osteopsathyrosis auszudehnen und, soweit das praktisch 
nötig erscheint, eine Osteogenesis imperfecta congenita und tarda 
zu unterscheiden. 

Die Ursache unserer Erkrankung, in einer mangelhaften Funk¬ 
tion aller knochenbildenden Elemente gelegen, schließt nach Loos er 
noch eine letzte kongenitale Ursache vorläufig nicht aus. Hin¬ 
gegen liegen nach ihm Ernährungsstörungen, insbesondere ver¬ 
ringerte Kalkeinfuhr, nicht vor, wie dies das Auftreten der Osteo¬ 
genesis imperfecta bei älteren Kindern, die die übliche Nahrung 
genossen haben, und der Fall von Müller beweist, bei welchem nur 
der eine von Zwillingen von Osteogenesis imperfecta befallen war. 
Eine gestörte Kalkassimilation oder nervöse Störungen anzunehmen, 
wie Moreau es tut, welcher in der Antezedenz zweier von Osteo¬ 
psathyrosis befallenen Schwestern Paralyse gefunden hat, dazu liegt 
nach Looser vorläufig noch kein Grund vor. 

So weit die Ausführungen Loosers, nach denen wir in der 
Zukunft bei den fötalen Knochenwachstumstörungen mit nur zwei 
Typen derselben zu rechnen hätten, nämlich der Osteogenesis imper¬ 
fecta und der Chondrodystrophia congenita s. reinen Form des Zwerg¬ 
wuchses. Daß aber vorläufig diese Trennung nicht so strikte durch¬ 
geführt werden kann, geht vor allem daraus hervor, daß neben 
den beiden oben erwähnten Knochenerkrankungen fötales Myx¬ 
ödem und angeborene Rhachitis noch mitangeführt werden, wenn 
auch mit der Bemerkung, daß die unter diesem Namen beschriebenen 
Erkrankungen meist unter den Begriff der Osteogenesis imperfecta, 
oder der Chondrodystrophia foetalis fallen. (Hecker und Tr um pp.) 

Auch der Umstand, daß in dem Atlas letzterer Autoren zwei 
äußerlich wenigstens verschiedene Skelette (Fig. 46 mit in toto stark 
verdickten und verbogenen, Fig. 48 mit geraden, an den Diaphysen 
sehr dünnen Knochen) unter eine und dieselbe Rubrik, nämlich der 
Chondrodystrophia foetalis, gebracht werden, dürfte diese unsere An¬ 
sicht nur unterstützen, trotzdem genannte Autoren bei der Beschreibung 
der äußeren Merkmale der Chondrodystrophia foetalis ausdrücklich 
bemerken, daß bei ihr meist gerade, zuweilen auch etwas verbogene 
Extremitäten Vorkommen ^). 

’) Der Aufklärung resp. Sichtung bedürfen anderseits noch diejenigen 
Fälle von intrauterin entstandenen Frakturen oder Verbiegungen, die einzig 


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J. G. Chrysospathes. 


Ebenso muß man sich vorläufig fragen, warum bei einigen 
Fällen von Zwergwuchs die Epiphysenlinien länger als normal per- 
sistieren, während bei anderen eine prämature Synostose derselben 
statthat ^), bei welch letzteren allerdings die Rhachitis mit im 
Spiele zu sein scheint (Guleke, Apert). 

Solange man sich aber über Ursache und Wesen der häufigeren 
Rhachitis, sowie die sehr nahen Beziehungen, die die Funktion der 
Schilddrüse mit der Entwicklung der Knochen (Myxödem) zu haben 
scheint, im unklaren befindet, wird man sich erst recht über die 
selteneren in Frage stehenden Erkrankungsformen nicht mit Sicher¬ 
heit aussprechen können. 

Es ist daher umso bedauerlicher, daß nicht alle solche an sich 
seltenen Fälle histologisch ausgeforscht werden konnten, wie es 
mit unserem eigenen auch der Fall war. Wir wurden leider zu 
spät vom Tode des Kindes in Kenntnis gesetzt, so daß wir mit 
dem klinischen Bilde und vor allem mit den Röntgenogrammen 
desselben vorlieb nehmen müssen. 

Versuchen wir nun diesen, und zwar zuerst auf Grund seiner 
anamnestischen Daten als kleinen Beitrag zu unserer Frage zu 
verwerten, so müssen wir folgende Momente an ihm hervorheben. 

Dadurch, daß es sich bei ihm um ein Kind von gesunden Eltern 
handelt, dessen zwei Geschwister vor ihm mit den gleichen Deformi¬ 
täten zur Welt kamen, stempelt sich unsere Erkrankung von selbst 
zu einer solchen angeborenen Ursprungs. Dieses hereditärfamiliäre 
Auftreten ist in 15^0 der Fälle (Griffith) von Osteopsathyrosis 
nachgewiesen. Gehört also aus diesem Grunde unser Fall letzterer 
Krankheit an, so ist er anderseits durch seine abgeschwächte Lebens¬ 
fähigkeit und prompte Heilung der frakturierten Stellen von der 
Osteogenesis imperfecta nicht auszuschließen, was ja auch auf die 
Zusammengehörigkeit dieser beiden Erkrankungsformen hindeutet. 

Von Interesse ist an unserem Falle, daß das erste Kind der 


und allein die Unterschenkelknochen, eventuell einen von ihnen betreffen, mit 
gleichzeitiger Defektbildung oder ohne dieselbe, soweit diese Fälle nicht zur 
Osteogenesis imperfecta gehören (siehe Fall von Gas ne, in Revue d’orthop. 
1907, Nr. 3). 

*) V^gl. zwei Skelettfiguren, Fig. IIG u. 117 des Lehrbuches der speziellen 
pathologischen Anatomie von Ziegler 1895, die je ein Skelett von 31 und 
58 Jahren mit sämtlich erhaltenen resp. vorzeitig verknöcherten Knorpelfugen 
darstellen. 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. 


165 


Familie nicht wie die anderen mißgebildet geboren worden, und es 
bis zur Stunde blühend und gesund geblieben ist. Die Ursache 
dieser Tatsache zu ergründen, ist nicht einfach. Allein man wird 
vermuten dürfen, daß hier eine Schwäche des Organismus der 
Mutter während ihrer Schwangerschaften (ihre erste ausgenommen) 
Vorgelegen hat, aus folgenden Gründen: Die ausnahmslos während 
der Schwangerschaften aller mißgebildeten Kinder stattgehabten 
Nasenblutungen der Mutter kommen hier nicht besonders in Be¬ 
tracht, da sie unbedeutend gewesen, dagegen deuten sie im Verein 
mit den aufeinanderfolgenden Schwangerschaften und dem ununter¬ 
brochen besorgten Stillgeschäft seit dem ersten Kinde (weswegen 
die Menstruation bei der Frau 3 volle Jahre ausgeblieben ist), wohl 
auf einen abgeschwächten Organismus hin, der durch Mangel an 
wichtigen Baumaterialien für die Knochen als Ursache für unsere 
Mißbildungen in Betracht käme. Es wäre demnach von Interesse, 
abzuwarten, ob ein nächstes Kind der Frau, die bis zur Stunde 
nicht schwanger gewesen ist, daher auch ihre Periode seit geraumer 
Zeit wieder bat, mit oder ohne frakturierten Knochen geboren 
werden wird. Würde anderseits das erste, am Leben gebliebene, 
bisher gesunde Kind der Familie später auch von spontan oder 
leicht erfolgenden Frakturen befallen, worauf wir unser Augenmerk 
gerichtet halten wollen, so wäre dadurch die Zusammengehörigkeit 
unseres Falles, und hiermit der Osteogenesis imperfecta, mit der 
Osteopsathyrosis idiopathica außer jeden Zweifel gesetzt. 

Daß der krankhafte Prozeß bei unserem Falle im intrauterinen 
Leben seinen Abschluß gefunden hat, beweist noch der Umstand, 
daß das Kind bei der Geburt, die zwar leicht gewesen, aber doch 
in Steißlage erfolgt ist, sich keine Frakturen zugezogen hat und 
seine Knochen schon damals recht hart waren. 

Das sind die Lehren, die wir aus den anaranestischen Daten 
unseres Falles ziehen können. 

Gehen wir zu dem klinischen Bilde unseres Falles über, wozu 
wir auch, und nicht in letzter Linie, seine Röntgenbilder rechnen, 
so nehmen wir an diesen außer den sehr deutlichen, weiter oben 
ausführlich beschriebenen Knickungen der Knochen nicht die ge¬ 
ringste Verzögerung ihrer Ossifikation wahr. Im Gegenteil, hier 
scheint eine abnorm frühe Ossifikation vorzuliegen, wie aus den 
größer als normal ausgebildeten Kernen der in diesem Alter in 
Betracht kommenden Knochen hervorgeht. Allein nicht nur die 


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166 


J. G. Chrysoepathes. 


Größe jener Kerne, die die eines Neugeborenen stark übertrifiFt, über¬ 
rascht uns, sondern auch das, trotz des bekanntlich zeitlich nicht so 
bestimmten Verhaltens des Auftretens derselben, doch noch zu frühe 
Vorhandensein von Kernen, wie des vom Capitatum und der oberen 
Femurepiphyse, die sich normaliter nicht vor dem Ende des 4. oder 
5., resp. vor dem 10. Lebensmonat zeigen ^). 

Vielleicht ließe sich dieser Umstand auf eine innere, zur Ent¬ 
wicklung unseres Leidens führende Ursache, vielleicht aber auch 
auf eine Reizung infolge der Frakturen zurückführen. Ob aber das 
eine oder das andere der Tatsache entspricht, das eine wird jeden¬ 
falls durch die Röntgenbilder unseres Falles bewiesen, nämlich die 
durchaus normal erfolgte enchondrale Ossifikation bei demselben, 
somit auch seine Zugehörigkeit zur Osteogenesis imperfecta. 

Bei der Betrachtung der infolge der Frakturierung geknickt 
erscheinenden Knochen der Unterschenkel und Unterarme, speziell 
aus dem intensiveren Schatten dieser Stellen entnehmen wir, daß 
hier eine stärkere Knochenbildung vorliegt. Diese ist so 
stark, daß sie in Gestalt eines ziemlich niedrigen, d. h. breiten Drei¬ 
ecks die ganze Konkavität der Knickung ausfüllt, mit der Spitze bis 
zu der ihr gegenüber gelegenen Konvexität reichend*). 

An den Knochen der Oberarme gibt sich dieses Verhältnis 
auch in Ausfüllung des ganzen Mittelstücks der Diaphyse kund, wo 
auch der Schatten stärker. 

Man wird unserer Ansicht nach nicht fehl gehen, wenn man 
diese stärkeren Schatten als eine Art Kallusbildung betrachtet, die 

') Daß einer der ersten Ossifikationskerne des Skeletts, nämlich der der 
unteren Femurepiphyse, mit der zugehörigen Diaphyse schon in starke Berührung 
gekommen ist (siehe Fig. 2), ist vielleicht mit dieser frühzeitigen Ossifikation 
in Zusammenhang zu bringen. 

Sperling, der in der Lage war eine ähnliche Stelle mikroskopisch 
zu untersuchen, schreibt darüber: „Die mikroskopische Untersuchung ergab an 
der Knickungsstelle eine osteoplastische, kallöse, subperiostale Auflagerung, 
welche stärker an der konkaven Seite des Winkels auHag; das diese Stelle 
überziehende Periost war besonders in seiner inneren zellenreicheren Zone 
verdickt (siehe Fig. 3 der Arbeit Sperlings „Ueber die Aetiologie der so¬ 
genannten intrauterinen Frakturen etc.“ Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gyn. Bd. 24 
Heft 2). 

Nove-Josserand (Precis d’orthopedie, nach Gasne, Revue d’orthop. 
1907, Nr. 3: Coudures et pseudarthroses de la jambe) fand dagegen die ge¬ 
knickte Stelle eburniert, fibröses inaktives Mai*k einschließend, mit allen den 
Zeichen einer abgelaufenon Ostitis. 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. 


167 


übrigens an den Fällen von Osteogenesis imperfecta keine Selten¬ 
heit ist. Diese gesteigerte lokale Knochenbildung, welche ausnahms¬ 
los an der Konkavität der gebrochenen oder geknickten, resp. in- 
frangierten Stellen anzutreffen ist, wenn sie auch kein ungewöhn¬ 
liches Vorkommnis darstellt, wie aus den Befunden schlecht geheilter 
Frakturen, rhachitischer Verkrümmungen etc. wohl bekannt, muß 
angesichts der besonderen Verhältnisse unseres Falles immerhin her¬ 
vorgehoben werden. Erstens da sie an allen vier Extremitäten die 
Stelle betrifft, welche bei der Haltung, die der Embryo in utero 
annimmt, der größten Beanspruchung ausgesetzt wird, dann weil 
die in Rede stehende Knochenbildung an genannten Stellen die all¬ 
gemeine Behauptung unterstützt, daß die Transformationskraft gerade 
da einsetzt, wo die Gefährdung des Knochens am größten ist. Viel¬ 
leicht wird jene Knochenbildung angeregt durch eine größere Irri- 
tierung des Periostes an den konkaven Knickungsstellen, in unserem 
Falle aber, wo die Körperlast als ursächliches Moment wegfällt, muß 
hierfür einzig und allein die Muskelkraft verantwortlich gemacht 
werden. 

Wir denken uns den Hergang der Sache folgendermaßen: 
Durch die Haltung des Embryos in der Gebärmutter, sowie durch 
die in unserem Sinne gekrümmten Extremitätenknochen während der 
ersten Lebenswochen, wie wir dies z. B. vom unteren Drittel der 
Tibia bestimmt wissen (Fricke, Henke, Reyher), wird eine abnorm 
frühe Verknöcherung, die Persistenz dieser ursprünglichen Krüm¬ 
mungen eventuell Knickungen zur Folge haben. Diese Hypo¬ 
these scheint in unserem Falle durch die Tatsache gestützt, daß die 
Ossifikation bei ihm eine abnorm vorgeschrittene ist. Allein diese 
könnte, wie weiter oben schon bemerkt, ebensogut ihren Grund in 
einem von den frakturierten Stellen ausgehenden Reiz haben, und 
würde dann die Ursache der Verkrümmungen in einer abnormen 
Enge der Amnionhülle liegen, was allerdings mit der normalen 
Menge des bei der Geburt unseres Falles abgegangenen Amnion¬ 
wassers nicht gut in Einklang steht. 

Anderseits würde man sich angesichts der Tatsache, daß 
die Knochen bei der Osteogenesis imperfecta oft noch während der 
Geburt weich angetroffen werden, zu der entgegengesetzten Annahme 
hingezogen fühlen. Nämlich daß die länger als normal weich blei¬ 
benden Knochen, durch die Wirkung der, im Vergleich zu den Ex¬ 
tensoren, stärkeren Flexoren ihren normaliter zukommenden Wider- 


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168 


J. G. Chrysospathes. 


stand resp. ihre Aufrichtungsfähigkeit nicht mehr zu leisten ^ver¬ 
mögen und so von der Seite der Flexoren abgebogen werden, wie 
wir dies ja an unseren Bildern sehr deutlich sehen. Am rechten 
Oberschenkelknochen, wo dieses Verhältnis sich umkehrt, wird man 
wohl annehmen müssen, daß hier die Muskelkraft einem stärkeren 
mechanischen Hindernisse, vielleicht einer Interposition von Teilen 
des Embryos oder seiner Adnexe weichen mußte, was zur Folge 
hatte, daß der in Betracht kommende Knochen der größeren Kraft¬ 
entfaltung gemäß nach der hinteren Seite des Oberschenkels zu 
verbogen würde. 

Daß alle diese Verhältnisse in einer sehr frühen Zeit 
des Embryonallebens sich abgespielt haben, beweist unter 
anderem am deutlichsten die, im Verhältnis zur Streckfläche in ihrer 
Entfaltung zurückgebliebene Hautfläche der Beugeseiten der Eniee, 
Ellbögen, selbst einiger Fingergelenke, bei welch letzteren es wegen 
der Kürze ihrer sie bildenden Knochen nicht zu Verbiegungen der¬ 
selben gekommen ist. Daß von den Beugeseiten besonders die der 
unteren Extremitäten, und zwar von diesen die linke mehr als die 
rechte, von der Hautverkürzung betroffen worden, muß besonders 
mit der oben erwähnten Biegungsrichtung der Oberschenkelknochen 
in Zusammenhang gebracht werden. 

Kehren wir nun zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen 
über die vermehrte lokale Knochenbildung an unserem Falle zurück, 
so müssen wir nach den obigen Ausführungen zugeben, daß hier 
die Tätigkeit des Periostes ebensowenig gestört ist wie die der 
Epiphysen; ein Umstand, der die Zugehörigkeit unseres Falls zur 
Osteogenesis imperfecta weiter bestätigt. 

Ein weiterer Punkt, der an unserem Falle noch der Besprechung 
bedarf, ist die Bildung von Hautveränderungen direkt über den 
frakturierten, resp. geknickten Stellen. Diese, ursprünglich als direkte 
Folgen der Frakturen allgemein angesehen, wurden unseres Wissens 
zuerst im Jahre 1892 von Sperling ^), allerdings bei solchen Fällen, 
wo sie solitär und verheilt, und mit anderen Mißbildungen, speziell 
Defekten an Knochen vergesellschaftet Vorkommen, dem Einflüsse 
amniotischer Verwachsungen zugeschrieben. Sperling schätzt das 
gleichzeitige Vorkommen dieser Defekte auf 60 ^/o aller Fälle von 
intrauterinen Frakturen, was nach ihm den Schluß gestattet, daß 


9 Sperling 1. c. 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. 


169 


die amniotischen Verwachsungen, die jene entstehen ließen, auch die 
Knickungen der Blastemstümmelchen herbeifUhrten. Mit anderen 
Worten, Sperling beschuldigt für die Defektbildung den Druck 
genannter Verwachsungen auf den noch nicht entwickelten Knochen, 
während ihre Wirkung auf den schon differenzierten nur die V^er- 
biegungen desselben herbeiführt. 

Daß unsere Beobachtung zu dieser Kategorie von Fällen nicht 
gehört, geht aus dem Fehlen von Defekten, ebenso aus den multipel 
und noch dazu symmetrisch frakturierten Stellen hervor. Schon aus 
letzterem Grunde allein würde der weiter oben erwähnte Entstehungs¬ 
modus, den Sperling für seine Fälle annimmt, für unseren nicht 
passen. 

Auch die traumatische Ursache, durch Druck der Uteruswan¬ 
dungen, fällt bei unserem Falle weg, wenn man daran denkt, daß 
bei ihm, besonders aber bei dem letzten der drei kranken Kinder, 
die Menge des Fruchtwassers sogar reichlicher war als bei dem 
ersten gesunden. 

Unsere Hautveränderungen könnten wir wohl als Folgen von 
Lädierungen der Haut durch die frakturierten Knochen ansehen. 
Dafür sprechen die direkt den Hautveränderungen zustrebenden 
Knochenspitzen, während die Haut über den nur bogenförmig ge¬ 
krümmten Oberschenkelknochen normal erscheint. 

Diese Art der Entstehung der Hautveränderungen schließt aller¬ 
dings den amniogenen Ursprung derselben nicht aus, wenigstens in 
den Fällen nicht, wo an den fraglichen Stellen Hautausziehungen, 
resp. Wärzchen, jedenfalls nicht regelrechte Narbenreste sich vor¬ 
finden. Hier könnte man wohl an eine Beteiligung des normalen 
oder vielleicht auch erkrankten Amnions denken, allerdings in der 
Weise, daß dieses nicht die Frakturierung selbst herbeiführt, sondern 
erst durch diese letztere zur abnormen Tätigkeit gereizt wird. 

Man könnte sich diesen Vorgang folgendermaßen denken: die vor 
der Abhebung des parietalen Blattes des Amnions entstandenen, stark 
prominierenden Knickungsstellen der Unterschenkel- und Vorderarm¬ 
knochen hätten durch stärkere Reibung, resp. Wund werden ihrer 
Berührungsflächen mit dem Amnion zu Verklebungen und Anlütungen 
der Haut mit diesem daselbst geführt, die bei der späteren Ab¬ 
hebung des Amnions dieses zu Fäden ausgezogen hätten. Letztere 
infolge ihrer nicht breiten Anheftungsfläche, einem größeren Wider¬ 
stand nicht gewachsen, reißen frühzeitig ab, als Reste Wärzchen, 


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170 


J. G. Cfarysospathes. 


resp. Grübchen auf der Haut hinterlassend. Man könnte hierbei 
weiter annehmen, daß, wo die stärkste Knickung, da auch die größte 
Reizung, folglich die breiteste Verklebung und naturgemäß der dickere 
und widerstandsfähigere Amnionfaden. Dieser wäre aber dank seiner 
letzten Eigenschaft am spätesten abgerissen und so würden wir an 
seiner Stelle ein mehr oder weniger ausgebildetes Hautwärzchen 
finden, wogegen an den anderen Stellen, wo die Verklebungsfläche 
kleiner und infolgedessen der Amnionfaden dünner war, daher sein 
Abreißen frühzeitiger erfolgte, auch die Hautveränderungen undeut¬ 
licher sich präsentieren. 

Auf unseren Pall würde diese Vermutung insofern passen, als 
über den spitzesten Knickungsstellen, z. B. des Unterschenkelknochens, 
rechts ein längliches Hautwärzchen und links ein ausgesprochenes 
Hautgrübchen vorzufinden ist, während über den weniger geknickten 
Vorderarmknochen nur Andeutungen von letzteren sichtbar sind 
und über dem nur gekrümmten Oberschenkel- und Oberarmknochen 
keine Hautveränderungen wahrzunehmen sind. 

Von Interesse ist schließlich an unserem Falle, daß, obwohl 
es sich bei ihm um frakturierte Knochen handelt, keine Kallus¬ 
bildung eingetreten ist, wie wir sie bei Frakturen finden, sei es 
auch daß sie, wie die unsrigen, durch Knickung entstanden sind. 

Sieht man sich in der Literatur nach Fällen von möglichst 
reinen Intrauterinfrakturen um, die von Kallusbildung begleitet 
waren, so findet man in der umfangreichen, weiter oben zitierten 
Arbeit von Sperling unter den bis 1892 veröffentlichten dies¬ 
bezüglichen Fällen nur 3 (Houel, Klein, Osiander), bei welchen 
von einer Kallusbildung ausdrücklich die Rede ist. In der im Juli 
1907 in der Revue d'Orthop^die erschienenen Arbeit vonGasne nCou- 
dures et pseudarthroses congenitales de la jambe“ finden wir unter 
59 meist einfach angeführten ähnlichen Beobachtungen nur eine von 
Kirmisson, bei welcher die pseudarthrotisch geheilte Knickungs¬ 
stelle, wie deren Radiogramm zeigt, eine deutliche Kallusbildung 
aufweist. Es handelt sich bei diesem Falle um eine 25jährige 
Patientin, die mit dem stark deformierten unteren Teil des Unter¬ 
schenkels ohne Stütze herumgegangen ist ^). 

Allein für die Kallusbildung an diesem Falle könnte man 


Bei einem anderen Fall, von Kirmisson (siehe die gleiche Arbeit), 
spricht dieser von einem bei der Operation an der Fibula gefundenen Kallus. 


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Beitrag zu den intrauterin entstehenden Frakturen. 


171 


Momente beschuldigen, die im späteren Leben sich geltend gemacht 
haben. Ob das auch bei den Fällen von Houel, Klein und 
Os i and er der Fall war, geht leider aus Sperlings Arbeit nicht 
hervor. 

Dieser Autor schließt ^aus dem Fehlen von Fibula- oder Zehen¬ 
defekten bei mit ausgesprochener Kallusbildung verbundenen soge¬ 
nannten intrauterinen Unterschenkelfrakturen auf die Entstehung der 
Knickung in einer embryonalen Zeit, in der die Formanlage und 
auch die Ossifikationsanfänge bereits gegeben waren“. Auch das 
fast durchgängige Vorkommen von starker Kallusbildung bei intra¬ 
uterinen Frakturen der Klavikel (Gurlt, Gremse, Devergie, 
Feist), eines Knochens, dessen Ossifikation schon in den ersten 
7 Wochen des embryonalen Lebens beendet ist, bestärkt ihn in 
dieser seiner Annahme. 

Wir, die wir die Frakturen unseres Falles wegen der weiter 
oben angeführten Gründe nicht durch amniotische Stränge, wie 
Sperling es für seine Fälle tut, entstehen lassen, würden eben¬ 
falls aus dem Fehlen einer regelrechten Kallusbildung an den ge¬ 
knickten Stellen schließen, daß es deswegen nicht zu einer solchen 
gekommen ist, weil das sie verursachende Moment zu einer Zeit 
eingesetzt hat, wo von einer beendigten Ossifikation der in Betracht 
kommenden Knochen nicht die Rede sein konnte, also schon in den 
allerersten Lebensmonaten, wenn man überlegt, daß der Beginn der 
Verknöcherung bei den Vorderarmknochen in die 8.—9. Woche, des 
Femurs in das Ende der 2. und der Tibia und Fibula in den An¬ 
fang des 3. Monats fällt (Kölliker). 

Sind demnach unsere Knickungsfrakturen als in einer sehr 
frühen Periode des Lebens entstanden zu betrachten, so muß bei 
ihnen mit der Wahrscheinlichkeit gerechnet werden, daß ihre Ur¬ 
sache in einer Störung des Organismus liegt, die, wenn sie sich auch 
nicht in der allgemeinen Ernährung äußerlich kundgibt, so doch 
mindestens die erste Knochenbildung betreffen muß. Daß eine solche 
Störung in diesen Fällen vorliegt, geht schließlich aus der vermin¬ 
derten Lebensfähigkeit dieser Geschöpfe hervor. 

Aus der Art des Todes solcher Kinder durch Krämpfe könnte 
man an eine vielleicht der rhachitischen analoge Intoxikation denken, 
was ja unsere eben ausgesprochene Ansicht eher unterstützt als 
aufhebt. 


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XII. 


(Akademie für praktische Medizin zu Köln a. Rh., orthopädisch¬ 
chirurgische Abteilung.) 

Ueber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels‘). 

Von 

Dozent Dr. K. Cramer^ dirig. Arzt. 

Mit 7 Abbildungen. 

Die ältesten, wissenschaftlich in hervorragender Weise beob¬ 
achtenden Aerzte, deren Arbeiten wir noch zum Teil kennen, wie 
Qalen, Hippokrates, Celsus, haben einer Heilung von Knorpel¬ 
wunden, ganz allgemein gesagt, sehr wenig Wert beigelegt. Ziem¬ 
lich verworren blieb dann die Lehre von der Knorpelregeneration 
bis Anfang und Mitte des vorigen Jahrhunderts, und auch die in der 
neueren und neuesten Zeit erschienenen Arbeiten haben das Dunkel 
dieser Vorgänge noch nicht ganz gelichtet. Sie enthalten die wider¬ 
sprechendsten Ansichten und sind hierdurch nicht geeignet, diese 
Frage endgültig zu klären. 

Ehe ich meine Versuche und deren Resultate eingehender be¬ 
schreibe, möchte ich mit ein paar Worten die bisher bekannt ge¬ 
wordenen Ansichten über die Ernährung des Gelenkknorpels und 
die Heilung seiner Wunden erwähnen, da ja bekanntlich die Frage 
von der Ernährung der Knorpelzellen und deren Qrundsubstanz von 
großer Wichtigkeit ist für die Art und Weise des Heilungsvorganges 
der Knorpelwunden. Einzelne Autoren lassen die Ernährung zu 
stände kommen durch Gefäße, so beschreibt Heitzmann in der 
hyalinen Grundsubstanz ein weitverzweigtes, engmaschiges, mit vari¬ 
kösen Ausbuchtungen versehenes System von Kanälen. Durch diese 
sollen die Ausläufer der Knorpelzellen miteinander in Verbindung 
treten. Dieser Ansicht von dem Vorhandensein präformierter Kanälchen 

*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels. 


173 


sind ferner Budge, Orth, Nykamp, Bubroff, Loew, Petrone, 
V. Ewetzky, Henoque. Nach Lampe lassen sich Gefäße erst 
zwischen dem 20. und 30. Lebensjahre nachweisen. In früherer 
Zeit sei der Knorpel ohne Gefäße, mit Ausnahme der dem wachsenden 
Knochen unmittelbar anliegenden Schichten, und infolgedessen nicht 
primär erkrankungsfähig. Solger, Spina, Zuckerkandl nehmen 
einen Saftstrom an, der längs der protoplasmatischen Fortsätze der 
Knorpelzellen, die untereinander kommunizieren, hinfließe. Eine Er¬ 
klärung, der namhafte Gelehrte, wie z. B. Waldeyer, ron der 
Stricht, Hertwig u. a. freundlich gegenüberstehen. Wolters 
bildete ein System der Saftspalten ab, während Gerlach die Er¬ 
nährung auf dem Wege der DiflPusion stattfinden läßt. 

Aus den hier kurz genannten Arbeiten geht mit Deutlichkeit 
hervor, daß die Histologen sich in dieser Frage noch nicht geeinigt 
haben. Ich selbst habe bei meinen zahlreichen, genau studierten 
Präparaten von Gelehkknorpeln jugendlicher Kaninchen nie ein Ge¬ 
fäß oder auch nur die geringste Andeutung eines solchen im Knorpel 
gesehen. Auch über den feineren histologischen Bau des Gelenk¬ 
knorpels bestehen Meinungsverschiedenheiten; so über die Grund¬ 
substanz und das Vorhandensein von besonderen Kapseln für die 
Knorpelzellen. Diese werden z. B. von Aeby und Henle geleugnet. 
Weiter fanden Heidenhain, Fürstenberg und Remack keine 
Zwischensubstanz im Knorpelgewebe, diese werde vielmehr gebildet 
durch die Verschmelzung aneinander grenzender Kapseln. 

lieber ihre Ansicht von der Heilung von Knorpel wunden lassen 
Kölliker und Rokitansky keinen Zweifel. Sie sagen mit ab¬ 
soluter Deutlichkeit, daß an der Heilung von Knorpel wunden die 
Knorpelsubstanz sich nicht beteiligt und daß die Knorpel Wuche¬ 
rungsfähigkeit nicht besitzen. 

Gurlt und Thiersch fanden bei Gelenkknorpeldefekten eben¬ 
falls nie Knorpelregeneration. Sie sahen niemals Ersatz durch 
Knorpelsubstanz, sondern durch fibröses, ab und zu knorpelähnliches 
Gewebe. 

Dörner machte umfassende experimentelle Untersuchungen an 
Knorpeln von Tieren. Die Knorpel zeigten weder nach Einschnitten 
noch nach Abtragung Neigung zur Verheilung oder Regeneration 
durch knorpeliges Gewebe. Die Wunden blieben entweder wie sie 
waren, oder wurden durch fibröses, vom Perichondriura stammendes 
Gewebe ausgefüllt. Hierbei ist zu betonen, daß viele Operations- 


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174 


K. Gramer. 


wunden unter Eiterung heilten. Ich komme hierauf noch zurück, 
da die Art der Heilung per primam oder per secundam intentionera 
von großer Wichtigkeit ist. 

Sieveking arbeitete an tierischem Netzknorpel. Er fand 
ebenfalls nur appositioneile Reparatur, ausgehend vom Perichondrium. 
Auch Pauli sah nach Exzisionen am Rippenknorpel von Hunden 
noch nach Monaten keine Veränderung am Knorpel, sondern einen 
dünnen Abschluß durch Bindegewebe. 

Zu einer anderen Ansicht kam Redfern. Es sei außer Zweifel, 
daß die Substanz des Knorpels fibröses Gewebe bilden könne. 

Archangelsky nimmt an, daß die Heilung der Knorpel¬ 
wunden ausgehe vom Perichondrium, das sich umwandle zunächst 
in Faserknorpel und später in Hyalinknorpel. 

Ewetzky operierte am Skleralknorpel des Frosches. Er be¬ 
obachtete Beteiligung der Knorpelzellen bei der Heilung der In¬ 
zisionen. Die Knorpelzellen schwanden zunächst in der Nähe des 
Schnittes, dann wucherten die Zellen in der Umgebung. Vom Peri¬ 
chondrium entwickelten sich spindelförmige Zellen in der Wunde, 
die allmählich rundlich wurden. In der 9. Woche war die Narbe 
durch neugebildete hyaline Knorpelsubstanz ersetzt. 

Schklarefsky machte seine Studien an Hunden. Bei eiternden 
Wunden bildete sich zunächst eine Bindegewebsnarbe vom Perichon¬ 
drium her. Nach 2—3 Wochen proliferierten die benachbarten 
Knorpelzellen und wandelten sich später in Bindegewebe um. Bei 
Heilung ohne Eiterung entstand zunächst eine Bindegewebsnarbe, 
die sich nach 3 Monaten in Faserknorpel und dann in hyalinen 
Knorpel umwandelte. Nach 1 Jahre war keine Narbe mehr zu sehen, 
sondern nur Knorpelgewebe. Also ebenfalls eine Transformierung 
des Bindegewebes in hyalinen Knorpel. 

G e n z m e r sah ebenfalls eine Narbe, ausgehend vom Perichon¬ 
drium, deren Spindelzellen sich allmählich in Knorpelzellen um¬ 
wandelten. 

Zu ähnlichen Resultaten kam Matsuoka. Die Arbeit ist 
neueren Datums, sie stammt aus dem Institut Ribberts. Er operierte 
an Kaninchenohren. Zunächst proliferierte das Perichondrium, welches 
in die Wunde hinein wuchert. Die Zellen des Perichondriums ver¬ 
mehren sich. An dem neuen vorgeschobenen Perichondrium werden 
viele längliche Spindelzellen mit Kernen deutlich. In einem späteren 
Stadium treten in diesem Gewebe rundliche, den Knorpelzellen ähn- 


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Ueber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels. 


175 


liehe Zellen auf. Diese hält er für Anfänge der Knorpelkapseln. 
Sie treten nach 23 Tagen in die Erscheinung. Das frische peri¬ 
chondrale Gewebe bedeckt die Wunde und wandelt sich in Knorpel 
um, und zwar beginnt letzterer Prozeß zunächst in der Nachbar¬ 
schaft des verwundeten Knorpels. Teilungsformen oder Anhäufung 
von Knorpelzellen sind nicht beobachtet worden. Nach 76 Tagen 
ist die Wunde mit einem Knorpelkallus ausgefüllt. 

F asoli machte ebenfalls an einer größeren Reihe von Kaninchen¬ 
ohren seine Studien über die Regeneration des elastischen Knorpels. 
Die Untersuchungen stammen aus dem Jahre 1905. Er operierte 
22 Kaninchen beidseitig und tötete die Tiere nach Ablauf von 4 bis 
190 Tagen. Er sah folgendes: An den Wundrändern treten nekro- 
biotische Erscheinungen auf. Aus dem Perichondrium und den an¬ 
grenzenden Geweben wuchert Bindegewebe in die Wunde und füllt 
diese aus. Die Knorpelzellen bleiben unverändert, sind absolut passiv. 
Nach 30 Tagen beginnt in diesem Bindegewebe, welches den Wund¬ 
spalt ausfüllt, eine Knorpelmetamorphose, und zwar zunächst in den 
Schichten, die dem Wundrande des Knorpels anliegen. Der neue 
Knorpel entsteht aus der neugebildeten Grundsubstanz ohne Beteili¬ 
gung der perichondralen Faserung und ohne Zutun des normalen 
Knorpels. Sind die Substanzverluste sehr groß, so werden sie nur 
mit retikulärem Bindegewebe bedeckt. 

Burci und Anzilloti machten ihre Versuche an Rippen-, 
Schild- und Schwertknorpel von jungen Kaninchen, 81 Experimente 
an 26 Tieren unter strengster Asepsis. Die Tiere wurden in Zeit¬ 
räumen zwischen 6—137 Tagen getötet. Das Ergebnis war fol¬ 
gendes: der Defekt wird von einer bindegewebigen Narbe ausgefüllt 
resp. bedeckt. In seiner Nähe bilden sich reaktive Vorgänge resp. 
Knorpelneubildung, die ausgeht teils von der Knorpelhaut, teils von 
den perichondralen, schon vorhandenen Knorpelzellen. Dieser neue 
Knorpel kann sich charakterisieren als Faserknorpel und als Hyalin¬ 
knorpel. Der Uebergang von einer Form in die andere wird nicht 
immer beobachtet. Vaskularisierung oder Ossifikationsprozesse treten 
innerhalb der ersten 4 Monate post Operationen! in der Knorpelnarbe 
nicht auf. 

March an ds Arbeiten ergaben folgendes: Zunächst füllt sich 
die Wunde mit Fibrin, dann wuchert das Perichondrium, füllt den 
Wundspalt aus und liefert einen Knorpelkallus, an dessen Bildung 
der Knorpel selbst nicht beteiligt ist. 


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176 


K. Gramer. 


Mori verletzte das Kaninclienohr nur durch Schnitt- und Stich¬ 
wunden. Nach 8 Tagen waren die Wunden angefüllt mit zahl¬ 
reichem faserigen Bindegewebe. Dieses entstand entweder aus der 
Knorpelhaut oder, wenn diese entfernt wurde, aus weiter abliegenden 
Ge websschichten. „Nach 19 Tagen sieht man schon deutliche Regene¬ 
ration von Knorpelzellen, welche von dem die Wundspalte aus¬ 
füllenden Granulationsgewebe ausgeht. Für die Entstehung dieses 
jungen Knorpels ist es ganz gleichgültig, ob das Perichondrium bei 
der Operation abgetragen war oder nicht. Die 13 Versuche haben 
also dargetan, daß auch aus dem Granulationsgewebe, das nach Ent¬ 
fernung und ohne Beteiligung des Perichondriums die Wundspalten 
des Knorpels aus füllt, Knorpel entsteht.“ Im Speziellen „zeigen die 
meisten der der Wundlücke zunächst liegenden Knorpelzellen, deren 
Kapseln bei der Operation eröffnet worden sind, Proliferationserschei¬ 
nungen.“ Diese lassen sich auf zweierlei Art deuten. Entweder 
könne Granulationsgewebe in die leeren, mit der Wunde kommuni¬ 
zierenden Knorpelkapseln hineinwachsen oder die Knorpelzellen proli- 
ferieren selbst. Doch ist er der Meinung, „daß die Anteilnahme der 
Knorpelzellen an der Regeneration, wenn überhaupt vorhanden, sehr 
gering ist.“ 

Penisi macht seine Versuche ebenfalls an jungen Kaninchen 
und zwar an Knorpel mit und ohne Knorpelhautbedeckung, indem 
er Gelenk, Schild, Ohr und Rippenknorpel verletzte. Bei letzteren 
mit Knorpelhaut bedeckten Knorpeln wird die Knorpelwunde aus¬ 
gefüllt durch junges Bindegewebe, welches von dem Perichondrium 
stammt. Dieses kann Bindegewebe bleiben oder in hyalines Knorpel¬ 
gewebe metaplasieren. Jores kam zu ähnlichen Resultaten. Er 
operierte ebenfalls Kaninchenohren durch Setzung vielgestaltiger 
Defekte. Der neue Knorpel bildet sich aus den inneren Schichten 
der Knorpelhaut. „Die dort gelegenen länglich-schmalen Zellen, 
welche in einem dichten Netzwerk elastischer Fasern liegen, werden 
größer, protoplasmareicher, runden sich ab und vermehren sich. 
Homogene Grundsubstanz tritt zwischen ihnen auf. Schon nach 
21 Tagen bilden sie einen Knorpel mit etwas kleinen und zahlreichen 
Knorpelzellen, die größtenteils schon eine Kapsel besitzen und von 
reichlichem elastischen Gewebe umgeben sind.“ 

Aus diesen Berichten und Versuchen über die Regeneration 
des Faserknorpels wird ohne weiteres augenfällig, daß das Haupt¬ 
interesse der Forscher beansprucht wird durch die Fragen nach der 


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lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels. 


177 


Beteiligung der Knorpelhaut und der Knorpelzellen bei dem Heilungs- 
Torgang. lieber die Tätigkeit des Perichondriums bei der Heilung 
der Knorpelwunden durch Lieferung von Bindegewebe ist man einig. 
Different sind jedoch die Meinungen über die Aktivität oder Passivi¬ 
tät des Knorpels selbst bei dem Heilungsprozeß. Wie diese Vor¬ 
gänge sich abspielen an Wunden des Gelenkknorpels ist nicht so 
eingehend bearbeitet worden. Wir besitzen hierüber aus den letzten 
Jahren nur wenige Studien mit Schlußfolgerungen, die sich absolut 
widersprechen; und gerade diese Fragen sind es, die den Orthopäden 
in höherem Maße interessieren müssen als die Regeneration des Faser¬ 
knorpels, an den Rippen, dem Ohr oder dem Kehlkopf. 

Tizzoni experimentierte im Jahre 1875. Er sah nach Ein¬ 
schnitten im Gelenkknorpel auf der einen Seite atrophische und 
körnig degenerative Vorgänge in den Knorpelkapseln, auf der 
anderen Seite beginnen die Zellen zu wuchern und wandeln die 
Knorpel in Faserknorpel oder Bindegewebe um. Die Grundsubstanz 
wird dabei aufgefasert. Es gibt eine Primärheilung, indem die 
Knorpelzellen wuchern und sich aus dem vorhandenen Knorpel neues 
Gewebe bildet. Anders sind die Vorgänge bei der Sekundärheilung. 
Diese erfolgt durch Granulationsbildung aus dem Epiphysenmark oder 
der Synovialis sowohl, als auch durch Proliferation der Knorpelzellen. 
So entsteht zunächst eine Narbe aus Bindegewebe. Aus dieser bildet 
sich durch Metamorphosierung der Zellen und Bildung einer zuerst 
schleimigen, dann hyalinen Grundsubstanz hyaliner Knorpel. 

Gies (1881) arbeitete ebenfalls an Gelenkknorpeln und zwar 
von jungen Hunden. Er kam zu nachstehenden Schlüssen: „Rein 
aseptische Knorpel wunden heilen niemals aus, sie bleiben bestehen. 
Unter Anwesenheit von Mikroorganismen (Entzündungserregern) ge¬ 
setzte Knorpel wunden heilen auf die idealste Art und Weise aus, 
so daß Spuren des einmal hier vorhandenen Traumas gar nicht oder 
nur sehr schwer aufzufinden sind.“ Ein ganz auffallendes Ergebnis, 
besonders wenn man daran denkt, wie schwierig es ist, die in das 
Gelenk hineingebrachten Entzündungserreger richtig zu dosieren, so 
daß eine Verödung des Gelenkes nicht eintritt. 

Ich lasse hier weiter seine Worte folgen: „Während eine 
lOtägige aseptische Knorpelverletzung Atrophie der der Schnittwunde 
zunächst gelegenen Knorpelzellen, Wucherung der in weiter Ent¬ 
fernung gelegenen aufweist, der Wundspalt selbst ganz unverändert 
ist, erkennen wir im scharfen Gegensätze hierzu bei einer erst Stägigen, 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 12 


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178 


K. Gramer. 


unter Anwesenheit von reizenden Stoffen gesetzten Knorpelwunde, 
den Wundspalt bereits ganz und gar ausgefüllt von jungen Spindel- und 
Rundzellen. Eine 75tägige, aseptische Verletzung zeigt das Bild der 
Arthritis deformans, wogegen eine 78tägige unreine bereits Ueber- 
gang des Ersatzgewebes in Knorpelgewebe erkennen läßt. Und nun 
gar erst der Unterschied zwischen einer 119tägigen aseptischen und 
einer 98tägigen unreinen Knorpelschnittwunde. Während die erste 
eine zelllose, atrophische Zone, sodann eine Wucherungszone auf¬ 
weist, der Wundspalt nicht im geringsten ausgefüllt ist, vermag de 
facto bei der zweiten „ohne mich der Anmaßung zeihen zu müssen — 
nur der mit solchen Vorgängen Vertraute noch die Spuren eines 
einmal hier gesetzten Traumas zu entziffern, so ideal, so vollkommen 
der Norm entsprechend ist der Ersatz.“ 

Lefas (1902) fand den Gelenkknorpel nach einer Woche völlig 
reaktionslos. Nach 14 Tagen war in den oberflächlichen Schichten 
der Einschnitt noch zu erkennen, in den tieferen kaum. Nach 
3 Wochen normale Verhältnisse. Dabei fand er keine Verände¬ 
rungen an den Knorpelzellen, nie Kernteilung, nie Degeneration. 
Trotzdem nimmt er Vermehrung der benachbarten Zellen und Bil¬ 
dung von Grundsubstanz durch diese an. Die Inzision verschwinde 
durch Ablauf des gewöhnlichen Bildungsprozesses des Knorpels. Er 
spricht auch von einer Verklebung der Schnittwunden. Derartige 
vollkommene Reparaturen sollen Vorkommen nur beim jungen, nicht 
beim erwachsenen Tiere. 

Fasoli (1905) machte in einer 2. Versuchsreihe Schnittwunden 
in den Kondylenknorpel der Oberschenkel von Kaninchen. Die 
Heilungsvorgänge wurden untersucht in Zeiträumen von 7 zu 250 Tagen. 
Der aseptische Verlauf wurde durch Kulturproben bewiesen. Anfangs 
trat an den Inzisionen auf: Nekrobiose, später Proliferation der 
präexistierenden Knorpelzellen. Diese neuen Zellen gaben Veran¬ 
lassung zur Bildung von Grundsub.stanz. Nach kleinen Verletzungen 
stellen sich so normale Verhältnisse wieder her, während ausgedehnte 
Defekte ein anderes Verhalten zeigen. Hier tritt keine völlige 
Restitution ein, sondern es bildet sich ein bindegewebiger Abschluß. 
Auch können, wenn der Schnitt in die Nähe von Synovialis kommt, 
Granulationen die Wunden ausfüllen, die sich allmählich in Knorpel 
verwandeln. Die präexistierenden Knorpelzellen sind hierbei passiv. 

Seggel (1904) operierte ebenfalls an Femurkondylen von 
Kaninchen. „Erstreckt sich der Defekt in den Knochen hinein, so 


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lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels. 


179 


wandelt sich das Mark bindegewebig um und Fibroblastenzüge wachsen 
nach oben empor, drängen dann die erst den Defekt ausfüllende 
Fibrin- und Blutschicht vom Knorpel ab. Handelt es sich um einen 
reinen Enorpeldefekt, so bleibt derselbe fast ganz reaktionslos, nur 
ganz geringe Fibringerinnsel finden sich demselben aufliegend. Nur 
wenn der Defekt nahe dem Kapselansatz liegt, schiebt sich sekundär 
ein bindegewebiger Pannus über den Knorpeldefekt weg.“ Knorpel¬ 
neubildung mit Neubildung von Grundsubstanz sei nur in ganz 
geringem Grade vorhanden und stehe unter dem Einflüsse der Gefäße 
des Kapselansatzes. „Jedoch ist es ganz unmöglich eine bindende 
Gesetzmäßigkeit im Verhalten des Knorpels nachzuweisen. Es 
finden sich oft Widersprüche, die sich absolut nicht erklären 
lassen.“ 

Die meisten dieser Forscher der neuesten Zeit sahen mehr oder 
weniger direkte Anteilnahme des Knorpelgewebes an der Reparatur, 
im Gegensatz zu ganz hervorragenden Namen wie Gurlt, Thierseh, 
Kölliker, Rokitansky, welche niemals Beteiligung des Knor¬ 
pels am Heilungsprozeß von reinen Wunden sahen. Ich gebe hier 
einige prägnante Aussprüche wörtlich wieder. „Wunden des Knorpels 
werden ebensowenig mittels Knorpelsubstanz vereinigt, wie ein Sub¬ 
stanzverlust am Knorpel repariert wird“ (Rokitansky). „ Wucherungs- 
lähigkeit besitzen die Knorpel nicht, Knorpelwunden heilen nicht durch 
Knorpelsubstanz“ (Kölliker). Diese letzteren Arbeiten liegen aller¬ 
dings um ca. 50 Jahre zurück. 

Meine eigenen Erfahrungen sind nachstehend genauer wieder¬ 
gegeben. Zunächst gab ich mir Mühe, primäre Heilungen zu er¬ 
reichen. Dies ist mir auch gelungen, und ich glaube nicht, daß 
man bei Beherrschung des dem Chirurgen geläufigen aseptischen 
Operierens hierbei auf Schwierigkeiten stoßen kann. Ich operierte 
an wachsenden, jugendlichen Kaninchen im Alter von 2—5 Monaten. 
Die Kniegelenksgegend wurde rasiert, abgeseift und mit Alkohol 
und Sublimat längere Zeit abgewaschen. Also dieselbe Vorbereitung, 
wie wir sie bei allen Operationen anzuwenden gewohnt sind. Das 
Kniegelenk wurde unterhalb der Kniescheibe mit Querschnitt eröflhet 
und der Unterschenkel gebeugt. Es präsentieren sich so gut die Femur- 
kondylen. In diese wurden Verletzungen gesetzt, entweder in Form von 
einfachen Schnittwunden oder in Form von Abtragungen kleiner Knor¬ 
pelscheiben. Schwer ist es hierbei, nur die Knorpelschicht zu treffen 
und das darunter liegende Knochengewebe zu schonen. Ich benutzte 


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180 


K. Gramer. 


dazu in einzelnen Fällen gerade Hagedornsche Nadeln, die ja 
bekanntlich an der Spitze säbelförmig zugeschliffen sind. Dann 
wurde die Kapsel und die Quadricepssebne und schließlich die Haut 
mit dünner Seide vernäht. Die Wunden wurden bedeckt mit einem 
kleinen, glatten Stück Verbandmull, das mit reichlichem Kollodium 
angeklebt wurde. Andere Verbände habe ich nie angewandt. Die 
Tiere schleppten die operierte Extremität während der ersten 10 bis 
14 Tage nach, zeigten im übrigen nach 2 Tagen post operationem 
keine Störungen des Allgemeinbefindens. Narkotisiert wurde mit 
Aether. Einige Male gingen in den ersten Tagen einige Hautnähte 
auf, die Naht der Gelenkkapsel hat jedoch stets gehalten, so daß eine 
Eiterung im Gelenk selbst nie eingetreten ist. Getötet wurden die 
Tiere am 3., 5., 6., 7., 10 , 17., 51., 74., 96. und 98. Tage. Im 
ganzen wurden operiert 20 Kaninchen; 2 gingen in der Narkose 
zu Grunde. Nach der Tötung wurden die Kniegelenke angeschnitten 
und dann extrakapsulär herausgenommen, in Formol gehärtet, in 
10®/oiger Salpetersäure entkalkt, gewässert, mit 50,75^/o und ab¬ 
solutem Alkohol nachbehandelt, eingebettet und geschnitten. Die 
Färbung erfolgte durch Hämatoxylin resp. Häraalaun van Gieson; 
Hämatoxylin-Eosin; Hämatoxylin-Pikrinsäure; Borax-Karmin; Alaun- 
Karmin. 

Fall 1. 3 Monate alt, Abtragung je einer kleinen Knorpel¬ 

scheibe ohne Verletzung des Perichondriums von der Höhe der 
Femurkondylen. Getötet nach 3 Tagen. Der Kollodium verband 
liegt fest an; im Gelenk keine Entzündungserscheinungen, wenig 
blutige Flüssigkeit. Mikroskopischer Befund: An der Gelenkseite 
des Knorpels ein fiacher Defekt mit fibrinähnlicher Masse bedeckt, 
in dieser ein rundlicher Kern. An den Knorpelzellen keinerlei Ver¬ 
änderungen. 

Fall 2. 4 Monate alt. Abtragung von 4 kleinen Knorpel¬ 

scheibchen von den Femurkondylen ohne Mitverletzung der benach¬ 
barten Synovialis. Getötet nach 3 Tagen. Der Kollodiumverband 
ist zur Hälfte abgerissen. Die Hautnaht hat nicht ganz gehalten; 
die Naht der Gelenkkapsel schließt dicht ab. Mikroskopischer Be¬ 
fund: Die Verletzung geht bis in die Markhöhlen. Ihr aufgelagert 
ist eine Masse mit vielen runden Kernen. Am Knorpel und Knochen 
keine Veränderungen. 


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üeber HeiluDg von Wanden des Gelenkknorpels. 
Fig. 1 (Fall 1). 


181 


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Fall 3. 3 Monate alt, operiert wie Fall 1. Getötet nach 

7 Tagen. Der Eollodiumverband fehlt, einzelne Hautnähte sind ein¬ 
gerissen. Die Eapselnaht hat gehalten. Im Gelenk klare Flüssig¬ 
keit, keine Eiterung. Mikroskopisch: An Schnitten, wo die Ver¬ 
letzung nur den Enorpel getroffen hat, sieht man die Wunde so, 
als wenn sie frisch gesetzt wäre, ohne jede Veränderung an den 
Enorpelzellen. 

Fall 4. 5 Monate alt, Abtragung von 5 kleinen Enorpel- 

scheiben aus den Femurkondylen, extraperichondral. Getötet nach 
7 Tagen. Heilung per primam intentionem. Im Gelenk klare 
Flüssigkeit. Mikroskopisch: Dem Enorpeldefekt aufgelagert eine Fibrin- 
masse mit abgeplatteten Eemen durchsetzt. Am Enorpel selbst 
keine Veränderung. 

FaU 5. 3 Monate alt. Abtragung von Enorpelscheibchen aus 

der Höhe der Femurkondylen ohne Mitverletzung der Synovialis. 
Getötet nach 10 Tagen. Völlige Verklebung der Operationswunde. 
Im Gelenk klare Flüssigkeit. Mikroskopisch: In der Schnittfläche 
des Enorpels eine fibrilläre Schicht mit kleinen rundlichen und läng¬ 
lichen Eernen. Der Enorpel ist kaum verändert. An einer Stelle 
ist eine Markhöhle deutlich eröffnet. In ihrer Umgebung ist die 
Auflagerung dichter, während sie in der Nähe des nicht verletzten 
Enorpels dünn ist. Die Markräume unter der Abtragung sind 
faseriger, zellenreicher auf Eosten der Fettzellen. Die Auflagerung 
ist gefäßhaltig, sie wuchert aus dem mitverletzten Markraume heraus, 
füllt bei einigen Präparaten den Enorpeldefekt fast vollkommen aus. 


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182 


E. Gramer. 


Fig. 2 (Fall 5). 



Fall 6. 3 Monate alt. Abtragung yon kleinen Knorpel¬ 

scheiben ohne Knorpelhaut aus den Kondylen. Getötet nach 14 Tagen. 
Die Operationswunde ist geheilt. Im Gelenk kein Zeichen einer 
Entzündung. Mikroskopisch: An einzelnen Präparaten geht der 
Knorpeldefekt bis in den Knochen hinein, dieser ist mitverletzt; an 
anderen hat er nur den Knorpel getroffen. An letzteren zeigen die 
Knorpelzellen keine Abnormitäten. Dagegen ist in den unter dem 
Knorpel liegenden Markräumen das Bindegewebe vermehrt und mehr 
mit Zellen ausgefüllt, als es der Norm entspricht. Die Präparate, 
bei denen der Knochen mitverletzt wurde, zeigen einen Abschluß 
der Knochen wunde durch dichtes Bindegewebe mit vielen Kernen. 
Der Knorpel ist reaktionslos, der Knochendefekt durch Bindegewebe 
abgeschlossen und überbrückt. 

Fall 7. 3 Monate alt. Exzision von je einer Knorpelscheibe 

aus der Kondylenhöbe mit Schonung der Knorpelhaut. Tod nach 
51 Tagen. Das operierte Bein ist atrophisch: das Kniegelenk frei 
beweglich, die Narbe unter den Haaren kaum sichtbar. Im Gelenk 
klare Synovialflüssigkeit. Mikroskopisch: Von seiten des Knorpels 
so gut wie keine Erscheinungen, auch nicht in seinen Zellen. Der 
Schnitt geht bis in den Knochen, lieber der Knorpelschnittfiäche 
eine Schicht Bindegewebe mit abgeflachten Kernen, die sich scharf 
von jener trennen läßt. Bei Färbung mit Gieson werden die Kerne 


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lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels. 183 

Fig. 8 (FaU 7). 



schärfer rot wie die Enorpelzellen. An der Schnittfläche des Kno¬ 
chens sieht man deutlich, daß das Bindegewebe in die Markräume 
übergeht, es ist gefaßhaltig und viel dichter wie das entsprechende 
Oewebe in Fall 6. 

Fall 8. 3 Monate alt, operiert wie Fall 7. Getötet nach 

96 Tagen. Kniegelenk völlig beweglich. Geringe Atrophie des 
Beines. Im Gelenk klare Flüssigkeit. Mikroskopisch: An Prä¬ 
paraten, an denen nur der Knorpel allein verletzt wurde, erscheinen 
an einer kleinen Stelle die Knorpelzellen vermehrt, die Reihenstellung 
ist nicht mehr vorhanden, die Knorpelzellen stehen in Nestern und 
Haufen; aber es sind noch die rundlichen Knorpelzellen. Nirgends 
Kallus oder Hyperplasie der Knorpelzellen, keine Spur von Repa¬ 
ratur oder Knorpelneubildung. An den Präparaten, wo die Ver¬ 
letzung bis in den Knochen geht, ist die Knorpelschnittwunde ab¬ 
geschlossen durch eine dichte, dünne Schiebt, die mit den Markräumen 
in Verbindung steht. Letztere sind unter dem Defekt kern reicher. 
Am Knorpel keine Veränderungen, auch keine Bedeckung desselben 
in der Nähe der Knochenwunde mit Bindegewebe. 

Fall 9. 3 Monate alt. Inzision in den Knorpel auf der Höhe 
der Kondylen. Getötet nach 3 Tagen. Der Kollodium verband hat 
gehalten. Die Gelenkflüssigkeit ist leicht getrübt. Mikroskopisch: 
Der Inzisionsspalt geht bis in die Mitte der Knorpeldecke. Er ist 
ausgefüllt mit einer feinkörnigen Masse, die sich mit Pikrin gelb 
färbt; sie kann Fibrin sein, das aus der Synovia oder den ange¬ 
schnittenen Knorpelzellen stammt; in seiner obersten Schicht ein 


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184 


E. Gramer. 



rundlicher Kern, der möglicherweise 
von einer angeschnittenen Enorpel- 
zelle herrührt. Die an den Schnitt 
grenzenden Knorpelzellen verhalten 
sich normal. 

Fall 10. 5 Monate alt. Ein¬ 
schnitte in die Kondylen. Getötet 
nach 6 Tagen. Die Hautnaht klafft, 
die Eapselnaht ist dicht. Mikroskopisch 
finden sich ungefähr dieselben Bilder 
wie in Fall 9. Die an die Inzisionen 
grenzenden Knorpelpartien scheinen 
^ etwas zellfreier. Die Knorpelzellen 
scheinen leicht geschwunden zu sein. 
Zu beiden Seiten des Schnittes im 
? Bereiche einer 2 mm breiten Zone 
^ bei starker Vergrößerung Andeutung 
von Nekrobiose ? In der obersten Partie 
der Wunde eine feinkörnige Masse, 
die oben homogen ist. Der Knorpel¬ 
zellenschwund ist nur an einigen Prä¬ 
paraten sichtbar. 

Fall 11. 5 Monate alt; ope¬ 

riert wie Fall 10. Tod nach 5 Tagen. 
Haut- und Kapselnaht hat gehalten. 
Im Gelenk klare Flüssigkeit. Mikro¬ 
skopisch : Man sieht unter dem Schnitt 
im Knorpel, der fast gar nicht klafft, 
keine Veränderungen. Die Knorpel¬ 
zellen sind absolut nicht verändert. 


Bei einzelnen Präparaten befindet sich in der obersten Partie eine 
strukturlose, homogene Masse. 


Fall 12. 3 Monate alt. Schnittwunde in beide Kondylen. 

Zwei Hautnähte eingerissen, im übrigen primäre Heilung. Tod nach 
10 Tagen. Im Gelenk klare Gelenkfiüssigkeit. Mikroskopisch: Die 
Inzision erstreckt sich bis in die Grenze von Knorpel und Knochen. 


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lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels. 
Fig. 5 (Fall 10). 



Fig. 6 (Fall 12). 



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185 



186 


K. Gramer. 


Der Eiiochen klafft in der Peripherie, ist hier ausgefüllt mit einer 
Masse, in der sich langgezogene und runde Kerne befinden, da¬ 
zwischen einige Fibrillen, die wie Bindegewebe aussehen. Dies kann 
nicht aus der Tiefe kommen, weil der Schnitt hier leer ist und 
klafft. Von seiten der angrenzenden Knorpelzellen keine Andeutung 
von Beziehung zu dem ausfüllenden Gewebe. Die Schnittränder 
des Knorpels sind glatt. Die Umgebung bietet keine Anhaltspunkte 
über die Herkunft dieses Füllgewebes (wahrscheinlich Wucherung 
der mitverletzten angrenzenden Gelenk- oder Knorpelhaut). 

Fall 13. 3 Monate alt, operiert wie Fall 12. Getötet nach 

7 Tagen: primäre Heilung. Normale Synovialflüssigkeit. Mikro¬ 
skopisch: Die Inzision verläuft tangential der Länge nach im 
Knorpel; es ist also eine Knorpelscheibe teilweise abgetrennt, die 
an einer Stelle noch breit mit dem Knorpel in Verbindung steht. 
An einigen Präparaten geht der Schnitt bis in das Knochengewebe. 
Die Knorpelscheibe scheint sich stellenweise wieder angelegt zu 
haben. Zwischen beiden Knorpelschichten reihen sich längliche 
Kerne, die möglicherweise die Verklebung bedingen, denn beim 
Heben der Röhre scheinen die Knorpelzellenreihen ineinander über¬ 
zugehen. Ueber das Ganze nach dem Gelenk zu eine deutliche 
Bindegewebsschicht, die wenig Kerne enthält. In der obersten 
Schicht sind die Knorpelzellen etwas undeutlicher. Das Bindegewebe 
scheint von außen zu kommen; keine Erscheinungen, die seine Ent¬ 
stehung aus dem Knorpel zulassen. 

Fall 14. 4 Monate alt. Inzision in den Knorpel der Kon- 

dylen mit Schonung des Perichondriums resp. der Synovialis. Ge¬ 
tötet nach 53 Tagen. Narbe in den Haaren kaum zu sehen. Leichte 
Atrophie des Beines. Synovialflüssigkeit klar. Mikroskopisch: Man 
sieht zwei Einschnitte, der eine geht bis zur Mitte der Knorpelzone, 
der andere bis in die Markliöhle. Die Schnitte sind glatt; die an¬ 
liegenden Knorpelzellen scheinen normal erhalten. Keine Spur von 
Verklebung, keine Wucherung der Knorpelzellen, keine Mitosen. 
Im tiefsten Teile des Einschnittes setzt sich der Inhalt der an¬ 
geschnittenen Markhöhle fort. Seine Grundsubstanz besteht aus 
faserigem Bindegewebe mit einigen Markzellen; sie ist hineinge¬ 
wachsen, nach der Peripherie zu kompakter. 

Fall 15. 3 Monate alt. Abtragung von Knorpel mit Knochen 

bis zur Grenze des Perichondriums. Tod nach 10 Tagen. Primäre 


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187 


lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpeis. 
Fig. 7 (Fall 14). 



Verklebung, klarer Gelenkinhalt. Mikroskopisch: Der Defekt ist 
ausgefüllt mit einer Schicht faserigen Bindegewebes, welches aus 
dem angeschnittenen Knochenmark stammt und die angrenzenden 
Knorpelwundränder noch eine Strecke weit überzieht. Die angren¬ 
zenden Markräume zeigen deutlichere Faserung des Bindegewebes als 
die abstehenden. Ueber einer Partie mit unregelmäßig gelagerten 
reichlichen Fasern eine Schicht regelmäßigen, in Längszügen liegenden 
Bindegewebes mit viel länglichen Kernen, die sich nach dem Peri- 
chondrium hin erstreckt. An den Knorpelzellen keine auffallenden 
Erscheinungen. 

Fall 16. 3 Monate alt. Abtragung einer Schicht Knorpel 

mit Knochen und Perichondriura. Tod nach 14 Tagen. Operations¬ 
wunde völlig verheilt. Gelenkflüssigkeit klar. Mikroskopisch: Aus 
den angeschnittenen Markräumen sieht man deutlich Bindegewebe 
herauswachsen. Dieses schiebt sich über die Knorpelschnittfläche und 
auch über die benachbarte nicht verletzte Knorpelpartie hinweg in 
Form von ungefähr parallel liegenden Fasern mit einigen Zellen und 


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188 


K. Craraer. 


deutlichen Gefäßen. Das Bindegewebe setzt sich fort bis in das 
Perichondriura; die Knorpelzellen zeigen keine Veränderungen. 

Fall 17. 4 Monate alt. Abtragung von Knorpel mit Knochen 

und Perichondrium. Tod nach 74 Tagen. Fast völlig primäre 
Heilung. Gelenkflüssigkeit frei von abnormen Bestandteilen. Mikro¬ 
skopisch: Dem angeschnittenen Knochen liegt eine dichte, dünne 
Bindege websschicht auf. Die Knochenschnittfläche ist glatt, das ihr 
aufgelagerte Bindegewebe ist sehr dünn, an einzelnen Stellen liegt 
glatter Knochen frei zu Tage. An den Knorpelzellen nichts Be¬ 
sonderes. 

Fall 18. Das Präparat verunglückte bei der Härtung. 

Das Ergebnis meiner Studien stimmt vollkommen überein mit 
den Ansichten von Kolliker, Rokitansky, Thiersch und Gurlt, 
die ich oben näher angeführt habe. Ich betone hierbei, daß ich 
nur ganz kleine Wunden setzte und daß stets primäre Heilung ein¬ 
trat. Ich kann deshalb über die auffälligen Giessehen Befunde 
von völliger Reparatur der Knorpelwunden infizierter Gelenke durch 
Knorpelzellen nicht urteilen. Die Vorgänge im Gelenkknorpel nach 
Setzung von Wunden, welche teils nur den Knorpel, teils diesen 
und den darunterliegenden Knochen oder die benachbarte Synovial¬ 
haut oder die Knorpelhaut mitgetroflfen haben, sind meinen Prä¬ 
paraten nach folgende: 

Wird der Knorpel allein verletzt, sei es durch Schnitt oder 
durch Abtragung einer kleinen Scheibe, so sieht man in den ersten 
Tagen Fibrin oder eine fibrinähnliche Masse mit einzelnen Kernen 
der Wunde aufgelagert. Die Kerne mögen stammen aus durch¬ 
schnittenen Knorpelkapseln oder aus dem Blute. Die Knorpelzellen 
an der Schnittwunde verändern sich meistens gar nicht, ab und zu 
werden sie kernreicher und verlassen ihre Reihenstellung, als ob sie 
einen Anlauf nehmen und sich verändern wollten. Hierbei bleibt es 
aber auch. Nie habe ich Karyokinese gesehen, nie auch nur eine 
Andeutung von Proliferation und deshalb auch nie einen Knorpel¬ 
kallus. Auch eine Verklebung des Knorpels konnte ich nicht ent¬ 
decken. Die Knorpelwunden bieten vielmehr nach 2—3 Monaten noch 
genau denselben Befund wie am 3. Tage nach der Verletzung. Ich 
stimme demnach in dieser einen Frage mit Gies und Seggel voll¬ 
kommen überein, die die aseptischen Knorpelwunden ebenfalls nicht 
heilen sahen. 


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lieber Heilung von Wunden des Gelenkknorpels. 


189 


Ganz andere Bilder bieten die Präparate von Wunden, bei 
denen der Knochen mitverletzt wurde. Hierbei beobachtete ich in 
den ersten Tagen ebenfalls eine dem Defekt oder Schnitte aufge¬ 
lagerte Fibrinschicht. Nach 6—10 Tagen ist diese verschwunden 
und aus dem angeschnittenen Knochenmark wuchert Bindegewebe 
in die Knorpelknochenwunde hinein. Dieses ist vaskularisiert. Die 
Markräume in der Gegend der Verletzung, und zwar auch die nicht 
angeschnittenen, enthalten mehr Zellen und Fibrillen, als es der 
Norm entspricht, auf Kosten der Fettzellen. Das Bindegewebe füllt 
den Defekt aus und wuchert noch etwas in dessen Umgebung über 
den normalen Knorpel hinweg. Es ist anfangs locker, wird dann 
immer straffer, legt sich der Wunde dichter und engumschließetider 
an. Nach 3 Monaten bedeckt es nur noch die angeschnittenen 
Markräume, läßt an anderen Stellen Knochenschnittflächen deutlich 
in die Gelenkhöhle zu Tage treten. Niemals sah ich irgendwie 
Neigung dieses Bindegewebes, sei es, daß es stamme aus dem 
Knochen, der Knorpel- oder der Gelenkhaut, zur Metaplasierung des 
Faserknorpels oder Hyalinknorpels. Auch die Knorpelzellen der In¬ 
zisionen verhalten sich absolut passiv. Niemals sah ich bei diesen 
Präparaten Karyokinese, hier im Gegensätze zu S e g g e 1, der Knorpel¬ 
neubildung mit Neubildung von Grundsubstanz gesehen hat; aller¬ 
dings nur in ganz geringem Maße. 


Für die liebenswürdige Unterstützung bei dieser Arbeit sage 
ich meinem Freunde, Prof. Zumstein (Anatomie zu Marburg a. L.), 
besten Dank. 


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190 


K. Gramer. 


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11. Zopp, Ueber Entzündung im Knorpelgewebe. Inaug.-Diss. Königsberg 

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13. Barth, Zentralbl. für die medizinischen Wissenschaften 1869, Nr. 4 S. 625. 

Ueber die Regeneration des hyalinen Knorpels. 

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16. Genzmer, Arch. f. pathol. Anatomie, Physiologie und klin. Medizin 1876, 

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17. Schwalbe, Sitzungsberichte der Jenaischen Gesellschaft für Medizin und 

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18. Tizzoni, Arch. per le Science mediche 1878, Teil II S. 28. 

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21. Sieveking, Morphologische Arbeiten, herausg. von Dr. G. Schwalbe 

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22. Ghillini, Arch. f. klin. Chir. 1893, Bd. 46 S. 845. Experimentelle Unter¬ 

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23. Solger, Arch. f. mikroskopische Anatomie, herausg. von 0. Hertwig 

in Berlin 1893, Bd. 42 S. 648. Ueber Rückbildungserscheinungen im 
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39. Jo res, Zentralbl. f. allgem. Pathologie und pathologische Anatomie. Be¬ 

merkungen über die Regeneration des Knorpels. 1905. 


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XIII. 


(Aus der chirurgisch-gynäkologischen Klinik des Stabsarztes a. D. 

Dr. Evler in Treptow a. R.) 

lieber die Verwendbarkeit 
des Gbromleders zu ortbopädiscben Apparaten, 
insbesondere zn Scbienenbülsenstreckverbänden, 
welche dem Körper nnmittelbar an- nnd nacb- 
znpassen sind'). 

Von 

Dr. Karl Evler. 

Mit 7 Abbildungen. 

Das in der Automobilbranche benutzte Chromleder ist derart 
zugfest, stützkräftig und schmiegsam, daß es sich wie kein anderes 
Material zu orthopädischen Verbänden eignet; es ist leicht, reizt die 
Haut nicht, seine Wärmeleitung ist zu derselben passend, durch 
Feuchtigkeit wird ihm seine Gare nicht entzogen, es bleibt weich 
und haltbar; auch nach ständigem Tragen durch 5 Monate hindurch 
auf dem bloßen Körper ändert es seine Eigenschaften nicht, nur in 
etwas seine Farbe (Demonstration). Ebenso wie am Hartleder lassen 
sich im Chromleder Schienen unverrückbar befestigen. Wie sehr in 
ihm Stahlnieten haften, zeigen den Druck eines Autos aushaltende 
Gleitschutzriemen. Vor dem Hartleder hat das Chromleder den 
überaus großen Vorteil, daß mit ihm dem Körper unmittelbar ohne 
Gips- oder Holzmodelle Apparate anzupassen sind. Da es sich genau 
den vorspringenden Knochen oder Muskeln anschmiegt, wird außer¬ 
dem schon mit verhältnismäßig schmalen Streifen selbst bei starker 
Extension eine genügende Verteilung des unvermeidlichen Druckes 


*) Vortrag zum VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für orthopädische 
Chirurgie am 25. April 1908; abgekürzt vorgetragen. 


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üeber die Verwendbarkeit des Chromleders etc. 


193 


auf die Weichteile erreicht und Stauung, Druckbrand oder eine andere 
Schnürschädigung, wie Furchenbildung und Abmagerung, bei einiger 
Vorsicht vermieden; selbst wenn sich das Chromleder etwas auf die 
Kante stellen sollte, verursacht es keinen schmerzhaften Druck. Es 
hat demnach nicht die Nachteile von Gipshülsenverbänden, von den 
ebenfalls knochenharten Manschetten aus Transparentleder mit Zellu¬ 
loidüberzug, oder von gepolsterten Blechbändern mitRiemenschnallung, 
den Spangenapparaten der älteren Technik, und es bedeutet der 
Uebergang von den breiten Hartleder- zu den schmalen Chromleder¬ 
hülsen keinen Rückschritt, sondern eine erhebliche Förderung der 
orthopädischen Technik. Die Chromledermanschetten sitzen, trotz¬ 
dem sie nur eine kleine Fläche bedecken, besser als größere harte 
Hülsen, da sie der Haut überall glatt anliegend den Körperteil fest 
und sicher und doch weich wie Menschenhände umfassen und vor 
allem die Volumenschwankungen der Gliedmassen bei Bewegungen 
mitmachen, während ebenso eng anschließende starre Spangen diese 
hindern würden; letztere können außerdem schon nach der Art der 
Anfertigung des Modells in Mittelstellung zwischen den Extremen 
der später beabsichtigten Bewegungen und bei dem Nacharbeiten 
an dem Rohmodell nicht genau passend hergerichtet werden. Spangen 
aus unnachgiebigem Material sind daher ebenso wie harte Hülsen 
vorzugsweise für fixierende Verbände geeignet, für portative nur dann, 
wenn von der Schnürlasche ausgiebige Anwendung gemacht wird. 

Im Gegensatz zu der schwierigen Anfertigung der Hülsen¬ 
schienenapparate aus Hartleder, welche besonders darauf eingearbeitete 
Handwerker und Tage erfordern, gestaltet sich die Herstellung der 
Chromlederschienen verbände sehr einfach. Verwendet wird ca. 5 mm 
dickes Chromleder, das als ganze Haut bezogen sich auf ca. 6 Mark 
pro Kilogramm stellt und 2—3 mm dünnes, von dem der Quadrat¬ 
meter gegen 15 Mark kostet (Lederabfälle aus Sattlereien und Leder¬ 
fabriken, z. B. Reithosenbesatzabfälle stellen sich erheblich billiger); 
letzteres kann durch 3mal billigeres, allerdings nicht so haltbares 
Kunstleder ersetzt werden, sei es Pegamoid, Pantasote, Duro oder 
Pluviusin; das letztgenannte wird zu demselben Preise auch in grauer 
Farbe geliefert und erwies sich ziemlich widerstandsfähig. 

Von dem dicken Chromleder werden mit einem Messer nach 
den mittelst Meßband gewonnenen Zahlen die passenden Riemen zu¬ 
rechtgeschnitten. 

Ein verstellbarer Schluß zu Hülsen erfolgt durch Schnallen, 

Zeitschrift filr orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 13 


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Karl Evler. 


Schnüren oder Knöpfen, als Lasche ist an den Streifen ein ent¬ 
sprechender Rand freizulassen; entweder greifen Haken in Blech¬ 
schnallenleitern ein, ähnlich den bei der Fußbekleidung verwendeten, 
oder in hierzu durchlochte Chromlederriemen; beide werden auf¬ 
genäht, Als Schnürvorrichtung sind die gebräuchlichen Schnür- 
haken oder Schnürösen zu benutzen; bei ersteren ist zum Umschlagen 
in das Leder außer Hammer und Meißel noch ein den Haken ein¬ 
klemmendes Werkzeug notwendig, leicht gehen auch die metallenen 
Schnürösen der Schnürschuhe in das Leder einzusetzen, sei es mit 
einer besonderen Druckzange oder mit dem Kerner, einem unten 
kreisrunden Meißel; bei ihrer Benutzung ist eine lose Lasche aus 
weichem Chromleder vorzusehen oder auf der einen Seite ein Stück 
Leder mit Oesen durch Pechdrahtnähte aufzusetzen. Auch das Be¬ 
festigen von Riemen an Druckknöpfen ist empfehlenswert. 

Das genaueste Anpassen der Hülsen erhält man mit Schnür- 
vorrichtungen; wenn es auf schnelles Anlegen ankommt, ist die be¬ 
schriebene Schnallung vorzuziehen. Unbefugtes Oeffnen kann durch 
Schließen mit schmiegsamem Kupferdraht verhütet werden. Bei der 
Befestigung der Schienen an das Leder sind möglichst breite An¬ 
griffsflächen zu erstreben und kugelartige Gebilde, die durch Hebel¬ 
wirkung Druck auf die Haut ausüben könnten, zu vermeiden. 

Um für allgemeinere Anwendung gebrauchsfertige Chromleder¬ 
streifen zu erhalten, dienen zur Aufnahme der Schienen mittelst 
Schrauben verstell- oder verschiebbare Blechösen oder scheidenartige 
nebeneinander auFgenähte Fächer aus weichem Chromleder oder an¬ 
einander gereihte Blechhülsen bezw. plattgearbeitete Metallscheiden; 
wenn diese, wie am Kniegelenk, zum Durchlässen der Schienen beider¬ 
seits olfen sind, werden sie zweckmäßig aufklappbar eingerichtet, 
uni das sonst lästige Auseinandernehmen und Durchstecken der 
Schienen beim Anpassen oder bei Aenderungen zu vermeiden. 

Aber auch von Fall zu Fall sind Bleche zum Halten der 
Schienen mit den üblichen Nieten leicht zu befestigen; diese sind 
hierbei tief in das dicke Leder einzulassen und können nach Ab¬ 
feilen durch Herausschlagen entfernt werden. 

Besser zur Selbstherrichtung geeignet sind selbstzubiegende 
Oesen aus verzinntem Eisendraht von 1 mm Durchmesser; die in 
vorgebohrte Löcher eingeführten Drahtenden werden so umgeschlagen, 
daß die Spitzen sich zuerst etwas krümmen, um dann in dem dicken 
Leder völlig zu verschwinden. Werden aus Draht mehrfach ge- 


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üeber die Verwendbarkeit des Chromleders etc. 


195 


wundene Oesen zurechtgebogen, so erhält man einen einfachen Er¬ 
satz der Schnürvorrichtung (Fig. 1). Auf dem Bilde befindet sich 
ein Werkzeug, das mehrere der erforderlichen Instrumente, Hammer, 
Pfriem, Schraubenzieher, Lochzange, zusammenfaßt. 

Wird dünnes Chromleder genommen an Teilen, die schwer mit 
dickem sich umgeben lassen, wie die Dammgegend, Achselhöhle und 
Fußsohle, so sind diesem als Nietenträger Stücke von dickerem Leder 
aufzusetzen. 

Als Schienen bevorzuge ich Stahlrohre, um in dieselben, wenn 


Fig. 1. 



nach Lage des Falles irgend möglich, nach beiden Seiten wirkende, 
richtig gehärtete, nach Länge und Federung abgepaßte Spiralfedern 
einzusetzen und so die von Oberstabsarzt Herrmann-Potsdam an¬ 
gegebene Spiralfederextension zu erhalten. Durch diese wird ein 
Haupteinwand, der gegen orthopädische Apparate mit Recht zu er¬ 
heben ist, sehr abgeschwächt, die atrophierende Wirkung. 

Für die Gelenke benutze ich Scharniere, Drehung dieser wird durch 
Anschrauben der das Scharniergelenk bildenden Stifte an die Rohre ver¬ 
mieden oder bei eingelegten Spiralfedern durch Regelung der Bewegung 
mittelst Schlitzbildung in den Rohren. Aus demselben Grunde sind die 
Blechhülsen viereckig gestaltet und die Rohre oben gekantet. 


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196 


Karl Evler. 


Die Stahlrohre werden als nahtlose bezogen, das Durchfeilen 
geht schnell vor sich; es empfiehlt sich Vernickeln der Metallteile. 

Gegenüber den bisher gebräuchlichen Apparaten erreiche ich 
mit Hilfe des Chromleders, daß nicht nur vorspringende Knochen, 
sondern noch am Umfang zunehmende Muskeln als Halt- und Stütz¬ 
punkte genommen werden können; es gelingt, die Rumpf last auf 
die Beine anstatt auf den Boden zu übertragen und statt das Tuber 
ischii wie bei den Reitapparaten zu belasten, die Chromlederhülsen 
an den nach den Becken zu sich verbreiternden Oberschenkelmuskeln 
genügenden Halt finden zu lassen. 

Einen nach diesen Prinzipien konstruierten Apparat, der die 
Huetersche Gehmaschine zum Vorbilde hat, kann ich Ihnen im Ge¬ 
brauch zeigen. Es kam bei der 23jährigen Patientin darauf an, die 
Schädigungen, welche die linkseitige kongenitale Hüftgelenksluxation 
zur Folge hat, möglichst zu verringern und auf der rechten Seite 
das Resultat der wegen desselben Leidens vorgenommenen operativen 
Methode, Schlottergelenk und Verkürzung, nach Wegnahme des 
Schenkelkopfes zu verbessern. 

Ohne Apparat ist die Haltung der Patientin zwergenhaft zu- 
saramengesunken, die Lendenwirbelsäule ist sattelförmig eingebogen, 
der Leib stark vorgetrieben, die Schultern sind zurückgezogen, Ober¬ 
und Unterschenkel stehen in Beugung, die Füße in Spitzfußstellung. 
Der rechte Schenkelkopf war 1895 zum Teil, der Rest 1902 entfernt; 
abgestorbene Knochenteile erforderten wegen Eiterung noch vor 
3 Jahren eine Operation. Dadurch, daß längere Zeit rechts Hülsen¬ 
schienenapparate getragen waren, in denen das rechte Bein nur hing, 
ist es erheblich abgemagert und kraftlos. Ein gegen die fehler¬ 
hafte Stellung der oberen Körperhälfte wirkender Geradehaltei* legt 
die Rumpflast unter Ueberspringen der Hüftgelenke durch Beinstütz¬ 
apparate auf die Beine. 

Im einzelnen ist die Zusammensetzung folgende: An dem chrom¬ 
ledernen Beckengürtel von 6 cm Breite und 5 mm Dicke, der durch 
eine Schnalle mit Blechleiter geschlossen wird und rechts tiefer ge¬ 
stellt ist, sind die nach dem Körper gebogenen Stahlrohre des Ge¬ 
radehalters befestigt. Diese enthalten Spiralfedern und Stahlstäbe, 
welche nach oben hin zu Achselstützen gabelförmig auslaufen. Durch 
dickes Chromleder, das von dünnerem umgeben ist, sind die Arm¬ 
krücken hinreichend gepolstert. Der Leib wird mit einem hand¬ 
breiten dünnen Chromledergurt zurückzudrängen gesucht. Die Ge- 


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Ueber die Verwendbarkeit des Chromleders etc. 


197 


radehalterstangen gehen über in die Außenschienen für die Beine. 
Flexion im Hüftgelenk zum Hinsetzen ermöglichen kurz unterhalb 
vom Beckengürtel angebrachte Scharniergelenke. 

Die Fixierung der Hüftgelenke sowohl des rechtseitigen Schlotter- 
gelenks als des linkseitigen verschiebbaren Schenkelkopfes wird durch 


Fig. 2. 


Fig. 3. 




weiche Chromlederkapseln und deren Befestigung an die Ober¬ 
schenkelschienen erreicht. Die hierzu dienenden festanzuziehenden 
Lederriemen wirken zugleich der Adduktionsstellung der Beine ent¬ 
gegen. Um das Einknicken der Kniegelenke zu verhindern, sind 
Hoeftmansche Gelenke mit der Achse nach hinten angewendet, an- 


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198 


Karl Evler. 


fangs war das Tragen einer Kniekappe an der rechten Innenseite 
erforderlich; bei der Verkürzung des rechten Beines um 5 cm gegen 
links ist außer Tieferstellen des Beckengürtels an der rechten Seite 
Erhöhung der Sohle um 1,5 cm nötig geworden. 

In sämtliche Rohre sind Spiralfedern eingelegt, um die Muskel¬ 
tätigkeit zu heben und zu fördern. Patientin geht mit diesen leichter 
als ohne und fühlt selbst die von denselben ausgehende Unterstützung. 
Im Gegensatz zu den früheren Apparaten tritt eine Stärkung und 
Zunahme der Beinmuskulatur durch das Gehen ein. Der Apparat 
wird seit einigen Wochen getragen; Patientin legt mit demselben, 
ohne daß sie sich auf einen Schirm stützt, bereits Wege bis zu 
2 Stunden ohne Ermüdung zurück. Von systematischen Gehübungen 
und ausgiebigem Massieren und Elektrisieren der Muskeln wird 
weitere Besserung zu erhoffen sein, vielleicht auch der Apparat 
durch Fortfall der ünterschenkelschienen vereinfacht werden können; 
er wiegt 3 kg. 

Wie wichtig die Beseitigung der Adduktion der Schenkel ist, 
die durch Auswärtsbiegung der Schienen, Streckung der Kniegelenke 
durch die Hoeft man sehen Scharniere und durch die Rotations¬ 
züge zu stände kommt, zeigen die beiden Röntgenogramme. Der 
linke Schenkelkopf, der die Neigung hat, nach hinten oben abzu¬ 
weichen, wird durch den Apparat daran gehindert und gegen das 
Becken angepreßt; er findet an diesem festeren Halt und wird sich 
mit der Zeit eine bessere Pfanne bilden, ebenso wie Kräftigung der 
vorderen Hüftmuskeln, welche nun die Hauptarbeit beim Gehen zu 
leisten haben, zu erwarten ist. Wenn es sich in derartigen Fällen 
auch nur um helfende, nicht um heilende Wirkung handeln kann, 
so ist doch zu bedenken, daß mit der Hebung der Gehfähigkeit 
auch die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit und die Lebensfreudigkeit 
zunimmt. 

Für veraltete traumatische Hüftgelenksluxationen und zur Nach¬ 
behandlung eingerichteter Hüftgelenksverrenkungen dürften sich ähn¬ 
liche Verbände zweckmäßig erweisen; auch können die von Hoeft- 
man auf dem I. und H. Kongreß angegebenen Apparate^) mit dem 
Chromleder hergestellt werden. 

Bei tuberkulöser Coxitis habe ich den nebenstehend abgebildeten 


Verhandlungen des 1. Kongresses I, 21, und Verhandlungen des IV. Kon¬ 
gresses I, 20. 


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üeber die Verwendbarkeit des Chromleders etc. 


199 


Verband angewendet, anfangs bis zu den Knöcheln gehend, später 
nur bis zum Knie. Festlegung des Hüftgelenks in der gewünschten 
abduzierten Stellung findet durch einen vorn von der Mitte des 
Beckengürtels quer nach der Außenseite des Kniees als Sperr¬ 
schiene verlaufenden Eisenstab statt. Der Kranke, welcher die 
ersten Wochen nach dem Redressement in Gips gelegt war, konnte 
den Unterschied zwischen beiden fixierenden Verbänden würdigen. 

Der Geradehalter an sich mit Spiral- 
federextensioQ ist namentlich für das erste 
Stadium bei beginnenden Skoliosen, bei denen 
die Heilung noch aussichtsvoll ist, als porta¬ 
tiver Apparat empfehlenswert, ohne daß das 
Heilmittel schlimmer ist als die Krankheit. 

Die Wirbelsäule wird zwischen dem 
unterhalb der Darmbeinstacheln umgelegten 
dicken Chromlederriemen, dessen Tiefer¬ 
treten die nach unten zunehmende Glutäal- 
gegend verhindert und den Achselstützen 
extendiert. Damit diese den seitlichen Brust¬ 
wandungen genau anliegen und nach oben 
ziehend wirken können, teilen sich die beiden 
Geradehalterstangen oben in zwei gebogene 
Schenkel zur Aufnahme dicker Chromleder¬ 
handhaben. 

Durch die Spiralen werden die infolge 
Ermüdung einsinkenden Muskeln nicht nur 
aufgefangen, sondern auch gehoben und die 
sonst entgegenwirkenden Drehungen, ein¬ 
seitiges Senken des Beckens, Ausweichen mit den Schultern, werden 
ausgeglichen und verhütet. Die gegen Korsettbehandlung zu er¬ 
hebenden Vorwürfe, der Rumpf entziehe sich der gewünschten Re¬ 
dressionswirkung und es fände eine Atrophie der Weichteile statt, 
bestehen infolgedessen nicht zu Recht. Bisher habe ich über 30 Fälle 
mit diesem Geradehalter behandelt, außerdem gegen 20 mit Spiral¬ 
federextension und dem stählernen Hüftkorb^); ich habe Fälle be¬ 
obachtet, in denen sich der Körper nach einigen Monaten in den 
Apparaten augenfällig gerade gewachsen hat. 

’) Verhandlungen der orthopädischen Gesellschaft für Chirurgie 1906, 
Bd. V, I S. 17. 



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200 


Karl Evler. 



läßt sich derselbe für 25 Mark herstellen; eignet sich somit auch 
für Krankenkassenmitglieder. 

Bei tuberkulöser Spondylitis der unteren Brust- und Lenden¬ 
wirbel haben in sich verschiebbare und festzustellende Seitenschienen 
als doppelte Strebepfeiler zur Entlastung und Fixierung der Wirbel 
beizutragen; auch sind um den Gibbus Halteschlingen zu legen und 
an die Seitenstäbe zu befestigen. 

Zum Stützen der oberen Rücken- und der Halswirbel habe ich 
den Fig. 7 abgebildeten Verband benutzt; in einem Falle konnten 
der Jurymast und die Glisson sehe Schwebe wegen Fistelbildung 
nicht angelegt werden. Zwischen dem Beckengürtel und einem über der 
Stirn und unter dem Hinterkopf angelegten möglichst festgeschlossenen 
dünnen Cliromlederstreifen werden die richtig abgebogenen Metall- 
liolilschienen eingesetzt und eingestellt. Der Verband ist im Liegen 


Meine Versuche mit einer in die Rückenschiene eingesetzten 
Spiralfeder haben mich nicht befriedigt. Dieselbe wirkt nur in der 
Richtung nach oben, zerscheuert die Kleider, trägt auf, ihre richtige 
Stärke ist schwer auszuprobieren, es waren oft Reparaturen not¬ 
wendig, während diese bei dem den Rumpf bewegungen durch die 
Spiralen folgenden Geradehalter fortfallen. Nach Material und Zeit 


Fig. 5. 


Fig. 6. 


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Ueber die Verwendbarkeit des Chromleders etc. 


201 


zu gebrauchen und kann im Umhergehen über den Kleidern ge¬ 
tragen werden. Aehnlichkeit hat mit ihm Beegers^) Brücken¬ 
gipsverband; wie mit diesem kann durch verschiedene Länge der 
Schienen die Kopfstellung beeinflußt und der Apparat auch bei 
Schiefhals benutzt werden, für diesen Fall mit Spiralen. Bei Schief¬ 
hals habe ich einem 1 ^/ 2 jährigen Kinde mit schwerer chronischer 
monatelang sich hinziehender Broncho¬ 
pneumonie und ausgesprochener Rha- 
chitis dem Wunsche der Eltern fol¬ 
gend, Abhilfe ohne Operation zu 
schaffen, versuchsweise den im fol¬ 
genden beschriebenen Apparat ange¬ 
legt. Zwischen Schulter und der ver¬ 
kürzten Halsseite wird eine Spiral¬ 
feder ausgespannt, um ein mit Schienen 
versteiftes Chromlederstück gegen den 
Hals zu drücken. Die Befestigung 
wird durch Schulter- und Achsel¬ 
riemen, auch durch einen vorderen 
und hinteren Riemen und durch ein 
den Apparat zugleich verdeckendes 
Halstuch erzwungen. Der Erfolg war 
aber nur gering. Der Kopf hatte das 
üebergewicht und drückte die Schul¬ 
ter derselben Seite herab; also wäre 
noch ein Geradehalter erforderlich gewesen. Die Unbequemlich¬ 
keit, die das Tragen von nicht unbedingt sicher und nur lang¬ 
sam wirkenden Apparaten verursacht, steht aber nicht im Verhältnis 
zu der sicher und schnell zum Ziel führenden Sehnendurchschneidung. 
Nach dieser dürfte die erwähnte Vorrichtung nur für die jahrelang 
bestandenen Mißbildungen in Frage kommen, bei einfachen Fällen 
genügt die Ueberkorrektur mit Watte oder die gepolsterte Papp¬ 
krawatte. 

Um zu zeigen für wie mannigfache Zwecke sich die Chrom¬ 
lederapparate verwenden lassen, erwähne ich, daß ich bei Oberarm¬ 
und Oberschenkelvenenthrombose Ruhigstellung der Achselhöhle bezw. 
Leistenbeuge unter Freibleiben derselben durch Sperrschienen er- 


Schanz, Handbuch der orthopädischen Technik S. 136. 



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202 Karl Evler. lieber die Verwendbarkeit des Chromleders etc. 

zwungen habe; auch für Bruchbänder dürfte das dicke Chrom« 
leder als Pelotte an sich, das dünnere als Umhüllung Bedeutung 
gewinnen. 

Der erste Fall, welchen ich im Chromlederstreckverbande be¬ 
handelte, war eine schwere rechtwinklige Kniegelenkskontraktur, die 
auf entzündlichem Wege entstanden, 1^/2 Jahre bestanden und zu 
Subluxation geführt hatte; die in den einzelnen Narkosen nach dem 
Langeschen Verfahren erreichten Resultate konnten in dem Ver¬ 
bände fast völlig festgehalten werden und der Kranke, der vorher 
an einer Krücke ging, mit abnehmbarem Schienengeh verband ent¬ 
lassen werden. In diesem Falle und auch sonst hat sich die Chrom¬ 
ledermanschette als brauchbarer Angriffspunkt für den Schrauben¬ 
zug erwiesen. 

Für die Frakturenbehandluug sehe ich im Chromlederstreck¬ 
verbande nach meinen bisherigen Erfahrungen mit demselben ein 
zukünftiges Normalverfahren; ich beziehe mich auf meine diesbezüg¬ 
liche Arbeit in Langenbecks Archiv, Bd. 85 Heft 4. 

Wenn ich kurz noch einmal die Vorteile der Chromleder¬ 
verbände hervorheben darf, gegenübergestellt mit den heutzutage als 
das technisch Vollkommenste geltenden Hülsenschienenapparaten, ins¬ 
besondere den Hessingschen, so ist es der Fortfall des Gips- oder 
Holzmodells, das geringe Gewicht, das Freibleiben großer Stellen 
des Körpers, die leichtere, sofortige, billigere Anfertigung auch ohne 
besonders darauf geschulte Kräfte, die Einschränkung und Verein¬ 
fachung der Reparaturen, die Herstellung von Apparaten für all¬ 
gemeinere Verwendung, welche nur geringer Um- und Abänderung 
bedürfen oder deren Teile sich wenigstens leicht zu passenden Ap¬ 
paraten zusammenstellen lassen, schließlich die Möglichkeit einer aus¬ 
reichenden Muskelbewegung im Verbände. 

Nach allem glaube ich meine Ueberzeugung zum Ausdruck ge¬ 
bracht zu haben, daß durch Verwendung von Chromleder und Stahl 
mannigfache Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten der bisherigen 
orthopädischen Technik vermieden werden, und auch infolge der durch 
die Apparate in einfacher Weise möglich gemachten aktiven und 
passiven Mobilisation öfter und schneller Abhilfe und Nutzen zu 
schaffen ist. 


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XIV. 

(Aus der chirurgischen Abteilung des Allerheiligenhospitals [Prof. 

Tietze] zu Breslau.) 

lieber eine nene operative Methode 
der Behandlung spastischer Lähmnngen mittels 
Resektion hinterer Rtlckenmarkswurzeln’). 

Von 

Privatdozenten Dr. 0. Förster in Breslau. 

Ich möchte mir erlauben, Ihnen über Ergebnisse zu berichten, 
die Professor Tietze und ich bei der Behandlung spastischer 
Lähmungen mittels Resektion hinterer Rückenmarkswurzeln erzielt 
haben. 

Allemal, wenn die von der Großhirnrinde zu dem Rückenmarks¬ 
grau absteigenden motorischen Leitungsbahnen (die corticospinalen 
Bahnen), deren wesentlichste beim Menschen die Pyramidenbahn ist, 
unterbrochen sind, resultiert daraus eine ganz charakteristische uni¬ 
forme Motilitätsstörung, einerlei, an welcher Stelle ihres langen 
Verlaufs von den Zentralwindungen an bis zum Rückenmarksgrau die 
Unterbrechung gelegen ist, einerlei, ob diese Unterbrechung ein- 
oder doppelseitig ist, einerlei, in welchem Lebensalter sie einsetzt. 
Erstens ist immer die Zuleitung motorischer Impulse von der Hirn¬ 
rinde zu den Muskeln aufgehoben oder vermindert, wodurch bestimmte 
willkürliche Bewegungen nicht mehr oder nur schwach ausgeführt 
werden können. Es ist das die paretische Komponente der 
Motilitätsstörung. Auf Einzelheiten derselben kann ich hier nicht 
eingehen. Anderseits geraten aber die Muskeln in einen abnormen 
Zustand unwillkürlicher Erregung und Anspannung, durch 
welchen die Glieder, oft in abnormen Stellungen, ganz abnorm stark 
fixiert werden und infolgedessen sich die Muskeln ihrer Dehnung 
energisch widersetzen, ein Zustand, den man als spastische Muskel¬ 
kontraktur bezeichnet. Es ist ohne weiteres klar, daß diese ab¬ 
norme Fixierung der Glieder durch Muskelspannung an sich ein 

*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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204 


0. Förster. 


bedeutendes ßewegungshindernis darstellt, welches sich zu der pare- 
tischen Komponente der Motilitätsstörung hinzuaddiert. Die spasti¬ 
schen Muskelkontrakturen bei Pyramidenbahnerkrankung stehen in 
enger Beziehung zu der gesteigerten reflektorischen Erregbarkeit der 
Muskeln, welche ja bekanntlich ebenfalls aus der Pyramidenbahn¬ 
unterbrechung resultiert, und wenn man dem Wesen der spasti¬ 
schen Kontraktur nachgeht, so ergibt sich, daß auch ihr nur ein 
pathologisch gesteigerter Reflex Vorgang zu Grunde liegt, 
der seinen Ursprung nimmt in sensiblen Erregungen, die in der Haut, 
den Gelenken, Bändern und vor allem in den Muskeln selbst ent¬ 
stehen, durch die sensiblen Nerven und die hinteren Wurzeln ins 
Rückenmarksgrau geleitet und von diesem durch die Vorderhörner, 
vorderen Wurzeln und motorischen Nerven in die Muskeln reflektiert 
werden. Ein derartiger Reflexvorgang — nennen wir ihn der Kürze 
halber Fixationsreflex —, durch welchen die Glieder in gewissem 
Grade in ihrer Stellung fixiert werden und die Muskeln sich ihrer 
Dehnung in einem bestimmten Maße widersetzen, ist bereits in der 
Norm vorhanden und wird gemeinhin als normaler Bewegungswider¬ 
stand bezeichnet. Daß der Fixationsreflex sich in der Norm nur 
auf dieser schwachen Höhe hält, rührt daher, daß der Cortex cerebri 
durch die Pyramidenbahn fortwährend auf die spinale Reflextätigkeit 
einen hemmenden Einfluß ausübt und dadurch die reflektorische Er¬ 
regbarkeit der Muskeln auf einer sehr geringen Stufe hält. Kommt 
durch Pyraraidenbahnerkrankung dieser reflexhemmende Einfluß in 
Wegfall, dann erreicht die spinale Reflextätigkeit denjenigen be¬ 
trächtlichen Grad, der ihr primär, wenn sie sich ganz selbst über¬ 
lassen ist, innewohnt, und wie die reflektorische Erregbarkeit der 
Muskeln im allgemeinen, so erreicht auch der Fixationsreflex der 
Muskeln im speziellen diejenige beträchtliche Stärke, welche wir in 
der spastischen Muskelkontraktur vorfinden. 

Den sichersten Beweis, daß sowohl die normale Fixation der 
Glieder und der normale Bewegungswiderstand, als auch die ab¬ 
norme Fixation, die die Kontraktur darstellt, auf einem Refiexvor- 
gang beruht, liefert die menschliche Pathologie: Erstens sinkt alle¬ 
mal, wenn die zur Vermittlung des Reflexes erforderlichen sensiblen 
hinteren Wurzeln erkranken (Tabes dorsalis), bei sonst intaktem 
Nervensystem der Fixationsreflex unter die Norm, der Bewegungs¬ 
widerstand wird vermindert, die Muskeln widersetzen sich ihrer 
Dehnunof nicht. Zweitens — und das ist für unser Thema das 

O D 


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üeber eine neue operative Methode etc. 


205 


wichtigere —, wenn zu einer primären Erkrankung der Pyramiden¬ 
bahnen infolge von Seitenstrangserkrankung des Rückenmarks, die mit 
schweren Muskelkontrakturen einhergeht, nachträglich eine Erkran¬ 
kung der Hinterstränge hinzukommt, so schwinden die vorher ent¬ 
wickelten Kontrakturen wieder. Dafür ist aber Voraussetzung, daß 
derjenige Teil der Hinterstränge erkrankt sein muß, welcher die 
spinale Refiexerregbarkeit der kontrakturierten Muskeln vermittelt, also 
bei einer spastischen Paraplegie der Beine, das Gebiet der Wurzel¬ 
eintrittszonen im Lumbosakralmark; Erkrankung der Hinterstränge 
oberhalb des Lumbosakralmarks, also im Halsmark, hebt die Kon¬ 
traktur der Beinmuskeln durchaus nicht auf, auch nicht die Erkran¬ 
kung der Gollschen Stränge. Umgekehrt habe ich des öfteren genau 
verfolgt, daß, wenn zu einer primär vorhandenen Erkrankung der 
Hinterstränge, also bei einer entwickelten Tabes dorsalis, später eine 
Erkrankung der Pyramidenbahn, also z. B. eine Seitenstrangerkran¬ 
kung im Brustmark oder ein Herd in der inneren Kapsel hinzutritt, 
dann zwar eine Parese der Beine, bezw. einer Körperhälfte auftritt, 
daß aber sich keine Muskelkontrakturen entwickeln; ja es ist mir 
dabei regelmäßig aufgefallen, daß die resultierende Bewegungsstörung, 
die paretische Komponente, für sich auffallend gering war und daß 
die vorher bestehende Ataxie etc. geringer wurde. 

Meine Herren! Diesem Winke der menschlichen Pathologie 
brauchen wir nur zu folgen. Wenn die spastische Muskelkontraktur 
wirklich auf einem infolge der Pyramidenbahnunterbrechung unge¬ 
hemmt waltenden Reflexe beruht, so muß man sie dadurch aufheben 
können, daß man ein Glied in der Kette des Reflexbogens 
operativ durchtrennt. Der motorische Teil des Reflexbogens, 
d. h. Vorderhorn, vordere Wurzel, motorischer Nerv, können natur¬ 
gemäß nicht in Frage kommen, da ihre Ausschaltung zwar die Kon¬ 
traktur aufheben, aber gleichzeitig vollkommene schlaffe Lähmung 
der kontrakturierten Muskeln erzeugen würde. Von dem sensiblen 
Anteil des Reflexbogens sind die peripheren sensiblen Nerven mit 
den motorischen Fasern überall so innig gemischt, daß ihre isolierte 
Ausschaltung unmöglich ist. Das von der Natur vorgeführte Ex¬ 
periment, die Ausschaltung der Hinterstränge im Bereich der Wurzel¬ 
eintrittszone, kann auch nicht in Betracht kommen, das Rückenmark 
ist als ein Noli me tangere zu betrachten. 

Bleibt als einzig wirklich isolierbares Stück des sensiblen Teils 
des Reflexbogens die hintere Wurzel. 


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206 


0. Förster. 


Gegen den Gedanken der operativen Resektion hinterer Wur¬ 
zeln zum Zwecke der Beseitigung vorhandener spastischer Muskel¬ 
kontrakturen muß sich aber sofort ein gewichtiger Einwand erheben: 
setzen wir nicht durch die Durchtrennung der hinteren Wurzeln 
andere schwere Störungen, also erstens Sensibilit’ätsstörungen, und 
erzeugen wir nicht dadurch zweitens eine neue Motilitätsstörung, wie 
wir sie ja aus der menschlichen Pathologie als Folge der Erkran¬ 
kung der hinteren Wurzeln in der tabischen Ataxie kennen? Auf 
die Frage der eventuell zu befürchtenden Sensibilitätsstörungen gehe 
ich erst später ein. 

Auf die Frage, ob wir nicht durch die Ausschaltung der hin¬ 
teren Wurzeln die reflektorische Erregbarkeit der Muskeln gänzlich 
auf heben und Ataxie erzeugen, ist folgendes zu erwidern. Keine 
Muskelgruppe — wählen wir einmal ein konkretes Beispiel, den 
Quadriceps femoris — nimmt ihren Ursprung aus einem einzigen 
Rückenmarkssegmente und für keine Muskelgruppe wird die reflek¬ 
torische Erregbarkeit durch ein einziges spinales Segment vermittelt, 
sondern daran beteiligen sich mindestens drei, oft noch mehr spinale 
Segmente. Für den Quadriceps femoris kommt sicher in erster Linie 
das IV. Lumbalsegment in Frage, aber sowohl für seinen mo¬ 
torischen Ursprung wie für seine reflektorische Erregbarkeit kommen 
auch noch das 111. und das V. Lumbalsegment in Betracht. Schalten 
wir bei einer bestehenden Quadricepskontraktur, die also darauf be¬ 
ruht, daß der durch die drei genannten Segmente vermittelte Fixa¬ 
tionsreflex ungehemmt in seiner primären Stärke waltet, einen der 
drei Reflexbögen, also etwa den mittleren, durch Resektion der IV. 
hinteren Lumbalwurzel oder den oberen und den unteren durch Re¬ 
sektion der III. und V. hinteren Lendenwurzel aus, so wird dadurch 
der Reflexvorgang nicht ganz aufgehoben, wohl aber vermindert 
und auf ein Maß zurückgeführt werden, welches er hatte, als zwar 
alle drei Reflexbügen leiteten und funktionierten, aber durch den 
hemmenden Einfluß der Pyramidenbahn in ihrer Funktionsgröße ein¬ 
gedämmt wurden. Es wird so zwar die Kontraktur nachlassen, 
aber nicht jegliche Fixationsspannung des Quadriceps sowie seine 
reflektorische Erregbarkeit überhaupt ganz aufgehoben sein. Ver¬ 
gleichen wir die Vorderhornzellen einer Muskelgruppe mit einem 
Pferd, das unter dem Einfluß von Sporn und Zügel steht. Der 
Sporn, welcher die Vorderhornzellen fortwährend triflFt und zur Ab¬ 
gabe von Innervationsimpulsen an den Muskel drängt, sind die fort- 


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üeber eine neue operative Methode etc. 


207 


während zuströmenden sensiblen Erregungen, der Zügel, welcher die 
Vorderhornzellen zurückhält, dem Sporn ganz nachzugeben und die 
motorischen Impulse ungeschwächt in die Muskeln zu entsenden, ist 
die Pyramidenbahn. Den Zügel, der durch ihre Erkrankung in 
Wegfall gekommen ist, können wir zwar nicht wiederherstellen, wir 
können aber das Funktionsterapo des Pferdes vermindern dadurch, 
daß einer der Sporen in Wegfall gebracht wird. 

Wollen wir nun den bisher entwickelten allgemeinen Gesichts¬ 
punkt praktisch anwenden, so haben wir in einem gegebenen Falle 
festzustellen, welche Muskelgruppen sich vorzugsweise im Zustande 
der Kontraktur befinden und welche spinalen Segmente die reflek¬ 
torische Erregbarkeit dieser Muskelgruppen vermitteln. Aus diesen 
Segmenten triflTt man die Auswahl am besten in der Weise, daß man 
möglichst sucht zwei aufeinanderfolgende Wurzeln nicht zu ent¬ 
fernen. 

Ich will die spezielle praktische Anwendung des Gesichts¬ 
punktes sowie die Ergebnisse an der Hand zweier Fälle genau er¬ 
örtern. 

Fall 1. Knabe von 9 Jahren, leidet an einem angeborenen 
doppelseitigen Defekte des oberen Drittels der Zentral¬ 
windungen, also beider kortikalen Beinzentren, und es be¬ 
stand infolgedessen bei ihm eine außerordentlich schwere 
spastische Paraplegie beider unteren Extremitäten. 
Auch die Arme sind leicht betroffen, doch handelt es sich hier 
nur um leichte Spasmen und Paresen. Ferner besteht, wie Sie 
sehen, Strabismus divergens, eine erhebliche Difformität des Schädels, 
der Gehirnschädel ist gegen den Gesichtsschädel sehr schwach 
entwickelt, Hinterhauptteil des Schädels sehr reduziert, es besteht 
ein beträchtlicher Grad von Imbezillität; ferner starkes Pectus 
carinatum. Uns interessiert hier nur die spastische Paraplegie der 
Beine. Das Bild war folgendes: beide Füße standen in maximaler 
Spitzfußstellung, die Kontraktur der Plantarflexoren war ganz unüber¬ 
windlich, dabei hochgradiger Fußklonus, irgend eine nennenswerte 
Exkursion im Sinne der Dorsalflexion war ausgeschlossen, B ab in ski¬ 
scher Fußsohlenreflex positiv. Die Kniee in starker Beugestellung, 
links ^ r, hochgradige Kontraktur der Kniebeuger, die passiv nicht 
auszugleichen, gleichzeitig auch fast unüberwindlicher Widerstand in 
den Kniestreckern, die Unterschenkel ließen sich von der Beuge¬ 
stellung, die sie einnahmen, passiv nur um ein geringes mehr beugen 


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208 


0. Förster. 


und wieder bis zur alten Beugestellung zurückführen. Beide Patellar- 
reflexe äußerst lebhaft. Im Hüftgelenk waren beide Oberschenkel 
hart aneinander gepreßt, nach innen rotiert und erheblich gegen das 
Becken flektiert. Der Versuch, im Hüftgelenk passive Bewegungen 
vorzunehmen, scheiterte an dem eisernen Widerstande der Muskeln 
fast vollkommen, nur geringe Vermehrung der an sich vorhandenen 
Beugung sowie Zurückführen in den anfänglichen Grad von Beugung 
war passiv möglich. Abduktion sowie Rotation nach außen passiv 
ganz unmöglich. 

Die einzige Bewegung, die der Knabe willkürlich ausführen 
konnte und mit der er jeden Bewegungsauftrag beantwortete, war 
eine gewisse Beugung in Knie und Hüfte, woran sich meist eine 
gewisse Dorsalflexion der Zehen und des vorderen Fußabschnittes 
anschloß. Es beugten sich aber immer nur beide Beine gleichzeitig, 
und stets war diese Bewegung begleitet von einer Mitbewegung 
beider Arme (Beugung der Vorderarme, Pronation der Hand, leichte 
Abduktion des Oberarms) und einer Flexion der Wirbelsäule und des 
Kopfes. Irgendwelche isolierten Bewegungen eines Beines oder eines 
Beinabschnittes waren ganz ausgeschlossen. Hingegen führten die 
Beine bei stärkeren Reizen, also bei stärkerem Druck der Haut oder 
der Weichteile oder bei einem Strich über die Fußsohle etwas aus¬ 
giebigere Abwehrbewegungen aus, indem sie sich in Hüfte, Knie 
und auch im Fußgelenk beugten; auch hierbei beugten sich immer 
beide Beine gleichzeitig und immer erfolgte auch die genannte Mit¬ 
bewegung der Arme, des Oberkörpers und Kopfes. Wenn der Knabe 
mit der Hand nach etwas griff oder etwas zum Munde führte, so 
gerieten dabei auch jedesmal beide Beine in vermehrte Beugung, 
ebenso Kopf und Oberkörper; wenn die Bewegung der Arme leb¬ 
haft war, so schnellten die Beine förmlich von der Unterlage empor. 

Der Knabe konnte sich aus der Rückenlage überhaupt nicht 
aufrichten, selbst nicht unter Zuhilfenahme der Arme, er reckte 
dabei zwar den Kopf und Oberkörper empor, die Beine fuhren meist 
mit einem Ruck in die Luft, aber das Haupthindernis für das Auf¬ 
setzen, die spastische Fixierung zwischen Becken und Oberschenkel, 
war für ihn unüberwindlich. Ebensowenig konnte er allein sitzen, 
wenn man ihn in Sitzstellung brachte; der Rücken war dabei maxi¬ 
mal kyphosiert, bei dem Versuch, den der Kleine machte, sich 
sitzend zu erhalten, fuhren ihm meist beide Beine, sich in Knie und 
Hüfte beugend, ruckartig in die Luft und der Oberkörper sank nach 


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lieber eine neue operative Methode etc. 


209 


hinten wieder in Rückenlage zurück. Ebensowenig konnte der Knabe 
sich aus der Rückenlage in eine andere Lage (Bauchlage) umdrehen; 
bei dem Versuche dazu kam es immer nur zu einer Beugung beider 
Beine, beider Arme, des Kopfes und der Wirbelsäule. 

Stehen konnte der Knabe natürlich nicht. Wenn man ihn auf 
den Boden stellte, so konnte er sich nur, wenn er sich mit beiden 
Armen an einer Person anklammerte und von dieser rasch gehalten 
wurde, einige Augenblicke auf den Beinen halten, er nahm dann die 
Stellung ein, wie es Fig. 1 u. 2 zeigen, bei der Anstrengung, die 
er dabei machte, fuhren ihm aber alsbald beide Beine regelmäßig 
vom Boden empor, bezw. knickte er in Hüfte und Knie zusammen, 
wenn er mit den Armen nicht genügend Halt fand. 

Ebenso war es bei dem Versuch, ihn gehen zu lassen; wenn er 
kräftig an beiden Armen emporgehalten wurde, so konnte er sich 
einige Augenblicke auf den Beinen halten und auch ein Bein etwas 
vorbewegen, es wurde aber nur im Hüftgelenk bewegt, und zwar 
fuhr es, sobald es die Ebene des anderen Beines, des Standbeines, 
nach vorn überschritten hatte, in maximale Adduktion, das Stütz¬ 
bein nach vorne weit überkreuzend. Mit größter Mühe arbeitete er 
nun das hintere Bein hinter dem vorderen vorbei nach vorne, 
wobei es sich sofort wieder mit diesem überkreuzte. Eine Bewegung 
im Knie- oder Fußgelenk fand beim Gange nicht statt. Alle Augen¬ 
blicke fuhren beide Beine hoch in die Luft empor, oder wenn der 
Knabe an den Armen der Begleiter nicht den genügenden Halt fand, 
so knickte er mit einem Ruck im Hüft- und Kniegelenk zusammen. 
Aufstehen und Hinsetzen, Treppensteigen, Wendungen waren natür¬ 
lich ganz unmöglich. 

Es bestand also bei ihm eine spastische Paraplegie der Beine 
mit allen den charakteristischen Einzelheiten, wie wir sie bei den 
schwersten Formen der auf einer von Geburt an bestehenden oder 
im frühen Kindesalter erworbenen Erkrankung der beiderseitigen 
kortikalen Beinzentren vorfinden. 

Die Bewegungsstörung hatte sich bei dem Knaben im Laufe 
der letzten 1—2 Jahre noch verschlechtert insofern, als die Starre 
der Muskeln noch größer als bis dahin geworden war. Der Knabe 
war bis zum Becken einschließlich tatsächlich wie ein starrer Klotz. 

Ich riet, bei ihm die vorhandenen spastischen Muskelkontrak¬ 
turen durch Resektion bestimmter hinterer Lumbosakralwurzeln zu 
vermindern. Ueber die Auswahl, die ich machte, gibt folgende Ta- 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 14 


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210 


0. Förster. 


belle den besten üeberblick. In dieser ist für jede Muskelgruppe 
angegeben, aus welchen spinalen Segmenten dieselbe ihren Ursprung 
nimmt und welche Segmente den Fixationsrefiex (bezw. Dehnungs¬ 
reflex) derselben vermitteln, wobei aber erwähnt werden muß, daß 
die diesbezüglichen Angaben der einzelnen Autoren noch keineswegs 
in allen Punkten sichergestellt sind und zum Teil divergieren. Ich 
habe vor allem verwertet die Angaben von Kocher, Oppenheim, 
Lazarus, Wichmann. Diejenigen hinteren Wurzeln, welche zur 
Resektion ausgewählt wurden, sind fettgedruckt. 


Plantarflexoren des Fußes 

. . 5 L 

I S 

n S 

Dorsalflexoren des Fußes 

..4L 

5L 

I s 

Beuger des Knies . . . 

..4L 

51 

I s 

Strecker des Knies . . 

. . 3 L 

4l 

5L 

Beuger der Hüfte . . . 

. . 1 L 

2L 

3L 4L 

Strecker der Hüfte . . 

..4L 

5L 

1 S 

Adduktoren der Hüfte 

. . 2 L 

3 L 

4L 

Innenrotatoren der Hüfte 

..4L 

5L 

1 S 

Außenrotatoren der Hüfte 

..4L 

5L 

IS 2 S 


Es wurde also die Resektion der 2., 3. und 5. hinteren Lenden¬ 
wurzel und der 2. hinteren Sakralwurzel von mir vorgeschlagen. Die 
Operation wurde am 11. Juni 1907 von Prof. Tietze ausgeführt. 
In der Narkose lösten sich die Kontrakturen sofort, ein Beweis, daß 
es sich um echte spastische Kontrakturen handelte. Aber auch un¬ 
mittelbar nach der Narkose und seitdem dauernd ist die Kontraktur 
der Plantarflexoren des Fußes beiderseit ganz beseitigt, der Fuß 
passiv in vollem Umfange dorsalwärts zu flektieren, der Fußklonus 
ist ganz erloschen, der Achillessehnenreflex nicht mehr auszulösen; 
die Dorsalflexoren des Fußes waren ja zwar auch vor der Operation 
nicht kontrakturiert, aber auch gar nicht auf einen eventuellen spasti¬ 
schen Widerstand zu prüfen, da sich die Plantarflexionsstellung des 
Fußes nicht hatte ausgleichen und der Fuß füglich sich nicht in 
Dorsalflexion hatte bringen lassen. Nach der Operation ist diese 
Prüfung ohne jede Mühe möglich und setzen, wie Sie sehen, die 
Dorsalflexoren ihrer Dehnung und der vollkommen passiven Plantar¬ 
flexion keinen Widerstand entgegen, ihre reflektorische Erregbarkeit 
durch Bestreichen der Fußsohle ist erhalten geblieben, derBabinski- 
sche Zehenreflex ist beiderseits positiv geblieben. Im Knie ist seit 
der Operation der vorher so starre Widerstand der Flexoren und 


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lieber eine neue operative Methode etc. 


211 


Extensoren ganz geschwunden, beide Kniee befinden sich, wie Sie 
sehen, in Strecksteilung, lassen sich in vollem Umfange passiv beugen 
und strecken, ohne daß ein Widerstand seitens der gedehnten Mus¬ 
keln besteht. Der Patellarreflex ist beiderseits positiv, links war er 
längere Zeit erloschen und ist auch jetzt nur schwach infolge einer 
bei der Operation entstandenen Quetschung der vierten Lenden- 
wurzel. 

Am sinnfälligsten sind die Veränderungen in der Hüfte; hatte 
der vorher bestehende starre Muskelwiderstand nur geringe Exkur¬ 
sionen im Sinne einer weiteren Beugung (beide Oberschenkel waren 
flektiert) und eines Zurückführens auf die Ausgangsbeugestellung 
zugelassen, so sind jetzt die Oberschenkel passiv nach allen Rich¬ 
tungen hin vollkommen frei beweglich, ohne daß man einen Wider¬ 
stand fühlt, sie können vollkommen flektiert und extendiert, ab- 
duziert und adduziert, innen- und außenrotiert werden. In der Ruhe, 
bei Rückenlage des Kranken, liegen sie in gerader Verlängerung des 
Rumpfes nebeneinander, aber nicht aneinandergepreßt, in Mittellage 
zwischen Innenrotation und Außenrotation. Man kann auch jetzt, 
wie Sie sehen, den Oberkörper des Knaben aus der Rückenlage in 
die Sitzstellung bringen, ohne daß die Strecker des Hüftgelenks 
sich dieser Bewegung irgendwie widersetzen, nicht einmal die Kniee 
beugen sich dabei ein. 

Bezüglich des Verlaufs der Wiederherstellung der passiven Be¬ 
weglichkeit der Glieder und der Beseitigung der Muskelkontrakturen 
möchte ich nur erwähnen, daß zwar sofort nach der Operation die 
normale Exkursionsbreite der Glieder erlangt und der spastische 
Muskel widerstand aufgehoben war, daß aber doch in den ersten 
5—6 Wochen nach der Operation bei passiven Bewegungen eine 
Empfindlichkeit und Schmerzhaftigkeit der gedehnten Muskeln be¬ 
stand, die sich aber dann sukzessive ganz verloren hat. 

Mit dem Verschwinden der Kontrakturen und der 
Wiederherstellung einer ungefähr normalen passiven Be¬ 
weglichkeit und Exkursionsbreite der Glieder ist aber der 
Vorteil, den der Knabe von der Operation gehabt hat, durchaus nicht 
erschöpft. Vielmehr hat sich, wie Sie sehen, auch die aktive Be¬ 
weglichkeit in weitestem Umfange hergestellt. Was besonders 
hervorzuheben ist, es können isolierte Bewegungen eines Beines und 
der einzelnen Abschnitte des Beines willkürlich ausgeführt werden. 
Der Fuß kann in vollem Umfange willkürlich dorsalflektiert und 


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212 


0. Förster. 


plantarflektiert werden, ohne daß eine Beugung, bezw. Streckung in 
Knie und Hüfte mit erfolgte. Der Unterschenkel wird in vollem 
Umfange gebeugt und gestreckt, ohne Mitbeugung, bezw. Streckung 
des Fußes und Oberschenkels. Nur die Streckung des linken Unter¬ 
schenkels war infolge der bei der Operation versehentlich entstan¬ 
denen Quetschung der vierten Lendenwurzel lange sehr abgeschwächt 
und ist es auch jetzt noch etwas. Im Hüftgelenk kann das Bein 
nach allen Richtungen hin frei und ohne Schwierigkeit bewegt werden, 
es wird, wie Sie sehen, hoch erhoben und wieder hingelegt, maximal 
gespreizt und wieder adduziert, nach innen und außen rotiert. Es 
erfolgen bei alledem keine Mitbewegungen des Unterschenkels und 
Fußes. 

Ferner ist hervorzuheben, daß bei willkürlichen Bewegungen 
eines Beines oder eines Beinabschnittes keine oder nur mehr geringe 
Mitbewegungen von seiten der Arme, des Kopfes und der Wirbel¬ 
säule erfolgen, auch umgekehrt geraten bei Willkürbewegungen der 
Arme oder der Wirbelsäule die,Beine nicht mehr in die früher so 
auffällige Mitbewegung (Emporschnellen beider Beine). Auch die 
unwillkürlichen reflektorischen Abwehrbewegungen, die die Beine auf 
einen Strich über die Fußsohle oder bei einem Druck in das Bein 
ausführen, haben keine größere Intensität oder Extensität als in der 
Norm; während früher bei einem Strich über die Fußsohle beide 
Beine emporschnellten, die Arme sich beugten, Kopf und Wirbel¬ 
säule sich flektierten, wird jetzt nur ein Bein, das gereizte, etwas 
in Fuß, Knie und Hüfte flektiert; die große Zehe wird dabei dorsal¬ 
flektiert. 

Ferner ist hervorzuheben, daß bei den willkürlichen Bewegungen, 
die der Knabe mit den Beinen ausführt, keine auffällige Ataxie be¬ 
steht, das Bein wird z. B. ohne seitliche Schwankungen und Drehungen 
um die Längsachse, ohne Rucke, erhoben und ruhig erhoben ge¬ 
halten, es wird die Ferse eines Beines sicher auf das Knie des an¬ 
deren gesetzt und verweilt ruhig darauf. 

Was die Entwicklung dieser ausgezeichneten Bewegungsfähig¬ 
keit anlangt, so ist zu bemerken, daß in den ersten 5—6 Wochen 
bei jedem Bewegungsauftrag der Knabe über Schmerzen klagte und 
nur in sehr geringfügigem Umfange Bewegungen ausführte. Dann 
hat sich das aber rasch geändert. Von Tag zu Tag nahm die Ex¬ 
kursion der Beinbewegungen zu; leichte Mitbewegungen seitens der 
Arme bestanden in der ersten Zeit noch, haben sich aber bald ver- 


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lieber eine neue operative Methode etc. 


213 


mindert. Bereits Mitte September 1907 hatte der Knabe dieselbe Be¬ 
wegungsfähigkeit der Beine erlangt, die ich Ihnen heute hier de¬ 
monstriert habe. Zu bemerken ist, daß die Fähigkeit, isolierte Be¬ 
wegungen eines Beines und eines Beinabschnittes auszuführen, vom 
ersten Augenblicke, wo der Knabe überhaupt zu willkürlichen Be¬ 
wegungen zu veranlassen war, bestand. 

Wie Sie nun ferner sehen, hat der Knabe weiter gelernt, sich 
aus der Rückenlage ohne Zuhilfenahme der Arme, aufzusetzen und 
ruhig und sicher allein zu sitzen, ohne daß dabei die Beine in Mit¬ 
bewegung geraten und von der Unterlage emporschnellen und ohne 
daß sich die Beine im Knie beugen. 

Ferner hat der Knabe Stehen und Gehen gelernt. Er kann 
ganz allein stehen, doch ist er dabei noch ängstlich; gibt man ihm 
eine Hand oder stützt er sich auf einen Stock, so steht er ganz 
sicher und beliebig lange aufrecht, Sie sehen, daß die Fußsohle ganz 
dem Boden anliegt, der Unterschenkel im nahezu rechten Winkel 
zur Fußsohle steht, das Knie gestreckt ist, ohne hyperextendiert 
zu sein, daß das Becken und die Wirbelsäule auf den Beinen voll¬ 
kommen aufgerichtet sind. 

Gehen ohne jede Hilfe kann der Kleine noch nicht oder höch¬ 
stens 2—3 Schritt; dann packt ihn die Angst zu fallen, und er 
bleibt stehen. Wohl aber kann er mit Hilfe zweier leichter Stöcke 
ganz allein umhergehen, er wandert so allein von einem Zimmer 
zum anderen, im Garten legt er längere Strecken zurück. Die einzige 
Störung, die dabei auffällt, ist die, daß er etwas breitbeinig und langsam 
geht. Gibt man ihm eine Hand und läßt ihn daran gehen, so sehen 
Sie erst, wie gut sich der Gang bei ihm hergestellt hat. Die Beine 
funktionieren vollkommen sicher, abwechselnd als Stützbein und 
Schwungbein. Am Stützbein neigt sich der Unterschenkel allmäh¬ 
lich gut gegen den Fuß vornüber, wird das Knie, anfangs in leichter 
Beugung, nachher vollkommen gestreckt (nur links besteht noch in¬ 
folge der durch die Läsion der vierten Lendenwurzel bedingten 
Quadricepsschwäche eine gewisse Neigung im Knie einzuknicken), 
wird Becken und Oberkörper sehr gut aufgerichtet und vom Stütz¬ 
bein getragen. Auch nach der Seite des Schwungbeins sinkt das 
Becken und mit ihm der Oberkörper nicht herab, sondern wird durch 
den Glutaeus medius gut fixiert gehalten. Das Schwungbein wird, 
nachdem sich die Ferse vollkommen vom Boden abgewickelt hat, gut 
im Fuß und Knie gebeugt und in der Hüfte vorgeführt, gegen Ende 


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214 


0. Förster. 


der Schwungphase wird der Unterschenkel vorgestreckt; aber das 
Knie befindet sich noch in leichter Beugung, während das Schwung¬ 
bein dem Boden wieder aufgesetzt wird, ganz wie das in der Norm 
der Fall ist. Sie sehen auch, daß der Kleine mit sehr großen raschen 
Schritten marschieren kann. Er macht rasche und geschickte Wen¬ 
dungen beim Gange, geht auch seitwärts und rückwärts. Er steigt 
die Treppe herauf und herunter, wobei er sich allerdings des Geländers 
bedienen muß; doch richtet er sich auf dem vorderen Beine, dem 
Stützbein, gut auf und hebt den Körper empor, das Schwungbein 
wird gut gebeugt und auf die nächsthöhere Stufe aufgesetzt. 

Der Knabe kann auch allein ins Bett steigen, obwohl dieses 
recht hoch ist, er kann sich von der Rückenlage in die Bauchlage 
und wieder zurück rasch und ohne Schwierigkeit umdrehen, er kann 
sich allein Schuhe, Strümpfe und Beinkleider anziehen. 

Es ist begreiflich, daß ein seit der Geburt gelähmtes Kind, 
das nie stehen und gehen gelernt hatte, nicht sofort diese Leistungen 
vollbringen konnte, nachdem das Haupthindernis für die Lokomo¬ 
tionsfähigkeit, die spastische Lähmung, beseitigt war. Sondern dazu 
bedurfte es sehr sorgfältiger täglicher Steh- und Gehübungen, die 
bei dem Mangel an Intelligenz des Knaben nicht ganz leicht sind. 
Besondere Schwierigkeiten machte es, dem Knaben die Aufrichtung 
des Beckens und Oberkörpers auf dem Stützbein beim Gange beizu¬ 
bringen, bei jedem Schritt sanken dieselben wieder vornüber. Jetzt 
aber richtet er den Oberkörper, wie Sie sehen, sehr gut auf. 

Wie viel man durch weitere fortgesetzte Uebungsbehandlung 
noch erreichen kann, wird die weitere Beobachtung lehren. Ich be¬ 
merke, daß ich Geh- und Stehübungen erst im Oktober 1907 be¬ 
gonnen habe, der Knabe also jetzt erst reichlich ^/2 Jahr in Uebungs¬ 
behandlung steht. Der hauptsächlichste praktische Nutzen der 
Operation ist meines Erachtens der, daß durch die Beseitigung der 
Kontrakturen und der ungemein großen reflektorischen Uebererregbar- 
keit der Muskeln überhaupt und der sehr störenden reflektorischen 
Mitbewegungen der Beine bei jeder Bewegungsintention, die Fähig¬ 
keit, isolierte Bewegungsakte vorzunehmen und zu üben, wieder er¬ 
langt ist und damit die Basis für eine rationelle Uebungsbehandlung 
geschaffen worden ist. Solange starke Konktrakturen in den Muskeln 
bestehen und bei jeder Bewegungsintention sofort alle möglichen 
anderen Muskeln reflektorisch in Mitkontraktion versetzt werden, ist 
jede Uebungsbehandlung ausgeschlossen. 


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215 


Zum Schluß sei noch bemerkt, daß bei dem Knaben Sensibili¬ 
tätsstörungen der Haut und tiefen Teile niemals nachgewiesen worden 
sind. Allerdings konnte das Lokalisationsvermögen in feinerer Weise 
nicht geprüft werden, da es dem Knaben dazu an Intelligenz man¬ 
gelt. Aber die einfache Berührungsempfindung, Empfindung für 
Schmerz, für warm und kalt, für Druck, für passive Bewegungen 
der Glieder war und ist nicht gestört, ünterscheidungsvermögen für 
feinere Temperaturunterschiede konnte auch nicht einwandfrei ge¬ 
prüft werden. 

Zu bemerken ist noch, daß in den ersten Wochen nach der 
Operation eine Hyperästhesie der Haut und der tiefen Teile bestand, 
die allmählich nachließ und seitdem ganz geschwunden ist. Das 
Fehlen der Sensibilitätsstörungen deckt sich mit Sherringtons Er¬ 
gebnissen an Affen. 

Handelte es sich bei dem eben beschriebenen Fall um eine 
spastische Paraplegie kortikalen Ursprungs, so liegt bei dem nun zu 
demonstrierenden 2. Fall eine spastische Paraplegie spinalen Ur¬ 
sprungs vor. 

Fall 2. lOjähriges Mädchen, das seit dem 3. Lebensjahre an 
Spondylitis tuberculosa der Halswirbelsäule leidet; infolge¬ 
dessen besteht starker Gibbus daselbst, zunehmende Kompression des 
Rückenmarks und Lähmung der Beine, welche seit Weihnachten 1905 
die Gehfähigkeit vollkommen aufgehoben hat. Mit allen konserva¬ 
tiven Methoden seit dem 3. Lebensjahre behandelt, ohne jeden Er¬ 
folg. 3. Oktober 1906 Laminektoraie im Bereich des Gibbus der Hals¬ 
wirbelsäule, das Rückenmark reitet auf einem scharfen Vorsprung, 
den die Halswirbelkörper gegeneinander bilden. Eine Beseitigung 
desselben ist unmöglich. Die Operation blieb erfolglos, im Gegen¬ 
teil verschlechterte sich der Zustand noch mehr, insofern als im 
Gegensatz zu der fast vollkommenen Lähmung der willkürlichen Be¬ 
weglichkeit (nur das linke Bein konnte willkürlich noch eine Spur 
bewegt werden), sehr häufig unwillkürliche krampfartige, äußerst 
schmerzhafte Beugebewegungen der Beine auftraten, die nicht unter¬ 
drückt werden können. Als am 3. Mai 1907 die von mir vor¬ 
geschlagene Resektion hinterer Lumbosakralwurzeln vorgenommen 
wurde, bestand folgender Status: Starke Kyphose der unteren Hais¬ 
und. oberen Brustwirbelsäule, kompensatorische Lordose der Lenden¬ 
wirbelsäule. Kind liegt dauernd in Rückenlage im Bett. Beide 
Füße in starker Equinovarusstellung, beide Knie gestreckt, beide 


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0. Förster. 


Oberschenkel in gerader Verlängerung des Oberkörpers, hart anein¬ 
ander gepreßt, etwas nach innen rotiert. Im Fußgelenk ausgesprochene 
spastische Kontraktur der Plantarflexoren, dieselbe ist passiv nur 
mit großer Kraft zu überwinden, dabei starker Fußklonus, derselbe 
dauert nach Auf hören der künstlichen Dehnung der Achillessehne noch 
an (aktives Fußzittern), äußerst lebhafte Achillesreflexe; Babinski- 
sches Zehenphänomen beiderseits positiv. Im Knie äußerst starke 
Kontraktur der Strecker, äußerst lebhafte Patellarreflexe, lebhafter 
Patellarklonus. Nur durch einen starken Druck ins Bein löst sich 
die Kontraktur der Strecker, und die Kniee geraten in Beugung; sie 
verharren jetzt darin, und es besteht nunmehr starke Kontraktur der 
Kniebeuger, die sich ihrerseits erst allmählich löst. Im Hüftgelenk 
besteht äußerst starre Kontraktur der Adduktoren, dieselbe ist so 
gut wie unüberwindlich, auch äußerst starke Kontraktur der Beuger 
und Strecker, der Oberschenkel läßt sich aus der Stellung, die er 
einnimmt, passiv kaum extendieren oder flektieren; nur bei starkem 
Druck ins Bein löst sich die Kontraktur der Strecker und der Ober¬ 
schenkel begibt sich in Flexion, die Beuger entfalten jetzt einen noch 
stärkeren Widerstand als zuvor, der sich erst allmählich wieder löst. 
Rotationen um die Längsachse können passiv gar nicht ausgeführt 
werden. Der Oberkörper läßt sich passiv nicht aus der Rückenlage 
gegen die Beine emporrichten, d. h. in Sitzstellung bringen, wegen 
des starren Widerstandes der Beckenstrecker. 

Die willkürliche Beweglichkeit der Beine ist am rechten Bein 
ganz aufgehoben, es kann keine einzige Bewegung willkürlich aus¬ 
geführt werden, es kann das Bein auch nicht, wenn man es künst¬ 
lich in Beugung gebracht hat, nunmehr willkürlich wieder ausge¬ 
streckt werden.. Links ist noch ein Rest von willkürlicher Beweg¬ 
lichkeit vorhanden, wenigstens kann das Bein manchmal mit großer 
Mühe in Knie und Hüfte willkürlich etwas gebeugt werden, wobei 
sich dann jedesmal auch die Dorsalflexoren des Fußes etwas an¬ 
spannen, und alsdann wieder ausgestreckt werden. Irgendwelche 
isolierte Bewegungen des Fußes oder des Beines im Hüftgelenk sind 
ganz unmöglich. Im Gegensatz zu der ungemein beschränkten will¬ 
kürlichen Bewegungsfähigkeit der Beine stehen nun häufige unwill¬ 
kürliche, krampfartige, äußerst schmerzhafte Beugebewegungen der 
Beine, bei denen das Bein plötzlich in Hüfte und Knie stark, im Fuß 
etwas gebeugt wird und dann in dieser Beugung verharrt. Es kann 
diese Bewegung willkürlich nicht unterdrückt werden, auch kann das 


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217 


Bein willkürlich aus der Beugestellung nicht wieder ausgestreckt 
werden. Allmählich läßt die krampfhafte Anspannung der Beuger 
etwas nach, das Bein geht wieder mehr oder weniger in Streck¬ 
stellung über; alsbald wiederholt sich der Beugekrampf, und so geht 
es oft stundenlang abwechselnd. Manchmal ist es nur ein Bein, 
welches in Beugung gerät, manchmal alle beide gleichzeitig oder 
nacheinander. Dieselben intensiven Beugebewegungen der Beine 
entstehen reflektorisch bei jedem stärkeren Reiz, der das Bein trifft, 
so wenn man einen kräftigen Strich über die Fußsohle führt, einen 
starken Stich darein versetzt, einen stärkeren Druck in die Weich¬ 
teile des Beines ausübt, und es ist wohl sicher, daß die scheinbar 
spontan, ohne solch künstliche Reizung entstehenden unwillkürlichen 
Krampfbewegungen der Beine doch auch nur die Folge sensibler 
Reizung des Beines sind, nämlich die Folge des Druckes der Beine 
gegen die Unterlage oder der Beine gegeneinander oder der Decke 
auf die Beine. Auch die gefüllte Blase wirkt als ein krampfauslösendes 
Moment in hohem Grade. Ferner entstehen diese Beugebewegungen 
als reflektorische Mitbewegung bisweilen, wenn das Kind den Ver¬ 
such macht, sich aus der Rückenlage aufzurichten. 

Die Bauchmuskeln fühlen sich wenig gespannt an, die Bauch¬ 
presse ist abgeschwächt, die Bauchdeckenreflexe sind erloschen. Das 
Kind kann sich aus der Rückenlage nicht aufrichten, wenn es sich 
sehr dazu anstrengt, so beugen sich beide Beine in Knie und Hüfte 
krampfhaft. Setzt man es künstlich hin, so kann es nicht allein 
sitzen, sondern fällt alsbald wieder zurück. Es kann sich auch nicht 
aus der Rückenlage umdrehen. 

Stehen kann die Kleine nicht; wenn man sie auf die Beine 
stellt und am Oberkörper kräftig unterstützt, hält sie sich einige 
Augenblicke auf den Beinen, die Kniee gestreckt, das Becken etwas 
gegen die Oberschenkel flektiert. Alsbald aber werden die Beine 
in Knie und Hüfte krampfhaft in Beugung gezogen und entfernen 
sich vom Boden oder die Kleine knickt in Knie und Hüfte zu¬ 
sammen. 

Gehen ist selbst bei kräftigster Unterstützung ganz ausge¬ 
schlossen, da die Kranke das rechte Bein gar nicht vom Fleck be¬ 
kommt und das linke nur manchmal um eine Spur vorsetzen kann. 

Sensibilitätsstörungen sind bei der Kranken nicht vorhanden. 

Ich hatte vorgeschlagen, zur Beseitigung der Kontraktur der 
Plantarflexoren des Fußes die zweite hintere Sakralwurzel, zur Be- 


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218 


0. Förster. 


seitigung der Kontraktur der Strecker des Knies die fünfte und 
dritte hintere Lendenwurzel zu resezieren, durch die Resektion der 
letzteren sollte auch die Kontraktur der Adduktoren der Hüfte be¬ 
seitigt werden. Ich wußte damals — es war das der erste operierte 
Fall — noch nicht, daß die Resektion der dritten hiefür nicht ge¬ 
nügt, sondern daß dazu auch noch die zweite Lendenwurzel ausge¬ 
schaltet werden muß. Bei der am 3. Mai 1907 von Prof. Tietze 
vorgenommenen Operation wurde linkerseits auch entsprechend dem 
Plane die zweite Sakral-, fünfte und dritte hintere Lumbalwurzel 
reseziert. Rechts wurde wahrscheinlich die erste Sakralwurzel und 
wahrscheinlich die dritte Lendenwurzel reseziert. Die Orientierung 
war nämlich dadurch, daß fortwährend Blut in den Duralsack floß, 
ungemein erschwert, und es mußte die Operation wegen starker 
Schwäche des Kindes beschleunigt und vorzeitig abgebrochen werden. 

Das Resultat ist ein entsprechend geringeres als in Fall 1. 
Zunächst ist die Kontraktur der Plantarflexoren des linken Fußes 
ganz beseitigt, der Fußklonus verschwunden, der Fuß kann passiv 
in vollem Umfange dorsal- und plantarflektiert werden. Der Achilles¬ 
reflex ist erloschen. Im Knie ist die Kontraktur der Strecker sehr 
reduziert, ebenso keine nennenswerte Gegenspannung der Beuger 
mehr nachzuweisen. Das Knie läßt sich ohne Mühe in vollem Um¬ 
fange beugen und strecken. In der Hüfte gelingt die passive Beu¬ 
gung und Streckung, Innen- und Außenrotation zwar annähernd in 
vollem Umfange, doch aber gegen deutlichen Widerstand der jeweils 
gedehnten Muskeln. Die passive Abduktion stößt noch auf einen 
gewissen Widerstand der Adduktoren, immerhin ist aber doch eine 
ganz ausgiebige passive Abduktion jetzt möglich. Rechts war die 
Kontraktur der Plantarflexoren zunächst nicht ganz verschwunden, 
doch ließ sich der Fuß, wenn auch gegen Widerstand, passiv voll¬ 
kommen dorsalflektieren, der Achillesreflex war nicht ganz erloschen, 
Fußklonus nicht vorhanden. Zur Beseitigung des Restes von Kon¬ 
traktur der Plantarflexoren ist später noch eine perkutane Tenotomie 
der Achillessehne vorgenommen worden. Sie sehen, daß jetzt die 
passive Beweglichkeit auch in diesem rechten Fußgelenk eine un¬ 
behinderte ist. Im Knie war die Kontraktur der Strecker gar nicht 
beeinflußt, der Widerstand wie vorher fast eisern, der Patellarreflex 
und Patellarklonus sehr lebhaft. Wir haben dem dadurch abgeholfen, 
daß wir den Rectus femoris von der Patella abgelöst und auf die 
Beugesehnen in der Kniekehle aufgepflanzt haben. Dadurch ist jetzt, 


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lieber eine neue operative Methode etc. 


219 


wie Sie sehen, der Widerstand der Kniestrecker soweit vermindert, 
daß der Unterschenkel passiv vollkommen flektiert werden kann, man 
fühlt allerdings dabei noch deutlichen Widerstand der Strecker. Der 
Patellarreflex ist noch lebhaft. In der Hüfte ist, wie Sie sehen, die 
Beweglichkeit nach allen Richtungen hin etwas freier als zuvor, doch 
ist immer noch ein beträchtlicher Widerstand seitens der gedehnten 
Muskeln fühlbar. Immerhin ist die Kontraktur der Hüftgelenks¬ 
muskeln doch so weit gemindert, daß man den Oberkörper, d. i. 
Becken und Wirbelsäule ohne großen Widerstand gegen die Beine 
beugen, d. h. das Kind aus der Rückenlage in Sitzstellung bringen 
kann, ohne daß die Knie sich stark dabei einbeugen. 

Die willkürliche Beweglichkeit hat sich auch beträchtlich ge¬ 
bessert, besonders links. Der linke Fuß kann willkürlich in be¬ 
trächtlichem Umfange gebeugt und gestreckt werden, auch ohne daß 
Mitbeugungen in Knie und Hüfte erfolgen. Der linke Unterschenkel 
kann gegen den Oberschenkel in vollem Umfange gebeugt und ge¬ 
streckt werden ohne Mitbewegung des Oberschenkels und Fußes. 
Das ganze linke Bein kann in der Hüfte nach allen Richtungen hin 
recht gut bewegt werden, erhoben und wieder hingelegt, ab- und 
adduziert, innen- und außenrotiert werden. Es kann das linke Bein 
in Knie und Hüfte in normalem Umfange gebeugt werden, es wird 
die Ferse des linken Beines auf das Knie des rechten Beines mit 
Sicherheit gesetzt und ohne ataktische Schwankungen darauf ge¬ 
halten. Rechts kann der Fuß nur etwas dorsal- und plantarflektiert 
werden, doch ohne Mitbewegungen in Knie und Hüfte. Isolierte 
Beugung des rechten Unterschenkels ist nur in kleinem Umfange, 
wohl aber die Streckung vollkommen möglich und kräftig. Das 
gestreckte rechte Bein kann im Hüftgelenk etwas erhoben werden, 
es kann ganz gut abduziert, sehr gut adduziert, wenig nach außen 
rotiert, gut nach innen rotiert werden. In Knie und Hüfte gleich¬ 
zeitig, wird das rechte Bein gut gebeugt, ebenso wieder kräftig aus¬ 
gestreckt, die rechte Ferse wird mit einiger Mühe auf das linke Knie 
aufgesetzt, doch ohne Ataxie, und sie wird auch ruhig darauf er¬ 
halten. 

Die unwillkürlichen krampfhaften Beugebewegungen der Beine, 
die vor der Operation so sehr lästig für die Kleine waren, sind ganz 
verschwunden. Ebenso führen die Beine nicht mehr die krampf¬ 
haften Beugungen als Mitbewegung aus, wenn das Kind sich auf¬ 
setzt oder sitzt. Auf starke Reize, die man den Beinen appliziert. 


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220 


0. Förster. 


also auf einen kräftigen Strich über die Fußsohle, einen kräftigen 
Druck ins Bein, zieht sich dasselbe zwar noch durch eine gleich¬ 
zeitige Beugung in Fuß, Knie und Hüfte etwas zurück, aber diese 
Reflexbewegung hat nichts Krampfhaftes mehr an sich und bleibt 
nicht bestehen, vielmehr kehrt das Bein alsbald in die Ruhelage 
wieder zurück. 

Das Kind kann sich bei Zuhilfenahme der Arme ohne Mühe 
aus der Rückenlage aufsetzen, allein sitzen, es kann sich aus der 
Rückenlage in die Bauchlage umdrehen und wieder zur Rückenlage 
zurückkehren. Stellt man sie auf den Boden, so ziehen sich die 
Beine nicht mehr wie früher durch krampfhafte Beugung vom Boden 
zurück. Die Kleine steht vielmehr, wenn man sie an einer Hand 
hält oder wenn sie sich auf Krücken stützt, allein aufrecht. Sie 
geht mit Krücken allein schnell umher, steigt die Treppen mit Hilfe 
des Geländers, sie geht mit den Krücken allein im Garten spazieren. 
Beim Gehen wird das rechte Bein schlechter vorgesetzt als das linke 
und streift etwas mit der Fußspitze über den Boden. Das linke 
wird im Fuß, Knie und Hüftgelenk gut gebeugt. 

Sensibilitätsstörungen sind bei dem Kinde niemals festgestellt 
worden. 

Das Resultat ist ja kein so gutes wie in dem ersten Falle, 
doch ist zu bedenken, daß es der erste Fall war, bei dem auf meine 
Veranlassung die Operation vorgenommen wurde, und daß sich hierbei 
eine Reihe Schwierigkeiten zeigten, die erstens die Resektion der 
postulierten Wurzeln nicht bis zu Ende führen ließen. Zweitens aber 
wußte ich damals noch nicht, wieviel Wurzeln im ganzen zur Erzie¬ 
lung eines möglichst guten Resultates zu resezieren sind. Trotz alle¬ 
dem ist es doch auch bereits ein bedeutender praktischer Erfolg, 
wenn das vorher total ans Bett gefesselte Kind jetzt umherläuft 
und sich im Garten umhertreibt. 

Professor Tietze hat dann noch in einem anderen Falle von 
kortikaler spastischer Paraplegie der Beine (Littlesche Krankheit) 
auf meine Veranlassung operiert, der zwar nicht ganz so schwer 
war als der Fall Nr. 1, aber demselben sonst durchaus glich. Es 
war der zweite von uns in Angriff genommene Fall. Es wurden 
links reseziert die zweite Sacralis, die fünfte und dritte Lumbalis, 
rechts die zweite Sacralis, leider durch einen Irrtum die vierte 
Lumbalis statt der fünften und endlich die zweite Lumbalis. Das 
Ergebnis ist die Beseitigung der Kontraktur der Plantarflexoren des 


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lieber eine neue operative Methode etc. 


221 


Fußes beiderseits, die Beseitigung der Beugekontraktur des linken 
Knies, rechts ist dieselbe wegen der Resektion der falschen Wurzel 
(IV. L.) leider nicht ganz beseitigt, der Patellarreflex hingegen auf¬ 
gehoben. In der Hüfte ist die Beweglichkeit beiderseits viel freier, 
doch die Kontraktur der Adduktoren nicht ganz beseitigt. (Deshalb 
haben wir uns auf Grund der in diesem Fall gemachten Erfahrung 
entschlossen, in dem nächst operierten Falle zur Beseitigung der 
Kontraktur der Adduktoren Lumbalis II und III zu resezieren. Dies 
wurde in dem Falle getan, der hier als Nr. 1 mitgeteilt ist, und in 
dem die Kontraktur der Adduktoren tatsächlich ganz beseitigt ist.) 
Die aktive Beweglichkeit ist in diesem Falle recht gut hergestellt. 
Geh- und Stehübungen konnten bisher noch nicht vorgenommen 
werden, da das Kind eine linkseitige Luxatio femoris congenita hat, 
die reponiert ist, aber Ruhigstellung im Gipsverband erheischt. 

Endlich haben wir noch einen 4. Fall von vollkommen spasti¬ 
scher Paraplegie der Beine mit schweren Beugekontrakturen infolge 
multipler Sklerose operiert. Leider ist hier die Operation nicht richtig 
angelegt worden. Die Wurzeln konnten nicht isoliert werden. Bei 
dem Versuch, sie zugänglich zu machen, riß die Dura mater, außer¬ 
dem litt die gesamte Cauda equina durch Druck der Pinzette und 
der Haken, mit denen sie aus dem Duralsack herausgehoben wurde, 
es blutete ferner stark in den Duralsack, so daß eine vollkommene 
schlaffe Lähmung der Beine, der Blase und des Mastdarms, sowie 
vollständige Anästhesie der Beine die Folge war. Die Frau bekam 
dann von einem vorher schon vorhandenen Dekubitus ein Wund¬ 
erysipel, an dem sie zu Grunde ging. 

Noch kurz ein Wort über das Indikationsgebiet. Es eignen 
sich für die Methode meines Erachtens alle schweren spastischen 
Paraplegien der Beine, einerlei ob auf kortikaler oder spinaler Er¬ 
krankung beruhend. Selbstverständlich kommen nur schwere Fälle 
in Betracht. Sicher eignen sich auch meines Erachtens schwere 
Fälle von multipler Sklerose, sowohl die mit Streckkontraktur als 
auch die mit Beugekontraktur und mit ausgesprochenen unwillkür¬ 
lichen Beugebewegungen der Beine. Ob die Hemiplegie in das Ge¬ 
biet der Methode gehört, ist noch abzuwarteu. Ich glaube, das Bein 
des Hemiplegikers kann fast ebensogut durch andere hier nicht zu 
besprechende operative Maßnahmen gebessert werden. Die Störung 
des Armes bei der Hemiplegie bietet aber deshalb wenig Aussicht 
allein durch die Beseitigung der Spasmen gehoben zu werden, weil 


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222 


0. Förster. 


am hemiplegischen Arm die paretische Komponente eine zu wesent¬ 
liche Rolle spielt. Doch müssen erst darüber Erfahrungen gesammelt 
werden. Sicher eignen sich Fälle mit stärkeren Spasmen am Arm, bei 
denen die paretische Komponente nur wenig ausgesprochen ist. 

Zum Schluß noch eine kurze anatomische Bemerkung, die als 
Unterlage für die operative Technik dienen mag. 

Ich halte auf Grund meiner zahlreichen präparatorischen Uebun gen 
an Leichen folgenden Weg als den vorläufig gangbarsten: Freilegung 
des Duralsackes durch Entfernung der Bögen des zweiten bis fünften 
Lendenwirbels und des obersten Teils der Hinterwand des Sakral¬ 
kanals. Die Dura muß aber in einer Breite von mindestens 2 cm 
freigelegt werden, Spaltung des Duralsackes genau in der Mitte von 
oben nach unten zu. Die Cauda equina liegt nunmehr fast in 
ihrer ganzen Ausdehnung zu Tage. Zum Zwecke der Orientierung 
über die Nummern der Wurzeln empfehle ich folgendes Leit¬ 
moment. Das Austrittsloch der ersten Sakralwurzel an der Innen¬ 
fläche des Duralsackes liegt genau in der Höhe des Dornfortsatzes 
des fünften Lendenwirbels, deshalb ist vor der Entfernung der 
Wirbelbögen ein langer Nagel genau in der Höhe des genannten 
Dornfortsatzes ca. 1 ^2 cm lateral von diesem in den Bogen des fünften 
Lendenwirbels einzuschlagen. Der Nagel bleibt bis zu Ende 
der Operation stehen. Zieht man in seiner Höhe die Dura an dem 
Scbnittrande etwas an, so bekommt man gerade die Austrittsstelle 
der ersten Sakralwurzel zu Gesicht. Von ihr ausgehend kann man 
sich sehr leicht die weiter abwärts gelegene zweite Sacralis zu Ge¬ 
sicht bringen durcli Anziehen des Duralrandes etwas unterhalb des 
Nagels, und ebenso weiter oberhalb die einzelnen Lendenwurzeln der 
Reihe nach. Es kommt jetzt darauf an, die zu resezierenden Wurzeln 
aus der Cauda zu isolieren. Man muß mit der untersten zu rese¬ 
zieren beginnen (zweiter Sacralis). Es geschieht dadurch, daß man 
hart am Austrittsloch mit einem Schieihäkchen von medial her unter 
die Wurzel geht, dieselbe auf lädt und nun vom Austrittsloch an 
aufwärtsstreicht, um die arachnoidealen Verbindungen der Wurzel 
mit der übrigen Cauda equina und mit der Dura möglichst hoch 
hinauf zu lösen und dadurch die Wurzel gut zu isolieren. Ist dies 
geschehen, gilt es von der so isolierten Hauptwurzel (vordere und 
hintere) die hintere Wurzel abzusondern. Dies geschieht dadurch, 
daß man die auf dem Schieihäkchen aufgeladene Hauptwurzel etwas 
anspannt, wodurch sie sich flächenhaft auf dem Schieihäkchen auf- 


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lieber eine neue operative Methode etc. 


223 


lagert; sie darf sich dabei nicht tordieren. Dabei sieht man 
deutlich die Grenze zwischen einem breiteren lateralen Teil und 
einem schmäleren medialen Teil; ersterer ist die hintere, letzterer 
die vordere Wurzel, ersterer besteht seinerseits meist aus zwei Unter¬ 
faszikeln, letzterer manchmal auch. In den Spalt zwischen hinterer 
und vorderer Wurzel dringt man mit einem zweiten Schieihäkchen 
ein, lädt die hintere Wurzel auf dieses, isoliert sie ebenso wie vor¬ 
her die Hauptwurzel, und reseziert dann dieselbe in möglichst langer 
Ausdehnung. Hat man auf diese Weise die zweite hintere Sacralis 
reseziert, so geht man an die fünfte Lendenwurzel, mit der man 
genau ebenso verfährt, und weiterhin an die dritte und zweite Lenden¬ 
wurzel. Alsdann nimmt man die Wurzeln der anderen Seite vor. 


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XV. 


Zur Technik der Arthrodesenoperation*). 

Von 

Dr. Peter Bade-Hannover. 

Als Albert im Jahre 1879 zuerst die Resektion zweier para¬ 
lytischer Kniegelenke beschrieb, um die Beine „durch knöcherne 
Ankylose zu starren Stelzen“ zu machen (Wiener med. Presse 1879 
Nr. 22, 23 und 24), bemerkte der Referent zu diesem Vorgehen: 
„Hätte nicht ein Stützapparat dasselbe erreicht?“ Damals stand man 
einerseits im Beginn der antiseptischen Li stersehen Wundbehand¬ 
lung — der Gedanke der Asepsis war noch nicht geboren —, es 
mußte mithin immer als ein Wagnis gelten, ein an sich gesundes 
Gelenk zu zerstören und erst durch Hinzufügen eines neuen patho¬ 
logischen Zustandes tragfähig zu gestalten, anderseits aber stand die 
Kunst der maschinellen Orthopädie, besonders durch das Auftreten 
Hessings in einem besonders guten Rufe, so daß die erwähnte 
Bemerkung des Referenten gewiß ihre Berechtigung hatte. 

Fast ein Menschenalter ist nun seit dieser Operation verflossen. 
Jetzt erst, kann man sagen, hat die Arthrodesenoperation — diesen 
Namen führte Albert ein — sich volle Daseinsberechtigung er¬ 
zwungen. Auf dem vorigen Orthopädenkongreß wurde von ver¬ 
schiedenen Seiten der Wert der Arthrodesenoperation für paralytische 
Gelenke hervorgehoben. Selbst Vulpius, der Verfechter und meister¬ 
liche Ausgestalter der Sehnenplastiken, hat auf dem letzten Kongreß 
der italienischen Orthopäden ein Loblied auf die Arthrodese ge¬ 
sungen. Da dürfte es wohl am Platze sein, über die Technik dieser 
Operation eine Schilderung zu entwerfen. Ich werde dabei die von 
anderen Autoren angegebenen Operationsmethoden nur kurz erwähnen 
und mich ira wesentlichen auf eine Darstellung meiner eigenen 
Technik beschränken. 

b Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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Zur Technik der Arthrodesenoperation. 


225 


Was zunächst die allgemeine Technik anlangt, so ist erstens die 
wichtigste Forderung, absolut aseptischen Verlauf, die zweite genügende 
knöcherne Vereinigung zu erreichen. Was die erste Forderung an-» 
langt, so ist die Asepsis heutzutage so sehr Allgemeingut der Chi-> 
rurgen geworden, daß ich darüber keine besonderen Worte zu ver¬ 
lieren brauche. 

Bei mir gestaltet sich die Vorbereitung des für die Arthrodese 
in Betracht kommenden Gliedes folgendermaßen: 

Zwei Tage vor der Operation bekommt der Patient ein Voll¬ 
bad. Einer besonders gründlichen Reinigung durch Wasser und 
Seife wird das betreflPende Glied während des Bades unterzogen. 
Dann bekommt das Glied einen feuchten Verband, der aus l®|o For¬ 
malin besteht. Soll z. B. das Kniegelenk operiert werden, so reicht 
der Verband von den Malleolen bis zur Hüfte. Dieser Verband 
wird am Tage vor der Operation entfernt; es haben sich dann 
gewöhnlich durch die Feuchtigkeit Epidermisschuppen gelockert, 
diese werden mit sterilen Läppchen und absolutem Alkohol fort- 
gerieben. Es muß darauf geachtet werden, daß die Haut nicht ge¬ 
scheuert wird, sondern nur leicht abgerieben, damit sie keine Risse 
bekommt. Danach erhält das Gelenk nochmals einen 1 ®/o igen Formalin¬ 
verband, der bis zur Operation am nächsten Morgen liegen bleibt; 
Soweit die Vorbereitung des Patienten. Ich selbst und meine Assi¬ 
stenten üben die gewöhnliche gründliche, mechanische Reinigung 
mit heißem Wasser und Seife, auf die ich den größten Wert lege. 
Es folgt dann noch Reinigung mit Sublimat und Alkohol. Bei 
Arthrodesenoperationen benutze ich keine Handschuhe, weil ich nicht 
genötigt bin mit den Fingern an die Wunde zu kommen. Dagegen 
wende ich Kopfhauben an, weil von dem Haupthaar und vom Munde 
aus doch eine Infektionsgefahr ausgehen könnte. 

Die zweite allgemeine Forderung, ,genügende knöcherne Ver¬ 
einigung**, ist ebenfalls deshalb aufzustellen, weil eine ungenügende 
Konsolidation den Erfolg der Operation ganz in Frage stellt. Der 
Ghrad der Konsolidation braucht nun aber, um die Operation erfolg¬ 
reich zu gestalten, für die verschiedenen Gelenke nicht der gleiche 
zu sein. Die Konsolidation im Kniegelenk muß eine andere sein als 
die im Fußgelenk, weil eine nicht ganz feste Verwachsung der 
Knochenenden im Kniegelenk allmählich eine Beugestellung herbei¬ 
führt, die schließlich so hochgradig werden kann, daß die Operation 
keinen Nutzen geschaffen hat. Die Arthrodese des Fußgelenkes hin- 

Zeit6chrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 25 


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226 


Peter Bade. 


gegen kann gerne einen leichten Grad der Lockerung behalten, weil 
der Gang durch eine gewisse Federung des Fußgelenkes sich besser 
gestaltet, als durch absolute Sturheit des Gelenkes. Am Schulter¬ 
gelenk hinwieder muß man eine größere Festigkeit anstreben als am 
Hüftgelenk, weil der Humeruskopf mit dem Schulterblatt eine mög¬ 
lichst starre, einheitliche Masse bilden muß, wenn die Schulterblatt¬ 
muskulatur durch ihren Angriff auf das Schulterblatt auch den Arm 
heben soll. Ist die Verbindung zu locker, so überträgt sich die 
Bewegung des Schulterblattes nicht genügend auf den Arm. Da¬ 
gegen braucht die Festigkeit im Hüftgelenk keine absolute zu sein, 
weil der Kopf, wenn es sich nicht um paralytische Luxation 
bandelt —, bei Belastung immerhin einen guten Halt am Pfannen¬ 
dach findet und ein Einknicken im Hüftgelenk nicht so zu fürchten 
ist, wie im Kniegelenk. Aus diesen allgemeinen Bemerkungen mögen 
Sie ersehen, daß die Arthrodesenoperation bezüglich des Grades der 
Ankylosierung für die einzelnen Gelenke nicht gleichmäßig sein muß, 
und daß sich demgemäß auch die Technik für die einzelnen Gelenke 
nicht ganz gleich gestaltet. 

Am häufigsten kommt man in die Lage, an der unteren [Ex¬ 
tremität Arthrodesen zu machen. Und zwar hier wieder zunächst 
am Kniegelenk, annähernd ebenso häufig am Fußgelenk, sehr viel 
seltener am Hüftgelenk. An der oberen Extremität ist das Schulter¬ 
gelenk dasjenige Gelenk, das am häufigsten ankylosiert wird, dann 
der Ellbogen und zuletzt das Handgelenk. 

Untere und obere Extremität der Häufigkeit nach nebenein¬ 
andergestellt, ergibt folgendes Schema: 

1. Kniegelenk, 

2. Fußgelenk, 

3. Schultergelenk, 

4. Hüftgelenk, 

5. Ellbogengelenk, 

6. Handgelenk. 

Die Arthrodese des Kniegelenkes ist verschiedenartig ausgeführt 
worden. Albert resezierte einfach die Gelenkenden, Helfe rieh 
empfahl ebenfalls die bogenförmige Resektion, setzte aber, um eine 
sichere knöcherne Verwachsung zu erzielen, dem bogenförmigen 
Sägeschnitt noch einige senkrecht zu ihm stehende Kreuzschnitte 
hinzu. 

Um eine exakte Knochenvereinigung zu bekommen, hat man 


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Zar Technik der Arthrodesenoperation. 


227 


mit Silberdraht genäht, oder man hai, wie Hahn angegeben, ver¬ 
nickelte Nägel oder, wieKarewski, Elfenbeinstifte eingeschlagen. 
Man hat zu diesen Mitteln gegriffen, weil man glaubte, dadurch 
eine bessere Festigkeit erreichen zu können. 

Meiner Ansicht nach hat das Einnageln zwei Nachteile. Ein¬ 
mal ist die Enochensubstanz gelähmter Knochen oft butterweich 
und die Nägel finden, wenn sie nicht sehr lang sind und bis in die 
Diaphysen beider Knochen hineinragen, keinen genügenden Halt. 
Hoffa gibt sogar an, man dürfe mit den Nägeln nicht sparsam 
sein! Auf jeden Fall werden ein oder mehrere Fremdkörper dem 
Knochen ein verleibt, was natürlich nicht gleichgültig für den Or¬ 
ganismus ist. Wenn auch Silberdraht und Elfenbeinstift einheilen, 
so ist doch oft genug ein Ausstößen dieser Fremdkörper beobachtet 
worden. Hahn gibt an, daß die vernickelten Nägel nach 5 Wochen 
herausgenommen werden müssen. Dann müssen also wieder Eon* 
tentivverbände gemacht werden. Durch die Einfügung der Fremd¬ 
körper tritt also sicherlich keine Vereinfachung des Verfahrens ein 
und ob die Konsolidation dadurch eine bessere wird, ist immerhin 
noch fraglich. Jedenfalls wäre die Anwendung dieser umständ¬ 
lichen Methode nur dann gerechtfertigt, wenn es auf andere Weise 
durchaus nicht gelingt, die genügende Festigkeit zu erreichen. 

Die Tatsache vollkommener Ankylose nach aus^ebiger Re¬ 
sektion durch bogenförmige Absägung des unteren Femur- und des 
oberen Tibiaendes bei tuberkulöser Gonitis ist aber lange genug 
bekannt, um auch den Schluß zu gestatten, daß die einfache Resek¬ 
tion der Knochenenden bei dem spinal gelähmten Knie zu einer 
vollkommenen Ankylose führen kann. Allerdings hat diese Art der 
Arthrodesierung für das Schlottergelenk den einen Nachteil, daß 
doch immerhin von beiden Knochen etwas Substanz entfernt wird 
und die Verkürzung, welche die Extremität schließlich erfährt, doch 
mindestens größer ist, als wenn nur der Knorpel entfernt wird. Oft 
ist bei der spinalen Kinderlähmung das gelähmte Bein an sich schon 
um einige Zentimeter kürzer als das andere. Deshalb sollte 
man jede künstliche Vermehrung der Verkürzung mög¬ 
lich st zu vermeiden suchen und möglichst haushälterisch 
mit dem Knochenmaterial umgehen. Aus dem Grunde 
habe ich von der bogenförmigen typischen Resektion 
abgesehen und auch bei der Arthro desierung des Knie¬ 
gelenkes mich auf die einfache Knorpelabschälung 


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328 


Peter Bade« 


beschränkt« Diese führe ich mit einem scharfen^ kräftigen Re-* 
Sektionsmesser aus« Bisweilen, wenn der Knorpel sehr fest mit dem 
darunter liegenden Knochen verwachsen ist, benutze ich, um die 
letzten Knorpelinselchea ganz zu entfernen, ein hakenförmiges In-* 
strumept oder einen scharfen Löffel« 

Es gestaltet sich demnach bei mir die Arthrodese des Knie¬ 
gelenkes folgendermaßen: Der Operateur steht an der Außenseite 
des Knies, das Knie liegt in leichter Beugestellung. Der Gelenk¬ 
spalt wird vor der Eröffnung abgetastet. Ein vorderer Bogenschnitt 
(nach Textor), welcher vom inneren Kniegelenkspalt zum äußeren 
geht, durch schneidet an seiner Vorderseite oberhalb der Spina tibiae 
das Ligamentum proprium und dringt möglichst sofort auf den 
Knochen. Die Ligamenta lateralia werden durchschnitten. Jetzt 
wird das Knie in rechtwinklige Beugestellung gebracht, so daß die 
Fußsohle den Tisch berührt« Dann, werden die Lig« cruciata durch¬ 
schnitten, das Knie in noch stärkere Flexion gebracht. Jetzt liegt, 
wenn man die Patella nach dem Oberschenkel zurückklappt, das 
ganze Gelenk frei. 

Nun werden zunächst der äußere und innere Fibrocartilago 
interarticularis mit der Schere fortgeschnitten und dann beginnt die 
Knorpelabschälung. Das Messer dringt bis auf den Knochen und 
schneidet in einigen flachen Zügen den Knorpel bis auf die Oberfläche 
fort. Man nimmt systematisch die einzelnen Kondylen des Oberschenkels 
vor, an der Außenseite des Cond. ext. beginnend, diesen erst ganz von 
Knorpel ablösend, dann den internus, dann die Fossa poplitea. Es resul¬ 
tiert dann die vollständige Form des unteren Endes vom Oberschenkel¬ 
knochen, der überall rauhe Oberfläche zeigt. Ebenso wird das obere Ende 
der Tibia abgeschält. Die Eminentia intercondylica sind meist, wenig¬ 
stens bei Kindern, noch vollkommen knorpelig und verschwinden ganz. 
Die Tibiafläche hat in der Mitte meist eine kleine, wenige Milli¬ 
meter betragende Erhöhung, seitlich davon eine leichte Vertiefung, 
und die Ränder der Tibia sind wieder leicht erhöht. Zum Schluß 
wird noch die Gelenkfläche der Patella abgeschält. Bei kleineren 
Kindern bleibt oft nichts von der Patella übrig, bei Erwachsenen 
aber wird die rauhe Patellafläche zwischen die Kondylen gelegt, das 
Ligament an die Spina tibiae. Unter- und Oberschenkel in Völlige 
Streckstellung gebracht und jetzt, nachdem nichts am Knochen, 
nichts an der Kapsel, nichts an den Ligamenten genäht ist, sondern 
nur frische Wundflächen aneinander liegen, die Haut durch Silknaht 


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Zur Technik der Arthrodesenoperation. 


229 


vollständig vereinigt* Daun wird ein steriler Kompressionsverband 
angelegt; jetzt erst der Esmarchsehe Schlauch entfernt und sofort 
ein Beckengipsverband, von den Zehen angefangen, angelegt. 

Es erfolgt stets aseptische Heilung. Die Silkfäden bleiben 
4—6 Wochen liegen. Dann werden sie und der ganze Verband 
entfernt, und es folgt ein Oberschenkelverband, der das Becken frei 
läßt, aber den Fuß einschließt. Dieser Verband wird ohne Polsterung 
direkt auf die mit einer Mullbinde umwickelte Haut gelegt und muß 
ganz exakt dem Glied anliegen. Er wird möglichst dünn gemacht, 
damit er nicht zu schwer ist und das Gehen ermöglicht» Von der 
4.—6. Woche an lasse ich mit diesem Gips verband gehen. Der 
Verband bleibt mindestens noch 3 Monate liegen. In der Regel 
lasse ich Jahr ganzen im Verband gehen, denn der Erfolg 
der Arthrodese hängt von einer vollständigen Ankylosierung ab, 
diese tritt aber bei den gelähmten Extremitäten entschieden viel später 
ein, als sonst bei Knochenbrüchen. Nimmt man den Verband zu früh 
ab, ‘etwa schon nach 8 Wochen, so ist der Gallus noch zu weich und 
es tritt unfehlbar Flexionsstellung ein. Diese muß aber auf jeden 
Fall vermieden werden. 

Die Arthrodese des Fußgelenkes braucht nicht absolute Ankylose 
anzustreben. Sie muß im Gegenteil eine geringe Beweglichkeit zu¬ 
lassen, weil der Gang dann ein besserer, elastischerer ist. Diese 
Beweglichkeit darf aber nicht so hochgradig sein, daß der Fuß aus 
der rechtwinkligen Stellung in die Spitzfußstellung zurückfällt. Die 
Beweglichkeit darf nur gering sein, nur etwa 20 Grad betragen. 
Es fällt deshalb am Fußgelenk von vornherein jede Knochennaht 
fort, und es wird nur die Knorpelabschälung geübt. Ein Assistent 
fixiert den Unterschenkel, ein zweiter drückt den Fuß etwas in Spitz¬ 
fußstellung. Ich habe mir MalleoL ext. und internus markiert und 
führe einen queren Verbindungsschnitt an der Vorderseite des Ge¬ 
lenkes zwischen beiden Knöcheln herbei. Der Schnitt durchtrennt 
die Haut, das Ligament, capsulare, die Sehnen vom Extensor digit. 
communis, vom Tibialis anticus und vom Extensor hallucis. Die 
Arteria dorsalis pedis wird geschont und durch einen flachen Haken 
nach der Außenseite gedrängt. Dann werden, indem der Fuß immer 
mehr in Spitzfußstellung gedrängt wird, die Lig. fibulare calcaneum, 
dieLig. fibula tali anterior, Lig. tibia fibulare ant. und das Lig. laterale 
int durchtrennt, dann das Fußgelenk luxiert, sodaß die Knorpel¬ 
fläche des Talus und die Gabel zwischen Malleol. externus und in*- 


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230 


Peter Bade. 


ternus freiliegt. Die Gelenkfläche des Talus wird vollständig vom 
Knorpel befreit, die äußere und innere Fläche gut abgeschält, und 
der Enorpelüberzug von Malleolus internus fortgenommen. Die Spitze 
des Malleolus externus lasse ich gewöhnlich unberührt, namentlich 
bei Kindern, weil sie ganz knorpelig ist und man sie überhaupt^ 
um den Knochen wund zu machen, ganz fortnehmen müßte. Ich 
begnüge mich gewöhnlich damit, eine dünne Knorpellage abzuträgen» 
In der Gabel selbst lasse ich gewöhnlich kleine Knorpelinseln stehen, 
um nicht vollständige Ankylose zu bekommen. Ist die Knorpelab- 
Schälung in genügendem Maße ausgeführt, so wird der Fuß in recht¬ 
winklige Beugung gebracht, die Knochenwundflächen gut aneinander 
gedrückt und dann die Haut genäht. Auf die Naht der durch¬ 
schnittenen Sehnen, auf die Naht der Kapsel wird verzichtet. Dio 
Sehnen kontrahieren sich nicht, weil keine kontraktile Substanz in 
den Muskeln mehr ist. Da sie vorher infolge der Spitzfußstellungp 
verlängert waren, kommen die Stümpfe jetzt, bei der rechtwinkligen 
Stellung des Fußes, über oder nebeneinander zu liegen. Sie ver¬ 
wachsen gewöhnlich miteinander, was man bisweilen, wenn noch eino 
Spur Bewegungskraft in den Muskeln gewesen ist, daran sehen kann^ 
daß die Sehnen, wenn sie in verkürzter rechtwinkliger Stellung ver¬ 
wachsen sind, nach der Arthrodesierung leicht Sehnenbewegungen 
ermöglichen. Eine Naht der Weichteile, auch die von Vulpius an¬ 
gewandte Fasciodese oder Tenodese habe ich niemals für notwendig 
gefunden. Man kann durch einfache Knochenanfrischung vollständige 
Ankylosierung erreichen, das ist aber durch keine Kapselplastik^ 
keine Fasciennaht möglich. Da wir aber für das Fußgelenk absolute 
Ankylose garnicht einmal für wünschenswert halten, so lassen wir 
die Ankylosierung einfach nicht so vollständig werden, verzichten aber 
auf Methoden, die von vornherein keine knöcherne Ankylose zulassen 
können. Der Gallus ist das beste Fixationsmittel für schlotternde Ge¬ 
lenke, ihn kann keine Kapsel, Sehnen, Fasciennaht ersetzen. 

Die Hautnaht mit Silk. Gipsverband bis über das Knie. 

Entfernung der Fäden nach 4 Wochen. Mindestens acht 
Wochen Gehen mit Gipsverband. Dann Hülse für die Nacht, welche 
die rechtwinklige Stellung des Fußes wahrt. 

Die Arthrodesen des Knie- und Hüftgelenkes sind die bei 
weitem häufigsten, deshalb habe ich ihre Technik besonders aus¬ 
einandergesetzt. Bei den übrigen Gelenken werde ich mich nur 
auf allgemeine Punkte beschränken. 


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Zur Technik der Arthrodesenoperation. 


231 


Was zunächst das Schultergelenk anlangt, das bezüglich der 
Häufigkeit der Arthrodesierung an dritter Stelle steht, so hat be¬ 
sonders Vulpius die Operation empfohlen und des öfteren ausgeführt. 
Vulpius empfiehlt besonders die Naht der Knochen mittels zwei 
Silberdrahtfäden. Ich glaube, daß beim Schultergelenk die Knochen¬ 
naht zu empfehlen ist, einmal, weil wir beim Schultergelenk durch 
funktionelle Belastung, wie bei der unteren Extremität, eine Ver¬ 
stärkung der Konsolidation nicht erreichen können und weil vielleicht 
•die Schwere des Armes nach der Verbandabnahme distrahierend auf 
die Oelenkenden wirkt. Diese Distraktion kann zweckmäßig durch 
Silberdrahtnaht ausgeglichen werden, oder aber man ist gezwungen 
recht lange Zeit (4—6 Monate) einen festen Verband und fast eben¬ 
solange eine Nachbehandlungshülse für das Schultergelenk tragen 
zu lassen. Ich habe mit der einfachen Resektion des Schulterge¬ 
lenkes in wenigen Fällen aber auch gute Resultate gehabt, ohne der 
Knochennaht zu bedürfen, glaube jedoch, daß sie die Verbandperiode 
um einige Monate abkürzen kann. 

Die Eröffnung des Gelenkes erfolgt wie bei der Schultergelenk¬ 
resektion in typischer Weise durch den vorderen Längsschnitt. Das 
Messer wird durch das Lig. coraco-acromiale gestochen bis auf den 
Knochen und nun durch den sehnigen, oft papierdünnen Deltoides- 
fnuskel bis zu seinem Ansatz entlang geführt. Dann wird stark 
«dduziert, um die Gelenkkapsel, welche meist sehr weit ist, etwas 
zu spannen, zwei Schnitte schlitzen den Sulcus intertubercularis ein, 
<ler Gelenkkopf wird luxiert, der Knorpel abgeschält, die Pfanne mit 
•einem scharfen Löffel ihres Knorpels beraubt. Dann der Kopf durch 
Abduktion von etwa 45 Grad der Pfanne möglichst genähert. Die 
Kapsel vernäht und die Hautnaht gemacht. Oder nach Vulpius 
Torher zwei Drähte durch Kopf und Proc. acromialis gelegt. Ver¬ 
band 2—4 Monate. 

Das Hüftgelenk bedarf der Drahtnaht nicht. Die Arthrodese 
des Hüftgelenkes ist überhaupt sehr selten auszuführen. Ich habe 
trotz hochgradigster Lähmung erst ein einziges Mal sie ausführen 
müssen bei einem Jungen, bei dem doppelseitige Glutaeenlähmung 
war, bei dem ich außerdem zwei Fußgelenksarthrodesen, eine Knie¬ 
arthrodese, einen Quadrizepsersatz machen mußte. Das Kind geht 
jetzt an zwei Stöcken. 

In der Regel ist nämlich bei den schwersten spinalen Lähmungen 
der unteren Extremitäten ein Hüftmuskel und die kleinen Zehen- 


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23ä Peter Bade. Zur Technik der Arthrodeaenoperation. 

beuger erhalten. Wenn auch nicht die Spur von Muskulatur vorhanden 
isty so findet mftn doch fast immer einen Tensor fasciae latae. Das 
Kind ist dann im stände, mit diesem sein Bein vorwärts zu schleudern. 
Selbst wenn dieser Muskel fehlt, aber an der andern Seite ein 
Gllutaeus ist und der Tensor fasciae latae, so kann das Kind — ich 
beobachte gerade z. Z. einen solchen Fall — durch Rumpfdrehung 
das Bein vorwärts schleudern. Die Arthrodesierung ist nur dann 
nötig, wenn beim Stehen der gelähmte Oberschenkel in starke 
Abduktionsstellung hinein geknickt wird und das Kind keinen festen 
Halt infolge dieses Abrutschens findet. Zur Eröffnung des Gelenkes 
bringt man das Bein in starke Adduktion und Innenrotation, so daß 
man durch die dünne Muskulatur den Trochanter, den Hals und die 
Peripherie des Kopfes durchfühlen kann. Jetzt macht man einen 
bogenförmigen Schnitt — älterer, äußerer Bogenschnitt — über 
Kopf, Hals und Trochanter, der direkt auf den Knochen geht. Die 
Wundränder werden auseinander gezogen, der Kopf luxiert, sein 
Knorpel abgeschält, dann die Pfanne mit dem Hof faschen Löffel 
ebenfalls möglichst vom Knorpel befreit. 

Keine Drahtnaht, keine Kapselnaht, sondern tiefgehende Haut¬ 
naht. 2 Monate Beckengips verband, dann kein Verband, sondern 
Versuche zu gehen. Da aber meist in der Zwischenzeit an anderen 
Gelenken auch noch Operationen gemacht worden sind, dauert es 
oft ein halbes bis fünfviertel Jahre, bis ein solches Kind an den 
Gehbock kommt. 

lieber die Arthrodesierung der Hand- und Ellbogengelenke, 
die wegen spinaler Lähmung sehr selten sind, gilt die allgemeine 
Technik der Resektionen, die nur insofern modifiziert zu werden 
braucht, als man keine Kapselexzisionen nötig hat und nur gesunden 
Knorpel zu entfernen braucht. 

Auch hier muß die Verbanddauer sehr lang bemessen werden, 
beim Handgelenk etwa 8 Wochen, beim Ellbogengelenk 3 Monate. 


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XVL 


Der orthopädische Operationstisch im hannoverschen 
Krüppelheim Anna-Stift*). 

Von 

Dr. Peter Bade- Hannover. 

Mit 14 Abbildungen. 

Der neue orthopädische Operationstisch, welchen Sie hier vor 
sich sehen, ist entstanden aus dem Heusner-Eng eis sehen Re¬ 
dressionstisch. Die Form ist im großen ganzen dieselbe wie bei 
dem ursprünglichen alten Modell, d. h. der Tisch ruht auf einem 
soliden Untergestell aus Gasrohren, die eine Höhe von etwa 97 cm 
bei dem alten Modell haben. Dadurch nun, daß ich den Unterbau 
des Tisches, dessen Breite beim alten Modell etwa 60 cm beträgt, 
um ca. 20 cm verbreitert habe, ist der Tisch im ganzen auf eine solidere 
Unterlage gesetzt worden, und zweitens ist die Höhe des Tisches 
um etwa 8 cm verringert worden. Dies hat namentlich für die Be¬ 
handlung der angeborenen Hüftverrenkung einen Vorteil, weil man 
auf dem etwas niedrigeren Tische mit größerer Kraftentwicklung 
arbeiten kann, als wenn der Tisch so hoch ist, wie der ursprüng¬ 
liche Heusnersche. Die Verbreiterung des Unterbaues und die 
Verringerung der Höhe habe ich einfach erreicht dadurch, daß ich 
die Kröpfung, welche in der Mitte der vier Füße des Tisches sitzt, 
bedeutend vermehrt habe. Sie bildet an meinem Tische einen voll¬ 
ständig rechten Winkel, während sie beim Heusnerschen Tisch 
eine leicht geschwungene Linie darstellt. Durch diese rechtwinklige 
Kröpfung der Füße ist der Vorteil erzielt worden, daß der Operateur 
seinen Fuß fest gegen die Kröpfung stemmen kann und damit einen 
festen Widerhalt des Fußes zum sicheren Arbeiten gewinnt, ein Vor¬ 
teil, welcher beim orthopädischen Arbeiten, das oft mit großer Kraft- 

*) Demonstriert auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für 
orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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234 


Peter Bade. 


entwicklung Tor sich gehen muß, nicht zu unterschätzen ist. Auch 
Heusner hat diesen Wert des festen Stützpunktes für den Fuß er¬ 
kannt und an seinem Tisch an den Vorderfüßen zwei kurze Quer¬ 
leisten angebracht, gegen welche die Füße angestemmt werden 
können. Diese kommen durch meine Anordnung in Wegfall und 
stören infolgedessen nicht mehr die Einfachheit der Konstruktion. 

Beim Heusnerschen Tisch ruht auf dem Unterbau ein System 
von zurückklappbaren Tischplatten, das auf zwei Querstäben, welche 
von den beiden Vorderfüßen zu den Hinterfüßen des Tisches ziehen, 
hin und her gleitet. Auch dieses System der Platten ist an meinem 
Tische geblieben, doch hat es verschiedene Aenderungen erfahren: 

1. sind die Platten an meinem Tisch sämtlich fortnehmbar, 
was bei dem Heusnerschen Gestell nicht der Fall ist. Beim 
Heusnerschen Gestell sind die Stäbe, auf denen die Platten gleiten, 
rund; die Füße der Platten mit einem geschlossenen Rohr versehen, 
welches auf den Querstäben gleitet; eine Flügelschraube stellt die 
Platten fest. Bei meinem Tisch hingegen ist der Querstab, auf dem 
die Platten gleiten, viereckig und an den Seiten mit einer Aus¬ 
sparung versehen. Die Füße der Platten, welche in dieser Aus¬ 
sparung hin und her gleiten, sind nicht vollständig geschlossene Röhren, 
sondern, entsprechend dem viereckigen Gleitstabe, Vierecke, deren 
unterer Boden entfernt ist, so daß also eine ganze Tischplatte mit 
ihrem Fuße aus dem Tisch entfernt werden kann. Dies ist nicht 
nur ein Vorteil, der bei der Reinigung des Tisches sehr wichtig ist, 
sondern der auch bei manchen Rumpfverbänden, die auf dem Tisch 
gemacht werden können, sehr in die Wagschale fällt. 

Eine zweite wesentliche Aenderung haben die Tischplatten 
selbst erfahren. Die Anzahl ist zwar dieselbe geblieben wie beim 
Heusnerschen Tisch, d. h. wir haben an der vorderen Abteilung 
des Tisches fünf Platten und an der hinteren Abteilung des Tisches 
ebenfalls fünf Platten. Während nun die Platten am Heusner¬ 
schen Tisch vollständig solide gearbeitet sind, habe ich an meinem 
Tisch die Platten durch ein System von Schlitzen durchbrechen 
lassen. Die Schlitze sind so angeordnet, daß sie doch nicht die 
Solidität der einzelnen Platten gefährden. Durch dieses System von 
Schlitzen will ich in der Lage sein, Zugwirkungen nach den ver¬ 
schiedensten Richtungen von der Oberfläche des Tisches aus aus¬ 
üben zu können. Die letzte und vorletzte Platte des Tisches be¬ 
sitzen außerdem noch eine kreisförmige Aussparung für den Kopf. 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


235 


Endlich sind die vorderen Platten mit zwei Griflfen versehen, welche 
durch ein Kugelgelenk zurtickgeklappt werden können und in nicht 
benutzbarem Zustande senkrecht zur Tischoberfläche nach unten, dem 
Boden des Zimmers zu schauen und durch ihre Lage dann in keiner 
Weise stören. Zur Anbringung dieser Griffe an den vorderen Enden 
der Tische wurde ich veranlaßt durch den Schulze-Duisburg- 
schen Elumpfußosteoklasten. Dadurch, daß diese Griffe an meinem 
Tisch angebracht sind, ist ein forciertes Redressement des Klump¬ 
fußes, wie Schulze es übt, auch an meinem Tische ermöglicht. 
Da nun aber beim Heusnerschen Tisch die vorderen Tischplatten, 
an denen ich meine Griffe angebracht habe, nur bis zu 90sich 
zurückklappen lassen, so mußte ich an meinem Tisch auch die 
Scharniere an den vorderen Tischplatten ändern. Sie mußten so an¬ 
gelegt werden, daß ich die vordere Tischplatte nicht bloß bis 90^ 
sondern bis 180® herumklappen kann; nur auf diese Weise ist eine 
volle Entfaltung der Kraft für das Klumpfußredressement möglich. 
Soviel über das Hauptgestell und die Hauptplatten des Tisches. 

Beim Heusnerschen Tisch sind an den Vorderftißen noch 
zwei Vorrichtungen angebracht für die forcierte Extension, ferner 
ein BeckenbügeL Die Extensionsvorrichtungen, welche Extensionen 
nach vorn, nach oben, nach der Seite zulassen, habe ich unverändert 
übernommen, dagegen habe ich den Beckenbügel geändert. Der 
Heusn er sehe Beckenbügel war ein aufrecht ziehender Stab, welcher 
eine Sitzvorrichtung für das Steiß- und Kreuzbein besaß. Dadurch, 
daß die Sitzfläche senkrecht an dem Befestigungsstab ansaß, war es 
nicht möglich, einen Beckengipsverband exakt anzulegen, weil immer 
die unterhalb des Sitzes befindliche Stange hinderlich war. Ich habe 
diesen Nachteil zu vermeiden gesucht dadurch, daß ich die Stange 
unterhalb des Sitzes wegfallen ließ und den Sitz nur an der oberen 
Stange befestigte. Es ist dadurch das ungehinderte Arbeiten an 
dem Becken des Kindes ermöglicht. Die Befestigung der Stangen, 
welche diese Beckenschwebe trägt, geschieht durch einen Metall¬ 
zapfen, welcher mittels einer Flügelschraube befestigt wird. Dieser 
Metallzapfen ist durch einen halbkreisförmigen Metallbügel mit der 
Beckenschwebe verbunden. Die Beckenschwebe selbst habe ich für 
fünf Größen hersteilen lassen, welche mit Leichtigkeit ausgewechselt 
werden können. 

Am hinteren Ende des Tisches hat Heusner eine Kontra- 
extensionsvorrichtung angebracht, welche eine Extension nach einer 


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236 


Peter Bade. 


Richtung hin ermöglicht durch eine Eurbelvorrichtung. Ich habe 
diese Extensionsvorrichtung in folgender Weise verändert, um eine 
Extension nach verschiedenen Richtungen hin zu erreichen. An den 
beiden oberen Enden der Hinterfüße des Tisches befinden sich zwei 
Platten mit einem Schlitz. Durch diese Schlitzvorrichtung kann ich 
den Rahmen, welcher die hintere Extensionsvorrichtung trägt, von 
seiner Horizontalstellung in die Vertikalebene überführen, ich kann 
also die Extensionsvorrichtung am Kopf um 90 ® variieren* Flügel¬ 
schrauben stellen an beiden Seiten die gewünschte Richtung der Ex-» 
tension fest. Diese Verschieblichkeit der Kopfextension ist sehr 
wichtig beim Anlegen von Rumpfgipsverbänden, bei der Herstellung 
von Reklinationgipsbetten. 

Um nun auch eine Extension nach hinten und unten zu er¬ 
möglichen, was der Heusnersche Tisch nicht zuläßt, habe ich an 
beiden Seiten des Tisches, zwischen dem Yorder- und dem Hinter¬ 
fuß, dort, wo die rechtwinklige Kröpfung der Füße liegt, je eine 
Extensionsvorrichtung angebracht. Eine Schnecke, welche durch eine 
Feder arretiert wird, ist mit einer Walze in Verbindung gebracht, 
die an den Hinterfüßen mit einer Drehvorrichtung versehen endet. 
Die Walze selbst ist mit verschiedenen Zapfen besetzt, an welche 
Flanellbindenenden befestigt werden können oder Matratzengurte, die 
an ihrem Ende mit einem Ring versehen sind, hineingehakt werden 
können* Dreht man die Kurbel, so werden sich die Bindenenden um die 
Walze herumschlingen, und es kann durch die Drehung und durch 
verschiedenartige Befestigung der Züge hinten oder in der Mitte ein 
in verschiedener Richtung nach unten gehender Zug angewandt wer¬ 
den. Dadurch, daß die Tischplatten Schlitze haben, ist es möglich, 
die Züge von der Tischplatte aus nach abwärts in jeder beliebigen 
Richtung wirken zu lassen. 

Was endlich die Art der Züge anlangt, so benutze ich für die 
Fußextension einfache Baumwollquelen, für die Extension nach dem 
Kopf die übliche Kopfschlinge, welche in Verbindung gesetzt ist mit 
breiten festen Gurten, für die Extension nach unten kräftigen Trikot¬ 
schlauch oder kräftige Flanellbinden, je nach der Stärke des Körper¬ 
teils, auf den ein Zug ausgeübt werden soll. 

Die mannigfache Anwendungsweise des Operationstisches mögen 
Ihnen folgende Bilder und Beschreibungen demonstrieren: 

1. Der Tisch dientzur Vornahme von Rumpfgips verbänden (Fig.l). 

Soll ein Rumpfverband in vertikaler Extension angelegt wer^ 


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Der orthopädisbhe Operationstisch etc. 


237 


den, so wird eine Glissönsche Kopfschwebe in die beiden Karabiner 
der vorderen Extensionsvorrichtungen gehängt. Die beiden vorderen 
Extensionsvorrichtungen werden nach Lösen der Flügelschrauben so 
gestellt, daß man das Kind bequem in die senkrecht herabhängende 
Schwebe hineinstellen kann. Die Extension geschieht nun einfach 
durch Andrehen der beiden Kurbeln. Der Arzt sitzt auf einem 


Fig. 1. 



Stuhl hinter dem Patienten und kann nun den Verband, ohne sich 
bücken zu müssen, anlegen. Auf diese Weise ist es möglich, Modelle 
vom Rumpf zu nehmen für abnehmbare Korsette und auch fest¬ 
anliegende Rumpfverbände zu machen. Soll der Kopf mit in den 
Verband genommen werden, so benutzt man anstatt der Glisson- 
schen Schwebe einen Wattemull verband, indem man den Hals und 
den Kopf einwickelt, und läßt die Enden der Binden, je zwei von 
beiden Seiten, an den Karabinern endigen. Die Mullbindenenden 
werden dann, wenn der Verband fertig ist, einfach abgeschnitten« 


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238 


Peter Bade. 


Der Verband, in dieser Weise angelegt, eignet sich zu Modellver¬ 
binden bei Spondylitis cervicalis und dorsalis, wenn in der Nach¬ 
behandlungsperiode ein Portativapparat mit einer Kopfstützvor¬ 
richtung versehen verordnet wird. Er eignet sich auch zur 
Anlegung von Verbänden beim Schief hals, und zwar bevorzuge 
ich ihn hierbei sehr, weil man durch stärkere Extension an 


Fig. 2. 



der einen Seite, stärkeres Andrehen der einen Kurbel mit Leichtig¬ 
keit eine Ueberkorrektur der Zervikalskoliose erreichen kann. Das 
ist bei den gewöhnlichen Extensionsvorrichtungen nicht möglich; 
insofern eignet sich der Tisch sehr gut zur Nachbehandlung des 
Schiefhalses. 

(Fig. 2, 3 und 4.) Soll der Tisch für Rumpfgipsverbände in 
horizontaler Richtung angewandt werden, so wird der Patient auf 
den Tisch gelegt, er hält sich mit seinen Händen am Kopfbrett fest 
und man kann einfach nach Herunterklappen der Platten den Ver¬ 
band anlegen. Wenn eine starke Reklination dabei gewünscht wird, 
wie es z. B. bei der Spondylitis dorsalis nötig ist, dann kann man 


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Der orthopädische OperatioDstisch etc. 


239 


Fig. 3. 



den Kopf mit einer Extensionsschlinge versebent die Enden der Ex¬ 
tensionsschlinge werden an die Zapfen der hinteren Extensionskurbel 
befestigt, die Flügelmuttern an den beiden seitlichen Schlitzvorrich-» 


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24Q 


Pet^r Bade. 



lieh entsprechend der Extension stärker anspannt und das Hinunter¬ 
sinken des Kindes verhindert, ist eine möglichst angenehme Lagerung 
gesichert. An beiden Füßen sind Baumwollquelen angelegt, welche 
die Eontraextension besorgen. Es läßt sich auf diesem Tisch in der 
angegebenen Weise ein forciertes Redressement der Skoliose ermög¬ 
lichen, ähnlich wie es im Wul Ist ein sehen Rahmen möglich ist, nur 
mit dem Unterschied, daß beim Wullsteinschen Rahmen die Kinder 
das vertikale Redressement aushalten müssen, während hier ein hori¬ 
zontales Redressement ausgeführt wird. Daß die Redression in hori¬ 
zontaler Richtung 1« für die Kinder angenehmer und 2. für den Arzt 
leichter ist, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung. Es frägt sich 
nur, ob auch bei horizontalen Extensionen die Verschiebungen so 


tungen werden gelöst und die hintere Extensionsvorrichtung in die 
j(4^eigung gebracht, welche für die Verbandanlegung am zweck¬ 
mäßigsten ist. Dann wird die Extension so weit gesteigert, wie das 
Kind es aushalten kann. Damit die Lage des Kindes nicht zu un¬ 
bequem ist, wird ein breiter Ourt an seinem einen Ende an den 
Bügel der Beckensebwebe befestigt, er läuft unter dem Bauch und 
der Brust des Kindes hinüber und ist ebenfalls oben an der Kopf¬ 
extensionskurbel befestigt. Durch diesen Gurt, welcher sich natür- 

Fig. 5, 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


241 


ausgeglichen werden können, wie bei der vertikalen. Die Becken- 
senkung kann jederzeit durch stärkeres Andrehen der Fußextension 
an der einen Seite ermöglicht werden. Die Rotation des Beckens 
kann dadurch beseitigt werden, daß man die eine Extensionsvorrich- 
tung tiefer stellt als die andere; auf diese Weise läßt sich ebenso 
wie im Wu 11s t ein sehen Apparat die Lendenskoliose beeinflussen. 
Die zervikale Skoliose und der obere Teil der Dorsalskoliose läßt 
sich durch kürzeres oder längeres Einhaken der Züge, welche die 


¥ig. 6. 



Glisson sehe Schwebe befestigen, an der einen oder anderen Seite 
ermöglichen. Dadurch wird der Kopf schief gestellt, und infolge¬ 
dessen kann an der konkaven Seite, an welcher der Zug kürzer ge¬ 
wählt ist, ein stärkerer Zug ausgeübt werden. Die Torsion des 
Rippenbuckels kann man in der Weise sehr gut beeinflussen, daß 
man einen breiten Zug über den Rippenbuckel legt, diesen durch 
einen Schlitz in der Tischplatte zur unteren Walze gehen läßt und 
durch Drehung der Kurbel mittels des Zuges einen Druck auf den 
Rippenbuckel ausübt. Befestigt man den Zug an derselben Seite, an 
der der Rippenbuckel ist, so wird nur ein kräftiger Druck auf den 
Rippenbuckel ausgeübt, läßt man ihn hingegen nach der entgegen¬ 
gesetzten Seite auf die Kurbel übertragen, so wird ein stärkerer 

Zeitschrift fUr orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 10 


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242 


Peter Bade. 


Druck in diagonaler Richtung auf den ganzen Brustkorb ausgeübt 
und dadurch auch eine Einwirkung auf die Torsion der Wirbelsäule 
selbst ermöglicht. Es ist notwendig, daß man betreffs Anordnung 
der Züge genau ausprobiert, in welcher Richtung die Züge am besten 
wirken, durch welche Schlitze sie am besten hindurchzuführen sind 
und an welcher Stelle der Extensionskurbel sie am besten zu be¬ 
festigen sind. Je länger man an dem Tische arbeitet, desto leichter 
und sicherer wird man in der Handhabung der Züge werden. 


Fig. 7. 



Soll nur ein gewöhnliches Lagerungsbett für leichte Skoliosen 
oder auch für Spondylitiker, zur Behandlung nach Fink, ange¬ 
fertigt werden, so sind selbstverständlich die Extensionsvorrichtungen 
nicht nötig, das Kind liegt einfach auf dem Tisch wie auf jedem 
anderen und man wickelt die Binden um den Teil des Rumpfes ab, 
der in der Gipsschale liegen soll, wie es Fig. 4 zeigt, auf der die 
Herstellung eines Skoliosengipsbettes angedeutet ist. 

2. Der Tisch dient zum Redressement von Kontrakturen, nament¬ 
lich der unteren Extremitäten. 

1. Die Beseitigung der Hüftkontraktur. Der Patient wird so 
auf den Extensionstisch gelegt, daß er mit dem Kreuzbein auf der 
Beckenschwebe liegt. Beide Beine werden mit den Baumwollquelen 
in Verbindung gebracht; dasjenige Bein, welches in Kontraktur¬ 
stellung sich befindet, wird so hingelegt, wie es seiner ankylotischen 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


243 


Stellung entspricht. Man muß also darauf achten, daß die Lordose 
der Lendenwirbelsäule ausgeglichen ist, der Rücken flach der Unter¬ 
lage anliegt. Durch einen breiten Gurt, welcher über beide Becken¬ 
schaufeln hinübergespannt ist und an jeder Seite durch die Schlitze 
des Tisches zu den unteren Extensionskurbeln geleitet wird, wird 
das Becken fest fixiert. Ein Gegenzug, welcher durch einen Gurt, 
der um das Perineum gelegt ist, besorgt die weitere Fixation des 
Beckens. Es wird nun zunächst das gesunde Bein so weit extendiert. 


Fifi:. 8. 



daß das Becken ganz gerade liegt, dann erfolgt Zug am Bein der 
ankylosierten Seite, und zwar in der Richtung, in welcher der 
Schenkel fixiert steht, wie es Fig. 5 zeigt. Aus dieser Richtung geht 
man nun ganz allmählich durch Senken der Extensionsvorrichtung 
über in die normale Stellung des Beines, wie es die folgende Figur 
zeigt. Auch hier erfordert die Anbringung der Züge einige Uebung 
und einiges Geschick. 

2. Die Beseitigung der Kniekontraktur. Da wir es in der 
Regel mit Flexionskontraktur im Kniegelenk zu tun ht^ben, so möge 
als Beispiel von der Wirkung des Tisches eine Flexionskontraktur 
gewählt sein. Das Kind wird nicht auf den Bügel der Becken¬ 
schwebe gelegt, sondern liegt auf dem Tische so, daß das Knie¬ 
gelenk ungefähr auf der mittleren Tischplatte des Vorgestelles ruht. 
Die beiden Vorderklappen des Tisches sind dann niedergeschlagen. 


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244 


Peter Bade. 


Der Gegenzug führt wieder über das Perineum nach der Kopf¬ 
extension. Der Fuß der kranken Seite wird in die Quele der vor¬ 
deren Extensionsvorrichtung getan und diese so eingestellt, daß sie 
die Verlängerung der Achse des Unterschenkels bildet (siehe Fig. 7). 
In dieser Richtung wird ein Zug ausgeübt, ein zweiter Zug liegt 
oberhalb des Kniegelenkes und führt durch die Schlitze der Tisch- 


Fig. 9. 



platten zu den unteren Extensionsquelen. Werden jetzt diese in 
Drehung versetzt, so wird der Oberschenkel nach abwärts gedrückt 
und dadurch die Beseitigung der üblichen Subluxationsstellung er¬ 
möglicht. Durch allmähliche gleichzeitige Anwendung beider Züge 
und durch langsames Uebergehen der Extension des Beines aus der 
diagonalen Richtung in die horizontale, ist die Streckung der Knie¬ 
kontraktur mit Leichtigkeit zu erreichen, wie Fig. 8 zeigt. 

3. Redressement des Klumpfußes. 

Die Behandlung des Klumpfußes läßt sich auf meinem Tische 
ebenfalls ohne Zuhilfenahme anderer Osteoklasten bewerkstelligen. 
Es ist dies ein Vorteil, den kein anderer orthopädischer Operations- 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


245 


tisch bietet; selbst Schulze-Duisburg sagt, daß er bei Anwendung 
seines Verfahrens immer abhängig ist Ton dem Lorenz sehen Osteo¬ 
klasten, mit der er die Adduktionskontraktur des Fußes zunächst be¬ 
seitigen muß. An meinem Tische nun lassen sich alle Akte des 
Redressements vom Klumpfuß vollziehen. Der Patient wird so auf 
den Tisch gelegt, daß sein Haken über dem Gelenk zwischen vor- 


Fig. 10. 



derster und mittelster Tischklappe liegt. Durch Bindenzüge, welche 
den Unterschenkel umgreifen und nach den Walzen der unteren Ex¬ 
tensionskurbeln gehen, wird der Unterschenkel zunächst in seiner 
Lage ganz fest gehalten, dann wird eine Lasche um den Vorderfuß 
gelegt und einerseits mit den Baumwollquelen der vorderen Exten¬ 
sionsvorrichtung versehen, anderseits mit zwei Zügen, welche eben¬ 
falls durch die Schlitze nach zwei Knöpfen an die Unterseite der 
Tischplatte gehen, wo sie befestigt werden. Durch diese Befestigung 
der Laschen soll erreicht werden, daß die Lasche beim Extendieren 
nicht über den Vorderfuß abrutscht. Es werden jetzt, wenn der 
Fuß so armiert ist, die Extensionsvorrichtung seitlich gestellt und 
einige kräftige Extensionen ausgeführt. Der Arzt hilft gleichzeitig 
mit der Hand nach und versucht die Adduktionskontraktur zu lösen. 


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226 


Peter Bade. 


gegen kann gerne einen leichten Grad der Lockerung behalten, weil 
der Gang durch eine gewisse Federung des Fußgelenkes sich besser 
gestaltet, als durch absolute Sturheit des Gelenkes. Am Schulter¬ 
gelenk hinwieder muß man eine größere Festigkeit anstreben als am 
Hüftgelenk, weil der Humeruskopf mit dem Schulterblatt eine mög¬ 
lichst starre, einheitliche Masse bilden muß, wenn die Schulterblatt¬ 
muskulatur durch ihren Angriff auf das Schulterblatt auch den Arm 
heben soll. Ist die Verbindung zu locker, so überträgt sich die 
Bewegung des Schulterblattes nicht genügend auf den Arm. Da¬ 
gegen braucht die Festigkeit im Hüftgelenk keine absolute zu sein, 
weil der Kopf, wenn es sich nicht um paralytische Luxation 
bandelt —, bei Belastung immerhin einen guten Halt am Pfannen¬ 
dach findet und ein Einknicken im Hüftgelenk nicht so zu fürchten 
ist, wie im Kniegelenk. Aus diesen allgemeinen Bemerkungen mögen 
Sie ersehen, daß die Arthrodesenoperation bezüglich des Grades der 
Ankylosierung für die einzelnen Gelenke nicht gleichmäßig sein muß, 
und daß sich demgemäß auch die Technik für die einzelnen Gelenke 
nicht ganz gleich gestaltet. 

Am häufigsten kommt man in die Lage, an der unteren Ex¬ 
tremität Arthrodesen zu machen. Und zwar hier wieder zunächst 
am Kniegelenk, annähernd ebenso häufig am Fußgelenk, sehr viel 
seltener am Hüftgelenk. An der oberen Extremität ist das Schulter¬ 
gelenk dasjenige Gelenk, das am häufigsten ankylosiert wird, dann 
der Ellbogen und zuletzt das Handgelenk. 

Untere und obere Extremität der Häufigkeit nach nebenein¬ 
andergestellt, ergibt folgendes Schema: 

1. Kniegelenk, 

2. Fußgelenk, 

3. Schultergelenk, 

4. Hüftgelenk, 

5. Ellbogengelenk,. 

6. Handgelenk. 

Die Arthrodese des Kniegelenkes ist verschiedenartig ausgeführt 
worden. Albert resezierte einfach die Gelenkenden, Helferich 
empfahl ebenfalls die bogenförmige Resektion, setzte aber, um eine 
sichere knöcherne Verwachsung zu erzielen, dem bogenförmigen 
Sägeschnitt noch einige senkrecht zu ihm stehende Kreuzschnitte 
hinzu. 

Um eine exakte Knochenvereinigung zu bekommen, hat man 


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Zar Technik der Arthrodesenoperation. 


227 


mit Silberdraht genäht, oder man hat, wie Hahn angegeben, ver¬ 
nickelte Nägel oder, wie Karewski, Elfenbeinstifte eingeschlagen. 
Man hat zu diesen Mitteln gegriffen, weil man glaubte, dadurch 
eine bessere Festigkeit erreichen zu können. 

Meiner Ansicht nach hat das Einnageln zwei Nachteile. Ein¬ 
mal ist die Smochensubstanz gelähmter Knochen oft butterweich 
und die Nägel finden, wenn sie nicht sehr lang sind und bis in die 
Diaphysen beider Knochen hineinri^en, keinen genügenden Halt. 
Hoffa gibt sogar an, man dürfe mit den Nägeln nicht sparsam 
sein! Auf jeden Fall werden ein oder mehrere Fremdkörper dem 
Knochen einverleibt, was natürlich nicht gleichgültig für den Or¬ 
ganismus ist. Wenn auch Silberdraht und Elfenbeinstift einheilen, 
so ist doch oft genug ein Ausstößen dieser Fremdkörper beobachtet 
worden. Hahn gibt an, daß die vernickelten Nägel nach 5 Wochen 
herausgenommen werden müssen. Dann müssen also wieder Kon- 
tentivverbände gemacht werden. Durch die Einfügung der Fremd¬ 
körper tritt also sicherlich keine Vereinfachung des Verfahrens ein 
und ob die Konsolidation dadurch eine bessere wird, ist immerhin 
noch fraglich. Jedenfalls wäre die Anwendung dieser umständ¬ 
lichen Methode nur dann gerechtfertigt, wenn es auf andere Weise 
durchaus nicht gelingt, die genügende Festigkeit zu erreichen. 

Die Tatsache vollkommener Ankylose nach ausgiebiger Re¬ 
sektion durch bogenförmige Absägung des unteren Femur- und des 
oberen Tibiaendes bei tuberkulöser Gonitis ist aber lange genug 
bekannt, um auch den Schluß zu gestatten, daß die einfache Resek¬ 
tion der Knochenenden bei dem spinal gelähmten Knie zu einer 
vollkommenen Ankylose führen kann. Allerdings hat diese Art der 
Arthrodesierung für das Schlottergelenk den einen Nachteil, daß 
doch immerhin von beiden Knochen etwas Substanz entfernt wird 
und die Verkürzung, welche die Extremität schließlich erfährt, doch 
mindestens größer ist, als wenn nur der Knorpel entfernt wird. Oft 
ist bei der spinalen Kinderlähmung das gelähmte Bein an sich schon 
um einige Zentimeter kürzer als das andere. Deshalb sollte 
man jede künstliche Vermehrung der Verkürzung mög¬ 
lich st zu vermeiden suchen und möglichst haushälterisch 
mit dem Knochenmaterial umgehen. Aus dem Grunde 
habe ich von der bogenförmigen typischen Resektion 
abgesehen und auch bei der Arthro desierung desKnie- 
gelenkes mich auf die einfache Knorpelabschälung 


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828 


Peter Bade. 


be8chränkt4 Diese führe ich mit einem scharfen, kräftigen Re-* 
Sektionsmesser aus. Bisweilen, wenn der Knorpel sehr fest mit dem 
darunter liegenden Knochen verwachsen ist, benutze ich, um die 
letzten Knorpelinselchen. ganz zu entfernen, ein hakenförmiges In¬ 
strument oder einen scharfen Löffel. 

Es gestaltet sich demnach bei mir die Arthrodese des Knie¬ 
gelenkes folgendermaßen: Der Operateur steht an der Außenseite 
des Knies, das Knie liegt in leichter Beugestellung. Der Gelenk¬ 
spalt wird vor der Eröffnung abgetastet. Ein vorderer Bogenschnitt 
(nach Textor), welcher vom inneren Kniegelenkspalt zum äußeren 
geht, durchschneidet an seiner Vorderseite oberhalb der Spina tibiae 
das Ligamentum proprium und dringt möglichst sofort auf den 
Knochen. Die Ligamenta lateralia werden durchschnitten. Jetzt 
wird das Knie in rechtwinklige Beugestellung gebracht, so daß die 
Fußsohle den Tisch berührt. Dann, werden die Lig. cruciata durch¬ 
schnitten, das Knie in noch stärkere Flexion gebracht. Jetzt liegt, 
wenn man die Patella nach dem Oberschenkel zurückklappt, das 
ganze Gelenk frei. 

Nun werden zunächst der äußere und innere Fibrocartilago 
interarticularis mit der Schere fortgeschnitten und dann beginnt die 
Knorpelabschälung. Das Messer dringt bis auf den Knochen und 
schneidet in einigen flachen Zügen den Knorpel bis auf die Oberfläche 
fort. Man nimmt systematisch die einzelnen Kondylen des Oberschenkels 
vor, an der Außenseite des Cond. ext. beginnend, diesen erst ganz von 
Knorpel ablösend, dann den internus, dann die Fossa poplitea. Es resul¬ 
tiert dann die vollständige Form des unteren Endes vom Oberschenkel¬ 
knochen, der überall rauhe Oberfläche zeigt. Ebenso wird das obere Ende 
der Tibia abgeschält. Die Eminentia intercondylica sind meist, wenig¬ 
stens bei Kindern, noch vollkommen knorpelig und verschwinden ganz« 
Die Tibiafläche hat in der Mitte meist eine kleine, wenige Milli¬ 
meter betragende Erhöhung, seitlich davon eine leichte Vertiefung, 
und die Ränder der Tibia sind wieder leicht erhöht. Zum Schluß 
wird noch die Gelenkfläche der Patella abgeschält. Bei kleineren 
Kindern bleibt oft nichts von der Patella übrig, bei Erwachsenen 
aber wird die rauhe Patellafläche zwischen die Kondylen gelegt, das 
Ligament an die Spina tibiae, Unter- und Oberschenkel in Völlige 
Streckstellung gebracht und jetzt, nachdem nichts am Knochen, 
nichts an der Kapsel, nichts an den Ligamenten genäht ist, sondern 
nur frische Wundflächen aneinander liegen, die Haut durch Silknaht 


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Zur Technik der Arthrodesenoperation. 


229 


vollständig vereinigt. Daun wird ein steriler Kompressionsverband 
angelegt; jetzt erst der Esmarchsehe Schlauch entfernt und sofort 
ein Beckengipsverband, von den Zehen angefangen, angelegt. 

Es erfolgt stets aseptische Heilung. Die Silkfäden bleiben 
4—6 Wochen liegen. Dann werden sie und der ganze Verband 
entfernt, und es folgt ein Oberschenkelverband, der das Becken frei 
läßt, aber den Fuß einschließt. Dieser Verband wird ohne Polsterung 
direkt auf die mit einer Mullbinde umwickelte Haut gelegt und muß 
ganz exakt dem Glied anliegen. Er wird möglichst dünn gemacht, 
damit er nicht zu schwer ist und das Gehen ermöglicht» Von der 
4.—6. Woche an lasse ich mit diesem Gipsverband gehen. Der 
Verband bleibt mindestens noch 3 Monate liegen. In der Regel 
lasse ich V* ganzen im Verband gehen, denn der Erfolg 

der Arthrodese hängt von einer vollständigen Ankylosierung ab, 
diese tritt aber bei den gelähmten Extremitäten entschieden viel später 
ein, als sonst bei Enochenbrüchen. Nimmt man den Verband zu früh 
ab, etwa schon nach 8 Wochen, so ist der Callus noch zu weich und 
es tritt unfehlbar Flexionsstellung ein. Diese muß aber auf jeden 
Fall vermieden werden. 

Die Arthrodese des Fußgelenkes braucht nicht absolute Ankylose 
anzustreben. Sie muß im Gegenteil eine geringe Beweglichkeit zu* 
lassen, weil der Gang dann ein besserer, elastischerer ist. Diese 
Beweglichkeit darf aber nicht so hochgradig sein, daß der Fuß aus 
der rechtwinkligen Stellung in die Spitzfußstellung zurückfällt. Die 
Beweglichkeit darf nur gering sein, nur etwa 20 Grad betragen. 
Es fällt deshalb am Fußgelenk von vornherein jede Knochennaht 
fort, und es wird nur die Knorpelabschälung geübt. Ein Assistent 
fixiert den Unterschenkel, ein zweiter drückt den Fuß etwas in Spitz¬ 
fußstellung. Ich habe mir Malleol« ext. und internus markiert und 
führe einen queren Verbindungsschnitt an der Vorderseite des Ge¬ 
lenkes zwischen beiden Knöcheln herbei. Der Schnitt durchtrennt 
die Haut, das Ligament, capsulare, die Sehnen vom Extensor digit. 
communis, vom Tibialis anticus und vom ExtensoT hallücis. Die 
Arteria dorsalis pedis wird geschont und durch einen flachen Haken 
nach der Außenseite gedrängt. Dann werden, indem der Fuß immer 
mehr in Spitzfußstellung gedrängt wird, die Lig. flbulare calcaneum, 
die Lig. flbula tali anterior, Lig. tibia flbulare ant. und das Lig. laterale 
int durchtrennt, dann das Fußgelenk luxiert, sodaß die Knorpel¬ 
fläche des Talus und die Gabel zwischen MalleöL externus und in*« 


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230 


Peter Bude. 


ternus freiliegt. Die Gelenkfläche des Talus wird vollständig vom 
Knorpel befreit, die äußere und innere Fläche gut abgeschält, und 
der Knorpelüberzug von Malleolus internus fortgenommen. Die Spitze 
des Malleolus extemus lasse ich gewöhnlich unberührt, namentlich 
bei Kindern, weil sie ganz knorpelig ist und man sie überhaupt,, 
um den Knochen wund zu machen, ganz fortnehmen müßte. Ich 
begnüge mich gewöhnlich damit, eine dünne Knorpellage abzutragen» 
In der Gabel selbst lasse ich gewöhnlich kleine Knorpelinseln stehen, 
um nicht vollständige Ankylose zu bekommen. Ist die Knorpelab- 
Schälung in genügendem Maße ausgeführt, so wird der Fuß in recht¬ 
winklige Beugung gebracht, die Knochenwundfläcben gut aneinander 
gedrückt und dann die Haut genäht. Auf die Naht der durch¬ 
schnittenen Sehnen, auf die Naht der Kapsel wird verzichtet. Die 
Sehnen kontrahieren sich nicht, weil keine kontraktile Substanz in 
den Muskeln mehr ist. Da sie vorher infolge der Spitzfußstellung^ 
verlängert waren, kommen die Stümpfe jetzt, bei der rechtwinkligen 
Stellung des Fußes, über oder nebeneinander zu liegen. Sie ver¬ 
wachsen gewöhnlich miteinander, was man bisweilen, wenn noch eine 
Spur Bewegungskraft in den Muskeln gewesen ist, daran sehen kann^ 
daß die Sehnen, wenn sie in verkürzter rechtwinkliger Stellung ver¬ 
wachsen sind, nach der Arthrodesierung leicht Sehnenbewegungen 
ermöglichen. Eine Naht der Weichteile, auch die von Vulpius an¬ 
gewandte Fasciodese oder Tenodese habe ich niemals für notwendig 
gefunden. Man kann durch einfache Knochenanfrischung vollständige 
Ankylosierung erreichen, das ist aber durch keine Kapselplastik^ 
keine Fasciennaht möglich. Da wir aber für das Fußgelenk absolute 
Ankylose gamicht einmal für wünschenswert halten, so lassen wir 
die Ankylosierung einfach nicht so vollständig werden, verzichten aber 
auf Methoden, die von vornherein keine knöcherne Ankylose zulassen 
können. Der Callus ist das beste Fixationsmittel für schlotternde Ge¬ 
lenke, ihn kann keine Kapsel, Sehnen, Fasciennaht ersetzen. 

Die Hautnaht mit Silk. Gipsverband bis über das Knie. 

Entfernung der Fäden nach 4 Wochen. Mindestens acht 
Wochen Gehen mit Gipsverband. Dann Hülse für die Nacht, welche 
die rechtwinklige Stellung des Fußes wahrt. 

Die Arthrodesen des Knie- und Hüftgelenkes sind die bei 
weitem häufigsten, deshalb habe ich ihre Technik besonders aus¬ 
einandergesetzt. Bei den übrigen Gelenken werde ich mich nur 
auf allgemeine Punkte beschränken. 


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Zur Technik der Arthrodesenoperation. 


231 


Was zunächst das Schultergelenk anlangt, das bezüglich der 
Häufigkeit der Arthrodesierung an dritter Stelle steht, so hat be¬ 
sonders Vulpiusdie Operation empfohlen und des öfteren ausgeführt. 
Vulpius empfiehlt besonders die Naht der Knochen mittels zwei 
Silberdrahtfäden. Ich glaube, daß beim Schultergelenk die Enochen- 
naht zu empfehlen ist, einmal, weil wir beim Schultergelenk durch 
funktionelle Belastung, wie bei der unteren Extremität, eine Ver¬ 
stärkung der Konsolidation nicht erreichen können und weil vielleicht 
die Schwere des Armes nach der Verbandabnahme distrahierend auf 
die Gelenkenden wirkt. Diese Distraktion kann zweckmäßig durch 
Silberdrahtnaht ausgeglichen werden, oder aber man ist gezwungen 
recht lange Zeit (4—6 Monate) einen festen Verband und fast eben¬ 
solange eine Nachbehandlungshülse für das Schultergelenk tragen 
2 U lassen. Ich habe mit der einfachen Resektion des Schulterge¬ 
lenkes in wenigen Fällen aber auch gute Resultate gehabt, ohne der 
Knochennaht zu bedürfen, glaube jedoch, daß sie die Verbandperiode 
tim einige Monate abkürzen kann. 

Die Eröfihung des Gelenkes erfolgt wie bei der Schultergelenk- 
resektion in typischer Weise durch den vorderen Längsschnitt. Das 
Messer wird durch das Lig. coraco-acromiale gestochen bis auf den 
Knochen und nun durch den sehnigen, oft papierdünnen Deltoides- 
muskel bis zu seinem Ansatz entlang geführt. Dann wird stark 
■adduziert, um die Gelenkkapsel, welche meist sehr weit ist, etwas 
zu spannen, zwei Schnitte schlitzen den Sulcus intertubercularis ein, 
der Gelenkkopf wird luxiert, der Knorpel abg^schält, die Pfanne mit 
«inem scharfen Löffel ihres Knorpels beraubt. Dann der Kopf durch 
Abduktion von etwa 45 Grad der Pfanne möglichst genähert. Die 
Kapsel vernäht und die Hautnaht gemacht. Oder nach Vulpius 
vorher zwei Drähte durch Kopf und Proc. acromialis gelegt. Ver¬ 
band 2—4 Monate. 

Das Hüftgelenk bedarf der Drahtnaht nicht. Die Arthrodese 
des Hüftgelenkes ist überhaupt sehr selten auszuführen. Ich habe 
trotz hochgradigster Lähmung erst ein einziges Mal sie ausführen 
müssen bei einem Jungen, bei dem doppelseitige Glutaeenlähmung 
war, bei dem ich außerdem zwei Fußgelenksarthrodesen; eine Knie¬ 
arthrodese, einen Quadrizepsersatz machen mußte. Das Kind geht 
jetzt an zwei Stöcken. 

In der Regel ist nämlich bei den schwersten spinalen Lähmungen 
der unteren Extremitäten ein Hüftmuskel und die kleinen Zehen- 


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232 


Peter Bade. Zur Technik der Arthrodesenoperation. 


beuger erhalten. Wenn auch nicht die Spur von Muskulatur vorhanden 
ist^ so findet mdn doch fast immer einen Tensor fasciae latae. Das 
Kind ist dann im stände, mit diesem sein Bein vorwärts zu schleudern. 
Selbst wenn dieser Muskel fehlt, aber an der andern Seite ein 
61utaeus ist und der Tensor fasciae latae, so kann das Kind — ich 
beobachte gerade z. Z. einen solchen Fall — durch Rumpfdrehong 
das Bein vorwärts schleudern. Die Arthrodesierung ist nur dann 
nötig, wenn beim Stehen der gelähmte Oberschenkel in starke 
Abduktionsstellung hinein geknickt wird und das Kind keinen festen 
Halt infolge dieses Abrutschens findet. Zur Eröffnung des Gelenkes 
bringt man das Bein in starke Adduktion und Innenrotation, so daß 
man durch die dünne Muskulatur den Trochanter, den Hals und die 
Peripherie des Kopfes durchfühlen kann. Jetzt macht man einen 
bogenförmigen Schnitt — älterer, äußerer Bogenschnitt — über 
Kopf, Hals und Trochanter, der direkt auf den Knochen geht. Die 
Wundränder werden auseinander gezogen, der Kopf luxiert, sein 
Knorpel abgeschält, dann die Pfanne mit dem Hof faschen Löffel 
ebenfalls möglichst vom Knorpel befreit. 

Keine Drahtnaht, keine Kapselnaht, sondern tiefgehende Haut¬ 
naht. 2 Monate Beckengips verband, dann kein Verband, sondern 
Versuche zu gehen. Da aber meist in der Zwischenzeit an anderen 
Gelenken auch noch Operationen gemacht worden sind, dauert es 
oft ein halbes bis fünfviertel Jahre, bis ein solches Kind an den 
Gehbock kommt. 

Ueber die Arthrodesierung der Hand- und Ellbogengelenke, 
die wegen spinaler Lähmung sehr selten sind, gilt die allgemeine 
Technik der Resektionen, die nur insofern modifiziert zu werden 
braucht, als man keine Kapselexzisionen nötig hat und nur gesunden 
Knorpel zu entfernen braucht. 

Auch hier muß die Verbanddauer sehr lang bemessen werden, 
beim Handgelenk etwa 8 Wochen, beim Ellbogengelenk 3 Monate. 


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XVI. 


Der orthopädische Operationstisch im hannoverschen 
Erüppelheim Anna-Stift'). 

Von 

Dr. Peter Bade- Hannover. 

Mit 14 Abbildungen. 

Der neue orthopädische Operationstisch, welchen Sie hier vor 
sich sehen, ist entstanden aus dem Heusner-Engelsschen Re¬ 
dressionstisch. Die Form ist im großen ganzen dieselbe wie bei 
dem ursprünglichen alten Modell« d. h, der Tisch ruht auf einem 
soliden Untergestell aus Gasröhren, die eine Höhe von etwa 97 cm 
bei dem alten Modell haben. Dadurch nun, daß ich den Unterbau 
des Tisches, dessen Breite beim alten Modell etwa 60 cm beträgt, 
um ca. 20 cm verbreitert habe, ist der Tisch im ganzen auf eine solidere 
Unterlage gesetzt worden, und zweitens ist die Höhe des Tisches 
um etwa 8 cn^ verringert worden. Dies hat namentlich für die Be¬ 
handlung der angeborenen Hüftverrenkung einen Vorteil, weil man 
auf dem etwas niedrigeren Tische mit größerer Kraftentwicklung 
arbeiten kann, als wenn der Tisch so hoch ist, wie der ursprüng¬ 
liche Heusnersche. Die Verbreiterung des Unterbaues und die 
Verringerung der Höhe habe ich einfach erreicht dadurch, daß ich 
die Kröpfung, welche in der Mitte der vier Füße des Tisches sitzt, 
bedeutend vermehrt habe. Sie bildet an meinem Tische einen voll¬ 
ständig rechten Winkel, während sie beim Heusnerschen Tisch 
eine leicht geschwungene Linie darstellt. Durch diese rechtwinklige 
Kröpfung der Füße ist der Vorteil erzielt worden, daß der Operateur 
seinen Fuß fest gegen die Kröpfung stemmen kann und damit einen 
festen Widerhalt des Fußes zum sicheren Arbeiten gewinnt, ein Vor¬ 
teil, welcher beim orthopädischen Arbeiten, das oft mit großer Kraft- 

*) Demonstriert auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für 
orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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234 


Peter Bade. 


entwicklung Yor sich gehen muß, nicht zu unterschätzen ist. Auch 
Heusner hat diesen Wert des festen Stützpunktes für den Fuß er¬ 
kannt und an seinem Tisch an den Vorderfüßen zwei kurze Quer¬ 
leisten angebracht, gegen welche die Füße angestemmt werden 
können. Diese kommen durch meine Anordnung in Wegfall und 
stören infolgedessen nicht mehr die Einfachheit der Konstruktion. 

Beim Heusnerschen Tisch ruht auf dem Unterbau ein System 
von zurückklappbaren Tischplatten, das auf zwei Querstäben, welche 
von den beiden Vorderfüßen zu den Hinterfüßen des Tisches ziehen, 
hin und her gleitet. Auch dieses System der Platten ist an meinem 
Tische geblieben, doch hat es verschiedene Aenderungen erfahren: 

1. sind die Platten an meinem Tisch sämtlich fortnehmbar, 
was bei dem Heusnerschen Gestell nicht der Fall ist. Beim 
Heusnerschen Gestell sind die Stäbe, auf denen die Platten gleiten, 
rund; die Füße der Platten mit einem geschlossenen Rohr versehen, 
welches auf den Querstäben gleitet; eine Flügelschraube stellt die 
Platten fest. Bei meinem Tisch hingegen ist der Querstab, auf dem 
die Platten gleiten, viereckig und an den Seiten mit einer Aus¬ 
sparung versehen. Die Füße der Platten, welche in dieser Aus¬ 
sparung hin und her gleiten, sind nicht vollständig geschlossene Röhren, 
sondern, entsprechend dem viereckigen Gleitstabe, Vierecke, deren 
unterer Boden entfernt ist, so daß also eine ganze Tischplatte mit 
ihrem Fuße aus dem Tisch entfernt werden kann. Dies ist nicht 
nur ein Vorteil, der bei der Reinigung des Tisches sehr wichtig ist, 
sondern der auch bei manchen Rumpfverbänden, die auf dem Tisch 
gemacht werden können, sehr in die Wagschale fällt. 

Eine zweite wesentliche Aenderung haben die Tischplatten 
selbst erfahren. Die Anzahl ist zwar dieselbe geblieben wie beim 
Heusnerschen Tisch, d. h. wir haben an der vorderen Abteilung 
des Tisches fünf Platten und an der hinteren Abteilung des Tisches 
ebenfalls fünf Platten. Während nun die Platten am Heusner¬ 
schen Tisch vollständig solide gearbeitet sind, habe ich an meinem 
Tisch die Platten durch ein System von Schlitzen durchbrechen 
lassen. Die Schlitze sind so angeordnet, daß sie doch nicht die 
Solidität der einzelnen Platten gefährden. Durch dieses System von 
Schlitzen will ich in der Lage sein, Zugwirkungen nach den ver¬ 
schiedensten Richtungen von der Oberfläche des Tisches aus aus¬ 
üben zu können. Die letzte und vorletzte Platte des Tisches be¬ 
sitzen außerdem noch eine kreisförmige Aussparung für den Kopf. 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


235 


Endlich sind die vorderen Platten mit zwei GriflFen versehen, welche 
durch ein Kugelgelenk zurückgeklappt werden können und in nicht 
benutzbarem Zustande senkrecht zur Tischoberfläche nach unten, dem 
Boden des Zimmers zu schauen und durch ihre L^e dann in keiner 
Weise stören. Zur Anbringimg dieser Griffe an den vorderen Enden 
der Tische wurde ich veranlaßt durch den Schulze-Duisburg- 
schen Elumpfußosteoklasten. Dadurch, daß diese Griffe an meinem 
Tisch angebracht sind, ist ein forciertes Redressement des Klump¬ 
fußes, wie Schulze es übt, auch an meinem Tische ermöglicht. 
Da nun aber beim Heusnersehen Tisch die vorderen Tischplatten, 
an denen ich meine Griffe angebracht habe, nur bis zu 90^ sich 
zurückklappen lassen, so mußte ich an meinem Tisch auch die 
Scharniere an den vorderen Tischplatten ändern. Sie mußten so an¬ 
gelegt werden, daß ich die vordere Tischplatte nicht bloß bis 90®, 
sondern bis 180® herumklappen kann; nur auf diese Weise ist eine 
volle Entfaltung der Kraft für das Klumpfußredressement möglich. 
Soviel über das Hauptgestell imd die Hauptplatten des Tisches. 

Beim Heusnersehen Tisch sind an den Vorderfüßen noch 
zwei Vorrichtungen angebracht für die forcierte Extension, ferner 
ein BeckenbügeL Die Extensionsvorrichtungen, welche Extensionen 
nach vorn, nach oben, nach der Seite zulassen, habe ich unverändert 
übernommen, dagegen habe ich den Beckenbügel geändert. Der 
Heusn er sehe Beckenbügel war ein aufrecht ziehender Stab, welcher 
eine Sitzvorrichtung für das Steiß- und Kreuzbein besaß. Dadurch, 
daß die Sitzfläche senkrecht an dem Befestigungsstab ansaß, war es 
nicht möglich, einen Beckengipsverband exakt anzulegen, weil immer 
die unterhalb des Sitzes befindliche Stange hinderlich war. Ich habe 
diesen Nachteil zu vermeiden gesucht dadurch, daß ich die Stange 
unterhalb des Sitzes wegfallen ließ und den Sitz nur an der oberen 
Stange befestigte. Es ist dadurch das ungehinderte Arbeiten an 
dem Becken des Kindes ermöglicht. Die Befestigung der Stangen, 
welche diese Beckenschwebe trägt, geschieht durch einen Metall¬ 
zapfen, welcher mittels einer Flügelschraube befestigt wird. Dieser 
Metallzapfen ist durch einen halbkreisförmigen Metallbügel mit der 
Beckenschwebe verbunden. Die Beckenschwebe selbst habe ich für 
fünf Größen herstellen lassen, welche mit Leichtigkeit ausgewechselt 
werden können. 

Am hinteren Ende des Tisches hat Heusn er eine Kontra¬ 
extensionsvorrichtung angebracht, welche eine Extension nach einer 


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236 


Peter Bade. 


Richtung hin ermöglicht durch eine Eurbelvorrichtung. Ich habe 
diese Extensionsvorrichtung in folgender Weise verändert, um eine 
Extension nach verschiedenen Richtungen hin zu erreichen. An den 
beiden oberen Enden der Hinterfüße des Tisches befinden sich zwei 
Platten mit einem Schlitz. Durch diese Schlitzvorrichtung kann ich 
den Rahmen, welcher die hintere Extensionsvorrichtung trägt, von 
seiner Horizontalstellung in die Vertikalebene Überführen, ich kann 
also die Extensionsvorrichtung am Kopf um 90 ® variieren. Flügel¬ 
schrauben stellen an beiden Seiten die gewünschte Richtung der Ex¬ 
tension fest. Diese Verschieblichkeit der Kopfextension ist sehr 
wichtig beim Anlegen von Rumpfgipsverbänden, bei der Herstellung 
von Reklinationgipsbetten. 

Um nun auch eine Extension nach hinten und unten zu er¬ 
möglichen, was der Heusnersche Tisch nicht zuläßt, habe ich an 
beiden Seiten des Tisches, zwischen dem Yorder- und dem Hinter¬ 
fuß, dort, wo die rechtwinklige Kröpfung der Füße liegt, je eine 
Extensionsvorrichtung angebracht. Eine Schnecke, welche durch eine 
Feder arretiert wird, ist mit einer Walze in Verbindung gebracht, 
die an den Hinterfüßen mit einer Drehvorrichtung versehen endet. 
Die Walze selbst ist mit verschiedenen Zapfen besetzt, an welche 
Flanellbindenenden befestigt werden können oder Matratzengurte, die 
an ihrem Ende mit einem Ring versehen sind, hineingehakt werden 
können. Dreht man die Kurbel, so werden sich die Bindenenden um die 
Walze herumschlingen, und es kann durch die Drehung und durch 
verschiedenartige Befestigung der Züge hinten oder in der Mitte ein 
in verschiedener Richtung nach unten gehender Zug angewandt wer¬ 
den. Dadurch, daß die Tischplatten Schlitze haben, ist es möglich, 
die Züge von der Tischplatte aus nach abwärts in jeder beliebigen 
Richtung wirken zu lassen. 

Was endlich die Art der Züge anlangt, so benutze ich für die 
Fußextension einfache Baumwollquelen, für die Extension nach dem 
Kopf die übliche Kopfschlinge, welche in Verbindung gesetzt ist mit 
breiten festen Gurten, für die Extension nach unten kräftigen Trikot¬ 
schlauch oder kräftige Flanellbinden, je nach der Stärke des Körper¬ 
teils, auf den ein Zug ausgeübt werden soll. 

Die mannigfache Anwendungsweise des Operationstisches mögen 
Ihnen folgende Bilder und Beschreibungen demonstrieren: 

1. Der Tisch dientzur Vornahme von Rumpfgipsverbänden(Fig.l). 

Soll ein Rumpfverband in vertikaler Extension angelegt wer-» 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


237 


den, so wird eine 6lissönsehe Kopfschwebe in die beiden Karabiner 
der vorderen Extensionsvorrichtungen gehängt. Die beiden vorderen 
Extensionsvorrichtungen werden nach Lösen der Flügelschrauben so 
gestellt, daß man das Kind bequem in die senkrecht herabhängende 
Schwebe hineinstellen kann. ' Die Extension geschieht nun einfach 
durch Andrehen der beiden Kurbeln. Der Arzt sitzt auf einem 


Fig. 1. 



Stuhl hinter dem Patienten und kann nun den Verband, ohne sich 
bücken zu müssen, anlegen. Auf diese Weise ist es möglich, Modelle 
vom Rumpf zu nehmen für abnehmbare Korsette und auch fest- 
anliegende Rumpfverbände zu machen. Soll der Kopf mit in den 
Verband genommen werden, so benutzt man anstatt der Glisson- 
schen Schwebe einen Wattemullverband, indem man den Hals und 
den Kopf einwickelt, und läßt die Enden der Binden, je zwei von 
beiden Seiten, an den Karabinern endigen. Die Mullbindenenden 
werden daun, wenn der Verband fertig ist, einfach abgeschnitten. 


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238 


Peter Bade. 


Der Verband, in dieser Weise angelegt, eignet sieb zu Modellyer- 
bänden bei Spondylitis cervicalis und dorsalis, wenn in der Nach¬ 
behandlungsperiode ein Portativapparat mit einer Eopfsttttzvor- 
richtung versehen verordnet wird. Er eignet sich auch zur 
Anlegung von Verbänden beim Schief hals, und zwar bevorzuge 
ich ihn hierbei sehr, weil man durch stärkere Extension an 


Fig. 2. 



der einen Seite, stärkeres Andrehen der einen Kurbel mit Leichtig¬ 
keit eine Ueberkorrektur der Zervikalskoliose erreichen kann. Das 
ist bei den gewöhnlichen Extensionsvorrichtungen nicht möglich; 
insofern eignet sich der Tisch sehr gut zur Nachbehandlung des 
Schiefhalses. 

(Fig. 2, 3 und 4.) Soll der Tisch für Rumpfgipsverbände in 
horizontaler Richtung angewandt werden, so wird der Patient auf 
den Tisch gelegt, er hält sich mit seinen Händen am Kopf brett fest 
und man kann einfach nach Herunterklappen der Platten den Ver¬ 
band anlegen. Wenn eine starke Reklination dabei gewünscht wird, 
wie es z. B. bei der Spondylitis dorsalis nötig ist, dann kann man 


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Der orthopädisclie Operationstisch etc. 239 

Fig. 3. 


Fig. 4. 


den Kopf mit einer Extensionsschlinge versehen^ die Enden der Ex¬ 
tensionsschlinge werden an die Zapfen der hinteren Extensionskurbel 
befestigt, die Flügelmuttern an den beiden seitlichen Schlitzvorrich-^ 


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24Q 


Pei^r Bade. 



lieh entsprechend der Extension stärker anspannt und das Hinunter* 
sinken des Kindes verhindert, ist eine möglichst angenehme Lagerung 
gesichert. An beiden Füßen sind Baumwollquelen angelegt, welche 
die Kontraextension besorgen. Es läßt sich auf diesem Tisch in der 
angegebenen Weise ein forciertes Redressement der Skoliose ermög* 
liehen, ähnlich wie es im Wullsteinschen Rahmen möglich ist, nur 
mit dem Unterschied, daß beim Wullsteinschen Rahmen die Kinder 
das vertikale Redressement aushalten müssen, während hier ein hori¬ 
zontales Redressement ausgeführt wird. Daß die Redression in hori¬ 
zontaler Richtung 1. für die Kinder angenehmer und 2. für den Arzt 
leichter ist, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung. Es fragt sich 
nur, ob auch bei horizontalen Extensionen die Verschiebungen so 


tungen werden gelöst und die hintere Extensionsvorrichtung in die 
JJeigung gebracht, welche für die Verbandanlegung am zweck¬ 
mäßigsten ist. Dann wird die Extension so weit gesteigert, wie das 
Kind es aushalten kann. Damit die Lage des Kindes nicht zu un¬ 
bequem ist, wird ein breiter Gurt an seinem einen Ende an den 
Bügel der Beckenschwebe befestigt, er läuft unter dem Bauch und 
der Brust des Kindes hinüber und ist ebenfalls oben an der Kopf¬ 
extensionskurbel befestigt. Durch diesen Gurt, welcher sich natür- 

Fig. 5. 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


241 


ausgeglichen werden können, wie bei der vertikalen. Die Becken¬ 
senkung kann jederzeit durch stärkeres Andrehen der Fußextension 
an der einen Seite ermöglicht werden. Die Rotation des Beckens 
kann dadurch beseitigt werden, daß man die eine Extensionsvorrich- 
tung tiefer stellt als die andere; auf diese Weise läßt sich ebenso 
wie im Wullsteinschen Apparat die Lendenskoliose beeinflussen. 
Die zervikale Skoliose und der obere Teil der Dorsalskoliose läßt 
sich durch kürzeres oder längeres Einhaken der Züge, welche die 


Fig. 6. 



Glisson sehe Schwebe befestigen, an der einen oder anderen Seite 
ermöglichen. Dadurch wird der Kopf schief gestellt, und infolge¬ 
dessen kann an der konkaven Seite, an welcher der Zug kürzer ge¬ 
wählt ist, ein stärkerer Zug ausgeübt werden. Die Torsion des 
Rippenbuckels kann man in der Weise sehr gut beeinflussen, daß 
man einen breiten Zug über den Rippenbuckel legt, diesen durch 
einen Schlitz in der Tischplatte zur unteren Walze gehen läßt und 
durch Drehung der Kurbel mittels des Zuges einen Druck auf den 
Rippenbuckel ausübt. Befestigt man den Zug an derselben Seite, an 
der der Rippenbuckel ist, so wird nur ein kräftiger Druck auf den 
Rippenbuckel ausgeübt, läßt man ihn hingegen nach der entgegen¬ 
gesetzten Seite auf die Kurbel übertragen, so wird ein stärkerer 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 10 


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242 


Peter Bade. 


Druck in diagonaler Richtung auf den ganzen Brustkorb ausgeübt 
und dadurch auch eine Einwirkung auf die Torsion der Wirbelsäule 
selbst ermöglicht. Es ist notwendig, daß man betreffs Anordnung 
der Züge genau ausprobiert, in welcher Richtung die Züge am besten 
wirken, durch welche Schlitze sie am besten hindurchzufUhren sind 
und an welcher Stelle der Extensionskurbel sie am besten zu be¬ 
festigen sind. Je länger man an dem Tische arbeitet, desto leichter 
und sicherer wird man in der Handhabung der Züge werden. 


Fig. 7. 



Soll nur ein gewöhnliches Lagerungsbett für leichte Skoliosen 
oder auch für Spondylitiker, zur Behandlung nach Fink, ange¬ 
fertigt werden, so sind selbstverständlich die Extensionsvorrichtungen 
nicht nötig, das Kind liegt einfach auf dem Tisch wie auf jedem 
anderen und man wickelt die Binden um den Teil des Rumpfes ab, 
der in der Gipsschale liegen soll, wie es Fig. 4 zeigt, auf der die 
Herstellung eines Skoliosengipsbettes angedeutet ist. 

2. Der Tisch dient zum Redressement von Kontrakturen, nament¬ 
lich der unteren Extremitäten. 

1. Die Beseitigung der Hüftkontraktur. Der Patient wird so 
auf den Extensionstisch gelegt, daß er mit dem Kreuzbein auf der 
Beckenschwebe liegt. Beide Beine werden mit den Baumwollquelen 
in Verbindung gebracht; dasjenige Bein, welches in Kontraktur¬ 
stellung sich befindet, wird so hingelegt, wie es seiner ankylotischen 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


243 


Stellung entspricht. Man muß also darauf achten, daß die Lordose 
der Lendenwirbelsäule ausgeglichen ist, der Rücken flach der Unter¬ 
lage anliegt. Durch einen breiten Gurt, welcher über beide Becken¬ 
schaufeln hinübergespannt ist und an jeder Seite durch die Schlitze 
des Tisches zu den unteren Extensionskurbeln geleitet wird, wird 
das Becken fest fixiert. Ein Gegenzug, welcher durch einen Gurt, 
der um das Perineum gelegt ist, besorgt die weitere Fixation des 
Beckens. Es wird nun zunächst das gesunde Bein so weit extendiert. 


Fij?. 8. 



daß das Becken ganz gerade liegt, dann erfolgt Zug am Bein der 
ankylosierten Seite, und zwar in der Richtung, in welcher der 
Schenkel fixiert steht, wie es Fig. 5 zeigt. Aus dieser Richtung geht 
man nun ganz allmählich durch Senken der ExtensionsVorrichtung 
über in die normale Stellung des Beines, wie es die folgende Figur 
zeigt. Auch hier erfordert die Anbringung der Züge einige Uebung 
und einiges Geschick. 

2. Die Beseitigung der Kniekontraktur. Da wir es in der 
Regel mit Flexionskontraktur im Kniegelenk zu tun hj|ben, so möge 
als Beispiel von der Wirkung des Tisches eine Flexionskontraktur 
gewählt sein. Das Kind wird nicht auf den Bügel der Becken¬ 
schwebe gelegt, sondern liegt auf dem Tische so, daß das Knie¬ 
gelenk ungefähr auf der mittleren Tischplatte des Vorgestelles ruht. 
Die beiden Vorderklappen des Tisches sind dann niedergeschlagen. 


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244 


Peter Bade. 


Der Gegenzug führt wieder über das Perineum nach der Kopf¬ 
extension. Der Fuß der kranken Seite wird in die Quele der vor¬ 
deren Extensionsvorrichtung getan und diese so eingestellt, daß sie 
die Verlängerung der Achse des Unterschenkels bildet (siehe Fig. 7). 
In dieser Richtung wird ein Zug ausgeübt, ein zweiter Zug liegt 
oberhalb des Kniegelenkes und führt durch die Schlitze der Tisch- 


Fig. 9. 



platten zu den unteren Extensionsquelen. Werden jetzt diese in 
Drehung versetzt, so wird der Oberschenkel nach abwärts gedrückt 
und dadurch die Beseitigung der üblichen Subluxationsstellung er¬ 
möglicht. Durch allmähliche gleichzeitige Anwendung beider Züge 
und durch langsames Uebergehen der Extension des Beines aus der 
diagonalen Richtung in die horizontale, ist die Streckung der Knie¬ 
kontraktur mit Leichtigkeit zu erreichen, wie Fig. 8 zeigt. 

3. Redressement des Klumpfußes. 

Die Behandlung des Klumpfußes läßt sich auf meinem Tische 
ebenfalls ohne Zuhilfenahme anderer Osteoklasten bewerkstelligen. 
Es ist dies ein Vorteil, den kein anderer orthopädischer Operations- 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


245 



tisch bietet; selbst Schulze-Duisburg sagt, daß er bei Anwendung 
seines Verfahrens immer abhängig ist von dem Lorenz sehen Osteo¬ 
klasten, mit der er die Adduktionskontraktur des Fußes zunächst be¬ 
seitigen muß. An meinem Tische nun lassen sich alle Akte des 
Redressements vom Klumpfuß vollziehen. Der Patient wird so auf 
den Tisch gelegt, daß sein Haken über dem Oelenk zwischen vor- 

Fig. 10. 


derster und mittelster Tischklappe liegt. Durch Bindenzüge, welche 
den Unterschenkel umgreifen und nach den Walzen der unteren Ex¬ 
tensionskurbeln gehen, wird der Unterschenkel zunächst in seiner 
Lage ganz fest gehalten, dann wird eine Lasche um den Vorderfuß 
gelegt und einerseits mit den Baumwollquelen der vorderen Exten¬ 
sionsvorrichtung versehen, anderseits mit zwei Zügen, welche eben¬ 
falls durch die Schlitze nach zwei Knöpfen an die Unterseite der 
Tischplatte gehen, wo sie befestigt werden. Durch diese Befestigung 
der Laschen soll erreicht werden, daß die Lasche beim Extendieren 
nicht über den Vorderfuß abrutscht. Es werden jetzt, wenn der 
Fuß so armiert ist, die Extensionsvorrichtung seitlich gestellt und 
einige kräftige Extensionen ausgeführt. Der Arzt hilft gleichzeitig 
mit der Hand nach und versucht die Adduktionskontraktur zu lösen. 


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246 


Peter Bade. 



Es wird die Exfcension allmählich nach unten und nach hinten ge¬ 
stellt, auf diese Weise die Richtung der Kraft geändert. Da mf>n 
mit der vorderen Extensionsvorrichtung einen ®/4 Kreis beschreiben 
kann, so kann man die Richtung außerordentlich variieren, in der 
man die Kraft wirken lassen muß. Es läßt sich jedenfalls durch die 
Anwendung der vorderen Extensionsvorrichtung, kombiniert mit den 

Fig. 11. 


Fußlaschen, die Adduktionsstellung des Klumpfußes beseitigen, und 
ein Lorenz scher oder ein anderer Osteoklast braucht nicht ange¬ 
wandt zu werden. Hat man nun die Adduktionsstellung beseitigt, 
so muß die Flexionskontraktur behoben werden. Der eine Zug, 
welcher den Unterschenkel fixiert, bleibt bestehen, die andere Lasche 
und die vordere Extensionsvorrichtung wird außer Tätigkeit gesetzt 
Die beiden Griflfe, welche an der vorderen Tischplatte sich befinden, 
werden hervorgeklappt und der Fuß nun genau nach dem Schulze- 
Duisburgschen Vorgehen zwischen den beiden Tischplatten redres- 
siert. Es läßt sich also auf meinem Tische das Lorenzsche und 
Schulze sehe Redressement kombinieren, wie es die beiden Fig. 10 
und 11 zeigen. 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


247 


4. In ähnlicher Weise, nur umgekehrt, vollzieht sich das Re¬ 
dressement des Plattfußes auf meinem Tisch. Der Unterschenkel 
wird fixiert durch den auch für den Klumpfuß angegebenen Binde¬ 
zug. Die Laschen werden um den Vorderfuß angelegt und mit der 
vorderen Extensionsvorrichtung versehen. Jetzt wird die Extensions¬ 
vorrichtung stark nach abwärts gestellt, was man auf dem Bilde 


Fig. 12. 



leider nicht erkennen kann, und es wird extendiert. Gleichzeitig 
drückt ein Assistent die Faust gegen das Fußgewölbe, als Ersatz 
der Faust kann man auch einen kleinen Keil benützen, den man auf 
den Schlitzen der Tischplatten festschrauben kann. Während nun 
die Faust gegen die Fußwurzelknochen drückt und die Extensions¬ 
vorrichtung den Vorderfuß in Flexion und Adduktion zu ziehen 
trachtet, wird der Plattfuß redressiert (Fig. 11). 

5. Die Einrenkung und Nachbehandlung der angeborenen Hüft¬ 
verrenkung gestaltet sich auf dem Tisch ebenfalls in sehr prakti¬ 
scher Form, da die vorderen Tischklappen halbiert sind, so daß man 


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248 


Peter Bade. 


eine rechte oder linke Seite niederklappen kann (Fig. 12). Man kann 
den Tisch so verschmälern, daß das Kind mit seinem Becken bequem 
auf der einen Tischplatte liegen kann, während der Assistent von 
der anderen Seite das Becken fixiert. Man kann auch die Fixation 
des Beckens, wenn das Kind kräftiger ist und die Fixation durch 
die Handgriffe allein nicht genügt, auch durch BindenzUge erreichen, 
die man durch die Schlitze des Tisches hindurchgehen läßt. Es 
wird ein breiter Gurt quer über den Bauch des Kindes gespannt, 


Fig. 13. 



der gerade die Spinae ant. in der Mitte trifft. Dieser Gurt wird 
nach unten geleitet durch die Schlitze und fest angezogen. Schon 
durch diesen Zug kann man eine sehr gute feste Lagerung des 
Beckens ermöglichen. Legt man außerdem noch einen Flanellzug 
quer über die eine Hüfte, indem man vom Perineum über die Leisten¬ 
beuge, über die Spina ant. sup. nach hinten den Zug führt, so ist 
die einzurenkende Hüfte durch diese beiden sich kreuzenden Züge 
wie in einen Schraubstock eingepreßt, und es ist ein sehr sicheres 
Arbeiten ermöglicht. Daß natürlich die Extensionsvorrichtungen auch 
angewandt werden können, um die Adduktionswiderstände zu sprengen, 
um die Beugekontrakturen zu lösen, die bei der angeborenen Hüft¬ 
verrenkung namentlich oft Vorkommen, braucht nicht erwähnt zu 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 


249 


werden. Daß endlich die Extensionsvorrichtungen nach unten ein 
vorzügliches Mittel an die Hand geben, den Schenkel in Ueberab- 
duktion zu stellen, wie es namentlich bei Luxationen mit sehr un- 
f^ünstiger primärer Stabilität nötig ist, wird jeder schätzen lernen, 
der einmal auf meinem Tische Luxationen behandelt. Die Verband¬ 
anlegung und der Verbandwechsel gestalten sich nun mittels der 
Beckenschwebe, die an dem Tisch angebracht ist, sehr einfach und 
angenehm. Es wird diejenige Beckenschwebe ausgesucht, welche am 


Fig. 14. 



meisten der Größe des Kindes entspricht. Dieses wird auf dem 
Bügel festgeschraubt, der ganze Bügel selbst wird an den Tisch an¬ 
geschraubt und das Kind wird, wenn es zum Eingipsen fertig ist, 
auf die Beckenschwebe geschoben. Eine Wärterin hält das Bein, 
die vorderen Tischklappen werden zurückgeklappt, so daß der Rumpf 
bis ungefähr zur Höhe des Nabels vollständig zugänglich ist; es er¬ 
folgt dann das Anlegen der Gipsbinden in der von mir geübten und 
früher schon in der Zeitschrift für orthopädische Chirurgie ange¬ 
gebenen Weise. 

Auch die Fensterung des Gipsverbandes zwecks röntgeno¬ 
graphischer Kontrolle des Resultates der Einrenkung, die nachherige 


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250 


Peter Bade. 


Ausbesserung und Wiederherstellung des Verbandes läßt sich in an¬ 
genehmer Weise auf dem Tische ausführen. Das Kind liegt dann 
auf dem Bauch, die mittleren Platten werden so weit auseinander¬ 
geschoben, daß die Unterschenkel einerseits auf der Platte ruhen, 
der Rumpf und die oberste Grenze des Rumpfgipsyerbandes ander¬ 
seits auf der Tischplatte sich befinden. Es ist dann Zwischenraum 
zwischen den beiden Platten, der es gut gestattet, die Binden her¬ 
überzuführen, welche zur Ausbesserung des gefensterten Gipsver- 
bandes nötig sind (Fig 13). 

Es ist selbstverständlich und braucht kaum hervorgehoben zu 
werden, daß der Tisch sich auch zu allen orthopädischen Operationen 
an den oberen Extremitäten eignet. Wie beim Heusnerschen Tisch, 
ist auch an diesem eine Tischplatte angebracht, welche sich an die 
rechte oder linke Seite des Tisches einfügen läßt und dadurch den 
Tisch verbreitert. Operationen, welche an dem Unterarm oder Ober¬ 
arm zu machen sind, namentlich Sehnen und Nervenplastiken bei 
der zerebralen Hemiplegie, können auf dieser Nebenplatte sehr gut 
ausgeführt werden, wie es Fig. 14 zeigt. 

Außer diesen rein orthopädischen Manipulationen, die auf dem 
Tische möglich sind, und die dem Orthopäden eigentlich jedes andere 
Hilfsmittel für orthopädische Operationen, außer den natürlichen 
Mitteln des Meißels, des Messers, des Hammers und der Scliere u. s. w. 
befreien, läßt sich aber auch der Tisch in ganz hervorragendem 
Maße zur Frakturbehandlung benützen. Ich übe seit Jahren für die 
Behandlung meiner Brüche ein sogenanntes kombiniertes Verfahren, 
das die Mitte hält zwischen dem Bardenheu er sehen Extensions¬ 
verfahren und dem der Gipsbehandlung der alten Chirurgie. Ich be¬ 
handle jeden Knochenbruch mittels Gipsverbandes, und der Gipsver¬ 
band jedes Knochenbruches läßt sich auf meinem Tisch in vorzüg¬ 
licher Weise anlegen. Ich behandle aber auch jeden Knochenbruch, 
bevor er den Gipsverband bekommt, mittels exaktester Reposition 
und ich erreiche diese Reposition wieder auf meinem Tische durch 
Anwendung meiner kombinierten, durch den Gipsverband hindurch 
leitbaren Bindenzüge. Dadurch, daß ich vermittels meiner Schlitze 
und meiner Extensionszüge die Kräfte in verschiedener Richtung 
wirken lassen kann, ist es mir möglich, die Fragmente zunächst 
richtig einzustellen und dann den Gipsverband in dieser richtig ein¬ 
gestellten Lage anzulegen. Als Beweis der vorzüglichen Anwen- 
dungsweise dieses kombinierten Verfahrens für die ßruchbehandlung 


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Der orthopädische Operationstisch etc. 251 

reiche ich einige Röntgenbilder, welche einen Kondylenbruch des Ober¬ 
armes vor und nach der Reposition zeigen, hemm. 

Ich glaube wegen der Vielseitigkeit meines orthopädischen 
Tisches ihn den Kollegen angelegentlichst empfehlen zu müssen ^). 


Die Herstellung hat die Firma Heinrich Emst, Hannover, Theaterstraße, 
übernommen. 


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XVII. 


(Aus der Priyatklinik für orthopädische Chirurgie von Dr. H. Gocht 
und Dr. R. Ehebald, Halle a. S.) 

Weitere pathologisch-anatomisclie Untersuchungen 
ans dem Bereiche des kongenital verrenkten Hüft¬ 
gelenks'). 

Von 

H. Gocht. 

Mit 15 AbbilduDgen. 

Meine Herren! Für denjenigen, der von der mechanischen Ent¬ 
stehungsweise der angeborenen typischen Hüftgelenkluxation über¬ 
zeugt ist, ist eine sehr naheliegende Frage: Bei welchen Beinhal¬ 
tungen werden solche Hüftgelenkstellungen forciert, daß die bei 
der Hüftluxation besonders an der Kapsel, am Kopf, am Schenkel¬ 
hals und am oberen Femurende vorkommenden Veränderungen eine 
gewisse Erklärung finden? 

Für die Beantwortung dieser sehr wichtigen Frage müssen wir 
uns zunächst erinnern, welches die gewöhnliche Haltung der Frucht 
im Uterus ist. Nach Olshausen und Veit ist die Frucht über 
der Bauchfläche gekrümmt, so daß die ganze Wirbelsäule einen nach 
vorn konkaven Bogen bildet, die Oberschenkel sind an den 
Unterleib herangezogen. Die Unterschenkel sind flektiert und 
die Füße in dorsaler Beugung. 

Der für uns wichtigste Satz ist, „die Oberschenkel sind an den 
Unterleib herangezogen“. Er ist unklar und bedarf einer eingehenden 
Erläuterung. In allen mir bekannten Arbeiten, die Hüftverrenkung 
betreflFend, wird immer wieder als die gewöhnliche Haltung bezeichnet: 
Flexion, Adduktion und Innenrotation. Das ist nun keines¬ 
wegs der Fall. 


Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc. 


253 


An ganz einfachen kleinen Wachsmodellen, wie ich sie hier vor 
mir habe und gern jederzeit nachher einzelnen sich interessierenden 
Herren demonstrieren will, kann man sich sehr bequem sowohl die 
verschiedenen Haltungsverhältnisse als auch die Druckverhältnisse 
klarmachen, welche bei den sehr variablen Flexions-, Adduktions-, 
Abduktions- und Rotationsstellungen des Beines auf das obere Femur¬ 
ende und die Kapsel einwirken. Die Modelle sind natürlich ganz 
schematisch anzusehen. 

Die Längsrichtung des Fußes steht bei diesen Wachsmodellen 
jedesmal senkrecht auf der Querachse des Kniegelenkes und auf der 
Längsachse des Schenkelhalses, oder mit anderen Worten, Fuß und 
Schenkelhals bilden miteinander einen rechten Winkel. 

Betrachten wir zunächst die indifferente Streckstellung des Beines 
zum Schenkelhals, so geschieht folgendes: 

1. Bei Druck in der Längsrichtung des Beines wird der Schenkel¬ 
hals abwärts gebogen (Coxa vara), gleichzeitig wird die Hüftgelenks¬ 
kapsel durch den andrängenden oberen Kopfpol nach oben ausgedehnt. 

2. Bei Zug in der Längsrichtung wird der Schenkelhals nach 
oben gebogen (Coxa valga) und gleichzeitig die unteren Kapselpartien 
durch den andrängenden unteren Kopfpol vorgewölbt. 

3. Bei starker Einwärtsrotation drängt der hintere Kopfpol 
gegen die hinteren Teile der Kapsel an, der Schenkelhals wird dem¬ 
entsprechend nach vorn gebogen, antevertiert. 

4. Bei kräftiger Außenrotation drängt der vordere Kopfpol gegen 
die vorderen Kapselteile, diese werden vorgewölbt und der Schenkel¬ 
hals wird zugleich nach hinten gebogen, retrovertiert. 

5. Bei forcierter Adduktion drängt der obere Kopfpol gegen 
die oberen lateralen Kapselteile, der Schenkelhals wird abwärts ge¬ 
bogen (Coxa vara). 

6. Bei forcierter Abduktion drängt der untere Kopfpol gegen 
die unteren medialen Kapselteile, der Schenkelkopf wird aufwärts 
gebogen (Coxa valga). 

Denken wir uns nunmehr das Bein so, wie es im Uterus der 
Fall ist, in den Hüftgelenken und Kniegelenken spitzwinklig ge¬ 
beugt, so entstehen so eigenartige Verhältnisse, daß man Zeit 
braucht, sich dieselben physiologisch richtig und sachgemäß klar zu 
machen. 

Dabei müssen wir uns vor allem darüber einig sein, was unter 
Innen- oder Außenrotation zu verstehen ist. In vollkommener Streck- 


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254 


H. Gocht. 


Stellung unterliegt das überhaupt keinem Zweifel. Die Innenrotation 
ist dadurch charakterisiert, daß beim ausgestreckten Bein die Fu߬ 
spitze sich einwärts kehrt, daß gleichzeitig der Trochanter major 
nach vom tritt, daß die Kniescheibe medialwärts gerichtet ist, daß 
der vordere Kopfpol tief vorn in die Pfanne gedreht wird. 

Läßt man in dieser Haltung das innenrotierte Bein im Knie¬ 
gelenk beugen, so schaut die ausgestreckte Fußspitze nach hinten, 
unten und außen. 

Umgekehrt schaut beim auswärts rotierten, im Hüftgelenk ge¬ 
streckten, aber im Kniegelenk gebeugten Bein die Fußspitze nach 
unten und medialwärts. 

Beugt man indessen das im Knie gestreckte Bein im Hüft¬ 
gelenk maximal, so wird die vordere Kniescheibenfläche des Beins 
eigentlich zur hinteren. Drehe ich jetzt die Fußspitze und die 
Kniescheibenfläche einwärts, so tritt wieder der vordere 
Kopfpol tief in die Pfanne, aber diesmal nicht im vorderen, sondern 
im hinteren Pfannenabschnitt, und der Trochanter major tritt nach 
hinten; lasse ich jetzt das Kniegelenk beugen, so ist die Fußspitze 
nach außen und vorn gedreht. 

Rotiere ich aber das im Knie gestreckte, im Hüftgelenk maxi¬ 
mal gebeugte Bein nach außen, so daß die Fußspitze und die 
Kniescheibenfläche lateralwärts gerichtet sind, so tritt jetzt wieder 
der hintere Kopfpol tief in die Pfanne, aber im vorderen Pfannenteil, 
und der Trochanter major ist seitlich nach vorn gerichtet. Beugen 
wir jetzt das Kniegelenk, so sieht die Fußspitze medialwärts 
und nach vorn. 

Diese letztere ist nun die gewöhnliche Haltung des Fötus im 
Uterus: 

die Hüftgelenke und Kniegelenke sind gebeugt; 

die Oberschenkel sind meist ein wenig adduziert; 

die Unterschenkel kreuzen sich derart, daß der 
rechte Fuß nach links, der linke Fuß nach rechts ge¬ 
richtet ist. 

Diese Haltung wird, wie gesagt, stets als eine Einwärtsrotation 
gedeutet, in Wirklichkeit ist aber die Beinhaltung eine 
auswärts rotierte. Dabei drängt also der vordere Kopfpol 
gegen die hinteren Kapselpartien. Es wird demgemäß der 
Schenkelkopf versuchen, die Pfanne nach hinten zu zu verlassen und 
gleichzeitig wird ein starker Druck den Schenkelhals in der Richtung 


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Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc. 


255 


nach hinten zu verlegen trachten; es resultiert also eventuell bei der 
üblichen Lage eine Luxation nach hinten und ein retrovertiertes 
oberes Femurende. 

Kommt zu diesen beiden Komponenten außer durch die Ad¬ 
duktionsstellung nun ein weiterer Druck in der Richtung vom Knie 
zur Hüfte, so wird der vordere obere Kopfpol gegen die unteren 
hinteren Kapselpartien andrängen; der Kopf sucht hier zu entweichen 
und gleichzeitig wird der Schenkelhals im Sinne der Coxa vara her¬ 
untergedrängt. 

Kommt es umgekehrt aus irgend einem Grunde zu einer Ab¬ 
duktionsstellung der Schenkel und zu einem starken Zug am Ober¬ 
schenkel in der Richtung von Hüfte zum Kniegelenk, so muß der 
untere vordere Kopfpol gegen die oberen oder oberen hinteren 
Kapselpartien andrängen; der Kopf sucht also nach oben resp. hinten 
oben zu entweichen, und gleichzeitig wird der Schenkelhals im Sinne 
der Coxa valga heraufgedrängt. 

Fasse ich hier kurz zusammen, so ergibt sich: 

Die gewöhnliche Haltung des Fötus in utero drängt unter ge¬ 
wissen anormalen Zuständen bei Adduktion und Druck zur 
Hüfte hin zu einer primären Luxation nach hinten unten 
mit Coxa vara-Stellung und retrovertiertem oberen Femur¬ 
ende, dagegen bei Abduktion oder Zug von der Hüfte 
weg zu einer primären Luxation nach hinten oben mit 
Coxa valga-Stellung und retrovertiertem oberen Femur¬ 
ende. Die Normalhaltungen sehen Sie auf den Fig. 1—4 darge¬ 
stellt; die Figuren sind entnommen^ dem bestbekannten Grundriß zum 
Studium der Geburtshülfe von Bumm. Beide werden von Bumm 
ausdrücklich als typische oder normale Haltung abgebildet. 

Die Fig. 1 zeigt die gewöhnliche Mittelstellung zwischen Ad¬ 
duktion und Abduktion bei Außenrotation, die Fig. 2 die recht¬ 
winklige Beugestellung bei Außenrotation. 

Dagegen demonstriert die Fig. 3, wie mit der Außenrotation 
gleichzeitig eine Abduktion verbunden ist; die Fig. 4 zeigt die Hüft- 
beugung und Außenrotation bei nur rechtwinklig gebeugtem Knie. 

Bumm sagt weiter: „Die geschilderte Haltung ist allen Föten 
gemeinsam. Sie findet sich schon in früher Embryonalzeit und ist 
in der ersten Hälfte der Gravidität, wo der Fötus in der weiten Ei¬ 
höhle Raum genug hätte, um sich auszustrecken, ebenso vorhanden, 
wie in der späteren Zeit des intrauterinen Lebens ... Sie bleibt auch 


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256 


H. Gocht. 


beim Neugeborenen noch geraume Zeit sichtbar, dessen Neigung, 
mit angezogenen Armen und Beinen zu liegen, stets zu Tage tritt, 
wenn er Tom Zwang der Binden und Eissen befreit ist. Diese Tat¬ 
sachen beweisen, daß die zusammengekrümmte Haltung nicht in 
Kräften zu suchen ist, welche von außen auf den Fötus einwirken. 
Die Frucht wird nicht vom Uterus zusammengedrückt, sondern liegt 
deshalb gebeugt, weil diese Art zu liegen der Beschaffen¬ 
heit seiner Knochen und Gelenke, der Ausbildung und Inner- 



Fig. 2. 


vation seiner Muskulatur am meisten entspricht. Langdauernde 
und stärkere Abweichungen von der typischen Haltung 
werden während der Schwangerschaft nur bei toten Früchten be¬ 
obachtet, lebende verlassen ihre Beugehaltung nur auf kurze Zeit, 
wenn sie Bewegungen mit den Extremitäten machen.“ — Dabei wissen 
wir, daß die üblichen Kindsbewegungen im Uterus im allgemeinen 
nur von den Händen und Vorderarmen, von den Füßen und Unter¬ 
schenkeln ausgeführt werden. 

Nun steht fest, daß in der großen Mehrzahl der Fälle von 
Hüftluxation sich immer wieder eine Anteversion des oberen Femur¬ 
endes zeigt. Damit stimmt also die übliche Haltung der Frucht im 
Uterus nicht überein; bei der typischen Haltung, die hauptsächlich 
durch Flexion und Außenrotation charakterisiert ist, müßte. 


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Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc. 


25 ^ 



Dies .kann man sich wieder aufs einfachste an den kleinen beschei¬ 
denen Wachsmodellen klarmachen: dann nämlich, wenn das Gegen¬ 
teil der typischen Haltung mit Auswärtsrotation der Fall ist, wenn 
einmal zufällig und ausnahmsweise das oder die im Hüftgelenk und 
Kniegelenk gebeugten Beine .einwärts rotiert liegen, so daß die 
Unterschenkel und Füße nicht medialwärts, sondern 
lateralwärts gerichtet sind. Die Füße werden dabei eventuell 
in stärkste Pronation gedrängt. 

Dann drängt mit aller Kraft der hintere Kopfpol gegen die 
vordere Kapselwand, gegen das Ligamentum ileo-femorale anterius, 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 17 


wenn überhaupt eine Einwirkung durch intrauterine Belastung auf 
den Kopf und Schenkelhals angenommen wird, stets und immer eine 
Retroversion des oberen Femurendes resultieren. Und dies 
Ergebnis steht in direktem Gegensatz zu allen mir bekannten bis¬ 
herigen MitteUungen anderer Herren. 

Meine Herren! Bei welcher Beinhaltung wird denn nun aber 
auf das obere Femurende im Sinne einer Anteversion eingewirkt? 


Fig. 3. 


Fig. 4 . 


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258 


H. Gocht. 


und der Kopf und Hals, resp. der ganze obere Pemurteil wird bei 
dieser Lage nach vorn gedrängt, antevertiert. 

Meine Herren! Diese Lage müßte überhaupt in jeder Hinsicht 
für die Trennung von Pfannengegend und Schenkelkopf ungünstig sein. 

Erinnern wir uns, daß in der 8.—10. Woche die Entwicklung 
der Extremitäten wesentliche Fortschritte macht. Fig. 5 zeigt Ihnen 
einen menschlichen Embryo der 6. Woche. Die Beine stehen neben 
der Außenrotation auf das stärkste abduziert. Während nun die Beine 
bis zur 10. Woche und darüber hinaus mehr in eine adduzierte Stel- 



Fig. 5. 



Fig. 6. 


lung übergeführt werden (Fig. 6, menschlicher Embryo der 10. Woche), 
hat soeben die Differenzierung des Hüftgelenkes stattgefunden. Es 
hat sich unter Verschwinden des typischen mesenchymalen Zwischen¬ 
gewebes (intermediären Mesenchymgewebes) zwischen den beiden von 
chondrogenem Gewebe bedeckten Knorpelanlagen vom Femurkopf 
und Pfanne eine Gelenkspalte (im 3. Fötalmonat) gebildet. Die 
den Spalt begrenzenden Enden der Skeletteile zeigen schon früh die 
für das Gelenk typische Form. Der medial vom Femurschaft ab¬ 
gehende Kopf ist schon gebildet und gerade dadurch ist bei nor¬ 
maler Weiterentwicklung die Notwendigkeit gegeben, daß sich die 
Beine nunmehr in geringe Adduktion und Außenrotation begeben. 


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Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc. 


259 


Jede gewaltsame Störung dieser HaltungsVerhältnisse muß z. B. bei 
festgehaltener Abduktion, bei festgehaltener Innenrotation, bei Druck 
in der Richtung auf das Hüftgelenk zu oder bei Zug von ihm weg 
zu einer Störung dieser normalen Qelenk- 
entwicklung, zu einer Abhebelung der Qelenk- 
enden voneinander etc. drängen. Besonders 
diese fehlerhaft beibehaltene Innenrotation 
bei gestrecktem (Pig. 7) oder noch mehr bei ge¬ 
beugtem Kniegelenk wirkt dann sehr energisch 
derart, daß sich das ganze obere Femur- 
stück gegen das untere mittlere im 
Sinne der Anteversion verdreht. 

Und ich bin der Ueberzeugung, daß 
diese verdrehende Kraft sich bei der 
Kleinheit des medial entwickelten Femurkopfes 
nicht an diesem und dem kaum vorhandenen 
Schenkelhals erschöpft, sondern im Schaft des Schenkels.— 
Ich würde dementsprechend diese auf Verdrehung im Schenkel¬ 
schaft beruhende Anteversion, wie ich sie Ihnen nachher 
sehr schön an einem Präparat demonstrieren kann, für intra¬ 
uterin und primär halten, während ich die Verdrehung im Be¬ 
reich des Schenkelhalses und Kopfes für sekundär, später, teilweise 
intra vitam entstanden ansehe. 

Ich präzisiere also meinen Standpunkt nochmals dahin: Bei 
der gewöhnlichen Haltung des Fötus in utero entsteht 
bei der typischen Flexion, Adduktion und Außenrotation 
überhaupt kein schädigender Druck bei der Hüftgelenks¬ 
bildung. Sollte aber einmal aus irgend welchen Gründen ein anor¬ 
maler Druck oder Zug das Hüftgelenk angreifen, z. B. durch Hängen¬ 
bleiben an einer amniotischen Falte (Heusner) oder durch amniotische 
Verwachsungen, worauf Graetzer neuerdings wieder mit Recht ener¬ 
gisch hingewiesen hat, so müßte stets eine Retroversion des oberen 
Femurendes resultieren. 

Umgekehrt muß bei verhinderter Adduktion und 
bei der fehlerhaften Einwärtsrotation die Anteversion 
eintreten. 

Meine Herren! Ich sehe bei allen diesen Erörterungen davon 
ab, ob die Hüftluxation als Folge eines Bildungsfehlers anzusehen 
ist oder als reine intrauterine Belastungsdeformität, obwohl ich mich 



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260 Oocht. 

als Anhänger der letzteren fühle. Wie man sich aber stellt, immer 
müssen Kräfte, die in der geschilderten Weise angreifen, derart um¬ 
bildend wirken, wie ich es geschildert habe. 

Ich möchte nun auch nicht so mißverstanden werden, als ob 
ich meinte, jede Hüftluxation entstände etwa Ende des 3. Monats« 
Nein. Aber die Gelegenheit ist in dieser Periode günstig. Ich stehe 
auf dem Standpunkt, den auch Hirsch oder Heusner einnehmen, 
daß es auch später noch zur Luxation unter bestimmten ungünstigen 
Verhältnissen kommen wird. 

Aber die Fälle unterscheiden sich dann vielleicht gerade in 
einem Punkte. Bei meinen zahlreichen Präparaten und bei den vielen 
Beobachtungen an Patienten treffen wir immer wieder zwei ganz ver¬ 
schiedene Luxationsformen, verschieden hinsichtlich der Verschieb¬ 
lichkeit, hinsichtlich der Stabilität der sekundären Pfanne, 
kurz hinsichtlich der Nearthrosenbildung. Eine ganze 
Anzahl meiner Präparate zeigt hinten und oberhalb der Primärpfanne 
keine Spur von Knochenapposition, im Gegenteil, oft ist in der 
Beckenschaufel eine tiefe Impression, eine pfannenartige 
rundliche Vertiefung, die ein von den Rändern nach der Mitte zu¬ 
nehmendes Dünnerwerden des Knochens aufweist. 

In anderen Fällen finden wir halbkreisförmig oder nieren¬ 
förmig oder mehr flachrund mit Bindegewebe bekleidet 
eine besonders gezeichnete Stelle, die mehr oder weniger 
verdickt ist und eine wulstartige Umrandung enthält. 

In wieder anderen Fällen sehen wir eine ganz dicke Knochen¬ 
auflagerung mit einem ganz dicken Wulstrand, ein rich¬ 
tiges Nearthrosenlager, das sich pfannenartig nicht unter Im¬ 
pression, sondern unter Knochenneubildung plastisch entwickelt hat. 

Gewöhnlich wird auf die Frage: Warum kommt es in der einen 
Reihe von Fällen zu Impressionen, ohne Spur von Knochenneubil¬ 
dung, warum in anderer zu einer vollkommenen, recht festen Ne¬ 
arthrosenbildung? geantwortet: In den letztgenannten Fällen hat der 
Kopf ohne Zwischenlagerung von Kapselteilen oder nach Durchreiben 
derselben dem Beckenknochen angelegen und so eine Knochenneu¬ 
bildung erzeugt, eine Nearthrose. In den anderen Fällen haben die 
Kapsel und sonstige feste bindegewebige Verwachsungen dauernd 
zwischen Kopf und Becken gelegen; so ist ein Widerlager ein¬ 
gedrückt, ohne daß die Knochenproliferation aktiv funktionell an¬ 
geregt worden wäre. 


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Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc. 


261 


Wir fragen aber weiter: Warum kommt es denn in dem 
einenFall zur Zwischenlagerung der Kapsel und in dem 
anderen nicht? Ich will dabei von Zufälligkeiten absehen und 
bin überzeugt, daß gerade hierbei die Zeit der Entstehung ma߬ 
gebend ist. 

Wir wissen nämlich, eine wie große Plastizität der Knochen' 
und Knorpel in embryonaler Zeit besitzt. Die trophische Plastizität 
beruht auf der gesetzmäßigen Reaktion des Knochens bezw. Knorpels 
auf die verschiedenen mechanischen Reize. Nun geht allerdings 
schon gleichzeitig parallel mit der Entwicklung des Gelenks aus den 
Mesenchymzellen die Bildung der BindegewebszQge als Kapselan¬ 
lage und Bänder vor sich. Je frühzeitiger aber eine Tren¬ 
nung der Hüftgelenksteile stattfindet, umso dünner sind 
naturgemäß die neugebildeten Kapselteile, umso leichter und inten¬ 
siver wird es zu Berührungen von Kopf und Schenkelbein kommen, 
ein umso stärkerer Reiz wird die sich berührenden Flächen 
zur Ausbildung des Kopfes und einer entsprechenden sekundären 
Pfanne, kurz zur Nearthrosenbildung anregen. 

Und je später es zur Luxation kommt, eine umso kräf¬ 
tiger entwickelte Kapsel wird sich Zwischenlagern und die Near¬ 
throsenbildung vereiteln. 


Ein außerordentlich schönes Präparat, das mir von Herrn Ge¬ 
heimrat Oberst-Halle a. S., Bergmannstrost, überlassen worden ist, 
ist geeignet. Ihnen eine ganze Reihe interessanter Aufschlüsse zu 
geben sowohl über die rein anatomischen Verhältnisse als auch über 
die verschiedenen therapeutisch wertvollen Rotations-, Flexions- und 
Abduktionsmanöver bei der Hüfteinrenkung. Solch Präparat ist 
natürlich viel geeigneter als alle die großen und kleinen Modelle, die 
zur Demonstration der Hüfteinrenkung gemacht worden sind. Man 
darf die Hüftluxation mit ihren eigenartigen Verbildungen und Ver¬ 
drehungen nicht an einem Normalpräparat studieren wollen; vor allem 
nicht, wenn das Präparat sogar von einem Erwachsenen stammt. 
Aber auch irgend ein einzelnes Präparat genügt nicht. 

Und noch eines möchte ich betonen. Es ist sicher erfreulich, 
wenn mit Tierexperimenten Studien gemacht werden über die Hüft¬ 
verrenkung. Man soll aber ja nicht vergessen, daß man dann immer 
postnatale grobtraumatische Luxationen vor sich hat. An Tierprä- 


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262 


H. Gochi 


paraten aber für den Menschen zeigen zu wollen, wie man den wieder¬ 
eingerenkten Femurkopf in der Primärpfanne wieder festhalten muß, 
das dürfte doch nicht ernst zu nehmen sein. 

Das Präparat stammt von einem 4 Jahre alten Mädchen mit 
rechtseitiger Hüftgelenksverrenkung. Die Reposition hatte sich in 
Narkose gut ausführen lassen. Einige Wochen nach der Einrenkung 
ist das Kind an Lungenentzündung verstorben. 

Das Präparat ist besonders deshalb so wertvoll und instruktiv, 
weil die ganze Beckenhälfte mit der ganzen Kapsel, weil ferner der 
ganze Oberschenkel mit Kniegelenk und oberem Teil von Tibia und 
Fibula erhalten ist. 

Geben wir dem Schenkel und der Beckenhälfte die normale 
Haltung in aufrechter Stellung, so stellt sich das Bein in mäßige 
Innenrotation und Adduktion. Diese normale Haltung läßt sich an 
unserem Präparate aufs genaueste rekonstruieren, weil die ganze noch 
uneröflfnete Kapsel, besonders in ihren oberen Abschnitten, so außer¬ 
ordentlich plastisch nnd genau dem Schenkelkopf anliegt: So wie 
man es gewöhnt ist von der blutigen Hüfteinrenkung her, wenn man 
bei freigelegter Kapsel mitunter den vollkommenen Eindruck hat, 
daß der Kopf bereits frei vor uns liegt. 

Die Hüftgelenkskapsel ist enorm lang nach hinten oben aus¬ 
gezogen und der Gelenkkopf steht weit hinten und oberhalb der ur¬ 
sprünglichen Priraärpfanne. Die Beckenhälfte hängt stark lordotisch 
an der Kapsel herab. Suchen wir an der Kapsel die bekannten typi¬ 
schen Verstärkungsbänder auf, so ergibt sich folgendes: 

Das Ligamentum ileo-femorale superius, welches am 
Darmbein unterhalb des vorderen Darmbeinstachels entspringt und 
von der unteren ürsprungssehne des Musculus rectus feraoris, die an 
unserem Präparat erhalten ist, überlagert wird, zieht vorn wagerecht 
und etwas nach außen ansteigend und sich verbreiternd zu seiner 
normalen Ansatzstelle, der Linea intertrochanterica anterior. 

Dieses Band hemmt die Streckung des Schenkels und die Aus¬ 
wärtsrotation in gestreckter Stellung. Das Band ist kräftig entwickelt 
und läßt direkt unter sich das Ligamentum ileo-femorale 
anterius verlaufen. Es entspringt unmittelbar unter dem anderen 
unterhalb des vorderen unteren Darmbeinstachels und zieht zu seinem 
Höcker am medialen Ende der Linea intertrochanterica. Es verläuft 
fast wagerecht, nur ein wenig nach außen unten. Auch dieses Band 
spannt sich gegen Außenrotation und üeberstreckung. 


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Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc. 


263 


Das Ligamentum pubo-femorale yerläuft lang gedehnt 
schräg nach oben außen» 

Ganz übermäßig kräftig ist schließlich das Ligamentum ischio- 
femorale entwickelt. Es verläuft sehr steil nach oben außen. Bei 
versuchter Ueberstreckung und bei Innenrotation spannt es sich be¬ 
sonders kräftig an. 

Ziehe ich nun in Strecksteilung den Oberschenkel nach unten, 
so spannt sich das Ligamentum ileorfemorale superius und anterius 


Fig. 8. 



Präparat Ob.: Vorderansicht.] 


hem mend an, beide sind also gegen normale Verhältnisse verkürzt; 
gleichzeitig werden das Ligamentum pubo-femorale und das Liga¬ 
mentum ischio-femorale entspannt. Beide sind gegen normale Ver¬ 
hältnisse verlängert. 

Dränge ich dagegen den Oberschenkel in seiner Längsrichtung 
nach oben, so spannt sich das Ligamentum pubo-femorale, das Liga¬ 
mentum ischio-femorale und gleichzeitig das Ligamentum ileo-femorale 
superius. 

Rotiere ich den gestreckten Oberschenkel nach außen, so spannt 
sich eigentlich nur das Ligamentum ileo-femorale superius, während 
bei der Einwärtsrotation die Kapsel hinten und das Ligamentum 


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264 


H. Gocht 


ischio-femoräle sich stark anspannen. Die ganzen vorderen Kapsel« 
Partien werden entspannt und wulsten sich, 

Bei rechtwinkliger Beugung des Oberschenkels rollt sich die 
vorher spiralig aufgedrehte Kapsel auf und wird in allen Teilen be¬ 
trächtlich entspannt. Die Führung für die Drehung behält das Liga¬ 
mentum ileo-femorale superius, und besonders fallt in die Augen, daß 
das Ligamentum ileo-femorale anterius, welches in Streckstellung und 


Fig. 9. 


lig Mwfe/n. 


Präparat Ob.: Hinteransicht. 



Adduktion den Eingang zur Primärpfanne hindernd überspannt, jetzt 
den letzteren vollkommen freigibt. 

Gegen eine Ueberstreckung des Hüftgelenks spannt sich die 
Kapsel in toto mit allen Verstärkungsbändern an. 

Noch zu bemerken wäre hier, daß sich etwa 12 mm hinter der 
Spina anterior inferior beginnend bis über die Incisura ischiadica hin¬ 
aus halbkreisförmig ziehend ein Knochenwulst auf dem Os ilium 


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Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc. 


ä65 


angebildet hat, seine Dicke beträgt bis 4 mm, und er bildet die 
ürsprungstelle der ganzen oberen (vorderen und hinteren) Hüft- 
gelenkskapseL 

Am leichtesten läßt sich nun bei diesem Präparat die Ein^^ 
renkung vollziehen, wenn man das Hüftgelenk um 70—80® beugt 
und zur Hälfte abduziert. Dabei stellt sich von selbst Außenrotation 
ein und der Kopf wird nun durch Druck auf den Trochanter in die 

Fig. 10. 


ffintcrrrnherrr 

Knochp/LfDulst 



Präparat Ob.: Hüfte eingerenkt; Hinteransicht. 


Primärpfanne eingetrieben, die hinteren oberen Kapselpartien wulsten 
sich und legen sich in einer breiten gleichmäßigen Falte nach der 
Trochantergegend zu über den oberen Schenkelhalsabschnitt. Bei 
den Einrenkungsmanövern hat auch gleichzeitig eine Lösung der 
medialsten Kapselpartien von der vorhin geschilderten Knochen leiste 
stattgefunden. Je rigider und starrer übrigens diese verdickten oberen 
und medialen Kapselpartien sind, desto weniger leicht werden sich 
dieselben bei der Reposition in die hinteren oberen Pfannenabschnitte 
einklemmen. Die ganze Gelenkkapsel vorn und unten ist im Be¬ 
reiche des Ligamentum pubo-femorale und des ileo-femorale anteriiis 
durch den in die Primärpfanne eintretenden Gelenkkopf angespannt 
und vorgewulstet. Und je weiter ich nun die Abduktionsstellung 


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266 


H. Gocht. 


des Schenkels treibe, umsomehr erweitere ich durch den vorwärts 
drängenden Qelenkkopf die vordere Pfannentasche, vor allem auch 
dadurch, daß ich den Oberschenkel immer mehr nach ^ußen rotiere, 
von hinten gegen die Trochantergegend anpresse und auf das Hüft¬ 
gelenk zu drücke. 

Wenn ich bei dieser Stellung einwärts rotiere, so drehe ich 
sofort den Kopf nach hinten aus der Pfanne heraus. Verringere ich 


Fig. 11. 



Hiipsclsptwnnnfj 


Kupsrlfaliujy 

hinleit 


die Abduktion wesentlich, so legt sich sofort die Kapsel wieder zwi¬ 
schen den Kopf und die vorderen Pfannenpartien. 

Ich habe nun absichtlich bis zum Augenblick die Primärstellung 
nach der Reposition nicht ins Extrem durchgeführt und die Kapsel 
selbst noch unangetastet gelassen, weil ich überzeugt war, daß bei 
der Seltenheit eines solchen Präparates einige Herren sich besonders 
für den weiteren Mechanismus interessieren würden, und ich bin be¬ 
reit, die weiteren Manipulationen jetzt hier oder nachher vorzuführen. 

Mit dem Meßband erhalten wir das Ligamentum ileo-femorale 
superius kaum 2^/4 cm, das Lig. ileo-feraorale anterius 3^4 cm, das 
Lig, pubo-femorale 4,7 cm und das Lig. ischio-femorale 5 cm lang. 

Uebereinstiramend mit früheren Resultaten ergibt sich jeden¬ 
falls, daß auch bei diesem Präparat das Lig. ileo-femorale superius 
1. stark verkürzt und sehr kräftig ist; 


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Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc. 


267 


2. bei fast allen energischen Hüftgelenksbewegungen stark an¬ 
gespannt wird; 

3. bei den ultraphysiologischen Bewegungen dem Schenkelkopf 
als verankertes Führungsband dient; 

4. daß ferner die rechtwinklige Beugestellung des Hüftgelenks 
zur Entspannung der ganzen Hüftgelenkskapsel, ganz besonders der 
vorderen Partien führt. In dieser Stellung werden also das Kapsel¬ 
innere und die vordere untere Pfannentasche am geeignetsten sein, 
den Schenkelkopf wieder aufzunehraen und in die eigentliche Primär¬ 
pfanne eintreten zu lassen. 

5. Die Auswärtsrotation bei starker Flexions-, Abduktionsstel¬ 
lung stellt sich auch bei einem reinen Kapselpräparat als die natür¬ 
lichste zur Retention des wieder eingerenkten Schenkelkopfes her. 
Jede Einwärtsrotation hebelt den Kopf vom Pfannengrunde. 

Ueber die genauere Konfiguration des oberen Femurendes des 
Schenkelhalses und Kopfes, sowie über die inneren Hüftgelenks- und 
Pfannenverhältnisse will ich erst später Einzelheiten bringen. So 
viel steht aber schon jetzt fest, daß der Schenkelhals vorn ver¬ 
längert, hinten dagegen stark verkürzt erscheint. Sieht 
man ihn von oben an, so hat man den ausgesprochenen Eindruck 
einer Retroversion des Schenkelkopfes. Betrachtet man dagegen sein 
RiehtungsVerhältnis zur Querachse der unteren Femurkondylen, so be¬ 
steht tatsächlich eine Anteversion. Die Verdrehung liegt dabei im 
mittleren und oberen Femurschafte. 

Hält man ferner den Schenkel zum Becken ohne stärkeren 
Zwang in Streckstellung, so tritt eine beträchtliche Einwärtsrotation 
auf. Wenn der Patient nun beim Gehen und Stehen gegen diese 
Einwärtsrotation angeht und, um die Fußspitze wenigstens geradeaus 
zu bringen, das ganze Bein auswärts rotiert, so drückt der vordere 
Kopfpol gegen die vorderen Kapselteile, das Lig. ileo-femorale supe- 
rius, spannt sich mächtig an und hemmt die Auswärtsrotation mit 
großer Kraft. Dadurch entsteht ein Druck gegen den Femurkopf 
nach hinten, der Kopf würde dadurch retrovertiert, der Schenkelhals 
würde vorn also länger, hinten kürzer. 

Wir bekämen hierdurch ein ganz eigenartiges Verhältnis, je 
bedeutender die Anteversion des oberen Femurendes, eine umso 
stärkere Retroversion des Schenkelhalses und Kopfes müßte intra 
vitam resultieren. 

Ja, meine Herren, so paradox es klingt, so richtig ist der 


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268 


H. Gocht. 


Fig. 12. 

Kopf' retronertirrt 

Satz doch unter gewissen Umständen. Und wenn ich meine Prä¬ 
parate und die sehr sorgsamen Zeichnungen und Photographien nach 
denselben durchmustere, so ist es ganz auffallend, daß ich auch nicht 


Fig. 13. 



Priiparat Ob.: in Rückenlage Resondc rs schön die Kap.selfaltung unten 

und der kiUltigc Kap.selscliatten oben durch das Hiiltliein hindurch.. 


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Weitere pathologisch-anatomische Untersuchungen etc. 


269 



270 


H. Gocht. 


einen einzigen Pall mit wirklicher Anteversion des Schenkelkopfes 
und Halses darunter habe. Im Gegenteil, fast alle Fälle weisen eine 
mittlere Stellung oder sogar einen nach rückwärts gerichteten Kopf 
auf. Mit größter Ueberraschung habe ich auch in der letzten, sehr 
inhaltsreichen Arbeit von Deutschländer über die blutige Hüftver¬ 
renkung bei der Beschreibung fast aller Präparate gelesen: Schenkel¬ 
hals antevertiert; vorn verkürzt, hinten verlängert. Bei meinen Prä¬ 
paraten war es, auch bei blutig operierten Fällen, mit großer Regel¬ 
mäßigkeit umgekehrt. 

Ich muß schließlich noch daran erinnern, daß ja immer sehr 
sorgsam unterschieden werden muß zwischen dem eigentlichen Femur¬ 
kopf und den meist hier liegenden und sich breitmachenden sonstigen 
überknorpelten Teilen des oberen Femurendes. Ich werde über die 
Kopfverhältnisse in einer späteren Studie eingehend berichten. 

Die Röntgenbilder 13, 14 und 15 geben noch manchen inter¬ 
essanten Aufschluß. 


Schlußsätze. 

1. Die gewöhnliche Haltung des Fötus in utero ist charakteri¬ 
siert durch Flexion, Außenrotation und geringe Adduktion der 
Hüftgelenke. 

2. Jede gewaltsame Forcierung dieser Normalhaltung müßte 
(bei tatsächlich zugegebener Druckmöglichkeit) zu einer Retroversion 
des oberen Femurendes führen. 

3. Bei fehlerhaft forcierter Einwärtsrotation des Hüftgelenks 
resultiert eine Anteversion des oberen Femurendes. 

4. Die auf Verdrehung im Schenkelschaft beruhende Antever¬ 
sion müßte als intrauterin und primär entstanden angesehen werden 
gegenüber den sekundär intra vitam entstandenen Verdrehungen im 
Bereich des Schenkelkopfes und Halses. 

5. Bei starker Anteversion des oberen Femurteiles muß es unter 
Umständen zu einer Retroversion des Schenkelhalses und Kopfes 
kommen. 

6. Die frühzeitig im 3.-4. Monat entstehenden Hüftluxationen 
neigen am meisten zur Nearthrosenbildung; je später die Luxation 
entsteht, umsomehr wird eine Nearthrosenbildung vereitelt. 

Uebereinstimmend mit früheren Resultaten ergibt sich, daß auch 
bei dem vorliegenden Präparat Ob. 


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Weitere pathologisch-enatomische Untersuchungen etc. 


271 


7. das Lig. ileo-femor. sup. stark verkürzt und sehr kräftig ist; 

8. dasselbe Lig. ileo-femor. sup. bei fast allen energischen Hüft¬ 
gelenksbewegungen stark angespannt wird; 

9. dasselbe Band bei den ultraphysiologischen Bewegungen dem 
Schenkelkopf als verankertes Führungsband dient; 

10. die annähernd rechtwinklige Beugestellung des Hüftgelenks 
zur Entspannung der ganzen Hüftkapsel, ganz besonders der vorderen 
Partien, führt. In dieser Haltung und Entfaltung wird also das 
Kapselinnere und die vordere untere Pfannentasche am geeignetsten 
sein, den Schenkelkopf wieder aufzunehmen und in die eigentliche 
Primärpfanne eintreten zu lassen; 

11. die Auswärtsrotation bei starker Abduktionsstellung stellt 
sich auch bei diesem reinen Kapselpräparat als die natürlichste zur 
Retention des wieder eingerenkten Schenkelkopfes her. Jede Ein¬ 
wärtsrotation hebelt und schiebt den Kopf vom Pfannengrunde. 


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XVIII. 


Zur blutigen Einrenkung der angeborenen 
Hüftluxation’). 

Von 

Prof. Dr. K. Ludloff. 

Mit 2 Abbildungen. 

Kein Kapitel in der orthopädischen Chirurgie ist zu einem 
solchen befriedigenden Abschluß gekommen, als die Behandlung der 
angeborenen Luxation. Diese Erfolge haben wir fast ganz aus¬ 
schließlich Lorenz zu danken. 

Die Lorenz sehe unblutige Repositionsmethode, die die all¬ 
gemein anerkannte und allgemein geübte souveräne Behandlungs¬ 
methode ist, hat so schöne Resultate gezeitigt, daß es wohl keinem 
Erfahrenen einfallen wird, daran zu rütteln. 

Aber doch kommen einzelne Fälle, unter hundert vielleicht 
ein oder zwei, vor, in denen es nicht gelingt, den Kopf richtig in 
die Pfanne zu bringen und ihn in derselben zu erhalten. So ist es 
mir unter den mehreren hundert Einrenkungen, die ich in Breslau 
zu machen Gelegenheit hatte, doch 5mal vorgekommen, daß ich den 
Kopf nicht richtig einstellen konnte. 

Soll man da nun (es handelte sich um Kinder von 4—5 Jahren) 
es dabei bewenden und das Leiden seinen Fortgang weiter nehmen 
lassen, oder zum Hilfsmittel der Bandage greifen, oder bei solchen 
jugendlichen Individuen sich damit begnügen, nur eine Anteposition 
des Kopfes zu erzielen? 

Für solche Fälle habe ich mich, nachdem ich schon vor Jahren 
einen Operationsplan ersonnen und am Kadaver mehrmals ausprobiert 
habe, dazu entschlossen, im Einverständnis mit Herrn Prof. Küttner, 
im vergangenen Frühjahr diese blutige Einrenkung nach meiner Me¬ 
thode vorzunehmen und habe bis jetzt Erfolg gehabt; bemerke aber 

') Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Geeellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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Zur blutigen Einrenkung der angeborenen Hüftluxation. 


273 


gleich von vornherein, daß die Kinder alle noch in der Primär¬ 
stellung mit hochgradiger Abduktion im Gipsverband liegen und von 
einem endgültigen Resultat noch nicht die Rede sein kann. 

Da mir aber diese Operationsmethode wertvolle Aufschlüsse 
gebracht hat und mir die Schnittführung neu zu sein scheint, so 
möchte ich sie Ihnen hier kurz demonstrieren und Sie zur Nach¬ 
prüfung auffordcrn. 

Bisher hat man blutig reponiert von einem hinteren oberen 
oder seitlich oberen Schnitt bei extendiertem resp. flektiertem und 
adduziertem Bein und ist von oben hinten in die Pfanne eingegangen. 

Ich habe einen ganz anderen Weg gewählt. Ich habe in der 
Lorenzschen Primärstellung bei rechtwinkliger Abduktion und 
üeberstreckung einen vorderen unteren Schnitt gemacht. 

Der Gang der Operation war folgender: 

Nachdem die unblutigen Repositionsversuche mißlungen waren, 
ist das Kind in rechtwinkliger Abduktion, Hyperextension und Außen¬ 
rotation 3—4 Wochen eingegipst worden. Dann ist in dieser 
Stellung, wie Sie es hier auf dem Photogramm (cf. Fig. 1) eines ge¬ 
heilten Falles sehen, ein Schnitt am lateralen Rande des Adduktor 
magnus in die Tiefe gemacht. 


Fig. 1. 



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274 


K. Ludloff. 


Man kommt dann in den Muskelinterstitien direkt auf die 
Incisura acetabuli. 

Die Operation gestaltet sich, nachdem der Hautschnitt gemacht 
ist, geradezu unblutig. Man braucht nur ein paar kleine Venen zu 
unterbinden, in der Tiefe sieht man die Obturatoria und den Obtura- 
torius liegen, ohne beide verletzen zu müssen. Die großen Gefäße 
liegen weitab lateral. 

Man eröffnet dann, während die Muskeln weit auseinander¬ 
gehalten werden, die Kapsel von der Incisura acetabuli aus und 
sieht nun die ganze leere Pfanne mit allen ihren Einzelheiten 
vor sich. 

Wenn man nun die Lorenz sehen Repositionsmanöver bei er- 
öflfneter Kapsel machte, so sah man deutlich, wie sich der Kopf 
am hinteren Pfannenrande anstemmte. Er konnte aber in unseren 
Fällen nicht eintreten, weil die Kapsel und der Limbus cartilagineus 
vor den Kopf hergetrieben wurden und der Kopf nur durch ein 
vielleicht erbsengroßes Loch zu sehen war. 

Man bemerkte deutlich das eigentliche Repositionshindemis, 
den zu engen Isthmus. 

Es wurde nun der Limbus cartilagineus und der Isthmus ein¬ 
gekerbt, bis sich mit einem scharfen Knochenhaken der Kopf fassen 
ließ, und so gelang es leicht, den Kopf in die Pfanne zu ziehen. 

Obwohl nun deutlich das Mißverhältnis zwischen Kopf und 
Pfanne zu sehen war, habe ich mich wohl gehütet, weder am Kopf 
noch an der Pfanne noch an der Kapsel außer dem Schnitt irgend 
etwas zu verändern, und habe vor allem die Knorpel ganz intakt 
gelassen. 

Nach dieser Reposition durch Zug am Kopf selbst wurde nun 
die untere Kapsel wand, soweit es ging, geschlossen und die Haut 
exakt vernäht und sofort ein Gipsverband wie gewöhnlich angelegt. 
Die Kinder wurden auf den Bauch gelegt, mit den eingegipsten 
Beinen auf ein paar Polster zu beiden Seiten, so daß in der Mitte 
eine Rinne für einen Unterschieber blieb. — So sind alle Fälle 
reaktionslos per primam geheilt und befinden sich noch in dieser 
rechtwinkligen Stellung, wie sie Lorenz vorgeschrieben hat.. Die 
Köpfe stehen exakt in der Pfanne, wie z. B. das Röntgenbild Fig. 2 
beweist, das nach Abnahme des Gipsverbandes aufgenommen ist und 
von demselben Fall wie Fig. 1 stammt. 


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Zur blutigen Einrenkung der angeborenen Hüftluxation. 


275 


Fig. 2. 



Da an dem oberen und hinteren Teil der Kapsel nicht das 
geringste zerschnitten ist, können wir wohl zuversichtlich hoffen, 
daß die Köpfe auch ihre Stellung in der Pfanne behalten, wenn 
die Stellung mehr im Sinne der Adduktion geändert wird. 

Diese eben beschriebene Operationsmethode hat den Vorteil: 

1. daß sie wenig blutig ist (es brauchen nur nach dem Haut¬ 
schnitt ein paar kleine Gefäße unterbunden zu werden; die großen 
Gefäße und Nerven bleiben lateral von der Schnittwunde und kommen 
gar nicht in den Bezirk der Manipulationen); 

2. daß die Pfanne vollständig übersichtlich vor uns liegt; 

3. daß keine Bänder- und Kapselteile, die für die spätere 
Retention wichtig sind, zerschnitten werden; 

4. daß die Operation sehr leicht auszuführen ist; 

5. daß alle Zerrungen und brüsken Manöver wegfallen, durch 
die man sonst bei einer blutigen Einrenkung der Hüfte die Asepsis 
gefährden kann. 

Als Nachteil wird man anführen müssen, daß der Schnitt in 
der Nähe der Genitalien liegt und leicht infiziert werden kann. Diese 
Infektion läßt sich aber vermeiden dadurch, daß man 


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276 Ludloff. Zur blutigen Einrenkung der angeborenen Hüftluxation. 


1. ein paar Tage vorher abführen läßt und dann Opium gibt; 

2. im Beginn der Operation die großen Schamlippen und die 
Haut über dem Foramen ani durch je eine Naht zusammenbringt, 
nachdem man in beide Foramina einen Tampon gebracht hat; 

3. indem man die Wunde ohne Drain und ohne Tampon nach 
exakter Blutstillung vollständig schließt; 

4. indem man das Kind auf den Bauch legt, so daß der ab¬ 
fließende Urin überhaupt nicht an die Wunde kommen kann. 

Daß unter diesen Umständen die Asepsis zu wahren ist, be¬ 
weist der glatte Verlauf unserer Fälle. 

Für den größten Vorteil halte ich den Umstand, daß man mit 
diesem Schnitt die Pfanne und den Kopf ganz genau inspizieren kann. 

Ich habe diese Verhältnisse an einem Modell zu demonstrieren 
gesucht und gebe Ihnen außerdem zur Illustration noch das Prä¬ 
parat einer Luxation eines 1 V^jährigen Kindes herum, an dem Sie 
die bisher selten zu Gesicht kommenden Verhältnisse studieren können. 
Leider ist die Kapsel des Präparates, ehe es in meine Hände kam, 
von orthopädisch unerfahrener Hand falsch aufgeschnitten worden, 
aber trotzdem werden Sie alles das was ich eben gesagt habe, kon¬ 
statieren und noch folgende interessante Tatsachen erheben können: 

1. daß in diesem Falle ein langes Ligamentum teres existiert, 
das hier auch Retentionshindernis werden kann; 

2. daß in diesem Falle die Pfannengegend von Bindegewebe 
stark angefüllt ist, nämlich von den stark hypertrophischen Massen, 
die sonst in der Incisura acetabuli liegen; 

3. daß der Limbus cartilagineus in diesem Fall nach innen 
eingekrempelt ist und sicher ein Retentionshindernis bildet; 

4. daß eine Retention in der Pfanne nur durch Außenrotation 
und extreme Abduktion möglich ist. 

Nach meinen Erfahrungen bei den Operationen und an diesem 
Präparat habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß es eigentlich 
zu verwundern ist, daß uns in den meisten Fällen die unblutige 
Reposition so gut gelingt und daß nicht öfter unbesiegliche Hinder¬ 
nisse eintreten. 

Ich glaube demnach aber auch, daß viele mangelhafte Reten¬ 
tionen leichter zu bekämpfen wären, wenn wir nach einmaligen ver¬ 
geblichen Versuchen nicht zu lange mit der blutigen Reposition in 
diesem Sinne zögerten. 


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XIX. 


Was aus einigen geheilten angeborenen 
Hüftverrenkungen werden kann'). 

Von 

Prof. Dr. Froelich-Nancy. 

Wenn man die Heilung einer kongenitalen Hüftluxation er¬ 
zielt hat und der Operierte schon seit Jahren ganz normal einher¬ 
geht, so könnte man glauben, daß man mit dem Leiden fertig ist, 
und daß keine üblen Folgen mehr zu befürchten sind. Mit dem ist 
es aber nicht ganz richtig. 

In einigen der glücklich geheilten Fälle kann man nochmals 
den Kranken zu Gesicht bekommen, weil Schmerzen sich im Hüft¬ 
gelenke gezeigt haben, oder weil das Kind wieder angefangen hat 
zu hinken. 

Wir verfügen über eine eigene Statistik von 230 Fällen von 
Hüftgelenksverrenkungen, von denen 30 radikal geheilt sind, 50®/o 
fast ganz geheilt und 20 ^/o wegen mannigfacher Ursachen ihr Hinken 
behalten haben. 

Ganz bemerkenswert ist zu konstatieren, daß diejenigen Patienten, 
die wieder später wegen unangenehmer Ereignisse an der Hüfte 
zu uns kamen, fast ausschließlich aus denen stammen, die ganz tadel¬ 
los entlassen wurden. 

Es sind 10 an der Zahl, die sich wie folgt einteilen: 

1. 4 Fälle mit coxa vara. 

2. 2 mit totalem Schwund des Gelenkhalses. 

3. 2 mit Coxitis tuberculosa. 

4. 1 mit traumatischer Luxation des Hüftgelenks. 

5. 1 mit spinaler Kinderlähmung. 

*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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278 


Froelich. 


Von diesen fünf unangenehmen Zufällen können zwei als mit 
der Operation in direkter Verbindung angesehen werden: Coxa vara 
und Schwund des Gelenkhalses. 

Die zwei folgenden mehr oder weniger in Zusammenhang mit 
der kongenitalen Luxation stehend: Coxitis tuberculosa und trau¬ 
matische Luxation. 

Der letzte scheint von der Verrenkung ganz unabhängig, ob¬ 
schon während der Reposition nicht ganz selten eine Paralyse des 
Nervus ischiadicus vorkommt, die unserer später eingetretenen spinalen 
Kinderlähmung ganz identisch ist. 

Die Coxa vara im Zusammenhang mit angeborener Verrenkung 
darf uns nicht wundem: Haben doch alle älteren Autoren, die über 
die pathologische Anatomie des Leidens schrieben und auch die neueren 
Chirurgen, die blutige Repositionen bei etwas älteren Kindern 
machten, gefunden, daß der Schenkelhals zur Diaphyse oft einen 
rechten Winkel bildete. 

Uns fällt aber auf bei unseren über 250 radiologisch ge¬ 
prüften Hüftluxationen, daß diese Verbiegung des Schenkelhalses 
bei den jung operierten Fällen ganz ausnahmsweise auftrat. 

Wir haben 4 Fälle, deren Geschichte wir weiter unten kurz 
geben. 

Im Kongreß für Pädiatrie in Algier (April 1907) zeigteCurtillet 
zwei Mädchen, bei denen ziemlich rasch nach der Einrenkung eine 
Coxa vara, die vorher nicht bestand, auf dem Röntgenbilde sich zeigte. 

Auf meine Fälle hindeutend, konnte ich in der Diskussion 
sagen, daß dieses Ereignis, obschon selten, nichts besonders Ueber- 
raschendes vorstelle. 

Die Coxa vara, die allmählich nach der Reposition sich bildet, 
kann einmal herkommen von der bekannten Disposition der nicht 
operierten Luxationen, eine Coxa vara zu bilden; 

zweitens von einer Epiphysenlösung, die doch oft ohne, große 
Gewalt und ohne Geräusch während der Operation zu stände kommt 
und nur später bei der Abnahme des Gipses und der röntgenologischen 
Nachuntersuchung klar wird. 

Auch kann diese Epiphysenlösung nicht plötzlich zu stände 
gekommen sein, sondern nach und nach, während der erzwungenen 
Innenrotation: durch das Anstemmeii des Kopfes an die nicht ge¬ 
nügend tiefe Pfanne und die Torsion, die der Gipsverband am Knie 
und Fuß ausübt. 


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Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 279 


Schon Ludloff hat diese Tatsache eruiert in einer Diskussion 
auf dem dritten Kongreß für orthopädische Chirurgie (Seite 16 der 
V erhandlungen). 

Hier sei nebenbei bemerkt, daß diese forcierte Innenrotation 
bei flachen Pfannen auch am Knie Unheil anstiften kann. Bei zwei 
Kindern von 5 und 7 Jahren, bei denen diese Stellung erzwungen 
wurde, habe ich eine Epiphysenlösung am unteren Ende des Femur 
erlebt nach ganz sanften Rotationsbewegungen während der Massage. 

Die Erklärung des viel selteneren Schwundes des Schenkelhalses 
kann man wie folgt aufzustellen suchen. 

Auch hier kann man sagen, daß die älteren Autoren den 
Schenkelhals bei den Verrenkungen als atrophisch beschreiben. Auch 
die Beschreibungen Lorenz* und Kirmissons sprechen immer 
noch Yon einem reduzierten Hals und von dem Aussehen des Kopfes 
wie ein Wagenpuffer, so daß man annehmen kann, daß eine Luxation, 
sich selbst überlassen, später einen atrophischen Hals zeigt. 

Bei den operierten Fällen dürfte die Erklärung eine andere 
sein. Hier scheint es wieder das Operationstrauma oder die langan¬ 
haltende Kompression zwischen Kopf, resp. Pfanne und Trochanter 
major, in dem Gipsapparat, oder während des Reitens mit ausge¬ 
spreizten Beinen, das man doch jedes operierte Kind noch lange 
Monate nach der Reposition halten läßt. 

Durch das ursprüngliche Trauma und durch die nachfolgende 
Belastung eines in seiner Beschaffenheit modifizierten Halses ereignet 
sich in demselben der rarefizierende Prozeß, den wir in den Wirbel¬ 
körpern sehen, z. B. nach einem Falle auf den Rücken, der eine Spon¬ 
dylitis traumatica nach sich führt. 

Daß dieser Prozeß aber nicht sehr häufig die Heilung der 
kongenitalen Luxation hindert, beweisen die ganz wenigen Fälle, die 
publiziert worden sind. Ich kenne nur einen von Curtille und die¬ 
jenigen, die ich hier veröffentliche. 

Die folgenden Krankheiten des reponierten Hüftgelenks haben 
wahrscheinlich mit der Operation als solcher weniger zu tun: Es 
ist die traumatische Luxation eines früher kongenital verrenkten 
Hüftgelenks einerseits und die tuberkulöse Coxitis solcher operierten 
Hüftgelenke anderseits. 

Die traumatische Luxation einer gesunden Hüfte, ist bei 
Kindern ganz selten. Hüter sah sie nie. Krön lein fand auf 400 
Luxationen 44 der Hüfte, aber keine bei Kindern. 


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280 


Froelich. 


Ich selbst habe einen Fall von Hüftgelenksluxation veröffent¬ 
licht (Revue Mödicale de l'Est 1907, S. 351) bei einem Mädchen 
von 9 Jahren, das eine Kellerlochtreppe hinabgestürzt war. Die 
Reposition gelang nach 24 Stunden, und das Kind war nach 3 Wochen 
ideal 'geheilt. 

Bei meinen 230 reponierten Kindern stiegen die Reluxationen 
nach den ersten Monaten auf 20®/o. Später aber sind sie ganz selten 
und kommen nicht brüsk, sondern allmählich zu stände. 

Eine traumatische Verrenkung nach 6 Jahren bei einer repo¬ 
nierten kongenitalen Luxation ist ein ganz unerwartetes Vorkommnis. 

. Tuberkulöse Coxitis bei kongenital verrenkter Hüfte habe ich 
unter 520 Coxitiden, die ich sah, nur 3 gesehen. Dieses Zusammen¬ 
treffen, wenn man auf die Häufigkeit der Coxitis und der kongeni¬ 
talen Luxation achtet, ist also ganz selten. 

Selten auch und vielleicht wegen derselben noch unbekannten 
Ursachen sind die Fälle, bei denen nach gelungener Reposition sich 
später eine Coxitis in dem geheilten Gelenk abspielt. 

Diese üblen Folgen habe ich zweimal erlebt. Ich gebe weiter 
unten kurz die Krankengeschichten derselben. 

Beide sind geheilt: die eine, ohne daß der Kopf sich wieder 
aus der Pfanne luxierte, nach subtrochanterer Osteotomie wegen 
schlechter Haltung des ankylotischeu Gelenkes; die andere nach 
Reluxation und offener Eiterung der Coxitis. 

Die Coxitis, wenn man sich auf zwei vereinzelte Patienten stützen 
darf, scheint also ziemlich gutartig an früher verrenkten und ope¬ 
rierten Hüften zu verlaufen. 

Gar keinen Zusammenhang mit der Reposition einer Hüftver¬ 
renkung darf wohl eine nachfolgende spinale Kinderlähmung haben, 
die ich bei einem Mädchen neulich sah. 

9 Monate nach einer ganz gut gebeMten rechten kongenitalen 
Luxation spielte sich eine typische Poliomyelitis an demselben 
Bein ab, die eine Paralyse der Peronei und Extensoren nach sich führte. 

Hier sei bemerkt, daß ganz genau dieselbe Paralyse nach 
Reposition einer schwierigen Luxation Vorkommen kann, die aber dann 
der Operation zur Schuld fallen muß. Bei einem Kinde von 6 Jahren, 
bei einem anderen von 9 Jahren, bei einem dritten von 12 Jahren 
erlebte ich eine Paralyse des Nervus popliteus externus. Dieselbe 
schwand nach mehreren Monaten bei den zwei ersten Patienten, be¬ 
steht aber noch heute seit 8 Monaten bei dem dritten. 


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Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 281 


Gocht (Halle) hat gezeigt, daß diese Lähmung durch die 
Zerreißung oder Zerrung des Nervus ischiadicus in der Inqisura 
stattfindet, wenn der Nerv oberhalb und unterhalb des Musculus 
pyriformis aus dem Becken herauskommt. 

Dieser Verlauf setzt speziell die Nervenfasern des Popliteus 
externus der Zerreißung während der Reposition aus. 

A. Was aus einer geheilten kongenitalen HUftluxation 

werden kann. 

Fall 1. Coxa vara nach gelungener Reposit ion einer 
Hüftgelenksluxation. Marguerite Geo . . 7 Jahre alt. Linke 

kongenitale Hüftgelenksluxation. Eine Tante hat dasselbe Leiden. 
Das Gehen ist sehr schwer geworden seit einigen Monaten. Nach 
kaum 100 Metern will das Kind getragen werden. Verkürzung des 
linken Beins 3^2 cm. Die Glutealmuskulatur ist sehr atrophisch. 

Im Röntgenbild sieht man den Schenkelhals etwas verkürzt, 
aber der Winkel des Halses mit dem Schaft ist normal. Das Dach 
der Pfanne ist ziemlich deutlich ausgeprägt. Dasselbe gilt von der 
Tiefe der Pfanne. 

8. September 1905. Reposition nach Lorenz. Abduktion von 
60 Grad im Gipsverband. 13. September starkes Anschwellen der 
linken Schamlippe. 

13. November. Wechsel des Gipsverbandes. 

25. Dezember. Abnahme des Verbandes. Kontraktur der Hüfte. 
Außenrotation des Fußes. Massage und Mechanotherapie. 

7. Februar 190G. Das Gehen ist befriedigend, es verbleibt 
etwas Kontraktur der Hüfte. 

18. Juni. Der Gang ist normal. Nach sehr langem Gehen 
ein wenig Hinken. Die Flexion der Hüfte geht über 90 Grad. 

20. Juli. Röntgenaufnahme. Das Pfannendach wuchert über 
den Schenkelkopf. Der Schenkelhals ist links kürzer und bildet 
einen Winkel von 55 Grad (Coxa vara). 

Fall 2. Marguerite Guy . . . ., 3 Jahre. Doppelte Luxation. 
Eine Schwester, von der später gesprochen wird, hat nach geheilter 
einseitiger Luxation eine tuberkulöse Coxitis Überstunden. Starkes 
Wackeln mehr nach rechts als nach links. 

Im Röntgenbilde sieht man eine tiefe Pfanne mit fast horizon¬ 
talem Dach. Der Femurkopf steht 4 cm resp. 3^2 cm über der 


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Froelich. 


Von diesen fünf unangenehmen Zufällen können zwei als mit 
der Operation in direkter Verbindung angesehen werden: Coxa vara 
und Schwund des Gelenkhalses. 

Die zwei folgenden mehr oder weniger in Zusammenhang mit 
der kongenitalen Luxation stehend: Coxitis tuberculosa und trau¬ 
matische Luxation. 

Der letzte scheint von der Verrenkung ganz unabhängig, ob¬ 
schon während der Reposition nicht ganz selten eine Paralyse des 
Nervus ischiadicus vorkommt, die unserer später eingetretenen spinalen 
Kinderlähmung ganz identisch ist. 

Die Coxavara im Zusammenhang mit angeborener Verrenkung 
darf uns nicht wundern: Haben doch alle älteren Autoren, die über 
die pathologische Anatomie des Leidens schrieben und auch die neueren 
Chirurgen, die blutige Repositionen bei etwas älteren Kindern 
machten, gefunden, daß der Schenkelhals zur Diaphyse oft einen 
rechten Winkel bildete. 

Uns fällt aber auf bei unseren über 250 radiologisch ge¬ 
prüften Hüftluxationen, daß diese Verbiegung des Schenkelhalses 
bei den jung operierten Fällen ganz ausnahmsweise auftrat. 

Wir haben 4 Fälle, deren Geschichte wir weiter unten kurz 
geben. 

Im Kongreß für Pädiatrie in Algier (April 1907) zeigte Curti 11 et 
zwei Mädchen, bei denen ziemlich rasch nach der Einrenkung eine 
Coxa vara, die vorher nicht bestand, auf dem Röntgenbilde sich zeigte. 

Auf meine Fälle hindeutend, konnte ich in der Diskussion 
sagen, daß dieses Ereignis, obschon selten, nichts besonders Ueber- 
raschendes vorstelle. 

Die Coxa vara, die allmählich nach der Reposition sich bildet, 
kann einmal Herkommen von der bekannten Disposition der nicht 
operierten Luxationen, eine Coxa vara zu bilden; 

zweitens von einer Epiphysenlösung, die doch oft ohne.große 
Gewalt und ohne Geräusch während der Operation zu stände kommt 
und nur später bei der Abnahme des Gipses und der röntgenologischen 
Nachuntersuchung klar wird. 

Auch kann diese Epiphysenlösung nicht plötzlich zu stände 
gekommen sein, sondern nach und nach, während der erzwungenen 
Innenrotation: durch das Anstemmeii des Kopfes an die nicht ge¬ 
nügend tiefe Pfanne und die Torsion, die der Gipsverband am Knie 
und Fuß ausübt. 


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Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 279 


Schon Ludloff hat diese Tatsache eruiert in einer Diskussion 
auf dem dritten Kongreß für orthopädische Chirurgie (Seite 16 der 
V erhandlungen). 

Hier sei nebenbei bemerkt, daß diese forcierte Innenrotation 
bei flachen Pfannen auch am Knie Unheil anstiften kann. Bei zwei 
Kindern von 5 und 7 Jahren, bei denen diese Stellung erzwungen 
wurde, habe ich eine Epiphysenlösung am unteren Ende des Femur 
erlebt nach ganz sanften Rotationsbewegungen während der Massage. 

Die Erklärung des viel selteneren Schwundes des Schenkelhalses 
kann man wie folgt aufzustellen suchen. 

Auch hier kann man sagen, daß die älteren Autoren den 
Schenkelhals bei den Verrenkungen als atrophisch beschreiben. Auch 
die Beschreibungen Lorenz’ und Eirmissons sprechen immer 
noch von einem reduzierten Hals und von dem Aussehen des Kopfes 
wie ein Wagenpuffer, so daß man annehmen kann, daß eine Luxation, 
sich selbst überlassen, später einen atrophischen Hals zeigt. 

Bei den operierten Fällen dürfte die Erklärung eine andere 
sein. Hier scheint es wieder das Operationstrauma oder die langan¬ 
haltende Kompression zwischen Kopf, resp. Pfanne und Trochanter 
major, in dem Gipsapparat, oder während des Reitens mit ausge¬ 
spreizten Beinen, das man doch jedes operierte Kind noch lange 
Monate nach der Reposition halten läßt. 

Durch das ursprüngliche Trauma und durch die nachfolgende 
Belastung eines in seiner Beschaffenheit modifizierten Halses ereignet 
sich in demselben der rarefizierende Prozeß, den wir in den Wirbel¬ 
körpern sehen, z. B. nach einem Falle auf den Rücken, der eine Spon¬ 
dylitis traumatica nach sich führt. 

Daß dieser Prozeß aber nicht sehr häufig die Heilung der 
kongenitalen Luxation hindert, beweisen die ganz wenigen Fälle, die 
publiziert worden sind. Ich kenne nur einen von Curtille und die¬ 
jenigen, die ich hier veröffentliche. 

Die folgenden Krankheiten des reponierten Hüftgelenks haben 
wahrscheinlich mit der Operation als solcher weniger zu tun: Es 
ist die traumatische Luxation eines früher kongenital verrenkten 
Hüftgelenks einerseits und die tuberkulöse Coxitis solcher operierten 
Hüftgelenke anderseits. 

Die traumatische Luxation einer gesunden Hüfte, ist bei 
Kindern ganz selten. Hüter sah sie nie. Krön lein fand auf 400 
Luxationen 44 der Hüfte, aber keine bei Kindern. 


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Froelich. 


Ich selbst habe einen Fall von Hüftgelenksluxation veröflFent- 
licht (Revue M^dicale de TEst 1907, S. 351) bei einem Mädchen 
von 9 Jahren, das eine Kellerlochtreppe hinabgestürzt war. Die 
Reposition gelang nach 24 Stunden, und das Kind war nach 3 Wochen 
ideal geheilt. 

Bei meinen 230 reponierten Kindern stiegen die Reluxationen 
nach den ersten Monaten auf 20®/o. Später aber sind sie ganz selten 
und kommen nicht brüsk, sondern allmählich zu stände. 

Eine traumatische Verrenkung nach 6 Jahren bei einer repo¬ 
nierten kongenitalen Luxation ist ein ganz unerwartetes Vorkommnis. 

j Tuberkulöse Coxitis bei kongenital verrenkter Hüfte habe ich 
unter 520 Coxitiden, die ich sah, nur 3 gesehen. Dieses Zusammen¬ 
treffen, wenn man auf die Häufigkeit der Coxitis und der kongeni¬ 
talen Luxation achtet, ist also ganz selten. 

Selten auch und vielleicht wegen derselben noch unbekannten 
Ursachen sind die Fälle, bei denen nach gelungener Reposition sich 
später eine Coxitis in dem geheilten Gelenk abspielt. 

Diese üblen Folgen habe ich zweimal erlebt. Ich gebe weiter 
unten kurz die Krankengeschichten derselben. 

Beide sind geheilt: die eine, ohne daß der Kopf sich wieder 
aus der Pfanne luxierte, nach subtrochanterer Osteotomie wegen 
schlechter Haltung des ankylotischen Gelenkes; die andere nach 
Reluxation und offener Eiterung der Coxitis. 

Die Coxitis, wenn man sich auf zwei vereinzelte Patienten stützen 
darf, scheint also ziemlich gutartig an früher verrenkten und ope¬ 
rierten Hüften zu verlaufen. 

Gar keinen Zusammenhang mit der Reposition einer Hüftver¬ 
renkung darf wohl eine nachfolgende spinale Kinderlähmung haben, 
die ich bei einem Mädchen neulich sah. 

9 Monate nach einer ganz gut geheMten rechten kongenitalen 
Luxation spielte sich eine typische Poliomyelitis an demselben 
Bein ab, die eine Paralyse der Peronei und Extensoren nach sich führte. 

. Hier sei bemerkt, daß ganz genau dieselbe Paralyse nach 
Reposition einer schwierigen Luxation Vorkommen kann, die aber dann 
der Operation zur Schuld fallen muß. Bei einem Kinde von 6 Jahren, 
bei einem anderen von 9 Jahren, bei einem dritten von 12 Jahren 
erlebte ich eine Paralyse des Nervus popliteus externus. Dieselbe 
schwand nach mehreren Monaten bei den zwei ersten Patienten, be- 
steht aber noch heute seit 8 Monaten bei dem dritten. 


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Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 281 


Gocht (Halle) hat gezeigt, daß diese Lähmung durch die 
Zerreißung oder Zerrung des Nervus ischiadicus in der Inpisura 
stattfindet, wenn der Nerv oberhalb und unterhalb des Musculus 
pyriformis aus dem Becken herauskommt. 

Dieser Verlauf setzt speziell die Nervenfasern des Popliteus 
extemus der Zerreißung während der Reposition aus. 

A. Was aus einer geheilten kongenitalen Hüftluxation 

werden kann. 

Fall 1. Coxa vara nachgelungener Reposition einer 
Hüftgelenksluxation. Marguerite Geo . . 7 Jahre alt. Linke 

kongenitale Hüftgelenksluxation. Eine Tante hat dasselbe Leiden. 
Das Gehen ist sehr schwer geworden seit einigen Monaten. Nach 
kaum 100 Metern will das Kind getragen werden. Verkürzung des 
linken Beins 3 Vs cm. Die Glutealmuskulatur ist sehr atrophisch. 

Im Röntgenbild sieht man den Schenkelhals etwas verkürzt, 
aber der Winkel des Halses mit dem Schaft ist normal. Das Dach 
der Pfanne ist ziemlich deutlich ausgeprägt. Dasselbe gilt von der 
Tiefe der Pfanne, 

8. September 1905. Reposition nach Lorenz. Abduktion von 
60 Grad im Gipsverband. 13. September starkes Anschwellen der 
linken Schamlippe. 

13. November. Wechsel des Gipsverbandes. 

25. Dezember. Abnahme des Verbandes. Kontraktur der Hüfte. 
Außenrotation des Fußes. Massage und Mechanotherapie. 

7. Februar 1906. Das Gehen ist befriedigend, es verbleibt 
etwas Kontraktur der Hüfte. 

18. Juni. Der Gang ist normal. Nach sehr langem Gehen 
ein wenig Hinken. Die Flexion der Hüfte geht über 90 Grad. 

20. Juli. Röntgenaufnahme. Das Pfannendach wuchert über 
den Schenkelkopf. Der Schenkelhals ist links kürzer und bildet 
einen Winkel von 55 Grad (Coxa vara). 

Fall 2. Marguerite Guy . . . ., 3 Jahre. Doppelte Luxation. 
Eine Schwester, von der später gesprochen wird, hat nach geheilter 
einseitiger Luxation eine tuberkulöse Coxitis Überstunden. Starkes 
Wackeln mehr nach rechts als nach links. 

Im Röntgenbilde sieht man eine tiefe Pfanne mit fast horizon¬ 
talem Dach. Der Femurkopf steht 4 cm resp. 3V2 cm über der 


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Froelich. 


Pfanne. Die untere Hälfte der Pfanne ist etwas hyperplastisch (siehe 
Bade- Hannover). 

Der Hals ist etwas verdickt und steht zur Diaphyse in einem 
Winkel von 110 Grad. 

19. Mai 1904. Reposition auf beiden Seiten. 

7. September 1904. Abnahme des Gipsverbandes, der 4 Monate 
liegen blieb. Etwas Decubitus in der Lendengegend. Kontraktur 
beider Hüften (Massage und Mobilisation). 

8. Februar 1905. Der Gang ist schon ziemlich gebessert. 

10. Juli. Guter Gang, leichtes Hinken nach rechts. 

17. November. Der Gang, der mehrere Monate ganz normal 
war, zeigt wieder rechts ein gewisses Hinken. 

Im Röntgenbilde Coxa vara von 90 Grad rechts. 

Fall 3. A.... G.. 21 Monate alt, doppelseitige Hüft¬ 

verrenkung. Schwächliches Mädchen, charakteristisches Wackeln. 

Status praesens 24. September 1904. Die Trochanteren stehen 
4 cm höher als die Roser-Ndlatonschen Linien. 

Im Röntgenbilde gutausgebildete Pfannen. Der rechte Femur 
ist schwächer als der linke. Der Schenkelhalswinkel mißt 115 Grad 
(Coxa vara). 

27. Januar 1905. Doppelseitige Einrenkung. 

8. März. Wechsel des Gipsverbandes. 

24. Mai. Abnahme des Gipsverbandes. Massage und Mobilisation. 

Nach einem Monate läuft das Kind ganz befriedigend. 

8. September 1906. Das Kind fängt wieder an ein wenig zu 
hinken. 

Im Röntgenbilde sieht man, daß die Coxa vara zugenommen hat 
bis zu 100 Grad links, rechts 95 Grad. 

Fall 4. Re'nee G., 2 ^2 Jahre. Starkes Mädchen. Für doppelseitige 
Hüftverrenkung charakteristischer Gang. Läuft seit dem 19. Monat. 

10. April 1904. Röntgenaufnahme. Doppelseitige Luxation. 
Kopf rechts 3^2 cm, links 2 cm über der Pfanne. Kopf und Hals 
sind verdickt. 

Schenkelhalsvvinkel normal. Pfanne ziemlich tief. Muskulatur gut. 

Operation 12. April 1904. Abduktion von 90 Grad in Gips¬ 
verband. 

15. April. Eine Röntgenaufnahme durch den Gipsverband 
zeigt, daß die Köpfe normal stehen. 


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Was aas einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 283 

25. Juli. Abnahme des Gipsyerbandes. Massage und Be¬ 
wegungen. 

8. Februar 1905. Das Kind läuft ganz vortrefflich. 

19. Juli 1905. Im Röntgenbilde sieht mau die Pfanne tiefer 
gebohrt, die Schenkelköpfe ein wenig abgeplattet, den Schenkel¬ 
hals kürzer. Der Halswinkel beträgt 105 und 110 Grad. Das Kind 
geht normal ohne Wackeln, klagt aber oft über Schmerzen in den 
Hüften. 

B. Schwund des Schenkelhalses nach Reposition einer 
kongenitalen Hüftluxation. 

Pall 1. Marie Sp . . ., 2 Jahre alt (10. November 1904), läuft 
seit 4 Monaten. 

Für doppelseitige Hüftverrenkung charakteristisches Hinken. 
Die Trochanteren stehen 10 cm über der Nelatonschen Linie. Gute 
Muskulatur. 

Im Röntgenbilde Gelenkpfanne flach. Dach dennoch ausgeprägt. 

Femurköpfe und Schenkelhalswinkel normal. 

Reposition November 1904. Abduktion von 90 Grad. Während 
4 Monaten in Gips, dann noch einen Monat, ohne zu gehen. 

Mai 1905. Das Gehen ist schon fast ganz normal. Abends 
hinkt das Kind noch ein wenig rechts. 

Im Röntgenbilde stehen die Femurköpfe tief in den Gelenk¬ 
pfannen. Schenkelhalswinkel normal (127 Grad). 

Dezember 1907. Drei Jahre nach der Reposition wird uns das 
Mädchen wieder zugeführt, weil es wieder angefangen hat zu hinken. 
Es soll bis jetzt tadellos gegangen sein. 

Status praesens. Das Kind hinkt nach der rechten Seite. Die 
Trochanteren stehen normal. Das rechte Bein ist 1^2 cm kürzer als 
das linke. Der Druck auf den rechten Trochanter ist schmerzhaft. 
Die Abduktion ist rechts geringer als links. 

Im Röntgenbilde bemerkt man, daß der Schenkelhals auf der 
rechten Seite ganz reduziert ist. Der Femurkopf steht in der Pfanne. 
Links besteht eine Coxa vara von 100 Grad. Auch hier ist der 
Schenkelhals kleiner. 

Fall 2. Jeanne Man . . . ., 3 Jahre alt. Fünftes Kind gesunder 
Eltern. Die vier andern Kinder sind gesund. Jenes läuft seit dem 
20. Monate, aber hat das bekannte Wackeln der doppelseitig Hüft- 
verrenkten. 


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284 


Froelich. 


21. Mai 1906. Ira Röntgenbilde doppelseitige Hüftluxation. 
Flache Pfannen. Die Köpfe 2^/2 cm über der Pfanne. Normale 
Schenkelhalswinkel. 

27. Mai. Reposition. 90 Grad Abduktion im Gipsverband während 
4 Monaten, dann 2 Monatein einem ledernen Hülsenapparat. (Becken¬ 
gürtel und in Abduktion versetzbare Schenkelhülsen.) 

Der Gang hat sich sehr verbessert, aber das Wackeln besteht. 

22. Januar 1907. Im Röntgenbilde Coxa vara von 110 Grad. 

25. Juni 1907. Das Wackeln besteht trotz der gelungenen 

Reposition. Die Coxa vara hat zugenommen. 

Oktober 1907. Die Schenkelhälse sind verschwunden, links 
vollständig, rechts besteht noch eine schwache Leiste von Schenkel¬ 
hals. Coxa vara von 90 Grad. Die Abduktion ist beiderseits sehr 
verringert. 

Keine Schmerzen. Trotz dieser anatomischen Befunde ist das 
Wackeln geringer. Reitstuhl und Massage. 

C. Tuberkulöse Coxitis nach geheilter kongenitaler 
Hüftgelenksluxation. 

Fall 1. Reine Stok . . . ., 12 Jahre alt. Links kongenitale 
Hüftverrenkung; wurde im Dezember 1901 in die Kinderabteilung 
des Spitals zu Nancy aufgenomineii. Das Kind hat mit 17 Monaten 
angefangen zu gehen. Das linke Bein ist heute 2 cm kürzer als das 
rechte. Sehr schlechter Gang. Im Röntgenbilde linke Hüftluxation. 
Abgeflachte Pfanne. Reposition nach ömonatlichem Gipsverband. Guter 
Gang. Am Abend soll das Kind noch ein wenig hinken. 

Den 20. Januar 1908, also 7 Jahre nach der Operation kommt 
das Kind wieder in die Klinik. Seit Februar 1905, also seit 2 Jahren 
soll die früher luxierte Hüfte schmerzhaft geworden sein und ange¬ 
schwollen. Der behandelnde Arzt legte einen Streckverband an. Nach 
6 Monaten waren die Schmerzen wieder verschwunden. Der Gang 
war möglich, aber das Hinken sehr stark. Im nächsten Jahre wurde 
das Gelenk wieder schmerzhaft und das Mädchen lag 6 Wochen 
im Bett. 

Status praesens 28. Januar 1908. Ziemlich starkes Mädchen, 
normale Lungen. Das linke Bein stark atrophisch. 

Die Hüfte ist kontrakt bei 45 Grad Flexion und in Adduktion 
von 6 cm. Keine Schmerzen selbst bei den Bewegungsversuchen 
des Gelenks. Auch Unempfindlichkeit auf Druck. 


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Was aus einigen geheilten angeborenen Hüftverrenkungen werden kann. 285 


Im Röntgenbilde sieht man den Kopf sehr atrophisch. Er sitzt in 
der Gelenkpfanne. Diese zeigt eine große Erweiterung mit Knochen¬ 
wucherungen und hellen Partien. Diagnose Coxitis tuberculosa, mit 
Ankylose geheilt. 

Um die Flexion und Adduktion zu beseitigen: Osteotomia sub- 
trochanterica. Heilung per primam nach 6 Wochen. 

Fall 2. Berta Gu . . . 7 Jahre alt, hat immer gehinkt, seit 

sie gehen kann; hat eine Schwester mit doppelseitiger Luxation. 
Das linke Bein ist 3 cm kürzer als das rechte. Im Jahre 1904 wurde 
die Luxation eingerenkt. 4 Monate Gipsverband. Nach 2 Monaten 
Massage wurde der Gang ziemlich gut, besserte sich nach und nach 
und wurde normal. Im Januar 1907 wurde das Knie schmerzhaft und 
der Gang unmöglich. 

Im Mai 1907 Schwellung der linken Hüfte. Das Kind wurde 
mir wieder zugeschickt. 

Status praesens 13. Mai 1907. Das Mädchen ist stark ab¬ 
gemagert, ein kalter Abszeß sitzt zwischen Spina iliaca anterior su- 
perior und großem Trochanter. Der Trochanter steht in der Höhe 
der Spina, so daß sich die Luxation wieder hergestellt hat. Das 
Bein ist 2 cm kürzer als das rechte, hat geringe Adduktion, aber 
keine Flexion. Diagnose: Coxitis tuberculosa nach einer vor 3 Jahren 
glücklich eingerenkten Hüftluxation. 

Nach dreimaliger Punktion ohne Jodoforminjektion heilte der 
Abszeß. Gehgipsapparat. 

März 1908. Die Schmerzen sind verschwunden. Die Hüfte 
ist nicht mehr geschwollen, nicht empfindlich auf Druck. Gutes 
Allgemeinbefinden. 

D. Traumatische Verrenkung einer seit 6 Jahren ge¬ 
heilten Hüftluxation. 

Marie Louise Man . . ., 10 Jahre alt; wurde in der Kinder¬ 
klinik im Jahre 1901 als 3jähriges Kind mit einer kongenitalen 
Luxation der rechten Hüfte behandelt. Einrenkung nach Lorenz. 

Ein Jahr später hinkte das Kind nicht mehr und konnte den 
ganzen Tag ohne Müdigkeit stehen und gehen. 

Den 12. Dezember 1907 rutschte es mit den Holzschuheii im 
Schnee aus, fiel zu Boden, vermochte sich nicht mehr zu erheben 
und blieb 3 Wochen im Bett. Dann wurde das Gehen wieder ver- 


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286 Froelich. Was aus einigen geheilten angebor. Hüftverrenk. werden kann. 

sucht. Es gelang mit vieler Mühe, etwas Schmerzen und großem 
Hinken. 

Den 20. Januar 1908 wurde es in die Klinik wieder aufgenommen. 
Zehnjähriges, starkes Mädchen. Der Gang ist schwierig. Die rechte 
Hüfte leicht flektiert und adduziert. Die Bewegungen sind möglich. 
Die Abduktion und Extension aber sind unvollständig. Der Tro¬ 
chanter steht 3 cm über der Nelatonschen Linie. Im Röntgen¬ 
bilde Luxatio femoris iliaca. Einrenkung unter Chloroform. Gips¬ 
verband in Abduktion von 60 Grad. Nach 4 Wochen Abnahme des 
Verbandes. Die Hüfte ist steif. Massage und Bewegungen. 

Den 24. März wurde das Kind entlassen. Die Bewegungen 
der Hüfte gewinnen an Umfang. Flexion bis 45 Grad. Adduktion 
und Abduktion 20 Grad. Das Hinken ist immer beträchtlich, aber 
das einer steifen Hüfte, nicht einer Luxation. Ira Röntgenbilde sitzt 
der Kopf in der Pfanne. Diese ist ziemlich normal. 

E. Poliomyelitis anterior (spinale Kinderlähmung) nach 
Einrenkung einer kongenitalen Hüftluxation. 

Marie Col . . . ., 2 Jahre alt. Rechte angeborene Hüftgelenks¬ 
verrenkung. Trochanter 2 cm über der Nälatonschen Linie; wurde 
ira März 1907 reponiert und eingegipst. Nach 5 Monaten fing das 
Kind wieder an zu gehen. 

Den 23. November wurde das Kind in die Klinik gebracht. 
Das Gehen war ganz normal. Keine Spur mehr vom Hinken. Die 
Bewegungen sind in allen Richtungen vollständig. Die Abduktion 
allein bleibt ein wenig zurück. 

In den ersten Tagen des Januar 1908 wurde das Kind krank 
(Fieber, Erbrechen), und 10 Tage später, als das Kind wieder auf die 
Füße gestellt wurde, konnte es sich nicht mehr auf das rechte Bein 
stützen. 

27. Februar. Das Kind kann gehen, aber schleudert das rechte 
Bein. Waden und Schenkel sind atrophisch. Die Hüfte ist normal. 
Der Kopf steht in der Pfanne. Gänzliche Lähmung der Peronei 
und Extensoren der Zehen, ausgenommen des Extensor hallucis; 
Massage und Elektrizität. 


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XX. 


Grundsätze der Behandlung veralteter traumatischer 
Hüftgelenksverrenkungen'). 

Von 

Prof. Dr. Adolf Lorenz-Wien. 

Mit 4 Abbildungen. 

Ich trete an die Behandlung dieses Themas mit dem Bewußt¬ 
sein heran, mich in die Gefahr zu begeben, für anmaßend gehalten zu 
werden, denn streng genommen sind meine Erfahrungen auf dem 
bezeichneten Gebiete so gering, als dies eben möglich ist, um über¬ 
haupt von Erfahrung sprechen zu können. — Dieselben beziehen 
sich nämlich auf einen „einzigen“ Fall. 

Für mich wiegt dieser eine Fall an Wichtigkeit zehn andere 
auf, weil er mir zum ersten Male die Gelegenheit bot, meinen vor 
Jahren hierzu gemachten Vorschlag praktisch zu prüfen. 

Einem etwaigen Vorwurfe der Anmaßung kann ich übrigens 
mit dem Hinweise auf den Umstand begegnen, daß ich bisher weit 
über 1000 Fälle von kongenitalen Luxationen auf unblutigem Wege 
reponiert habe, von denen ein gewisser, wenn auch nicht allzu großer 
Prozentsatz Schwierigkeiten geboten hat, welche sich sehr wohl jenen 
bei veralteten traumatischen Luxationen an die Seite stellen lassen. 
Ganz dasselbe gilt für nicht wenige unter den 150 blutigen Re¬ 
positionen kongenital luxierter Hüftgelenke, welche ich seinerzeit in 
der blutigen Aera der Luxationstherapie ausgeführt habe. 

Allerdings habe ich in einer meiner diesbezüglichen Mitteilungen 
gesagt, daß die kongenitale und die traumatische Hüftverrenkung 
nicht viel mehr als den Namen miteinander gemeinsam haben, und 
daß dementsprechend auch ihre Therapie eine verschiedene sein 


0 Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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288 


Adolf Lorenz. 


müsse. Ich muß Herrn E. Goldmann recht geben, wenn er mir 
entgegenhält, daß dies so summarisch ausgesprochen nicht richtig 
ist. Ich habe es auch eigentlich nicht so gemeint, und wollte mich 
mit diesem Ausspruche vornehmlich auf die Nachbehandlung der 
Reposition beziehen, denn diese selbst ist, sofern sie unblutig aus¬ 
geführt wird, in beiden Fällen offenbar das analoge, oder vielmehr 
dasselbe Manöver. 

Die aus irgend einem Grunde irreponibel gewordene, oder der 
Gefährlichkeit der Repositionsmanöver halber als irreponibel zu be¬ 
trachtende kongenitale Hüftverrenkung ist nun vollends unter 
demselben Gesichtspunkte zu betrachten wie die irreponible ver¬ 
altete traumatische Hüftverrenkung. Die Erfahrungen, welche ich 
an den Fällen der einen Kategorie sammeln konnte, müssen offen¬ 
bar auch für jene der anderen verwertbar sein, so daß ich mich 
für berechtigt halte, in der Sache mitzureden. 

Selbst für einen durch dezennienlange vielseitigste Erfahrungen 
blasiert gewordenen Kliniker bedeutet die Einlieferung eines Patienten 
mit veralteter traumatischer Hüftgelenksverrenkung ein kleines 
Lokalereignis, das sich Beachtung erzwingt. Wer eine zu große 
Bürde der Verantwortung scheut, weil er vielleicht die eine oder 
andere üble Erfahrung mit ähnlichen Fällen gemacht hat, stellt sich 
leicht auf den Standpunkt übergroßer Vorsicht und entläßt den 
Patienten nach einem sanften Versuch der Reposition als ungeheilt 
und unheilbar. Ich kenne solche Fälle und finde das Vorgehen des 
Chirurgen begreiflich, aber im Widerstreit mit dem Interesse des 
Kranken. 

Wer den Fall energisch und mit radikalen Tendenzen angeht, 
weiß niemals, was ihm seine hingebenden Bemühungen eintragen 
werden, ob das herrliche Gefühl des erreichten Erfolges — oder 
schwere Sorge um das Leben des Kranken. Ich glaube deshalb 
im allgemeinen annehraen zu dürfen, daß ein derartiger Patienten¬ 
zuwachs nicht gerade zu den freudigen Lokalereignissen der chirur¬ 
gischen Kliniken und Abteilungen gehört. 

Ich will im folgenden darzulegen versuchen, daß man den 
Interessen des Patienten vollkommen gerecht werden kann, ohne das 
Leben desselben in Gefahr zu bringen, und dadurch sich selbst mit 
einer furchtbaren Verantwortung zu belasten. 

Vor allem muß mit dem Grundsätze gebrochen 
werden, die Indikation der blutigen Reposition für ge- 


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Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen, 289 


geben zu erachten, wenn die unblutige Reposition selbst 
in wiederholten Sitzungen mißlingt. 

Man wird sich vor Augen halten mtissen, daß die blutige Re¬ 
position der veralteten Hüftgelenksverrenkung eine eminent lebens¬ 
gefährliche Operation ist und auch dann noch bleibt, wenn die noch 
mangelhafte Technik derselben verbessert sein wird. 

Selbst Payr, der überzeugte Verteidiger der blutigen Re¬ 
position, legt seiner Empfehlung die Beschränkung auf, daß dieser 
schwere Eingriff nur an gesunden und kräftigen Indi* 
viduen auszuführen ist. 

Die Statistik der blutigen Repositionen veralteter traumatischer 
Hüftgelenksluxationen gibt durchaus keine sicheren Anhaltspunkte 
für die Beurteilung des Verhältnisses von Einsatz und Gewinn. 

Die Todesfälle durch Shock, Sepsis und erschöpfende Eiterun¬ 
gen werden wahrscheinlich öfter verschwiegen, als mitgeteilt. 

Auch die Resultate der blutigen Reposition sind keineswegs so 
glänzende, daß sie den gefährlichen Eingriff zu rechtfertigen ver¬ 
möchten. Codivilla und Gold mann haben mit Recht darauf 
hingewiesen, daß ausgezeichnete sogenannte ideale Resultate nur bei 
relativ rezenten Luxationen jugendlicher Individuen erreicht 
wurden, während die Erfolge bei älteren Luxationen Erwachsener 
viel zu wünschen übrig lassen. 

Dabei ist nicht zu vergessen, daß es sich meistens um un¬ 
mittelbare Resultate handelt. Eine Statistik der entfernteren End¬ 
resultate liegt nicht vor. 

Nach den Erfahrungen, welche diesbezüglich bei der. blutigen 
Reposition kongenitaler Verrenkungen gemacht wurden, darf man 
mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Endresultate der 
analogen Operation traumatischer Luxationen durch spätere Ent¬ 
stehung von mehr weniger starren Kontrakturstellungen des Beines 
sehr wesentlich getrübt wurden. 

Es ist dies auch a priori anzunehmen, denn ein Hüftgelenk 
mit defekter Muskelführung ist der Kontrakturbildung unrettbar 
verfallen. 

Die Operationsmethode, welche fast ausschließlich zur blutigen 
Reposition traumatischer Luxationen zur Anwendung gelangte, mußte 
der Kontraktur im Sinne der Adduktion und Flexion ganz beson¬ 
deren Vorschub leisten, da sie nicht auf dem Prinzipe der absoluten 
Muskelschonung basierte. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 19 


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290 


Adolf Lorenz. 


Zur Mobilisierung des oberen Femurendes wurde von einem 
hinteren Schnitte aus die Loslösung sämtlicher am großen und 
kleinen Trochanter inserierenden Muskeln vorgenommen. Ich habe 
für diesen- Akt den bezeichnenden Ausdruck „Skelettierung* des 
oberen Femurendes geprägt, und immer wieder darauf hingewiesea, 
daß hiedurch die funktionswichtigsten pelvitrochanteren Muskeln 
schwer geschädigt, oder ganz ausgeschaltet werden. Da diesen 
Muskeln die Horizontalhaltung des vom Standbeine einseitig gestütz¬ 
ten Beckens obliegt, so muß ihre geschädigte oder ganz ausfallende 
Wirkung notwendig zur Beckensenkung, also zur Adduktions¬ 
kontraktur führen. 

Des ferneren habe ich nacbgewiesen, daß diese funktions* 
wichtigste Muskelgruppe durchaus nicht das wesentliche Hindernis 
für die Herabholung des Schenkelkopfes in das Pfannenniveau bildet; 
daß dieses vielmehr in der Verkürzung der langen pelvifemoralen 
Muskeln gelegen ist. 

Payr hat in seinen Mitteilungen ganz richtig hervorgehoben, 
daß eine möglichst geringfügige Verletzung der Weichteile um das 
Gelenk und der Gelenkskapsel, insbesondere aber der Muskelansätze 
das erstrebenswerteste Ideal wäre, welches am Hüftgelenke zweifellos 
am schwierigsten zu erreichen sei. Er erblickt in dem Mikuliczschen 
Vorschläge der Abmeißelung des großen Trochanters samt seinen 
Muskelinsertionen einen großen Fortschritt, allerdings nur für das 
Kindesalter, denn in schwierigen Fällen sei die, wenn auch nicht 
vollständige Ablösung der Muskelansätze vom Trochanter kaum zu 
umgehen. 

Payr glaubt aber sicher, daß es frische Fälle von irreponiblen 
Hüftluxationen gibt und geben wird, in denen man von einem vor¬ 
deren Schnitte aus mit Elevatorium und kräftigster Hohlschere inter- 
ponierte Kapselteile oder sonstige Repositionshindernisse beseitigen 
können wird, ohne den Muskelapparat in schwerer Weise zu schädigen. 
Dieses Ziel habe die Technik anzustreben, da ein solches Vorgehen 
die Gefahr des Eingriffes, die Heiluiigsdauer und das Endresultat 
im günstigsten Sinne beeinflussen müssen. 

Es ist wohl fraglos, daß jedermann mit Payr diesbezüglich 
vollkommen übereinstimmen muß. 

Nur wundert es mich, daß die Operationsmethoden der blutigen 
Reposition der angeborenen Hüftgelenksverrenkung so wenig Einfluß 
auf die blutige Reposition der traumatischen Luxation geübt haben. 


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Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenks Verrenkungen. 291 


Bei fortgesetzter Uebung der blutigen Reposition kongenitaler 
Verrenkungen war deren endgültige Technik in kürzester Zeit zur 
Vollendung gediehen. Hoffa hatte die übliche Operationsmethode 
der traumatischen Hüftluxation auf die kongenitale Verrenkung über¬ 
tragen. Die traurigen funktionellen Folgen der Skelettierung des 
oberen Femurendes blieben nicht aus. Es bedurfte nur der Er¬ 
kenntnis von der außerordentlichen funktionellen Wichtigkeit der 
pelvitrochanteren Muskeln, um der von mir inaugurierten Methode 
der absoluten Muskelschonung allerwärts den Sieg zu sichern. 

Aber es scheint, daß die Aera der blutigen Reposition der 
kongenitalen Verrenkung zu kurz war, um Gemeingut der Chirurgen 
zu werden, denn sonst wäre es vielfach unverständlich, daß die 
Skelettierung des oberen Femurendes bis zur Stunde die herrschende 
Methode zur blutigen Reposition traumatischer Hüftverrenkungen 
bleiben konnte. 

Aehnlichen Erwägungen gibt Codivilla Raum in seinen inter¬ 
essanten Mitteilungen über die Behandlung veralteter traumatischer 
Hüftluxationen. 

Tatsächlich ist Codivilla der erste unter den orthopädischen 
Chirurgen gewesen, welcher den von Hoffa seinerzeit eingeschlagenen 
Weg in entgegengesetzter Richtung verfolgte und die Methode der 
absoluten Muskelschonung, welche sich bei der blutigen Reposition 
der kongenitalen Verrenkung verdientermaßen die Alleinherrschaft 
erworben hatte, mit vollem Erfolge auf die blutige Reposition der 
veralteten traumatischen Hüftluxation übertrug. 

Sollte ich in einem Falle von veralteter traumatischer Hüft¬ 
verrenkung die klare Indikation zur blutigen Reposition für gegeben 
erachten, so würde ich wie in alter Gewohnheit bei der kongenitalen 
Luxation in folgender Weise Vorgehen: 

Zunächst präparatorische Extension des (durch die voraus¬ 
gegangenen Versuche der unblutigen Reposition an seiner patho¬ 
logischen Lagerungsstelle möglichst gelockerten) Schenkels resp. 
Schenkelkopfes nach eventueller präliminarer subkutaner Tenotomie 
der Adduktoren und der Kniekehlensehnen. Erst wenn der Schenkel¬ 
kopf annähernd in Pfannenhöhe steht, folgt der operative Akt: 
vorderer Hautschnitt an der Spina ant. sup. schräg nach abwärts 
und etwas weniges nach auswärts, Durchdringung der Fascia lata 
zwischen hinterem Rande des Tensor fasciae und vorderem Rande 
des Glutaeus medius, Vordringen bis zur Kapsel, Ablösung derselben 


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292 


Adolf Lorenz. 


von der vorderen Fläche des Kopfes und Halses, Freilegung des 
hinteren oberen Pfannenrandes und Ausräumung der Pfannenhöhle 
mittels starker scharfer LöfFel. Es folgt die Herabholung des 
Schenkelkopfes mittels manueller oder instrumenteller graduierter 
Extension, während der Operateur mit Hilfe beider Hände in der 
Wunde die Lokomotion des Schenkelkopfes kontrolliert und die je¬ 
weilig zweckmäßigste Richtung des Zuges kommandiert. 

Um folgenschwere Verstöße gegen die Asepsis während des 
Repositionsmanövers zu vermeiden, darf der Operateur nicht aus 
seiner lediglich beobachtenden Rolle fallen und verläßt mit seinen 
Fingern die Wunde erst nach glücklich vollzogener Reposition. Die 
Einfachheit der gesetzten Wunde erlaubt vollkommene Naht derselben. 
Verband in ganz leichter Abduktionsstellung des Schenkels. 

Ich bin überzeugt, daß durch Akzeptierung dieser Methode 
die Operation einen großen Teil ihrer Schwierigkeit und ihrer Ge¬ 
fährlichkeit verlieren würde. 

Gänzlich wird die Lebensgefährlichkeit der Operation allerdings 
niemals zu vermeiden sein. 

Obwohl ich so viele und zum Teil sehr schwierige blutige 
Repositionen kongenitaler Luxationen bei Kindern mit Glück und Er¬ 
folg ausgeföhrt habe, muß ich doch ganz offen gestehen, daß ich 
mich niemals und unter gar keinen Umständen dazu entschließen 
könnte, die blutige Reposition einer veralteten traumatischen Luxa¬ 
tion bei einem Erwachsenen auszuführen, da nach meinem Gefühl 
die Gefährdung des Lebens des Patienten einen unverhältnismäßig 
großen Einsatz gegenüber dem möglichen Gewinne bedeutet. 

Nach meinem Empfinden muß ich die Indikation der 
blutigen Reposition veralteter traumatischer Luxationen 
unbedingt als nicht zu Recht bestehend bezeichnen. 

Unser oberstes Prinzip muß sein und bleiben, dem 
Patienten ohne die geringste Gefährdung seines Lebens 
den möglichst größten Nutzen zu schaffen. 

Dies ist einzig und allein durch die unblutige Re¬ 
position möglich. Ist diese absolut unerreichbar, so tritt 
die Pseudoreposition, oder die Transposition des Schenkel¬ 
kopfes in subspinale Stellung oder in laterale Apposition 
in ihr Recht. 

Die Resultate, welche damit ohne die geringste Lebensgeßhr- 
dung der Patienten gewonnen wurden, sind jenen der eminent 


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Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen, 293 


lebensgefährlichen blutigen Reposition zum mindesten ebenbürtig, 
wenn nicht gar überlegen. 

Die unblutige Reposition der kongenitalen Hüftverrenkung war 
berufen, auch auf die unblutige Einrenkung der veralteten trauma¬ 
tischen Luxationen befruchtend zu wirken. 

Die befriedigenden Resultate, welche sich bei irreponiblen 
kongenitalen einseitigen Luxationen, durch Transposition des Schenkel¬ 
kopfes in subspinale Stellung oder laterale Apposition erreichen 
ließen, mußten doch auch bei den irreponiblen, sei es veralteten oder 
rezenten traumatischen Luxationen im Bereiche der Möglichkeit ge¬ 
legen sein. 

Von dieser Ueberzeugung durchdrungen habe ich in meiner 
Mitteilung „Zur FunktionsVerbesserung defekter Hüftgelenke“ auf 
dem I. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für orthopädische 
Chirurgie auch für die veralteten traumatischen Hüftverrenkungen 
im Falle ihrer Irreponibilität die Transposition des Schenkelkopfes 
in subspinale Stellung oder in laterale Apposition zur Vermeidung 
der blutigen Reposition empfohlen. 

Leider fehlte mir damals und bis in die jüngste Zeit eine 
diesbezügliche Erfahrung, und ich mußte mich auf die Anregung be¬ 
schränken, die bei der unblutigen Behandlung irreponibler kongeni¬ 
taler Luxationen gewonnenen Erfahrungen bei den irreponiblen trau¬ 
matischen Verrenkungen zu verwerten. 

Es freut mich konstatieren zu können, daß diese Anregung in 
chirurgischen Kreisen nicht ganz unbeachtet geblieben ist. 

Ich begrüße in Herrn Prof, Goldmann (Freiburg i. Br.) einen 
überzeugten Anhänger meiner Anschauungen. Go 1 d m ann beschreibt 
eingehend den Fall einer 84 Tage alten Hüftverrenkung bei einem 
49jährigen Manne. Als alle Repositionsversuche mißlangen, suchte 
der Operateur von einer überstreckten Abduktionsstellung aus den 
Kopf gegen den vorderen unteren Pfannenrand anzudrängen und 
ihn in einer möglichst günstigen Stellung fixiert zu erhalten. Nach 
4 Wochen war der federnde Widerstand der luxierten Extremität 
(gewichen, die Beweglichkeit war eine ausgiebige. Das Röntgenbild 
zeigte den Kopf in der Pfanne stehend, aber vom Grunde derselben 
durch eine im Laufe der Beobachtung sich verschmälernde Zwischen- 
fiubstanz getrennt. Der auf die Pfannengegend transponierte Kopf 
hatte sich eine Nearthrose in der alten Pfanne modelliert. Das 


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Adolf Lorenz. 


funktionelle Resultat dieser Transposition gestaltete sich schließlich 
zu einem idealen. 

In einem zweiten Falle, der einen 22jährigen Patienten mit 
67 Tage alter Hüftverrenkung betraf, stellte Ooldmann nach ver¬ 
geblichen Repositionsversuchen den Kopf durch überstreckte Ab¬ 
duktion subspinal nach vorne von der Pfanne, so daß der Schenkel¬ 
hals in sagittaler Ebene stand. Der Kopf schaute nach vorne, der 
Trochanter nach hinten. Fixation des Beines in Abduktion, Ex¬ 
tension, Außenrotation. Unter allmählicher Bildung einer genügend 
tiefen nearthrotischen Gelenkhöhle etwas oberhalb der normalen 
Pfanne gestaltete sich das funktionelle Endresultat (bei 3 cm Ver¬ 
kürzung) zu einem außerordentlich günstigen. 

Dieser zweite Goldmannsche Fall stellt das typische Bild 
jener Transposition vor, welche ich als laterale Apposition des 
Schenkelkopfes bezeichnet habe. 

Soweit sich die engeren orthopädischen Fachkollegen in jüngster 
Zeit mit der in Rede stehenden Frage beschäftigt haben, stimmen 
ihre Anschauungen mit den meinigen vollkommen überein. So hat 
Codivilla in dem 6 Monate alten Luxationsfalle eines 56jährigen 
Mannes eine Transposition des Schenkelkopfes auf die Pfannengegend 
ausgeführt und ein ausgezeichnetes funktionelles Resultat (ohne Ver¬ 
kürzung bei geringer Beweglichkeitseinschränkung) erreicht. Auch 
in diesem Falle war der Schenkelkopf anfänglich durch interponierte 
Gewebe, welche später der Atrophie verfielen, von der Pfanne ge¬ 
trennt. 

Auf die Transposition des Schenkelkopfes bei irreponiblen 
Hüftverrenkungen neuerdings hingewiesen zu haben, ist kein allzu 
großes Verdienst; denn die Transposition ist nichts Neues, sondern 
ebenso alt als die ersten Repositionsversuche schwieriger, veralteter 
Luxationen. 

Der Italiener Paci, welcher auch bei der kongenitalen Ver¬ 
renkung des Hüftgelenkes im besten Falle nur eine Transposition 
des Schenkelkopfes für möglich hielt, ist als der erste Verteidiger 
der Transposition auch bei den veralteten traumatischen Luxationen 
zu bezeichnen. 

Man hat in solchen Fällen, seit überhaupt Luxationen einzu¬ 
renken versucht wurden, viel öfter, als man glauben mochte, Trans¬ 
positionen statt Repositionen erreicht und das gute Endresultat als 
Reposition gepriesen. 


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Grundsätze d. Behdig. veralteter träum. Hüftgelenksyerrenkungen. 295 


Die gereiftere Erfahrung wird in Zukunft zwischen diesen 
beiden Erfolgen der Einrenkungsversuche zu unterscheiden wissen; 
sie wird die Reposition anstreben, sich aber nötigenfalls mit 
einer Transposition zufrieden geben. 

Die früheren und jetzigen Verteidiger der Transposition bei 
irreponiblen traumatischen Hüftverrenkungen betrachten es als ihre 
Aufgabe und als ihr eigentliches Verdienst, mit allem Nach¬ 
druck darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß mit dem 
Mißlingen der unblutigen Reposition durchaus noch nicht 
die Indikation zur blutigen Reposition vorliege, sondern 
daß dann zunächst die Transposition des Schenkelkopfes 
in Betracht komme, weil deren Endresultate den Ver- 
gl eich mit jenen der blutigen Reposition durchaus nicht 
zu scheuen haben, und weil diese Resultate —und hierin 
liegt der Schwerpunkt der ganzen Frage — im Gegen¬ 
sätze zu der eminent lebensgefährlichen blutigen Repo¬ 
sition, ohne jedes Risiko für den Patienten erreich¬ 
bar sind. 

Was von Unglücksfällen bei schwierigen Repositionsversuchen 
in der älteren Literatur erzählt wird, kann ihren Wert nicht beein¬ 
trächtigen, denn die moderne unblutige Einrenkungstechnik arbeitet 
nicht mehr mit Gewaltmitteln, nicht mehr mit forcierter Extension, 
sondern mit zielbewußten Circumduktionen der Extremität. Maschi¬ 
nelle Extension (Lorenz sehe Schraube) kommt nur noch für eine 
blutige Reposition in Betracht und ist auch ursprünglich nur für 
diese konstruiert worden. (Vgl. oben.) 

Es erübrigt mir nun noch die Darstellung meiner Beob¬ 
achtung. 

Der Patient, ein muskulöser Fuhrmann von 34 Jahren, wurde 
(am 16. Jan. 1908) beim seitlichen Ausweichen der scheuenden 
Pferde von seinem schweren Lastwagen gegen eine Mauer an ge¬ 
drückt, stürzte zu Boden und konnte sich nicht mehr erheben. 
Patient bemerkte, daß das linke Bein in der Hüfte „eingezogen“ 
war und rasch anschwoll. Aufnahme in ein Landspital, wo durch 
14 Tage kalte Ueberschläge gemacht und ein durch Weichteil¬ 
quetschung entstandener Abszeß an der Außenfläche des Ober¬ 
schenkels eröffnet wurde. Als der Patient das Bett verließ, konnte 
er nicht auftreten und kam um Hilfe in das orthopädische Ambu¬ 
latorium, wo folgender Befund erhoben wurde. 


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296 


Adolf Lorenz. 


Der Kranke geht mit Hilfe zweier Krücken, wobei das linke Bein 
untätig in der Luft hängt. Auch nur leises Auftreten auf der linken 
Fußspitze macht dem Patienten Schmerz. Das linke Bein befindet 
sich in leichter Innenrollung bei ca. 30 Grad Flexion; die Adduktion 
ist etwas bedeutender, so daß bei Rückenlage des Patienten das in 
manifester pathologischer Stellung gehaltene Bein das untere Drittel 
des Femur der anderen Seite überkreuzt. Die Trochanterspitze 
fühlt man auffallend hoch stehen. Der Kopf ist unter den dicken 
Muskelschichten nicht zu palpieren. Aktive Bewegungen des Ober¬ 
schenkels nicht möglich, passive Exkursionen sind schmerzhaft, von 
sehr geringem Umfange und etwas federnd. An der Außenfläche 
des Oberschenkels große Narbenflächen als Folgen der seinerzeitigen 
W eichteilquetschung. 

Im Drange der Geschäfte wurde es leider unterlassen, von dem 
Patienten eine Photographie anzufertigen, um die Körperhaltung 
und Beinstellung im Bilde festzuhalten. Uebrigens entsprach der 
Anblick äußerlich genau dem allgemein bekannten Bilde einer 
coxitischeu Beinstellung nach abgelaufenem Prozeß. Das sofort 
aufgenommene Röntgenbild (Fig. 1) ließ die ziemlich starke Adduktion 
des Oberschenkels deutlich erkennen. Außerdem zeigte sich die 
Pfanne leer und der Oberschenkelkopf in iliakaler Luxationsstellung, 
wobei der Kopfschatten zu etwa */3 vom Darmbeinschatten gedeckt 
wird. Einige leichte, umschriebene Schatten zwischen Trochanter 
minor und Pfanne ließen auf Absprengung von Knochenpartien von 
den Pfannenrändern schließen. 

Bei dem Alter der Luxation (7 Wochen) und des Patienten und 
bei dem sehr kräftigen Körperbau desselben schienen mir die Aus¬ 
sichten für das Gelingen der Reposition nicht eben glänzend zu sein, und 
wir versahen uns aller jener Schwierigkeiten, welche meine Assi¬ 
stenten veranlaßten, Turniere dieser Art als „Feste“ zu bezeichnen. 
In tiefer Narkose des Patienten wurden zur Lockerung des Schenkelkopfes 
zunächst, leider mit geringem Erfolge, rhythmische manuelle Ex¬ 
tensionen in Anwendung gezogen. Die vorsichtig gehandhabte 
Schraubenextension hatte keinen besseren Erfolg. Nun wurde der 
Patient auf eine am Boden liegende Matratze gebettet, das Becken 
auf beiden Seiten gegen dieselbe fixiert und nunmehr Extension des 
rechtwinklig flektierten Oberschenkels ausgeführt. Zu diesem Be- 
hufe legte der kräftigste unter den Assistenten, Herr Dr. v. Aberle, 
ein Herkules an Stärke, die oberhalb des krankseitigen Knies an- 


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Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen. 297 


Fig. 1. 



geschlungene Extensionsschlinge um seinen Nacken, erfaßte deren 
Enden mit beiden Händen und erhob sich nun langsam aus der 
gebückten Stellung zu seiner vollen Höhe, während der Operateur 
(Dr. Reiner) auf der Matratze knieend Richtung und Stärke des Zuges 
dirigierte und die Bewegung des Trochanters kontrollierte. Ich 
selbst beschränkte mich vorläufig auf gute Ratschläge und hielt meine 
Kraft in Reserve. Das anstrengende Fest dauerte über eine halbe 
Stunde und endete mit dem Erfolge einer gänzlichen Erschöpfung 
aller Teilnehmer. Immerhin war der Schenkelkopf viel lockerer 
und beweglicher geworden, und die passive Motilität des Ober¬ 
schenkels hatte wesentlich zugenommen. Die Beugung war bis 
über den rechten Winkel möglich, und die vorhandene Adduktion 
ließ sich leicht in geringe Abduktion verwandeln. Extension in der 
Richtung der Körperachse hatte nach wie vor geringen Erfolg. Ich 
ließ den Patienten nunmehr auf den Operationstisch lagern und sah 
mich bei der anscheinenden Unmöglichkeit einer anatomischen Re- 


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298 • 


Adolf Lorenz. 


Position der Luxation zum erstenmal in der Lage, eine Transpo- 
aition des Schenkelkopfes in subspinale Stellung oder in laterale 
Apposition als Selbstzweck anzustreben. Ich begann mit dem Ver¬ 
suche, den Schenkelkopf lateral zu apponieren, weil dies das leichtere 
Manöver ist. Dies geschah in der Weise, daß der gesunde Schenkel 
zur Fixation des Beckens maximal flektiert wurde, während der 
kranke Schenkel nach gründlicher subkutaner Myorrhexis addiictorum 
in starker Abduktion einer mäßigen Hyperextension unterzogen 
wurde, so daß seine Stellungsebene unter, resp. hinter die Frontal- 
obene zu liegen kam. Dabei stellte sich der Schenkel in deutliche 
Außenrotation, der Trochanter war direkt nach hinten, der Schenkel¬ 
kopf direkt nach vorne gerichtet, der Schenkelhals stand sagittal. 
Der vordere Pol des Kopfes war unterhalb, aber schon ein klein 
wenig nach außen von der Spina ant. sup. fühlbar. Der Puls der 
Arteria femoralis wurde namentlich während des üeberstreckungs- 
manövers wiederholt kontrolliert und stets normal befunden. (Die 
von Redard jüngst ausgesprochene Befürchtung, es könnte durch 
üeberstreckung des Schenkels eine Gefäßruptur entstehen, erscheint 
mir vollkommen unbegründet, da bei der bestehenden, unaus¬ 
geglichenen Verkürzung eine schädliche Anspannung der Gefäße 
geradezu ausgeschlossen ist. Aus demselben Grunde ist auch eine 
Zerrungslähmung des Nervus cruralis nicht zu befürchten.) 

Es bestand nun die Absicht, das Bein in einer zum Gehen 
noch brauchbaren Abduktion und geringer üeberstreckung zu fixieren. 
Die durch die vorgenommenen Manöver erreichte große Beweglich¬ 
keit des Schenkelkopfes regte indessen die Idee an, auf dem Wege 
<ler Circumduktion eine Transposition in subspinale Stellung „auf* 
<lie Pfanne zu versuchen, wenn schon eine radikale anatomische 
Reposition „in“ die Pfanne unmöglich bleiben sollte. Zu diesem 
Behufe mußte die iliakale Luxation zunächst in eine obturatorische 
verwandelt werden. Dies geschah durch Flexion des krankseitigen 
Schenkels, die sich nunmehr leicht bis zur Berührung der Vorder¬ 
fläche des Oberschenkels mit der vorderen Bauch- und Thoraxfläche 
steigern ließ. Dabei beschreibt der Trochanter resp. der Schenkel¬ 
kopf einen nach vorne oÖenen Kreisbogen um die hintere Circum- 
ferenz der Pfanne und erreicht, längs derselben immer weiter nach 
abwärts steigend, die Höhe des Foranien obturatum, von welchem der¬ 
selbe durch den aufsteigenden Sitzbeinast getrennt bleibt. Leichte 
Außenrollung und Abduktion des Schenkels aus maximaler Flexion 


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Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen. 299 


heraus ließ den Schenkelkopf den aufsteigenden Sitzbeinast über¬ 
springen. (Dies wird unterstützt resp. erleichtert, wenn der Patient 
mit der hinteren Fläche der prominenten Trochantergegend auf der 
Schneide eines hohen Holzkeiles liegt, welcher das Hypomochlion 
für die Transposition des Schenkelkopfes auf das Foramen obturatum 
abgibt. Man wird sich hüten müssen, die Transposition auf das 
Foramen ovale mit der Reposition des Kopfes in die Pfanne zu ver¬ 
wechseln, da die Einrenkungsphänomene in beiden Fällen nahezu 
dieselben sind.) Erst als der Schenkel aus seiner noch immer spitz¬ 
winkligen Flexion, kombiniert mit leichter Außenrollung und geringer 
Abduktion, allmählich in die Strecksteilung überführt wurde, mußte 
der Schenkelkopf aus dem Foramen ovale wieder in die Höhe 
steigen und den unteren Pfannenrand überspringen. Dies geschah 
unter ebenso deutlichem Phänomen, wie die Transposition des Kopfes 
auf das Foramen obturatum. Der Schenkel erlaubte nunmehr alle 
normalen Bewegungen, die Verkürzung war verschwunden, die Leisten¬ 
gegend voll geworden, die Arteria cruralis pulsierte auf der harten 
Unterlage des Schenkelkopfes. Man hätte in diesem Falle füglich 
von einer anatomischen Reposition des Kopfes „in“ die Pfanne 
sprechen können, und ich zweifelte schon damals keinen Augenblick 
daran, daß dies auch das schließliche Endresultat sein werde. Doch 
hatte ich den bestimmten Eindruck, daß Kopf und Pfanne nicht in 
unmittelbarer Berührung standen, daß nicht Knochen auf Knochen 
saß, sondern daß Weichteile, mutmaßlich Kapselfetzen, Gewebs- 
füllsel der verlassenen Pfanne etc. zwischen den Gelenkkörpem inter- 
poniert waren. Ich konnte z. B. die Pfanne und ihre Ränder nicht 
in gewohnter Weise mit dem Kopf als Sonde abtasten, auch schien 
die Stabilität bei geringer Adduktion schon unzureichend zu werden, 
denn es erfolgte Reluxation, welche neuerliche Reposition auf dem 
schon beschriebenen Wege erforderte. Es war also vorläufig gewiß 
nichts anderes erreicht, als eine Transposition „auf" die Pfanne, 
welche nach eingetretenem Druckschwund der interponierten Weich¬ 
teile zu einer anatomischen Reposition des Kopfes „in“ die Pfanne 
werden kann, oder, falls dies nicht geschehen sollte, doch voraus¬ 
sichtlich mindestens eine funktionell brauchbare Nearthrose „auf“ 
der Pfannengegend verspricht. 

Zur Stabilisierung der gewonnenen Korrektionsstellung des 
Kopfes wurde der Schenkel in ziemlich starker Abduktionslage und 
ganz geringer Beugestellung durch einen bis zum Knie reichenden 


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300 


Adolf Lorenz. 


f 


Oipsverband fixiert. Die Haut der durch ein starkes Hämatom ge¬ 
schwellten Leistenbeuge war vorher reichlich mit Vaseline ein¬ 
gefettet worden. Ganz auffallend und zeitweise geradezu beängstigend 

war der Shock, unter dem der Patient 
während des ersten und zweiten Tages litt. 
Es mußten alle Exzitantien herhalten, um 
denselben zu überwinden. Die Schwellung 
des Scrotums, des Oberschenkels und der 
ünterbauchgegend machte schon am näch¬ 
sten Tage eine lineare Spaltung des Ver- 

f bandes notwendig. Durch 5 Tage hindurch 

wurden Temperatursteigerungen bis 38 Grad 
beobachtet. 14 Tage nach der Reposition 
wurde der Verband abgenommen und Pa¬ 
tient begann mit Gehübungen, welche keine 
Schmerzen verursachten. Leider konnte eine 
[ methodische gymnastische Nachbehandlung 
nicht durchgeführt werden, da der Kranke 
nach Hause drängte, um seine Arbeit wie- 
: der aufzunehmen, da er sich ganz wohl fühle. 

Die vor seinem Austritt aufgenommene 
Photographie (Fig. 2) zeigt die noch immer 
beträchtliche Schwellung des linken Ober¬ 
schenkels. Der deutliche Tiefstand der linken 
Patella, resp. die scheinbare Verlängerung 
des linken Oberschenkels weist auf eine habi¬ 
tuelle Abduktionshaltung des linken Hüft¬ 
gelenkes hin, welche vorläufig aus Sicher- 
heitsgründen vorteilhaft erscheint und des- 
halb durch entsprechende Erhöhung der ge- 
sundseitigen Sohle stabilisiert wird. 

Das Röntgenbild (Fig. 3) zeigt den 
Schenkelkopf in tadelloser konzentrischer 
Repositionsstellung in der Pfanne. Es bleibe dahingestellt, ob die 
Knorpelflächen der Gelenkkörper in unmittelbarer Berührung stehen, 
oder ob Kapselfetzen oder sonstige Weich teile interponiert sind. 
Jedenfalls läßt das Röntgenbild eine Restitutio ad integrum er¬ 
warten. Fig. 4 ist das zugehörige üebersichtsbild. 

Was ich in dem vorhergehenden sagen wollte, läßt sich in 




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Grundsätze d. Behdlg. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen. 301 


Kürze folgendermaßen zusammenfassen: Die irreponible traumatische 
Luxation des Hüftgelenkes ist unter demselben Gesichtspunkte zu be¬ 
trachten, wie die irreponible kongenitale Luxation. 

Die blutige Reposition irreponibler Hüftverrenkungen ist eine 
eminent lebensgefährliche Operation, deren Resultate nur in ver¬ 
einzelten Fällen rezenter Luxation bei jugendlichen Individuen vollständig 
befriedigend waren. Die Prognose der Resultate veralteter irreponibler 


Fig. 3. 



Luxationen wird bei Erwachsenen notwendig durch spätere Bildung 
mehr oder weniger rigider Ankylosen in fehlerhafter Stellung getrübt. 

Die Gefährlichkeit der blutigen Reposition irreponibler trauma¬ 
tischer Hüftverrenkungen wird durch die herrschende Methode der 
zwecklosen Skelettierung des oberen Femurendes sehr wesentlich und 
ganz unnötigerweise vermehrt. 

Wer die Indikation der blutigen Reposition einer veralteten irre- 
poniblen Hüftverrenkung beim Mißlingen der unblutigen Reposition für 
gegeben erachtet, wird die übernommene, erschreckend schwere Ver¬ 
antwortung sicherer tragen, wenn er sich der Operationsmethode der 


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302 


Adolf Lorenz. 


absoluten Muskelschonung bedient, welche sich bei der blutigen Re¬ 
position kongenitaler Verrenkungen so außerordentlich bewährt hat. 

Aber selbst damit wird die Lebensgefährlichkeit der Operation 
nur vermindert, keineswegs aber behoben. 

Von dem gewiß richtigen Grundsätze ausgehend, „daß es das 
oberste Prinzip unseres Handelns sein und bleiben muß, dem Pa¬ 
tienten ohne die geringste Gefährdung seines Lebens den möglichst 


Fig. 4. 



größten Nutzen zu schaflfen,“ plädiere ich mit voller üeberzeugung 
dafür, die Indikation der blutigen Reposition irreponibler traomati* 
scher Luxationen des Hüftgelenkes als „nicht zu Recht bestehend* 
zu betrachten; an ihre Stelle hat die Pseudoreposition zu treten, 
d. h. die Transposition des Schenkelkopfes in subspinale Stellung 
oder in laterale Apposition. 

Die Resultate der Transposition werden auf völlig gefahr¬ 
losem imd kürzerem Wege erreicht, als jene der blutigen Re- 


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Grundsätze d. Behdig. veralteter träum. Hüftgelenksverrenkungen. 303 

Position und sind diesen letzteren zum mindesten ebenbürtig, ja 
sogar überlegen. 

Die Transposition des Schenkelkopfes auf die Pfannengegend 
in subspinale Stellung ist der Transposition in laterale Apposition 
Yorzuziehen, aber schwieriger auszuführen. 

Die subspinale Transposition erfolgt durch Umwandlung der 
Luxatio iliaca zunächst in eine Luxatio obturatoria durch leichte Ab¬ 
duktion und Außenrollung aus maximaler Flexion des Schenkels, 
wobei der Schenkelkopf den aufsteigenden Sitzbeinast unter Pseudo¬ 
phänomenen überspringt und sich auf das Foramen ovale lagert; von 
hier wird derselbe durch Streckung des Oberschenkels über den 
unteren Pfannenrand unter wahren Phänomenen in die Pfanne ver¬ 
lagert und eine anatomische Reposition erzielt, wenn sich keine 
Weichteile interponieren. Ist dies der Fall, bleibt also der Schenkel¬ 
kopf durch Oewebskulissen oder durch Gewebsneubildung in der 
Pfanne von dieser getrennt, so begnüge man sich mit der Pseudo¬ 
reposition, der Transposition des Schenkelkopfes „auf“ die Pfanne, 
eine Stellung, aus welcher durch Druckschwund der interponierten 
Weichteile sekundär noch eine wahre anatomische Reposition oder 
doch zum mindesten eine gut funktionierende Nearthrose in der 
Pfannengegend werden kann. 

Die Erfolge der subspinalen Transposition sind zweifellos jenen 
der blutigen Reposition überlegen, da die Beweglichkeit der Near¬ 
throse in der Regel eine genügende bleibt. 

Die Resektion des Schenkelkopfes, resp. des oberen Femur¬ 
endes ist eine Verlegenheitsoperation, welche sich aus dem so 
häufigen Mißlingen der blutigen Reposition ergibt, und sollte als 
Selbstzweck gar niemals in Betracht kommen. 

Von blutigen Eingriffen ist bei absoluter Immobilität des Schenkel^ 
kopfes in seiner iliakalen Nearthrose lediglich die Osteotomia sub- 
trochanterica behufs Stellungskorrektur des Oberschenkels indiziert. 

Es ist aber daran zu erinnern, daß diese Operation lediglich 
eine symptomatische ist und hinter der Transposition des Schenkel¬ 
kopfes, resp. der Schaffung einer Nearthrose in möglichster Pfannen¬ 
nähe an Wert zurückstehen muß. 

Nicht nur bei der kongenitalen, sondern auch bei der irre- 
poniblen traumatischen Hüftverrenkung verdient die unblutige 
Therapie den Vorzug vor der blutigen Behandlung. 


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XXI. 


Zur Frage des traumatischen Plattfußes'). 

Von 

Dr. Carl Deutschländer-Hamburg. 

Mit 7 Abbildungen. 

Die Beziehungen des Plattfußes zu den mannigfachen Funk¬ 
tionsstörungen des Fußes sind in der neueren Fachliteratur ver¬ 
schiedentlich Gegenstand der Erörterung gewesen und haben sowohl 
zu einer schärferen Differenzierung dieser Zustände geführt als auch 
eine Reihe neuer bemerkenswerter Tatsachen zu Tage gefördert. 
Ich weise hier kurz nur auf die Arbeiten von Möhring*) über 
traumatische Gelenkneurosen und von Ewald*) über die Beziehungen 
der Tuberkulose zum Plattfuß hin. Ferner gehören hierher die Ver¬ 
öffentlichungen von Hasebrocküber chronisch entzündliche Ver¬ 
änderungen im Chopartsehen und Lisf ran eschen Gelenk auf rheu¬ 
matischer bezw. gichtischer Grundlage, von Lehr^) aus der Schanz- 
schen Klinik über den Calcaneussporn und von Gaugele®) über das 
Os tibiale externum. 

Schon diese kurze Zusammenstellung läßt erkennen, wie mannig¬ 
fache und ätiologisch vollkommen verschieden zu bewertende Zustände 
sich unter dem Bilde des Plattfußes verbergen können. Was vom 
Plattfuß im allgemeinen gilt, das gilt auch von seinen besonderen 
Formen, und ich möchte mir erlauben, an dieser Stelle auf eine 
Erkrankungsform hinzuweisen, die man bisher unter dem Begriffe 
des traumatischen Plattfußes subsumiert hat, die aber zweifellos 
eine Sonderstellung einzunehmen berechtigt ist. 

*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 

Mö bring, Zeitschr. f. orth. Chir. 1901, Bd. 9 Heft 4. 

*) Ewald, Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstr. Bd. 12. 

Hasebrock, Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 11 S. 362. 

*) Lehr, Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 19 S. 473. 

®) Gäugele, Zeitschr. f. orth. Chir. Bd. 19 S. 494. 


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Zur Frage des traumatischen Plattfußes. 


305 


Bekanntlich bezeichnet man als traumatischen Plattfuß im 
engeren Sinne im allgemeinen die Deformität, die nach schlecht 
geheilten malleolären bezw. supramalleolären Abduktionsbrüchen zu 
stände kommt. Wie Steudel, ßiedinger u« a. betont haben, 
handelt es sich aber dabei zunächst immer nur um einen Knickfuß, 
einen Pes valgus, und erst unter dem Einflüsse der fehlerhaften Be¬ 
lastung kommt es hierbei zu einem Einsinken des Fußgewölbes. 
Eine weitere Gruppe des traumatischen Plattfußes bilden die schweren 
Veränderungen des Fußgewölbes, wie sie nach Kompressionsbrüchen 
des Talus und Calcaneus auftreten. Ferner ist hierzu der Distorsions¬ 
plattfuß zu rechnen, der sich nach Lockerung und Zerreißung.des 
Bandapparates unter dem Einflüsse einer zu frühzeitigen und zu 
starken Belastung entwickelt. Allen diesen Formen gemeinsam ist 
außer der traumatischen Ursache der anatomisch nachweisbare Be¬ 
fund der allmählichen Abflachung des Fußgewölbes, die zu den 
bekannten Beschwerden Anlaß gibt. 

Im Gegensatz zu diesen klinisch gut charakterisierten Formen 
beobachtet man nicht selten Fälle, bei denen gleichfalls nach einem 
meist sogar ziemlich unbedeutenden Trauma schwere Funktions¬ 
störungen und Behinderungen des Gehaktes auftreten, die ganz den 
Charakter der Plattfußschmerzen tragen, bei denen aber auffallender¬ 
weise selbst nach jahrelangem Bestände keine Veränderung des Fu߬ 
gewölbes nachzuweisen ist. Derartige Fälle als Plattfuß zu bezeichnen, 
nur weil plattfußähnliche Beschwerden bestehen, dürfte wohl nicht 
angängig sein. Ebensowenig lassen sie sich dem von Schanz be¬ 
schriebenen Krankheitsbilde des „Plattfußes ohne Plattfuß“ einreihen, 
denn wenn auch derartige Zustände, wie sie Schanz beschrieben 
hat, häufig genug in der orthopädischen Praxis Vorkommen, so tritt 
doch in diesen Fällen stets, sobald eine rationelle Therapie unter¬ 
bleibt, in mehr oder weniger kurzer Zeit ein Einsinken des Fu߬ 
gewölbes ein, und die Schmerzen sind hier immer die Vorboten der 
später klinisch nachweisbaren Veränderung des Fußskelettes. Das 
trifft aber bei den von mir angedeuteten Fällen in keiner Weise zu, 
und es ist gerade das Charakteristikum dieser Fälle, daß die Be¬ 
schwerden und Störungen des Gehaktes unverändert jahrelang be¬ 
stehen, ohne daß eine nennenswerte Neigung zum Einsinken des 
Fußgewölbes nachweisbar ist. 

Die Krankengeschichten derartiger Fälle sind ungemein typisch. 
In der Regel hat eine keineswegs schwere Verletzung des Fußes, 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. ßd. 20 


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306 


Carl Deutschländer. 


eine Distorsion oder Kontusion stattgefunden, die aber trotz Bett¬ 
ruhe, trotz feuchter Umschläge und anderer Maßnahmen in der nor¬ 
malen Zeit nicht zur Ausheilung gelangen will. Der Fuß bleibt 
schmerzhaft und ist für den Gehakt unbrauchbar, obwohl äußerlich 
nichts nachweisbar ist. Um sich den Zustand zu erklären, wird in 
der Regel die Diagnose Plattfuß gestellt, da ja bekanntlich am Fuße 
alles, was man sich nicht erklären kann, ein Plattfuß sein muß. 
Es werden mehr oder weniger zweckentsprechende Einlagen ver¬ 
ordnet, wie sie in den Bandagistenläden käuflich sind, oder es wird 


Fig. 1. 



4 Monate alter Verrenkungsbruch des Kaviculare bei einem 2ijiihrigen Mädchen, Dis¬ 
torsion, üraknicken des Fußes beim Tanzen. Naviculare plantarwärts lang ausgezogon. 
zackige Fragmente, Naviculargelenkflilche breit sichtbar und unregelmäßig ovalär, Ueber- 
gang vom Talus zum Naviculare erfolgt in eiuem deutlichen treppenförmigen Absatz. 

auch vielleicht einmal ein Gipsverband angelegt. Aber die er¬ 
wartete Besserung bleibt aus. Nun wird bisweilen der Röntgeno¬ 
loge noch zu Rate gezogen, der aber gleichfalls die Sachlage zu 
klären nicht in der Lage ist, weil die in Betracht kommenden Ver¬ 
hältnisse wenig bekannt sind und das Röntgenbild anscheinend keine 
pathologische Veränderung aufweist. Der Patient wird nach und 
nach ungeduldig; inzwischen ist ein halbes Jahr seit der Verletzung 
vergangen, ohne daß sich sein Zustand wesentlich geändert hat; er 
verliert das Vertrauen zu seinem bewährten Hausarzte und fangt 
teils mit, teils ohne Einwilligung desselben an, die Aerzte zu wechseln. 
Nunmehr werden alle möglichen physikalischen, elektrischen, hydro¬ 
therapeutischen und ähnliche Prozeduren angewandt, auch die Kunst 


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Zur Frage des traumatischen Plattfußes. 


307 


des orthopädischen Schuhmachers, der „garantiert schmerzlos“ ar¬ 
beitet, bleibt nicht unversucht; sind genügend Mittel vorhanden, so 
werden auch noch verschiedene Badereisen gemacht; aber alles will 

Fig. 2. 



3 .Tahrf! alter V'eiTcnkungsbruch des Naviculare tarsi (Sturz auf die Fußspitze, Fig. 3 Ver- 
gleichsaufiialinie). Naviculare unregeliniißig, hanunerförmig, in der unteren Partie gebuchtet 
und in die Länge gezog*'n; sehr breite Sichtbarkeit der navikularen Gelenkflache. Deut¬ 
liche Veränderungen am Talus (cl. Fig 6). Der Uebergang vom Talushals zum Taluskörper 
stark geknickt (alte Infraktion?). Die Tibiagelenkfläche des Taluskörpers stark abge¬ 
plattet, im Vergleich zur kugeligen Gestalt des entsprechenden Gelenkkörpers am gesunden 
FiiÜ (cf. Fig. 6); die Begrenzung von Talus und (’alcaneus verschwommen. 



Vergleichsaufnahme zu Fig. 2. Der gesunde Fuß zeigt regelmäßiges Naviculare und regel¬ 
mäßig gestalteten Talus; die Grenzen zwischen Talus und Calcaneiis sind vollkommen klar. 


nichts helfen, und schließlich ergibt sich der Patient resigniert in 
sein Schicksal. 

Die Schilderung dieser Krankengeschichte klingt vielleicht etwas 
drastisch, aber sie entspricht durchaus persönlichen Erfahrungen. 


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308 


Carl Deutschländer. 


OflFenbar sind derartige Zustände keineswegs selten, und seitdem ich 
mich etwas eingehender mit ihnen beschäftige, d. i. seit etwa 
1V« Jahren, habe ich 14 derartige Fälle beobachten können ^). 


Fig. 4. 



8 Jahre alter Bruch des Naviculare bei einem 21jährigen Mädchen (Umknicken auf ebener 
Erde). Ausgesprochene Arthritis deformans des Chopartschen Oelenks. (Fig. 5 Vergleichs¬ 
aufnahme.) Naviculare unförmig vergrößert, Arthritis im Vergleich zum Naviculare in 
Fig. 6; plantarwärts ist das Naviculare mehrfach gebuchtet und in die L&nge gezogen. 
Die navikulare Gelenkßilche breit sichtbar; am Dorsum des Naviculare mächtige arthritische 
Knochenauflagerungen. Talushals zeigt verschiedene stark konturierte Linien; stark ge* 
buchteter Uebergang des Collum tali in das Corpus tali (Infraktion?). 

Fig. 5. 



Dieselbe Patientin. Vergleichsaufnahme des gesunden Fußes. Naviculare klein, regelmäßig 
gestaltet; schmale sichelförmige GelenkflUche; Tuberositas nur schwach angedeutet. 

Das veranlassende Trauma war in der Mehrzahl der Fälle, wie 
schon erwähnt, recht geringfügig. In 6 Fällen war eine leichte 
Distorsion, ein ümknicken, Ausgleiten oder Fehltreten des Fußes an¬ 
gegeben, 3mal war ein Sturz auf die Füße aus wechselnder Höhe 
erfolgt; in 4 Fällen fanden direkte Gewalteinwirkungen, Fall eines 

*) Anm. während der Korrektur: Inzwischen ist die Zahl auf einige 
20 Fälle gestiegen. 


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Zur Frage des traumatischen Plattfußes. 


309 


Fig. 6. 



Fractura processus anter. calcanei. 3 Monate alt. 


Fig. 7. 



Gesunder Fuß. Kontrollaufnalime. 


schweren Gegenstandes gegen den fixierten Fuß, statt; Imal wurde 
üeberfahrenwerden angegeben, und in 1 Fall handelte es sich um 
eine Zerrung durch einen Transmissionsriemen, in den der Fuß geriet, 
die aber sonst einen leichten Verlauf nahm. 


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310 


Carl Deutschländer. 


Von den Patienten, die überwiegend der Privaiklientel an¬ 
gehörten — nur 3 hiervon waren versieheningspflichtig —, waren 
11 männlich und 3 weiblich. Die meisten von ihnen standen im 
blühendsten Alter, zwischen 20 und 30 Jahren (9 Fälle), 2 befanden 
sich in mittleren Jahren (37 bezw. 45 Jahre) und 3 waren über 
50 Jahre alt. Jugendliche Patienten in den Wachstumsjahren, wie 
sie in den Fällen von Haglund und Gaugele erwähnt werden, 
befanden sich nicht darunter. Kein einziger dieser Fälle trat frisch 
und unmittelbar nach der Verletzung in die Behandlung. Die kürzeste 
Zeit, die zwischen Trauma und Eintritt in die Beobachtung lag, 
war 3 Monate (1 Fall), 2 weitere Fälle kamen nach einem Zeitraum 
von 4 und 5 Monaten in Behandlung; in 7 Fällen betrug die Zwischen¬ 
zeit 6—12 Monate, in 2 Fällen 2 und 3 Jahre und in 2 Fällen 4 
bezw. 5 Jahre. 

Die subjektiven Beschwerden und funktionellen Störungen waren 
übereinstimmend in fast allen Fällen die gleichen. Die Patienten 
klagten durchweg über starke Schmerzen im Fuß, die bald auf dem 
Fußrücken, bald in der Fußsohle lokalisiert wurden; fast stets strahlten 
diese Schmerzen, wenn der Fuß zum Gehen benutzt wurde, in die 
Wadenmuskulatur aus und erzeugten hier allmählich ein Gefühl der 
Lahmheit. Der Gang selbst war hinkend und erfolgte fast aus¬ 
schließlich mit der Ferse; ein Abwickeln des Fußes wurde ängst¬ 
lich vermieden. Besonders schmerzhaft war das Gehen auf unebenem 
Boden. Dazu kam noch die überaus rasche Ermüdbarkeit des Fußes, 
so daß in einer Reihe von Fällen oft schon nach einer Viertelstunde 
jede weitere Fortbewegung unmöglich war. 

Gegenüber diesen starken Beschwerden war der objektive Be¬ 
fund außerordentlich geringfügig. Aeußerlich zeigte der Fuß keine 
grobe Formstörung. Eine Valgussteilung des Fußes zur Malleolen¬ 
gabel oder eine seitliche Verschiebung des Achillessehnenansatzes 
war niemals festzustellen. Das Fußgewölbe unterschied sich nicht 
von dem des gesunden Fußes; es war in der Regel gut entwickelt 
und zeigte auch in belastetem Zustande — im Rußabdruck — keinerlei 
Nachgiebigkeit. Die Bewegungen im Talokruralgelenk vollzogen sich 
vollkommen normal. Dagegen wies das Chopartsche Gelenk eine 
recht beträchtliche Beweglichkeitseinschränkung auf und war auch 
bei Bewegungen sehr schmerzhaft; auch fanden sich in der nächsten 
Umgebung desselben die stärksten Druckschmerzpunkte, teils am 
Naviculare, teils in der Fußsohle. 


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Zur Frage des traumatischen Plattfußes. 


311 


In einigen Fällen ließ sich ferner ein stärkeres Vorspringen 
des Os naviculare nachweisen; vereinzelt bestand auch am vorderen 
lateralen Calcaneusrande eine geringe Knochenverdickung. Den auf¬ 
fallendsten Befund, der allen Fällen gemeinsam war, bildete indessen 
die hochgradige Atrophie der Unterschenkelmuskulatur, die weit 
höhere Grade erreichte, als man sie bei der gewöhnlichen Scho- 
nungsatropbie wahmimmt. 

Wenn sich somit auch gewisse objektive Befunde feststellen 
ließen, so waren diese doch keineswegs im stände, die klinischen 
Erscheinungen zu erklären, und den Schlüssel für das Verständnis 
dieser Störungen lieferte erst die Röntgenuntersuchung. Mit Hilfe 
der Röntgenstrahlen konnte nämlich nachgewiesen werden, daß es 
sich in allen diesen Fällen um Schädigungen des Chopartschen Ge¬ 
lenkes und um Frakturen der dasselbe konstituierenden Fußwurzel¬ 
knochen handelte. 

Allerdings ist der Nachweis dieser Veränderungen auch mit 
Hilfe der Röntgenstrahlen keineswegs immer leicht, und selbst einem 
geübten und mit den einschlägigen Verhältnissen vertrauten Unter¬ 
sucher treten oft Schwierigkeiten entgegen, die es erklärlich machen, 
daß diese Dinge bisher nur wenig bekannt geworden sind. Zunächst 
handelt es sich hierbei keineswegs um Verletzungen, die wegen ihrer 
Größe besonders auffallen; in der Regel sind es kleinere, versteckt 
liegende Frakturen, die noch dazu von den zahlreichen Knochen¬ 
schatten in der Gegend des Chopartschen Gelenkes verdeckt werden. 
Dazu kommt, daß es bisher nur in wenigen Fällen gelungen ist, die 
Fälle frisch zur Röntgenuntersuchung zu bekommen. Nur in 2 Fällen 
meiner 14 Beobachtungen war es mir möglich, die Untersuchung 
in einem so frühen Stadium auszuführen, daß die Fragmentbildung 
als solche auf der Platte sichtbar wurde. Meistens kommen die 
Fälle erst dann zur Beobachtung, wenn schon Monate, mitunter 
sogar Jahre nach der Verletzung vergangen sind und wenn die 
Frakturheilung längst abgeschlossen war, und in der Regel läßt sich 
dann nur aus der Gestaltsveränderung des verheilten Knochens ein 
Rückschluß auf die stattgehabte Fraktur machen. Immerhin aber 
ist, selbst im verheilten Zustande, die Formveränderung des Knochens 
so auffallend, daß über die Diagnose der Fraktur kein Zweifel be¬ 
stehen kann, namentlich wenn man, was eine unerläßliche Forde¬ 
rung ist, eine sorgfältige Vergleichsaufnahme des gesunden Fußes 
vomimmt. 


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312 


Carl Deutfichländer. 


In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle handelte es sich um 
Frakturen des Naviculare. Bereits vor einem Jahre habe ich auf 
diese an sich unbedeutende, klinisch jedoch und praktisch außer* 
ordentlich wichtige Frakturform an anderer Stelle hingewiesen und 
habe dabei betont, daß es in der Regel unbedeutende Traumen sind, 
die zur Fraktur dieses Knochens führen. Es hängt dies einerseits 
mit der exponierten Lage dieses Knochens als Schaltknochen zwi* 
sehen Fußwurzel und Mittelfuß und anderseits mit dem indirekten 
Entstehungsmechanismus dieser Brüche zusammen, wobei weniger 
die Gewalt des Traumas als die Schwere des Körpers die frakturie- 
rende Ursache abgibt. Während ich vor etwa Jahresfrist erst über 
5 derartige Fälle berichten konnte, hat sich inzwischen mein Material 
um 5 weitere Fälle vermehrt, die meine damaligen Ausführungen 
vollkommen bestätigen. Auch von verschiedenen anderen Autoren 
ist seitdem auf diese Frakturform aufmerksam gemacht worden, und 
ich erwähne hier speziell die Arbeiten von Jacobsthal*) und Nip¬ 
pold ^), die etwa zu gleicher Zeit und unabhängig von meiner Ver¬ 
öffentlichung 42 derartige Fälle zusammenstellen konnten. Damit 
ist die bisherige Annahme, daß es sich hierbei um eine seltene Ver¬ 
letzungsform bandle, ziemlich hinfällig geworden. 

In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich bei den Navicular* 
brüchen um indirekte Kompressionsbrüche in den unteren und 
medialen Partien, Die Bilder, die der verletzte Knochen auf der 
Röntgenplatte gibt, sind auch im verheilten Zustande so charak¬ 
teristisch, daß man aus der Umgestaltung der Form leicht die Dia¬ 
gnose stellen kann, wenn man überhaupt erst auf diese Dinge zu 
achten gelernt hat. Während das normale Naviculare stets einen 
regelmäßig gebildeten Schatten gibt, besitzt das traumatisch ver¬ 
änderte eine ganz unregelmäßige Form und erscheint bald dreieckig, 
bald hammerförmig, bald polygonal, bald wieder stark in die Länge 
gezogen. Diese Unregelmäßigkeiten der Form lassen keine andere 
Erklärung zu, als daß sie auf traumatischem Wege entstanden sind 
(Fig. 1-5). 

Deutsch Hin der, Verrenkungsbrüche der Naviculare. Arch. f. klin, 
Chir. Bd. 88 Heft 1. 

’*) Jacobsthal, Die Luxationsfraktur des Naviculare. Zentralbl. f. Chir. 
1907, Nr. 21. 

Ni pp old, Verletzungen des Os naviculare pedis. Inaug.-Diss. Jena 
1907, und Arch. f. physikal. Medizin u. Technik Bd. 3 Heft 1. 


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Zur Frage des traumatischen Plattfußes. 


313 


In einem kleineren Teil der Fälle — 4- ^— wurden durch die 
Röntgenuntersuchung Frakturen des Processus anterior calcanei fest¬ 
gestellt. Es handelte sich dabei aber keineswegs um schwere, den 
ganzen Knochen durchsetzende Brüche, die wohl schwerlich der Be¬ 
obachtung entgangen wären, sondern um Absprengungen kleiner, in 
der Umgebung der Gelenkfläche und mehr in der Tiefe gelegener 
Enochenpartien. Ursächlich kam 2mal ein Fall auf die Füße und 
2mal eine direkte Gewalteinwirkung in Betracht. Nur in einem Falle 
war die Fragmentbildung als solche auch auf der Platte noch er¬ 
kennbar; in den übrigen Fällen ließ sie sich nur aus der Form¬ 
veränderung des Calcaneus und der Gelenklinie erschließen. Wenn 
auch an sich bei den vielen sich deckenden Enochenschatten in 
dieser Gegend die Beurteilung nicht ganz leicht ist, so ist doch be¬ 
sonders das Verhalten der Chopartschen Gelenklinie im Calcaneus- 
anteil ganz charakteristisch und bei einiger Uebung leicht erkennbar» 
Im normalen Bild sich als breiter, regelmäßig gekrümmter Knochen¬ 
spalt markierend, erscheint sie im pathologischen Befund unregel¬ 
mäßig, verschwommen, verwaschen, zum Teil vollständig von Knochen¬ 
schatten überdeckt und als Gelenklinie überhaupt nicht mehr sichtbar 
(Fig. 6 und 7). Bemerkenswert ist bei diesen Frakturen ein klini¬ 
scher Befund, der eine differentialdiagnostische Bedeutung besitzt. 
Während nämlich bei den im oberen und medialen Gebiete des 
Chopartschen Gelenkes gelegenen Navicularbrüchen vorzugsweise 
eine Schwäche der Dorsalflexoren nachweisbar ist, besteht bei den 
in den lateralen und unteren Teilen des Gelenkes gelegenen Pro- 
zessusbrüchen des Calcaneus eine ganz auffallende Schwäche der 
Plantarflexoren, die namentlich zum Ausdruck gelangt, wenn man 
Widerstandsbewegungen mit dieser Muskelgruppe ausführt. 

Die Bedeutung dieser Verletzungen liegt nicht in der Größe 
der Frakturen, sondern lediglich darin, daß es sich hierbei um Gelenk¬ 
brüche handelt. Wie so mancher, namentlich nicht richtig erkannte 
und behandelte Gelenkbruch oft zu schweren traumatischen, defor¬ 
mierenden Entzündungen des verletzten Gelenkes führt, so ist dies 
auch bei den Gelenkbrüchen des Chopartschen Gelenkes der Fall, 
und fast stets lassen sich bei längerem Bestände des Prozesses 
chronisch arthritische Veränderungen auch im Röntgenbilde nach- 
weisen (Fig. 4 und 5). Diese arthritischen Veränderungen sind umso 
auffälliger, als sie sich bei verhältnismäßig jungen Personen und in 
einem Alter zeigen, in dem man sonst derartige Prozesse noch nicht 


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814 


Carl Deutscbländer. 


beobachtet. Hierin liegt zugleich auch der beste Beweis für den 
traumatischen Ursprung. 

Die chronische Arthritis traumatica deformans ist es nun, die 
uns das Wesen des ganzen Krankheitsbildes erst verständlich macht 
und die auch die Prognose und Therapie beherrscht. Wie jede 
Arthritis deformans, mag sie sitzen, wo sie will, Schmerzen, Ver¬ 
steifungen und Funktionsstörungen in ihrem Gefolge hat, so ist dies 
auch bei der Arthritis deformans des Chopartschen Gelenkes der 
Fall, und sie genügt daher vollkommen allein, um die Beschwerden 
Und klinischen Erscheinungen nach derartigen Verletzungen zu er¬ 
klären. Es bedarf demgemäß nicht erst der übrigens niemals 
erwiesenen Annahme, daß es zu einem Einsinken des Fußgewölbes, 
zu einem Plattfüße kommt. Es ist vollkommen verständlich, daß 
Patienten mit derartig veränderten Gelenken ihre Füße nach Mög¬ 
lichkeit schonen und ein Abwickeln derselben vermeiden, da ja jede 
Abwicklung des Fußes eine schmerzhafte Zerrung in dem erkrankten 
Chopartschen Gelenk verursacht. Die traumatische Arthritis erklärt 
ferner auch die Hochgradigkeit der Muskelatrophie, die sich nicht 
mehr als Schonungsatrophie, sondern als artikuläre Atrophie charak¬ 
terisiert. 

Auch für die Prognose und Therapie ist die Feststellung dieser 
Tatsachen von großer Bedeutung. Wie es uns bisher bei keiner 
ausgesprochenen deformierenden Arthritis gelungen ist, mit kon¬ 
servativen Mitteln eine restlose Heilung zu erzielen, wie wir uns 
hierbei stets nur mit einer Besserung und Milderung der Beschwerden 
begnügen müssen, so sind wir auch bei der Arthritis des Chopart¬ 
schen Gelenkes in der Regel nur in der Lage, im Sinne einer Er- 
träglichmachung des Zustandes zu wirken. Dieses Ziel läßt sich 
auch stets erreichen, sobald eine sachgemäße Behandlung ein¬ 
geleitet wird. 

Ohne weiteres verständlich ist es, daß die bloße Verordnung 
von Plattfußeinlagen, wozu die Annahme eines traumatischen Platt¬ 
fußes leicht verleiten könnte, hierbei niemals zum Ziele führen kann, 
denn es besteht ja nicht die geringste Indikation, ein einsinkendes 
Fußgewölbe zu stützen. Vielmehr sind in der Behandlung dieses 
Leidens dieselben Grundsätze zur Ausführung zu bringen, wie sie 
bei jeder deformierenden Arthritis Geltung haben, und der Schwer¬ 
punkt der Therapie liegt hierbei in der zielbewußten Mobilisation 
und Beseitigung der Versteifungen des Chopartschen Gelenkes, in 


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Zur Frage des traumatischen Plattfußes. 


815 


der systematischen Uebung der funktionellen Bewegungen, in der 
planmäßigen Kräftigung der Muskulatur mittels Massage und in der 
rationellen Beeinflussung der arthritischen Prozesse durch Heißluft¬ 
hyperämie. Wenn in Verbindung mit diesen Maßnahmen noch eine 
Einlagenbehandlung durcbgeführt wird, so kann diese von großem 
Vorteile sein. Man muß aber dabei berücksichtigen — und danach 
auch die Konstruktion seiner Einlagen einrichten —, daß nicht die 
Aufgabe besteht, das Fußgewölbe vor dem Einsinken zu schützen, 
daß vielmehr die Einlagen hier lediglich den Zweck haben, das Ge¬ 
lenk zu entlasten, und je besser es gelingt, diese Entlastung durchzu¬ 
führen, desto besser sind auch die Resultate. Ich möchte bei dieser 
Gelegenheit bemerken, daß ich in der letzten Zeit Einlagen aus 
Magnalium mit hochgetriebenen Rändern und zwar das Withmansche 
Modell anwende, die eine ganz vorzügliche Entlastung bewirken. 

Mit diesen Hilfsmitteln gelingt es in den meisten Fällen, die 
Gehfähigkeit wesentlich zu verbessern. Nur in 2 Fällen von Navi- 
cularbrüchen bei jungen Mädchen konnte ich keine befriedigenden 
Resultate erzielen. Hier sah ich mich schließlich veranlaßt, das 
Naviculare zu resezieren bezw. zu exstirpieren und eine Arthrodese 
im Ghopartschen Gelenk herzustellen. Wenn auch in beiden Fällen 
ein absolut guter Erfolg — auch im Dauerresultat — erreicht wurde, 
so sind derartige Eingriffe doch stets nur als ultimum refugium zu 
betrachten, die nur in Betracht kommen, wenn alle anderen Mittel 
versagen. 

Die beste und erfolgreichste Behandlung wird allerdings stets 
in der Prophylaxe bestehen. Dazu aber ist erforderlich, daß man 
frühzeitig diese Zustände erkennt und daß man schärfer zwischen 
dem einfachen, traumatischen Distorsionsplattfuß und den Brüchen 
des Ghopartschen Gelenkes mit ihren Folgezuständen zu unter¬ 
scheiden lernt. So ähnlich auch beide Krankheitsbilder in ihren 
äußeren Erscheinungen sind — bei beiden eine meist geringfügige 
traumatische Ursache, bei beiden plattfußähnliche Beschwerden —, 
so verschieden sind sie ihrem inneren Wesen nach, und so ver¬ 
schieden ist auch die Prognose und die Therapie. Welchen prakti¬ 
schen Wert die Klarstellung dieser Verhältnisse gerade mit Rück¬ 
sicht auf unser hochentwickeltes Versicherungswesen besitzt, bedarf 
keiner weiteren Ausführung. Jedenfalls haben die Ghopartschen 
Gelenkbrüche an sich nichts mit dem traumatischen Plattfüße zu 
tun, und zur Erklärung der Funktionsstörungen müssen ganz andere 


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316 Carl Deutschländer. Zur Frage des traumatischen Plattfußes. 

Gesichtspunkte herangezogen werden, als das Einsinken des Fu߬ 
gewölbes. Daraus ergibt sich auch die Sonderstellung dieser Ver¬ 
letzungen. 

Daß es sich dabei um besonders seltene Erankheitszustände 
handelt, ist schon nach den bisherigen Beobachtungen nicht mehr 
recht wahrscheinlich. Im Gegenteil dürfte es sich hierbei um ein 
Leiden handeln, das weit häufiger vorkonimt als man annimmt und 
das bisher nur nicht richtig erkannt worden ist. 


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XXII. 


Ueber den schlechten Einflnh der schwedischen 
Crynmastik nnd ähnlicher Lockernngsverfahren auf 

die Skoliose'). 

Von 

Dozent Dr. V. Chlumsky in Krakau. 

Mit 3 Abbildungen. 

Gymnastik und ähnliche Verfahren wurden von jeher als vor¬ 
zügliche Mittel gegen die Skoliose betrachtet. Vor ca. 100 Jahren 
behauptete Delpech (Orthomorphie II S. 170), er würde ohne Gym¬ 
nastik auf die Orthopädie verzichten. Auch jetzt steht die Gym¬ 
nastik in einem sehr hohen Rufe. 

Doch wenn ein Arzneimittel noch so gut ist, man muß mit 
ihm immer vorsichtig umgehen. Das gilt auch für die Gymnastik. 
Ich habe viele Fälle gesehen, wo sie nicht nur nicht geholfen, son¬ 
dern direkt geschadet hat. Schon einige Male habe ich auf diese 
Tatsache hingewiesen (Beiträge zur Aetiologie und Therapie der 
Skoliose. Zeitschrift für orthop. Chirurgie Bd. XVIII), und sehe 
mich gezwungen, auch hier die Aufmerksamkeit der Herren Kollegen 
auf diese Tatsache nochmals zu lenken. — Als Beispiel erlaube ich 
mir einige Fälle in effigie vorzuführen, in denen das verkehrte 
Herummanipulieren das Leiden wesentlich verschlechtert hatte. 

Der erste Fall (siehe Fig. 1) betrifft die Tochter einer an¬ 
gesehenen gesunden Familie, die auf ihre Gesundheit besonders be¬ 
dacht ist. Die kleine 7jährige Patientin wurde auf Rat des Haus¬ 
arztes, da sie zart gebaut war, behufs Kräftigung in eine Turn¬ 
anstalt durch 2 Jahre fast täglich geschickt. 

Der Hausarzt, ein bekannter Praktiker, der die Kleine öfters 
untersuchte, behauptet, daß das Mädchen sonst vollständig gesund 

0 Vortrag, gehalten auf dem VII, Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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318 


V. Chlumsk^. 


war und anfangs keine auffallende Veränderungen an der Wirbel¬ 
säule aufwies. Die jüngere Tochter, die angeblich ebenso gebaut 
war und ein Jahr später turnen sollte, habe ich in dieser Beziehung 
selbst untersucht und bei ihr eine kleine Abweichung der Wirbel¬ 
säule nach links konstatiert. Als man die schlechten Resultate des 
Turnunterrichts bei der älteren Schwester merkte, wurde sie nicht 
gjmnastiziert und blieb gerade, d. h. die minimale Verkrümmung 
nach links blieb unverändert. 

Nach einem Jahr täglicher Uebungen der behandelten Patientin 
merkte der Hausarzt, daß ihre Wirbelsäule immer mehr nach links 
abweicht und die Patientin eine hohe Hüfte bekommt. Es wurde 
also das Turnen noch energischer fortgesetzt, da man glaubte, auf 
diese Weise am besten der Verkrümmung steuern zu können. In¬ 
zwischen entwickelte sich aber ein regelrechter Buckel. Nach 2jäh- 
riger Behandlung hatte die Patientin eine schwere Skoliose des dritten 
Grades mit einer großen Abbiegung in der Lendenwirbelsäule nach 
links und einer kleineren Vorwölbung des Dorsums nach rechts. Die 
Wirbelsäule war oberhalb des Beckens außerordentlich beweglich, 
der dorsale Buckel war dagegen sehr hart und die Wirbel hier fest 
verwachsen. Alle meine Bemühungen, den Buckel zurückzudrängen, 
wurden durch die außerordentlich festen Verklebungen des linkskon¬ 
vexen Dorsalbogens und die große Beweglichkeit der unteren (Lenden-) 
Wirbel sehr beeinträchtigt, so daß nur sehr langsam eine Besserung 
eintrat, die aber doch nur teilweise den Buckel zum Verschwinden 
brachte. 

Besonders die starke Lockerung der Lendenwirbelsäule machte 
uns bei der Behandlung große Schwierigkeiten, da die meisten Be¬ 
wegungen sich hier abspielten und die Wirbelsäule auf die äußeren 
korrigierenden Kräfte zuerst hier reagierte. Diese abnorme Locke¬ 
rung der unteren Wirbel wurde sicher durch das Turnen hervor¬ 
gerufen und hat das Entstehen der Skoliose direkt unterstützt. Auch 
die schwache Muskulatur wurde durch die täglichen Uebungen über¬ 
anstrengt und da die Wirbel immer beweglicher wurden, konnte sie 
schließlich die Wirbelsäule nicht mehr in der richtigen Mittelstellung 
halten, die ganze Sache gab nach. Die eventuelle skoliotische Prädis¬ 
position wurde durch das Turnen noch vergrößert und führte zuletzt 
zur Entwicklung einer schweren Skoliose. 

Ein zweiter Fall betraf ein Mädchen von 15 Jahren. Auch 
dieses Mädchen wurde behufs Kräftigung in eine Turnanstalt durch 


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üeber den schlechten Einfluß der schwedischen Gymnastik etc. 319 

volle 4 Jahre geschickt. Wie die Eltern behaupten, war es vorher 
vollständig gerade. Die Eltern haben es, ohne einen Arzt zu be¬ 
fragen, turnen lassen, da es allgemein hieß, das Turnen ist gesund. 
Vielleicht war eine kleine Verbiegung schon vorhanden, die sehr oft 
von den Angehörigen übersehen wird, doch durch ca. 1 Jahre war 
sie unbedeutend und wurde auch in der Turnanstalt nicht beachtet. 
Vor 2 Jahren merkte man, daß das Mädchen sich immer nachlässiger 
hielt; es wurde also noch fleißiger 
geturnt, was aber die weitere Ent¬ 
wicklung der Skoliose nicht ver¬ 
hinderte. Nach 4jährigen Uebungen 
leidet die Patientin an einer ziem¬ 
lich hochgradigen Skoliose mit der 
Konvexität links unten und rechts 
oben (siehe Fig. 2). 

In diesem Falle lagen die Ver¬ 
hältnisse analog wie in dem vor¬ 
her erwähnten und hatten auch 
gleiche Folgen. Jedenfalls hat auch 
hier das Turnen die Entwicklung der 
Skoliose nicht verhindert und eine 
Situation erwirkt, die die weitere 
Behandlung sehr schwierig gestaltet. 

Ein dritter Fall, den ich bei- 
füge, ist gewissermaßen ein End¬ 
resultat des Klapp sehen Kriech¬ 
verfahrens. 

Vor 2 Jahren wurde ich von einer Arbeiterfamilie konsultiert, weil 
die älteste, damals 12jährige Tochter «ich schlecht hielt und anämisch 
war. Ich konstatierte eine unbedeutende totale Skoliose nach links, 
schwache Muskulatur, Chlorose und Plattfüße. Alles das habe ich mir 
notiert und auch eine Zeichnung von der Patientin angefertigt. 

Außer mir konsultierten die Eltern noch einen zweiten Arzt, 
der einen Versuch mit der Klapp sehen Methode empfahl. Das 
Kind lernte unter der Führung des Kollegen die bekannten Kriech¬ 
übungen und ist dann nach Hause (nach Rußland) gefahren. Hier 
hat es angeblich fleißig durch 1 Jahr die Uebungen fortgesetzt. 
Dann erschien es wieder in meiner Ordination und klagte, daß die 
Behandlung nicht hilft. 


Fig. 1. 



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320 


V. Chlumskir. 


Es bestand jetzt (siebe Fig. 3) eine ausgesprochene Skoliose mit der 
linkseitigen Lumbal- und der rechtseitigen Dorsalkonvexität, einer 
entsprechenden Torsion und einem dorsalen Buckel, Die Wirbelsäule 
war sonst ziemlich beweglich, besonders an der Kreuzungsstelle zwi¬ 
schen dem Lumbal- und dem Dorsalabschnitt. Die Patientin konnte 
sich für einige Augenblicke fast gerade halten, verfiel dann aber 


Fig. 2. 



wieder in die alte skoliotische Stellung. Auch hier haben die an¬ 
haltenden Uebungen die Wirbelsäule übermäßig gelockert und das 
Fortschreiten der Skoliose zum mindesten nicht verhindern können. 

Nicht uninteressant ist es, daß das Klapp sehe Verfahren schon 
vor 100 Jahren einen ziemlich ähnlichen Vorläufer hatte. Nach 
Dieffenbach wurde in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts 
in den französischen Instituten eine besondere Krückenbehandlung 
eingeführt. Man gab den Kranken zwei Armkrücken, die sie schräg 
vor sich auf den Boden stellten und sich dann, dieselben als Spring* 
Stangen benützend, vorschwangen, bis die Füße wieder den Boden 
berührten u. s. f., woraus bei einiger Uebung eine ziemlich schnelle 
hüpfende Körperbewegung resultierte. „Man wollte, wie Busch sagt, 
eine Form der Körperbewegung schaffen, bei welcher die Wirbel- 


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lieber den schlechten Einfluß der schwedischen Gymnastik etc, 321 

Säule nicht dauernd belastet war, sondern stets nach sehr kurzer 
Zeit wieder entlastet ... und ... durch das Körpergewicht gestreckt 
wurde“. Dazu fügt noch Busch bei, daß die Behandlung wieder 
verlassen wurde: „Wunderbar genug muß es ausgesehen haben, wenn 
die jungen Mädchen in den Gärten der orthopädischen Institute mit 
ihren Krücken wie die Känguruhs herumhüpften “ ^), 


Fig. 3. 



Wie bemerkt, habe ich eine größere Anzahl durch ähnliche 
Verfahren schlecht behandelter Fälle beobachtet, deren nähere Be¬ 
schreibung ich absichtlich weglasse, da der eine Fall dem anderen 
so ziemlich gleicht. In allen diesen Fällen fand ich eine übermäßige 
Beweglichkeit einzelner Abschnitte oder der ganzen Wirbelsäule und 
das Unvermögen der Patienten, die so gelockerten Wirbel für längere 
Zeit in der richtigen Lage zu halten. Fast durchweg waren es zarte, 
schwach gebaute Individuen, bei denen die fleißigen gymnastischen 
Uebungen die Wirbelsäule zwar zu lockern, aber nicht entsprechend 
zu kräftigen vermochten. Es hatte auf uns einen Eindruck gemacht, 
daß man hier des Guten zu viel getan hat. Man lockerte die Wirbel¬ 
bänder und übermüdete die Muskeln, wodurch die Wirbelsäule den 

*) T. Busch, Allgemeine Orthopädie etc. 1882. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 21 


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322 V. Chlumsky. lieber den schlechten Einfluß der schwed. Gymnastik etc. 

ganzen Halt verloren hat. War eine skoliotische Anlage vorhanden, 
so verfielen die Wirbel in dieselbe und da die Muskulatur sie aus 
der falschen Lage nur zeitweise wegzubringen vermochte, adaptierten 
sie sich den neuen Verhältnissen, veränderten ihre Form und wurden 
schließlich in der pathologischen Lage teilweise fixiert* Aus dieser 
Lage kann sie der Patient auch durch die Uebungen nur für kurze 
Zeit wegbringen, so daß sie später auch während der Uebungen 
in der pathologischen Lage teilweise verbleiben und auf die Weise 
miteinander verwachsen können. 

Nach der Gymnastik verfallen sie in eine noch mehr abnorme 
Lage und ziehen weitere Wirbel in den Bogen hinein. Die Ver¬ 
krümmung wird so allmählich trotz der Uebungen oder gerade durch 
die Unterstützung derselben größer. Ob diese Uebungen aus einer 
einfachen schwedischen Gymnastik oder aus dem Kriechverfahren be¬ 
stehen, bleibt sich gleich. Beim Kriech verfahren werden vielleicht 
die Verhältnisse während der Uebungen besser als bei der einfachen 
Gymnastik, vielleicht wird die Lockerung der pathologischen Ver¬ 
krümmungen teilweise erzielt, doch man vergißt, daß die Patienten 
den ganzen Tag gerade in der aufrechten Stellung gehen und daß 
hier dann die Schwere Verhältnisse die ganze Lage ändern. Das Kind 
kann während des Kriechens eine so ziemlich gerade Wirbelsäule 
haben, steht es aber auf, kehrt die alte Verkrümmung sofort wieder. 
Handelt es sich um ein schwaches Individuum, dann wird, wie er¬ 
wähnt, durch die Lockerung der Wirbel die falsche Lage noch verstärkt. 

Stärkere Kinder vertragen auch diese Uebungen gut, ja sie 
können davon in gewissen Grenzen auch Nutzen ziehen, nur muß 
man gut und genau erwägen, wie stark, wie lang und besonders, 
wenn man gymnastiziert. 

In dieser Beziehung kann man natürlich keine genauen Vor¬ 
schriften geben, das lehrt die Erfahrung. 

Doch möchte ich nochmals ganz besonders darauf hinweisen, 
daß das übermäßige und nicht genau abgeschätzte Turnen und auch 
das schon besprochene Kriech verfahren bei manchen Individuen nicht 
nur die Entwicklung der Skoliose nicht verhindert, sondern sogar 
umgekehrt deren Entstehen unterstützt und auch die regelrechte Be¬ 
handlung für später erschwert. Man macht aus Kindern, die viel¬ 
leicht ohne die Behandlung eine kleine Skoliose behielten, schwere 
Skoliotiker und davor möchte ich warnen. 


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XXIII. 


Wesen nnd Verbreitung des Krttppeltnms in 
Deutschland'). 

Von 

Dr. K* Biesalski-BerÜD, 

Meine Herren! Die heutigen Verhandlungen über Krüppel¬ 
fürsorge sind die Ausführungen eines Beschlusses des vorjährigen 
Orthopädenkongresses. Ich hatte von der ganz Deutschland um¬ 
fassenden Statistik jugendlicher Krüppel die auf Preußen bezüglichen 
Zahlen mitgeteilt, und da diese nicht vollständig waren, so wurde 
auf eine Diskussion verzichtet, und Hoffa schlug vor, in diesem 
Jahre nach Fertigstellung der Statistik die Angelegenheit gründlich 
zu erörtern. 

Meine Herren! Es ist kein Zufall, daß bei dem einfachen 
Rückblick sich wieder Hof fas einzigartige Persönlichkeit vor unser 
Auge stellt als der geistige Urheber der heutigen Tagung. Ich be¬ 
trachte das als ein gutes Zeichen, denn was er anfaßte, geschah 
von großen Gesichtspunkten aus und trug den Keim des Gelingens 
in sich, den er aus seiner reichen Persönlichkeit hineinlegte. Es 
liegt mir fern, auf sein wissenschaftliches Wirken hier einzugehen, 
aber was ich an seinem Sarge als Vertreter der Berliner Krüppel¬ 
heilanstalt sagen durfte, möchte ich hier namens der deutschen 
Krüppelfürsorge wiederholen: Sein ganzes Leben war eine einzige 
Fürsorge für die Gebrechlichen, und sein warmes Herz ließ ihn die 
Krüppelfürsorge als die soziale Betätigung der Orthopädie erkennen 
und ausüben. Mit allen Kräften hat er die Statistik gefördert und 
ebenso den Ausbau unseres Berliner Hauses, und noch kurz vor 
seinem Tode, als ich ihm die Gründung einer Zeitschrift für Krüppel¬ 
fürsorge vorschlug, begrüßte er mit Begeisterung diesen Plan als 


Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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324 


K. Biesalski. 


ein Mittel, um Einigung und Einheitlichkeit herbeizufUhren. Die 
aufstrebende Krtippelfürsorge wird allezeit auf ihn als einen 
ihrer Bahnbrecher mit Dank zurückblicken und seinen Namen in 
Ehren halten. 

Diesem Dank gegen einen Toten muß ich den gegen viele 
Lebende anschließen, gegen Ihre Königl. Hoheit die Frau Fürstin 
zu Wied, welche als Vorsitzende der deutschen Zentrale für Jugend¬ 
fürsorge den Plan gutgeheißen und zu seiner Verwirklichung wesent¬ 
lich beigetragen hat, den.Herrn Reichskanzler und die verbündeten 
Regierungen für die amtliche Durchführung der Zählung, den Herrn 
Kultusminister in Preußen, der uns durch entgegenkommende Er¬ 
lasse an die nachgebrdneten Behörden und namhafte Geldunter¬ 
stützung geholfen hat, den Herrn Ministerialdirektor Förster und 
Geheimrat Dietrich für unermüdliche Unterstützung, Fi*au Oskar 
Pintsch, die Vorsitzende des Berlin-Brandenburgischen Erüppelheil- 
und Fürsorgevereins, der die ganze Arbeit geleistet und den größten 
Teil der Kosten getragen hat, Herrn Geheimrat May et für die 
Mithilfe und freundlichen Rat bei der Technik der Statistik. 

Damit will ich es hier genug sein lassen, wiewohl noch viele 
zu nennen wären. 

Und nun hinein in die Mitte der Dinge! 

Meine Herren! Was ich Ihnen hier vorzutragen habe, ist das 
Ergebnis einer fast 3jährigen ununterbrochenen Arbeit; ich hätte 
Ihnen gerne das Manuskript oder gar das fertige Werk auf den 
Tisch des Hauses gelegt, aber das war unmöglich. Unter Hoch¬ 
druck habe ich die Tabellen bis heute fertigstellen können, die ganze 
Arbeit wird im Druck erst in einigen Monaten erscheinen. 

Fürchten Sie nicht, daß ich Sie mit Zahlen belästigen werde, 
das liegt mir fern; ich möchte Sie in den Geist hineinführen, aus 
dem heraus das Werk entstanden und gearbeitet worden ist, dann 
sind wir ohne weiteres mitten drin in allen die Krüppelfürsorge 
treibenden Gedanken. 

Zunächst lag mir daran, etwas Einheitliches zu schaffen. Es 
waren schon Statistiken einzelner Provinzen und Bundesstaaten vor¬ 
handen, ihre Autoren sitzen zum Teil unter uns, aber es fehlte eine 
deutsche Statistik, und doch mußte sie gemacht werden, weil nur 
das Umfassende den Blick auf sich lenkt. Der Plan war groß, und 
selbst ein so tapferer Mann wie Herr Pastor Schäfer erschrak davor, 
ihn privatim durchzuführen. Der erste, dem ich davon Mitteilung 


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Wesen und Verbreitung des Krüpj^eltums in Deutschland. 


325: 


machte, war Herr Oeheimrat Dietrich, und ich dahk^ ihm’nooh heute' 
und hier vor aller Oeffentlichkeit, daß er sich nicht durch die oflFen-^ 
baren ungeheuren Schwierigkeiten abhalten ließ,; die Hand zur Er¬ 
reichung eines Werkes zu bieten, das ihm an sich sofort als not¬ 
wendig erschien. Als zweiter Helfer wurde* Hoffa gewonnen, der 
natürlich sofort mit beiden Beinen hineinsprang. Mit diesen beiden 
Männern zusammen konnte ich es* wagen und habe es gewagt. Die 
deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, in deren Präsidium beide 
Herrto saßen, nahm in dankenswerter Weise die Arbeit unter ihren 
Schutz, und. unter ihrer Flagge wurden die ersten entscheidenden 
Eingaben gemacht. Sie hat auch weiterhin durch namhafte Geld*» 
beitrage die. Arbeit gefördert. 

Zunächst war es. schwierig, sämtliche Bundesstaaten zu ge¬ 
winnen ; schließlich aber ist es unseren unermüdlichen Anstrengungen 
doch gelungen, hierin Einheitlichkeit zu erzielen: das ganze Deutsche 
Reich 2 ;ählte. 

Nun galt es, nach einer einheitlichen Zählkarte zu verfahren. 
Wir hatten ihren Text unter Zuziehung aller möglichen Sachver^ 
ständigen festgestellt, der Herr Reichskanzler hatte, ein zweimaliges 
Gutachten des Reichsgesundheitsamtes eingeholt, danach waren von 
uns Verbesserungen vorgenommen, so daß der Text der Zählkarte 
schließlich von allen orthopädischen Chirurgen und Praktikern der 
Krüppelfürsorge gebilligt wurde. Ich will nicht näher auf ihn ein- 
gehen, Kritiken post festum haben nicht viel Wert, ich darf ver¬ 
raten, daß ich bei einer zweiten Statistik die Zählkarte etwas ein¬ 
facher machen würde. Alle Bundesstaaten, haben sie in der Er¬ 
wägung, daß Einheitlichkeit wichtiger sei, als Ausstellungen an 
Einzelheiten, angenommen, nur Bayern, Baden und Hessen haben 
eine eigene Zählkarte aufgestellt, die in vielem der preußischen 
nachgebildet war, aber doch schließlich so stark ab wich, daß ein 
Vergleich sich ausschloß. Vor allem haben sie nur das schul¬ 
pflichtige Alter gezählt, während überall sonst die Kinder von 
0—15 Jahren gezählt wurden. Wir haben übermenschliche An¬ 
strengungen gemacht, um auch hier Einheitlichkeit zu erzielen, aber 
es war nicht möglich. Da eine Vergleichung der Zählungsergebnisse 
in Bayern, Baden und Hessen mit den übrigen Bundesstaaten sich 
in den weitaus meisten Punkten ausschließt, so verstehe ich unter 
den Zahlen für das Deutsche Reich immer die der deutschen Bundes¬ 
staaten ohne Bayern, Baden und Hessen. In dem Gesamtwerk 


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326 


E. Biesalski. 


kommen die Tabellen dieser drei Staaten natürlich zum Abdruck, 
denn wenn auch Bayern seine Karten selbst bearbeitet hat, so sind 
die von Hessen und Baden von uns bearbeitet worden. 

Wir haben, um nur ein Bild von der Größe der Arbeit zu geben, 
über 200 000 Karten, für jeden Bundesstaat besonders gedruckt, nach 
Kreispaketen geordnet, diese wieder zu Regierungsbezirken und Pro¬ 
vinzen geordnet und etikettiert, mit einem Begleitschreiben versehen 
ausgesandt. 

Die Zählung ist in den genannten drei Staaten von den Lehrern 
ausgeführt, in den übrigen meist von den Polizeibehörden, fast überall 
unter Zuziehung der Lehrer oder Aerzte. Trotzdem ist da manches 
unter den Tisch gefallen, namentlich in den Großstädten, so daß die 
Ergebnisse als Mindestzahlen anzusehen sind. 

Die Karten, die alle an uns abgeliefert waren, wurden nun zu¬ 
nächst von dem Bureaupersonal daraufhin geprüft, ob die nichtärzt¬ 
lichen Fragen überhaupt und sinngemäß beantwortet waren. War 
dies nicht der Fall, so ging die betreffende Karte auf dem Umweg 
über das Ministerium an den betreffenden Kreisarzt zur Ergänzung 
oder Aufklärung. Nachdem sie auf demselben Wege zurückgekehrt 
war, begann die Prüfung der ärztlichen Fragen, zu der sich 22 Aerzte 
zur Verfügung gestellt hatten, die alle nach einer einheitlichen In¬ 
struktion handelten und die Karten so zugewiesen bekamen, daß 
niemals einer eine ganze Provinz hatte, sondern z. B. je einen Re¬ 
gierungsbezirk aus Hannover, Westpreußen, Rheinprovinz. Dadurch 
wurde eine etwaige persönliche einseitige Auffassung in ihrer fehler¬ 
haften Wirkung zerteilt. 

Auf diese Instruktion muß ich etwas näher eingehen, weil sie 
uns zum Wichtigsten führt, nämlich zur Begriffsbestimmung des 
Wortes Krüppel. 

Man hatte früher im allgemeinen den als einen Krüppel an¬ 
gesehen, der sich selbst so bezeichnet hatte. Das erschien mir nicht 
angängig, denn es lag mir von Anfang an bei der ganzen Statistik 
hauptsächlich daran, der praktischen Krüppelfürsorge zu nützen. Zu 
dem Zwecke mußte nachgewiesen werden, wie viele von den ge¬ 
zählten Krüppeln der Aufnahme in ein Heim bedürftig waren. 

Ich teilte also die Krüppel in zwei große Gruppen ein^ in heim¬ 
bedürftige und nichtheimbedürftige. Jede dieser Gruppen zerfiel wieder 
in 3 Unterabteilungen. Die Nichtheimbedürftigen, N-Fälle genannt, 
hatten 3 Unterabteilungen: Nb, nichtheimbedürftige Bresthafte; das 


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Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland. 


327 


waren alle die, welche irrtümlicherweise als &Uppel bezeichnet waren, 
Idioten, Taubstumme, Blinde u. Sie sind bei der Statistik über¬ 
haupt nicht mitgezählt worden. Die Karten wurden den Kreisärzten 
überwiesen mit dem AnheimgebeUv die betreffenden Kranken aufzu¬ 
suchen und gegebenenfalls für sie zu sorgen. No waren nichtheim¬ 
bedürftige Orthopädische Kranke, d. h. solche, welche wohl einer 
Behandlung bedurften,, aber jedenfalls nicht in einem Krüppelheim. 
Nk waren nichtbeimbedürftige Krüppel, welche einer Behandlung 
nicht mehr zugänglich waren. 

Die Heimbedürftigen oder H-Fälle zerfielen wiederum in 3 Unter¬ 
abteilungen. Ht solche, die heimbedürftig und therapiebedürftig waren; 
Hg solche, die heimbedUrftig waren und wenn auch nicht mehr der 
Behandlung, so doch des Unterrichts und .der gewerblichen Aus¬ 
bildung bedurften; Hu Unheilbare, welche nur noch verpflegt werden 
konnten. 

Diese Unterscheidungen wurden nun aber nicht gemacht ledig¬ 
lich auf Qrund der Diagnose, sondern es wurde dabei immer noch auf 
die begleitenden Nebenumstände geachtet, nämlich auf das Alter des 
Kindes, etwa vorhergegangene Behandlung oder Fehlen jeglicher Be¬ 
handlung bei einem alten Leiden, auf etwaige Komplikationen, die 
soziale Lage Yaters, darauf,, oh Schwachsinn oder andere körper¬ 
liche Gebrechen vorhanden waren, d. h. die Rubrizierung der Fälle 
geschah, indem das KrUppelgebrechen und die Summe der Neben¬ 
umstände in eine Wechselbeziehung gesetzt und daraus eine mittlere 
Resultante gewonnen wurde. Zum Beispiel: 

Angeborenes Fehlen der linken Hand, 3jähriger Knabe, 

der Vater ist Gärtner.Nk 

14jähriger Knabe, Verlust des rechten Beins, geistig 

gesund, künstliches Bein.Nk 

geheilte Koxitiden, die schon seit Jahren die Volks¬ 
schule besuchen.Nk 

erworbenes Fehlen dreier Finger, steht am Abschluß der 

Schulzeit, erwirbt schon in der Landwirtschaft mit Nk 

Alles Fälle, die an sich zwar Krüppel sind, aber auch ohne Nach¬ 
hilfe in einem Krüppelheim ihren eigenen Weg durchs Leben finden 
werden. 

Skoliosen mäßigen Grades ..No 

Skoliosen schwerer Form, mit besonderen Kompli- 


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I 


328 BiesaJßki. 


kationen, Herzstörungen, Lungenveränderungen^ 

Taubstummheit, Schwachsinn.Ht oder Hg 

rhachitische Skoliosen wurden zu Skoliosen gerechnet; 

rhachitischer Zwergwuchs unter ..Hg 

Lähmungen und Kontrakturen im wesentlichen unter Ht 
schweres doppelseitiges X-Bein hei einem älteren Kinde Ht 

.leichtes X-Bein bei Sjährigem Kinde.No 

einseitige Hüftgelenkluxation im vorschulpflichtigen Alter No 
doppelseitige Hüftgelenkluxation, 8 Jahre alt, bisher 

nicht behandelt.Ht 

dieselbe behandelt, ungeheilt.Nk 

Klumpfuß, 8 Jahre alt, noch nicht behandelt . . . Ht 

ISjähriger Rhachitiker, bisher nicht behandelt, geht 

erst 1V* Jahre zur Schule.. , Hg 

Spondylitis, 13 Jahre alt, besucht erst seit 1 Jahr die 

Schule • . Hg 

abgelaufene Osteomyelitis mit Versteifung mehrerer 

Gelenke.Hg 

6jähriger Knabe, Skoliose zweiten Grades, Eltern tot, 

Großmutter alt und erwerbsunfähig, erhält ihn 
kümmerlich.Ht 

Diese Beispiele mögen genügen. 


Es ist selbstverständlich, daß es eine Anzahl von Fällen gibt, 
in welchen man verschiedener Meinung sein kann, zumal ja das Ur¬ 
teil nicht auf Grund der Kenntnis des Falles gestellt wurde, sondern 
nur aus den Angaben der Zählkarten heraus, und ebenso selbstver¬ 
ständlich ist es, daß, wenn die Zählkarten jetzt nachgeprüft werden 
von einem Arzte, welcher daneben das Kind selber sieht, es Vor¬ 
kommen wird, daß der Untersucher zu einem anderen Ergebnis kommt 
wie wir. Das war aber unvermeidlich. Selbst auf die Gefahr hin, 
daß ich mit meiner Anschauung und dieser Einteilung in vielen Fällen 
von der Wirklichkeit desavouiert werden werde, will ich sie doch 
alle in ihre Heimatländer ziirückgeben und bitte Sie, dann gnädig 
mit mir ins Gericht zu gehen, denn Sie dürfen überzeugt sein, daß 
ich bestrebt gewesen bin, aus der Statistik so viel zu machen, als 
nach Lage der Sache möglich war und daß der tatsächliche Zukunfts¬ 
wert der Statistik nicht so sehr darin ruht, daß nun hier bei diesen 
Einteilungen und Rubrizierungen in jedem Falle das Richtige ge- 


I 

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Wesen und Verbreitang des Krüppeltums in Deutschland, 329 

troffen ist, sondern in ganz anderen Werten, die wir noch zu er¬ 
örtern haben werden. 

Diese Rubrizierungen des Falles schrieb der Arzt mit roter 
Tinte mit der betreffenden Abkürzung in die linke obere Ecke der 
Zählkarte und neben die Frage «Bezeichnung des krüppelhaften 
Leidens* eine Abkürzung der Erankheitsbezeichnung, welche er 
ebenfalls nicht allein aus der häufig ganz lächerlichen Bezeichnung 
der Eltern entnahm, sondern aus der Vergleichung mit anderen 
Fragen, z. B. Komplikation, Erblichkeit, Operation, Behandlungs* 
art u. s. w. Es ist möglich, daß wir auch dabei manchmal uns ge¬ 
irrt haben, aber anderseits war es auch vollständig ausgeschlossen, 
daß alle Krankheitsbezeichnungen von Aerzten an Ort und Stelle fest¬ 
gesetzt werden oder nachgeprüft werden konnten. Für diese Krank¬ 
heitsbezeichnungen waren Nummern angeführt und Abkürzungen, 
z. B, 2: Knochen- und Gelenktuberkulose. Sie ist unterteilt: Tuber¬ 
kulose der Wirbelsäule 2w; Tuberkulose der oberen Extremitäten 2o; 
Tuberkulose der unteren Extremitäten 2u; Tuberkulose mehrerer 
Organe oder Combination 2c. 

Nachdem diese ärztliche Einteilung besorgt war, gingen die 
Karten in das Bureau zurück und wurden nun von Fachleuten nach 
dem Kartensystem statistisch bearbeitet. Wer auf diese Weise noch 
nicht gearbeitet hat, dem ist es vielleicht interessant zu erfahren, 
wie das gemacht wird. Es wurde als kleinste Einheit der preußische 
Regierungsbezirk angenommen. Die sämtlichen Karten des Regie¬ 
rungsbezirks werden zunächst geordnet nach den Hauptgruppen Nb, 
No, Nk u. s. w. Innerhalb jeder Gruppe werden nun abgezählt, wie¬ 
viel Kinder dem Alter von 0—1, 1—2 u. s. w. angehören, d. h. die 
Zählkarten werden zu einzelnen Haufen hingelegt. Die Karten jedes 
Haufens werden gezählt und in die betreffende Rubrik der vorge¬ 
druckten Tabelle eingetragen. Nach derselben Art werden alle 
Spalten der Tabelle durchgezählt und mit Zahlen ausgefüllt. An 
dieser Arbeit haben sich unter Mitwirkung von Herrn Geheimrat 
Mayet die Diätare des Kaiserl. Statistischen Amtes beteiligt, welche 
ebenfalls nach einer vorgeschriebenen Instruktion zu handeln ver¬ 
pflichtet waren. 

Als die einzelnen N- und H-Gruppen festgestellt waren, wurden 
sie addiert und dann neue Tabellen ausgefüllt, welche dann wieder 
die Gesamtheit der N- oder H-Fälle ergab oder alle N- und H-Fälle 
zusammen. 


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330 


E. Biesalski. 


Wir haben also fQr jede Gruppe eine Tabelle gehabt, das sind 6, 
für die Addition 8 = 14, für die Relativzahlen 8 = 22 Tabellen; das 
aber immer für jede Provinz und jeden Bundesstaat. Diese Tabellen 
mit vielen Hunderten von Zahlen bilden einen ganzen Berg und ich 
zeige Ihnen nur eine hier vor, damit Sie eine Vorstellung davon be¬ 
kommen, welche Fülle von Arbeit darin steckt. Noch ebensoviel 
Material stellen die Tabellen der Regierungsbezirke dar, welche aber 
gar nicht einmal zum Abdruck kommen. Was die Tabellen nun er¬ 
geben haben, darauf will ich erst eingehen, nachdem ich noch ein¬ 
mal auf die BegrifiFsbestimmung des Wortes Krüppel eingegangen bin. 

Meine Herren! Die Art der Einteilung der Gruppen zeigt Ihnen, 
daß ich von Anfang an bestrebt war, die Begriffsbestimmung nicht 
nur auf Grund des Gebrechens zu tun, sondern daß ich von Anfang 
an das im Wort Krüppel steckende soziale Element mit dazu getan 
habe. Aber erst im Laufe der Jahre, in welchen ich über diese 
Materie nachzudenken Gelegenheit hatte, bin ich mir ganz klar dar¬ 
über geworden, wie das Wort Krüppel zu definieren ist. 

Krüppel ist keine Diagnose; es ist ein sozialer Begriff, welchem 
ohne weiteres das Aerztliche und das Wesen der Hilfsbedürftigkeit 
anhaftet. Das geht aus der Geschichte hervor und aus dem Gefühl, 
das man ohne weiteres hat, wenn man im Geiste das Wort Krüppel 
abwägt. 

Krüppel in unserem Sinne ist unter allen Umständen nur ein 
Krüppel, welcher heimbedürftig ist. Alle übrigen müssen wir hinaus 
lassen und das ist dringend notwendig, weil die ganze Bewegung der 
Krüppelfürsorge sonst uferlos wird. Sie ließe sonst ihre Fürsorge 
solchen Kindern angedeihen, die nach der sozialen Lage der Eltern 
dessen gar nicht bedürfen. Sie würde dadurch der öffentlichen Armen¬ 
pflege Lasten auferlegen, welche diese zu tragen weder nötig noch 
ein Interesse hat. Es sind auch Stimmen laut geworden unter den 
Orthopäden und Chirurgen, welche die Befürchtung erkennen ließen, 
die Krüppelfürsorge würde ihnen Kranke entziehen. Davon kann 
natürlich gar nicht die Rede sein. Erstlich soll das gar nicht ge¬ 
schehen und zweitens ist es auch darum schon unmöglich, weil die 
Zahl der Krüppel an sich so kolossal hoch ist, daß, solange wir 
leben werden, eine ausreichende Krüppelfürsorge gar nicht geschaffen 
werden kann. Im Gegenteil diejenigen, welche befürchten, daß die 
Krüppelfürsorge ihnen Material wegnimmt, sind uns zum größten 
Dank verpflichtet, denn, indem wir das Publikum und die Behörden 


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Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland. 


331 


darüber auf klären, in welch einem hohen Maße heutzutage Krüppel* 
gebrechen geheilt werden können, erschließen wir ja eine unendliche 
Fülle orthopädischer Krankheiten der Behandlung, welche ohne unsere 
Aufklärungsarbeit einfach unbehandelt bleiben würde. Ich erinnere 
allein an das ungeheuerliche in den Volksschulen steckende Material 
an Skoliotikern. Also es darf jeder versichert sein, daß wir KrUppel- 
fürsorgeleute alles andere wollen, als alle orthopädisch Kranken für 
uns einheimsen. Auf der anderen Seite aber liegt es im öffentlichen 
Interesse, daß die Folgen des Krüppelgebrechens für das Individuum 
Mrie für die Allgemeinheit auf das geringste mögliche Maß reduziert 
werden. Wie jede soziale Arbeit ist die Krüppelfürsorge der Dienst 
am Individuum, gesehen durch das Interesse der Allgemeinheit. Denn 
ihr letzter Zweck ist ebensosehr, die Person des Kranken von seinem 
unverschuldeten Leiden zu befreien, als der Allgemeinheit die Last 
abzunehmen, daß sie für ihn sorgen muß. Erwerbsfähig soll der 
Krüppel gemacht werden. Aus einem Unsozialen soll er ein Sozialer 
werden oder, wenn man das in die Form eines zwar übertriebenen, 
aber immerhin doch sofort einleuchtenden Schlagwortes kleiden will, 
er soll aus einem Almosenempfänger ein Steuerzahler werden. 

Dieses soziale Element muß gegen den Grad des Krüppel* 
gebrechens abgewogen werden, dann wird man zu einer rechten Ab¬ 
grenzung derjenigen Fälle kommen, welche der öffentlichen Heim¬ 
pflege bedürftig sind, und ich möchte daher den Begriff Krüppel 
folgendermaßen definieren: 

9,Eiii heimbedttrftiger Krüppel ist ein (infolge 
eines angeborenen oder erworbenenen Nerven- oder 
Knochen- und Gelenkleidens) in dem Gebrauch seines 
Kumpfes oder seiner Gliedmafien behinderter Kranker, 
bei welchem die Wechselwirkung zwischen dem Grad 
seines Gebrechens (einschliefilich sonstiger Krank¬ 
heiten und Fehler) und der Lebenshaltung seiner Um¬ 
gebung eine so ungünstige ist, daß die ihm ver¬ 
bliebenen geistigen und körperlichen Kräfte zur 
höchstmöglichen wirtschaftlichen 8elbstandigkeit 
nur in einer Anstalt entwickelt werden können, 
welche über die eigens für diesen Zweck notwendige 
Yielheitürzt lieh er und pädagogisch er Einwirkungen 
gleichzeitig verfügt.^ 

Darin ist auch zugleich die Definition eines Krüppelheims ein- 


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332 


K. Biesalski. 


geschlossen, und ich würde es dankbar begrüßen, wenn die Versamm¬ 
lung diese Begriffsbestimmung, welche der ganzen Statistik zu Grunde 
liegt, annehmen würde oder, falls sie ihr unannehmbar erscheint, 
jedenfalls durch irgend eine andere ersetzen würde. Denn wenn wir 
den Staat angehen wollen und die Gemeinden, damit sie uns in der 
praktischen Krüppelfürsorge unterstützen, so müssen wir ihnen wenig¬ 
stens sagen können, was wir denn überhaupt unter einem Krüppel 
verstehen. 

Zunächst ist er ein Kranker. Das würde ich raten, allem voran¬ 
zusetzen, denn es gibt heute so außerordentlich zahlreiche Möglich¬ 
keiten, das Krüppelgebrechen ganz oder teilweise zu beseitigen, daß 
nach meinem Dafürhalten eine Krüppelfürsorge als solche gar nicht 
bezeichnet werden kann, wenn sie nicht in ausgiebigstem Maße von 
dieser Möglichkeit Gebrauch macht. Nun kommt die Wechselwirkung 
zwischen sozialer Lage der Umgebung und dem Grade des Gebrechens. 
Da sollte man nun nicht engherzig sein. Dem Laien stellt sich bei 
dem Worte Krüppel und Krüppelheim im Untergründe seines Bewußt¬ 
seins so eine verschwommene Vorstellung ein von »hilflos am Wege 
sitzen, widerwärtiger Verunstaltung, Leierkastendrehen, Schaustel¬ 
lung“ u. s. w.; das sollte verschwinden. Wenn ein Kind aus einer 
Umgebung stammt, in welcher es im Schmutz verkommt, in welcher 
jede Behandlung aus Indolenz versäumt wird, wenn dieses selbe Kind 
schwerhörig ist, vielleicht etwas schwachsinnig, wenn es als unehe¬ 
liches in die Ehe mitgebrachtes Kind dem Stiefvater und der eigenen 
Mutter schließlich lästig wird, auf die Straße getrieben zum Erwerb 
in früher Jugend, so genügt es für meine Auffassung, wenn dieses 
Kind einen einseitigen noch nicht behandelten Klumpfuß hat, um es 
als ein der Aufnahme in ein Krüppelheim bedürftiges Kind zu be¬ 
zeichnen, denn hier kann es von seinem Leiden befreit werden und 
schon allein dadurch seine Erwerbsfähigkeit gesteigert werden, und 
hier kann es daneben und ohne Zeitverlust trotz seines Schwachsinns 
und seiner Schwerhörigkeit zu einem Grade der allgemeinen Schul¬ 
bildung gebracht werden, welchen es in seiner Umgebung niemals 
erreichen würde. Wissen ist Geld und Macht. Und wer hat den 
Vorteil davon? In erster Linie das Kind, in zweiter und ebenso 
intensiver Weise die Allgemeinheit. 

Ein anderes Beispiel: Ein Kind stammt aus zwar ärmlichen 
aber ordentlichen Verhältnissen, in denen es, falls es nicht krank ge¬ 
worden wäre, die Volksschule bis zu Ende besucht hätte und einem 


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Wesen und Verbreitung des KrDppeltums in Deutschland. 


333 


Handwerk zugeführt worden wäre. Jetzt hat es das Unglück, eine 
Hüftgelenkentzündung zu bekommen, zu deren Ausheilung es 4 bis 
5 Jahre lang in einem Krankenhaus bleiben muß. Wenn es nun 
geheilt ist, ist es erstlich mal durch die Versteifung seiner Hüfte 
weit weniger erwerbsfähig wie seine gesunden Altersgenossen, und 
dieses an sich unverschuldete Unglück wird in seiner Wirkung für 
das Kind dadurch erheblich gesteigert, daß das Kind ebenfalls un¬ 
verschuldet bei seiner Konfirmation außerdem noch um 4—5 Schul¬ 
klassen dümmer ist wie seine Altersgenossen. Hat das Kind dagegen 
seine Krankheit in einem Krüppelheim zugebracht, in welchem es 
während der Behandlung unterrichtet wurde, so. hat es zur Zeit der 
Konfirmation wenigstens dieselbe Schulbildung wie seine gesunden 
Altersgenossen, was bei einem kranken Körper naturgemäß noch 
viel mehr bedeutet wie bei einem gestmden. 

Ein drittes Beispiel: Ein Kind hat eine vollständige Lähmung 
des linken Beins und eine lähmungsartige Schwäche der linken Hand 
erlitten. Ueber den Versuchen, dieses auf innerem Wege oder durch 
chirurgische Maßnahmen zu heilen, sind mehrere Jahre ins Land ge¬ 
gangen, während deren das Kind ohne Schulunterricht geblieben ist. 
Jetzt ist der Knabe 12 Jahre alt, hat die Schulbildung eines 7jäh- 
rigen Kindes. Er muß unbedingt so weit gebracht werden, daß er 
mit dem 15. Lebensjahre konfirmiert wird und in eine Lehre ein- 
treten kann. Kommt er in ein Krüppelheim, so kann er Vormittags 
die Schule besuchen und seine Kenntnisse ergänzen, Nachmittags 
aber in der Schuhmacherwerkstatt beschäftigt werden, so daß er, 
wenn er nach der Konfirmation das Schuhmacherhandwerk erlernen 
will, nicht nur eine größere Schulbildung besitzt, sondern auch in 
dem Handwerk schon so viele Vorkenntnisse hat, daß er trotz seines 
Gebrechens zur selben Zeit die Gesellenprüfung zu bestehen vermag 
wie seine gesunden Altersgenossen. 

Solche Beispiele gibt es unzählige. Sie sagen demjenigen, welcher 
in der praktischen Krüppelfürsorge steht, gar nichts Neues; aber dem¬ 
jenigen, der doch noch nicht so recht weiß, worauf wir hinaus wollen, 
sollen sie zeigen, wo die Grenzen für die Begriffsbestimmung Krüppel 
zu ziehen sind und daß diese durchaus nicht mit der Krankheits¬ 
bezeichnung zusammenfallen, sondern daß wir nicht umhin können, 
das soziale Moment mit hineinzunehmen und daß jeder Fall für sich 
und aus seinen besonderen Verhältnissen heraus entschieden werden 
muß. Das wird, um es nur nebenbei zu bemerken, schematischer 


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334 


K. Biesalski. 


Bureaukratismus im allgemeinen sehr viel weniger gut vermögen als 
eine bewegliche, anpassungsßthige private Organisation. 

Hier möchte ich nur noch etwas anderes erwähnen, nämlich 
ein altes Leiden der Krüppelfürsorge, das darin besteht, daß die 
meisten Eltern es als etwas Kränkendes empfinden, einen Krüppel 
zu besitzen. Sie mögen ihr Kind nicht so bezeichnen lassen, am 
wenigsten öffentlich, und möchten es darum auch nicht in ein Krüppel-, 
heim geben. Hier liegt eine der Hauptschwierigkeiten, die Kinder 
in die Anstalten hineinzubekommen, und diese Schwierigkeit hat auch 
bei Aufstellung der Statistik sich in der unangenehmsten Weise be¬ 
merkbar gemacht, z. B. findet sich in den ganzen Zählkarten kaum 
ein einziges Kind der wohlhabenden oder gar reichen Kreise, nicht 
einmal der gebildeten. Aus diesem Grunde ist auch schon oft das 
Verlangen nach einem Ersatz des Wortes Krüppel laut geworden. 
Auch ich habe mich damit beschäftigt. :Da es mir nun fern lag, 
mir ein neues Wort aus dem Lateinischen oder Griechischen oder 
womöglich gar aus beiden zusammen zu bilden und ich selber ein 
geeignetes nicht fand, so habe ich mich an den Allgemeinen Deut¬ 
schen Sprachverein gewandt mit der Bitte, seine Mitglieder zur Be¬ 
schaffung eines solchen Wortes anzuregen, das aus dem Mittelhoch¬ 
deutschen oder aus einer noch lebenden Mundart entnommen werden 
könnte. Neben vielem gänzlich Unbrauchbaren ist da ein Wort vor¬ 
geschlagen worden, das ich hier mitteilen möchte, es heißt Hilf- 
ling. So ein neues deutsches Wort entbehrt manchmal nicht des 
Beigeschmacks des Komischen; man muß sich nur erst an Klang 
und Schriftbild desselben gewöhnen. Es ist richtig deutsch gebildet, 
und ebenso wie ein Lehrling jemand ist, der gelehrt wird, ist ein 
Hilfling jemand, dem geholfen werden muß. Es lassen sich außer¬ 
dem damit alle Zusammenstellungen bilden: Hilflingsheim, Hilflings- 
wesen, Hilflingsarzt u. s. w. Das wichtigste Merkmal, das in unserem 
Sinne dem Krüppel anhaftet, nämlich das der Hilfsbedürftigkeit, 
kommt darin ausgezeichnet zum Ausdruck. Es hat nur einen Mangel, 
daß es nämlich auch auf alle anderen Hilfsbedürftigen paßt, auf 
Taubstunune, Idioten ebensogut wie auf Krüppel. Schließlich wäre 
das ja aber kein Grund, es nicht doch zu nehmen, weil der Sprach¬ 
gebrauch ja häufig Begriffe allgemeiner Art auf Besonderes einengt. 

Es fragt sich nun, ob man im Ernst daran gehen soll, das Wort 
Krüppel dadurch zu ersetzen, denn gerade so gut wie man das Publikum 
daran gewöhnen müßte, unter dem Hilfling einen heimbedürftigen 


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Wesen und Verbreitung des KrÜppeltums in Deutschland. 


335 


Krüppel zu verstehen, könnte man es ja auch daran gewöhnen, das 
Wort Krüppel in einem weniger grausigen Sinne anzusehen. Ich 
will nicht direkt den Vorschlag machen, diesen Ersatz offiziell vor¬ 
zunehmen, wäre aber doch dankbar, wenn aus den Kreisen der prakti¬ 
schen Fürsorgeleute heraus nachher sich Aeußerungen darüber ver¬ 
nahmen ließen, ob das wohl zweckmäßig wäre. 

Meine Herren! Um die Ergebnisse der Statistik recht über¬ 
sichtlich darstellen zu können, habe ich Plakate anfertigen lassen^). 
Auf dem ersten sehen Sie die Verteilung der Krüppel überhaupt. Es 
sind gezählt 75183 Krüppel oder 1,48 auf 1000 Einwohner. Rosen¬ 
feld hatte aus früheren Statistiken 1,17 auf 1000 berechnet; der 
Durchschnitt ist also ungefähr der gleiche geblieben. Die rote Linie 
kennzeichnet den Reichsdurchschnitt. Den geringsten prozentualen 
Gehalt au Krüppeln hat Schaumburg-Lippe = 0,89, den höchsten 
Reuß ä. L. = 2,78. Berlin steht sehr günstig da mit 1,03. Preußen 
hat 1,35 oder insgesamt 50416. 

Die zweite Tabelle stellt das Verhältnis zwischen den heimbe¬ 
dürftigen Krüppeln und der Einwohnerzahl fest. Es gibt in Deutsch¬ 
land 42249 heimbedürftige Krüppel, d. h. fast die Hälfte, oder 0,83 
auf 1000 Einwohner. Hier ist die Reihenfolge eine andere wie auf 
der ersten Tabelle. Hier ist Berlin am günstigsten mit 0,49, Preußen 
am schlechtesten mit 1,65 auf 1000 Einwohner. Auffallend ist, daß 
alle sächsischen Staaten sich weit oberhalb des Reichsdurchschnitts 
befinden, Sachsen-Weimar, Provinz Sachsen, die thüringischen Staaten 
pnd Anhalt. Den günstigen Stand in Berlin erkläre ich mir erstlich 
mal daraus, daß naturgemäß in der Großstadt manche Krüppel nicht 
gezählt sind, dann aber auch daraus, daß die zahlreichen von der 
Bevölkerung leicht erreichbaren Krankenhäuser, Polikliniken und 
Schulen, namentlich auch das Vorhandensein von Schulen für Schwach¬ 
befähigte es ermöglicht, einen großen Teil des Krüppelelends ambu¬ 
lant zu beseitigen. 

Nun kommt die dritte Tabelle, welche die lieimbedürftigen auf 
die Zahl der gezählten Krüppel bezieht. Unter 1000 Krüppeln gibt 
es im Deutschen Reich 562 heimbedürftige, d. h. nur wenig mehr 
als die Hälfte, Diejenigen, welche befürchten, daß wir ihnen Ma¬ 
terial wegnehmen wollen, wollen hieraus ersehen, daß wir mit außer- 


*) Sie sind für den Druck durch die am Schluß des Textes abgedruckten 
Tabellen ersetzt. 


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336 


K. Biesalski, 


ordentlicher Strenge gesichtet haben, und daß wir im Gegensatz zu 
früheren Statistiken fast die Hälfte aller ErQppel ausgemerzt haben. 
Diese stellen sozusagen freigewordenes klinisches Material dar. 

Um nun einen Vergleichs weisen üeberblick darüber zu be¬ 
kommen, in welchem Maße in den einzelnen Gegenden für die 
Krüppel gesorgt ist, ist hier noch die Zahl der Aufnahmegesuche 
und Betten eingetragen, und zwar bezogen auf den dazu gehörigen 
schwarzen Strich, d. h. Promillesatz heimbedürftiger gegenüber der 
Krüppelzahl, also von den 562 heimbedürftigen in jedem Tausend 
Krüppel in Deutschland haben sich 127 zur Aufnahme gemeldet; es 
sind aber für die 562 nur 62 Betten vorhanden, d. h. noch nicht 
einmal der 10. Teil aller heimbedürftigen Krüppel kann aufge¬ 
nommen werden. 

18 Bundesstaaten und eine preußische Provinz, nämlich Posen, 
haben überhaupt keine Betten für Krüppel. Von diesen 18 Bundes¬ 
staaten gehen einige ab, weil die thüringischen Staaten sich zu einem 
Heim zusammengeschlossen haben, und unter den bettenlosen befinden 
sich diejenigen 5, welche die höchsten Relativzahlen Heimbedürftiger 
haben. Diese Zahlen schwanken enorm. In Reuß j. L. sind von 
1000 Krüppeln 300 heimbedürftig, in Schaumburg-Lippe 925; nimmt 
man die absoluten Zahlen, so stellt sich folgendes heraus: es gibt 
42000 heimbedürftige Krüppel, 9000 aufnahmewillige, und rund 
3000 Betten. 

Es wäre nun falsch zu sagen, folglich müssen für 39000 Kinder 
Betten geschaffen werden. Denn wenn man diese 39000 aufforderte, 
ihre Kinder in ein Heim zu bringen, so würde etwa diesem Ruf 
Folge leisten, das sind 13000. 3000 davon sind schon untergebracht. 
Es würde also nach meinem Dafürhalten genügen, wenn für die 
nächste Zeit die Einrichtung von 10000 Betten durch die Krüppel¬ 
fürsorge in Deutschland in Angriff genommen würde, um wenigstens 
der alleräußersten Not zu steuern. 

Sie werden erstaunt sein, daß ich der Versuchung,, mit den 
42 000 zu manipulieren, nicht erliege, wiewohl das als ein wirkungs¬ 
volles Agitationsmaterial erscheinen könnte. Das ist es nach meiner 
Ansicht aber nicht. Der Ausbau der Krüppelfürsorge bängt davon 
ab, daß man nicht Phantastisches fordert, sondern sich an das Er¬ 
reichbare hält. 39 000 Betten in kurzer Zeit zu schaffen, ist absolut 
ausgeschlossen. Man braucht sie auch nicht, denn die Leute kommen 
gar nicht. 


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Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland. 


337 


Daher erweist man der Krüppelfürsorge den größeren Gefallen, 
wenn man Zahlen in Vorschlag bringt, welche erstlich mal der Wirk¬ 
lichkeit entsprechen und über die die Gemeinden, der Staat und 
Private mit sich reden lassen werden. Sonst sagen diese nämlich, 
die Geschichte wird so teuer, daß wir es doch nicht leisten können, 
also wollen wir gar nicht erst anfangen. Je mehr die Krüppel¬ 
fürsorge dann populär wird, und je mehr das Publikum aufgeklärt 
wird, ein umso größerer Anteil von den noch fehlenden 29000 
werden sich nach und nach freiwillig einstellen, und zwar so all¬ 
mählich, daß ein gesunder Ausbau der Anstalten wird folgen können. 
Ich gebe den Herren anheim, sich auf Grund dieser Tabellen 
die Zahlen für ihre eigenen Landschaften auszurechnen; auf Einzel¬ 
heiten kann ich hier nicht weiter eingehen. 

Auf der vierten Tabelle habe ich die vier wichtigsten Krank¬ 
heiten dargestellt im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Blau ist hoch¬ 
gradige Verkrümmung der Wirbelsäule; Rot Knochen- und Gelenk¬ 
tuberkulose; Grün allgemeine Rhachitis, Zwergwuchs, hochgradige 
rhaehitische Verkrümmungen einzelner Glieder; Gelb Kinderlähmung 
und Lähmung aus anderen Ursachen. Es ist erstaunlich, in welch 
einem hohen Grade die einzelnen Krankheiten in den verschiedenen 
Landstrichen variieren. Der Reichsdurchschnitt weist auf: auf 
1000 Einwohner 0,15 Skoliosen, 0,19 Tuberkulose, 0,12 Rhachitis, 
0,2 Lähmung. Die Lähmung ist das schlimmste der Krüppel¬ 
gebrechen, absolut wie relativ. Den Höchstsatz erreicht Waldeck 
mit 0,46. Die höchste Zahl von Rhachitis ist in Lippe = 0,42; die 
höchste Zahl von Tuberkulose in Lippe = 0,42; die höchste Zahl 
von Skoliose in Waldeck und Königreich Sachsen = 3,2. Das letz¬ 
tere ist überhaupt am schlechtesten daran; alle vier Farben gehen 
in ihm zu einer beträchtlichen Höhe. Berlin ist nicht schlecht be¬ 
stellt, wie man ja auch nachgewiesen hat, daß der Berliner Durch¬ 
schnittsschüler an Körpergröße die Kinder des platten Landes über¬ 
ragt. Leider kann ich näher nicht hierauf eingehen, sondern werde 
erst in der endgültigen Veröffentlichung diese wichtigen und inter¬ 
essanten Fragen zu erörtern versuchen. 

Die beiden letzten Karten zeigen Ihnen die Summe der No- 
und H-Fälle, d. h. derjenigen Kinder, auf welche ärztlich und päda¬ 
gogisch eingewirkt werden kann, in absoluten Zahlen und geteilt 
nach vorschulpflichtigem und schulpflichtigem Alter. 

Hier sehen Sie in Karte 5 die hauptsächlichsten Landschaften, 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 22 


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338 


E. Biesalski. 


z. B. Rheinland hat 7103 schulpflichtige und 1872 vorschulpflichtige 
Kinder; in Preußen stecken im vorschulpflichtigen Alter 8695; in 
Deutschland 13202 Kinder, deren KrUppelgebrechen beeinflußbar ist; 
das sind Zahlen, welche bei einer Statistik doch nicht unter den 
Tisch fallen dürfen, und welche darauf hinweisen, wie wichtig die 
Prophylaxe des Krüppelgebrechens ist, d. h. der Ausbau von Be¬ 
ratungsstellen und Polikliniken, wie sie nachher Herr Dr. Rosen¬ 
feld schildern wird. 

Noch interessanter gestaltet sich die Frage, wenn man Plakat 6 
studiert, welches wieder die vier Krankheiten darstellt; der schwarze 
Horizontalstrich trennt die beiden Altersstufen. Sie sehen z. B., 
welch eine große Aufgabe das Königreich Sachsen hat, wenn es nur 
die vier Hauptkrankheiten im vorschulpflichtigen Alter beseitigen 
will. Ich erinnere daran, daß die Berliner Schulärzte alljährlich 
600 Kinder im 6. Lebensjahre wegen Skoliose in üeberwachung 
nehmen, und ich will aus dem Deutschen Reich nur noch zwei Zahlen 
nennen, nämlich ungefähr 1000 Kinder mit Knochentuberkulose und 
2^lt Tausend mit Lähmungen, welche im vorschulpflichtigen Alter 
stecken. . 

Jetzt will ich noch in aller Kürze ein paar andere Fragen 
streifen. Von 838 Kindern waren die Eltern blutsverwandt; ich 
verzichte hier auf eine Kritik dieser Zahlen. In 4 ®/o der Fälle litten 
Blutsverwandte an gleichen Gebrechen, in 3V2 ®/o an einem anderen. 
Nur 67 ® 0 der gezählten Krüppel waren schon vorbehandelt. Eben¬ 
falls ein Hinweis auf die Fülle von Gelegenheit zur Betätigung für 
die Orthopädie. 

504 neigten zu Böswilligkeit und Verbrechen. Es ist klar, 
daß diese Veranlagung am gründlichsten in der Zucht einer Anstalt 
wird bekämpft werden können. 90 ®|o aller Kinder waren geistig 
gesund. Ich glaube nach meinen Anstaltserfahrungen, daß dies zu 
hoch gegriffen ist, und daß doch manch ein Schwachsinniger von 
den Eltern als geistig gesund bezeichnet worden ist. 

10 ^/o der Schulpflichtigen haben noch keinen Unterricht er¬ 
halten. Diese 10 ^/o rekrutieren sich fast ausschließlich aus den 
Schwachsinnigen, denn auf 1000 gerechnet stehen 900 geistig ge¬ 
sunden Kindern 888 gegenüber, welche eine Vollschule besucht 
haben. Dagegen haben wieder auf 1000 gerechnet von 92 Schwach¬ 
sinnigen nur 13 eine Schule für Schwachbefähigte besucht. Daraus 
geht hervor, daß die Krüppelheime sich mehr wie bisher auf den 


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Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland. 


339 


Unterricht der Schwachbefähigten werden einrichten müssen, zumal 
ja diese Methodik zu außerordentlichen Erfolgen führt. Es gibt in 
Deutschland noch 5548 Kinder, welche verkrüppelt und schwach-» 
sinnig sind und von ihnen erhalten nur 820 den für sie notwendigen 
Unterricht. 

Meine Herren! Mit dem rein statistischen Wert sind die Zähl¬ 
karten nicht erledigt. Sie besitzen daneben noch eine große werbende 
Kraft, welche ihnen von Anfang an bewußtermaßen beigelegt ist. Es 
war von vornherein klar, daß die Statistik so, wie sie unternommen 
werden mußte, niemals den zuverlässigen Wert haben konnte, wie ihn 
z. B. die amtliche Volkszählung hat. Deshalb war es unser Bestreben 
von vornherein, die Zählkarten dazu zu verwenden, daß sie eine Be¬ 
lebung der praktischen Krüppelfürsorge herbeiführten. Aus diesem 
Grunde werden jetzt sämtliche Zählkarten in ihre Heimatländer 
zurückwandern, und zwar habe ich mich zu dem Zweck an den 
Herrn Minister in Preußen gewandt mit der Bitte, die Zählkarten 
den Herren Oberpräsidenten der Provinzen zuzustellen mit dem Er¬ 
suchen, in Fühlung mit den in der Provinz tätigen Vereinen, Per¬ 
sonen und Anstalten für Krüppelfürsorge dem Umfang des Krüppel¬ 
tums nachzugehen und auf seine Beseitigung Bedacht zu nehmen. 
Da der Herr Minister uns bisher mit seinem Wohlwollen in so weit¬ 
gehender Weise bedacht hat, so hege ich die Hoffnung, daß er dieser 
Bitte entsprechen wird. Damit wäre der Krüppelfürsorge ein außer¬ 
ordentlicher Dienst erwiesen, denn sie käme von selbst in Fühlung 
mit dem Staate und würde diese auch wohl nicht wieder verlieren. 
Auf der anderen Seite würde der Herr Minister Material gewinnen, 
um Entschlüsse darüber fassen zu können, in welcher Weise der 
Staat sich an der Krüppelfürsorge zu beteiligen hätte. 

In ähnlicher Weise werden wir an die Regierungen der übrigen 
Bundesstaaten die Bitte richten, von Amts wegen die Karten zu 
verteilen. Es wird Sache derjenigen Herren, welche sich mit der 
Krüppelfürsorge beschäftigen, sein, daß sie sich mit ihren Regie¬ 
rungen zu dem vorgedachten Zweck in Verbindung setzen. Die Ver¬ 
sendung wird in einigen Wochen geschehen. 

Auf alle Fälle ist nunmehr jede Landschaft ira Deutschen 
Reiche in der Lage, unanfechtbare Mindestzahlen zu bieten, welche 
ganz fraglos immer hinter der Wirklichkeit Zurückbleiben und so 
vor Uebertreibungen ohne weiteres schützen. Ein anderer Wert ist 
der, daß die Erfahrungen, die wir bei dieser ersten, wie wir ohne 


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340 


E. BiesaUki. 


Weiteres zugeben, unvollkommenen Statistik gesammelt haben, Uns 
dabei behilflich sein werden, in späterer Zeit einmal eine voll¬ 
kommene Statistik zu erheben. Und das letzte ist, daß die Statistik 
es zuwege gebracht hat, daß einmal im ganzen Deutschen Reiche 
in allen Amtsstuben von der Reichskanzlei bis zum Gemeindehaus 
im kleinsten Gebirgsdorfe das Wort Krüppelfürsorge erklungen ist, 
daß in Hunderttausenden von Familien einmal wenigstens das Be¬ 
wußtsein aufgedämmert ist, auch für diese Unglücklichen gibt es 
eine Hilfe, kurz, daß sie einmal und im großen Stil alles aufgerüttelt 
hat, was dazu beitragen kann, der praktischen Krüppelfürsorge neue 
Nahrung zuzuführen und sie in einem Maße zu entwickeln, welches 
den Bedürfnissen wenigstens nahekommt. 

Der Ausblick auf diesen Erfolg der Statistik hat mir den Mut 
erhalten, mich durch den ungeheuren Berg von Arbeit hindurch¬ 
zufressen, der aber, das darf ich versichern, kein Pfeffer kuchenberg 
war. Das andere, was mir die Freude an der Arbeit erhalten hat, 
war das Gefühl, für die ärztliche Tätigkeit ein neues großes soziales 
Gebiet zu beackern, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß, wenn 
auch das rein wissenschaftliche Moment in der ärztlichen Tätigkeit 
ein erhebendes und befreiendes ist, so doch die letzte Befriedigung 
und höchste Freudigkeit erst ausgelöst wird durch das rein mensch¬ 
liche Gefühl des Helfens, und wer an die Krüppelfürsorge herantritt 
mit dem Verlangen, Hilfe zu bringen, den einzelnen aus seiner Not 
zu reißen und der Allgemeinheit zu dienen, für den ist jeder neue 
Arbeitstag ein neuer Freudentag. 


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hauptsftchlichsten Staaten Pentschlands. 


Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland. 


341 


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342 


K. Biesalski. 


üebersicht Ober die Terteilnng der Tier wichtigrsten Kriippelgebrechen* 


I Auf 1000 Einwohner entfallen Krüppelkinder, leidend an 


Staat 


Deutsches Reich 
(ohne Bayern, Ba 
den, Hessen) 
Königr. Preußen 
Ostpreußen 
Westpreußen 
Berlin . . 

Brandenburg 
Pommern . 

Posen . . 
Schlesien 
Provinz Sachsen. 
Schleswig-Holstein 
Hannover . . . 

Westfalen . . . 
Hessen-Nassau 
Rheinland ... 
Hohenzollern . . 

Königr. Sachsen . 
Württemberg . . 

Mecklenb.-Schwerin 
Sachsen-Weimar. 
Mecklenb.-Strelitz 
Oldenburg ... 
Braunschweig 
Sachsen-Meiningen 
Sachsen-Alten bürg 
Sachsen-Kob.-Gotha 
Anhalt .... 
Schwarzb.- Sonders¬ 
hausen . . . 

Schwarzb.-Rudol- 
stadt .... 
Waldeck . . . 

Reuß ä. L. . . 

Reuß j. L. . . . 
Schaumb.-Lippe . 
Lippe .... 

Lübeck. 

Bremen .... 
Hamburg . . . 

Elsaß-Lothringen 


hochgradiger 
Verkrüm¬ 
mung der 
Wirbelsäule 


Knochen- und 
Gelenktuber¬ 
kulose 


allgemeiner 
Rhnchitis, 
rhachitischem 
Zwergwuchs 
und hochgra¬ 
diger Ver¬ 
krümmung 
einzelner 
Glieder 


I Kinderläh- 
I mung und 
Lähmung aus 
anderen 
Ursachen 



Ver- 

Abso¬ 

Ver¬ 

Abso- 1 

Ver- 

Abso¬ 

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0,08 

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0,15 

800 

0,15 

300 

0,21 

437 

0,15 


0,19 

686 

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563 

0.11 

394 

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0,14 

240 

0,19 

324:1 

0,08 

145 

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1 

0,13 

259 ' 

0,13 

2501' 

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225 

0,20 


0,23 

1157 

0,12 

611 

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0,12 

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0,29 

437 

0,08 

113 

0,29 


0,17 

472 

0,20 

547 

0,11 

313 

0,24 

1 

0,13 

460 

0,24 

867 

0,15 

537 

0,23 


0,14 

285 , 

0,26 

536 

0,16 

333 

0,22 


0,17 

1099 

0,25 

1 597; 

0,18 

1154 

0.29 

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5 

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' 0.21 


0.32 

1442 

0.35 

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1 

0,12 

280 

0,27 

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0,09 

218 

0,32 


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1 0.35 

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153 

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58 

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0,26 

54 

0,08 

16 0.28 


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49 

0,20 


0,29 

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0,31 

26 

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0.29 


0,25 

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0,17 

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0,12 

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1 

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0,11 

199 

1 0,23 


Abso- 

late 

Zahlen 

12 343 
8346 
497 
258 
300 

741 
333 
402 
934 
584 
435 
661 
839 
452 

1896 

14 

1867 

742 
219 

89 

14 
81 

155 

75 
57 
49 

129 

23 

23 

27 

15 
38 

5 

56 

40 

76 
299 
418 


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Wesen und Verbreitung des Krüppeltums in Deutschland. 


343 


Gegenüberstellung der Zahl der gezählten Krüppel, der Helmbedürftlgen, 
der Aufnahme Wünschenden und der vorhandenen Betten. 



o8 

Absolute Zahlen 


Staaten, 

geordnet nach der Verhältniszahl der 
Krüppel auf 1000 Einwohner 

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> 

Krüppel 

überhaupt 

Nach ärztl. 

Urteil heim- 

bedürftig 

Es haben 

Aufnahme in 

ein Heim 

gewünscht 

Vorhandene 

Betten 

Schaumburg-Lippe. 

0,89 

40 

37 

6 

_ 

Mecklenburg-Strelitz. 

1,00 

103 

82 

15 

— 

Westpreußen. 

1,01 

1 665 

1 185 

378 

40 

Berlin. 

1,03 

2 101 

1007 

342 

— 

Posen. 

1,07 

2 122 

1511 

560 

— 

Oldenburg. 

1,18 

517 

295 

56 

— 

Hohenzollem. 

1,19 

81 

44 

12 

— 

Ostpreußen. 

1,24 

2520 

1 710 

639 

300 

Schlesien. 

1,26 

6 241 

3 825 

1058 

110 

Pommern. 

1,27 

2145 

977 

305 

50 

Brandenburg . 

1,31 

4 616 

2 850 

953 

330 

Hessen-Nassau. 

1,33 

2 761 

1404 

288 

60 

Provinz Sachsen.^ . 

1,33 

3 957 

2 761 

542 

434 

Preußen. 

1,35 

50 416 

29 225 

6 712 

— 

Elsaß-Lothringen. 

1,40 

2 536 

968 

349 

— 

Sachsen-Weimar . .. 

1,40 

544 

335 

66 

— 

Hannover. 

1,42 

3 920 

2217 

347 

94 

Schleswig-Holstein. 

1,42 

2 141 

1 247 

148 

100 

Westfalen. 

1,43 

5 167 

3 025 

477 

180 

Schwarzburg-Rudolstadt. 

1,44 

139 

121 

19 

32 

Württemberg. 

1,44 

3 320 

1568 

389 

467 

Braunschweig. 

Deutsches Reich (ohne Bayern, Baden, 

1,48 

721 

374 

51 

10 

Hessen). 

1,48 

75 183 

42 249 

9 478 

2584 

Lübeck. 

1,62 

172 

69 

34 

— 

Sachsen-Altenburg. 

1.67 

345 

266 

42 

— 

Rheinland. 

1,71 

10 979 

5 462 

1016 

120 

Sachsen-Koburg-Gotha. 

1,79 

435 

277 

48 

— 

Keuß j. L. 

1,81 

261 

81 

15 

— 

Schwarzburg-Sondershausen .... 

1,90 

1 162 

96 

29 

50 

Mecklenburg-Schwerin. 

2,00 

1248 

825 

198 

45 

Sachsen-Meiningen. 

2,06 

554 

314 

86 

— 

Hamburg. 

2,10 

i 1834 

922 

53 

— 

Bremen. 

2,12 

558 

435 

152 

— 

Lippe . 

2,18 

317 

175 

26 

— 

Königreich Sachsen. 

2,19 

9 865 

5 115 

i 1018 

162 

Anhalt. 

2,30 ' 

754 

502 

72 

— 

Waldeck. 

2.47 

146 

93 

27 

— 

Reuß ä. L. 

2,78 

196 

75 

15 

1 



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XXIV. 


Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge'). 

Von 

Dr. Leonhard Rosenfeld, 

Spezialarzt für orthopädische Chirurgie in Nürnberg. 

Der Gedanke einer Fürsorge für körperlich Verkrüppelte 
ist verhältnismäßig jungen Datums, wir finden seine Anfänge 
erst zu einer Zeit, als für die mit Defekten der Sinnesorgane Be¬ 
hafteten, die Taubstummen, Blinden, schon ausgiebig gesorgt wurde. 

Zwar gab es schon zu Ende des 18. Jahrhunderts Bestrebungen, 
speziell bei geistlichen Körperschaften, in den sogenannten 
Rettungs- und Siechenhäusern auch Krüppel aufzunehmen, 
doch dachte man dabei nur an eine Versorgung im Sinne der 
allgemeinen Armenpflege. 

Eine Fürsorge, welche den körperlichen Defekt als solchen 
berücksichtigt, treffen wir zuerst in Deutschland in den 
Dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. 

Zwei Gesichtspunkte waren es, von denen aus an eine 
eigentliche Krüppelfürsorge herangetreten wurde, pädagogische 
Erwägungen auf der einen Seite, ärztliche Bestrebungen auf der 
anderen. 

Pädagogische Gründe veranlaßten den kgl, bayrischen Kon¬ 
servator J oh. Ne p. v. Kurz in München, im Jahre 1832 eine Er- 
ziehungs-, Unterrichts- und Bildungsanstalt für krüppel¬ 
hafte Knaben ins Leben zu rufen. „Zweck der Anstalt war, 
den unglücklichen Kindern einen entsprechenden Unterricht zu 
schaffen, weil sie die öffentliche Schule nicht besuchen konnten. 
Zugleich sollten die Krüppelkinder zur Erlernung eines ihren Fähig¬ 
keiten angepaßten Handwerkes angehalten werden, damit sie in der 


*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


345 


Folge sich selbst ernähren könnten“. Bereits nach 12jährigem Be¬ 
stehen des Institutes übernahm der bayrische Staat die Anstalt 
als „Königliches Erziehungs- und Unterrichtsinstitut 
für krüppelhafte Knaben“. 

Das Institut wuchs rasch: 1844 mit 10 Zöglingen eröffnet, 
siedelte es im Jahre 1856 mit 30 Zöglingen in ein eigenes Heim 
über. 1877 wurde ein allen Anforderungen entsprechender Neubau 
(Klenzestraße 54) bezogen, welcher für 100 Zöglinge Raum hot. 
Vom Jahre 1876 an wurden auch Mädchen aufgenommen. Zur Zeit 
erfährt die Anstalt einen den modernen Bestrebungen angepaßten 
Ausbau, An der Peripherie Münchens wird ein Neubau errichtet, 
der neben den pädagogischen Zielen den Heilzwecken besondere 
Rechnung trägt, in der Erkenntnis, daß vollwertige Erfolge nur 
dann zu erreichen sind, wenn die ärztliche Kunst der Schule die 
Wege ebnet. Diese neue „Zentralanstalt“ wird neben den Einrich¬ 
tungen für 200 Unterrichtszöglinge eine orthopädische Klinik von 
etwa 70 Betten enthalten. Die Klinik steht in enger Verbindung 
mit der orthopädischen Uniyersitätspoliklinik, so daß das gesamte 
Material auch den Zwecken des medizinischen Studiums zur Ver¬ 
fügung steht. Erreicht wird dies dadurch, daß für den ärztlichen 
Leiter beider Institute eine Professur für Orthopädie geschaffen 
wurde. 

Die gleichen pädagogischen Erwägungen führten den Pfarrer 
Gustav Werner in Württemberg dazu, bei der Gründung der 
„Gustav Wernerstiftung zum Bruderhaus in Reutlingen“ 
im Jahre 1840, die Krüppel in den Bereich seiner Tätigkeit zu 
ziehen. 

Diese Gustav Wernerstiftung dient in der Hauptsache 
allgemein humanitären Zwecken, besitzt aber eine eigene Abteilung 
für Gebrechliche und Krüppelhafte und gewährt diesen Erziehung, 
Unterricht und Unterweisung in häuslichen, landwirtschaftlichen und 
gewerblichen Arbeiten, eine dem Alter und den Kräften angemessene 
Beschäftigung und volle Verpflegung in gesunden und kranken Tagen. 

Gleichzeitig mit diesen humanitär-pädagogischen Gründungen 
entstanden in Süddeutschland auch die ersten von Aerzten gegrün¬ 
deten und der ärztlichen Behandlung Krüppelhafter gewidmeten 
öffentlichen Anstalten, die von Dr. A. H. Werner im Jahre 1841 
ins Leben gerufene „A. H. Wern ersehe Kinderheilanstalt in 
Ludwigsburg“ und die von Dr. Camerer und Dr. Heller im 


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346 


Leonhard Rosenfeld. 


Jahre 1845 in Stuttgart gegründete ,Armenanstalt für Ver¬ 
krümmte Paulinenhilfe“. 

A. H. Werner verfolgte, angeregt durch die Bedürfnisse seiner 
ärztlichen Tätigkeit, speziell als Hausarzt eines Rettungshauses, in 
erster Linie den Zweck, langwierig kranken, verkrümmten, halb¬ 
lahmen und kontrakten Kindern ärztliche Hilfe unentgeltlich in ent¬ 
sprechendem Maße zu teil werden zu lassen. Zu gleicher Zeit 
sollte aber statutengemäß die Anstalt auch für die Erziehung und 
Beschäftigung der Kranken Sorge tragen. Maßgebend für diese 
Bestimmung war der Gedanke, daß durch die langdauernden, oft 
Jahre in Anspruch nehmenden Kuren die Kinder dem Schulunterricht 
entzogen und dadurch sozial geschädigt würden. 

Das rasch wachsende Unternehmen gründete als Filialen im 
Jahre 1854 das Kinderbad Herrnhilfe in Wildbad, und im 
Jahre 18(31 das Kinderbad Bethesda in Jagstfeld. 1879 wurde 
im Anschlüsse an die Anstalt ein Asyl für krüppelhafte Mädchen 
über 14 Jahre errichtet, das Maria-Marthastift in Ludwigs¬ 
burg, 1892 ein solches für krüppelliafte Knaben von 14—18 Jahren, 
das Wilhelmsstift daselbst, endlich 1906 ein Asyl für krüppel¬ 
hafte Kinder unter 14 Jahren, das Charlottenstift. 

In der Kinderheilanstalt werden zur ärztlichen Behand¬ 
lung orthopädisch und chirurgisch kranke Knaben bis zu 15, 
Mädchen bis zu 17 Jahren aufgenommen, im Maria-Marthastift 
krüppelhafte Mädchen zum Zwecke des Schulunterrichts und der 
Unterweisung in weiblichen Handarbeiten; im Wilhelmsstift 
krüppelhafte Knaben behufs Ausbildung für ein Handwerk, im 
Charlottenstift verkrüppelte Kinder von 4—14 Jahren zur Pflege 
und Erziehung. In den beiden Kinderbädern soll den Pfleglingen 
der Gebrauch der Thermalbäder zu Wildbad und der Solbäder zu 
Jagstfeld ermöglicht werden. 

Auch die Gründung der Arraenheilanstalt Paulinenhilfe in 
Stuttgart war veranlaßt durch die tägliche Ueberzeugung, wie 
häufig Verkrüppelung bei unbemittelten Kindern aus Mangel ver¬ 
fügbarer Mittel bei den Beteiligten selbst, wie auch bei den Ge¬ 
meinden, ungeheilt bleiben müßte. Das mit 4 Betten ins Leben 
gerufene Institut wuchs rasch und erhielt im Jahre 1858 ein eigenes 
Heim mit 32 Plätzen. Anfangs der 80er Jahre wurde durch Me- 
diziiialrat Dr. Roth das bis dahin mehr als Pflegeanstalt betriebene 
Institut in eine Heilanstalt umgewandelt, 1899 wurde ein um- 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


347 


fangreicher Neubau bezogen. Die Anstalt verfügt zur Zeit über 
80 Betten und gewährt stationäre und ambulatorische Behandlung 
in weitestem Umfange. 

Mit der Gründung dieser Anstalten erlischt in Deutschland 
für lange Jahre das Interesse für Krüppelfürsorge vollständig, während 
im Auslande nach und nach ähnliche Bestrebungen sich 
geltend machen. 

So nehmen in Frankreich in den 40er und 50er Jahren des 
19. Jahrhunderts einzelne geistliche Körperschaften die Krüppel¬ 
fürsorge in ihren Asylen auf, zunächst im Rahmen der Versorgung, 
speziell die großen Anstalten der barmherzigen Brüder und Schwestern 
in Paris, Asile des jeunes gar 9 ons infirmes et pauvres, 
Paris, rue Lecourbe 223, dirigöe par les frferes de St. Jean de 
Dieu seit 1858; das Asile Mathilde, oeuvre de notre dame 
des septdouleursäNeuillysur Seine, avenueduroule 42, 
seit dem Jahre 1855 und die Asyle von John Boste in Laforce 
(Dordogne), begründet im Jahre 1845. Hierzu kommt seit 1905 
eine sozialistische Gründung, die Bezirkswerkstätten für verkrüppelte, 
verstümmelte oder schwächliche Arbeiter (Ateliers döpartemen- 
taux pour les ouvriers estropiös, mutilös ou infirmes 
in Montreuil sous bois, Rue Ars^ne-Chöreau 64, dann in 
Paris selbst Rue Planchat 13 und Rue Gompars 91). Ver¬ 
sorgung, aber auch nur Versorgung finden endlich auch Krtippel- 
hafte in den riesigen staatlichen Siechenhäusern der Salpetriöre 
und des Bicötre. 

Die Anstalt der barmherzigen Brüder in der Rue Le¬ 
courbe nimmt krüppelhafte Knaben von 5—12 Jahren auf und 
gibt diesen den Unterricht der Volksschule und gewerbliche Aus¬ 
bildung. Der gesamte Unterricht wird von Krüppeln geleitet und 
gegeben, welche als Lehrer staatlich geprüft sind. Eine ärztliche 
Behandlung wird den Insassen nicht zu teil, im Notfälle werden die 
Kinder zu chirurgischer Behandlung in ein dem Orden gehöriges 
Krankenhaus überwiesen, jedoch nur im Notfälle. Die Anstalt hat 
Raum für 300 Zöglinge. Ebensoviel Platz bietet das Asyl Mathilde 
der grauen Schwestern für krüppelhafte Mädchen zu Neuilly, 
Die Insassinnen dieses Institutes werden nur verpflegt, nicht unter¬ 
richtet oder behandelt, höchstens etwas zu weiblichen Handarbeiten 
oder zur Anfertigung künstlicher Blumen verwandt. In den Be¬ 
zirkswerkstätten werden körperlich Anormale, meist ungelernte 


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348 


Leonhard Rosenfeld. 


Arbeiter, in verschiedenen Zweigen wie Kokosmattenflechten, Buch¬ 
binderei, Lampenschirmfabrikation u. dergl. beschäftigt; jeder Ar¬ 
beiter erhält täglich 1 Frc. 25 Cent. Lohn und kann im übrigen tun, 
was er will. Das Ganze ist nur eine verkappte Wohltätigkeits¬ 
anstalt. 

In England entstanden, durchweg als humanitär-päda¬ 
gogische Gründungen privater Wohltätigkeit in den Jahren 1851, 
1862, 1865, 1870, 1874 und 1904 eine Reihe von Anstalten für 
Krüppel, welche rein erzieherischen Zwecken dienen, 5 davon sind 
in London, 2 in Irland (Bray bei Dublin und Belfast). Es sind 
dies das Cripples Home and industrial school for girls, 
London, Marylebone Road; das Cripples Nursery, 29 Park 
Koad, NW., das National Industrial Home for crippled 
boys, Woolstorpe House, W., eine Abteilung des National 
Association for the reclamation of destitute waif chil- 
dren Dr. Barnardos, das Dartmouth Home for crippled 
boys sämtlich in London und die „Cripples Homes“ in Bray 
und Belfast. 

Außer diesen Internaten besitzt England noch 16 sogenannte 
Tagesschulen für Krüppel. Die Zöglinge dieser Schulen werden 
täglich in einem Omnibus in der Stadt abgeholt und Abends wieder 
zurückgebracht. Mittags erhalten sie in der Schule ein einfaches 
Essen. Solche Schulen sind in London (10), Liverpool (2), 
Birmingham, Bristol, Leeds und Westhara. 

Eiuen gewaltigen Aufschwung in der Krüppelfürsorge bringen 
die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den Nordländern 
Europas, speziell in Dänemark. Ursache des Fortschrittes 
war die Erkenntnis, daß eine entsprechende und vollwertige 
Fürsorge nur durch Vereinigung der pädagogischen und ärzt¬ 
lichen Arbeit geleistet werden könne; wie die Tatsache, daß es in 
den Nordländern gelang, die breiten Massen der Bevölkerung 
für die Krüppelfürsorge zu gewinnen. Der Vater dieser Be¬ 
wegungwar der dänische Pfarrer Hans Knudsen in Kopenhagen, 
das ausführende Organ ein von ihm gegründeter Krüppelpflegeverein 
»Samfundet, som antager sig Vanföre und lemlaestede*. 

Dieser Verein eröffnete zunächst im Jahre 1872 eine Poli¬ 
klinik, welche den Krüppeln jegliche ärztliche und orthopädische 
Hilfe unentgeltlich gewährte; 1875 schloß er der Poliklinik eine 
Schule für Gelähmte und Verkrüppelte an. 1880 dehnte die An- 


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Rationelle Hilfe in der Erüppelfürsorge. 


349 


stalt auf Veranlassung der Regierung ihre Tätigkeit auf alle Alters¬ 
klassen aus. Es wurden sogenannte Arbeitsstuben errichtet, in 
welchen die ausgelemten Schüler Arbeit und Arbeitsmaterial er¬ 
hielten, während Verkauf und Absatz von der Anstaltsleitung be¬ 
sorgt wird, der ganze Reinverdienst gehört den arbeitenden Krüppeln. 
Schließlich wurde noch ein Internat geschaffen, welches auswär¬ 
tigen Krüppeln zu ständigem oder vorübergehendem Aufenthalt ein 
billiges Heim bietet. Zu diesen Einrichtungen gesellt sich noch ein 
Versorgungsheim »Hjemmet for Vanföre“, welches 150 
Pfleglinge aufnehnien kann. 

Zur Behandlung in der Poliklinik ist jeder bedürftige Krüppel 
unentgeltlich zugelassen. Die nötigen Reisen werden von der Re¬ 
gierung durch Eisenbahn- und Schiffsfreikarten ermöglicht. Nach 
erledigter ärztlicher Behandlung, eventuell in der acht stationäre 
Betten enthaltenden Klinik, erfolgt die Ausbildung in den Schul- 
und technischen Fächern. Der Schulunterricht umfaßt das Pensum 
der Volksschule inkl. Sloyd, die Handfertigkeitsausbildung eine große 
Reihe der verschiedensten Handwerke. In den Jahren 1872—1905 
sind 10479 Krüppel in den Anstalten versorgt worden. 

Diesem leuchtenden Vorbilde fehlte es natürlich nicht an 
Nachahmern. So entstanden alsbald in Schweden vier Anstalten, 
in Norwegen eine, in Finnland drei Anstalten, welche, wenn 
auch weniger umfangreich, doch recht ersprießliches leisten. 

Diese nordischen Anstalten gaben auch die Veranlassung, 
nach fünfzigjähriger Pause in Deutschland, speziell in Nord¬ 
deutschland das Interesse für Krüppel wieder aufleben zu 
lassen. 

Zunächst waren es geistliche Körperschaften, die evan¬ 
gelischen Provinzialvereine für innere Mission, welche in 
rascher Folge eine ganze Anzahl von größeren und kleineren 
Krüppelerziehungsanstalten ins Leben riefen. 

So wurde. 188G das »Krüppelheim“ des Oberlinhauses 
inNoWawes bei Potsdam eröffnet, 1889 das der Pfeifferschen 
Anstalten in Cracau bei Magdeburg, 1892 das Annastift 
in Hannover, 1896 das K i n d e r k r ü p p e 1 h a u s Bethesda 
in Niederlößnitz (Königreich Sachsen), und das Karolaheira 
in Dresden, 1897 das Krüppelheim in Angerburg in Ost¬ 
preußen und die „Westdeutsche Heil-, Bildungs- und Werk¬ 
stätte in Kreuznach, 1898 Alten-Eichen bei Altona, 1899 


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350 


Leonhard Rosenfeld. 


Anstalten in Rothenburg (Oberlausitz), Altcolciglow (Pommern) 
und Bischofswerder (Westpreußen), 1900 das Elisabethheim 
in Rostock und Bethesda in Marklissa (Schlesien), 1901 Heime 
in Blankenburg (Thüringen), 1902 in Zell im Wiesental (Baden) 
und in Stettin, 1903 in Treysa (Hessen-Nassau), 1904 in Vol¬ 
marstein, 1905 in Arnstadt in Thüringen. 

Auch die katholische Kirche hat eine Reihe von Anstalten 
ins Leben gerufen, die zum Teil umfangreich und allen modernen 
Anforderungen der Krüppelfürsorge entsprechend ausgebaut werden 
sollen. Hierher gehört vor allem die orthopädische Heilanstalt 
„Hüfferstiftung“ in Münster in Westfalen, die 1893 erfolgte 
Stiftung eines hochherzigen Privatmannes, ferner die 1904 resp. 1906 
in Bigge in Westfalen und 1905 in Aachen-Burtscheid er- 
öflfneten Heime. Im Nebenbetrieb widmen sich der Versorgung 
von Krüppeln die katholischen Anstalten in Herthen bei Lörrach 
(Baden), in ürsberg und Herxheim bei Landau (Bayern). 

Alle diese unter geistlicher Leitung stehenden Anstalten 
legten bis in die allerjüngste Zeit ihr Hauptaugenmerk auf die 
erziehlichen Probleme der Krüppelfürsorge. Sie gewährten 
ihren Zöglingen zunächst Unterricht, meist im Umfange des Lehr¬ 
planes der Volksschule und dann eine gewerbliche Ausbildung, 
welche die Krüppel so weit förderte,- daß sie zum größeren Teile 
sich selbständig ernähren konnten. Es haben alle diese „Krüppel¬ 
heime“ in dieser Hinsicht ganz Bedeutendes geleistet und sie 
dürfen das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, zuerst 
und in umfangreicherem Maße einem großen Bedürfnisse 
Rechnung getragen zu haben. 

Neue Bahnen weist nun für die Krüppelfürsorge der mäch¬ 
tige Aufschwung, welchen die orthopädische Chirurgie 
in den letzten zwei Jahrzehnten genommen hat. 

Die Entwicklung ihrer Wissenschaft, welche es sie ge¬ 
lehrt hat, die Krüppel zum größten Teil zu heilen, zum mindesten 
die Unheilbaren zu bessern, mußte die Kreise der Ortho¬ 
päden der Krüppelfürsorge zuführen. 

Als ich es unternahm, angeregt durch eine Arbeit des Christianiaer 
Orthopäden Natvig, welcher über die nordischen Einrichtungen 
berichtete, in den Jahren 1898 und 1899 die Kreise der Fach¬ 
genossen auf die Notwendigkeit einer ärztlichen Fürsorgebewegung 
für die Verkrüppelten hinzuweisen, da fielen meine schüchternen 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


351 


Anregungen auf einen wohl vorbereiteten, fruchtbaren Boden: Hoffa, 
Lange, Vulpius, Krukenberg, Gramer, Biesalski 
und Schanz nahmen das Problem in einer Reihe Ihnen wohl- 
bekannter Arbeiten auf, ich selbst habe mich bestrebt, die Kennt¬ 
nis der historischen Entwicklung der Krüppelfürsorge möglichst 
bekannt zu machen. Hoffa und Biesalski riefen dann im Verein 
mit Dietrich die Gruppe „Krüppelfürsorge“ des deutschen Zentral¬ 
vereins für Jugendfürsorge ins Leben, die zunächst daran ging, 
durch eine allgemeine deutsche Statistik der Krüppel feste 
Grundlagen für die Werke der Zukunft zu schaffen und deren 
Resultate wir heute vorgelegt bekommen haben. 

Aber auch praktische Früchte hat diese neue Bewegung 
gebracht. Im Jahre 1904 rief Sanitätsrat Dr. Köhler in Zwickau 
mit Hilfe eines Vereines zur Fürsorge bildungsfähiger Krüppel eine 
unter ärztlicher Leitung stehende Anstalt ins Leben, welche sich 
der Behandlung und Erziehung von Krüppelkindern widmet 
und 100 Krüppeln Aufnahme gewähren kann. 

Im März 1906 hat der Verein für Jugendfürsorge in 
Berlin unter Leitung Biesalskis eine Anstalt eröffnet, welche 
ebenfalls für vorläufig 100 Krüppel Platz hat. 

Diese jüngste aller Anstalten, welche als das direkte 
Produkt unserer Bestrebungen zu betrachten ist, verdient aus 
diesem Grunde eine etwas eingehendere Erwähnung, umso 
mehr, als sie in ihrer Organisation neue, der Nachahmung 
würdige Grundzüge zeigt. 

Sie umfaßt eine orthopädisch-chirurgische und eine päda¬ 
gogische Abteilung. Die orthopädische Abteilung und das Röntgen¬ 
zimmer ist mit allen modernen Einrichtungen ausgestattet, ebenso 
der mediko-mechanische Saal. An der Spitze der Anstalt steht 
der dirigierende Arzt. Der Pädagoge, ein im Unterricht Schwach¬ 
befähigter ausgebildeter Volksschullehrer, ist innerhalb seiner Tätig¬ 
keit unabhängig, untersteht aber organisatorisch dem Leiter der An¬ 
stalt. Auch die Schwesternschaft ist in einer von der herkömm¬ 
lichen abweichenden Art organisiert. Neben bester Ausbildung in 
der Pflege wird mindestens die Absolvierung einer höheren Töchter¬ 
schule verlangt, womöglich Lehrerinnenexamen. Die Oberschwester 
ist geprüfte Lehrerin und in sämtlichen Zweigen der Medizin gut 
ausgebildet, sie hat das Turnlehrerinnen- und Handarbeitsexamen 
gemacht, einige Jahre im In- und Auslände an Schulen unterrichtet 


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352 


Leonhard Rosenfeld. 


und viele Jahre an Kliniken verschiedenster Art gewirkt Sie hat 
keine Station, sondern ist für die Leitung des Betriebes in sämtlichen 
Abteilungen dem dirigierenden Arzte verantwortlich. Von den übrigen 
Schwestern ist eine geprüfte Lehrerin, sie gibt den Schulunterricht 
für die Kinder vom 9.—14. Jahre; zwei sind Kindergärtnerinnen 
I, Klasse mit Fröbelexamen; diese unterrichten die Kinder vom 
6.—9. Jahre und beschäftigen die noch nicht schulpflichtigen Kinder. 
Eine Schwester hat das Turnlehrerexamen gemacht; sie steht beim 
orthopädischen und allgemeinen Turnen dem Arzt zur Seite; eine 
andere das Examen für Hauswirtschaft und Handarbeit, ihr unter'* 
steht die Oekonomie, die Küche und der Unterricht im Schneidern 
und weiblichen Handarbeiten; eine Schwester ist in Röntgentechnik 
und Photographie ausgebildet; ihr untersteht das Röntgenzimmer. 
An geprüften Krankenpflegerinnen sind nur 2 vorhanden. 

Es ist somit gewährleistet, daß die Erziehenden die Kinder 
nicht nur in der Schule, sondern auch in den Freistunden und im 
Krankenbette beobachten; es werden auf diese Weise direkt Spezia* 
listinnen der Krüppelpflege herangebildet. 

Die neue Aera der Krüppelfürsorge macht sich auch im 
Auslande geltend. 

In der Schweiz, welche von 1894—1905 eine kleine Er¬ 
ziehungsanstalt für 12 weibliche Krüppel besaß, ist eine moderne 
Krüppelanstalt unter Schultheß' Leitung in Zürich im Entstehen 
begriffen. 

In Oesterreich rief schon 1897 ein eigens gegründeter Ver¬ 
ein das „Kaiserin Elisabethasyl für krüppelhafte Kinder* 
in Lanzendorf bei Wien ins Leben, welches der Leitung Professor 
Lorenz* untersteht; 1908 hat sich ein zweiter Verein, „Leopol- 
dinum* mit gleichen Zwecken in Wien gegründet; in Steiermark 
ein dritter auf Veranlassung Witteks in Graz, Beide sind rührig 
daran, Anstalten ins Leben zu rufen. 

Ungarn besitzt seit 1903 ein Heim für verkrüppelte Kinder 
in Budapest, welches Behandlung und Erziehung leistet, es kann 
zunächst 20 Kinder aufnelimen; Holland in Arnheim ein gleichen 
Zwecken dienendes „Krüppelheim“, ebenfalls für 20 Kinder, das 
von einem Geistlichen gegründet, unter der ärztlichen Leitung 
Dr. Kennsens steht. 

Italien verfügt ül)er eine ganze Reihe vorzüglicher öffent¬ 
licher orthopädischer Institute, in Turin, Mailand, Verona, 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


353 


Genua, Mantua, Bologna, Padua, Florenz, Rom, Neapel 
und Palermo. Es sind fast durchwegs rein ärztliche Heilanstalten, 
nur das bedeutendste, das unter Codivillas Leitung stehende 
Istituto ortopedico Bizzoli in Bologna leistet neben her¬ 
vorragenden ärztlichen Leistungen auch auf dem Gebiete der Er¬ 
ziehung Bedeutendes. 

Sehr gut entwickelt finden wir die Krüppelfürsorge 
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dort bestehen, 
soweit meine Erfahrungen gehen, 8 größere Anstalten. 5 davon 
sind private Unternehmungen: das Home of the merciful 
saviour for crippled children (gegründet 1882), das Widener 
memorial industrial training school for crippled children 
(gegründet 1903), das House of St. Michael and all angels 
for young coloured crippled (1887), alle drei in Philadelphia, 
ferner das Home for crippled children (1892) in Chicago 
und das Industrial school for crippled and deformed 
children (1894) in Boston. 

Drei sind staatliche Anstalten, welche auf Grund 
gesetzlicher Bestimmungen die Verpflichtung haben, 
jedes Krüppelkind zur Verpflegung, Behandlung und 
Erziehung aufzunehmen. Diese drei Institute sind das 
Minnesota State Hospital for crippled and deformed 
children (gegründet 1897) in St. Pauls, das New York State 
Hospital for the care of crippled and deformed children 
(gegründet 1900) in West-Haverstraw, Rockland County bei 
New York, und das „Children orthopedic Ward“ des Uni- 
versity Hospitals in Philadelphia, 


Es ist ein vielgestaltiges Bild, welches uns aus der 
Betrachtung der verschiedenen Anstalten entgegentritt. 

Hier rein humanitäre Gedanken, dort pädagogische, 
wieder bei anderen ärztliche Bestrebungen, in den verschie¬ 
densten Formen getrennt oder vereinigt. 

In Deutschland besitzen wir zur Zeit 32 Anstalten, welche 
jede auf ihre Weise den Zielen der Krüppelfürsorge gerecht zu 
werden sich bestrebt. 

Eine einzige, die Münchener kgl. bayrische Zentralanstalt 
für Erziehung krüppelhafter Kinder ist staatlich, alle anderen 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 23 


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354 


Leonhard Rosenfeld. 


sind Eigentum von Wohltätigkeitsvereinen oder geistlichen 
Körperschaften. 

Es ü b e r w i e g e n bei den meisten die pädagogisch-humanitären 
Bestrebungen, nur fünf dienen in erster Linie der ärztlichen 
Behandlung, zwei, Mü nch en und B erlin , dienen beiden Zielen in 
gleicher Weise. 

Immerhin haben gerade in den letzten Jahren auch die 
pädagogischen Anstalten erkannt, daß ihr Wirken unvoll¬ 
ständig bleibt, wenn sie nicht neben der Erziehung und Ver¬ 
sorgung der ärztlichen Behandlung breitesten Spielraum 
gewähren. Es soll gerade an dieser Stelle voll und ganz 
anerkannt werden, daß die Mehrzahl der Erziehungsinstitute 
sich nach Kräften bestreben, den ärztlichen und orthopädisch- 
< 5 hirurgischen Forderungen gerecht zu werden. 

Ziffernmäßig gestalten sich augenblicklich die Verhältnisse 
folgendermaßen: Von den 26 pädagogisch-humanitären An¬ 
stalten geben 12 eine nahezu oder vollständig entsprechende 
ärztliche Hilfe, das sind immerhin 44®/o; und zwarNowawes, Cracau, 
Hannover, Carolastiftung Dresden, Kreuznach, Stellingen, Rostock, 
Treysa, Volmarstein, Stettin, Arnstadt. Anderseits geben von den 
überwiegend ärztlichen Anstalten vier neben der Behandlung 
eine allen Anforderungen entsprechende Erziehung und gewerb¬ 
liche Ausbildung: München, Zwickau, Berlin und Ludwigsburg. 

Nennen wir die Anstalten, welche ärztliche Behandlung, Er¬ 
ziehung und gewerbliche Ausbildung bieten, also allen Ansprüchen 
gerecht werden, Vollanstalten, so haben wir deren insgesamt 
15 zu verzeichnen, das sind ca. 45®/o aller deutschen Krüppel¬ 
institute. 

Neben Erziehung, Behandlung und gewerblicher Ausbildung 
geben sieben von den Vollanstalten (München, Nowawes, Cracau, 
Hannover, Kreuznach, Treysa, Volmarstein) und vier von den übrigen 
ihren Zöglingen auch nach erfolgter Ausbildung eine Ver¬ 
sorgung. 

Eine Verbreiterung der ärztlichen Tätigkeit durch An¬ 
gliederung eines Ambulatoriums haben vier Anstalten in 
die Wege geleitet: München, Ludwigsburg, Paulinenhilfe in 
Stuttgart und Hüfferstiftung in Münster in Westfalen. 

Ebenso verschieden wie die Leistungen sind die Aufnahme¬ 
bedingungen der einzelnen Anstalten. Die Mehrzahl nimmt 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


355 


Kinder beiderlei Geschlechts und in jedem Alter auf, eine Ausnahme 
machen München, welches zur Erziehung erst vom 11. Jahre an 
aufnimmt, Hannover, Dresden und Rostock, welche Pfleglinge erst 
vom 6. Lebensjahre an annehmen, Obersontheira, Reichenberg 
und Bigge, welche solche erst vom 14. Jahre an zulassen. Nur 
Knaben nehmen an: Altcolciglow, Reichenberg und Bigge, nur Mäd¬ 
chen: Stettin und Obersontheim. 

Die Entlassung erfolgt in allen Anstalten nach erreichter 
Heilung oder Vollendung der Erziehung, eine Ausnahme bilden 
München und Aachen, welche die Zöglinge mit dem 14. Lebens¬ 
jahre entlassen. 

In allen Anstalten, welche Versorgungsabteilungen enthalten, 
können ungeheilte und nicht erziehbare Krüppel dauernd ver¬ 
bleiben. 

Im Aus lande liegen die Verhältnisse ähnlich. Allen An¬ 
forderungen entsprechen im allgemeinen nur die Einrichtungen in 
Dänemark und in drei nordamerikanischen Staaten, Minne¬ 
sota, Pennsylvania und NewYork. 

Dänemark besitzt in seiner Privatanstalt, welche allerdings 
vom Staate in ausgiebiger Weise finanziell unterstützt wird, Ein¬ 
richtungen, welche den Bedürfnissen des kleinen Landes in jeder 
Beziehung entsprechen und gerecht werden. 

Am besten ist die Frage der Krüppelfürsorge in den ge¬ 
nannten drei amerikanischen Staaten, Minnesota, Penn¬ 
sylvania und New York gelöst, indem in diesen eine gesetz¬ 
liche Regelung mit Verpflichtung des Staates für eine in jeder Hin¬ 
sicht entsprechende Krüppelfürsorge gegeben ist. 

Die betreffende »Bill“ des Staates Minnesota vom Jahre 1897 
lautet: 

»Die Leitung der Universität des Staates wird be¬ 
auftragt, Fürsorge und ärztliche Behandlung in einem 
oder mehreren Krankenhäuser n für jedes bedürftige 
krüppelhafte oder an einer Krankheit, welche zur Ver¬ 
krüppelung führen kann, leidende Kind, welches min¬ 
destens 1 Jahr lang im Staate wohnhaft ist, zu be¬ 
schaffen. Die Krankenhäuser dürfen nicht weiter als 
10 Meilen von der Staatsuniversität entfernt sein. Die 
kr tippelhaften Kinder haben ärztliche und orthopädisch- 
chirurgische Behandlung durch die Mitglieder des Medi- 


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Leonhard Rosenfeld. 


zinalkollegiums zu erhalten und diese Hilfe ist von seiten 
der Aerzte unentgeltlich zu leisten.“ Es folgen dann noch 
eingehende, von seiten der Regierung geregelte Bestimmungen über 
Aufnahme, Entlassung, Versorgung, Pflege, Behandlung und Er¬ 
ziehung unter Bewilligung der finanziellen Mittel. 

Die Aufwendungen des Staates für diese Zwecke betrugen 1905 
28000 Dollars jährlich; Minnesota besitzt 1^/2 Millionen Einwohner, 
dürfte also ca. 1500 Krüppelkinder zählen. 

Die gesetzlichen Bestimmungen in New York und Pennsyl¬ 
vania sind fast wörtlich die gleichen. 

Von den restierenden fünf amerikanischen Privatanstalten sind 
vier Vollanstalten, eine (Boston) ein reines Erziehungsinstitut. 

Die Anstalten Schwedens, Norwegens, Finnlands sind 
mit einer Ausnahme (Gothenburg) reine Krüppelschulen, ebenso 
alle englischen Institute. 

Oesterreich, Ungarn, Holland besitzen je eine kleine 
Vollanstalt, Italien mit Ausnahme von Bologna nur öffentliche 
orthopädische Heilanstalten, Frankreich lediglich Versorgungsanstalten 
mit erzieherischen Anfängen, 

Nirgends aber entsprechen die bestehenden Einrich¬ 
tungen dem vorhandenen Bedürfnis. 

Für deutsche Verhältnisse hat die Statistik Biesalskis 
diesen Beweis erbracht. 

Die preußischen Anstalten verfügen überl878 be¬ 
setzte Plätze, ihnen stehen 6622 Fälle gegenüber, 
welche um Aufnahme nachsuchen. Die bestehenden 
Anstalten decken also nur 28^/o des anscheinenden Be¬ 
dürfnisses. 

Die 32 deutschen Anstalten besitzen 2900 Plätze, 
Aufnahme wünschen 9608 Krüppelkinder, für 70 ®/o der¬ 
selben fehlen Einrichtungen. 

Die Bitte um Aufnahme in eine Anstalt entspricht 
aber durchaus nicht dem, was wir als Bedürfnis be¬ 
zeichnen müssen. Das beweisen die Zahlen der bayrischen 
Statistik. Von den 9763 schulpflichtigen Krüppelkindem Bayerns 
haben 1563 = 16®o um Aufnahme in die Anstalt nachgesucht. Die 
Durchsicht der Fragebögen durch den Leiter der Münchener Staats¬ 
anstalt, Inspektor Erhard, der in langjähriger Tätigkeit das Gebiet 
in umfassender Weise beherrscht, ergab nun, daß nach objektiven 


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Rationelle Hilfe in der Krüppel Fürsorge. 


357 


Erwägungen von den 9763 Kindern 3422 = 35®/o ärztlicher Behand¬ 
lung und 580 = 16®/o einer besonderen Erziehung bedürfen, daß also 
insgesamt 5002 = 51®/o einer entsprechenden Krüppelfürsorge zu¬ 
geführt werden müßten! Die gleichen Prozentsätze ergibt für das 
übrige Deutschland die Statistik Biesalskis, so daß also für 
etwa 50000 Krüppelkinder in Deutschland Fürsorge¬ 
einrichtungen geschaffen werden müssen. 

Ein fühlbarer Mangel für die Möglichkeit der Durchführung 
einer exakten Krüppelfürsorge ist bei uns in Deutschland das gänz¬ 
liche Fehlen gesetzlicher Bestimmungen. 

Es ist keine Frage, daß dem Krüppel ebenso wie anderen 
Anormalen (Blinden, Taubstummen) ein Recht auf Ver¬ 
sorgung und Ausbildung zusteht. Dieses gesetzliche Recht 
muß für den Krüppel errungen werden. Landesversicherungs¬ 
rat Hansen in Kiel hat für Preußen vorgeschlagen, nachfolgende 
Ergänzung zum Absatz 1 des § 31 des preußischen Gesetzes vom 
11. Juli 1891 eintreten zu lassen: 

„Eine gleiche Verpflichtung (wie bei Blinden und 
Taubstummen) besteht gegenüber körperlich verkrüp¬ 
pelten Personen.“ 

Damit wäre allerdings die ganze Frage gelöst, 
eine Schwierigkeit bestünde nur in der Definition des 
IVortes: „Krüppel“. Ich glaube, die von Biesalski gegebene 
Definition, welche speziell dem sozialen Begriffe Rechnung trägt, 
wird auch juristischen Zwecken genügen. 

Die dritte Konferenz deutscher Krüppelanstalten vom Jahre 
1907 hat eine diesbezügliche Eingabe um Verleihung des Rechtes 
auf Hilfe auch für den Krüppel an alle deutschen Staatsregierungen 
gesandt, es wird an uns sein, diese Bestrebungen nach Kräften zu 
unterstützen und zu föderrn. 

Es fragt sich nun, worin besteht das Recht des Krüp¬ 
pels auf Hilfe. 

Die Forderungen ergeben sich an der Hand der gewonnenen 
Erfahrungen. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 

1. Ausgiebige ärztliche und orthopädische Behand¬ 
lung in eigenen Anstalten. 

2. Erziehung in diesen Instituten bis zu den Zielen 
der allgemeinen Volksschule. 

3. Ausbildung in gewerblichen Tätigkeiten, welche 


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Leonhard Rosenfeld. 


der Art der Verkrüppelung entsprechen und dem Krüppel 
für das künftige Leben ausreichenden Unterhalt gewähren. 

4. Versorgung der unheilbaren Krüppel und derjenigen, 
welche auch durch ausgiebige Fürsorge nicht zur Selb¬ 
ständigkeit herangebildet werden können. 

5. Verhütung des Krüppeltumes. 

Die Notwendigkeit ausgiebiger orthopädischer unent¬ 
geltlicher Behandlung ergibt sich einwandsfrei aus der Statistik 
des deutschen Zentralvereins für Jugendfürsorge. Rund 35 000 Krüppel¬ 
kinder entbehren einer solchen! 

Nun besitzen wir ja in Deutschland eine große Reihe vor¬ 
züglicher orthopädischer Privatheilanstalten, aber nur drei 
öffentliche Institute: die chirurgisch-orthopädischen üni- 
versitätspolikliniken in Berlin, München und Leipzig, und 
diese nur als Polikliniken für ambulante Behandlung. 

Alles was sonst vorhanden ist, sind Anhängsel chirurgi¬ 
scher Kliniken, städtischer Krankenhäuser, in welchen zum 
größeren Teile vieles fehlt, was eine orthopädische Anstalt neben 
dem rein chirurgischen Apparat unbedingt haben muß, so nament¬ 
lich Turnsäle, medico-mechanische Einrichtung und vor allem 
mechanische Werkstätten zur Anfertigung orthopädischer 
Apparate. 

Aerztliche Kunst wird bei entsprechend umfangreichen Ein¬ 
richtungen einen großen Teil der Unglücklichen heilen, einen anderen 
bessern; aber damit allein ist dem Krüppel noch lange nicht 
geholfen. 

Die orthopädischen Kuren erfordern viele Zeit, oft 
Monate und Jahre. Während dieser ganzen Zeit ist der Krüppel 
dem Unterricht entzogen. Eine weitere, nicht geringe Anzahl von 
Krüppeln ist überhaupt nicht, auch nicht mit Ausstattung aller 
Hilfsmittel, in der Lage, die öffentliche allgemeine Schule zu be¬ 
suchen, weil ein behindertes Fortbewegungsvermögen den 
Schulweg nicht bewältigen kann. Ich denke hier speziell an die 
Verhältnisse auf dem Lande, wo oft stundenlange Entfernungen 
zurückzulegen sind. Wieder andere, namentlich Einarmige und an 
den Händen Verkrüppelte bedürfen besonderer Einrichtungen 
und eigener Lehrmethoden, welche die allgemeine Schule nicht leisten 
kann. Manche schwächlichen und elenden Krüppel müssen 
vom Unterricht der öflbntlichen Schule aus ärztlichen Gründen 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


359 


auch dann zurückgehalten werden, wenn der Besuch an und für 
sich auch praktisch möglich wäre. 

Aus all diesen Gründen bedarf der Krüppel außer der ärzt¬ 
lichen Behandlung auch einer besonderen Erziehung, d, h. die 
Gewährung eines Unterrichts in der Krüppelheilanstalt. 
Der Unterricht kann zunächst dem der Volksschule entsprechen, 
um dem Krüppel das zu leisten, was die öffentliche Schule dem ge* 
Sunden Kinde bietet. 

Hat das Krüppelkind so seine Erziehung durch Elementar¬ 
unterricht erhalten, ein Ziel, das die Mehrzahl bei ihren meist 
guten, ja hervorragenden geistigen Fähigkeiten unschwer erreicht, 
so ist es gegenüber einem in gleicher Weise ausgebildeten ge¬ 
sunden Kinde für die weitere Entwicklung seines Lebens¬ 
ganges vom sozialen Standpunkt aus noch immer minder¬ 
wertig. — Der Arbeitsmarkt greift in erster Linie immer nach 
den kräftigsten und körperlich leistungsfähigsten Elementen 
oder aber er bezahlt minderwertige Konkurrenten nicht voll¬ 
wertig. Es muß also der Krüppel, um im Leben mit dem Ge¬ 
sunden konkurrieren zu können, für den Entgang an körper¬ 
licher Leistungsfähigkeit Aequivalente mitbringen, welche 
ihn im Kampfe um die Existenz nicht unterliegen lassen, mit 
anderen Worten, er muß besser ausgebildet sein, als der 
gleichaltrige gesunde Mensch. 

Dieses wird erreicht, wenn dem Krüppel schon frühzeitig neben 
dem Elementarunterricht eine technische Ausbildung gegeben 
wird, welche seinen Eigenschaften Rechnung trägt. 

Trotz aller Mühe und Sorgfalt wird ein Teil der Krüppel 
nicht zu vollwertigen Arbeitern herangebildet werden können, 
-ein kleiner Teil, die ganz schwer Verkrüppelten, werden 
nur wenig oder gar nichts lernen, womit sie ihr Leben fristen 
könnten. Für diese Unheilbaren brauchen wir eine Versorgung 
für die ganze Dauer ihres Lebens. Zum Glück sind es nicht 
allzu viele. — 

Die große Anzahl der Krüppel läßt noch einen weiter¬ 
gehenden Wunsch rege werden, das ist die Verhütung des 
Krüppeltums. Die Prophylaxe ist auf allen Gebieten einer 
der wichtigsten Faktoren unserer Leistungen. 

Gerade durch die allgemeine Errichtung von Krüppelanstalfcen 
wird der Verhütung des Krüppeltums am besten Rechnung ge- 


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Leonhard Rosenfeld. 


tragen, durch Verbreiterung der Tätigkeit des Orthopäden in 
der Anstalt, durch Angliederung von Ambulatorien an die 
klinischen Einrichtungen, durch Errichtung orthopädischer 
Beratungsstellen in oder neben den Krüppelheimen, durch Bei¬ 
ziehung von Einrichtungen, welche der Allgemeinbehandlung 
Rechnung tragen, wie Erholungsstätten, Landkolonien, Höhen¬ 
luft-, Sol- und Seebäderabteilungen u. dergl. 

Die Organisation der KrüppelfOrsorge ist zum größten 
Teil in den Vorbildern bestehender Anstalten gegeben. 

Die Krüppelanstalt muß aus einer orthopädischen Klinik 
und einem Erziehungsinstitut bestehen. Beide sollen einander 
koordiniert sein und Hand in Hand miteinander arbeiten. An der 
Spitze der Klinik steht der Arzt, die Führung der Erziehungsanstalt 
untersteht dem Pädagogen. Die Leitung des Ganzen soll in der Hand 
eines Direktors liegen, der am besten mit dem ärztlichen Vorstande 
der Klinik identisch ist. 

Diese Forderung entspricht nicht allenthalben den bestehen¬ 
den Verhältnissen. Das Direktorium der Krüppelanstalt kann ebenso¬ 
gut in den Händen eines Verwaltungsbeamten, einer juristischen 
Persönlichkeit liegen. Auf alle Fälle muß das entscheidende Wort 
in der Anstalt dem Arzte zukommen. 

Von unseren 32 deutschen Anstalten bildet München als 
Staatsanstalt einen Typ für sich, hier ist die Oberleitung selbst¬ 
verständlich; sie liegt bei der Regierung, die Münchener Anstalt 
untersteht direkt dem bayrischen Ministerium für Kirchen- und 
Schulangelegenheiten. 

Von den übrigen 31 Anstalten sind 27 von Nichtärzteu 
gegründet, zumeist von geistlichen Körperschaften, hier liegt nach 
der historischen Entwicklung die Oberleitung in den Händen 
der Gründer. Daß in praxi bislang in all diesen Anstalten ein 
so gutes Verhältnis zwischen Arzt und Leitung herrschte, 
beweist nur die Weitsichtigkeit beider Teile. 

Theoretisch aber müssen wir verlangen, daß der Arzt auf 
den Gang der Anstalt entscheidenden Einfluß hat. Der Krüppel 
ist ein Kranker, in dessen Eigentümlichkeit die Not¬ 
wendigkeit einer Erziehung liegt, während für den Erfolg 
der Fürsorgebestrebung die ärztliche Tätigkeit aus¬ 
schlaggebend sein wird. Den Beweis hat Bade erbracht, 
der bei der Untersuchung der Insassen bestehender Krüppelheime 


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Rationelle Hilfe in der KrQppelfursorge. 


361 


fand, daß 76^/o das Interesse der Heilung bestehender Er¬ 
krankung, nur 16^0 das Bedürfnis nach Unterricht allein 
in die Anstalt geführt hat. 

Die Klinik der Krüppelanstalt muß mit allen Ein¬ 
richtungen eines modernen orthopädisch-chirurgischen 
Institutes ausgerüstet sein, als da sind: Operations- und Verband¬ 
räume, Röntgeneinrichtung, Apparate für medico-mechanische Be¬ 
handlung, Gymnastik, Massage, elektrische und hydropathische Ein¬ 
wirkungen, Turnhallen und Werkstätten zur Anfertigung der 
orthopädischen Apparate. 

Der Klinik muß ein Ambnlatoriam angegliedert werden. 
Diese Forderung ist praktisch von großer Wichtigkeit. 
Es gibt eine ganze Reihe orthopädisch-chirurgischer Ma߬ 
nahmen, welche mit kurzer und vorübergehender Bettbehand¬ 
lung durchgeführt werden können. Auf der anderen Seite gibt 
es nicht wenige Formen der Verkrüppelung, welche auch ohne klini¬ 
schen Aufenthalt ärztlich behandelt werden können. 

Da die klinischen Einrichtungen zur Behandlung in jeder 
Anstalt an und für sich vorhanden sein müssen, macht die 
Finanzierung des ambulanten, poliklinischen Betriebes neben der 
Klinik keine erheblichen Kosten. Dagegen gestattet das 
Ambulatorium die Ansdehnnng der Behandlung auch auf die¬ 
jenigen Krüppel, welche eine Aufnahme in das Internat nicht un¬ 
bedingt erfordern oder deren Aufnahme aus äußeren Gründen 
nicht erfolgen kann. 

Zweckmäßig erscheint auch der Gedanke, orthopädische Be¬ 
ratungsstellen nach dem Vorbild der für Tuberkulöse allent¬ 
halben geschaffenen Einrichtungen ins Leben zu rufen. Diesen 
Beratungsstellen käme eine doppelte Aufgabe zu: 1. Eine früh¬ 
zeitige Diagnose zu stellen, die Unglücklichen frühzeitig 
der Behandlung zuzuführen und damit der Prophylaxe des 
Krüppeltums in weitestem Maße zu dienen und 2. unter den Be¬ 
werbern die geeignete Auswahl zu treffen und die dringend 
der Hilfe Bedürftigen vor den weniger eiligen Fällen dem Krüppel¬ 
institut zuzuweisen. 

Diese Beratungsstellen können unabhängig von den 
Krüppelanstalten z. B. in großen, leicht erreichbaren Verkelirs- 
zentren angelegt werden. Zweckmäßiger erscheint mir die 
direkte Vereinigung derselben mit den Ambulatorien der Krüppel* 


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Leonhard Rosenfeld. 


anstalten. Die Zentralisierung hat den Vorzug des vereinfachten 
geschäftlichen Verkehres. Wenn erst Verhandlungen über die 
Möglichkeit der Einweisung geführt werden müssen, wenn nicht 
eine Hand entscheidet, so gibt es praktisch meist Schwierig¬ 
keiten und Verschleppungen. Auch in der Krüppelfürsorge 
gilt die alte Weisheit: Bis dat, qui cito dat. 

Ein nicht geringer Prozentsatz des Krüppeltums, 25®o, also 
ein Viertel aller Fälle, resultiert aus den Folgen der chirurgi¬ 
schen Tuberkulose und der Rhachitis (Tuberkulose 10 ‘^/o, Rhachitis 
15». 

Wir besitzen neben der rein chirurgisch-orthopädischen Be¬ 
handlung dieser Krankheiten eine Reihe äußerst wichtiger, all¬ 
gemeiner Heilfaktoren, welche in den Rahmen der Krüppel¬ 
fürsorge einbezogen werden müssen, wollen wir nicht von 
vornherein auf wesentliche Momente der Behandlung ver¬ 
zichten. 

Hierher gehört für die chirurgische Tuberkulose die Freiluft-, 
Höhenklima- und Sonnenlichtbehandlung, der Aufent¬ 
halt auf und an der See. 

Aus einer Reihe von statistischen Arbeiten über chirurgische 
Tuberkulose von Newton, Sh affe r, Vulpius, Dollinger 
und König berechnet sich der Prozentsatz der Heilung der chirurgi¬ 
schen Tuberkulose auf 63®/o. Die Erfolge Rolliers in Levsin, 
der mit Freiluftbehandlung und Insolation arbeitet, die Erfahrungen 
Schlichthorsts in Norderney ergeben 81 ®/o Heilungen. Es 
lassen sich also unter Zuhilfenahme der allgemein hei¬ 
lenden Faktoren neben der bisherigen orthopädisch¬ 
chirurgischen Behandlung weitere 30®/o, also beinahe 
ein Drittel der Knochen- und Gelenktuberkulosen der 
Heilung zuführen. Zu der Erhöhung des Prozentsatzes 
der Heilung kommt außerdem noch eine wesentliche Verkürzung 
der Behandlungsdauer. 

Der günstige Einfluß von Sol- und Seebädern bei Rhachitis, 
die Erfolge der Land kolonien und Stahlbäder bei allgemeiner 
konstitutioneller Anämie und bei Osteomyelitis, der Thermal¬ 
quellen bei chronischer Arthritis sind allgemein bekannt und 
Gemeingut der Erfahrungen aller Aerzte. 

Es empfiehlt sich deshalb überall da, wo klimatische 
und oro-hydrologische Verhältnisse es nahe legen und er- 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


363 


möglichen, den Krüppelanstalten Sonderabteilungen und 
Filialen für Höhenluft- und Heliotherapie, für Sol- und 
Seebäder, für Stahl- und Thermalquellenbehandlung, Land¬ 
kolonien und Walderholungsstätten anzugliedern. 

Derartige Institutionen sind bei einzelnen Krüppelanstalten 
schon seit Jahren in Betrieb, bei der Ludwigsburger Kinder¬ 
heilanstalt je eine Filiale im Solbad Jagstfeld und in der 
Thermalquelle Wildbad, in Kreuznach eine Landkolonie, an 
je einem englischen und amerikanischen Krüppelheim ein 
Seasidehome, eine Seebadfiliale, in Kopenhagen ein Wald¬ 
erholungsheim. Sie alle haben ziffernmäßig festgelegten, ganz 
bedeutenden Nutzen gebracht. 

Noch mehr als für die therapeutischen Erfolge bedeuten der¬ 
artige Sondereinrichtungen für die Verhütung des Krüppeltums. 

Die pädagogischen Forderungen ergeben sich, weit mehr 
als die ärztlichen, aus den Einrichtungen der bestehenden An¬ 
stalten, welche ja in dieser Beziehung auf langjährige, über 70 Jahre 
umfassende Erfahrungen zurückblicken. 

Der Lehrplan des Elementarunterrichts ist gegeben in 
dem Rahmen des Pensums der allgemeinen Volksschule. 

Die Ziele dieses Unterrichts werden von den Krüppeln im 
allgemeinen leicht erreicht. Eine Einteilung in kleine Klassen 
empfiehlt sich, um dem Lehrer die Möglichkeit zu geben, zu indi¬ 
vidualisieren. Klassen von 20—30 Schülern sollen die Regel 
bilden. 

Der Lehrplan des gewerblichen Unterrichts da¬ 
gegen muß eine ganze Reihe verschiedener Fächer um¬ 
fassen, um den Bedürfnissen des einzelnen Krüppelschülers in 
jeder Beziehung Rechnung tragen zu können. Es dürfen auch 
nur solche Handwerke gelehrt werden, welche späterhin 
dem Krüppel ein ausreichendes Einkommen gewährleisten. 

Derartige Gewerbe sind für Knaben die Ausbildung zu 
Schreibern, landwirtschaftliche Arbeiten, Schneiderei, 
Schreinerei, Buchbinderei, Schuhmacherei und Schlosserei, 
eventuell für die körperlich Mindestbefähigten Bürstenbinden, 
Korb fl echten und Weben. Für Mädchen empfehlen sich: 
Hausarbeit, alle weiblichen Handarbeiten, Nähen, Sticken, 
Stricken, Kleidermachen, Putzmacherei und die Anferti¬ 
gung künstlicher Blumen. 


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Leonhard Rosenfeld. 


lieber die Wahl des Berufes entscheiden die körperlichen 
und geistigen Fähigkeiten des Krüppels. 

Besonders zu betonen ist die Wichtigkeit landwirtschaft¬ 
licher Beschäftigung für den Krüppel. Dieser ist an und für sich 
körperlich meist für diesen Beruf geeignet; da er nun nicht selten 
anämisch oder tuberkulös ist, so erhält er durch Wald- und Feldarbeit 
einen Heilfaktor in dem ausgiebigen Genüsse frischer Luft, der für 
ihn ganz besonders wichtig ist. 

Die Tagesordnung der Krüppelschule muß so gewählt 
w^erden, daß sie ebenfalls der Verkrüppelung Rechnung trägt. 

Es muß zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, 
zwischen Elementar- und technischen Fächern ständig ge¬ 
wechselt werden. Großes Gewicht ist auf körperliche Uebungen, 
speziell in Form des Turnens zu legen. Als Mindestmaß des 
Turnunterrichts ist eine Stunde täglich anzusetzen, ein Mehr 
wird nur förderlich sein. Zu dem Turnen haben sich Arbeiten im 
Garten oder Feld, Spiele und Spaziergänge zu gesellen, welche 
auch im Winter im Freien durchzuführen sind. 

Eine wichtige Frage für die Krüppelschule ist die Auswahl 
des Lehrermaterials. Es genügt nicht jeder Lehrer, zum min¬ 
desten muß er über außergewöhnliche Herzens- und Gemütsbildung 
verfügen. Dringend anzustreben ist eine Vorbildung in der Heil¬ 
pädagogik, ein Durchgang durch Schulen für Schwachsinnige und 
geistig Defekte. 

Für den technischen Unterricht genügt ebenfalls nicht jeder 
beliebige Handwerker, auch hierfür sind pädagogisch geschulte 
und vorgebildete Kräfte notwendig. Ein gangbarer, zum Teil 
mit Glück betretener Weg ist, die technischen Lehrer aus 
dem Materiale der Krüppelzöglinge selbst heranzubilden. 
Der selbst Krüppelhafte kann sich leichter in die Bedürfnisse des 
Leidenskollegen hineindenken, als dies dem Gesunden möglich ist. 

Die Krüppelerziehungsanstalt soll nicht nur ein Internat sein, 
sondern auch von Außenstehenden, nicht in der Anstalt Befind¬ 
lichen, als externen Schülern besucht werden können. 

Für uns in Deutschland ist dies ein Novnm, in den Nord¬ 
ländern, speziell in Schweden und Finnland, ist diese Einrich¬ 
tung schon seit Jahren mit bestem Erfolg durchgeführt. Diese 
externen Schüler bilden eine Analogie zu dem für die ärzt¬ 
liche Abteilung notwendigen Ambulatorium, es soll damit, 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


365 


wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, eine Poliklinik der 
Krüppelschule geschaffen werden. 

Wie durch die Ambulatorien der Heilanstalt die Zahl der 
ärztliche Hilfe findenden Krüppel mühelos vergrößert wird, 
so wird auch durch die Zulassung von Externen zur Krüppel¬ 
schule, z. B. von solchen, welche in ambulanter ärztlicher Behand¬ 
lung stehen, der Umfang der Wohltaten einer Sonder¬ 
erziehung in erheblichem Maße erweitert. 

So wären unter anderem auch die zahlreichen Skoliosen, 
welche ja nach neueren Anschauungen auch der allgemeinen Schule 
entzogen werden sollen, leicht unterzubringen und damit den 
Vorschlägen Schultheß’ und Wohrizeks, welche Sonderklassen 
und Sonderschulen für Skoliotische mit Recht verlangen, auf 
die denkbar einfachste Weise eine Verwirklichung er¬ 
möglicht. 

Die Aufnahme in die Krüppelanstalt soll möglichst früh¬ 
zeitig erfolgen und in jedem Alter und zu jedem Zeit¬ 
punkte angängig sein. Mit dem Eintritt in das schulpflichtige 
Alter beginnt der Elementarunterricht. Der technische Unterricht 
soll ebenfalls frühzeitig einsetzen, kleinere Handfertigkeiten 
sollen schon in den ersten Schuljahren gelehrt werden. Vom 4. 
oder 5. Schuljahre ab ist der Hauptnachdruck auf die technische 
Ausbildung zu legen. 

Die Entlassung aus der Anstalt erfolgt nach vollendeter 
Heilung und nach Abschluß der Erziehung. Sowohl ärztliche Be¬ 
handlung wie Krüppelschule werden in manchen Fällen den Krüppel 
über das schulpflichtige Alter in seinem eigenen Interesse festhalten 
müssen. 

Die Auswahl der Aufzunehmenden erfolgt am besten 
durch den leitenden Arzt der Anstalt, eventuell durch Vermittlung 
von Beratungsstellen, Schul- und beamteten Aerzten (Kreis- und Be¬ 
zirksärzte). 

Die ärztliche Behandlung soll nach Möglichkeit in das 
vorschulpflichtige Alter verlegt werden. Während der Unter¬ 
richtszeit sich ergebende ärztliche Maßnahmen vorübergehen¬ 
der Natur werden im Interesse des Krüppels nach Tunlichkeit 
in die Schulferien verlegt, insofern dies ohne Schädigung des ärzt¬ 
lichen Erfolges geschehen kann. 


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Leonhard Rosenfeld. 


Die Versorgung der Krüppel hat ebenfalls verschiedenen 
Faktoren Rechnung zu tragen. 

Im allgemeinen wird die Zahl der dauernd zu versorgenden 
Krüppel keine allzu große sein. 

Die Münchener Anstalt hat vor wenigen Jahren bei den in den 
ersten 50 Jahren ihres Bestehens durch die Anstalt hindurch¬ 
gegangenen Zöglingen eine Umfrage bezüglich der Erwerbsfähigkeit 
veranstaltet. Es ergab sich ein Prozentsatz von 9 ®/o der Zöglinge, 
welche späterhin sich nicht selbst ernähren konnten. 

Die Zahl ist speziell von den Leitern der geistlichen Anstalten 
auf der letzten Konferenz der Krüppelanstalten bezweifelt und 
angegriffen worden. Man kam zu der Einigung, daß etwa Vj 
der in den Krüppelheimen untergebrachten Kinder ärztlich und 
erzieherisch soweit geholfen werde, daß sie sich selbständig ernähren 
können, ein weiteres Drittel werde mehr weniger gebessert und in 
sehr verschiedenem Grade arbeitsfähig gemacht, das letzte Drittel 
sei unheilbar und sozial unverwertbar. 

Ich halte diese Zahlen nicht für unrichtig, aber sie beziehen 
sich auf ein Material^ welches für unsere Zwecke nicht maßgebend 
sein kann. Man muß eben berücksichtigen, daß bisher in den 
Krüppelheiraen im allgemeinen nur die allerschlimmsten Fälle 
untergebracht wurden und muß ferner bedenken, daß die jetzigen 
Krüppelheime zum großen Teile lediglich Versorgungs¬ 
anstalten sind. 

Einwandsfreie Erhebungen hierüber sind notwendig. Die 
wahrscheinlich richtige Zahl dürfte in der Mitte liegen und 
man wird mit einem Satz von etwa 15®/o Unheilbarer und Un- 
erziehbarer rechnen müssen. 

Dies ergibt relativ kleine Versorgungsabteilungen, etwa 
15 auf 100 Anstaltsplätze. Auch von diesen „Dauerzöglingen* 
wird noch ein Teil als sogenannte „halbe Kräfte* zu verwenden 
sein. Sie bringt man am besten in Landkolonien unter, wo sie 
in kleineren Arbeiten beschäftigt werden können. Eventuell können 
zu diesem Zwecke auch größere Bezirke zusammengefaßt werden. 

Außer der dauernden Versorgung der Unheilbaren kommt eine 
temporäre Versorgung der zur Entlassung kommenden Insassen 
in Frage, die Einführung der ausgebildeten und geheilten 
Zöglinge in das praktische Leben. Dies geschieht am besten 
auf dem Wege einer Arbeitsvermittlung, zunächst in Form eines 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


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einfachen Arbeitsnachweises mit Hilfe staatlicher und kommu¬ 
naler Stellen. Recht zweckmäßig ist auch eine Einrichtung, welche 
wir in Dänemark in den sogenannten „Arbeitsstuben“ der Kopen- 
hagener Anstalt finden. Es sind dies von der Krüppelanstalt unter¬ 
haltene Werkstätten, in welchen die entlassenen Zöglinge für die 
Anstalt, welche Verkauf und Absatz leitet, arbeiten. Der ganze 
Verdienst kommt den Krüppelarbeitern nach Abzug der geringen 
Unkosten zu gute. Es ist selbstverständlich, daß durch die ein¬ 
heitliche Leitung relativ erhebliche Ueberschüsse gewonnen werden. 

Es ist ein umfangreiches Programm, dessen Erfüllung 
für die Ziele einer ausgiebigen, zweckentsprechenden 
Krüppelfürsorge erforderlich ist. 

Von den bestehenden Anstalten genügen nur einzelne den zu 
stellenden Forderungen, weitaus das meiste muß geschaffen werden. 

Die Not Wendigkeit um fassender Fürsorgeeinrichtungen 
bedarf keiner weiteren Begründung, sie erhellt aus den 
Zahlen der Statistik und den Beobachtungen des täglichen 
Lebens. 

Einer eingehenderen Betrachtung bedarf aber die Frage, auf 
welchem Wege und durch wen können die Einrichtungen 
ins Leben gerufen werden, wer soll die nötigen Geldmittel 
aufbringen? 

Hier kommen eine Reihe von Faktoren in Betracht, 
der Staat, Kommunen, Provinzialverbände, private Wohl¬ 
tätigkeit, eigens für den Zweck gegründete Vereine. 

Für die Vertreter der Wissenschaft, für den Ortho¬ 
päden ist es eigentlich gleich, durch wen die Krüppelfür¬ 
sorge organisiert wird, die Hauptsache ist, daß die nötigen 
Anstalten getroffen werden. Es kommen hier so viele Mo¬ 
mente rein örtlicher Natur in Betracht, daß wir diese 
Frage offen lassen müssen, wenn nur alle Wege zu dem 
richtigen Endziele hinführen. 

ln Bayern hat seit 63 Jahren der Staat die Sache 
geleitet, die Erfolge dieser staatlichen Organisation sind 
äußerst günstige, so daß heute im allgemeinen die bayrische 
Organisation als vorbildlich betrachtet werden darf. 

Für staatliche Oberleitung hat sich neuerdings auch 
Schanz in seiner Broschüre „Krüppelnot und Krüppelhilfe“ 
ausgesprochen. 


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368 


Leonlinrd Rosenfeld. 


Allein ohne private Unterstützung kann zur Zeit auch 
der Staat nicht die notwendigen Mittel auf bringen, das haben wir 
in Bayern trotz der enormen Summen, welche der Landtag für die 
Zwecke der Krtippelfürsorge zu bewilligen bereit ist, gesehen. 

Anderwärts, in der Mehrzahl unserer Bundesstaaten, 
besteht anscheinend keine Neigung, die Krüppelbewegung 
staatlich zu organisieren, man will sie vielmehr Vereinen und 
Körperschaften überlassen und diese finanziell ausgiebig von 
seiten der Provinzial- und Kommunalverbände unterstützen, 
eventuell eine einheitliche Leitung gewährleisten. 

Die Lösung dieser Frage muß den jeweiligen lokalen 
Verhältnissen überlassen bleiben. 

Wenn nun auch die Krüppelfürsorge nicht einheitlich organi¬ 
siert werden wird, so ist doch für eine Zentralisierung unbedingt 
zu sorgen, d. h. es sind große Anstalten anzustreben. 

Selbstverständlich dürfen die klinischen und päda¬ 
gogischen Abteilungen räumlich nicht getrennt werden. 

Behandlung und Erziehung greifen immer wieder 
eines in das andere hinein, eine Trennung würde eine 
direkte Schädigung der Ziele beider verursachen, ge¬ 
rade die Vereinigung beider bildet die ganze Quintessenz 
der Krüppelfürsorge. 

Großen Anstalten ist der Vorzug zu geben: 1. Sind große 
Anstalten billiger im ganzen Betrieb und 2. stehen die nötigen 
ärztlichen und Lehrkräfte nur für große Betriebe zur 
Verfügung. 

Es gibt ja in Deutschland zahlreiche Orthopäden, aber nur 
in größeren Städten, nicht in kleinen Städtchen oder gar auf dem 
Lande. Das gleiche gilt für die für die Krüppelerziehung an und für 
sich dünn gesäten, geeigneten heilpädagogisch geschulten 
L ehrkräft e. 

Aus diesem Grunde müssen die Krüppelanstalten 
in die großen Städte gelegt werden, in die Zentren des 
Verkehrs, Mittelstädte kommen nur dann in Betracht, 
wenn sie Sitz von Universitäten sind und damit das ge¬ 
eignete medizinische und pädagogische Material be¬ 
sitzen. 

In den Großstädten selbst müssen die Anstalten an die 
Peripherie gelegt werden, wo Licht, Luft und Raum für Garten- 


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Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 


369 


und Feldanlagen gegeben sind, es werden sich immer Plätze finden 
lassen, welche trotz ihrer peripheren Lage an die großstädtischen 
Bahnnetze angeschlossen sind. 

Erstrebenswert ist der Anschluß der Krüppel^ 
anstalten an die Universitäten. 

Die Krüppelanstalten enthalten ein umfangreiches wissen¬ 
schaftliches Material. Sie müssen darum nicht nur sozialen 
Zwecken, sondern auch der Förderung der Wissenschaft dienen,, 
dem Studium orthopädischer Erkrankungen und vor allem 
den Lehrzwecken und damit der Verbreitung orthopädischer 
Kenntnisse unter den Studierenden der Medizin. 

Die selbständige Bedeutung derOrthopädiealsWissen- 
Schaft ist allgemein anerkannt; was uns aber fehlt, das 
ist die Möglichkeit, die gesamte Aerzteschaft an unseren 
Fortschritten teilnehmen zu lassen, die Möglichkeit, den 
Studierenden und Aerzten die Kenntnis der großen Lei¬ 
stungen zu übermitteln; was uns fehlt, das sind Lehr¬ 
stühle für orthopädische Chirurgie. 

In ganz Deutschland besitzen wir deren drei, Mün¬ 
chen, Berlin und Leipzig. 

Was soll das bedeuten für ein Fach, das gleich der Gynäko¬ 
logie, der Dermatologie, der Otologie und der Aug.en- 
heilkunde eine Tochter der großen Mutter Chirurgie, von nicht 
geringerer Bedeutung ist als die genannten Spezialdisziplinen. 

Mit demselben Rechte, mit welchem die Ophthal¬ 
mologen, die Ohren-, Frauen- und Hautärzte schon längst 
die Möglichkeit des Lernens an den Universitäten haben, 
müssen wir auch für die Orthopädie Lehrstühle verlangen 
und bekommen. 

In Bayern hat Regierung und Volk die Bedeutung der Ortho¬ 
pädie vom wissenschaftlichen und sozialen Standpunkte voll und 
ganz anerkannt. Als am 22. März 1906 der bayrische Landtag ein¬ 
stimmig beschloß, die Krüppelfürsorge nach modernen Gesichts¬ 
punkten auszugestalten, war das erste, was man tat und verlangte, 
die Errichtung einer selbständigen Professur für Orthopädie, das 
zweite, die Genehmigung einer orthopädischen Klinik von 60 bis 
80 Betten im Anschluß und in direkter räumlicher Verbindung mit 
der Krüppelerziehungsanstalt, das dritte, die durch Beschlüsse fest¬ 
gelegte Absicht, nach Maßgabe der verfügbaren Mittel neben der 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 24 


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870 Leonhard Rosenfeld. Rationelle Hilfe in der Krüppelfürsorge. 

Universität München auch den beiden anderen Universitäten des 
Landes gleiche Einrichtungen zu schaffen. 

Da anderwärts diese Errungenschaften fehlen, so muß mit 
allen Kräften dahin gestrebt werden, daß an allen deut¬ 
schen Universitäten ähnliche Einrichtungen geschaffen 
werden. 

Begründet sind diese Forderungen in der sozialen und 
nationalökonomischen Bedeutung der Krüppelfürsorge. 

Nach der Statistik Biesalskis haben wir in Deutsch¬ 
land etwa 110000 Krüppelkinder unter 15 Jahren. Jeder 
Krüppel bedeutet eine Schädigung des Nationalvermögens 
um ca. 1000 Mark jährlich (500 Mark, in der Münchener An¬ 
stalt sogar 760 Mark, verursacht das bedürftige Kind dem Staate 
an Aufwand; ebensoviel kann ein arbeitsfähiger Krüppel im Durch¬ 
schnitt verdienen). 

30”/o aller Krüppel fallen den Eltern, Verwandten, der 
öffentlichen Armenpflege gänzlich zur Last, weitere 10®/o 
finden ihr Leben kümmerlich mit Unterstützungen pri¬ 
vater Wohltätigkeit. Führen wir also von den in Frage 
kommenden 44000 Krüppelkindern nur *|3 der Heilung und 
der sozialen Selbständigkeit zu, so vermehren wir unser 
Nationalvermögen jährlich um 30 Millionen Mark. Dies 
ist eine Minimalzahl, die sich unter Einbeziehung der er¬ 
wachsenen Krüppel auf jährlich 100 Millionen erhöht. 

So fordern wissenschaftliche, pädagogische, humani¬ 
täre, ethische und soziale Erwägungen auf, mit allen 
Mitteln an die Errichtung einer ausgedehnten Krüppel¬ 
fürsorge heranzugehen. 

Es müssen deshalb die Orthopäden gemeinsam mit 
all den Faktoren arbeiten, die gleiche und verwandte 
Ziele in der Krüppelfürsorge erstreben, es müssen auch 
die Orthopäden in Wort und Tat, in den Kreisen der 
Kollegen, der Lehrer, der Geistlichen, im öffentlichen 
Leben, bei Regierungen, Kommunen und Privaten Propa¬ 
ganda treiben. Das Ziel ist des Schweißes der Edelsten 
wert. 


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XXV. 


Bandagistenkurpfusclierei und Krüppelfftrsorge‘). 

Von 

Privatdozent Dr. Arnold Wittek, Graz. 

Meine Herren! Anläßlich der heutigen Krüppelkonferenz will 
ich auf einen Uebelstand hinweisen, der überall zu bestehen scheint 
und dessen Bestehen ich große Bedeutung für die Frage der 
Krüppelfürsorge zuschreibe. Ich meine nämlich jene Art von Kur¬ 
pfuscherei, welche die Bandagisten betreiben, die, ohne einen Arzt 
zu Rate zu ziehen, jenen ihrer Kunden, welche mit körperlichen Ge¬ 
brechen behaftet sind, aus eigener Machtvollkommenheit mechanische 
oder orthopädische Stützapparate zu Heilzwecken anempfehlen, so¬ 
dann anfertigen und anlegen. Ich habe diesen Uebelstand, soweit 
er geeignet ist, ärztliche Standesinteressen, ira besonderen die Inter¬ 
essen jener Aerzte, die sich speziell mit Orthopädie befassen, zu 
schädigen, im Vorstande der Aerztekamnier von Steiermark eingehend 
erörtert und entsprechende Maßnahmen dagegen empfohlen und zur 
InangriflFnahme gebracht. Eine ausführliche Auseinandersetzung hier¬ 
über wurde im Dezember 1907 in der Wiener klinischen Wochen¬ 
schrift veröffentlicht. 

Heute will ich von der Schädigung der Aerzte durch die kur¬ 
pfuschenden Bandagisten nicht sprechen, sondern nur von den Nach¬ 
teilen, die der Krüppelfürsorge durch die selbständig ordinierenden 
Bandagisten erwachsen. Vielfach besteht noch heute der Gebrauch, 
daß praktische Aerzte in ihrer Praxis so Vorgehen, daß sie bei Vor¬ 
kommen einer Deformität die damit behafteten Patienten zur Be¬ 
hebung oder Besserung ihres Leidens direkt an einen Bandagisten 
weisen, ohne daß vorher das Urteil eines speziell fachlich gebildeten 
Kollegen eingeholt wurde. Dies geschieht umsomehr, als an ver¬ 
schiedenen Orten Bandagisten ihren Beruf derart auszuüben ver- 

0 Vorgetragen auf der Krüppelkonferenz am VII. Kongreß der Deutschen 
Gesellschaft für orthopädische Chirurgie in Berlin am 25. April 1908. 


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372 


Arnold Wittek. 


standen, daß sie große spezielle Heilanstalten führen. Es wird dann 
den mit der Deformität behafteten Patienten ein Stützapparat oder 
eine Korrektionsvorrichtung angefertigt. Diese Bandagisten sind, wie 
ich ohne weiteres zugebe, in einzelnen Fällen glänzende Techniker, 
die ihr Gewerbe in einer weit über das Maß des Durchschnittes 
reichenden Art beherrschen. Was also die Kunstfertigkeit der Aus¬ 
führung, tadelloses Angepaßtsein der Apparate an den Körper an¬ 
belangt, kann diesen einzelnen hervorragenden Beherrschern der 
Technik kein Vorwurf gemacht werden. Das sind jene wenigen 
Bandagisten, welche künstlerischen Formensinn besitzen und dazu 
sich noch genügende Kenntnis der normalen Anatomie angeeignet 
haben, um genau die von der Natur gegebenen Stützpunkte des 
menschlichen Körpers für anzubringende äußere Apparate zu kennen 
und als solche zu benützen. Damit ist aber alles gesagt, was 
für das Wohl der Verkrüppelten von den besten der selbständig 
ordinierenden Bandagisten gesagt werden kann. Ihre Behandlungs¬ 
methode bleibt immer dieselbe, da es ihnen mangels einer gründ¬ 
lichen medizinischen Ausbildung versagt ist, Einblick in die ver¬ 
schiedenen Ursachen der Erkrankung und die dadurch verschiedenen 
Wesen der Krankheitsformen zu nehmen. Es ist ihnen ferner ver¬ 
sagt, Eingriffe, seien sie unblutiger oder blutiger Natur, vorzunehmen, 
wie sie die heutige Orthopädie vornimmt, da die Vornahme solcher 
Eingriffe wiederum die gründliche medizinische Ausbildung zur Vor¬ 
aussetzung hat. 

Es könnte mir der Einwurf gemacht werden, daß die von mir 
als Uebelstände bezeichneten Verhältnisse für die eigentliche Krüppel¬ 
fürsorge nicht in Betracht kommen, da nur besitzende Klassen in 
der Lage sind, sich von diesen Bandagisten behandeln zu lassen. 
Dieser Einwurf ist aber nur zum Teil richtig. So wie die Großen 
unter den Bandagisten das geldkräftigste Publikum zu ihrer Klientel 
zählen, so bedienen die minder Berühmten und Kleinsten die weniger 
bemittelten Bevölkerungsklassen. Und selbst von den ärmsten Krüp¬ 
peln wird ziemlich häufig mit Geldern der öffentlichen oder privaten 
Wohltätigkeit die Hilfe der Bandagisten aufgesucht. 

Ein weiterer Einwurf könnte der sein, daß dadurch dem Ver¬ 
krüppelten kein wesentlicher Schaden erwächst, wenn der Bandagist, 
wenn auch langsam, doch überhaupt zum Ziele kommt, d. h. den 
Verkrüppelten der Heilung oder doch der wesentlichen Besserung 
zuführt. Dieser Ein wand ist hinfällig. Erstens deshalb, weil viele 


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Bandagistenkurpfuscherei und Krüppel Fürsorge. 


373 


Deformitäten ohne operative Eingriffe überhaupt nicht zur Heilung 
oder zur weitgehenden Besserung gebracht werden können. Zweitens 
deshalb, weil wir wissen, daß je früher eine zielbewußte Behandlung 
eingeleitet wird, desto besser das Resultat der Behandlung sein wird. 
Durch die Bandagistenbehandlung von Verkrüppelten wird also oft 
lind oft kostbare Zeit nutzlos vergeudet, so daß zum mindesten die 
Güte des noch zu erzielenden Resultates, wenn endlich doch eine 
fachärztliche Behandlung eingeleitet wird, gedrückt werden muß oder 
in solchen unglücklichen Fällen ein befriedigendes Resultat überhaupt 
nicht mehr erzielt werden kann. Wir wissen z. B., daß die ange¬ 
borene Verrenkung der Hüfte nur bis zu einer gewissen Altersgrenze 
einrenkbar ist. Dieser Termin wird durch die selbständige Mitarbeit 
der Bandagisten häufig versäumt. Gelähmte Kinderbeine werden von 
den Bandagisten wahllos durch Jahre hindurch in Hülsenapparate 
gezwängt; eine Aenderung des Grundleidens läßt sich durch solche 
Maßnahmen natürlich nicht erzielen. Wohl aber wird die Muskulatur 
des manchmal nur teilweise gelähmten Beines so geschädigt, daß eine 
nachher ausgeführte Operation viel schlechtere Resultate gibt, als 
sie frühzeitig ausgeführt ergeben hätte. 

Ich will nicht weitere Beispiele anführen; ich glaube, die an¬ 
geführten genügen nicht nur für ärztliche Kreise, sondern auch für 
jene nichtärztlichen Anwesenden, welche an der heutigen Krüppel¬ 
konferenz teilnehmen. 

Aus meinen Ausführungen geht hervor, daß eine zielbewußte 
Krüppelfürsorge trachten muß, die sie schädigenden Umstände, welche 
ich erwähnte, zu beseitigen. 

Es wird in absehbarer Zeit nicht möglich sein, in verschiedenen 
Ländern und Staaten die erwähnten, lang eingebürgerten Mißstände 
durch Eingreifen der Regierungen zu beseitigen. Und doch soll, da 
wir die Schädlichkeit erkannt haben, Abhilfe geschaffen werden. Ich 
glaube,dazug ibtes nur einenWeg: den durch dieAerzte; 
durch Aufklärung der Aerzte über das Wesen und die Leistungen 
der heutigen Orthopädie. Wenn der praktische Arzt, der wohl in 
den meisten Fällen als erster zu Rate gezogen wird, darüber unter¬ 
richtet ist, wird er den schon oben erwähnten Weg, die Weisung 
des Verkrüppelten zum Bandagisten, nicht einschlagen. Vorher muß 
er aber von dem bei Aerzten noch vielfach bestehenden Irrtum be¬ 
freit werden, daß die Orthopädie eine nur kosmetische Disziplin dar¬ 
stelle. Ich muß hierzu von mir schon wiederholt Betontes nochmals 


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374 Arnold Wittek. Bandagistenkurpfuscherei und Krüppelfürsorge. 

anführen: die Orthopädie beschäftigt sich mit krankhaft veränderten 
Formen. Solche krankhaft veränderte Form bedeutet immer auch 
Einschränkung oder gar Aufhebung normaler Funktion. Mit der 
Besserung oder Heilung der krankhaft veränderten Form geht Besse¬ 
rung der Funktion oder Herstellung normaler Funktion Hand in Hand. 

Diese Besserung oder Heilung, welche die Orthopädie anstrebt, 
bedeutet in vielen Fällen die Herstellung von Existenzmöglichkeit 
im Kampf ums Dasein: Erwerbsfähigkeit. Das muß den Aerzten 
in Fleisch und Blut übergehen; sie müssen die Wichtigkeit unseres 
speziellen Faches kennen. Und daß sie es kennen lernen, dazu gibt 
es nur einen Weg: daß ihnen während ihres medizinischen Bildungs¬ 
ganges die Orthopädie gelehrt werde, wie und soweit sie für den 
praktischen Arzt von Wichtigkeit ist. Was allen Unterrichteten 
selbstverständlich erscheinen muß, scheint doch nicht selbstverständ¬ 
lich zu sein, wenn man hört, daß in jüngster Zeit die Absicht be¬ 
standen hat, eine der wenigen Lehrstellen, die bisher bestanden, 
nach ihrer Erledigung nicht mehr zu besetzen. Trotz des Wider¬ 
spruches, der in diesem Vorkommnis gegen unsere Anschauung zu 
sehen ist, kann und muß auf einer Krüppelkonferenz doch nur immer 
wieder betont werden: 

Eine Krüppelfürsorge, die großzügig angelegt sein soll, um 
Großes zu leisten, ist nur möglich unter Mithilfe entsprechend aus¬ 
gebildeter Aerzte; damit diese Ausbildung möglich wird, ist es er¬ 
forderlich, daß die leitenden Kreise sich unserer Erkenntnis an¬ 
schließen und das Lehren der Orthopädie anordnen. 


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XXVI. 


(Aus dem Universitäts-Ambulatorium für orthopädische Chirurgie des 
Prof. Dr. A. Lorenz in Wien.) 

üeber Krtippelfürsorge in Oesterreicli-Üngarn'). 

Von 

Dr. Rudolf Ritter v. Aberle, 

Assistenten des Ambulatoriums. 

Meine Herren! Wenn man die Ausführungen der geehrten 
Herren Vorredner hört, wenn man die Riesenarbeit sieht, die nicht 
nur in Deutschland, sondern auch in anderen Staaten in Bezug auf 
Krüppelfürsorge bereits geleistet wurde, aber doch gegenüber den 
tatsächlichen Bedürfnissen noch immer als vollkommen ungenügend 
erscheint, so muß man leider sagen, daß Oesterreich-Ungarn auf 
diesem Gebiet noch äußerst rückständig ist. 

Es ist auch bei uns eine auffallende Erscheinung, daß weder 
der Staat, noch irgend ein Kronland sich bisher in der Krüppelpflege 
betätigt hat, die doch beide das größte Interesse daran haben sollten. 
Die wenigen Krüppelanstalten und diejenigen Vereine, die sich mit 
der Krüppelfürsorge befassen, sind einzig und allein durch private 
Wohltätigkeit geschaffen worden und werden auch weiterhin durch 
freiwillige Spenden erhalten. 

In Oesterreich-Ungarn existieren überhaupt nur drei derartige 
Anstalten; davon entfallen zwei auf Oesterreich, eine auf Ungarn. 

Es sind dies in Oesterreich: 1. Die Kaiserin-Elisabeth- 
Asyl-Stiftung für verkrüppelte Kinder in Lanzendorf bei 
Wien und 2. Das Kinderheim für verkrüppelte Kinder in 
Laa bei Neulengbach. 

In Ungarn, und zwar in Budapest, befindet sich das „Nyo- 
morök Gyermekek Otthona“ (Heim für verkrüppelte Kinder). 

*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 25. April 1908. 


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376 


V. Aberle. 


Ferner bestehen in Oesterreich außerdem noch zwei Vereine, das 
„Leopoldineum“ mit dem Sitz in Wien und seit 1906 der Verein 
„Krüppelfürsorge in Steiermark“, welche ebenfalls die SchaflFung 
von Heimstätten und Heilung, Versorgung und Erziehung von Krüppel¬ 
kindern anstreben, derzeit jedoch noch keine selbständigen Anstalten 
besitzen. — 

lieber die Entstehung, die Organisation und bisherige Tätig¬ 
keit der genannten Anstalten und Vereine ist in Kürze folgendes 
zu berichten: 

DieKaiserin-EIisabeth-Asyl-Stiftung fürverkrüppelte Kinder 
In Lanzendorf wurde im Jahre 1900 als erste Krüppelanstalt Oester¬ 
reichs gegründet. Schon im Jahre 1897 hatte sich ein Verein konstituiert, 
der sich die Errichtung und Erhaltung eines Asyls für verkrüppelte 
Kinder zur Aufgabe stellte. Die Anregung ging von einer wohltätigen 
Dame der Wiener Gesellschaft, Frau Jenny Edle v. Glaser, aus. Es 
sollte anläßlich des Regierungsjubiläums unseres Kaisers dem Andenken 
der erhabenen, unvergeßlichen Kaiserin Elisabeth eine dauernde, men¬ 
schenfreundliche Huldigung und zwar durch Gründung einer Zuflucht¬ 
stätte für arme verkrüppelte Kinder dargebracht werden. In kürzester 
Zeit gelang es der Energie und der unermüdlichen Aufopferung Frau 
V. Glasers auch andere hochgestellte Damen, als die ersten Frau Alice 
Baronin Liebig, Helene Baronin Leitenberger-Schlosser, 
besonders aber Frau Käthe Dreher, die Gattin des bekannten Gro߬ 
industriellen, für ihre Idee zu interessieren, so daß der junge Verein, der 
unter der Präsidentschaft des Fürsten Karl zu Trauttmansdorff- 
Weinsberg und der Gräfin Ayla^ Kinsky stand, Ende 1897 infolge 
reichlicher Spenden bereits einen Vermögenstand von 197 723 Kronen 
aufzuweisen hatte. Dieser wurde durch ein gebildetes Aktionskomitee, 
dem auch die höchsten aristokratischen Kreise angehörten, bis Ende 
1898 auf die stattliche Höhe von 344336,32 Kronen gebracht. 

Als endlich 1899 dem Vereine durch den Gatten der Frau 
Käthe Dreher die Realität Schloß Ober-Lanzendorf geschenkweise 
überlassen wurde, so daß dem Vereine die großen Summen für einen 
Neubau erspart blieben, bestand kein Hindernis mehr, den Plan des 
Vereins, die Errichtung und Eröffnung des Asyls, in verhältnismäßig 
kurzer Zeit zur Ausführung zu bringen. Nach den für die Asyl¬ 
zwecke notwendigen Adaptierungen wurde die Anstalt am 19. November 
1900, dem Namenstage der verewigten Kaiserin Elisabeth, in feier- 


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lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn. 377 

lieber Weise mit vier Pfleglingen eröffnet und ihrer Bestimmung 
übergeben. 

Das Asyl besteht aus dem zweistöckigen, schloßähnlichen Haupt¬ 
gebäude, an welches sich ein prachtvoller, großer Park mit alten 
schattigen Baumgruppen anschließt. Dieser gewährt einer eventuellen 
Vergrößerung des Asyls den weitesten Spielraum. Anschließend an 
das Hauptgebäude liegen die erdgeschössigen Wirtschaftsgebäude, 
ferner ein einstöckiges Nebengebäude, welches bisher dem Dienst¬ 
personale als Wohnung diente. Der 1. und 2. Stock des ziemlich 
umfangreichen Hauptgebäudes wird von den getrennten Tag- und 
Schlafzimmern der Kinder, den Waschräumen derselben, ferner den 
Krankenzimmern, von dem großen Unterriebtssaal und dem Speise¬ 
zimmer eingenommen. Sämtliche Fenster der Zimmer, die die Pfleg¬ 
linge benützen, sind parkseitig gegen Südosten gelegen. Auf dieser 
Seite befinden sich auch eine Reihe von geräumigen Veranden, die 
in direkter Verbindung mit den Tageszimmern der Kinder stehen, 
Eine Loggia dient speziell als Liegehalle für kranke Kinder. Die 
Schlaf- und Waschräume für Knaben und Mädchen sind getrennt. 
Im Erdgeschoß sind die Kapelle, die Kanzlei, das Sprechzimmer, die 
Küche und die erforderlichen Nebenräumlichkeiten untergebracht. 

Die Pflege der Kinder ist den barmherzigen Schwestern vom 
Orden des hl. Vinzenz von Paul an vertraut, welche auch den Unter¬ 
richt und die Erziehung der Kinder leiten. Derzeit sind 7 Schwestern 
an der Anstalt tätig. 

Die orthopädische Behandlung der Krüppelkinder wird von 
Prof. Dr. A. Lorenz und seinem Assistenten Dr. v. Aberle be¬ 
sorgt. Die Operationen werden vorläufig nicht in der Anstalt selbst, 
sondern im Ambulatorium für orthopädische Chirurgie des Prof. Lorenz 
im Wiener Allgemeinen Krankenhause vorgenommen, in welchem auch 
die Kinder bis zur Transportfähigkeit bleiben. Nur die notwen¬ 
digen Gipsverbände werden in dem Asyle selbst angelegt. Die in¬ 
terne Behandlung obliegt dem Arzte von Lanzendorf, Dr. Mayerhofer. 

Die Anstalt ist für Kinder jeder Religion und jeder Nation zu¬ 
gänglich. Für die Aufnahme ist im allgemeinen ein Alter zwischen 
dem 3. und 14. Lebensjahre erforderlich. Doch wurden in Aus¬ 
nahmsfällen auch jüngere Kinder in Pflege genommen. Die Ver¬ 
pflegung und Behandlung ist vollkommen unentgeltlich, doch sind 
zahlende Pfleglinge nicht ausgeschlossen. Die Kosten werden durch 
die Mitgliedsbeiträge und die Kapitalzinsen gedeckt. Die Er- 


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378 


V. Aberle. 


baltungskosten eines Kindes haben sich im ersten Jahre, also 1901, 
bei dem Umstande, daß die Aufnahme der Kinder nur sukzessive er¬ 
folgte, das Pflege- und Hauspersonal aber schon von Anbeginn an 
komplett sein mußte, ziemlich hoch gestellt. Bei einer angestellten 
Durchschnittsberechnung hat sich ergeben, daß, wenn sämtliche Aus¬ 
lagen des Vereins auf die Pfleglinge repartiert werden, auf jedes 
Kind pro Monat der Betrag von 73,5 Kronen entfällt. Unter Zu¬ 
grundelegung dieses Maßstabes würde also der Gesamtaufwand bei 
einem Stande von 24 Kindern im Jahre ca. 21000 Kronen betragen. 
Infolge des späteren rationelleren Betriebes betrugen die Erhaltungs¬ 
kosten eines Kindes im folgenden Jahre 1902 durchschnittlich jedoch 
nur ca. 55,5 Kronen pro Monat, also um ca. 24®/o weniger als im 
Vorjahre. Mit der Zunahme der Zahl der Pfleglinge haben sich die 
Kosten pro Kind noch wesentlich verringert. 

Bis zum Jahre 1903 betrug die Bettenzahl ungefähr 24; seit 
1905 können aber doppelt so viel Pfleglinge untergebracht werden. 

Einen Ueberblick der Kosten und der bisherigen Tätigkeit des 
Asyls erhellt aus folgender Tabelle: 


Ver¬ 

pflegungs¬ 

jahr 

Zahl der 
unent¬ 
geltlich 
ver¬ 
pflegten 
Kinder 

Höchstzahl 
der gleich¬ 
zeitig ver¬ 
pflegten 
Kinder 

1900 *) 

5 

5 

1901 

27 

22 

1902 

25 

24 

1903 

29 

29 

1904 

42 

37 

1905 

61 

49 

190G 

67 

50 

1907 

65 

52 

Gesamt¬ 



leistung 

118^) 



Zahl der 
Ver¬ 
pflegungs¬ 
tage inkl. 
Personal 

i 

Gesamt¬ 
kosten in 
Kronen 

Durch¬ 
schnittliche 
Kosten pro 
Ver¬ 
pflegungs¬ 
tag für ein 
Kind 

339 

2 490,— 


5 982 

14 657,30 

2,45 

8 073 

14 976.07 

1,85 

8 945 

18 776,41 

2,09 

12 397 

22 560,83 

1,81 

16 226 

23 684,29 

1,45 

18 250 

20 263.84 

1,11 

18 434 

16 747,06 

0,90 

88 646 

134 155,80 



Ein sehr wichtiger Schritt in der Entwicklung des Krüppel¬ 
heims war die Umwandlung des Asyls in eine Stiftung, welche am 
15. September 1906 von der Behörde genehmigt wurde. Dadurch 


Eröflfnung 19. November. 
") Seit Bestand der Anstalt. 


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lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Üngarn. 


379 


sollte „das begonnene Werk in seiner Idee und historischen Be¬ 
deutung auch durch alle nachfolgenden Zeiten erhalten, anderseits 
das dem Stiftungszwecke zu widmende Vermögen dauernd und für 
alle Zeiten an den ursprünglichen Gründungszweck gebunden und 
für die Verwaltung des Asyls ein für allemal eine nach den unver¬ 
rückbaren Bestimmungen des zu errichtenden Stiftsbriefes unabänder- 
bare Basis und damit die Gewahr für die Stabilität und Gleichmäßig¬ 
keit der Verwaltung und für den ruhigen Fortgang in der weiteren 
Entwicklung des Asyls geschaffen werden*. 

Die Verwaltung der Stiftung untersteht dem Stiftungskuratorium, 
welches sich aus dem bisherigen Präsidenten, der Präsidentin (der¬ 
zeit Marie Therese Gräfin Harrach), je zwei Vizepräsiden¬ 
tinnen und Vizepräsidenten, dem Schriftführer und weiteren zehn 
Kuratoriumsmitgliedern zusammensetzt. 

Infolge der Umwandlung in eine Stiftung mußte auch eine 
Trennung des Vermögens in das Stiftungs- und das Vereins vermögen 
vollzogen werden. 

Das Stiftungs vermögen betrug Ende 1906: 

Die Realität in Ober-Lanzendorf, 

40000 Kronen 4®/oiger Wertpapiere. 

Das Vereinsvermögen belief sich auf 431193,72 Kronen. 


Die Gründung des Kinderheims in Laa bei Neulengbach in 
Niederösterreich ging ebenfalls von einem Vereine aus. Derselbe 
hatte sich am 26. November 1898 unter dem Namen „Kinderheim, 
Verein zur Gründung und Erhaltung von Heimstätten für ver¬ 
krüppelte, schwache und rekonvaleszente Kinder jüdischer Konfession“ 
gebildet und hat den Sitz in Wien. Den in den Heimstätten auf¬ 
genommenen Kindern sollte behufs Erlangung oder Kräftigung ihrer 
Gesundheit dauernd oder vorübergehend Unterkunft und eine ent¬ 
sprechende Pflege und Erziehung gegeben werden. Auch steht es 
in der Absicht des Vereins, erforderlichenfalls in Oesterreich Zweig¬ 
vereine zu errichten. 

Der Verein entwickelte unter der Präsidentschaft des Gro߬ 
industriellen Johann Eißler unter Mithilfe mehrerer Vereinsmit¬ 
glieder eine geradezu fieberhafte Tätigkeit, so daß bald eine statt¬ 
liche Summe zur Verfügung stand. Bald lag auch eine Reihe von 
Kaufangeboten von Landgütern vor. Doch erwiesen sich die meisten 


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380 


V. Aberle. 


davon als unbrauchbar für die Zwecke des Vereins. Trotzdem ge¬ 
lang es demselben in kurzer Zeit, schon Anfang 1899, ein für die 
Asylzwecke geeignetes, ansehnliches Anwesen käuflich zu erwerben. 

Das Gut Laa ist 4 km von der Bahnstation Neulengbach ent¬ 
fernt, welche von Wien aus in 1^^ Stunde erreichbar ist. Der Besitz 
liegt auf einer sanft ansteigenden Lehne und umfaßt: ein einstöckiges 
Wohnhaus, welches 11 Wohnräume, Badezimmer und Nebenräume 
und in jedem Geschoß eine große gedeckte Veranda enthält, zwei 
neugebaute Wohnhäuser für den Wirtschafter und das Gesinde, ferner 
Stall für Rinder und Pferde, Wagenremise und Keller. Alle Räume 
sind mit Wasserleitung versehen und mit Schiefer gedeckt. An das 
Wohnhaus grenzt ein kleiner Ziergarten und an diesen ein schattiger, 
1 ^/2 Joch großer Wald. In demselben befindet sich ein Wasserreservoir. 
Das Areal des ganzen Besitzes beträgt einschließlich eines großen Obst¬ 
und Gemüsegartens, sowie eines kleinen Karpfenteiches 36 zusammen¬ 
hängende Joch. Das Gut wurde samt lebendem und totem Inventar 
um den Betrag von 70000 Kronen erworben. 

Die HofiFnung des Vereins, das Heim recht bald eröffnen zu 
können, konnte jedoch erst im Oktober 1902 in Erfüllung gehen. 
Es waren nämlich noch zahlreiche notwendige Adaptierungen aus¬ 
zuführen. Die Vereiusleitung wollte aber auch das Asyl vor der 
Eröffnung auf eine gesicherte pekuniäre Basis stellen, um die Ge¬ 
währ eines ungestörten Betriebes zu bieten. Jedoch wurde bereits 
im Sommer 1901 versuchsweise und vorübergehend 10 erholungs¬ 
bedürftigen Kindern in der Anstalt Aufnahme gewährt. Dieser erste 
Versuch, der auch zur Erhebung der Durchschnittskosten für die 
Verpflegung von Zöglingen diente, fiel glänzend aus. Nach den an- 
gestellten Berechnungen wurden die Kosten für 1 Kind auf ca. 
000 Kronen per Jahr bestimmt. Trotzdem im allgemeinen nur voll¬ 
kommen unbemittelte Kinder Aufnahme finden sollten, wurde die¬ 
selbe jedoch ausnahmsweise auch bemittelteren Kindern gegen den 
Betrag von 600 Kronen jährlich bewilligt. 

Leider konnte auch das Kinderheim Laa nur wenigen Kindern 
die Vorteile und 'Wohltat der Anstaltsbehandlung gewähren. Im 
Jahre 1903, im ersten vollen Betriebsjahre, vermochte es nämlich 
nur 12 Pfleglinge in Fürsorge zu nehmen. Diesen aber wurde voll¬ 
kommener Unterricht in allen Gegenständen der Volksschule durch 
einen eigenen Lehrer zu teil. 

Die ärztliche Leitung untersteht den beiden Aerzten, kaiserl. 


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lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn. 


381 


Kat Dr. S. Krüger in Wien, der nach dem Tode Eißlers auch 
zum Präsidenten des Vereins gewählt wurde, und Dr. S. Baruch 
in Neulengbach. Die orthopädische Behandlung liegt in den Händen 
des Orthopäden Dr. M. Haudek in Wien. 

Die Mittel des Vereins werden durch die Mitgliedsbeiträge, 
durch allfällige Veranstaltungen zu Gunsten des Vereins, durch 
Schenkungen u. s. w. beschafft. 

Die näheren Daten über die Vereinstätigkeit sind aus folgender 
Tabelle zu entnehmen: 


Ver- 

pflegungs- 

jahr 

Zahl der 
unent¬ 
geltlich 
ver¬ 
pflegten 
Kinder 

Höchstzahl 
der gleich¬ 
zeitig ver¬ 
pflegten 
Kinder 

Zahl der 
Ver¬ 
pflegungs¬ 
tage 

Gesamt¬ 
kosten in 
Kronen 

Durch¬ 
schnittliche 
Kosten pro 
Ver¬ 
pflegungs¬ 
tag für ein 
Kind 

1902 0 

4 

4 




1903 

12 

8 

.4 371 

7 540,69 

1,72 

1904 

18 

15 

5 551 

11 197,85 

2,01 

1905 

37 

20 

5 484 

10 768,10 

1,96 

1906 

58 

21 

. .6 345 . 

. 9144.10 

1,44 

1907 

54 

25 

7 235 

10 785,49 

1,49 

Oesamt* 






summe 

139-) 


28 986 

49 436,23 



Die einzige in Ungarn bestehende Krüppelanstalt Nyomor^k 
Gyermekek Otthona, Heim für verkrüppelte Kinder, wurde im 
Jahre 1903 in Budapest auf die Initiative des Herrn Richard 
Rothfeld gegründet. Das Krüppelheim ist eine Schöpfung des 
Budapester Krüppelpflegevereins. An der Spitze der Anstalt stehen 
als Präsidenten: Baronin Ernst Daniel, Graf Leopold Edels- 
heim-Gyulay, Dr. Simon Messinger und Graf Ladislaus 
Teleky. Die administrative Leitung versieht Herr Richard Roth¬ 
feld. Der Verein begnügt sich nicht mit der Erhaltung der Buda¬ 
pester Anstalt allein, sondern es liegt in der Intention desselben, 
auch Zweiganstalten in Ungarn zu errichten. In diesen sollen 
krüppelhafte Kinder ohne Unterschied der Religion, der Nationalität 
und des Geschlechts Aufnahme, ärztliche Behandlung, Erziehung und 

*) Ab Oktober. 

*) Seit Bestand der Anstalt. 


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382 


V. Aberle. 


Ausbildung für ein Handwerk finden. Statutengemäß können in der 
Budapester Anstalt nur solche Krüppelkinder untergebracht werden, 
die von mittellosen Eltern stammen; denn ein Pflegegeld wird nicht 
bezahlt. Außerdem müssen die Kinder geistig vollkommen normal 
veranlagt sein. Taubstumme, blinde, blöde und epileptische Kinder 
sind von der Aufnahme ausgeschlossen. 

Der Verein besitzt bisher noch kein eigenes Anstaltsgebäude, 
sondern es wurde vorläufig ein Miethaus für die Asylzwecke ver¬ 
wendet. Dasselbe umfaßt zwei Schlafzimmer, einen Tageraum, ein 
Schulziramer und die entsprechenden Bade- und Nebenräume. Auch 
die Wohnung der Lehrerin befindet sich in dem Hause. Im all¬ 
gemeinen besteht in jeder Beziehung größter Platzmangel. Es konnte 
daher auch vorläufig nur eine ganz geringe Zahl von Pfleglingen 
Unterkunft finden, weshalb sich auch die Vereinsleitung bei der 
Aufnahme nur auf Knaben im schulpflichtigen Alter von 6 bis 
15 Jahren beschränkte. Der Belagraum der Anstalt betrug 

im Jahre 1905 . • . . 10 Knaben 

„ . 1906 .... 14 , 

derzeit.15 „ 

Als Chefarzt fungiert Dr. Ladislaus Szegväri, als Operateur 
Dr. Hugo Eißler. Doch müssen die operativen Eingriffe infolge 
Mangels eines eigenen Operationraumes nur auf das notwendigste 
beschränkt werden. 

Der Unterricht liegt in den Händen einer staatlich geprüften 
Lehrerin und bezieht sich vorläufig nur auf die sechs Elementar¬ 
gegenstände. Außerdem erhalten die Knaben aber auch ausgezeich¬ 
neten Handfertigkeitsunterricht durch eine eigene Lehrerin in diesem 
Fache. Namentlich im Slojd- (d. i. Ton-) und Gipsmodellieren werden 
trotz der oft krüppelhaften Hände staunenswerte Resultate erzielt. 
Ferner wird noch Buchbinderei gelehrt. Aber auch dafür fehlt 
überall der entsprechend große Raum. Die Kosten werdt^n durch 
die Kapitalzinsen, die Mitgliedsbeiträge, durch Geschenke und sonstige 
Beiträge gedeckt. Auch vom Ministerium des Innern und der Unter¬ 
richtsverwaltung, sowie von der Stadt Budapest wurden wiederholt 
namhafte Subventionen gewährt. Das Vereinsvermögen, welches 
Ende 1906 64 000 Kronen betrug, war bereits im Mai 1907 auf 
90000 Kronen gewachsen; derzeit erreicht es die Höhe von un¬ 
gefähr 150000 Kronen. 


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lieber Erüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn. 


383 


Der Verein Leopoldineum in Wien wurde im Jahre 1903 
gegründet. Er hat sich zur Aufgabe gestellt, ein Heim für Ver¬ 
krüppelte beiderlei Geschlechts, ohne Unterschied der Religion und 
Nationalität für ganz Oesterreich zu schaffen, in welchem diese 
unglücklichen Geschöpfe behandelt und versorgt werden sollen. Durch 
passende Erziehung und entsprechenden Unterricht, sowie durch sorg¬ 
fältige Auswahl des zu Erlernenden soll dem Einzelnen die Mög¬ 
lichkeit geboten werden, trotz seines Gebrechens einen ehrlichen Er¬ 
werb zu erlernen. 

Wenn auch der Verein Leopoldineum bisher noch kein eigenes 
Heim besitzt, so muß doch betont werden, daß der sehr rührige 
Verein, an dessen Spitze seit der Gründung Franz Joseph Fürst 
Auersperg und seine Gemahlin Wilhelmine stehen, auf andere 
Weise sehr viel für die Krüppelfürsorge leistet. Er sucht nämlich 
vorläufig besonders ambulatorisch zu wirken, indem er den Krüppel¬ 
kindern Pfiege, orthopädische Behandlung nach Maßgabe der vor¬ 
handenen Mittel kostenlos zu teil werden läßt. Auch werden die 
orthopädischen Stützapparate auf Vereinskosten hergestellt. Außer¬ 
dem aber vermittelt der Verein kostenlos Stellen und passende Ar¬ 
beit für Krüppelkinder, verleiht an solche Unterstützungen und 
sucht Lebens-, Alters- und Unfallversicherungen für Krüppelhafte 
zu erwirken. 

Die spezialistische Behandlung leitet der Orthopäde Dr. Viktor 
Kienast, der dieselbe unentgeltlich in seiner Privatanstalt vor- 
tiimmt. Die notwendigen Operationen werden von ihm ebenfalls 
kostenlos in einem der Wiener Sanatorien ausgeführt. Die Sanatoriums¬ 
kosten trägt der Verein. Die Zahl der im Jahre 1907 behandelten 
Krüppel betrug 172. 

Daß hierbei mit dem Betrage von 1477,48 Kronen das Aus¬ 
langen gefunden werden konnte, ist ausschließlich darauf zurück¬ 
zuführen, daß seitens der beteiligten Faktoren dem Verein durch 
namhafte Ermäßigungen auf das weitgehendste entgegengekommen 
wurde. 

Im Jahre 1905 erreichten die Auslagen 3808,42 Kronen, 

, « 1906 , , , 3231,56 

Das Vereinsvermögen betrug Ende 1907 8907,71 „ 

Um den Verein auch in anderen Kronländern der Monarchie einzu¬ 
bürgern und in die breitere Oeffentlichkeit treten zu lassen, wurde im 


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384 


V. Aberle. 


Jahre 1905 mit der Schafifung von Ortsgruppen in den verschiedenen 
Hauptorten begonnen. Eine solche kann nur über Beschluß der 
Vereinsleitung eröffnet werden, aber auch nur dann, wenn sich 
mindestens 20 Mitglieder für eine Sektion melden. Bisher sind auf 
diese Weise sechs Ortsgruppen entstanden, und zwar in Linz, Salz¬ 
burg, Klagenfurt, Laibach, Görz und Abbazia. Auch in Graz sollte 
eine Ortsgruppe des Leopoldineums geschaffen werden. 

An ihrer Stelle bildete sich aber als selbständige Korporation 
der Verein ,, Krüppelfürsorge in Steiermark^^. Derselbe wurde 
im Mai 1906 gegründet. Die Anregung dazu gab der Privatdozent 
für orthopädische Chirurgie Dr. Witte k. Der Verein hat seinen 
Sitz in Graz, der Hauptstadt Steiermarks, und bezweckt die Er¬ 
richtung einer Krüppelanstalt für dieses Kronland. Die Bau- und 
Betriebskosten sollen durch ein Aktionskomitee aufgebracht werden. 
Ein ausführlicher Bericht über die bisherige Vereinstätigkeit liegt 
bei dem kurzen Bestände unseres jüngsten Vereins für Krüppelpflege 
noch nicht vor. 


Ueberblickt man nun die in den drei Krüppelanstalten Oester¬ 
reich-Ungarns zur Verfügung stehende Bettenanzahl, so muß diese 
leider als verschwindend klein bezeichnet werden. Lanzendorf be¬ 
herbergt derzeit 52 Kinder, Laa maximal 25, das Budapester Heim 
15 Kinder, also für alle Krüppelkinder Oesterreich-Ungarns 92 Betten! 

Doch muß immerhin berücksichtigt werden, daß alle unsere 
Krüppelanstalten erst Schöpfungen der letzten Zeit sind, welche sich 
aus den kleinsten Anfängen sogar verhältnismäßig rasch entwickelt 
haben. So hatte das Asyl in Lanzendorf, welches im November 1900 
mit 4 Pfleglingen eröffnet wurde, Ende 1901 bereits 22 Kinder in 
Pflege; zweimal wurde in kurzer Folge eine Vermehrung der Betten¬ 
zahl auf 40, bezw. 52 vorgenomraen. Derzeit wird abermals ein 
Seitentrakt des Gebäudes zu Krankenzimmern adaptiert, welche weiteren 
14 Betten Raum gewähren, wodurch die Gesamtzahl 66 erreicht wird. 

Das Heim in Laa, welches im Oktober 1902 von 4 Kindern 
bezogen wurde, verpflegte im Jahre 1907 gleichzeitig bereits 25 Zög¬ 
linge. Leider hat der gute Wille, die Wohltaten der Anstaltsbehand¬ 
lung möglichst vielen Bewerbern zukommen zu lassen, bei stationär 
geringer Bettenanzahl auch seinen Nachteil, welcher in einer be- 


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lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn. 


385 


deutenden Einschränkung der Verpflegstage pro Kind zum Ausdruck 
kommt. Die Verminderung der Verpflegsdauer ergibt sich evident 
aus folgender Tabelle, die dem Jahresbericht des Kinderheims Laa 
entnommen ist: 


1903 12 Kinder 4371 Verpflegstage 364 Verpflegstage pro Kind 

1904 18 , 

5551 

308 

n 

9 9 

1905 37 , 

5484 

148 

9 

9 9 

1906 58 , 

6345 

109 

1» 

9 9 

1907 54 . 

7235 

134 

9 

9 9 

1 denkt daher 

der Verein ernstlich daran, 

eine 

Erweiterung des 


Heims durch Aufsetzen eines Stockwerkes auf das Anstaltsgebäude 
vorzunehmen. 

Aber auch das Budapester Heim hat es in der kurzen Zeit 
seit 1903 zuwege gebracht, daß schon im heurigen Sommer mit dem 
Bau des eigenen Gebäudes begonnen werden kann. Zu diesem 
Zwecke wurde dem Verein von der Stadt Budapest eine Grundfläche 
im Ausmaße von 1300 m* in der Uellöi-Straße unentgeltlich zur Ver¬ 
fügung gestellt. Das Neugebäude soll zunächst für 50 Pfleglinge, 
und zwar Knaben, Platz bieten, doch ist Vorsorge getroffen, daß 
diese Bettenzahl wesentlich erhöht werden kann. Das Hauptgewicht 
wird auf die ärztliche Pflege und Behandlung gelegt werden. Für 
diesen Zweck wird die neue Anstalt Operationssaal, Krankenzimmer 
und Turnsaal etc. enthalten. Außerdem werden die Pfleglinge im 
neuen Heim zu Handwerkern ausgebildet werden. 

Wie aus dem Gesagten hervorgeht, beziehen sich in Oester¬ 
reich-Ungarn alle Maßnahmen nur auf die jugendlichen Krüppel. 
Mit dem 14., 15. Lebensjahr hört die Fürsorge auf. Damit fängt 
aber eigentlich erst das ärgste Elend an. 

Bisher kamen unsere Anstalten, die eben nur Kinder be¬ 
herbergen, bei dem kurzen Bestand noch nicht so oft in die Lage, 
sich mit der weiteren Versorgung der Pfleglinge zu befassen. Wir 
konnten uns mit dem Normalunterricht begnügen. Die wenigen 
Herangewachsenen jedoch wurden z. B. als gut geschulte Hilfs¬ 
personen in der Anstalt selbst verwendet. Aber in kurzer Zeit 
werden auch wir vor die Aufgabe gestellt werden, für das weitere 
Schicksal unserer Krüppelkinder zu sorgen. 

Denn es ist auch unsere volle Ueberzeugung, daß ein Krüppel¬ 
heim ohne Krüppelerziehung, ohne Fürsorge für die weitere Zukunft 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 25 


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386 


V. Aberle. 


des ehemaligen Pfleglings undenkbar sei. Es ist ein Stehenbleiben 
auf halbem Wege. Ja es wäre dann vielleicht für den Krüppel 
besser gewesen, wenn er das Heim nie gesehen hätte, in welchem 
er alles, liebevolle Pflege, gute Kost, Freude, Ordnung genossen, 
unter seinesgleichen ein sorgloses Leben geführt hatte, ja in ge¬ 
wissem Sinne sogar verwöhnt wurde. 

Nun zurück ohne Ausbildung in die ärmlichen Verhältnisse 
seiner Familie oder in ein Siechenhaus mit seinen bresthaften, un¬ 
heilbaren Kranken? Sicherlich ist dieses nicht der richtige Ort für 
den mit Ausnahme seines Gebrechens in der Regel ganz gesunden 
Krüppel. 

Anderseits bedeutet aber die Rückkehr des natürlicherweise 
entfremdeten, in der Bildung zurückgebliebenen Kindes auch für die 
liebevollsten Eltern meist eine förmliche wirtschaftliche Katastrophe, 
da sie ja oft gar nicht mehr mit dieser Möglichkeit gerechnet hatten. 

Ein Krüppelheim soll nämlich, worauf, glaube ich, bisher noch 
nicht nachdrücklich genug hingewiesen wurde, in doppeltem Sinne 
wirken, nicht nur dadurch, daß die Wohltat dem Kinde selbst zu 
gute kommt, sondern auch insofern, als man den ohnehin schwer 
geprüften Eltern einen nicht zu unterschätzenden Dienst erweist, 
indem man ihnen das auf sie wie lähmend wirkende Kind zur 
Pflege abnimmt, ihnen förmlich ein Wiederaufleben ermöglicht, die 
sich früher in ihrer Kraft für das Kind förmlich erschöpften. Die 
spätere Rückkehr eines solchen Kindes ist aber dann doppelt ver¬ 
nichtend für die Familie. In gewissem Sinne gilt dies auch für be¬ 
mittelte Kreise. Denn jeder Pädagog weiß aus Erfahrung, mit 
welchen Schwierigkeiten die Erziehung verkrüppelter Kinder in der 
Familie zu kämpfen hat, selbst dort wo die reichsten Mittel vor¬ 
handen sind. 

Ich glaube, daß in der Verhinderung der Rückkehr eines für 
das praktische Leben nicht geeigneten oder nicht besonders aus¬ 
gebildeten Krüppels ein nicht zu unterschätzendes soziales Moment 
liegt. Vielleicht ist dieses noch höher anzuschlagen, als die beste 
Eigenarbeit des Krüppels. 

Ich möchte hier nur bemerken, daß es sich empfehlen dürfte, 
eine möglichste Zentralisation der Arbeit in jeder einzelnen Krüppel¬ 
anstalt wie in irgend einer Fabrik anzustreben, d. h. die eine 
Krüppelanstalt fertigt dies, die andere jenes an, oder sie bildet 
wenigstens das Kind in dem betreffenden Berufszweig aus. Denn 


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lieber Krüppelfürsorge in Oesterreich-Ungarn. 


387 


unter diesen Umständen kann man sich sogar auf maschinelle Her¬ 
stellung einzelner Artikel einrichten, wodurch sowohl eine Verbilli¬ 
gung des Betriebes, als auch bei der Vollkommenheit der gefertigten 
Arbeiten eine gewisse Konkurrenzfähigkeit erzielt werden kann. Eine 
zu große Individualisierung der Fähigkeiten der einzelnen Krüppel 
dagegen dürfte zu kostspielig sein. 

Den genannten Gründen konnten auch wir in Lanzendorf uns 
nicht verschließen, jetzt, nachdem die Kinder in den nächsten Jahren 
zur Entlassung kämen, an die Errichtung Von Werkstättenschulen 
zu schreiten. Es ist dies bereits beschlossene Sache und das dazu 
erforderliche Geld schon vorhanden. 

üeberhaupt ist es erfreulich zu sehen, wie sich jetzt in 
Oesterreich-Ungarn alles rührt und regt und der Krüppelfürsorge 
erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Es scheint, als ob man Versäumtes 
nachholen wollte. Namentlich im heurigen Jubiläumsjahre unseres 
Kaisers wird von allen Seiten eine intensive und erfolgreiche Tätig¬ 
keit entwickelt. Während das ungarische Heim, wie schon erwähnt, 
heuer zum Bau der eigenen Anstalt schreitet, geht der Verein 
Leopoldineum daran, ein vollkommen eingerichtetes Ambulatorium 
mit Turnsaal und sonstigen Behelfen vorläufig in einem Miethause 
zu schaffen. 

In Böhmen, und zwar in Prag, wird ebenfalls noch im Laufe 
dieses Jahres mit dem Bau eines großen Krüppelheims begonnen, 
um damit einem dringenden Bedürfnisse abzuhelfen. Denn nach 
statistischen Berechnungen wird in Böhmen die Zahl der jugendlichen 
Krüppel auf 8000—10000, die der erwachsenen auf ca. 30000 ge¬ 
schätzt. Von diesen 40000 waren bisher kaum 100 in Privat¬ 
anstalten versorgt. Die Anstalt, welche den Namen „Jubiläums- 
Krüppelheim“ führen wird, enthält eine chirurgisch-orthopädische 
Abteilung, welche mit der chirurgischen Universitätsklinik in Prag 
in Kontakt bleiben soll, um zugleich als Lehranstalt zu dienen. Auch 
dieses Krüppelheim ist die Schöpfung eines Vereins, der, im Oktober 
1907 gegründet, unter dem Protektorate des Prof. Dr. Kukula, 
Dr. Stich und Dr. Dvorak steht. Dasselbe wird unter Mitwirkung 
des Staates, des Landes und der Waisenhausfonds errichtet. Laut 
Statuten sollen von den einzelnen Bezirken Stipendien zur Unter¬ 
stützung von Krüppeln geschaffen werden. Die in Aussicht ge¬ 
nommene Bettenzahl beträgt 100, doch ist eine Erweiterung auf 
150 Betten vorgesehen. Dieses Institut ist für Krüppel berechnet. 


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388 


V. Aberle. lieber Krüppelfiirsorge in Oesterreich-Ungarn. 


welche das 6. Lebensjahr überschritten haben. Die Pfleglinge werden 
dort außer der ärztlichen Behandlung auch eine vollkommene Er¬ 
ziehung und fachmännische Ausbildung in Werkstättenschulen, die 
der Anstalt angegliedert sind, genießen. 

Endlich soll auch in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, 
noch im heurigen Jahre ein Krüppelheim entstehen. Dasselbe ist 
ebenfalls als Jubiläumswerk geplant. 

Leider blieb Staat und Land, wie schon erwähnt, bisher allen 
diesen anerkennenswerten Bestrebungen, auch den Krüppeln ein 
menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, vollkommen ferne und 
begnügte sich im äußersten Falle mit der Zuweisung unbedeutender 
Subventionen. 

Doch spreche ich die Hoffnung aus, daß es schließlich doch 
gelingen wird, die maßgebenden Kreise auch in Oesterreich-Ungam 
für die Krüppelfürsorge zu interessieren; denn nur dann kann ein 
voller Erfolg erzielt werden. Die höchst angespannte private Wohl¬ 
tätigkeit kann nur Milderung, nicht Abhilfe des Krüppelelendes 
schaffen. 


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XXVII. 


Krüppelfiirsorge in den Vereinigten Staaten von 

Amerika. 

Von 

Robert W. Lovett, M. D., Boston. 

Die Fürsorge und Erziehung der Krüppel ist in den Vereinigten 
Staaten noch nicht allgemein als eine dem Staat zufallende Ver¬ 
pflichtung und zugleich nationalökonomische Einrichtung anerkannt 
worden, sondern ist bisher ausschließlich durch öffentliche Wohl* 
tätigkeit Und aus Stiftungen bestritten worden. Drei Staaten je¬ 
doch, Minnesota, New York und Massachusetts, haben in ange¬ 
führter Reihenfolge staatliche Hospitäler und Schulen für Krüppel 
gegründet. Andere Staaten und Gemeindewesen haben Schulen zur 
Erziehung von Blinden, Stummen, Schwachsinnigen und Epileptikern 
vorgesehen, sind aber scheinbar bisher unfähig gewesen, sich ihrer 
Krüppel anzunehmen, welche ebenfalls nicht an dem Unterricht in 
öffentlichen Schulen teilnehmen können. Es ist jedoch ermutigend 
zu bemerken, da die Einrichtung von staatlichen Schulen immer¬ 
hin nur eine Sache der allerletzten Jahre ist, daß das Publikum dieser 
Sache mit regem und wachsendem Interesse folgt. 

In Amerika muß man zwei verschiedene Arten von Krüppel¬ 
anstalten unterscheiden. Erstens solche, welche den Krüppeln Für¬ 
sorge und Schulung auf gewisse, genügend lange Zeit gewähren, 
zweitens solche, welche in erster Linie Krankenhäuser sind und zur 
selben Zeit Sorge tragen, den Kindern Schulunterricht zu ge¬ 
währen* — 

Im folgenden Bericht soll ein Versuch gemacht werden, eine 
kurze Darstellung von dem gegenwärtigen Stand der Bewegung in 
Amerika zu geben, indem einige grundlegende Daten aus den wich¬ 
tigsten Anstalten dazu benutzt werden. Die Auskunft ist in jedem 
einzelnen Falle von der betreffenden Anstalt selbst eingeholt worden. 
Zuerst soll über die erste Klasse der Anstalten berichtet werden. 


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390 


Robert W. Lovett. 


d. h. über diejenigen, welche ihren Patienten Fürsorge und Schulung 
auf längere Zeit gewähren. 

The House of the Merciful Saviour for Crippled Children (Das Haus 
des Gnadenreichen Heilands für verkrüppelte Kinder). Phila¬ 
delphia, Pennsylvania. Auskunft von Mrs. Robert T. Innes 
Treasurer. 

Diese Anstalt wurde im Jahre 1862 zu dem Zweck gegründet, 
nicht nur für heimatlose Krüppelkinder, welche aus dem Krankenhaus 
entlassen sind, zu sorgen, sondern auch anderen Armen und Hilf¬ 
losen Schutz zu gewähren. — Keinem hoffnungslosen Krüppel wird 
die Aufnahme verweigert, und schon viele Kinder haben die Anstalt 
verlassen, fähig sich ihren Lebensunterhalt selbst zu erwerben. Für 
diejenigen, welche die öffentlichen Schulen nicht besuchen können, 
existiert eine Tagesschule, wo die Elementarfdcher gelehrt werden. 
— Das Heim hat einen kleinen Geldfonds. — Die Schüler wohnen 
in der Anstalt und die größte Anzahl, welche zu gleicher Zeit auf¬ 
genommen werden kann, ist 70. Handfertigkeitsunterricht, der 
Eigenart des Kindes angemessen, wird erteilt, und die Patienten 
stehen unter medizinischer und chirurgischer Aufsicht. Die Zahl der 
Behandelten beträgt zur Zeit 48 und besteht zum größten Teil aus 
tuberkulösen Gelenkserkrankungen, Kinderlähmung, Rhachitis und 
kongenitalen Deformitäten. 

The Industrial School for Crippled and Deformed Children (Die Ge¬ 
werbeschule für verkrüppelte und mißgestaltete Kinder). Boston, 
Massachusetts. Auskunft von F. J. Cotting, Esq., President. 
Die Gewerbeschule für verkrüppelte und mißgestaltete Kinder 
wurde nach den Gesetzen des Staates Massachusetts im Jahre 1894 
ins Leben gerufen, und im selben Jahre mit einer Anzahl von 
15 Schülern eröffnet. — Sie hat in den verflossenen Jahren das 
Grundeigentum und die Gebäude im Werte von 175 365,82 Dollar 
erworben. Die Gebäude sind mit besonderer Rücksicht auf ihren 
Zweck erbaut und ausgestattet worden, was selbstverständlich die 
Kosten dafür bedeutend erhöhte. Die Anstalt ist jetzt frei von 
Schulden und wird gänzlich durch Beiträge des Publikums und die 
Zinsen eines kleinen Kapitals, von Legaten herrührend, unterhalten. 

150 Schüler können zugelassen werden, davon sind 75 Voll¬ 
schüler und 28 nehmen am Handfertigkeitsunterricht teil. Es sind 


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Krüppelfürsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika. 


391 


indessen vorläufig doch noch nicht genügend Mittel da, die volle 
Anzahl Schüler aufzunehmen, obgleich schon weitere 32 zur Auf¬ 
nahme vorgemerkt worden sind. Die Schule ist eine Tagesschule 
nud nimmt keine Schüler in Pension. 44 von 75 Vollschülem wer¬ 
den täglich auf Kosten der Schule von und nach Hause gefahren. 
Die übrigen 31 Schüler benutzen die elektrische Bahn. Solche 
Schüler, die ihr Fahrgeld bezahlen können, werden dazu angehalten, 
dem Rest wird es von der Schule wiedererstattet. Alle, welche der 
Abteilung für Handfertigkeitsunterricht angehören, bezahlen ihr 
Fahrgeld selbst. Ein gutes Mittagessen wird allen Schülern und 
Lehrern um 12 Uhr verabreicht. — In der Mitte des Vormittags 
und bevor die Schüler Nachmittags nach Hause gehen, erhalten die 
sehr Schwächlichen eine Tasse Milch. 

Die ärztliche Behandlung geschieht unter der Aufsicht eines 
medizinischen Komitees, bestehend aus 11 orthopädischen Chirurgen 
und 6 Spezialisten, jedoch wird jegliche Behandlung nur in den 
Kliniken ausgeUbt. 

Man ist übereingekommen, daß jeder Arzt während eines der 
9 Schulmonate die Besuche macht, da das Schuljahr vom 1. Oktober 
bis 30. Juni dauert, mit Ausnahme der Druckerei, welche während 
des ganzen Jahres im Betrieb bleibt. Die Schüler unterstehen ärzt-- 
licher Behandlung in den verschiedenen Krankenhäusern Bostons, weil 
in der Schule selbst keine Operationen vorgenommeu werden. 

Eine Pflegerin vom Childrens Hospital ist zur beständigen Auf¬ 
sicht da und sorgt für die Erneuerung von Verbänden, Schienen u.s. w. 
und dafür, daß die Verordnungen des Arztes befolgt werden. Ebenso 
besucht sie Schüler, welche vom medizinischen Komitee vorgeschlagen 
worden sind. Jeder Fall wird dann daraufhin zur ärztlichen Unter¬ 
suchung resp. Behandlung überwiesen. 

In der Schule sind zur Zeit nachfolgend genannte Fälle: 

34 tuberkulöse Hüftgelenksentzündung, 

23 Wirbelsäulentuberkulose, 

6 tuberkulöse Kniegelenke, 

5 multiple Gelenkstuberkulose, 

2 Osteomyelitis, 

3 Skoliosen, 

4 kongenitale Deformitäten, 

3 cerebrale Lähmungen, 

17 Kinderlähmungen, 


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392 


Robert W. Lovett 


1 progressiv^ Muskelatrophie, 

2 Amputationen, 

1 Wasserkopf, 

1 Rhachitis. 

Der Unterricht wird den 8 Klassen der Volksschule entsprechend 
geleitet und umschließt: Lesen, Schreiben, Rechnen, Orthographie, 
Grammatik, Geographie, Geschichte der Vereinigten Staaten, Ge¬ 
sundheitslehre, Singen, Zeichnen und Turnen. Die Schulstunden 
finden von 9 Uhr Morgens bis 4 Uhr Nachmittags statt. Die Schüler 
der Vorschulklassen im Alter von 5—8 Jahren haben 4 wissenschaftliche 
Stunden, 1 Stunde Handfertigkeitsunterricht, 1 Stunde Mittagspause 
und 1 Erholungsstunde. Die Schüler der höheren Klassen im Alter 
von 9—14 Jahren haben Stunden wissenschaftlichen Unterricht, 

2 Stunden Handfertigkeitsunterricht, 1 Stunde Mittagspause und 
^/a Stunde zur Erholung. — Handfertigkeitsunterricht, den jüngeren 
Kindern der unteren Klassen angemessen, wird in folgenden Fächern 
erteilt: Papierfalten, Kartonarbeiten, Sloyd, Tonmodellieren, Korb¬ 
machen, Stuhlflechten, Sticken, Schuhflickerei, Kochen, Setzen und 
Drucken. 

Besonders wird Handfertigkeitsunterricht im Sticken, Setzen 
und Drucken, Korbmachen und Stuhlflechten Schülern über 14 Jahren 
erteilt, welche zu schwächlich sind, um außerhalb der Schule zu arbeiten 
oder welche so verkrüppelt sind, daß sie besonderen Unterricht ver¬ 
langen. Aufträge für die Anstalt werden aus dem Publikum ent¬ 
gegengenommen und die Schüler von dem empfangenen Gelde be¬ 
zahlt. Zur Zeit rentiert sich die Druckerei am besten, in zweiter 
Linie sind gute Einkünfte aus der Rohrflechterei und der Näh¬ 
abteilung zu verzeichnen. Die Einnahmen der verschiedenen Ab¬ 
teilungen nehmen beständig zu. In der Korbflechterei werden sehr 
brauchbare Körbe in allen Größen angefertigt, die Druckerei druckt 
und bindet kleine Hefte und hat viele Aufträge für Zirkulare, Pro¬ 
gramme u. s. w. In der Nähabteilung werden Baby- und Kinder¬ 
kleider verfertigt. 

Die Schule untersteht einem weiblichen Oberhaupt, welches mit 

3 Volksschullehrern und 9 besonders ausgebildeten Lehrern sich in 
die Arbeit teilt. 

Der Zweck, der zur Gründung der Schule führte, war, ver¬ 
krüppelten Kindern eine ihren Leiden entsprechende besondere Er¬ 
ziehung und Ausbildung zu gewähren. Die Notwendigkeit einer 


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Krüppelfürsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika. 


393 


solchen Schule geht aus dem großen Erfolg hervor, welchen das 
Unternehmen gehabt hat. Die Schulzimmer sind mit besonderen 
Pulten und Stühlen versehen worden, welche den Kindern speziell 
angepaßt sind, Ruhepausen werden vom Arzte verschrieben. Eine 
gewisse Stundenanzahl wird in jeder Woche dem Turnen gewidmet, 
um die Deformitäten auszugleichen und auch den allgemeinen Ge¬ 
sundheitszustand zu heben. 

Eine Anzahl Damen, welche der Schule ihr Interesse zuge¬ 
wandt haben, gründeten ein Hilfskomitee, in dem jedes Mitglied sich 
verpflichtet für mehrere Schüler Sorge zu tragen. Sie besuchen ihre 
Schützlinge in den Wohnungen, sorgen aus den Mitteln des Hilfs¬ 
fonds für Kleidung, Apparate, Medizin, Milch u. s. w., wenn es 
notwendig ist. Jeder, der mit einem ärztlichen Attest ausgestattet 
ist, darf die Schule besuchen ohne Unterschied der Rasse, Nationalität 
oder Religion. Es wird kein Schulgeld erhoben, sondern städtische 
und staatliche Mittel bestreiten die Kosten. Keiner der Direktoren 
erhält eine Vergütung für seine Dienste. Die Vorsteherin, Lehrer, 
Haushälter und Dienstboten sind die einzigen bezahlten Kräfte an 
der Schule. 

New England Peabody Home for Crippled and Deformed Children, 

Dieses Haus wurde im Jahre 1894 gegründet und beabsichtigt 
verkrüppelten Kindern eine sachgemäße, chirurgische Behandlung, 
Pflege und Unterricht zu geben, ihnen eine angemessene Um¬ 
gebung zu schaflfen und sie zu lehren, sich im späteren Leben 
ihren Unterhalt selbst zu verdienen. In einzelnen Fällen unternimmt 
es die Anstalt sogar, hoflfnungslos verkrüppelte Kinder in den ersten 
Lebensjahren aufzunehmen. Die Anstalt ist für 30 Kinder einge¬ 
richtet und in Hyde Park, 10 Meilen von Boston, auf einem großen, 
waldigen Grundstück gelegen. Die Kinder stehen unter der Aufsicht 
von zwei orthopädischen Chirurgen und einem anderen Arzt. Eine 
geprüfte Krankenschwester beaufsichtigt die Kinder und sorgt zu¬ 
gleich für das Operationszimmer, welches für einige der chirurgi¬ 
schen Fälle benutzt wird. Die Patienten leben ganz und gar in der 
Anstalt. Die Anstalt wird durch private Wohltätigkeit und Beiträge 
unterhalten. Die Kinder erhalten Unterricht in den Elementarfächern 
durch einen Hauslehrer und als einen Teil ihrer Erziehung Unter¬ 
richt im Korbmachen, Rohrflechten und Sloyd. Aufgenommen sollen 
nur solche Kinder werden, deren Eltern unmöglich selbst in ange- 


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Robert W. Lovett. 


messener Weise für sie sorgen können, bevorzugt werden Waisen 
oder Halbwaisen. Jedes Kind wird unter der Bedingung, wenigstens 
2 Jahre in der Anstalt zu verbleiben, aufgenommen. Wenn not¬ 
wendig, erstreckt sich der Aufenthalt bis zu den Pubertätsjahren, 
und Mädchen wird in einigen Fällen sogar ein noch längerer Auf¬ 
enthalt gewährt. Hat das Kind gelernt seinen Unterhalt zu ver¬ 
dienen und ist die Kur beendigt, so wird es nach Hause zu seinen 
Eltern entlassen. 

Minnesota State Hospital for Indigent Crippled Children St. Paul, 

Minnesota. Auskunft von Dr. A. J. Gillette, Surgeon in Chief. 

Im Staate Minnesota wurde im Jahre 1891 ein Gesetz vorge¬ 
legt zur Bewilligung von Geldmitteln zur Fürsorge und Behandlung 
bedürftiger verkrüppelter Kinder im Staate Minnesota. — Späterhin 
schenkte die Provinz Ramsey, Minnesota, dem Staat ein Kranken¬ 
haus mit 100 Betten, ebenso ein kleines Gebäude mit 4 Morgen 
Land, welches zu Unterrichtszwecken verwendet wurde. — Die 
Bürger von St. Paul schenkten 23 Morgen Land am Phelan Park, 
welche jetzt im Sommer als Erholungsstätten nutzbar gemacht wor¬ 
den sind. Die Staatsverwaltung bewilligt in jeder Session Geld zur 
Unterhaltung der Anstalt. In der letzten Session wurden 32000 Dollar 
bewilligt, d. h. 16 000 Dollar jährlich. 

Die Patienten der Anstalt erhalten Schulunterricht. Aufge- 
nommen werden alle verkrüppelten oder mißgestalteten Kinder sowie 
solche, welche von Krankheiten befallen sind, welche Deformitäten 
zur Folge haben, unter der Bedingung, daß sie wenigstens 1 Jahr 
im Staate Minnesota gelebt haben. 

Der Durchschnittsbesuch beläuft sich während des Jahres auf 
60 Schüler, und die Durchschnittszahl der Kinder im Krankenhaus 
ist ungefähr 70. Im ganzen sind bis jetzt 417 Kinder behandelt 
worden. 

Der Schulunterricht umfaßt 7 Klassen und 1 Vorschuljahr. 
Im Anschluß an letzteres wird ein Kindergarten abgehalten. Die 
Fächer, welche gelehrt werden, sind: Geschichte, Geographie, Lesen, 
Grammatik, Orthographie, Rechnen und Schreiben. Der Lehrplan ist 
derselbe wie in den Volksschulen des Staates Minnesota, und es werden 
auch dieselben Lehrbücher benutzt. Ueber die Leistungen der Schüler 
wird täglich Buch geführt, und monatliche Zeugnisse werden den 
Eltern nach Haus gesandt. 


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KrUppelfUrsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika. 


395 


Einige Kinder sind vollständig auf die Erziehung im Hospital 
angewiesen, und es wird daher am meisten Gewicht auf richtiges 
Lesen, Schreiben, Buchstabieren und Rechnen gelegt. Besondere 
Aufmerksamkeit wird auch dem korrekten Sprechen gewidmet. 

Es wird beabsichtigt, die Abteilungen für Putzmachen, Schnei¬ 
dern, Holzschnitzen, Kunsttischlerei, Zeichnen, Stuhlflechten, Steno¬ 
graphie, Schreibmaschine und Setzen zu erweitern und zu vergrößern. 
— Aufträge, welche die Kinder für Stickereien und Korbflechten 
erhalten haben, sind durch sehr ermutigende Resultate belohnt 
worden. Es hat sich ergeben, daß eine solche Schule nicht nur sehr 
praktisch ist, sondern auch als Heilmittel nicht unterschätzt werden 
darf. Man kann dies verstehen, wenn man sich z. B. die vielen 
Monate vergegenwärtigt, welche ein tuberkulöses Kind im Kranken¬ 
haus zubringen muß. Dieses und das gesellige Leben der Anstalt 
tragen viel zur Fröhlichkeit und zum Wohlsein des Kindes bei und 
machen aus dem mißgestimmten kranken schließlich ein normal 
fröhliches Kind. 

Schools for Cripples (Schule für Krüppel). Chicago, IIL 
Auskunft von Dr. John Ridlon, Chicago. 

Im Jahre 1899 gründete das Schulkomitee in Chicago in einem 
der Elementarschulgebäude eine Schule für verkrüppelte Kinder und 
eröfifnete später eine zweite in einem anderen Stadtteil. Die zweite 
Schule wird von ungefähr 40 Schülern besucht, die täglich von und 
nach Hause in drei Omnibussen gefahren werden. Die ärztliche Auf¬ 
sicht der Kinder wird durch den regulären Arzt des Schulkomitees 
besorgt, und die orthopädische Behandlung findet in der Klinik der 
Northwestern Universität statt. 

Die erste Schule ist durch ein spezielles Schulgebäude von 
100000 Dollar Wert ersetzt worden, welches von dem Chicagoer 
Schulkomitee gebaut wurde. Es ist ein einstöckiges Gebäude mit 
einem großen Dachgeschoß für Handfertigkeitsunterricht. Dieser 
Unterricht besteht aus Drucken, Buchbinden, Papierfalten, Korb¬ 
machen und Sloyd. Sechs Wagen werden gebraucht, um die 
100 Kinder von und nach der Schule zu bringen. Die Zahl der 
Schüler beträgt 80—100. 

The New York State Hospital for the Care of Crippled and De- 
formed Children. New York. Auskunft von Dr. Newton, 
M. ShaflFer, Surgeon in Chief and Superintendent. 


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Robert W. Lovett. 


Das Institut wurde im Jahre 1900 vom Staat gegründet und 
wird auch von demselben unterhalten. Die Anstalt hat 45 Betten, 
und die Patienten wohnen im Hause, jedoch ist das Institut kein 
Krankenhaus oder Asyl. Die Patienten verbleiben durchschnittlich 
15 Monate bis 1^2 Jahr in der Anstalt. Die Behandlung findet 
durch einen Oberarzt, einen Assistenzarzt, einen Hausarzt und vier 
Schwestern statt. Außerdem besteht noch ein Stab von 29 kon¬ 
sultierenden Aerzten. 

Der Schulkursus umfaßt alle Elementarfächer, und die Lehrer 
sind staatlich angestellt. Der Handfertigkeitsunterricht besteht in 
Nähen, Sticken, Rohrflechten, Telegraphie, Stenographie, Schreib¬ 
maschine u. s. w. 

Der Zweck der Anstalt ist es, bedürftige und arme Krüppel 
zu erziehen und ihnen genügend lange Behandlung zu gewähren, 
eventuell dieselbe so lange aufrecht zu erhalten, besonders bei 
tuberkulösen Gelenkserkrankungen, bis die Krankheitsherde er¬ 
loschen sind. 

Die Anstalt liegt in Hawerstraw, New York. 

The Widener Memorial Industrial Training School for Crippled Chil- 

dren. Auskunft von Dr. de Forest Willard, Philadelphia, 

Surgeon in Chief. 

Diese Anstalt wurde von Herrn P. A. B. Widener mit einem 
Kostenaufwand von einer Million Dollar gegründet. Das Grundstück 
ist 32 Morgen groß mit reichem Waldbestand und liegt innerhalb 
der Stadtgrenzen von Philadelphia, Pennsylvania. Derselbe Geber 
beschenkte und eröfinete die Anstalt im Jahre 1906 mit einem Fonds 
von 3 Millionen Dollar. 

Die Anstalt besteht aus einer Abteilung für den Handgewerbe¬ 
unterricht, einer Schule^ einem Krankenhaus, kleineren Villen und 
einem Verwaltungshaus, sowie den Gebäuden, welche die Anstalt mit 
Licht und Heizung versorgen, einer Werkstatt, Isolierbaracken, 
Ställen u. s. w. 

Die Anstalt kann 100 Schüler unterbringen, welche nur unter 
10 Jahren zugelassen werden und bis zu ihrem 21. Jahr dort ver¬ 
bleiben oder so lange, bis ihre Erziehung vollendet ist Und sie ihren 
Lebensunterhalt verdienen können. 

Die Krankenzimmer sind derartig gebaut, daß sie alle offene 
sonnige Veranden haben; ein Operationssaal, elektrische Apparate 


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Krüppelfürsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika. 397 

sowie ein Turnsaal, Turngeräte im Freien und Spielplätze sind vor¬ 
gesehen. 

Die Kinder erhalten ihre vollständige Erziehung, unter an¬ 
derem wird auch Instrumentalmusik und Singen gelehrt, Land¬ 
wirtschaft, Gärtnerei, Buchführung, Stenographie, Telegraphie, Haus¬ 
haltung, Nähen und Schneidern wird getrieben, ebenso das An¬ 
fertigen von Schuhen und Schienen, Holzarbeiten und Gravieren. 
Ein Kursus zur Ausbildung als Bibliothekar oder Sekretär wird 
ebenfalls abgehalten; jeder Schüler erhält die Ausbildung, welche für 
ihn am geeignetsten erscheint und ihm später die besten Chancen 
bietet, seinen Unterhalt zu erwerben. 

Das Ziel der Anstalt ist, ihren Schülern eine gute geistige und 
körperliche, moralische und religiöse Erziehung zu geben, ihren 
Fleiß, Ordnung und Selbstachtung wachzurufen und sie zu befähigen, 
ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Gute Gewohnheiten werden ge¬ 
pflegt; man hat unter anderem eine Sparkasse gegründet. — Später 
soll ein einfaches Haus zur Aufnahme für die entlassenen Schüler 
gegründet werden, wo sie einen gesunden und guten Aufenthalt 
finden, der im Einklang mit ihrem Verdienst steht. 

The Massachusetts Hospital School Canton (Boston Medical and Surgical 

Journal, 5. März 1908, S. 331). 

Im Dezember 1907 öffnete diese Anstalt ihre Türen zum Emp¬ 
fang von Patienten und hat bis jetzt 50 verkrüppelte Kinder unter 
ihrem Schutz und viele Gesuche, die aber bisher zurückgewiesen 
Worden sind. Die Anstalt ist gegenwärtig für 150 Kinder einge¬ 
richtet, doch soll die Verwaltung 300 versorgen, für welche Anzahl 
Kinder der Staat ursprünglich die Summe von 300000 Dollar im 
Jahre 1905 ausgesetzt hatte. Der eigentliche Name der Anstalt 
„The Massachusetts Home and School for Crippled and Deforraed 
Children“ definiert ihren Zweck viel besser als der verkürzte offi¬ 
zielle Name. 

Die Schule ist von einem Direktorium von fünf Verwaltern ge¬ 
plant und gegründet worden, darunter von zwei Aerzten. Alle fünf 
Mitglieder sind vom Gouverneur des Staates ernannt worden. Die 
Schüler wohnen in der Anstalt und erhalten wissenschaftlichen und 
handgewerblichen Unterricht sowie ärztliche Behandlung und Ver¬ 
pflegung. Die Anstalt liegt in ländlicher Umgebung in Canton, un¬ 
gefähr 15 Meilen von Boston. 


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Robert W. Lovett. 


Cripple School. Cleveland, Ohio. Auskunft von Mrs. Nesbett. 

Die Schule besteht aus einem Kindergarten und den unteren 
Klassen der Volksschule, welche täglich im Goodrich Settlement Haus 
abgehalten werden. Außerdem wird an jedem Sonnabend Hand¬ 
fertigkeitsunterricht erteilt. Gegenwärtig nehmen 27 Kinder am 
Kindergarten und Schulunterricht teil. Im ganzen beläuft sich der 
Besuch auf 43 Kinder jährlich; eine Pflegerin kontrolliert den 
Schulbesuch, besucht die Abwesenden und berichtet über neue 
Schüler zur Aufnahme. Sie hat 202 Besuche während eines Monate 
gemacht. Sobald die Eltern in die Aufnahme der Kinder in die 
Schule eingewilligt haben, werden sie zur Untersuchung dem Lake- 
sidehospital zugewiesen. Operative Eingriffe werden dort ausgeführt 
oder die Kinder mit Krücken, Schienen, Gipsverbänden u. s. w. ver¬ 
sehen, für deren Kosten, wenn möglich, die Eltern aufzukommen 
haben. Nach Operationen finden die Kinder Aufnahme in dem 
Rainton Cottage, einem Erholungsheim. 8 erfolgreiche Operationen 
wurden während des letzten Jahres ausgeführt, 8 Kinder wurden 
mit Schienen ausgerüstet, 3 Gips verbände und ein künstliches Bein 
angelegt. 15 andere sind dort zur Beobachtung für eventuelle Ope¬ 
ration, doch ist es oft schwer, die Einwilligung der Eltern zu erlangen. 

Um 11 Uhr wird in der Schule ein Frühstück serviert, Suppe, 
Brot und Butter. Letztere Einrichtung sowie die Fahrt in der 
frischen Luft von und nach der Schule hat sich als segensreich 
erwiesen. 

Holy Cross House. Cleveland, Ohio. Auskunft aus dem dritten 

Jahresbericht. 

Der Zweck der Schule ist es, verkrüppelten Kindern ein Heim 
und ärztliche Aufsicht zu bieten, verbunden mit einer einfachen Er¬ 
ziehung und Unterricht in Gewerben, welche ihnen eine nützliche 
Beschäftigung gewähren. — Das Haus wird bis jetzt gänzlich durch 
private Wohltätigkeit unterhalten, doch hofft man, daß die Stadt 
einen solchen Vorteil in der Einrichtung erblicken wird, um bereit¬ 
willigst zur Unterhaltung des Instituts beizutragen. Die Patienten 
stehen unter ärztlicher Aufsicht. Die Anstalt kann 18 Patienten 
aufnehmen, welche nach ihrer Heilung entlassen werden. Die zur 
Aufnahme kommenden Fälle sind größtenteils solche, wie sie im 
vorhergehenden von anderen Anstalten beschrieben worden sind. 

Die noch zu erwähnenden Anstalten sind in erster Linie 


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Krüppelfürsorge in den Vereinigten Staaten von Amerika. 


399 


Krankenhäuser, welche aber gelegentlich den Kindern neben der Be¬ 
handlung Unterricht erteilen lassen. 

The New York Society for the Relief of the Ruptured and Crippled. 

Auskunft von Dr. V. P. Gibney, New York, Surgeon in Chief. 

Diese Anstalt wurde im Jahre 1863 gegründet, und obgleich 
in erster Linie ein Krankenhaus, unternimmt sie es, ihren Patienten 
Unterricht zu erteilen. Die Durchschnittszahl der Patienten im 
Krankenhaus beträgt täglich 199, wovon ungefähr 124 am Schul¬ 
unterricht teilnehmen. Das Krankenhaus verfügt über 250 Betten 
und hat alle modernen Einrichtungen eines solchen Institutes, ein¬ 
schließlich eines Turnsaales und einer wohlausgestatteten Werkstatt 
zur Anfertigung orthopädischer Apparate. Die Anstalt wird zum 
Teil durch wohltätige Stiftungen, zum Teil durch Zahlungen der 
Stadt und des Staates für überwiesene Patienten unterhalten. Die 
Poliklinik weist täglich einen Besuch von 148 Patienten auf. 

Der Schulunterricht besteht aus regelrechtem Elementarunter¬ 
richt und einem Kindergarten. Die Schule wird in regelmäßigen 
Zwischenräumen vom Schulinspektor besucht. Handfertigkeitsunter¬ 
richt wird in folgenden Fächern erteilt: Korbmachen, Nähen, Pyro- 
graphie u. s. w. 

The New York Orthopedic Dispensary and Hospital. Auskunft von 

The New York Orthop. Dispensary and Hospital. 

Die Anstalt wurde im Jahre 1866 gegründet, und die Mittel 
zur Unterhaltung kommen aus freiwilligen Beiträgen und einem 
kleinen Fonds. Die Anstalt ist in erster Linie Hospital und Poli¬ 
klinik, doch wird den Patienten im Hospital auch etwas Schulunter¬ 
richt erteilt. Das Hospital besteht aus den Operationsräumen und 
der Poliklinik, einem Zweiginstitut auf dem Lande mit einer Auf¬ 
nahmemöglichkeit für 65 Patienten, während die Poliklinik rund 
4000 Kranke jährlich versorgt. Das Zweiginstitut und die Gewerbe¬ 
schule, welche im Jahre 1904 eröffnet wurden, weisen einen Besuch 
von 156 Patienten auf. Rekonvaleszenten werden vom Hospital aus 
dorthin gesandt und bleiben, bis ihre Erziehung und Kur voll¬ 
endet sind. 

Die Schule erteilt Elementarunterricht und handgewerblichen 
Unterricht in Mechanik, Haushaltung, Fein Wäscherei, Nähen, Gärt¬ 
nerei u. s. w. 


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400 Robert W. Lovett. Krüppelfürsorge in den Ver. Staaten von Amerika. 

üniversity of Pennsylvania. Orthopedic Department. Auskunft Ton 
Dr. de Forest Willard, Philadelphia, Professor of Orthop. Sur- 
gery and Surgeon in Charge. 

In der orthopädischen Abteilung des Universitätskrankenhauses 
können 50 Patienten aufgenommen werden. Das Jahr der Gründung 
ist 1877. Eine vollständige und moderne Einrichtung von Kranken¬ 
zimmern, Operations- und Verbandzimmern, sowie Veranden, Turn¬ 
saal und mechanische Werkstatt sind vorhanden und stehen unter 
Aufsicht von acht Aerzten und Assistenzärzten. 

Schulunterricht wird täglich durch ins Haus kommende Lehrer 
abgehalten. Die Lehrfächer sind: Lesen, Buchstabieren, Rechnen, 
Musik u. s. w. 

Handfertigkeitsunterricht wird nicht erteilt. 


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XXVIII. 


Bericht über das 10jährige Bestehen der „Werkstatt 
für Krüppel an der orthopädischen Abteilung der 
Maximilian-Heilanstalt“ in St. Petersburg (Direktor; 
Prof. Welliaminoff'). 

Von 

Dr. Izabella Czarnomska^ Arzt der Stiftung. 

Mit 22 Abbildungen. 

Es möchte allerdings wohl scheinen, daß Anstalten, deren 
Aufgabe es ist, Krüppel ein Handwerk erlernen zu lassen, eher zu 
der Kategorie der öffentlichen Wohltätigkeitsanstalten als zu der¬ 
jenigen medizinischer Institute gerechnet werden könnten. Aber 
schon die Benennung „Werkstatt an der orthopädischen Abteilung 
der Maximilian-Heilanstalt** bezeugt, daß Anzeichen vorhanden sind^ 
diese Anstalt auch als Heilanstalt zu betrachten. 

Die Orthopädie beschäftigt sich ja ausschließlich mit solchen 
Leidenden, die entweder Kandidaten für Verkrüppelung oder schon 
verkrüppelt sind. Zur ersten Kategorie gehören alle die Leidenden, 
bei denen ein Krankheitsprozeß den Bewegungsmechanismus des 
menschlichen Körpers gestört, die Statik zerrüttet hat und zu 
deren Heilung man außer operativem Eingriff und klimatischer Heil¬ 
kur noch solche Existenzbedingungen schaffen muß, unter denen die 
betreffenden Körperteile vollständige Ruhe genießen können, oder es 
erfordern diese Leidenden außer Massage und elektrischer Behand¬ 
lung noch eine regelmäßige, ineinandergreifende Tätigkeit der be¬ 
troffenen Gliedmaßen, womit einer hochgradigen Entwicklung der 
Verkrüppelung vorgebeugt werden soll. 

In diesen beiden Fällen ist die Anwendung orthopädischer Vor¬ 
richtungen das einzig Richtige, da letztere die mechanisch richtige 

*) Vortrag für den VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für oitho- 
pädisehe Chirurgie am 25. April 1908. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 26 


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402 


Izabella Czarnomska. 


Behandlung sichert und da die Kranken, meist schon Chroniker, nicht 
auf lange Jahre hinaus den gewöhnlichen Lebensverhältnissen ent¬ 
zogen werden, was besonders für schulpflichtige Kinder von größter 
Bedeutung ist. 

Die Anwendung des Gipsverbandes gibt wohl die Möglichkeit, 
auch ohne spezielle orthopädische Vorrichtungen den beschädigten 
Körperteilen die vollständigste Ruhe zu schaffen, aber meistens wird 
er in akuten Fällen oder in Fällen, die akut zu werden drohen, an¬ 
gewandt, und kann der Gipsverband nur eine gewisse Zeitlang an¬ 
gewandt werden. Sobald der Kranke im stände ist, in seine 
gewöhnlichen Lebensverhältnisse zurückzukehren, muß er von einem 
Rezidiv, von einer neuen Verletzung verschont bleiben, um beim 
Gehen oder Arbeiten die erlangte Besserung nicht wieder zu ver¬ 
lieren, und in diesem Falle ist der Gipsverband nicht anwendbar. 
Man greift, sobald die Patienten zur wohlhabenden Klasse gehören 
und eine mechanisch mangelnde Funktion zu ersetzen ist, zu den 
orthopädischen Vorrichtungen, auch zu Apparaten und besonderem 
Schuhwerk. Aber in solchen Fällen, wo es sich um unbemittelte 
Patienten handelt, wird die Lage des Arztes wirklich tragisch. 
Wie oft sind Krücken, Ausreckapparate, Korsette, in denen der 
Kranke wenigstens arbeiten könnte, orthopädisches Schuh werk — 
der unumgängliche Ratschlag, das einzig wirksame Rezept, und wie 
oft wird dazu noch eine klimatische Kur und ein gewisses Regime 
verschrieben, und man weiß doch so gut, daß der mittellose Kranke 
weder das erstere noch das zweite zu leisten im stände ist. 

In solchen Fällen ist die Lage des Arztes eine wahrhaft trost¬ 
lose, und dieses empfinden alle Aerzte, die in Heilanstalten, städtischen 
und ländlichen Krankenhäusern, sogar in Kliniken tätig sind, wo sie 
mit den mittellosen Schichten der Bevölkerung zu tun haben. Solche 
Kranke wandern von Krankenhaus zu Krankenhaus, quälen sich jahre¬ 
lang ab, bis sie endlich zum vollständigen Krüppel werden oder dem 
sich immer verschlimmernden Krankheitsprozeß erliegen. Aber nicht 
erquickender ist die Lage des Arztes in betreff der zweiten Kate¬ 
gorie der Kranken, der schon vollständigen Krüppel, die doch ihren 
einzigen Trost und ihr ganzes Hoffen in die Kunst des Chirurgen 
und Orthopäden setzen. 

Aber leider ist die Chirurgie, trotz ihrer glänzenden Fort¬ 
schritte, nicht immer im stände, auf operativem Wege die gelähmte 
Funktion und die verlorene Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. In 


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Bericht über das lOjührige Bestehen der .Werkstatt für Krüppel etc.*. 403 

manchen Fällen müssen nach dem operativen Eingriff die ortho¬ 
pädischen Vorrichtungen zu Hilfe gezogen werden, um das mechanische 
Gleichgewicht zu regeln. 

Und wie oft, das Leben seines Patienten rettend, muß der 
Chirurg seinen Kranken eines Gliedes berauben und ihn demgemäß 
zum Krüppel — heilen! Und dann steigt wohl manchmal im Herzen 
des Chirurgen die Frage auf, wie dieser vom Tode gerettete 
Patient auch vor dem Hungertode zu schützen, ihm wenigstens ein 
wenig die verlorene Arbeitsfähigkeit zu ersetzen sei. Man kann 
getrost behaupten, daß es wohl keinen Chirurgen gibt, dem diese 
Frage nicht quälend im Sinne stand. In diesem Falle muß not¬ 
wendigerweise zu orthopädischer Hilfe, zu künstlichen Gliedmaßen 
aller Art gegriffen werden. Mögen solche aber auch vorhanden sein, so 
kann ein Einarmiger oder Arm- und Fußloser doch nur arbeitsfähig 
werden, wenn er in solche Verhältnisse gestellt wird, wo man seiner 
Verkrüppelung helfend entgegentritt, ihm die Arbeit erleichtert, ihn 
lehrt, wie in diesen neuerstandenen Verhältnissen zu arbeiten ist, und 
die ihm fehlende Arbeitsfähigkeit durch spezielle Methoden oder 
mechanische Vorrichtungen zu ersetzen sucht. 

Von alters her schon nahm die Frage der Fürsorge für Krüppel 
die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch, löste sich aber meisten¬ 
teils in einer wohltätigen Versorgung solcher arbeitsunfähigen 
Menschen. 

Erst im Jahre 1832 stößt man auf eine Verwirklichung 
dieser Art Arbeitsversorgung, die durch die Gründung einer Schule 
für einarmige Knaben in München durch Johann Edler von Kurz 
zum Ausdruck kam. 

Und so hat die Unterstützung der Krüppel durch Arbeitser¬ 
möglichung de facto ihren Anfang zuerst in Westeuropa genommen. 
Aber weder die Frage orthopädischer Hilfe für breite Schichten der 
Bevölkerung, noch die Frage über den Zusammenhang dieser Hilfe 
mit einer Erwerbsmöglichkeit für die Verkrüppelten hat das Interesse 
und die Aufmerksamkeit der Aerzte, geschweige denn die der Ge¬ 
sellschaft erregt. Und doch sind es gerade die Aerzte, die sozu¬ 
sagen am Urquell all dieses Krüppelelendes stehen; sie sind es, die sich 
mit denen abmühen, die bald gezwungen werden, hilfesuchend sich 
an die öffentliche und private Wohltätigkeit zu wenden; sie sind es, 
die am besten die Ursachen der Verkrüppelung kennen können und 
kennen müssen, und daher könnten sie am besten Mittel und Wege 


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404 


Izabella Czarnombka. 


weisen, um Verkrüppelungen zu vermeiden, und können sie am 
ehesten die Initiatoren einer rationellen Beantwortung der KrQppel- 
versorgungsfrage sein. 

Mit jedem Tage erweist es sich mehr und mehr, daß einem 
Krüppel rationell nur durch Arbeit geholfen werden kann, natürlich 
unter der Bedingung, daß ihm orthopädische Hilfe gesichert ist. Auch 
solche Leidende, die Gefahr laufen zu Krüppeln zu werden, können 
bei einer richtigen orthopädischen Behandlung vor vollständiger Ver¬ 
krüppelung bewahrt werden. Daraus ergibt es sich ganz deutlich, 
wie groß das Bedürfnis sein muß nach einer Anstalt, die sich zum 
Ziele setzt, Krüppel arbeitsfähig zu machen und dabei eine ortho¬ 
pädische Heilanstalt zu sein. 

Der ursprüngliche Gedanke einer solchen Vereinigung dieser 
zwei Anstalten gehört dem dänischen Pastor Hans Knudsen, welcher 
unter Mitwirkung von Frau Petersen in Kopenhagen eine Poliklinik 
gründete und daneben im Jahre 1872 eine Schule für Krüppel er- 
öffnete. Was die orthopädische Seite in dieser dänischen Anstalt 
betraf, so hatte sie hauptsächlich zum Zweck, die Krüppel überhaupt 
zur Arbeit fähig zu machen, die Verkrüppelungen entweder auf 
operativem Wege oder mechanotherapeutisch, oder durch künstliche 
Gliedmaßen zu verringern und zu erleichtern und die verlorene 
Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Aber erst der russische Chirurg 
Professor N. A. Welliaminoff war es, der den Plan faßte, die 
Krüppel ein orthopädisches Handwerk erlernen zu lassen, sich ihrer 
persönlichen Erfahrung zu bedienen, urn mit ihrer Beihilfe den 
technischen Teil der Frage zu verbessern, den Kostenpreis der Er¬ 
zeugung oder Fabrikation zu verringern, damit die orthopädische 
Hilfe in vervollkoramneter Weise auch unbemittelten Schichten der 
Bevölkerung zugänglich würde. Ferner mußte auch in Erwägung 
gezogen werden, wie die Summen, die für die Krüppel einfließen 
würden, verausgabt werden sollten, um nicht nur ihren Tagesver¬ 
dienst, sondern auch die orthopädische Behandlung den Unbemittelten 
zu sichern. Dank der Initiative des Prof. N. A. Welliaminoff, mit 
Genehmigung der Hohen Protektorin des Maximilian-Hospitals, 
Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Prinzessin Eugenie von Oldenburg, 
erwuchs bei der orthopädischen Abteilung des Maximilian-Hospitals 
die am 14. Oktober 1897 eröffnete „Werkstatt zur Erlernung eines 
Handwerks für Krüppel“. Für diese Anstalt, welche der erste kleine 
Versuch zur Verwirklichung der oben ausgesprochenen Ideen sein 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der ,Werkstatt für Krüppel etc. •. 405 

sollte, wurden weder aus öflFentlichen noch aus Staatsmitteln irgend¬ 
welche Beiträge beigesteuert. Die einzigen Mittel bestanden aus den 
bescheidenen Scherflein, die dank der unermüdlichen Fürsorge der 
Hospitalärzte gesammelt wurden, und dementsprechend dürfen alle 
Aerzte des Maximilian-Hospitals auf dieses Werk als auf ihre 
Schöpfung blicken, und bis auf den heutigen Tag sind die frei¬ 
willigen Beiträge und die große Mühe und Fürsorge der Aerzte die 
einzige Unterstützung dieser Anstalt. 

Im ersten Jahre bestand die Werkstatt aus einer kleinen, 
3 Zimmer enthaltenden Wohnung in demselben Gebäude, wo sich 
das Hospital befindet. Augenblicklich besteht die Werkstatt aus 
14 Räumen in der unteren Etage desselben Gebäudes. 

Anfänglich traten nur 2 Schüler ein: ein Knabe mit einer 
gänzlichen Fußlähmung und teilweiser Lähmung der Finger und ein 
Mädchen mit vielfachen rhachitischen Verkrümmungen. Die Kinder 
besuchten in den ersten Jahren die Anstalt nur am Tage, ohne darin 
zu logieren. 

Als Lehrerin wurde die Finnländerin J. K. Lindström ein¬ 
geladen; sie hatte die gewerbliche Schule in Abo absolviert, war 
mit den in der Helsingforser Schule für Krüppel angewandten 
Unterrichtsmethoden bekannt und konnte hier das Schreinern, Weben, 
Flechten und Bürstenmachen lehren. 

Die orthopädischen Arbeiten wurden bei persönlicher Teilnahme 
des an der Spitze der „Werkstatt“ stehenden Arztes ausgeführt, 
und wie die Schüler so auch die Lehrerin wurden dazu angelernt. 
Natürlicherweise beschränkte sich dadurch die Produktion orthopädi¬ 
scher Vorrichtungen auf höchst einfache Apparate. Aber dennoch 
erhielten im Laufe der zwei ersten Jahre 38 Kranke unentgeltlich 
orthopädische Hilfsmittel. Schwer war es den Wünschen der Kranken 
entgegenzukommen, sobald es sich um orthopädisches Schuhwerk und 
Apparate mit komplizierten Metallarbeiten handelte. 

In Anbetracht dessen wurde im Jahre 1899 eine spezielle 
Schuhmacherabteilung gegründet und einem Spezialisten anvertraut. 

Im Jahre 1900 erwarb die Werkstatt die nötigen Drechsel- 
und Schlosserinstrumente, richtete eine Schmiede ein und verschrieb 
sich einen Mechaniker, der auch die Schlosserarbeit gut verstand, 
und einen Bandagenmeister. 

Aber die Abwesenheit eines Lehrers für Einarmige und Arm¬ 
lose war in der Werkstatt recht fühlbar; solche Lehrer gab es in 


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406 


Izabella Czarnomska. 


Rußland damals absolut nicht, und die Eopenhagener Schule besaß 
im ganzen nur drei Lehrer, die in der eigenen Schule angestellt 
waren. Deshalb entschloß man sich, den als ersten eingetretenen 
Schüler P. N. Alexandrow nach Kopenhagen in die Schule zu 
schicken, um die Methode der Unterweisung Einarmiger und Arm¬ 
loser zu erlernen, worauf er nach beendigter Lehrzeit als Lehrer 
an der „Werkstatt* seit dem Jahre 1903 angestellt worden ist. 

Mit der Anstellung des Alexandrow hob sich die Unterweisungs¬ 
methode und die Arbeit der Krüppel wesentlich, aber es schien, als 
könnte man die Sachlage noch verbessern, indem man solche Vor¬ 
richtungen anbrachte, die die Arbeit erleichtern und die verschiedenen 
existierenden Mängel ersetzen könnten. Diese Vorrichtungen mußten 
in der orthopädischen, mechanischen Abteilung angefertigt werden 
und zwar von einem solchen Meister, der nicht nur die Technik 
beherrschen sollte, sondern dessen Hauptidee die Bekämpfung der 
Hindernisse, die sich den Krüppeln bei ihrer Arbeit darbieten, 
sein sollte. 

Der im Jahre 1903 in der „Werkstatt* angestellte Schlosser¬ 
meister W. 6. Sorokoumow, ein Mann von selten glänzender tech¬ 
nischer Begabung, selbst als Erwachsener zum Krüppel durch den 
Verlust eines Beines geworden, widmete gerade dieser Frage die 
größte Aufmerksamkeit und ersann Vorrichtungen und Apparate, 
welche die Arbeitsfähigkeit erhöhen oder wiederherstellen könnten. 

Dank dieser Verschmelzung von Technik und Arbeit schritt 
die „Werkstatt* weit voraus, ihr Vorbild, die dänische Anstalt, über¬ 
treffend, und könnte jetzt fast selbst zum Muster dienen. 

Im Jahre 1904 erweiterte sich die orthopädische Abteilung 
ganz besonders, da sie die Bestellungen für die Nöte der Kriegs¬ 
zeit erhielt. 

Im Jahre 1905, in Anbetracht der zahlreichen Opfer des russisch¬ 
japanischen Krieges, wurde auf Wunsch des Professor Welliamino ff 
die Frage erörtert, ob die verkrüppelten Krieger nicht auch in die 
Werkstatt zugelassen werden könnten. Da diese aber ihr Quartier 
in der Nähe der Werkstatt aufschlagen mußten, wurde mit Ge¬ 
nehmigung Ihrer Majestät der Kaiserin Maria Theodorowna neben 
der Werkstatt ein „Heim“ im Namen der Kaiserin Maria Theodorowna 
für die verkrüppelten Krieger, die ein Handwerk erlernen wollten, 
gegründet, die Werkstatt vergrößert und erweitert. Da vom 
„Kriegerheim* hier gesprochen wird, ist es von nöten mitzuteilen, 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der .Werkstatt für Krüppel etc.*. 407 


wie es in dieser Hinsicht mit den Lehrlingen der Werkstatt be^* 
schaflFen war. 

Das tägliche Besuchen war angesichts der weiten Entfernungen 
der Hauptstadt höchst mühevoll und peinlich und hinderte in den 
ersten Jahren trotz des größten Verlangens das Besuchen der Werk¬ 
statt. Deshalb wurde im Jahre 1901 ein .Verein zur Fürsorge für 
Verkrüppelte, die ein Handwerk erlernen“, gegründet, welcher aus 
Privatstiftungen ein Heim in demselben Gebäude, wo die Werkstatt 
sich befindet, eröflFnete. Dieser Verein hatte sich als Ziel gestellt, 
nicht nur den in der Werkstatt Arbeitenden, ihrer Gliedmaßen Be¬ 
raubten eine Unterkunft zu schaffen, sondern sie auch andere Ar¬ 
beiten erlernen zu lassen, sich ihrer Nöte in der freien Zeit anzu¬ 
nehmen, ihnen demgemäß die Verhältnisse ihres eigenen Heims zu 
ersetzen und sie zu tüchtigen, brauchbaren Arbeitern und zu acht¬ 
baren Leuten heranzuziehen. 

In der Werkstatt werden Krüppel aufgenommen im Alter von 
14—30 Jahren. Die Lehrzeit beträgt für Krüppel, die ziemlich 
arbeitsfähig sind, 4 Jahre. Wenn nach Beendigung 4jähriger Lehr¬ 
zeit der Krüppel fähig ist, selbständige, wenn auch nicht besonders 
schwierige Arbeiten zu leisten, bleibt er entweder in der Werkstatt 
mit Gehalt oder bekommt seine Arbeit stückweise bezahlt oder er¬ 
hält ein Zeugnis und tritt in eine Privatwerkstätte ein. 

Für Krüppel, die wenig arbeitsfähig sind, gibt es keine fest¬ 
gesetzte Lehrzeit, sie bekommen eine gewisse Zahlung für ihre 
Arbeit auch während der Lehrzeit, d. h. die fleißig arbeitenden und 
Fortschritte machenden Lehrlinge bekommen monatlich 2 bis 3 bis 
5 Rubel für ihre .Kleidung“. Dies soll bezwecken, daß sie sich 
angewöhnen sollen, nur auf selbständig erworbene Unterstützung zu 
rechnen und nicht auf Spenden. 

Besonders in der orthopädischen Abteilung war es nicht möglich, 
eine bestimmte Lehrzeit festzusetzen. Man mußte die individuelle 
Beziehung des einzelnen zur Arbeit und seine Leistungsfähigkeit in 
Betracht ziehen, und nach 4 Jahren Lehrzeit wurde ihnen ein Ge¬ 
halt von monatlich 12—15 Rubel bestimmt^). 

Während ihres 10jährigen Bestehens wurde die Werkstatt 

*) Solche Schüler kleideten sich nicht nur auf eigene Kosten, sondern 
zahlten noch 3 Rubel monatlich für ihr Obdach im Heim oder mieteten sich 
in der Nähe der Werkstatt eine Privatwohnung, wenn ihr Leiden sie am Gehen 
nicht verhinderte. 


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408 


Izabella Czarnomska. 


von 127 Krüppeln (116 Männern, 11 Frauen) besucht. Davon sind 
48 Krieger gewesen. 

Wie früher gesagt worden ist, traten im ersten und zweiten 
Jahr des Bestehens zwei Krüppel ein, von denen der eine Lehrer 
der Einarmigen und Armlosen in der Werkstatt ist und der zweite, 
ein Mädchen, als Lehrerin für Handfertigkeit in die Schule des 
Vereins „Krippe“ eingetreten ist. Ausgetreten sind in diesen 
10 Jahren 77 (74 Männer, darunter 36 Krieger, und 3 Frauen). 

Zum 14. Oktober 1907 befanden sich in der Werkstatt 50 Per¬ 
sonen (42 Männer, davon 12 Krieger, und 8 Frauen). 

Dem Alter nach sind 

von 12—15 Jahren ... 38 

15—20 „ ... 22 

20—25 „ ... 11 

25—30 „ ... 8 

Die ihrer Gliedmaßen beraubten Krieger sind im Alter von 
23—40 Jahren. 

Was die Form der Verkrüppelung betrifft, so sind bei denen, 
die nicht im Militärdienst gestanden haben, die verschiedensten Ver¬ 
krümmungen der Gliedmaßen und des Rückgrates vorherrschend 
(54), Amputierte 25. Bei den Kriegern herrschen die Amputierten 
vor (31 Mann), mit veränderter Funktion der Glieder 5, mit Ver¬ 
krümmungen der Glieder 5. 

Die Entstehung der Verkrüppelung bei Nichtkriegem gibt fol¬ 


gende Ziffern: 

Von Geburt an .4 (5,l^/o) 

Die Folgen der Gelenktuberkulose 37 (46,8^0) 

Rhachitis.2 

Osteomyelitis.4 

Kinderparalysis.9 

Syphilis.3 

(alles zusammen . . . 22,8 ^/o) 

Nach Unglücksfällen .... 20 


(Abgefrorene Gliedmaßen 4, traumatische 16 (25,3®/o). 

Die Verkrüppelungen der Krieger sind alle traumatischer Ent¬ 
stehung. 

Wenn wir die erhaltenen Prozentsätze verallgemeinern, so erhellt 
daraus, daß das ätiologische Moment der Verkrüppelung (69,6®/o) 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der »Werkstatt für Krüppel etc.*. 40& 

von verschiedenen Krankheitsformen herstammt. Aber auch in Be^ 
Ziehung auf angeborene Mißbildungen findet man in den wissen¬ 
schaftlichen biologischen Beweisstücken immer häufiger Hinweise auf 
den Zusammenhang der Entwicklung von Mißbildungen mit dem 
ätiologischen Moment verschiedenartiger Krankheitsprozesse. 

Im Resultat ersehen wir, daß 74,7 ®/o der Verkrüppelungen die 
Folgen verschiedener Krankheiten sind. 

Nach den Lebensverhältnissen, in denen die eingetretenen 
Krüppel (Nichtkrieger) sich vor dem Eintritt in die „Werkstatt* 
befanden, und nach den Motiven, die sie dazu brachten, lassen sie 
sich in folgende Gruppen teilen. 

I. Aus Familien von Arbeitern, Handwerkern Männer Frauen ' 
und Dienstboten stammend, nicht ange¬ 
nommen in Privatwerkstätte und einer be¬ 
ständigen orthopädischen Hilfe bedürftig . 11 5 

II. Aus Familien der Mittelklasse, die ganz 
spezieller Bedingungen zur Erlernung einer 
Arbeit bedürfen. 5 — 

III. Aus Asylen, wo es unmöglich ist, sie in 

gewöhnlichen Verhältnissen ein Handwerk 
erlernen zu lassen, da man ihnen eine be¬ 
ständige orthopädische Hilfe sichern muß 10 B 

IV. Aus den städtischen Krankenhäusern, der 

Möglichkeit in gewöhnlichen Verhältnissen 
zu arbeiten beraubt und beständiger ortho¬ 
pädischer Hilfe bedürftig. 12 2 

V. Aus dem Sanatorium für Tuberkulöse: ge¬ 
nesen, aber fernerer orthopädischer Hilfe 
und spezieller Bedingungen zur Erlernung 
eines Handwerks bedürftig. 5 2 

VI. Aus den Dörfern: untauglich zur landwirt¬ 
schaftlichen Arbeit und orthopädischer Hilfe 

bedürftig. 8 4 

VII. Aus den Arbeiterkreisen: durch eine Pension 
der Fabrik vor Not geschützt, aber durch 
moralische Motive geleitet, in der Werkstatt 
tätig zu sein. 1 — 


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410 


Izabella Czarnomska. 


VIIL Solche, die ihr Handwerk selbständig erlernt Männer Frauen 
haben und trotz ihrer Verkrüppelung zur 
Anleitung der Lehrlinge in der Werkstatt 


angestellt sind. 3 

IX. Obdachlose Bettler, die wegen ihrer Mi߬ 
bildung der Möglichkeit zu arbeiten und zu 
lernen beraubt sind. 8 


Gemäß dem Verluste der Arbeitsfähigkeit werden die einge¬ 
tretenen Krüppel in drei Kategorien eingeteilt. 

I. Zur ersten Kategorie gehören Krüppel mit starkem Verluste 
an Arbeitsfähigkeit, z. B. solche mit zweiseitiger Amputation der 
Arme, vollständiger Lähmung derselben, oder solche mit Amputation 
oder Lähmung eines Obergliedes, besonders des rechten, zumal bei 
solchen Leidenden, die keine persönliche Fähigkeit für Handfertigkeit 
besitzen, endlich der Mangel mehrerer Finger. Diese Krüppel wären 
in gewöhnlichen Verhältnissen ohne außerordentliche, fast für einen 
jeden einzelnen speziell erfundene Vorrichtung und Anleitung auf 
ein erbärmliches Bettlerdasein angewiesen ^). 

Unter den Lehrlingen der Werkstatt befinden sich aus dieser 
Kategorie 20 Nichtkrieger und 2 Krieger. 

II. Zur zweiten Kategorie gehören Krüppel mit Beschädigungen 
des Körpers oder der Glieder, oder von irgend einem Krankheits- 
prozesse und von einer Wunde Genesene. In diesen Fällen hängt 
die Arbeitsfähigkeit von einer mehr oder weniger beständigen 
orthopädischen Hilfe und von den allgemeinen Bedingungen der 
Arbeit ab. Allzugroße Anstrengungen würden sie von neuem krank 
machen und die Verkrüppelung verschlimmern. Solcher befinden 
sich in der Werkstatt Nichtkrieger 34, Krieger 10. Diese letzteren 
weisen meistens Lähmungen verschiedener Muskelgruppen, Be¬ 
schädigungen der Nervenzentren in Form von Neuritis, Kontrakturen 
der Finger an den Händen, nicht verwachsene Knochenbrüche auf, 
welche des beständigen Tragens von Apparaten bedürfen. 

III. Zu der dritten Gruppe gehören Krüppel mit amputierten 
unteren Gliedmaßen und Verkrümmungen der Glieder angeborener, 
rhachitischer oder traumatischer Herkunft. 


*) Natürlich sind wohlhabende und solche, die sich mit geistiger Arbeit 
befassen können, ausgeschlossen. 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der ,Werkstatt für Krüppel etc.*. 411 


Die Arbeitsfähigkeit dieser Kategorie von Krüppeln, die durch 
die erschwerte Fortbewegungsmöglichkeit höchst vermindert ist, hängt 
gänzlich von der Zweckmäßigkeit der künstlichen Gliedmaßen und 
der richtigen Auswahl des Handwerkes ab. Selbstverständlich ist 
bei Fällen von zweiseitiger Amputation der Verlust der Arbeits- 


Fig. 1. 



Tähigkeit am wenigsten in solchen Anstalten fühlbar, wo man die 
Spezialisierung und die Mithilfe in der Arbeit anwenden kann. 

Zu dieser Kategorie gehören 25 Nichtkrieger, 30 Krieger. 

Was die Verfahren anbetriffb, deren sich die Krüppel bedienen, 
um ihre Arbeiten zu vollbringen, so eignen sich viele individuell 
erfundene Kunstgriffe dazu; die anderen benützen speziell für ihr 
Handwerk erdachte technische Vorrichtungen. 

Die photographischen Aufnahmen der arbeitenden Krüppel stellen 
die Haupthandgriflfe der ersteren und die Vorrichtungen der letzteren 


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412 


Izabella Czaraoinska. 


anschaulich dar. — Auf Fig. 1, 2, 3 ist der Krüppel M. Kolpakow 
dargestellt, der, an beiden Armen fast ganz gelähmt, sich mit seiner 


Fig. 2. 



Bürstenmacherei beschäftigt, indem er sich seiner Zähne, Lippen und 
Kniee bedient. 

Der Schlosser Nikolaus Jakunin (Fig. 4, 5), 15 Jahre alt, 
seines linken Handgelenkes und des kleinen Fingers der rechten 
Hand beraubt, erdachte selbständig Handgriffe zur Erleichterung 
seiner Arbeit und erfand Vorrichtungen, die ihm den Verlust seines 
Handgelenkes ersetzten. 


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Bericht über das lOjährige Bestehen der .Werkstatt für Krüppel etc.“. 413 

Nikolaus Jakunin arbeitet in der Schmiede mit einem Hammer, 
welcher vermittels eines Riemens am Vorderarm befestigt ist. Nach 

Fig. 3. 



4 Jahren Lehrzeit konnte er selbständig verschiedene orthopädische 
Apparate bauen, arbeitete pro Stück und verdiente bis zu 25 Rubel 
monatlich. Er trat im Jahre 1900 auf Arbeit ins orthopädische 
Institut. 

W. Michailow hatte schon vor dem Eintritt in die „Werkstatt“ 
das Schuhmacherhand werk erlernt und wurde als Lehrer für solche 
Arbeiten, besonders für verkrüppelte Krieger, angestellt. Der Arm 


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414 


Izabella Czarnotnska. 


wurde ihm wegen eines tuberkulösen Prozesses amputiert; außerdem 
aus demselben Grunde auch die linke Schulter reseziert. Ungeachtet 
dieser doppelten Schädigung konnte Michailow mit seiner Arbeit sehr 
gut von statten kommen. 

Wassily Pirogow, 23 Jahre alt, leidet an einer angeborenen 
Mißbildung von 8 Fingern, wollte von Kindheit an das Schreinern 

erlernen, konnte nur mit großer Mühe 
dazu kommen, bei einem Dorfschreiner 
in die Lehre genommen zu werden. Er 
lernte sein Handwerk fast selbständig 
und arbeitete in Petersburg in Privat¬ 
werkstätten, bis er an Tuberkulosis tarsi 
erkrankte. Im Jahre 1903 wurde ihm 
im Obuchowschen Hospital eine Ampu¬ 
tation nach Pirogoff gemacht, er be¬ 
kam einen Stiefel, konnte aber in dem¬ 
selben nur kurze Zeit stehen, überan¬ 
strengte sich und konnte nicht mehr in 
Privat Werkstätten arbeiten. In der«Werk¬ 
stattwurde ihm ein Apparat nach 
Hessing angefertigt und in dem letz¬ 
teren geht und arbeitet er fast ohne den 
Verlust seiner Fußsohle zu empfinden. 
Augenblicklich steht er an der Spitze der 
Tischlerabteilung der „ Werkstatt 

Die Lehrlinge, deren Arbeitsfähigkeit sich vermittels spezieller 
Vorrichtungen stark gehoben hat, sind auf den Figg. 6—22 dar¬ 
gestellt. 

Wassily Platow, 21 Jahre alt, amputiert am rechten Arm und 
beiden Schenkeln, beschäftigte sich die erste Zeit in der Sattlerei, 
darauf in der Bandagenabteilung. 

Zu seiner Bequemlichkeit wurden ihm ein paar Zangen zum 
Halten der Arbeit gemacht, welche vermittels einer Schraube an 
einem Taburett befestigt werden. In letzter Zeit wurde ihm noch 
eine Vorrichtung erfunden, nämlich eine Arbeitsklaue zum Fest¬ 
halten des Messers, des Pfriems, des Kantenschneiders und anderer 
Instrumente. Diese Vorrichtung, höchst geistreich von W. G. Soro- 



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die Arbeit mit dem Messer, nämlich das Zuschueiden eines Leder¬ 
stückes, die Fig. 8 das Nähen auf der Maschine dar. 

Michail Karpow, 14 Jahre alt, mit einer rechten Oberarmamputa¬ 
tion infolge von Tuberkulose des Ellenbogens. Er arbeitet vermittels 
zweier Vorrichtungen, von denen die eine zur Arbeit mit der Feile, 


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416 


Izabclla Czarnomska. 


die zweite zum Metallschneiden benutzt wird, wie dies uuf den 
Figg. 8 und 9 zu ersehen ist. 

Aufgenommen im Jahre 1897, verfertigt er jetzt ganz selb¬ 
ständig Krücken und andere Apparate. 


Fig. 6. Fig. 7. 



Michail Iwanow, 29 Jahre alt, mit 9 ausgeschälten Fingern, 
arbeitet vermittels einer Vorrichtung zur Haltung der Instrumente 
(Fig. 12). 

Simeon K., seines Handgelenkes beraubt, bat um die Erfindung 
einer Vorrichtung, die ihm erlaubte, Holz zu spalten und kleine 
Stäbchen zu schlichten (Fig. 10 und 11), damit er seiner Frau, die 
sich speziell mit dem Räuchern von Schnäpeln befaßte, behilflich 
sein könne. 

Solch eine Vorrichtung wurde hergestellt, und zurzeit ist der 
Verdienst des Simeon K. nur um ein kleines geringer als deijenige 
seiner gesunden Frau. 

Paul Ogarkow, ge^yesene^ Soldat des 28. Ostsibirischen Schützen* 
regiments, wurde bei Port Arthur schwer verwundet. Beide Arme 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der .Werkstatt für Ki-üppel etc.*. 4X7 


mußten ihm über dem Ellenbogen amputiert werden, jetzt arbeitet 
er an der Drechselbank mit spezieller Vorrichtung. Die Drechsler¬ 
bank hat ein ziemlich verändertes Aussehen^ was auf den Fi^. lS 
bis 21 dargestellt ist. 

Jetzt werden fast alle für die orthopädischen Apparate nötigen 


Fig. 9. 



Drechslerarbeiten (wie Holzklötzchen, Krückengrifife u. s. w.) von 
Paul Ogarkow angefertigt. 

Aber außer einer besonderen Vorrichtung zur Arbeit bedurfte 
Ogarkow ganz besonders einer speziellen Vorrichtung zum Essen, 
da er sich höchst genierte, irgend jemandes Hilfe in Anspruch zu 
nehmen, und gewöhnlich sein Mahl so schnell wie möglich zu be¬ 
endigen trachtete. Solch eine Vorrichtung erfand ihm der Unter¬ 
zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXll. Bd. 27 


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418 


Izabella Czarnomska. 


weiser und Leiter der Schuhmacherabteilung P, M. Filippow, welcher 
sich des in der orthopädischen Schuhmacherabteilung befindlichen 
Materials bediente und eine aus Leder gemachte, gewöhnliche Hülse 


Fig. 10. 



herstellte, welche auf den Armstumpf angezogen und vermittels 
eines Gummibandes befestigt wurde. Das freie Ende der Hülse 
stellt einen fest geschlossenen Sack vor, in welchem ein Stück 
Korkrinde angebracht ist. In die Rinde wie in das Leder ist eine 
Spalte gemacht; in diese Spalte klemmt man mit Leichtigkeit, der 
Krüppel besorgt es selbst, den Löffel oder die Gabel ein. Der 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der «Werkstatt für Krüppel etc.*. 419 

außerordentliche Vorzug dieser Vorrichtung ist ihre Leichtigkeit 
an Gewicht und die Einfachheit ihrer Gebrauchsweise; in dieser 
Hinsicht erweist sich diese Einrichtung als geradezu kostbar (Fig. 22). 

Fig. 11. 


Die folgende Tabelle gibt eine Uebersicht über die den Krüppeln 
gelehrten Handwerke: 

Bandagenarbeit.16 Mann (Nichtkrieger) 

Schlosser und Mechaniker.33 « (24 Nichtkrieger) 

Orthopädische und gewöhnliche Schuster¬ 
arbeit . 38 n (18 Nichtkrieger) 

Tischlerarbeit.12 „ (8 Nichtkrieger) 

Drechselarbeit. 3 „(2 Nichtkrieger) 

Bürstenbinderei. 2 „ (Nichtkrieger) 

Flechtarbeit.4 « (Nichtkrieger) 


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420 


Izabella Czarnotnska. 


Fig. 12. 



Weberei und Näharbeit.4 Mann (Nichtkrieger) 

Sattlerarbeit.3 ^ (1 Nichtkrieger) 

Schneiderarbeit.12 „ (alle Krieger). 

Zur Zeit des Jahresberichtes, d. h. im Monat Oktober des 
Jahres 1907, war die Lage der in die Werkstatt Aufgenommenen 
folgende: 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der .Werkstatt für Krüppel etc/. 421 

Fig. 13. 



Von den Ausgetretenen (Nichtkriegern) betreiben selbständig 
das ihnen in der Werkstatt beigebrachte Handwerk 12 Mann. 

1 ist Lehrerin der Handfertigkeit in dem Verein Krippe. 

1 arbeitet in der Werkstatt des orthopädischen Instituts. 

6 befinden sich in Privat Werkstätten. 

4 arbeiten in ihren Heimatsdörfern. 

Mit verschiedenartigem, nichtgewerblichem Broterwerb sind 
5 Mann beschäftigt. 1 ist Dienstmann, 1 Kontorist, 2 Dienstboten, 
1 Hausknecht; 3 Aufgenommene bekamen Unterricht solcher 
Spezialitäten, die in der Werkstatt nicht unterwiesen werden, und 


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422 


Izabella Czarnomska. 


arbeiten zurzeit selbständig (2 Mädchen als Plätterinnen, 1 in der 
zahnärztlichen Technik). Verschollen sind 13 Mann, von denen drei 
aus der Werkstatt entfernt wurden, da sie sich gar keinem moralischen 
Einfluß unterwarfen, 3 wurden von ihren Angehörigen nach Hause 
genommen und 7 versagten zu arbeiten (von diesen letzten war der 
eine ein sehr begabter, gut unterrichteter Bandagist). Die übrigen 
beendigten ihre Lehrzeit nicht* Krank sind 2 Mann, noch wenig 


Fig. 14. 



unterrichtet und bei ihren Angehörigen sich befindend. Verstorben 
sind 6 Mann. 

Von den jetzt in der Werkstatt Befindlichen sind: 

Leiter des Unterrichts (auf Gehalt von 30—75 Rubel 


monatlich).3 Mann 

Stückweise arbeiten mit einem monatlichen Verdienst 

von 10—25 Rubel.4 „ 

Gehilfen der Meister sind. 7 „ 

Gehilfin der Aufseherin.1 Frau 

Schreiberin (Gehalt von 10—20 Rubel monatlich) . . 1 Mann 

Aeltere Lehrlinge.12 ^ 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der »Werkstatt für Krüppel etc.“. 423 

Jüngere Lehrlinge.10 Mann 

Aus der Zahl der in die Werkstatt aufgenommenen 
Krieger traten nach beendigter Lehrzeit mit dem 
Wunsche, bei sich im Dorfe zu arbeiten, aus • 20 „ 

Im Privatdienst befanden sich.2 » 

Fig. 15. 



Ihre Lehrzeit nicht beendigt haben 15 Krieger: 4 kehrten zeit¬ 
weise heim, 4 sind aus verschiedenen Gründen entfernt worden, 
7 wollten sich nicht unterrichten lassen. 

Die oben angeführten Zahlen zeigen folgendes ZiflFemver- 
haltnis. 

Wenn man aus der Gesamtzahl der aufgenommenen Krüppel 
(Nichtkrieger), d. h. von 79 Mann, die nicht Ausgelernten (13 Mann) 
ausschließt, so erhält man von 66 Mann, die die mannigfaltigen 
Unterweisungen genossen haben, 20 Mann, die aus der Werkstatt 


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424 


Izabella Czarnomska. 


ausgetreten und zu guten Arbeitern geworden sind, und 28 Mann 
sind in der Werkstatt beschäftigt, was also ein ProzentTerhäUziis 
von 72^/o arbeitsfähiger KrQppel ergibt. Die erste Kategorie, also 
30 ^/o der Desamtzahl, arbeitet in den gewöhnlichen Verhältnissen, 

‘ Fig.lO. ‘ 



welche eine normale Arbeitsfähigkeit verlangen, und genügen diesen 
Forderungen augenscheinlich. 

Die zweite Kategorie, also 42®/o der Gesamtzahl, arbeitet in 
bevorzugteren Verhältnissen — in Anstalten für Krüppel. 

In diese Gruppe treten in Wirklichkeit die zu der ersten und 
zweiten Kategorie der Verkrüppelung Gehörenden, deren Arbeits¬ 
fähigkeit ganz von der Umgebung abhängt, welche die traurige 
Lage der Verkrüppelten in Betracht zieht. 

Diese Umgebung behütet vor allem die Arbeitenden vor Ueber- 
müdung; der Arbeitstag, beträgt 7^-2 Stunden. Um Mittag gibt es 


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Bericht über das lOjährige Bestehen der , Werkstatt für Krüppel etc.“. 425 



Zurechtstelluiig des Einsteckers zu Beginn der Arbeit vermittels einer gebogenen Achse 
welche durch den Körper in Bewegung gebracht wird. 

Fürsorge der Krüppel“ sichert ihnen meistens eine Sommerfrische 
außerhalb der Residenz. 

Das Quantum der gelieferten Arbeiten beträgt seit dem Be- 


eine Bstündige Ruhepause; in der Sommerzeit wird den Lehrlingen 
wie auch den Arbeitenden Ferienzeit gegönnt und der ^Verein zur 

Fig. 17. 


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426 . . 


Izabella Czarnomska. 


ßtehen der Werkstatt: 7785 orthopädische Apparate und 1976 nicht 
orthopädische Lieferungen. Von orthopädischen Vorrichtungen wurden 


Fig. 18. 



Die Befestigung des Einsteckers vermittels des Fußes, welcher das Pedal auf den Haken m 

einhuiigt. 


geliefert: 534 Korsette, 169 Schienenhülsenapparate, 375 künstliche 
Gliedmaßen, 2803 Paar Krücken und noch viele andere, deren Benen¬ 
nung in einer kleinen, im Druck erschienenen Broschüre zu finden ist. 


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Das an der künstlichen Hand beflndliche Häkchen r befestigt den zum Schleifen bestimmten 
Gegenstand, indem es einen der kleinen Hebel der Vorrichtung E erfaßt. 

bettchen und vieles andere) wurden für ^/s—V* Wertes an 

verschiedene Wohltätigkeitsanstalten abgegeben und kamen mittel¬ 
losen Kranken unentgeltlich zu Nutzen. 


Belicht über das lOjährige Bestehen der »Werkstatt für Krüppel etc.“. 427 

804 orthopädische Gegenstände (130 Korsette, 139 Paar Krücken, 
15 Schienenhülsenapparate, 33 künstliche Gliedmaßen, 33 Streck- 

Fig. 19. 


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428 . 


Izabella Czarnomäka. 


Fig. 20. 



Mit dem Knie wird der Hebel <• aufwärts Bedrückt, dadurch hebt sich der Einstecker auf 
eine gewisse Hohe; mit dem Hebel d vermittels des Hilkclieus r der künstlichen Hand wird 
der Gewindestahl befestigt. 


Diese unentgeltliche Hilfe erhielten 611 Kranke. Der volle 
Preis dieser orthopädischen Hilfe repräsentiert durchschnittlich für 
jeden Kranken den Wert von 21 Rubel 75 Kopeken. 

Nach Dr. Lange (Münchener Mediz. Wochenschrift Nr. 14,1907) 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der »Werkstatt für Krüppel etc.“. 429 


Fig. 21. 



Beim Drechseln eines Gegenstandes l»edient Oparkow sich eines halbrunden Stemmeisens 
mit einem speziellen lanpen Drechslerpi itf, dessen eines Ende x in einem Gummirinp 
Welcher unter der Achsel am Ledergurt der künstlichen Hand angenaht ist, sich befindet 
und dessen zweites Ende das Ilükcheu »* der künstlichen Hand erfaßt. 


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430 


Izabella Czarnomska. 


kostet in München, wie die Erfahrungen des Johanniterordens be¬ 
zeugen , die durchschnittliche orthopädische Hilfe für einen Kranken 
125 Mark (d. h. 57 Rubel 50 Kopeken), wahrscheinlich bei Be¬ 
dingungen gewöhnlichen kommerziellen Betriebs. 


Fig. 22. 


N 



Die Einnahme der „Werkstatt“ bestand während ihres 10jährigen 
Bestehens aus folgenden Summen: 

Der Kostenpreis der gelieferten Arbeiten im Betrage von 
80828 Rubel, die vom Verein zur Versorgung der Krüppel vom 
Jahre 1901 ausgeworfenen Beköstigungssummen der Lehrlinge, die 
vom „Kriegerheim“ vom Jahre 1904 und von verschiedenen Privat¬ 
personen zum gleichen Zwecke ausgeworfenen Summen im Total¬ 
betrage von 8862 Rubel 15 Kopeken und die aus der Hospital¬ 
kasse in den ersten Jahren des Bestehens der Werkstatt ein¬ 
gegangenen 6585 Rubel 50 Kopeken. Die Totalsumme der Einnahmen 
beträgt 92276 Rubel 39 Kopeken. Die Totalsumme der Ausgaben 


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Bericht über das 10jährige Bestehen der ,Werkstatt für Krüppel etc.*. 431 


beträgt 95 736 Rubel 98 Kopeken, wobei aber die Wohnungsmiete, 
Beleuchtung und Heizung bei dieser Summe picht mit eingerechnet 
sind, da sie durch die Einnahmen der Werkstatt nicht hätten ge¬ 
deckt werden können. 

Den Bericht über die Tätigkeit des Erüppelheims beendigend, 
will ich einen Versuch machen die Zahl der Krüppel in Rußland fest¬ 
zustellen und bediene mich der statistischen Daten für das Deutsche 
Reich aus dem Artikel des Herrn Biesalski (Zeitschrift für ortho¬ 
pädische Chirurgie Band XIX Heft 2 S. 162, 1907). Auf 1000 Ein¬ 
wohner kommen, bis zum 15. Lebensjahr 1,38 Krüppel. Die 
126 Millionen Einwohner Rußlands würden demgemäß 165600 Krüppel 
bis zum 15. Lebensjahr aufweisen, von denen 22 090 obdachlos sind. 

Es ergeben sich aus diesen Ausführungen folgende Schlu߬ 
folgerungen : 

Die Krüppel ergreifen mit Freude die ihnen dargebotene Möglich¬ 
keit, ein Handwerk zu erlernen, und entsagen gern dem Bettlerdasein. 

Die Arbeitsfähigkeit der Krüppel kann durch spezielle Unter¬ 
richtsmethoden, technische Vorrichtungen und Mithilfe in den An¬ 
stalten gehoben werden. 

Es ist Sache des Staates und der Wohltätigkeit, die durch 
Krankheiten Verkrüppelten vermittels orthopädischer Hilfe frühzeitig 
zu versorgen, damit eine große Zahl vor gänzlicher Verkrüppelung 
verschont werde. 

Die Arbeitsfähigkeit der Krüppel kommt ihnen selbst zu 
Nutzen, indem sie selbst ein Handwerk erlernen und durch ihre 
Arbeiten die orthopädische Hilfe verbilligen, welche demgemäß den 
Arbeitenden wie auch den Mittellosen dadurch zugänglicher wird. 

Anstalten, deren Endziel die Unterweisung der Krüppel und 
eine unentgeltliche oder höchst billige Versorgung mittelloser Kranker 
mit orthopädischer Hilfe ist, bedürfen selbstverständlich ander¬ 
weitiger materieller Unterstützung aus Staatsmitteln oder Privat¬ 
spenden, da die Arbeit der in der Lehre Befindlichen nicht produktiv 
genug sein kann und die Ausgelernten, die schon produktiver arbeiten 
können, einer normalen Zahlung bedürfen. 

Die vermittels der Orthopädie wieder arbeitsfähig gemachten 
Krüppel betragen nach der Statistik der westeuropäischen Anstalten 
90®/o, nach der Statistik der „Werkstatt“ 72®/o. Sie entsagen gern 
dem erbärmlichen Leben eines auf Kosten andererlebenden Faulenzers 


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432 Izabella Czarnomska. Bericht über das 10jährige Bestehen etc. 


und Nichtstuers und nehmen tätigen Anteil an der großen, all¬ 
gemeinen Arbeit der Menschheit. 

Man berechnet, daß der Unterhalt eines in einem Asyle auf¬ 
genommenen Krüppels 200 Rubel jährlich beträgt, 72®/o der Krüppel 
können wieder arbeitsfähig gemacht werden, und so erhält man aus 
der Anzahl von 22090 Krüppeln 15 904 leistungsfähige Arbeiter, 
die dem Staate eine Ersparnis von 3180300 Rubeln sichern. 

Wenn man aus der Gesamtzahl aller Krüppel bis zum 15. Jahre, 
d. h. aus 165600 Mann, 72®/o arbeitsfähig macht, d. h. 119232 Mann 
ausschließt, so würde der Staat eine Oekonomie vou 23846400 Rubel 
jährlich erhalten. 

Mit dem Wiedererlangen seiner Leistungsfähigkeit wird der 
seiner Glieder Beraubte aus einem schweren niedergedrückten 
Seelenzustande herausgerissen, seine Verkrüppelung verliert für ihn 
ihren Stachel. Das Bewußtsein, nicht mehr hilflos und abhängig 
zu sein, sondern ein für sich und andere nützliches Glied der Mensch¬ 
heit geworden zu sein, gibt ihm den Glauben an seine eigene Kraft 
und an die Zweckmäßigkeit des Daseins wieder. 

Nicht Mitgefühl und Teilnahme sind es dann, welche den ihrer 
Glieder beraubten Krüppeln auf ihrem Lebenspfade begegnen, sondern 
hohe Achtung vor ihnen, als vor vollberechtigten, achtbaren Mitgliedern 
der großen arbeitenden menschlichen Familie. 


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XXIX. 

(Aus der Poliklinik für orthopädische Chirurgie in Odessa.) 

Die Erfahrimgen über die Bebandlang des 
spondylitiscben Buckels nach Calot‘). 

Von 

Dr. 8. Kofniann. 

Mit 2 Abbildungen. 

Die Frage der Spondylitisbehandlung ist noch bei weitem nicht 
gelöst, noch immer tauchen neue Vorschläge auf. Bei der Besprechung 
dieser Frage muß streng auseinandergehalten werden die tuberkulöse 
Erkrankung der Wirbelsäule als solche von ihrer äußeren Erschei¬ 
nung — der Deformität — dem Buckel. Während die erfolgreiche 
Behandlung der ersteren weniger vom Ärzte abhängt, liegt der Aus¬ 
gang der Gibbusbehandlung in den Händen desselben. 

Die Qrundansichten der heilbringenden Therapie der tuberkulösen 
Knochenerkrankung sind heutzutage als festgestellt zu betrachten; 
ob man Seeluft oder reine kalte resp. warme Bergluft vorzieht, 
ist im Grunde genommen ohne Belang, — reine Luft, wollen wir 
im allgemeinen sagen, trockene Wohnung, peinliche Reinlichkeit, gute 
Ernährung und Körper- und Gemütsruhe bilden die Grundbedingung 
des siegreichen Kampfes mit diesem Feinde der Menschheit. Leider 
bleiben diese Bedingungen gar zu oft ein unerreichbares Desiderium, 
dem gegenüber der Arzt wenigstens bei der jetzigen sozialen Ge¬ 
staltung der Gesellschaft noch ziemlich machtlos dasteht. 

Dagegen aber ist die Stellung des Arztes im Kampfe gegen 
die sicht- und greifbaren Folgen der Lokalisation der Krankheit an 
der Wirbelsäule viel günstiger. Wir sind jetzt im stände, nicht nur 
dem Fortschreiten des Prozesses Schranken zu stellen, sondern die 

*) Vortrag, gehalten auf dem VII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft 
für orthopädische Chirurgie am 26. April 1908. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 28 


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434 


S. Eofmann. 


schon ausgebildeten Mißgestaltungen zum größten Teile, wenn aller¬ 
dings nicht gänzlich, wieder gut zu machen. Das Bestreben, eine 
geeignete Therapie der Gibbusbehandlung ausfindig zu machen, ist 
ebenso alt, wie die Krankheit selbst; diese aber ist uralt. 

Ich bin fern von der Absicht, alle von alters her angewandten 
Methoden hier anzuführen; ich möchte nur die in den letzten Dezen¬ 
nien in Vorschlag gebrachten kurz erwähnen. 

Bis 189G verhielt man sich ziemlich tolerant dieser Krankheit 
gegenüber; anregend wirkte die von Calot veröffentlichte Methode 
des brüsken Redressements des Gibbus. Nur wenige waren nicht 
für diese eingenommen und sind ihr nicht gefolgt; bald kam die 
Enttäuschung, zugleich aber das Bewußtsein, daß man der Sache sich 
doch annehmen und den Kampf weiter treiben muß. Aus dem brüsken 
Redressement wuchs die milde Reklinationsmethode hervor, die sich 
zur Aufgabe gestellt hat, weniger den Gibbus anzugreifen, als seine 
Weiterentwicklung hintanzuhalten und ihn auf eine die Natur nach¬ 
ahmende Weise durch die paragibbäre Wirbelsäulenlordosierung zu 
maskieren. Als Mittel zur Erreichung dieses Vorhabens diente in erster 
Reihe das Lorenzsche Gipsbett; aus dieser Methode entstanden dann die 
anderen, wie die von Wullstein und in den letzten Jahren von Fiuck. 

Diese letzte ging aber viele Schritte weiter, es lag ihr nahe, 
nicht nur die Wirbelsäule zu lordosieren, sondern auch den Gibbus 
selbst dabei anzugreifen, zu verkleinern und möglichst sogar zum 
Schwinden zu bringen. Es muß zugegeben werden, daß das Fincksche 
Verfahren sehr viele Anhänger gewonnen hat und daß diese Methode 
die alleranerkannteste, allerverbreitetste geworden ist; ihre Anwen« 
düng führte zum Wohle der Kranken; die Gibbositäten wurden mit 
Erfolg mittels ihrer bekämpft, auch die bösen Folgen des Wirbel¬ 
buckels, die Lähmungen, wurden geheilt, zum vollen Verschwinden 
aber, zur völligen Beseitigung der Deformität war sie nicht im stände 
zu führen. Während in Deutschland der Mißerfolg des Calotschen 
Redressements Anstoß zur Auffindung neuer Methoden gegeben hatte, 
war Calot selbst auf die Umgestaltung seiner Methode bedacht; er 
arbeitete weiter und ist zur Ueberzeugung gekommen, daß alles Brüske 
der Behandlung einer so vulnerablen Krankheit, wie die Wirbelkaries, 
fern gehalten werden und durch Feines, Delikates ersetzt werden muß. 

Das zarte, allmähliche im Gegensatz zum anfänglichen forcierten 
Redressement bildet das Hauptcharakteristische der von ihm jetzt 
gebrauchten Behandlung. Sie gestaltet sich dabei sehr einfach und 


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Die Erfahrungen über d. Behdlg. d. spondyl. Buckels nach Calot. 435 


absolut gefahrlos. Es bedarf zu ihrer Ausübung keiner Maschinen 
mehr, keiner zahlreichen Assistenz, sie nimmt auch sehr wenig Zeit 
in Anspruch, ist daher für die Kranken schonend. 

Der Patient wird suspendiert, dabei aber jede gewaltsame 
Streckung vermieden, die Fußsohlen des Patienten sollen den Boden 
nicht verlassen; die Suspension soll nur die Wirkung der Körper¬ 
last beheben und die Muskelkontraktion ausschalten, in keiner Weise 
aber strecken. Es wird ein Gipsmieder angelegt. Je nach der Lokali¬ 
sation des Gibbus ober- oder unterhalb des VI. Brustwirbels, wird 
auch der Kopf mit in das Korsett einbezogen. Die Technik des 
Korsettanlegens wird von Calot detailliert angegeben; es ist nur 
hervorzuheben, daß die Gipsbinden direkt auf das Trikothemd an¬ 
gelegt und daß mit Ausnahme der vorderen Brustfläche und des 
Bauches keine Wattepolsterung angewandt wird. Großer Wert wird 
auf die Anmodellierung um das Becken und um die Schultern ge¬ 
legt. Nach Erstarren des Gipses wird vorne ein ziemliches Stück 
des Korsettes ausgeschnitten, die Wattepolsterung entfernt und auf 
diese Weise ein Ausdehnungsraum sowohl für die Atmung als für 
die Verdauung gebildet. Erst nach 2—3 Tagen beginnt die eigent¬ 
liche Gibbusbehandlung. An der dem Gibbus entsprechenden Stelle 
wird ein breites Fenster ausgeschnitten, das Trikot im selben vier- 
zipfelig geschlitzt und auseinandergezogen und mit der Redressierung 
begonnen. Die letzte besteht in der Einführung von viereckigen 
Watteschichten, die um einige Zentimeter breiter als das Fenster 
sind; die Watte wird sorgfältig mittels eines Spatels ausgebreitet und 
soviel wie möglich ohne Schmerzen zuzufügen eingeführt. Mittels 
einer Stärkebinde wird das Fenster abgeschlossen. Die Bettruhe muß 
rigoros durchgeführt werden; nach einer kurzen Zeit von 15 bis 
20 Tagen wird dann in das Fenster Watte nachgestopft, was inner¬ 
halb kleinerer oder größerer Zeiträume wiederholt werden muß. 
Nach Ablauf von 2 resp. 3 Monaten, je nach dem Befinden des 
Patienten resp. nach der Quantität der eingeführten Watte, wird 
das Korsett erneuert. Wie lange die Korsettbehandlung mit Re¬ 
dressement fortzusetzen ist — ist individuell verschieden. Calot rät 
dazu bis zum vollständigen Schwinden des Buckels, ja sogar bis zur 
Bildung einer völligen Abflachung, deren Niveau unter demjenigen 
der Umgebung liegen soll. Dann erst darf mau vorsichtig und ganz 
allmählich den Patienten auf die Beine stellen, immer noch im 
Gipskorsett mit Fenster und Wattepolsterung, wenn auch ohne jeg- 


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436 


S. Eofmann. 


liehe Druckausübung. Erst wenn die Röntgenaufnahme keine Lich¬ 
tung in den affizierten Wirbeln resp. eine starke Knochenkon¬ 
solidation ergibt, darf das Gipskorsett durch ein abnehmbares er¬ 
setzt werden. 

Nachdem ich das Buch von Calot, 1906 erschienen, über das 
Traitement rationnel du mal de Pot kennen gelernt habe, ging ich 
im vorigen Frühjahr nach Berck s. m., um mich persönlich über¬ 
zeugen zu können, wie es mit der Sache steht. Herr Calot selbst, 
sowie sein Assistent Dr. Privat waren so liebenswürdig, mich in 
die Kleinigkeiten der Methode einzuweihen und, was besonders wichtig 
ist, mich alle in Behandlung stehenden Patienten ohne Auswahl in¬ 
spizieren zu lassen. Ich hatte die seltene Gelegenheit, Hunderte von 
Spondylitiskranken zu sehen in allen Stadien der Behandlung und die 
Ueberzeugung von der vorzüglichen Wirksamkeit der Methode zu 
gewinnen. Es ist wahr, daß den Patienten von Calot ihre Tuber¬ 
kulose aus ihrer Gesichtsfarbe und Gemütsstimmung nicht anzusehen 
ist, das verdanken sie der wohltuenden Wirkung der Seeluft, sowie 
des Regimes nicht minder, als der Behandlungsmethode. Das Schwin¬ 
den des Buckels aber fällt ausschließlich der letzteren zur Last. 

Seit April vorigen Jahres wende ich die Methode an. Um auch 
den Unbemittelten die Vorzüge der Behandlung der Spondylitis, sowie 
der sonstigen chirurgischen Tuberkulose angedeihen lassen zu können, 
wurde eine Ambulanz speziell für diese Krankheit an meiner Ab¬ 
teilung für chirurgische Kinderkrankheiten eröffnet. Die Aufnahme 
geschieht 2mal wöchentlich. Den Kindern werden die Gipskorsette 
angelegt, nach 2 Tagen die Fenster ausgeschnitten und dann jede 
2.—3. Woche die Watte nachgestopft; die aus ganz armen Familien 
stammenden Kinder werden für die ersten 5—6 Tage ibs Spital auf¬ 
genommen, um dann bis zum nächsten Korsettwechsel ambulatorisch 
sich behandeln zu lassen. Um den Hergang der Behandlung genau 
beobachten und studieren zu können, wurde eine Patientin, die ganz 
obdachlos war, stationär behandelt. Die Patientin, 14 Jahre alt, gut 
ernährt, leidet seit 4 Jahren an einer Spondylitis der unteren Brust¬ 
wirbel. In der letzten Zeit hat sie starke Schmerzen in den Beinen, 
besonders im linken, bekommen. Die Untersuchung ergab einen ziem¬ 
lich großen Buckel der drei unteren Dorsalwirbel (Fig. 1) und eine 
Infiltration in der linken Fossa iliaca. 

Der Patientin wurde ein Gipskorsett nach Calot angelegt; 
3mal wurde dasselbe gewechselt; im ganzen lag es 8 Monate; die 


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Die Erfahrungen über d. Behdlg. d. spondyl. Buckels nach Calot. 437 

Nachpolsteruog geschah jede 2. resp. 3. Woche. Jetzt ist die Pa¬ 
tientin aus dem Spitale entlassen, statt des Buckels ist eine Delle, 
die Hautpigmentierung (Fig. 2), die man auf der Photographie sieht, 
stammt von der Hautverfärbung infolge des gewesenen Decubitus. 
Sie bekam ein Gipskorsett, in dem sie herumgehen durfte, allerdings 
mit der Mahnung, sich möglichst zu schonen und die aufrechte Hai- 


Fig. 1. Fig. 2. 



tung tunlichst einzuschränken. Im ganzen standen in diesem Jahre 
in Behandlung 31 Fälle, 20 in meiner Privatpoliklinik, 11 im Spitale. 
Darunter waren 7 mit hoher Dorsalspondylitis, bei denen auch der 
Kopf in das Korsett mit einbezogen war, und 24 mit unterer Dorsal- 
resp. Lumbalspondylitis. Definitiv geheilt in Bezug auf das Schwinden 
des Buckels (nicht der Spondylitis!) sind 9 zu erklären, von diesen 
sind 2 mit abnehmbaren Lederkorsetts, die entsprechend dem ge¬ 
wesenen Buckel ein Fenster besaßen, entlassen, den übrigen 7 ist 
eben das Herumgehen in Gipskorsett gestattet worden. Allerdings 


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438 


S. Kofmann. 


handelt es sich bei den Genesenen meistens um Kinder mit verhältnis¬ 
mäßig frischen Erkrankungen der Wirbelsäule, doch verbunden mit 
ganz erheblichen Gibbositäten (bei nicht ausgebildetem Gibbus wende 
ich die Fincksche Methode an). Der Hergang der Behandlung nach 
Calot ist, wie folgt, ganz simpel; die einzige Eventualität, die ver¬ 
kommen kann, ist der Decubitus; doch mit zunehmender Uebung 
lernt man diesen zu vermeiden. Man darf sich nicht hinreißen lassen 
von der relativen Leichtigkeit der Einführung der Watteschichten 
und des Guten nicht zu viel tun; man darf eben der Haut nicht zu 
viel zumuten und auf ihre Widerstandskraft bauen. In der ersten Zeit 
übten wir die Kompression viel zu stark aus, und wir hatten dann 
mit großem Decubitus zu rechnen. Wir haben wohl gelernt, diesen 
bald zu beheben (wir schnitten die üppigen Granulationen einfach mit 
der Schere weg und bearbeiteten die Wundfläche tüchtig mit reiner 
Karbolsäure, die eine Mumifikation der Granulationen herbeiführte; 
bald folgte die Ueberhäutung — in 4—5 Tagen waren meistens die 
Wunden unter Perubalsamverbänden geheilt, und wir konnten die 
Behandlung fortsetzen), doch gehören diese Komplikationen nicht zu 
den Annehmlichkeiten. Jetzt ziehen wir vor, lieber öfter die Watto 
nachzustopfen und dabei die Haut zu schonen. Leider geht es nur 
bei den einheimischen Fällen, bei den zugereisten, die nur alle 2 Mo¬ 
nate zu kommen im stände sind, muß man damit rechnen und diese 
Komplikation in Kauf nehmen. Außer dieser Komplikation ist uns 
bisher keine zur Beobachtung gekommen. 

Meine Herren! Noch immer treffen wir in den spezialistischen 
Zeitschriften neue Methoden zur Bekämpfung dieses Unheils, des 
Gibbus, angegeben, dabei aber zeichnen sich diese immer mehr aus 
durch besondere Kompliziertheiten, als ob ein Wetteifer da wäre, die 
Sache nur für eine beschränkte Zahl von Spezialisten in Beschlag zu 
nehmen. Ich glaube, daß es sowohl für unsere Kranken als für die 
Aerztewelt selbst von größerem Vorteile sein wird, wenn unsere Ma߬ 
nahmen ganz handlich und einfach werden. 

Wenn wir von den Gipsbettmethoden absehen und zu den in 
der letzten Zeit vorgeschlagenen Korsettmethoden uns wenden wollen, 
so werden wir geradezu erschreckt von den Apparaten, die einer be¬ 
sitzen muß, um der Sache nahe treten zu dürfen. Die Methode von 
Calot ist einfach, ungefährlich und sicher. Sie verlangt kein In¬ 
strumentarium. Die ganze Vorrichtung von Calot besteht in einer 


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Die Erfahrungen Über d. Behdlg. d. spondyL Buckels nach Calot. 439 


Kopfextensionsscblinge und^ wenn man will, in einem Radfahrsattel¬ 
stuhl für Patienten mit Paresis der unteren Extremitäten. 

Soweit es uns gestattet ist, nicht auf Grund unserer spärlichen 
[Erfahrung, sondern vielmehr nach dem Gesehenen in Berck s. m. 
dürfen wir sagen, daß die Frage der erfolgreichen Behandlung der 
Oibhositäten von Calot gelöst ist und daß seine Methode bald die 
alleinberrschende zum Wohle der Kranken sein wird. 


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Aufruf. 

Es ist ans dm Reihen der Verehrer und Freunde des rer- 
eivigten 

Obermedizinalrats Dr. von Burckhardt 

der Wunsch laut gcivordcn, dem hervorragenden Arzt und Menschc’ii^ 
an der Stätte seiner langjährigm segensreichen Wirksamkeit eine 
dauernde Ehrung in künstlerischer Form zu hereitm. 

An diejmigm, welche sich an dieser Ehrung zu beteiligm 
ivünschen, ergeht die Bitte, ihre Beiträge an das Bankhaus StaM 
und Federer A.~G., Calwerstr, 26, oder an die Unterzeichner 
einzusenden, 

Stuttgart, im Oktober 1908. 


Das Komitee, 

Oberbürgermeister von Gauß, Vorsitzender, 
von Bieber, Hugo, Oberst z, D. | 

Dr. med. Karl Ries, Vorstand > stellvertr, Vorsitzende, 
des Stuttgarter ärztl. Vereins J 
Geh, Hof rat Dr, von Balz, Dr, med. Bayha, Ludwigs¬ 
burg. Freiherr von Bilfinger, Exzellenz, Generaladjutant 
Sr. MaJ. d. Königs. Dr. med, Brigel. Kommerzienrat 
Dr. von Dörienbach. Oberbaurat Eisenlohr. Rechts¬ 
anwalt Dr. H. Erlanger, Bilrgerausschußobmann. Ge¬ 
lier alkonstd Wilhelm Federer, Schatzmeister. Direktor 
von Hang. Frof. Dr. von Hell. Prof. Dr. Hofmeister, 
Verlagsbuchhändler Carl Krabbe. Obermedizinalrat Dr. 
von Landenberger. Dr. med. Lichtenberg. Hermann 
Marquardt, Hotelbesitzer. Prehiident von Nestle, Vorstand 
des Medizinalkollegiums. Karl Ostertag-Siegle. Kom¬ 
merzienrat Ottenheimer. Geh. Hofrat Dr. von Pfeiffer. 
Medizinaldirektor Dr. von Rembold. Sanitätsrat Dr. 
Schickler. Geh. Hofrat Dr. Sieglin. Freiherr von Soden, 
Exzellenz, Kabinettschef Sr. Maj. des Königs. Prof. 
Dr. Steinthal. L. Sußmann, Fabrikant. Geh. Hof rat 
Dr. Veiel. Generalarzt Dr. von Wegelin. 


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XXX. 

Beiträge zur Pathologie und Therapie der 
angeborenen Hüftverrenkung. 

Vcn 

Dr. Michael HorT&th, 

Privatdozent für orthopädische Chirurgie, Budapest. 

Mit 81 Abbildungen, 

I. 

Von den zahlreichen Theorien, welche die Art des Entstehens 
der angeborenen Hiiftverrenlaingen zu erklären versuchen, kann nur 
auf diejenigen Rücksicht genommen werden, die mit der Entwicklung 
des Hüftgelenkes rechnen und ihre Daten aus den pathologischen Ver¬ 
änderungen der angeborenen Verrenkungen schöpfen. Ein Teil der 
Autoren folgt der teratologischen Theorie, der andere Teil argumen¬ 
tiert mit der mechanisch-pathologischen Entstehung imd glaubt den 
Grund der Verrenkung in der Abnormität der dynamischen Verhält¬ 
nisse finden zu können. Jene Veränderungen, die sich infolge der 
Verrenkung in den das Gelenk bildenden Teilen entwickeln, betrachten 
sie als sekundäre. 

Ammon, Dollinger, Grawitz, Holzmann, Hoffa, 
Vogel, Bade behaupten, die Hüftverrenkung sei ein vitium primae 
formationis. Ihre Daten entnehmen sie den an pathologischen Prä¬ 
paraten vollzogenen Untersuchungen, den bei blutigen Operationen 
gewonnenen Erfahrungen, und in neuerer Zeit der Untersuchung 
der Röntgenbilder. Hoffa pflichtet der Ansicht Ammons bei 
und hält es für eine mittels der Röntgenbilder bewiesene Tatsache, 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 29 


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442 


Michael Horvath. 


daß es sich hier um keine intrauterine Belastungsdeformität handle, 
sondern sieht im Sinne der Ammon sehen Theorie die Erkran¬ 
kung als Resultat einer abnormen Entwicklung an. Auch auf der 
klinisch gesunden Seite findet man — behauptet er — solche Ver¬ 
änderungen, die darauf hinweisen, daß sich zur Zeit der Bildung 
des Gelenkes, noch während des embryonalen Lebens von dem 
Normalen abweichende Prozesse zugetragen haben. Da jedoch 
diese Prozesse in vielen Fällen erfahrungsgemäß Luxation bloß 
auf der einen Seite zur Folge haben, auf der anderen hingegen 
nicht, so nimmt er außer der primären noch eine andere, wohl 
mechanische Ursache an, die zur Beendigimg der Knochen Verren¬ 
kung führt. 

Auch Vogel ist derselben Ansicht; er nimmt in der Störung 
des zentralen Blastems eine prädisponierende Ursache an — dies¬ 
bezüglich mit Holzmann übereinstimmend. Als jenes Moment, 
das die Verrenkung auslöst und abschließt, betrachtet er den Druck 
des Uterus ilnd die im extrauterinen Leben zur Geltung gelangende 
Belastung. 

Wieder um einen Schritt weiter geht B a d e^), der den gegebe¬ 
nen anatomischen Verhältnissen eine primäre Bedeutung zuschreibt. 
Seines Erachtens entsteht am Fundus der Gelenkspfanne eine der¬ 
artige Knochenproduktion und Verdickung, daß der Schenkelkopf ge¬ 
zwungen wird, die Pfannengrube zu verlassen und zwar umsomehr, 
da dem Schenkel köpf die Wölbung der hypoplastischen Pfanne keineu 
gehörigen Halt bietet. 

Sein Material, besonders die nach Röntgenbildern verfertigten 
Zeichnungen durchstudierend, faßt er die charakteristischen Verände¬ 
rungen der Luxationen in sieben Punkte zusammen, in denen er den 
Beweis seiner obigen These sieht. 

1. Hypertrophie des Fundus, 

2. Hypoplasie des oberen Pfannenquadranten, 

3. Hypoplasie des Schenkelkopfes, 

4. Hypoplasie des Halses und des Femurschaftes, 

5. Anteversion des oberen Schenkelendes, 

6. Asymmetrie des Beckens, 

7. Vorwärtslagerung der Pfannengegend. 


Die angeborene Hüftgelenksverrenkung. Stuttgart 1907. 


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I 



Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 443 


Zwei schwache Punkte hat — wie Bade selbst einräumt — 
seine Theorie: 1. gibt sie keinen Aufechluß über die Ursache der 
anatomischen Veränderungen, und 2. entscheidet sie nicht, ob 
die in den sieben Punkten aufgezählten Veränderungen wirklich 
primärer Natur sind oder erst sekundär nach der Verrenkung ent¬ 
stehen. 

Diesen Theorien gegenüber kehrten Lorenz, v. Fried¬ 
länder, Schanz, Ludloff u. a. zur Ansicht Dupuytrens 
und R o s e r s zurück, indem sie die Hüftverrenkung aus den ver¬ 
schiedenen Zwangslagen, die der Schenkel im Uterus annimmt, und 
aus dem fortwährenden Druck, den der Uterus auf den Schenkel 
übt, ableiten. 

In meiner vorliegenden Studie stütze ich mich vorwiegend auf 
Röntgenbilder, welche ich nach an Hüftverrenkung leidenden Kindern 
anfertigte. Die nach denselben gemachten Konturzeichnungen stellen 
die pathologisch veränderten anatomischen Verhältnisse treu nach den 
Originalbildem dar und veranschaulichen jene Umgestaltung, die sich 
in den knöchernen Gelenkteilen im Laufe der Heilung vollzieht. 

Mit der radiographisclien Anatomie des Hüftgelenkes und 
namentlich der Gelenkpfanne haben sich vor mir auch schon 
Andere befaßt. 

Ludloff gelangt in seinem hochinteressanten Werke^) zu Fol¬ 
gerungen, die in vieler Hinsicht auch durch Andere bestätigt wurden. 
Er stellte fest, welchen Teilen der Gelenkpfanne die auf den Röntgen- 
bildem sichtbaren Linien entsprechen, und aus den Abweichungen der¬ 
selben bestimmte er die charakteristischen Veränderungen der Hüft¬ 
gelenkverrenkungen . 

Köhler und ihm folgend Reiner und Werndorff^) trugen 
durch überzeugende Experimente ebenfalls zur Klärung der Frage bei; 
sie stellten fest, daß die sogen. Tränenfigur, welche im Röntgenbilde 
jedes normalen Beckens zu finden ist und unter der horizontalen Fuge 
des Y-Knorpels als ein doppclkonturiertes Bild erscheint, das radio¬ 
graphische Bild des vorderen Pfannenrandes nicht ist (Ludloff). 
Ihres Erachtens ist die Tränenfigur das projektierte Bild des Pfannen¬ 
bodens, des „Recessus acetabuli“. 

Ludloff, Zur Pathogenese und Therapie der angeborenen Hüft¬ 
gelenksluxation. Jena 1902. 

Verhandl. d. deutschen Gesellsch. f. orthopäd. Chir. V. 


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444 


Michael Horvdth. 


Im Laufe der Behandlung von Hüftgelenkverrenkungen kontrol¬ 
lierte ich den Verlauf der Heilung seit 12 Jahren mittels Rönt^ra- 
untersuchung, und so befaßte ich mich denn mit der radiographischen 
Anatomie der Pfanne auch selbst recht eingehend. 

So wurde meinen Untersuchungen bezüglich der Hüftgelenk¬ 
verrenkung das Studium der normalen Gelenkpfanne, resp. ihres proji¬ 
zierten Bildes zur natürlichen Vorbedingung. Daher beginne ich also 
auch hier mit der 

Badiographischen Anatomie des Hüftgelenkes. 

Zu meiner Studie benützte ich mehrere, von Kandem verschie¬ 
denen Alters herrührende Becken und setzte sodann meine Forschungen 
an einem frischen pathologischen Präparate, welches von einem 2 Jahre 


Fig. 1. 



alten Kinde, das an rechtseitiger Hüftverrenkung gelitten hatte und 
vor der geplanten Behandlung der Verrenkung an Skarlatina gestorben 
war, herrührte, fort. 

Behufs Bestimmung der das Acetabulum bildenden einzelnen 
Teile, sowie ihrer Ränder, wandte ich verschiedene Methoden an. 

An verschiedenen Teilen schlug ich in die Gelenkpfanne 
kleine Stecknadeln hinein imd zwar so, daß ihr Kopf den zu be¬ 
stimmenden Ort bezeichnete. In einem anderen Teil der Experimente 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung, 445 

bezeiclmete ich den fraglichen Teil der Gelenkpfanne mit dünnem 
Draht. Wiederum in einer anderen Serie überzog ich die einzel¬ 
nen Teile der Pfanne mit Bismutgipsbrei. 

Ueber das derart präparierte Becken 
verfertigte ich in der gewohnten Lage, in 
der man auch von Lebenden Röntgenphoto¬ 
graphien zu machen pflegt, stets unter ein 
lind derselben Fokusstellung Röntgenbilder. 

Auf diese Art gewann ich die folgenden 
21 Bilder: 

Fig. 1. Normales Becken eines 4jäh- 
rigen Kindes. Stift am tiefsten, neben die 
äußere Linie der Tränenfigur fallenden 
Punkt des Fundus, Der dünne Draht 
schmiegt sich an die äußere imd innere Wand des Fundus, und 
folgt in der Höhlung der Gelenkpfanne der Grenze des Daches. 

Fig. 2. Den vorderen Rand des Pfannendachei bezeichnen 



Fig. 3. 



die Stecknadelköpfe. Der solcherart angedeutete Strich liegt im 
Röntgenbilde tiefer, als der höchste Punkt der Pfannenhöhlung 
(Wölbung). 

Fig. 3. Normales Becken: Auf der linken Seite bezeichnet 


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446 


Michael Horvath. 


der Draht die Grenze des Fundus, welche am projektierten Bilde 
die Tränenfigur gibt. An der rechten Seite fügte ich dem Rande der 
Gelenkpfanne rundherum Kupferdraht an, der am unteren Ende 
des vorderen Randes zurückschwenkt und bis zum horizontalen Ast 
des Y-Knorpels die noch knorplige Grenze des Ramus horizontahs 
ossis pubis verfolgt. 

Von den auf dieser Seite sichtbaren Nägeln bezeichnet der mit 
dem größten Kopf den horizontalen Ast des Schambeines, resp. den 
knöchernen Rand desselben, der durch den unteren Schenkel des 
Y-Knorpels begrenzt wird. Dies ist ein Beweis dafür, daß bei der 
Bildung der äußeren Linie der Tränenfigur weder der knorplige, noch 


Fig. -J. 



aber der knochige Teil des vorderen Randes der Gelenkpfanne (Os pubis) 
teilnimmt. 

Die oberste Stecknadel brachte ich am höchsten Punkte des 
knöchernen Teiles des Acetabulums (Os ileum), der Wölbimg, an. Die 
übrigen Nadeln bezeichnen den vorderen und hinteren Rand der schon 
knöchernen Gelenkpfanne (Os ischü). 

Fig. 4. Becken eines 2jährigen Kindes. Rechtseitige Hüft¬ 
verrenkung. Auf beiden Seiten ist die knorplige Gelenkpfanne 
sichtbar; die Nadeln deuten den Rand an (Sam vorderen, 3 am 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 447 


hinteren Rand). Dieses Bild beweist, daß der knorplige Pfannen¬ 
rand kein radiographisches Bild hat. 


Fig. 5. 



Fig. 5. Dasselbe Becken: An der normalen Seite schlug ich dem 
vorderen Rande der Gelenkpfanne entsprechend drei kürzere Nägel 

Fig. 6. 



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446 


Michael Horväth. 


hinein, so, daß der die Köpfe verbindende Strich der knorpligen Vordö- 
kante der Gelenkpfanne entsprach. Von den drei langen Nadeln 
deutet die oberste den Strich des oberen Pfannenrandes an (d. i. den 
knöchernen Rand der Wölbung), wohingegen ich die zwei längeren 
Nadeln in die Linie des hinteren knöchernen Bandes der Gelenkpfanne 
hineinschlug. 

Wie dieses Bild ganz entschieden zeigt, fallen die kurzen und 
langen Nadelköpfe, welche die vorderen (knorpligen) und hinteren 
(knöchernen) Ränder bezeichnen, mit dem lateralen Strich der Tränen- 


Fig. 7 a. Fig. 7 b. 



figur nicht zusammen, ja wir können sogar konstatieren, daß nur 
der schon verknöcherte Teil der Gelenkpfanne, der hintere Rand des 
Recessus acetabuli ein radiographisches Bild hat, welches man auf 
jedem Röntgenbilde jüngerer Kinder vorfindet (Seitenlinie des Corpus 
des Os ischii); der Vorderrand der Gelenkpfanne hingegen zeichnet 
sich überhaupt nicht ab. Somit dürfte jene Ansicht Lud- 
1 o f f s , daß die Seitenlinie der Tränenfigur das dem Vorderrand 
entsprechende Bild wäre, auch durch meine Experimente entkräftet 
worden sein. 

Fig. 6. Dasselbe Becken: Auf der normalen Seite stach ich am 
vordersten Rand des Recessus acetabuli (Os ischii) kürzere, auf der 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 449 


Seite hingegen, wo der untere Schenkel des Y-Knorpels an das Os 
pubis grenzt, längere Nadeln hinein. In der Projektion hat es den 
Anschein, als stünden letztere weiter draußen, und fallen dieselben mit 
dem lateralen Rande der Tränenfigur nicht ganz zusammen. Der 
horizontale Ast des Os pubis nimmt also an der Bildung der Tränen- 
fiigur nicht teil. 

Fig. 7a. Normales Becken: Der Fundus acetabuli und die Wöl¬ 
bung sind mit einem Draht begrenzt. Der Nagelkopf bezeichnet das 
untere Ende des vorderen Pfannenrandes, welches — da es im 4. Jahre 
noch nicht verknöchert — kein radiographisches Bild hat. 

Fig. 7 b. Dasselbe in ventraler Lage. 



Fig. 8. Bild eines normalen Beckens, auf beiden Seiten mit 
Tränenfiguren. An dieser Figur entspricht der untere Teil der inneren 
Linie jener scharfen Linie, die auf jedem Röntgenbilde scheinbar die 
Fortsetzung des unteren äußeren Striches vom Foramen obturatum 
bildet, nicht. Auf einigen weiteren Bildern suchte ich den Teil, der 
dieser scharfen Linie entspricht. 

Fig. 9. Die lange Nadel deutet den tiefsten Punkt des Fundus 
an. Der durch die übrigen Nägelköpfe bezeichnete Strich ist das 
projektierte Bild der Incisura ischiadica minor imd major. Die Aus¬ 
wölbung in der Höhe des Y-Knorpels, welche gegen die Beckenhöhlung 
schaut, ist das Bild der Spina ischiadica. Der Mittelstrich der Tränen¬ 
figur oder jener scharfe Strich, der sich vom Foramen obtu- 


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450 


Michael Horvath. 


ratum 'hinaufzieht, fällt mit dem projizierten Bilde der Inc. ischiad. 
nicht zusammen. 

Fig. 10. Normales Becken: zeigt sehr gut die radiographische 


Fig. 0. 



Anatomie der Gelenkpfanne. Auf der Innenseite des Fundus schlug 
ich in der Richtung vom kleinen Becken her einen Nagel hinein, dessen 































Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 451 


Kopf am projizierten Bilde in die mediale Linie der Tränenfignr fällt. 
Die drei kleinen Stecknadeln bezeichnen die Mittellinie der Incisura 
ischiad. minor, somit hat also dieselbe kein radiographisches Bild (siehe 
Bild 9). 

Fig. 12. Fig. 13. 



Fig. 11. Vom Fundus aus aufgenommenes Bild. Der Recessus 
acetabuli ist mit Gipsbrei bedeckt. 


Fig. 14 a. 



Fig. 12. Dasselbe von vorn aus betrachtet. Am projizierten 
Bilde wird die Tränenfigur mit Gipsbrei begrenzt sichtbar. 


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452 


Michael HorvÄth. 


Fig. 13. Bild des Fundus nach Ausmeißeln des Recessus. Die 
Lücke begrenzen von zwei Seiten zwei Schenkel des Y-Knorpels. Der 
Recessus ist ein Teil des Körpers vom Os ischii. 

Fig. 14a. Dasselbe, Vorderansicht. Die Ausmeißlung des Re¬ 
cessus zog das Verschwinden der Tränenfigur nach sich (Reiner 
und Werndorff), wohingegen die vom Foramen obturatum nach 
oben ziehende scharfe Linie unversehrt blieb. 

Fig. 14b. Dasselbe von rückwärts durchleuchtet. Die Tränen¬ 
figur ist verschwimden. Die scharfe Linie ist noch sichtbar, doch 
nicht mit ganzer Schärfe, nachdem der Teil des kleinen Beckens, welcher 



beim Projizieren die scharfe Linie bildet, von der Platte (der Ebene 
der Projektion) weiter weg fällt. 

Fig. 15. Setzt man den ausgemeißelten Fundus an seinen früheren 
Platz zurück, so wird die Tränenfigur wieder sichtbar. (Nachdem die 
Wiedereinsetzung des etwas zusammengedrückten spongiösen Knochen¬ 
teils nicht absolut vollkommen ist, füllt derselbe nicht ganz seinen 
ursprünglichen Platz aus.) Die scharfe Linie ist extra sichtbar. 

Fig. 16. Auf der linken Seite ist die Höhlung der Gelenkpfanne 
mit Bismutgipsbrei begrenzt. Auf der rechten Seite meißelte ich 
denselben Teil (den Fundus) heraus. An der Seiten wand des kleinen 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 453 


Beckens brachte ich unter dem Periosteum in der Richtung der Spina 
ischiadica eine Stecknadel an. Der Stecknadelkopf liegt an der Innen¬ 
seite des Ramus descendens ossis ischii. Läßt man die Röntgen¬ 
strahlen von vorne durchdringen, so ist diese leicht gebogene Linie 
des Os ischii auf jedem Röntgenbilde als scharfe Linie sichtbar und 
bedeckt teilweise die mediale Linie der Tränenfigur. 


Fig. 18. 



Wird diese Seitenwand des kleinen Beckens, d. h. der bis zur 
Spina ischiadica reichende Teil des Ramus descendens am Os ischii 
abgemeißelt, wie dies Fig. 17 zeigt, so verschwindet neben der Tränen¬ 
figur der obere Teil der scharfen Linie, sowie auch das Bild der Spina 
ischiadica, welches in der 16. Abbildung noch ganz unversehrt zu 
sehen war. 


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454 


Michael HorvÄth. 


Fig. 18. Bild des Fundus an einem normalen Becken nach Aus- 
meißlung des vom Y-Knorpel begrenzten Teiles des Os pubis, d. i. des 
vorderen Gelenkpfannenteiles. 

Fig. 19. Dito. Vorderansicht. Tränenfigur ganz unversehrt. 
Die Nadel ist an der Seitenwand unter das Periosteum gestochen der¬ 
art, wie dies Fig. 16 veranschaulicht. Deutet die sogen, scharfe Linie 
bis zur Spina ischiadica gut an. 

Fig. 20. Nach Entfernung des Os pubis und ischii bleibt nur 
der Recessus acetabuli unversehrt übrig. Auf projizierten Bildern 
ist die Tränenfigur sichtbar (Reiner und Werndorff). Auf der 


Fig. 20. 



anderen Seite fehlt nur der Recessus und dementsprechend verschwin¬ 
det auch die Tränenfigur. 

Das radiographische Bild des Hüftgelenkes resp. der Pfanne 
ändert sich bei den Individuen über 12 Jahren, sofern nämlich der 
Y-Knorpel und der bisher knorplige Rand der Gelenkpfanne ver¬ 
knöchern. Dementsprechend ändert sich auch das radiographische 
Bild. 

Fig. 21. Mehr als 12jähriges Becken, bei dem die Verknöcherimg 
schon ihr Ende erreicht hat. 

Die den Fundus andeutende Tränenfigur ist bloß in ihrem unteren 
Teile durch eine Doppellinie angedeutet, weiter oben geht dieselbe in 
eine einzige verdickte Linie über und setzt sich ohne jeder Unterbrechung 


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Beiträge znr Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 455 


in gleichmäßigem Bogen bis zu der Linie fort, die die Wölbung der 
Gelenkpfanne andeutet. Der Fundus bleibt also nur in der Gregend 
der Incisura acetabuli dicker, wohingegen er weiter oben dünner 
wird, so daß der sogen. Recessus acetabuli bei älteren Personen dünner 
ist als im Kindesalter. 

Infolge der Verknöcherung des Supercilium acetabuli finden wir 
das radiographische Bild auch des vorderen Pfannenrandes; dies ist 
ein wichtiger Unterschied zwischen den radiographischen Bildern der 
aus dem Kindes- und der aus dem erwachsenen Alter stammenden 
Becken. 

Den Strich, der den Hinterrand andeutet, finden wir auf dem 
vom Präparat verfertigten Bilde (wenn der Fokus über der Sym- 

Fig. 21. Fig. 22. 



physis war) innerhalb derjenigen Linie, die den Vorderrand andeutet 
(also medial). 

Auf den Bildern solcher Becken, die von älteren Kindern und 
Erwachsenen herrühren, wird außer der Tränenfigur noch ein neuer 
Strich sichtbar. Behufs Klarlegung dessen, welchem Knochenteile der¬ 
selbe in der Anatomie des Gelenkes entspreche, verfertigte ich mehrere 
Aufnahmen und gelangte schließlich zu dem Resultat, daß derselbe 
das radiographische Bild des ganzen hinteren Endes des verknöcherten 
Supercilium acetabuli nicht ist, wie man dies während des Betrach- 
tens des Präparates hätte vermuten können, sondern denjenigen Teil 
(fast möchte ich sagen: die Wurzel) desselben darstellt, mit dem das 


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456 


Michael Horvath. 


hintere Ende des Supercilium am Körper des Os ischii sitzt (Fig. 22). 
Auf den radiographischen Bildern jüngerer Becken ist dies, da der 
Limbus noch ganz knorplig ist, nicht zu sehen. Das Erscheinen dieser 
Linie deutet also auf die Verknöcherung des Supercilium acetabuli. 

Fassen wir nun das Resultat zusammen, so kann folgendes kon¬ 
statiert werden: Auf den Röntgenbildern der Becken jüngerer Kinder 
bekommen wir treue Abbildungen des Daches und des schon ver¬ 
knöcherten knöchernen Vorderrandes der Wölbung. Aus der Höhe 
jener Fläche, welche die beiden Linien einschließen, kann auch auf 
die Form der Wölbimg geschlossen werden. Bei älteren Kindern prägt 
sich die Wölbung mehr und mehr aus. 

Vorder- und Hinterrand der Gelenkpfanne haben im Kindesalter 
noch kein radiographisches Bild, so daß man auf den Röntgenbildem 
die Tiefe der Pfannenhöhlung nicht messen kann. 

Der knöcherne Teil der Pfanne ist im Kindesalter noch in so 
geringem Maße ausgehöhlt, daß es den Schenkelkopf zu tragen total 
unfähig wäre. Doch wird die knöcherne Gelenkpfanne bei normalem 
Becken im Kindesalter durch den noch knorpligen Gelenkpfannenrand 
vollkommen ergänzt, hauptsächlich nach hinten und oben, wodurch 
derselbe die Höhlung der knöchernen Pfanne bedeutend vergrößert. 
Bei älteren Personen ist das radiographische Bild nach Verknöcherung 
der Pfannenränder auch zum Zwecke der Messimg der Pfannenhöhlung 
geeignet. 

Die Tränenfigur ist das radiographische B’dd des auch schon im 
Kindesalter verknöcherten Recessus acetabuli (Reiner und Wern¬ 
dorff). Die Seitenlinie deutet die innere Grenze der Pfannenhöhlung 
an, wohingegen die mediale Linie das projizierte Bild der Seitenwand 
des kleinen Beckens ist und zwar desjenigen Teiles der Seitenwand, 
der gleichzeitig die Innenwand des Recessus acetabuli bildet. 

Die die beiden Linien der Tränenfigur unterhalb verbindende Kurve 
entspricht in der Gegend der Incisura acetabuli dem Teile des Knochens, 
der dort gelegen ist, wo der Ausgang der Fossa acetabuli zur Wand des 
kleinen Beckens zurückbiegt (Köhler). 

Die sich neben der medialen Linie befindende scharfe Linie, welche 
den unteren, breiteren Teil der Tränenfigur durchschneidet, geht nach 
oben hin in die Innenlinie der Tränenfigur über. Der untere Teil dieser 
scharfen Linie deutet nicht des Fundus innere Grenze an, sondern die 
innere, gegen das kleine Becken gekehrte Seite des absteigenden Astes 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 457 

vom Os ischii und zwar in der Linie, welche in der gebräuchlichen Pro¬ 
jektion gleichsam die Fortsetzung der äußeren unteren Grenze des 
Foramen obturatum bildet. 

Die Kenntnis der radiographischen Anatomie des Hüftgelenkes 
ist von praktischer Bedeutung, nachdem die abweichenden Verhält¬ 
nisse auch bezüglich jener pathologischen Veränderungen Aufschluß 
geben, welche sich infolge der Erkrankungen des Hüftgelenkes ent¬ 
wickeln, ja die Form und Dicke des Fundus und die Verknöcherung 
der Pfannenränder lassen sogar gewisse Folgerungen auf die Alters¬ 
grenze zu. 

In meiner Studie bezüglich der Ätiologie und Pathologie der 
angeborenen Hüftgelenksverrenkungen stützte ich mich vornehmlich 


Fig. 23. 



auf Röntgenbilder, und da ich nicht von sämtlichen Bildern Kopien 
anfertigen konnte, füge ich als Figuren im Text einige Konturzeich¬ 
nungen bei. Doch will ich, bevor ich zu diesem Teile meiner Studie 
übergehe, die Beschreibung des Beckens jenes schon erwähnten Kindes, 
das an Skarlatina starb und rechtseitige angeborene Hüftgelenks¬ 
verrenkung hatte, vorausschicken. 

Beschreibung eines Luxationsbeckens. 

Bei einfacher Betrachtung bemerkt man am Becken (Fig. 23) 
keine größere Asymmetrie und doch waren in den Dimensionen gewisse 
Abweichungen zu finden. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 30 


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458 


Michael Horvath. 


Der Querdurchmesser des großen Beckens beträgt (zwischen den 
beiden Cristae lab. int.) 118 mm, die Entfernung zwischen der Crista 
lab. int. und der durch die Mitte des Promontorium gelegten Ebene 

auf der verrenkten Seite . . . . 62 mm 

auf der normalen Seite.56 mn 

D e Entfernung von der sagittalen Ebene der Crista bis zur ssgittakn 
Ebene der Linea arcuata 

verrenkte Seite .... 36 mm 
normale Seite .... 32 mm 

Von der sagittalen Ebene der Linea arcuata bis zur Ebene durch die 
Mitte des Promontorium 

verrenkte Seite .... 26 mm 
normale Seite .... 24 mm 

Die durch die Mitte des Promontorium gelegte sagittale Ebene 
durchschneidet die Symphysis nicht genau im Mittelpunkte, sondern 
etwas abwärts gegen die normale Seite hin (1—2 mm). 


Der gerade Durchmesser des kleinen Beckens betrug . 53 mm 

Der Querdurchmesser desselben . 54 „ 

Die schrägen Durchmesser desselben. 52—52 „ 

Die Breite des kleinen Beckens zwischen den zwei Fun¬ 
dus acetabuli gemessen. 43 „ 


Entfernung zwischen den beiden Spinae ischiadicae . 44 „ 

und zwar zwischen der Spina ischiadica und der 
durch die Mitte des Promontorium gelegten Ebene 

auf der normalen Seite 20,5 

auf der luxierten Seite 23,5 „ 

Zwischen den beiden Tub. isch. betrug die Entfernung 52 „ 

Die Entfernung zwischen der Tub. ischii und der durch 
die Mitte des Promontorium gelegten sagittalen 
Ebene war auf der normalen Seite 25 „ 

auf der luxierten Seite 27 

Winkel des Promontorium = 1359 

Länge des Foram. obt. (auf beiden Seiten) .... 22 „ 

Breite des Foram. obt. (auf beiden Seiten) . . - 14,5 „ 

Das Foramen obturatum veränderte auf der luxierten Seite seine 
Richtung nicht. — 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 459 

Die Durchmesser des Einganges vom kleinen Becken sind fast 
gleich lang, und wenn die beinahe regelmäßige Kreislinie in der Gegend 
des Acetabulums nicht hineinbiegen würde nach der Mittellinie zu, 
so könnte man fast von einem runden Beckeneingange sprechen. 

V r o 1 i k erwähnt bei der Beschreibung des luxierten Beckens 
als charakteristische Abweichung, daß das kleine Becken auf der Seite 
der Verrenkung w^eiter, das große Becken hingegen infolge der steilen 
Stellung des Darmbeinflügels auf dieser Seite schmäler ist. 

In meinem Falle ist das kleine Becken auf der verrenkten Seite 
tatsächlich etwas weiter, sofern nämlich die sagittale Ebene, die man 


Fig. 24. 



durch die Mitte des Promontorium legen kann, die Symphysis nicht 
genau in der Mitte, sondern ein wenig nach der normalen Seite zu 
verschoben trifft. Doch ist die hierdurch entstehende Asymmetrie so 
gering, daß ich zwischen den schrägen Durchmessern des Becken-i 
einganges gar keinen Unterschied nachweisen konnte. Der Ausgang 
des kleinen Beckens ist auf der verrenkten Seite ebenfalls um sehr 
Geringes weiter, wie dies jene Dimensionen zeigen, welche die Ent¬ 
fernung zwischen der Spina ischiadica und dem Tub, ischii auf weist. 

Das große Becken ist in meinem Falle —- abweichend von den 
V r o 1 i k sehen Messungen — infolge der Verflachung der Darmbein¬ 
schaufel auf der luxierten Seite weiter, und dies ist die auffallendste 


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460 


Michael Horvath. 


Asymmetrie, welche schon bei einfacher Betrachtung des Beckens in 
die Augen springt. 

Das Becken kann ich — mit Rücksicht auf die gleiche Länge 
der schrägen Diagonalen — weder für schräg, noch aber für asym¬ 
metrisch halten. Die Abschweifung der durch die Mitte des Promon¬ 
torium gelegten sagittalen Ebene ist gegen die gesunde Seite zu so ge¬ 
ring, daß sie mit dem Auge kaum bemerkt werden kann und sich 
bloß gelegentlich der Messungen zeigt. 

Wenngleich nun das Becken dieses 2jährigen Kindes noch keine 
größere Abweichung auf weist, so finden wir an den beiden Acetabula 


Fig. 25. 



desto größere Unterschiede. Die Photographien der pathologischen 
Präparate veranschaulichen treu die Verhältnisse (Fig. 24 u. 25). 

Der Diameter des normalen Gelenkes beträgt in jeder 
Richtung 2V2 cm. Der Knorpelüberzug, der bloß am Fundus an der 
Insertionsstelle des lüg. teres von ungefähr 1 mm dickem Bindegewebe 
bedeckt ist, ist ganz intakt. 

Der Limbiis acetabuli, der 1 cm, an der hinteren Seite der Pfanne 
jedoch 1,5 cm breit ist, ergänzt den übrigens noch flachen knöchernen 
Recessus so vollkommen, daß die Pfannengrube zur Aufnahme des 
Schenkelkopfes und zur Stützung desselben gänzlich genügt, umso¬ 
mehr, nachdem das Kapselband die direkte Fortsetzung des knorp- 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 451 

ligen Limbus bildet und hierdurch die Stabilität des Schenkelkopfes 
sichert. 

Das luxierteGelenk (Fig. 24) ist oval; sein längerer Durch¬ 
messer beträgt (den knorpligen Rand auch hinzugerechnet) 22 inm, 
sein Breitendurchmesser 15 mm. Der Fundus der Pfanne, der schon 
knöcherne Recessus acetabuli ist auf beiden Seiten 15 mm lang und 
12 mm breit. Den Fundus des luxierten Gelenkes bedeckt größtenteils, 
besonders um den Anhaftungsort des Lig. teres herum, bräunlichgraues 
Bindegewebe, so daß hier der Pfannenrand kaum über die Grube ragt. 
Das obere Viertel der Pfanne ist auf sichelförmiger Fläche 5 mm tief. 
Die Ränder sind auffallend niedrig und flach. Der Limbus ist 5 mm, 
am Hinterteil 6 mm breit. Derjenige Teil des Hinterrandes (siehe 
Fig. 24), auf welchem die durch das Lig. teres gebildete kleine Quer¬ 
furche sichtbar ist, findet ohne jeden scharfen Uebergang seine Fort¬ 
setzung in die Pfannengrube, so daß derselbe als Stütze des Schenkel¬ 
kopfes ganz und gar ungenügend ist. 

Lig. teres: Auf der normalen Seite ist es dort, wo es sich an den 
Fundus der Pfanne anhaftet, ein 1,5 mm dickes, 1 cm breites und 2 cm 
langes, plattes Band, welches dem Schenkelkopf in einer 1 cm 2 mm 
langen Linie anhaftet. Auf der luxierten Seite bildet das Lig. teres 
einen 3 cm 3 mm langen und kaum mm dicken Strang, der an den 
beiden Insertionsstellen je ^/2 cm breit wird. Dieser verkümmerte 
Strang zieht sich vom unteren Viertel der Pfanne heraus und herauf, 
und legt sich inzwischen dem oberen Teil des Hinterrandes an, auf dem 
er eine dünne, ungefähr 1 mm tiefe Furche bildet. Das Lig. teres 
legt sich von selbst in diese Furche hinein, wenn wir den Schenkelkopf 
in die pathologische Lage bringen. 

Die Pfannengrube ist, von den sie ausfüllenden weichen Teilen 
gereinigt, auf der gesunden Seite 1,1 cm tief, auf der kranken Seite 
hingegen nur 6 mm. 

Der Unterschied ist teilweise dem Umstande zuzuschreiben, daß 
der Limbus cartilagineus abgeglättet und zusammengedrückt ist und 
besonders der Hinterrand das Niveau der knöchernen Pfanne so 
wenig überragt, daß seine Unzulänglichkeit zur Erhaltung des Schenkel¬ 
kopfs ganz begreiflich ist. Dazu jedoch, daß die kranke Pfannengrube 
kleiner wird, trägt auch der Unterschied bei, den man hinsichtlich der 
Dicke der beiden Fundi beobachten kann und zwar insofern, daß 
die Dicke des Knochens am Fundus auf der gesunden Seite 7,5 mm 
beträgt, auf der kranken Seite hingegen 9.0 mm. 


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462 


Michael Horvath. 


Behufs Veranschaulichung der Gestalt und Größe der beiden 
von den Weichteilen schon gereinigten Pfannengruben goß ich beide 
mit Gipsbrei aus, und wie Fig. 26 zeigt, ergab sich zwischen den beiden 
ein bedeutender Unterschied. 

Dem Schenkelkopf dient auf der gesunden Seite die Pfannengrube 
als genügende Stütze, das Kapselband legt sich eng an sie an, so daß 


Fig. 26. 



am Kadaver selbst mit Gewalt keine Luxation hervorgerufen w^erden 
konnte. Die Dicke des Kapselbandes betragt durchschnittlich 2 mm. 
— Auf der luxierten Seite liegt der Schenkelkopf außerhalb des Ge¬ 
lenkes, nach oben und außen hin, am untersten Teile des Darmbein- 


Fig. 27. 



flügels, in der Höhe der Spina ant. inferior, und er schiebt die Kapsel 
vor sich, deren den Schenkelkopf bedeckender Teil derart dünn wird, 
daß derselbe vollkommen durchschimmert. 

Der verrenkte S c h e n k e 1 k n o c h e n ist in seinen sämtlichen 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 463 


Dimensionen kleiner, zarter als der normalseitige. Der größte Umfang 
<ies Schenkelkopfes beträgt 55 mm, hingegen auf der gesunden Seite 
74 mm. Die Atrophie des oberen Endes des Schenkelknochens wird 
ilurch Fig. 27 gut veranschaulicht; dieselbe gibt ein von den beiden 
Knochen verfertigtes Röntgenbild, welches zeigt, daß zwischen den 
knöchernen Kernen eine Differenz von IV 2 mm (11—9,5 mm), wohin- 


Fig. 28. 



gegen zwischen dem größten Durchmesser des knorpligen Schenkel¬ 
kopfes (26—22 mm) eine Differenz von 4 mm erscheint. 

Der Kopf des auf der luxierten Seite liegenden Schenkelknochens 
zeigt die durch Lorenz beschriebene medio-posteriore Abplattung in 
sehr typischem Maße (Fig. 23), und so hat denn der Kopf des Schenkel¬ 
knochens, von oben aus betrachtet, die Form eines etwas abgerundeten 
rechtwinkligen Dreieckes, dessen Spitze nach hinten und außen gerichtet 
ist, während seine Hypotenuse durch die abgeflachte Seite des SchenkeL 


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464 


Michael HorvÄth. 


kopfes gebildet wird. Der Knorpelüberzug des kranken Schenkel¬ 
kopfes ist am trockenen Präparate so dünn und durchschimmernd, daß 
der knöcherne Kern des Kopfes in durchfallendem Lichte sehr gut 
sichtbar ist. Am Knorpelüberzug des Kopfes findet man rund herum 
eine Furche, durch die der Kopf gleichsam in zwei Teile geteilt wird. 

Der Schenkelhals ist am kranken Schenkel schlanker, im übrigen 
hingegen (so hinsichtlich seiner Länge, Anteversion, und des Schenkel¬ 
halswinkels) zeigt er im Vergleiche mit dem Schenkelknochen der nor¬ 
malen Seite keine auffallende Abweichung. 


Fig. 29. 



Die nach dem noch unversehrten Präparate verfertigten Röntgen¬ 
bilder, welche das Becken möglichst in der Lage zeigen, in welcher wir 
das auf dem Rücken liegende lebende Kind zu untersuchen pflegen, 
veranschaulicht treu genug jene pathologischen Veränderungen, deren 
ich bei Beschreibung des Präparates Erwähnung tat. 

Auf dem Bilde (Fig. 28), vornehmlich auf der Platte, sind die 
verschiedenen Stellungen der Schenkelköpfe sehr gut sichtbar und 
ebenso auch die Atrophie des Schenkelknochens der luxierten Seite, 
weiterhin sind auf der normalen Seite die Grenzen jener knorpligen 
Schichte, die den knöchernen Kern des Kopfes überzieht, ja selbst 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung, 405 


noch auch die Grenzen des Kapselbandes zu sehen. (Auf gutgelungenen 
Röntgenbildern junger Kinder kann man — und dies will ich hier 
nebenbei erwähnen — sämtliche Teile, die das Gelenk bilden, gut 
sehen.) Die Tränenfigur ist nicht durch ganz scharfe Linien bezeichnet, 
sondern hauptsächlich in ihrem unteren Teile als dunklere Schattierung 
sichtbar. Jene scharfe Linie, die gleichsam die Fortsetzung des unteren 
äußeren Randes vom Foramen obturatum bildet, fällt mit der medialen 
Linie des Fundus — wie dies aus meinen, die radiographische Anatomie 
des normalen Beckens betreffenden Untersuchungen hervorging — nur 
in ihrem oberen Teile zusammen. 

Behufs radiographischer Messung des Pfannenbodens schlug ich 
auf beiden Seiten am tiefsten Punkt desselben je eine kleine Stecknadel 
durch den Knochen hinein, derart, daß der Nadelkopf der Innen¬ 
fläche des Fundus entsprach. Fig. 29 zeigt, daß die Stecknadeln auf 
beiden Seiten die laterale (äußere) Linie der Tränenfigur andeuten. 
Später zwickte ich das im kleinen Becken erscheinende Ende knapp 
neben den Knochen ab, und da gab die Stecknadel die Dicke des Fundus. 
Der Unterschied in der Länge der nachträglich entfernten Stecknadeln 
betrug 1 mm, zum Zeichen dessen, daß auf der luxierten Seite der 
knöcherne Pfannenboden dicker ist. 

Der untere Teil der Tränenfigur hingegen ist — aus den 
Messungen an der Röntgenplatte gefolgert — auf der normalen Seite 
breiter und dementsprechend auch am pathologischen Präparat beim 
Ausgange der Fossa acetabuli der Knochen etwas (V^ mm) dicker. 

Die Verdickung des Pfannenbodens ist jedenfalls eine charakte¬ 
ristische pathologische Veränderung der kongenitalen Hüftverrenkung. 
Doch kann ich schon hier nicht unerwähnt lassen (obzwar ich zur 
Untersuchung der Dicke des Fundus später noch zurückzukehren ge¬ 
denke), daß am normalen Becken jüngerer Kinder der knöcherne 
Pfannenboden auffallend dick ist, wohingegen derselbe sich später —- 
nach der Verknöcherung des Y-Knorpels — derart verdünnt, daß die 
zwei parallelen Linien der Tränenfigur, welche die Dicke des Fundus 
andeuten, in der Mitte einander fast berühren. 

Zur Messung der Tiefe der Pfanne ist das Röntgenbild des 
Beckens junger Kinder nicht geeignet, da — wie dies aus der radio¬ 
graphischen Anatomie des Hüftgelenkes bekannt ist — der noch 
knorplige Vorder- und Hinterrand desselben nicht festgestellt werden 
kann, umsoweniger, da der in der Pfannengrube sitzende Schenkel¬ 
kopf das projizierte Bild der Pfannenränder verdeckt. Am patho- 


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46G 


Michael Horvith. 


logischen Präparate, resp. am Röntgenbilde desselben ist hing^en 
auch die Feststellung der Pfannenränder möglich. 

Wie Fig. 30 zeigt, stach ich in den Rand der Pfanne drei Steck¬ 
nadeln, und zwar in der Art, daß der Kopf der am weitesten innen 
gelegenen Nadel dem Hinterrand der knöchernen Pfanne entsprach, 
während die beiden anderen Nadeln die Grenze des Limbus andeuteten. 
Die den Limbus acetabuli bedeckende Knorpelschichte umgibt näm¬ 
lich den Recessus acetabuli in der Gestalt zweier verschiedenfarbiger 
halbmondförmiger Ringe, und zwar ist dieselbe in ihrem inneren Teile 


Fig. 30. 



weiß, wohingegen der äußere, an das Kapselband angrenzende Teil 
dunkler, grau ist. Die mittlere Nadel bezeichnet demnach die Grenze 
des die knöcherne Pfanne umgebenden weißen Knorpeliiberzuges, 
während der Kopf der äußeren Nadel den Hinterrand des Limbus, 
die Grenze des knorpligen Pfannenrandes andeutet. 

Die am Bilde sichtbare krumme Nadel legt sich in der Gegend 
des Y-Knorpels dem Fundus an und zeigt von hier angefangen die 
Konkavität der Wölbung. 

Vergleichen wir nun die Distanzen, welche die Nadeln, sowie die 
Stecknadelköpfe geben, so finden wir, daß dieselben auf der normalen 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 467 

Seite größer sind (6 + 5 + 10 mm = 21 mm), als auf der laxierten 
Seite (öVz + 2V2 + mm — I2V2 mm). Diese Zahlen sind zwar 
etwas größer, als die am pathologischen Präparat abmeßbaren Di¬ 
stanzen, doch sind dieselben zur Vergleichung dennoch geeignet, weil 
die Projektion von derselben Stellung (Fokusstellung) aus geschah. 

Auffallend ist auf der laxierten Seite die Kleinheit jener Zahlen, 
welche des Limbus Breite bezeichnen, was so viel bedeutet, daß die 
Pfannengrube samt ihrer knorpligen Ergänzung in der Richtung gegen 
den Hinterrand der Pfanne auf dieser Seite bedeutend kleiner ist, als 
auf der normalen Seite. Dementsprechend sehen wir auch bei der 
Untersuchung des Präparats, daß der knorplige Hinterrand der 
Pfanne auf der laxierten Seite sehr schmal ist. Berücksichtigen wir 


Fig. 31. 



Fig. 32. 



nun noch, daß die Dimensionen des Recessus acetabuli (sowohl in der 
Länge, wie auch in der Breite) übereinstimmen, die Dicke des Fundus 
am Becken dieses 2jährigen Kindes verhältnismäßig ebenfalls nur 
geringe Unterschiede aufweist, so können wir mit Recht behaupten, 
daß die Unzulänglichkeit der Pfanne im vorliegenden Falle nicht aus¬ 
schließlich der Verdickung des Fundus zuzuschreiben ist, sondern dem 
Umstande, daß die Pfannengrube auch durch den knorpligen Limbus 
nicht gehörig ergänzt wurde, eine ebenso wichtige Rolle zukam. 

Daß in der Entwicklung derjenigen Knochen, w^elche an der 
Pfannenbildung teilnehmen, die laxierte und die gesunde Seite keinen 
bedeutenden Unterschied aufweisen, wird trefflich illustriert, wenn man 
diö Strahlen von der Pfannengrube her durchläßt; (die Platte placierte 


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4t58 


Michael Horvath. 


ich im kleinen Becken derartig, daß ihre Fläche womöglich parallel 
mit der Ebene des Fundus zu liegen kam). Die beiden Abbildungen 
(Fig. 31 und 32) zeigen den Y-Knorpel, die Form der die Pfanne bildender. 
Knochen, wie auch ihre in jeder Richtung übereinstimmenden Dimen¬ 
sionen recht gut. Ein Unterschied fällt unbedingt auf (würdigen werden 
wir denselben weiter unten), doch bezieht sich derselbe nicht auf die 
Gelenkpfanne. Die Aeste der Scham- und Sitzbeine vergleichend, 
finden wir, daß auf der luxierten Seite (an der unteren Grenze des 
Foramen obturatum) die Lücke (der Knorpel) zwischen den beiden 
Aesten größer (4 mm) ist, als auf der gesunden Seite (2 mm). 

Jene Abbildung des Präparats, auf der das obere Ende der ein¬ 
geführten krummen Nadel das projizierte Bild der Wölbung an- 
deutet, benützte ich zur Messung des Neigungswinkels der W'ölbung; 
auf die Art und Weise der Messung kehre ich später noch zurück. 
Nach meiner Messung ergaben sich auf der normalen Seite 35o, 
auf der luxierten hingegen 45o, das heißt also, daß die letztere 
steiler ist. 

Das Gesagte rekapitulierend, hebe ich hervor, daß die Unter¬ 
suchung des Präparates und der nach ihm verfertigten Röntgenbilder 
folgendes ergaben: Die Asymmetrie des Beckens zeigt sich nur in un¬ 
bedeutendem Maße, am auffallendsten ist hier und somit auch schon 
ohne Messung ins Auge springend, daß die Darmbeinschaufel auf der 
verrenkten Seite — abweichend von den bisherigen Beobachtungen — 
weniger steil ist. Die Pfannengrube ist auf der luxierten Seite bedeutend 
kleiner, und hieran nehmen sowohl die größere Dicke des Fundus, wie 
auch die Verflachung der Ränder teil. Das Pfannendach ist auf der 
luxierten Seite steiler. Der Schenkelknochen ist in jeder Richtung 
bedeutend atrophisch. — 

• vi % Diejenigen, die das Entstehen der Hüftgelenksverrenkung äußeren 
Kräften zuschreiben, schreiben der Anamnese gewisse Bedeutung 
zu. Die aus der Anamnese geschöpften Daten haben — nachdem wir 
in Besitz derselben gelegentlich der ersten Untersuchung, also meistens 
P/ 2 —2—3 Jahre nach der Geburt gelangen — nicht immer absoluten 
Wert, doch können wir sie nicht vernachlässigen, da sie in vielen Fällen 
von ganz glaubwürdigen, intelligenten Eltern stammen, und als auf¬ 
fallende Erscheinungen, z. B. nach der Geburt sich zeigende Kontraktur¬ 
stellung, vollkommen Glauben verdienen. 

Meine 125 Fälle bezüglich jener Symptome, die während der 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 469 


Schwangerschaft, der Geburt und nach der Geburt auftreten, prüfend, 
konnte ich folgende Daten aufzeichnen. 

Die Schwangerschaft nahm in sämtlichen Fällen einen normalen 
Verlauf, nur in den Angaben zu Fall 94 lese ich, daß sich die Mutter 
außerordentlich stark schnürte. Doch die Entbindung verlief auch in 
diesem Falle normal. Die bilaterale Luxation konnte man bei dem 
Kinde erst, nachdem es zu gehen anfing (IV2 Jahre später), konstatieren. 
Bezüglich des 89. Falles ist als auffallender Umstand zu erwähnen, 
daß die Mutter während der ganzen Zeit der Schwangerschaft ihre ge¬ 
wöhnlichen Kleider tragen konnte. Das Kind kam mit einem recht¬ 
seitigen Schiefhals auf die Welt; seine linkseitige Hüftluxation verriet, 
als es 1 Jahr alt wurde, sein hinkender Gang. In meinem 122. Falle 
war die Mutter bemüßigt, 5 Monate der Schwangerschaft bettlägerig 
zuzubringen (blutiges Urinieren, Erbrechen). Die Entbindung dauerte 
3 Tage lang und mußte mit Zangen beendigt werden. Das Kind fing 
im 14. Monat hinkend zu gehen an. 

In 117 Fällen verlief die Entbindung normal. Schwere, pro¬ 
trahierte Entbindungen finden wir in der Anamnese in 8 Fällen er¬ 
wähnt, nach denen drei Kinder (61., 80., 114. Fall) asphyktisch waren. 
In einem Falle (68.) beobachtete man gleichzeitig das totale Fehlen 
des Fruchtwassers. In diesem Fall fiel bei dem Kinde schon im 8. Monat 
sehr gesteigerte Lordose auf. 

Die bezüglich der Menge des Fruchtwassers gelieferten Angaben 
sind, nachdem sie weder vom Arzte, noch auch von der Hebamme 
herrühren, nicht verwertbar, und übrigens stehen uns auch nur bezüg¬ 
lich zweier Fälle (13., 68.) positive Aufzeichnungen zur Verfügung; in 
beiden Fällen war auffallend wenig vorhanden. 

In der Mehrheit der Fälle erkennt man die Luxation nicht im 
ersten Lebensjahre des Kindes und ist auf meine diesbezügliche Frage 
die stereotype Antwort: „Als das Kind zu gehen anfing, da fiel sein 
Hinken auf.‘‘ 

Trotzdem gibt es solche Symptome, denen man außerordentliche 
Bedeutung zuschreiben muß, da dieselben nicht nur die Aufmerksamkeit 
der Eltern wachzurufen geeignet sind und hierdurch das frühzeitige 
Erkennen des Uebels ermöglichen, sondern auch deshalb von Wichtig¬ 
keit sind, weil sie auch auf die Aetiologie ein Licht werfen können. 

In 8 Fällen von meinen 125 bemerkten die intelligenten Eltern 
unmittelbar nach der Geburt Kontraktur des Hüft- oder Kniegelenkes 
oder gleichzeitige Kontraktur beider. 


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470 


Michael Horvath. 


Mit Rücksicht auf ihre besondere Wichtigkeit lasse ich hier diese 
Fälle nach meinen Aufzeichnungen folgen: r 

Fall 14. Sehr lebhafte Bewegungen des Embryo. Normnle 
Entbindung. In den Wochen nach der Geburt hielt das Kind seinen 
linken Fuß gewöhnlich höher gezogen und eingebogen. Im Alter von 
11 Monaten begann es zu gehen; daß es hinke, fiel erst, als es 2 Jahre 
alt war, auf. Im Alter von 3 Jahren war eine Verkürzung von 7 mm 
vorhanden. Das normalseitige Pfannendach ist auffallend gut, woliin- 
gegen dasselbe auf der luxierten Seite steiler ist (Neigungswinkel 37 o). 
Der linke Fuß ist nach außen hin gekehrt. Nach dem Röntgenbilde 
hat der Schenkelkopf das Gelenk noch nicht ganz verlassen. Sub¬ 
luxation. 

F a 11 24. Normale Schwangerschaft und Entbindung. Das Kind 
hält seine linke Hüfte schon von den ersten Tagen an flektiert und 
wimmert beim Einwickeln und passiver Streckung jämmerlich. 
Laut Röntgenbild betrug der Neigungswinkel des Pfannendaches auf 
der normalen Seite 33o, auf der luxierten 40o. Der Schenkelkopf ist 
auf dem projizierten Bilde noch in der Höhe des Y-Knorpels, doch 
auswärts von demselben sichtbar. 

Fall 36, Schwangerschaft und Entbindung von normalem Ver¬ 
lauf. In den ersten Wochen hält das Kind seinen linken Schenkel 
hinaufgezogen. Beim Ausstrecken desselben weint es. Das Pfanneii- 
dach ist auf der pathologischen Seite steiler, 44o, auf der normalen 
Seite 28^. Bezüglich der Länge der Beine ist kaum ein Unterschied 
zu finden. Subluxation. 

Fall 67. Normale Entbindung. Nach der Geburt hielt das 
Kind lange Zeit hindurch das eine Bein über das andere gekreuzt, 
adduziert. Pfannendach steiler (56o), doch auch auf der gesunden 
Seite nicht ganz normal (38o). 

Fall 75. Entbindung zur normalen Zeit. Verschlingung der 
Nabelschnur; viel Fruchtwasser. Schon in erster Zeit fiel die Kon¬ 
traktur der Kniee auf, da die Füße nicht so, wie gewöhnlich, ein¬ 
gewickelt werden konnten. Nach einem Monat waren die Kniee ganz 
gestreckt. 2 Jahre alt, begann das Kind mit ausgesprochener Lordose 
zu gehen. Auf beiden Seiten steileres Dach (41—54o). Im 3. Jahre 
betrug die Verkürzung cm. 

Fall 81. Das Kind hielt nach der Geburt eine Zeitlang sein 
linkes Bein mit Vorliebe flektiert, während es das rechte ohne Wider- 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 4 71 


stand ausgestreckt einwickeln ließ. Röntgenbefund: Schenkelkopf 
B mm über dem Y-Knorpel. Dach auf beiden Seiten steiler als für 
gewöhnlich (48^, 38o). 

Fall 106. Leichte Entbindung in Steißgeburt. Die Kontraktur des 
rechten Kniegelenks konnte nur nach monatelanger orthopädischer Be- 
iiandlung beseitigt werden. Linke Extremität kam in ».salutierender" 
Stellung, hyperflektiert zur Welt, so daß der Fuß am Ohr lag. Das Bein 
konnte in diese abnorme Lage auch später ganz leicht gebracht werden. 
Allein gelassen, legte das Kind sein linkes Bein mit Vorliebe auf den 
anderen Schenkel. Auf der linken Seite mäßige Klumpfußstellung. 
Infolge des abnormen Druckes ist auch der Schädel deformiert. Die 
rechte Stirnhälfte und die linke Seite des Hinterhauptes sind stark 
abgeflacht. Auf die Luxation des linken Schenkels macht die Ver¬ 
kürzung des Beines aufmerksam und zwar dann, wenn das Bein nach 
der Streckung des kontrakturierten Kniees seine normale Länge er¬ 
reicht. Röntgenbefund (im 1jährigen Alter): Linker Schenkel sub- 
luxiert, knöcherner Kern des Schenkelkopfes noch nicht sichtbar. 
Neigungswinkel des Daches auf der kranken Seite 50°, auf der gesunden 
35 Grad. 

Fall 117. Normale Schwangerschaft und Entbindung. Dem 
Vater (Arzt) fiel es schon in den ersten Wochen auf, daß das Kind sein 
rechtes Bein schwerer ausstrecken und eingewickelt halten konnte. 
Das Pfannendach ist (im Alter von 3 V 2 Jahren) steiler. 

Zu diesen Fällen kann ich auch noch den schon erwähnten Fall 89 
zählen, das Kind kam mit rechtseitigem Schiefhals zur Welt. Die Ver¬ 
kürzung des linken Beines fiel im Alter von einem Jahre auf. Dach 
beiderseitig steiler (65®, 48°). 

Noch will ich hier erwähnen, daß es in vielen meiner Fälle den 
Eltern auffiel, daß ihr Kind eines seiner Beine (das, welches sich später 
als verrenkt erwies) stärker nach außen gekehrt hielt, als das andere. 
Selbst im Falle von Subluxation, wo in der Länge der beiden Beine gar 
kein Unterschied nachweisbar ist, kann diese stärkere Außenrotation 
des Beines den Verdacht einer Luxation erregen und muß man derselben 
als diagnostischem Symptome bei Säuglingen Wichtigkeit zuschreiben. 

In den aufgezählten 9 Fällen bringen die kongenitalen Kon¬ 
trakturen, die auch im extrauterinen Leben fortbestanden, diese 
Voraussetzung nahe, daß der Embryo während des intrauterinen 
Lebens seine Beine längere Zeit hindurch in einer von der normalen 


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472 


Michael Horvath. 


abweichenden, sagen wir ultrapbysiologischen Lage gehalten haben 
dürfte. Diese Zwangsstellung führte in 5 Fällen zur Entwicklung 
einer Flexionskontraktur; in einem Falle äußerte sich dieselbe darin, 
daß das Kind seinen verrenkten Fuß lange Zeit hindurch adduziert 
hielt; in einem weiteren Falle diente als Beweis der intrauterinen 
Belastungsdeformität die Kontraktur des einen Knies, die „salutie¬ 
rende“ Stellung des anderen Beines und die infolge des abnormen 
Druckes entstandene Deformität des Schädels. Im 7. Falle wies die 
Flexionskontraktur der Kniee, im 9. der Schiefhals darauf hin, daß 
auch in diesen Fällen ein intrauteriner abnormer Druck zur Geltung 
gekommen war. 

Von den 9 Fällen erwies die Untersuchung in 3 (im 1., 2., 3. Lebens¬ 
jahre der Kinder) Subluxation, während ich es in 6 Fällen mit der 
Lange sehen Luxatio supracotyloidea et iliaca zu tun hatte. Der 
Schenkelhals war in 3 Fällen merklich antevertiert. An Coxa vara 
erinnernde Abweichungen fand ich nicht. Die Pfanne resp. ihr Dach 
war in jedem Falle steil, ja — mit Ausnahme zweier Fälle — war das 
Pfannendach auch auf der gesunden Seite steiler als in der Regel. 

Im embryonalen Leben ist die Zwangsstellung der Extremitäten 
nicht immer ein und dieselbe (Hyperflexion, Adduktion, Flexion der 
Kniee), und auch diese wenigen Fälle scheinen jene auch schon diuch 
Andere vertretene Ansicht, daß in der Pathogenese der Luxation ver¬ 
schiedene ultraphysiologische Stellungen zur Geltung kommen können, 
zu bestärken. Auch das kann man mit großer Wahrscheinlichkeit be¬ 
haupten, daß die Extremitäten in ihrer ultraphysiologischen Lage in 
den einzelnen Fällen verschieden lange Zeit hindurch fixiert waren, 
da ich als Folge dieses Umstandes im Leben nach der Geburt bald nur 
eine geringfügige Kontrakturstellung beobachtete, bald aber wirkliche 
und schwer ausgleichbare Kontraktur fand. Die anatomischen Ver¬ 
änderungen, die sich im Anschlüsse an diese entwickelten, zeigten sich 
auch in verschiedenem Grad (Subluxation mit gut genug erhaltenen 
Gelenkteilen, komplette Verrenkung mit ausgesprochen pathologischen 
Veränderungen). 

Daß wir bei den 123 Kindern im Leben nach der Geburt solche 
Symptome, die zur Folgerung auf eine Zwangsstellung des Embryos, 
resp, auf das Geltendwerden eines abnormen Druckes im intrauterinen 
Leben berechtigten, nur in 9 Fällen fanden, beweist noch nicht, daß 
in den übrigen 116 Fällen diese Umstände in der Tat nicht ebenfalls 
eine Rolle gespielt haben. Meines Erachtens kann man aus dem Er- 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 473 

wähnten nur darauf einen Schluß ziehen, daß die Zwangsstellung nur 
in 9 Fällen so lange währte, daß dieselbe auch die im postuterinen Leben 
beobachtete Kontraktur von größerem oder kleinerem Grade zur Folge 
haben konnte. Doch besitze ich hierfür keinen unmittelbaren Beweis, 
lind wären wir zu der Annahme, daß in diesen Fällen die kongenitale 
Hüftverrenkung auf mechanischem Wege entstanden sei, nur dann 
berechtigt, wenn wir beweisen könnten, daß die für die Luxation 
charakteristischen pathologischen Veränderungen tatsächlich nur nach 
der Luxation entstanden sind. 

An und für sich aus dem Grade der Veränderungen kann man 
absolut gültige Schlüsse nicht ziehen, da die Kinder gelegentlich 
der ersten Untersuchung meistens älter sind als 2—3 Jahre und wir 
somit nicht wissen können, auf welche Weise und in welchem Maße 
jene Kräfte auf die Entwicklung des Gelenkes einwirkten, die nach der 
Geburt auf treten. 

Doch würde unsere Voraussetzung an Wahrscheinlichkeit ge¬ 
winnen, wenn wir wenigstens das beweisen könnten, daß auch an ganz 
gesunden Gelenken nachträglich Veränderungen von demselben Cha¬ 
rakter entstehen, wie bei den kongenitalen Hüftverrenkungen, wenn 
dieselben im extrauterinen Leben luxieren und auf diese Weise der 
Wirkung der Belastung und der normalen Funktion entzogen 
werden. 

Diesbezüglich schreibe ich den Untersuchungen Deutsch- 
1 ä n d e r s große Bedeutung zu. Deutschländer resezierte bei 
noch jungen Tieren nach Oeffnung der Gelenkkapsel und Durch¬ 
schneidung des Lig. teres den Schenkelkopf. Nach I—8 Monaten tötete 
er die Tiere. Die pathologische Untersuchung ergab, daß die sämt¬ 
lichen Teile des die Pfanne bildenden Gewebes, das Bindegewebe, 
Knochen-, aber besonders das Knorpelgewebe, in außerordentlich 
großem Maße hypertrophisch geworden waren. Somit folgt der Aus¬ 
schließung der normalen Funktion und des normalen Belastungs¬ 
druckes die abnorme Entwicklung der vom Druck befreiten Gewebe 
und so auch die Veränderung der Pfannenform. Mit diesen Unter¬ 
suchungen Deutschländers vollkommen übereinstimmende 
Folgerungen gewinnen wir aus jener klinischen Erfahrung —• und hier 
schließe ich mich ganz Ewalds Ansicht an —, die man aus den mit 
Erfolg kurierten Fällen der kongenitalen Hüftgelenksluxationen schöpfen 
kann. Die Bestandteile der Pfanne besitzen noch solche Plastizität, 
daß man bei jungen Kindern im Laufe von Jahren unter dem Einflüsse 
Zeitschrift für orthopädische (’hirurgie. XXII. Band. 31 


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474 


Michael Horvath. 


des normalen Belastungsdruckes auf successive Neubildung derselben 
rechnen kann. 

Gegenüber der Ansicht Ewalds bemerkt Wollenberg, 
daß von einer Neubildung des Gelenkes nur in dem Sinne eine Rede 
sein kann, sofern nach der gelungenen Reposition jene sekundären 
Veränderungen, die am luxierten Gelenk nach der Geburt entstanden 
waren, zurückgehen. 

Seiner Meinung nach findet man an solchen Gelenken, bei denen 
es gelang, anatomische Reposition zu erreichen, noch nach Jahren von 
den normalen abweichende Verhältnisse. Logisch gefolgert, kann dies 
in Wollenbergs Interpretation nichts anderes bedeuten, als daß 
auch nach der gelungenen Reposition jene Veränderungen zu finden 
sind, welche an der luxierten Pfanne als primäre Abweichungen be¬ 
trachtet werden und die Verrenkung entweder hervorriefen oder doch 
wenigstens das Gelenk zur Verrenkung des Schenkelkopfes prädispo¬ 
nieren. Die Verdickung des Fundus acetabuli ist auch H o f f a geneigt 
als sekundäres Symptom zu betrachten i) und ist dies seiner Meinung 
nach kein Beweis dafür, daß die knöchernen Gelenkteile in ihrer Ent¬ 
wicklung primär gestört wurden. H o f f a und ihm folgend auch Andere 
legen also das Hauptgewicht auf die Steilheit des Pfannendaches, die 
nicht nur auf der luxierten Seite, sondern häufig auch an dem klinisch 
gesunden Gelenke gefunden wird. Auf die Untersuchung des Pfannen¬ 
daches werde ich in meiner Studie noch zurückkehren. Hier will ich 
nur auf die Bemerkung W ollcnbergs (bezüglich der Neubildung 
des Gelenkes) eingehen. Meine Untersuchungen führten nämlich zu 
dem Resultate, daß sich die Umgestaltung des Gelenkes nicht nur in 
der Verdünnung des Fundus zeigt, sondern daß der gelungenen Reposition 
auch an dem Pfannendache eine solche Umgestaltung folgt, nach deren 
Beendigung dieses Gelenk kaum auch nur Spuren der sogenannten 
primären Veränderung auf weist, und es fast schwer ist zu sagen, welches 
von den Beinen einst verrenkt war. Bevor diese Umgestaltung ganz 
vor sich geht, ist der einzige Unterschied zwischen den beiden Gelenk¬ 
pfannen, der bei der Entscheidung letzterer Frage ausschlaggebend sein 
kann, der, daß jene Linien, welche das Dach und den Vorderrand des¬ 
selben bezeichnen, im Röntgenbilde noch nicht ganz so scharf sind, 
als wie die auf der gesunden Seite. Doch darf man den Umstand 
nicht unberücksichtigt lassen, daß die Entwicklung der normalseitigen 


’) H o f f a, Lehrbuch d. orthopäd. Chir. 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 475 


Gelenkpfanne von Anfang an durch nichts gestört wurde, so daß die¬ 
selbe im Vergleich zur anderen immer auf einem höheren, vorgeschrit¬ 
teneren Grad ihrer Entwicklung steht. Es ist also natürlich, daß die 
Neubildung der Pfanne desto vollkommener sein wird und wir zwischen 
den Gelenken mit der Zeit einen desto kleineren Unterschied finden 
werden, je früher wir die Behandlung der Verrenkung beginnen. Bei 
älteren Kindern erreichen wir selbst auf dem Wege einer in ana¬ 
tomischem Sinne tadellosen Reposition nicht vollkommene Gelenks¬ 
verhältnisse, ja infolge des hohen Grades der sekundären Veränderungen 
kann vielleicht nicht einmal die Reposition eine so vollkommene sein, 
kann auch der Schenkelkopf nicht unter das ohnedies steilere Pfannen¬ 
dach so tief eingefügt werden, wie bei jungen Kindern. 

Hierzu kommt noch der Umstand, daß bei älteren Kindern das 
reponierte Gelenk meist steifer ist, während für die bei jungen Kindern 
erzielte anatomische Reposition das charakteristisch ist, daß die Be¬ 
weglichkeit des Gelenkes von der des normalen Gelenkes in gar keiner 
Hinsicht ab weicht. 

Bei anatomischer Reposition, vollkommener Gelenksbeweglich¬ 
keit und der mit dem jüngeren Alter zusammenhängenden größeren 
Plastizität der Pfanne ist auch die Umgestaltung derselben vollkommen, 
was sich nicht nur in der Verdünnung des Fundus zeigt, sondern auch 
darin, daß sich die Wölbung ändert und zwar solcher¬ 
art, daß der Neigungswinkel derselben mit dem des 
normalseitigen Daches überein stimmt. 

Nur selten finden wir Gelegenheit, bei lebenden Menschen solche 
Beobachtungen anzustellen, die sich mit den Resultaten der Deutsch¬ 
länder sehen Untersuchungen in Einklang bringen ließen. 

Luxationen, die im Anschlüsse an Entzündungen entstehen, 
können beim Studieren dieser Frage sehr natürlich nicht verwendet 
werden. 

Auch mit den Veränderungen, welche bei traumatischen Ver¬ 
renkungen erwachsener Menschen entstehen, kann — da die Ver¬ 
knöcherung schon beendigt ist — keine Parallele angestellt werden, 
ja selbst die erworbenen Luxationen von Kindern bieten kaum Ge¬ 
legenheit zum Vergleichen, da die Reposition des luxierten Schenkel¬ 
kopfes früh genug vor sich geht, noch bevor die mit der Veränderung 
der Druckverhältnisse verbundenen Abweichungen hätten zur Entwick¬ 
lung gelangen können. 

L u d 1 o f f studierte in seiner hochinteressanten Arbeit die 


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476 


Michael Horvath. 


charakteristischen Veränderungen an den bei Hüftverrenkungen ge¬ 
fertigten Röntgenbildern und fand, daß die Gestalt der knöchernen 
Gelenkpfanne verschieden ist, je nachdem dieselbe 

1 . primär, nach der Geburt verrenkt, 

2. innerhalb kurzer Zeit nach der Geburt verrenkt, oder 

3. sekundär subluxiert und luxiert ist. 

Alle drei weichen aber von der Gestalt des auf traumatischem Wege 
verrenkten Gelenkes ab, insofern als der knöcherne Pfannenteil in den 
3 ersten Fällen in einer oder der anderen Richtung eine Veränderung er¬ 
leidet (die Gelenkpfanne ist kleiner, die knöchernen Ränder sind weniger 
scharf, das Pfannendach steiler, der Fundus dicker und im oberen 
Viertel der Pfanne ist eine Gleitfurche sichtbar), wohingegen für die auf 
traumatischem Wege luxierte Gelenkpfanne die Schärfe der Ränder, 
das wohlgebildete Dach und die Dünne des Fundus charakteristisch sind. 

L u d 1 o f f untersuchte frische Luxationen traumatischen Ur¬ 
sprunges (bei einem 12- und einem 20jährigen Knaben), und so ist 
es natürlich, daß er, da eine erworbene Verrenkung eines normalen 
Gelenkes vorlag, den knöchernen Pfannenteil im Röntgenbilde voll¬ 
kommen entwickelt vorfand. 

Doch lehrt die Pathologie, daß die Pfanne bei veralteter Luxation 
teils infolge von Schwund, teils im Wege der Ausfüllung mit neuer 
Knochensubstanz und neuem Bindegewebe verflacht (Kaufmann). 
Doch ist dazu, daß all dies eintrifft, längere Zeit notwendig. 

Es stand unter meiner Beobachtung ein 7 Jahre alter Knabe, 
welcher 3 Monate vor der Aufnahme in das Spital eine linkseitige trau¬ 
matische Hüftverrenkung erlitten hatte und von dieser Zeit an nur. 
auf einen Stock gestützt, stark hinkend gehen konnte. 

Die erste Reposition versuchte ich, da eine andere Erkrankung 
dazwischenkam, 5 Monate nach dem Erleiden des Traumas. Doch 
gelang die Einrichtung des Schenkelkopfes bei dieser Gelegenheit nicht 
ganz vollkommen. So fixierte ich denn das Bein in Abduktion und 
verfertigte in dieser Lage ein Röntgenbild desselben. Die verknöcherten 
Pfannenteile konnten sich — da das Bild einige Tage nach dem 
Repositionsversuche verfertigt wurde — seit dem Repositionsversuche 
nicht verändert haben. 

Vergleichen wir das gesunde und das kranke Gelenk, so sehen 
wir, daß, während wir auf der gesunden Seite ein in jeder Hinsicht 
normal entwickeltes Gelenk finden, auf der pathologischen Seite 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 477 


<üe Grenzlinien der knöchernen Pfannenteile verschwommener sind. 
A.\xßer dieser Verschwommenheit fand ich keine weitere Veränderung, 
weder in der Dicke des Fundus noch aber in der Form des Daches. 

Zum zweiten Male konnte ich die Keposition — infolge von 
Nebenumständen — wieder nur nach längerer Zeit wiederholen, imd 
während dieser Zeit war das Kind wiederum ohne Verband geblieben. 
Bei dieser Gelegenheit gelang es, den Schenkelkopf zu reponieren, imd 
das Resultat kontrollierten wir auch bei dieser Gelegenheit mittels der 
Röntgenstrahlen. Dieses Röntgenbild stammt also aus dem 8. Monate 
nach dem Erleiden der Luxation; diese lange Zeit hindurch kam die 


Fig. 33. 



Wirkung des normalen Belastungsdruckes am Gelenke nicht zur Gel¬ 
tung. Das bei dieser Gelegenheit verfertigte Röntgenbild, resp. die 
nach demselben verfertigte Konturzeichnung (Fig. 33) zeigt, daß die 
Pfannengrube nicht mehr durch so regelmäßige Konturen begrenzt 
wird, wie auf der normalen Seite, ja aus der Gestalt der Tränenfigur 
muß man sogar auf Verdickung des Fundus und auf Verringerung der 
Tiefe des Gelenkes schließen. 

An und für sich genügt dieser eine Fall noch nicht dazu, daß 
man aus ihm Folgerungen von allgemeiner Gültigkeit bilde. Doch 
erschien mir seine Mitteilung besonders aus dem Grunde wichtig, da 
ich die Aufmerksamkeit auf jene sich allmählich vollziehenden Ver- 


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478 


Michael Horvath. 


änderungen hinlenken wollte, die bei vernachlässigten VerrenkiingeD 
traumatischen Ursprungs an der Gelenkpfanne entstehen. Diese Ver¬ 
änderungen können wir bei Lebenden mittels Vergleichung von Röntgen- 
bildern studieren, und wie es scheint, sind dieselben mit jenen identisch, 
welche durch die Untersuchungen Deutschländers bekannt 
wurden. Im Anschlüsse an die traumatische Luxation bei jungen 
Kindern entstehende Veränderungen zu studieren, ist jedenfalls wichtig, 
da, sofern es sich heraussteilen würde, daß dieselben mit den bei 


Fig. 34. 



kongenitaler Hüftverrenkung beobachteten Veränderungen identisches 
Gepräge besitzen, die Möglichkeit, daß die bei kongenitaler 
Hüftverrenkung an der Gelenkpfanne beobachteten Veränderungen 
sekundäre sind, einen weiteren Beweis gewinnen würde. — 

Um zu beweisen, daß sich die Form der Gelenkpfanne, wenn der 
Schenkelkopf dieselbe verläßt, gänzlich verändert, teile ich einen ande* 
ren, auch gegenwärtig unter meiner Beobachtung stehenden Fall mit. 

Das gegenwärtig 14jährige, stark entwickelte Mädchen fing laut 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 479 

Angabe seiner Eltern, als es 1 Jahr alt war, zu gehen an, und 6 Monate 
hindurch bemerkten sie keinerlei Abnormität (Hinken, Watscheln). 
Im Alter von IV 2 Jahren wurde es wegen Spondylitis dorsalis syste¬ 
matisch behandelt. Als es 3 V 2 Jahre alt war, trat neben dem inzwischen 
entwickelten großen Gibbus Lähmung der unteren Extremitäten, der 
Blase und des Mastdarmes auf. Diese Symptome wurden nur sehr 
langsam besser und gaben der seitdem bestehenden, sehr hochgradigen 
spastischen Starre Platz. Das Kind brachte späterhin seine Zeit größten¬ 
teils sitzend zu, und infolge des lang andauernden Sitzens entwickelte 
sich an den spastischen Gliedern Flexions-Adduktionskontraktur der 

Fig. 34 a. 




Hüfte, Kontraktur des Kniegelenkes und Pes valgus an beiden Füßen. 
In diesem Zustande sah ich das Kind zuerst im Alter von 6, später 
von 10 Jahren. Bei dieser Gelegenheit wandte ich mehrmals forcierte 
Extension an und legte das Kind in einen Wullsteinschen Rumpf- 
Kopfverband hinein, was in kurzer Zeit die gänzliche Besserung der Pa¬ 
rese der Blase und die Linderung der Kontraktur des Hüftgelenkes zur 
Folge hatte. Doch mußte die Behandlung wegen Pertussis unterbrochen 
werden. Im Januar 1906 meldete es sich wieder mit folgendem Be¬ 
funde : Ped. equino-valg. Ausgesprochene Flexionskontraktur der 
Kniee. Flexions-Adduktionskontraktur der Hüftgelenke so hochgradig, 
daß die Schenkel passiv ungefähr nur 15® weit abduziert werden konnten. 


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480 


Michael Horväth. 


Die Flexionskontraktur ganz auszugleichen war nicht möglich. Die 
starke Prominenz der Trochanteren lenkte meine Aufmerksamkeit auf 
das Hüftgelenk. Trochanterstellung oberhalb der Roser-Nelaton-Linie 
linkerseits 5 cm, rechterseits 3^/2 cm. Schenkelköpfe auf beiden Seiten 
hinten auf der Außenseite des Darmbeines tastbar. Die Röntgenunter¬ 
suchung bestätigte das Vorhandensein einer Luxatio iliaca bilateralis. 
Die weiter angewandten Streckverbände hatten eine Linderung der 
spastischen Symptome zur Folge, das Kind geht auf zwei Stöcke 
gestützt. 


Fig. 35. 



(Noch ist der Erwähnung würdig, daß sich die physiologischen 
Krümmimgen des Rückens total veränderten, sofern nämlich in sitzen¬ 
der Stellung lumbo-sakrale Kyphose, sodann lumbo-dorsale, ganz bis 
zum VII. Rückenwirbel reichende muldenartige Lordose und dorso* 
cervikale Kyphose [Gibbus] entstand. Den tiefsten Punkt der lumbo- 
dorsalen Lordose bildete der X. Rückenwirbel. 

Wenn das Kind steht, zeigt sich neben der Flexionskontraktur 
des Hüftgelenks eine sehr ausgeprägte sakro-lumbale Lordose, welche 
mit der lumbo-dorsalen Lordose einen Bogen bildet.) 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 481 


Ich habe die Geschichte dieses Falles ausführlicher mitgeteilt, 
obzwar bei dieser Gelegenheit nicht alle Einzelheiten desselben zum 
Gegenstand gehören. Uns interessieren jetzt nur die von der Spon¬ 
dylitis herrührende spastische Lähmung, die Kontrakturen und die 
im Zusammenhang mit denselben entstandene beiderseitige hintere 
Hüftverrenkung. 

Daß wir es mit keiner kongenitalen Hüftverrenkung zu tun haben, 
muß ich nach der Angabe der intelligenten Eltern für wahr halten, 


Fig. 36. 



da das Kind von seinem ersten Jahre an ein halbes Jahr hindurch tadel¬ 
los gehen lernte und sich keinerlei Symptom zeigte, welches in den 
Eltern bezüglich der Gesundheit ihres Kindes einen Zweifel erweckt 
hätte. Anderseits ist die Verrenkung ganz erklärlich aus dem Umstande, 
daß das Kind Jahre hindurch an spastischer Kontraktur litt, derzufolge 
die Schenkel (sowohl in sitzender wie auch in liegender Stellung) in 
flektiert-adduzierter Lage fixiert waren. Der Schenkelkopf wurde an 
den Hinterrand der Gelenkpfanne gedrückt, dehnte an dieser Stelle 


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482 


Michael Horvath. 


das Kapselband aus, so daß eine Verschiebung des Schenkelkopfes nach 
hinten und oben vor sich gehen konnte. (Einen ähnlichen Fall be¬ 
schreibt auch Lo r e n z 1) bei einem an Spondylitis leidenden 6jährigen 
Kinde). 

Das aus dem 12. Jahre des Kindes herrührende Röntgenbild 
^Fig. 34—3()) zeigt folgendes: Die Schenkelköpfe stehen auf beiden 
Seiten hinter den Darmbeinflügeln, auf der linken Seite höher als auf 


Fig. 37. 



der rechten. Beiderseits haben sich genügend ausgeprägte neue Pfannen¬ 
gruben gebildet, die den Schenkelkopf in sich auf nehmen. Die Stelle 
des Y-Knorpels ist nur undeutlich zu bestimmen, da der Knorpel 
gerade zu der Zeit (im 12. Jahre) verknöchert (L u d 1 o f f). Das Pfannen¬ 
dach ist auf beiden Seiten verschwommen, und der obere Rand der alten 
Pfanne geht ohne jeden Uebergang in die Seitenlinie des Darmbeines 

^) Lorenz, Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung, 

S. 114. 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 483 

Über. Der Pfannenboden ist verdickt, sofern sich nämlich die beiden 
undeutlichen Linien, welche die Tränenfigur bilden, besonders auf der 
linken Seite voneinander entfernt haben, wie dies hauptsächlich auf 
der Röntgenplatte sehr gut sichtbar ist. Besondere Sorgfalt verwandte 
ich beim Verfertigen des Röntgenbildes darauf, daß die Querachse der 
Kniee möglichst in der frontalen Ebene blieb und die Extremitäten 
parallel standen. In dieser Einstellung ist die am proximalen Ende 
des Schenkelknochens sichtbare hochgradige Torsion und Anteversion 
kein Resultat der unrichtigen Lagerung (Außendrehung), sondern 
muß als wirkliche pathologische Veränderung des Schenkelknochens 
betrachtet werden. 

Und wenn unsere Voraussetzung hinsichtlich des Ursprunges der 
Luxation richtig ist und wir der Angabe (Anamnese) der intelligenten 
Eltern Glauben schenken, so scheint dieser Fall die Möglichkeit dessen 
zu beweisen, daß alle jene Veränderungen, die in der Pathologie der 
kongenitalen Hüftluxation typisch sind, innerhalb eines langen Zeit¬ 
raumes auch im postuterinen Leben sekundär entstehen können. 

Vollständig gut illustriert wird der identische Charakter der am 
knöchernen Teile der Pfanne sich zeigenden Veränderungen durch das 
nebenstehende Bild (Fig. 37), welches von einem 11jährigen und bishin 
noch nicht behandelten Mädchen herrührt, das an linkseitiger an¬ 
geborener Hüftverrenkung litt. Von der größeren Deformität des 
Schenkelknochens abgesehen, finde ich zwischen den am knöchernen 
Teile der Gelenkpfanne erscheinenden Veränderungen keinen Unter¬ 
schied, so daß wir die an die Spondylitis anschließend entstandene 
Hüftverrenkung — in Ermanglung anamnestischer Daten — auf Grund 
des Röntgenbildes füglich als eine angeborene Verrenkung betrachten 
könnten. (Das Kind konnte seine IV 2 «m betragende Verkürzung so 
geschickt ausgleichen, daß zwischen der Tätigkeit des rechten und 
linken Fußes nur der aufmerksame Beobachter etwas Unterschied 
wahrnahm. Mit Rücksicht auf das Alter und den ausgezeichneten 
Gang sah ich von der Reposition ab. Leider verschlimmerte sich 
3 Jahre später — mit der Veränderung der Beckenneigung — der 
Zustand, die Verkürzung betrug da schon 4 cm.) 

Dem Mitspielen eines Zufalles kann ich es verdanken, daß ich in 
der Lage bin, noch über einen weiteren Fall zu referieren, in dem bei 
einem an Littlekrankheit leidenden Kinde Hüftgelenksverrenkung ent¬ 
stand während der Zeit meiner Beobachtung und ebendeshalb schreibe 
ich den beobachteten Veränderungen besondere Wichtigkeit zu. 


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484 


Michael Horvath. 


F. K., 3V2jähriges Mädchen. Schwangerschaft normal. Kam im 
9. Monat in Asphyxie zur Welt, worauf 2 Tage dauernde Bewußtlosigkeit 
folgte. Konvulsionen hatte es nicht. Strabismus. Nach einiger Zeit trat 
an allen vier, besonders aber an den beiden unteren Extremitäten aus¬ 
gesprochene spastische Lähmung auf. Die orthopädische Behandlung 
war insofern von Erfolg, als das Kind mit Zuhilfenahme eines 
Hess ingsehen Apparates, Korsetts und eines Gehstuhles Gehversuche 
machte. 3V2 Jahre alt kam es in meine Beobachtung. Die unteren Extre¬ 
mitäten zeigten ausgesprochene spastische Lähmung. Die Bewegungen 
der oberen Extremitäten waren ziemlich gut und energisch. Schleppendes, 
stotterndes Sprechen. Rechte untere Extremität um 2 cm kürzer. 
Ausgesprochene Luxatio supracotyloidea et iliaca, mäßige Anteversion. 

An dem Röntgenbilde, welches im Alter von 3 V 2 Jahren ver¬ 
fertigt wurde (Fig. 40), können wir folgendes sehen: Auf der rechten 
Seite steht der Schenkelkopf um 2 cm höher als der Y-Knorpel. Der 
knöcherne Kern des Schenkelkopfes ist atrophischer (12 : 9 mm) als 
auf der linken Seite (20 : 10 mm). Der Pfannenboden ist verdickt, 
anstatt der beiden Parallellinien der Tränenfigur sehen wir nur eine. 
Das Pfannendach ist steiler (Neigungswinkel 55®). Auf dieser Seite 
kann man auch die Gleitfurche sehen (besonders auf der Platte). 

Auf der linken Seite liegt der Schenkelkopf gänzlich unter dem 
Pfannendache, dessen Ränder ziemlich scharf konturiert sind. Das 
Dach ist etwas steiler als bei anderen Kindern von ähnlichem Alter 
(Neigungswinkel 45®). Der Pfannenboden ist von normaler Dicke. 
Das obere Ende des Schenkelknochens ist gut entwickelt. 

Mit ganzer Bestimmtheit zu entscheiden, ob die rechtseitige Luxation 
kongenital ist oder aber im Laufe der L i 111 e sehen Krankheit infolge 
des erhöhten Spasmus entstand, wie dies in seinem Falle L u d 1 o f f 
annimmt, ist schwer. Im früheren Alter des Kindes wurde eine dicvS- 
bezügliche Röntgenuntersuchung nicht angestellt, und aus der Ana¬ 
mnese kann ich mich nur auf die Ansicht eines Kollegen stützen, 
der das Kind in jüngerem Alter längere Zeit hindurch behandelte und 
auf dessen Untersuchung, als die eines Fachmannes, wir uns somit 
ganz verlassen können. Iin Sinne der von ihm gewonnenen Information 
handelt es sich hier um keine angeborene Hüftluxation. 

In Ludloffs Fall entstand an die L i 111 e sehe Krankheit 
anschließend beiderseitige Hüftverrenkung und er beschreibt auf Grund 
der Röntgenuntersuchung bezüglich beider Seiten dieselben Verände¬ 
rungen. Die Gelenkpfanne ist beinahe von normaler Größe, das Dach 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 485 


wohlgebildet, der Fundus von normaler Dicke. Von dem projizierten 
Bilde des normalen Gelenkes wichen sie nur insofern ab, daß die äußere 
liinie der Tränenfigur fehlte (seiner Meinung nach das projizierte Bild 
des vorderen unteren Pfannenrandes), woraus dennoch auf die Ver¬ 
dickung des Bodens gefolgert werden muß (siehe den von der radio¬ 
graphischen Anatomie des Hüftgelenkes handelnden Teil). 

In meinem Falle legt das Röntgenbild für die Hüftverrenkung 
typische Veränderungen klar; somit wäre im Sinne der L u d 1 o f f- 
schen imd neuerer Zeit der G a u g e 1 e sehen Untersuchungen das Zu¬ 
sammentreffen der L i 11 1 e sehen Krankheit und der Hüftverrenkung 
ein Spiel des Zufalles (G a u g e 1 e s III. Typus). 

Doch obwaltet, abgesehen davon, daß dem die Anamnese wider¬ 
spricht, noch ein solches Symptom, aus dem ich mit großer Wahr¬ 
scheinlichkeit den Schluß zu ziehen wage, daß es sich in meinem Falle 
dennoch um eine im Anschluß an die L i 11 1 e sehe Krankheit ent¬ 
standene Verrenkung handle. 

Untersuchen wir auf den Röntgenbildern den das Foramen ob- 
turatum umgebenden knöchernen Ring, so finden wir, daß dieser Ring 
bei jungen Kindern an jener Stelle, wo der Ramus descendens des 
Schambeines mit dem Ramus ascendens des Sitzbeines zusammentrifiEt, 
offen ist, resp. an dieser Stelle je nach dem Alter des Kindes eine kleinere 
oder größere knorplige Lücke sichtbar ist. Seit Jahren beobachte ich 
dieses Symptom bei zahlreichen Fällen und fand, daß bei einseitiger 
Hüftverrenkung der durch den Knorpel ausgefüllte Teil auf der luxierten 
Seite viel längere Zeit hindurch persistiert und, während auf der nor¬ 
malen Seite mit dem Fortschreiten der Verknöcherung der Ring schon 
im 5.— 6 . Jahre vollkommen geschlossen ist, derselbe auf der Seite 
der Verrenkung lange Zeit hindurch, hie imd da sogar noch im 8 . bis 
8 V 2 . Jahre (in einem Fall im 12 . Jahre) offen bleibt. Wenn das Röntgen¬ 
bild die knorplige Lücke noch auf beiden Seiten zeigt, ist derselbe 
auf der Seite der Verrenkung für gewöhnlich breiter als auf der ge¬ 
sunden Seite. 

An der Stelle der knorpligen Lücke erscheint der Knochen eine 
Zeit hindurch nach der Schließung bedeutend verdickt und nur gradatim 
gewinnt er seine normale Dicke solcherart zurück, daß die Aeste des 
Scham- und Sitzbeines ohne jeden Uebergang einander fortsetzen, 

Bezüglich der Zeit des Schließens der knorpligen Lücke durch¬ 
musterte ich die Röntgenbilderserie von 94 meiner Kranken (61 ein¬ 
seitige und 33 beiderseitige Luxationen, Tab. I und II) und fand, daß 


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486 


Michael Horvath. 


1 . auf der gesunden Seite in einem sehr großen Teil der Fälle 
der das Forainen obturatum bildende knöcherne Ring sich im 
5. Lebensjahre geschlossen hat; 

2 . auf der kranken Seite die Grenze bis auf das 8 .— 8 ^/ 2 . Jahr 
hinausrückt; 

3. die knorplige Lücke auf der luxierten Seite — 3 Fälle aus¬ 
genommen — meßbar breiter ist als auf der gesunden Seite. 
Der Unterschied zwischen der Breite des knorpligen Teiles auf der 
gesunden und auf der kranken Seite schwankte zwischen! —9mm; 

4. sich im Falle von bilateraler Luxation die knöcherne Vereini¬ 
gung für gewöhnlich nicht vor dem 6 .— 6 V 2 . Jahr vollzieht, ja 
in einigen Fällen auch das 8 . Jahr noch einen offenen Ring trifft; 

5. im größeren Teile der Fälle (14 : 8) ist der knorplige Teil auf 
der Seite breiter, auf der die Verrenkung prägnanter ist. 

Tabelle I. 


Jour¬ 

' 1 Seite 


Jour¬ 


Seite 


nal 

Nr. 

Alter gesund luxiert ^ * trenz 

nal 

N r. 

Alter 

gesund luxiert 

! Differenz 


< ln in 

nun 

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5 

0 

t 69 

11 

0 

0 

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1 2 1,5 

3 

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6 

0 

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4” 2,5 

10 

i 2*2 8,5 

9 

+ 0,5 

76 

3‘2 

5,5 

9,5 

-f 4 

11 

1 3 5 

11 

+ 6 

77 

5 

1 

9 

-h 8 

12 

! 6 0 

7 

-f 7 

78 

2 

8 

8 

— 

13 

1''2 4 

5 

+ 1 

79 

F/4 

6 

6 

— 

14 

3 2 

6.5 

+ 4,5 

81 

3 

5 

11 

4- 6 

15 

7 0 

2,5 

+ 2,5 

83 

6>'2 

0 

0 

— 

20 

9 0 

0 

— 

84 

2 V 2 

10 

6 

— 4 

21 

9 0 

0 

— 

86 

1 V 4 

7,5 

10 

4- 2.5 

22 

4'/* i 4 

5 

+ 1 

88 

3 

3 

5 

4- 2 

23 

2 4,5 

7 

+ 2,5 

89 

33/4 

10 

6 

— 4 

25 

7 0 

1 

+ 1 

92 

8 

0 

0 

— 

33 

6 1 0 

0 

-f 6 

95 

13 

0 

0 

— 

34 

2 V 2 3 

9,5 

+ 6,5 

97 

2 

5 

8 

4- 3 

36 

2' 2 5 

9,5 

+ 4.5 

98 

2*2 

0 

1.5 

4- 1,5 

37 

1 5 0 

5,5 . 

4- 5,5 j 

99 

37» 

1 4 

9 

‘ 4- 5 

41 

t 13 0 

' ^ 

— 

100 

372 

6 

14 

4- 8 

42 

6 3,5 

> 4 

+ 0,5 

103 

5 

0 

t 0 

— 

46 

4 0 

7 

+ 7 

106 

1 

6 

7 

4- 1 

48 

2 3 

12 1 

-r 9 

107 

IV 2 

7 

8 

i 4- 1 

51 

8 i 0 

2,5 

-f 2,5 

110 

10 

0 

0,5 

4“ 0,5 

53 

3 ' 2 

1 5 

+ 3 

111 

6 

0 

10 

' 4- 10 

56 

: 5 0 

7,5 1 

+ 7,5 

113 


2 

7 

, 4- 5 

58 1 

1 6 0 , 

. 0 1 

— 

115 

10 

0 

0 

1 — 

59 

1 12 0 

0 

— 

116 

1 3t'4 

4,5 

6 

4- 1.5 

60 

1 5 3,5 

9 

4" 5,5 

119 1 

2 

7 

10 

4- 3 

61 1 

2 5,5 

14.5 

4- 9 

121 

1 474 

1 0 

9 

1 — 

62 * 

5 0 

6,5 1 

4- 6.5 

K. ' 

' 272 

1 4 ' 

7 

4- 3 

63 

1 2*4 3 

7,5 1 

4- 4,5 







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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 487 


Tabelle II. 




Seite * 

13 


Seite 

s 

Alter 



s ^ 

Alter 



O ^ 


links 

rechts 


links ! 

recht« 

»-5 

.Tahrc 

mm 

mm 


Jahre 

mm 1 

mm 

9 

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10 

12 

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2 

7,6 

4,5 

17 

5V4 

5 

5 

1 73 

7 

1,5 

0 

18 

3V» 

4,5 

3 

74 

2«/2 

6,5 

6,5 

19 

5 

4 

5 

^ 75 

3 

10 

7,5 

27 1 

4 

10 

9 

82 

57-2 

3 

2 

30 

3 

8 

12,5 

87 

6 

5 

0 

32 

3 

11 

10 

91 

472 

2 

3,5 

40 

9 

0 

0 

93 

5 

9,5 

8,5 

44 

8 

0 

0 

94 

8 

14,5 

9 

45 

8 

1 0 

0 

96 

5 

8,5 

4 

47 

3 

i 2 

2 

102 

374 

2 

3 

49 

4 


5 

108 

374 

7 

8 

52 

i ö 

1 0 

0 

109 

2\li 

9 

11 

55 

3 

3,5 

2 

114 

474 

8 

4 

57 

3 

9 

10 

123 

3 

3 

3 

66 

7 

0 

0 

H. 

10 

5 

5 

68 

^ 2 

9 

11 






Diese Ungleichheit des Verknöcherns beobachtete auch B a d e i). 

Ich hatte Gelegenheit, in 2 Fällen solche Verrenkungen zu unter¬ 
suchen, die sich einer im Säuglingsalter entstandenen Osteomyelitis an¬ 
schließend entwickelt hatten, und bei denen außer den anamnestischen 
Daten die an der Außenseite des oberen Schenkelteiles sichtbare, un¬ 
gefähr bohnengroße Narbe über den Ursprung der Luxation keinen 
Zweifel ließ. In beiden Fällen (Fig. 38, 39) finden wir, daß die knorplige 
Lücke jenes Ringes, der das Foramen obturatum umgibt, auf der Seite 
der pathologischen Verrenkung breiter ist als auf der gesunden Seite. 
(Der Unterschied betrug 3 resp. 6 mm.) 

Nach dem Röntgenbilde griff die Osteomyelitis das obere Ende 
des Schenkelknochens an und hatte hochgradige Destruktion desselben 
zur Folge; als dann das Kapselband allmählich gedehnt wurde, verließ 
der Schenkelknochen die Pfannengrube. Der knöcherne Teil der Ge¬ 
lenkpfanne erlitt — wie das Röntgenbild zeigt — bei dem 2- resp. 
SV^jährigen Kinde solche Veränderungen, auf deren Grund man die 
beiden Fälle füglich als kongenitale Hüftgelenksverrenkungen betrachten 
könnte. Der Fundus ist an beiden kränken Gelenken zusehends 
verdickt (8 : 6 resp. 10 : 4 mm im Verhältnis zur gesunden Seite), das . 
Pfannendach ist in beiden Fällen auf der kranken Seite steiler, wohin- 


Bade, Die angeborene Hüftgelenksverrenknng. Stuttgart 1907. 


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488 


Michael Horvath. 


gegen auf der gesunden Seite auffallend gut entwickelt, und in beider; 
Fällen ist auch die Gleitfurche gut sichtbar. 

Ich bin mir zwar dessen bewußt, daß zwischen der im Anschluß 
an Osteomyelitis entstandenen Verrenkung und der kongenitaleu 
Hüftluxation keine vollständige Parallele gezogen werden kann und 
dennoch ist es — in Hinsicht auf den Umstand, daß ich an der Ge¬ 
lenkpfanne eine Destruktion, wie sie nach Osteomyelitis entstanden 


Fig. 38. 



Luxatio i)ost osteomyelit. 


wäre, nicht fand — ein sehr naheliegender Gedanke, daß die oben 
beschriebenen Veränderungen in den vorliegenden Fällen für sekundäre 
Symptome gehalten werden müssen, welche entstanden, da der 
Schenkelkopf die Pfannengrube verließ. 

Hätte ich diese beiden pathologischen Verrenkungen nicht beob¬ 
achtet, so hätte ich das verspätete Schließen des knöchernen Ringes 
als eine ausschließliche Eigenheit der kongenitalen Hüftverrenkung 
betrachten können. So aber geht meine Meinung dahin, daß dies in 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 489 


jedem solchen Falle Vorkommen kann, in dem der Schenkelkopf die 
Gelenkpfanne in den jungen Jahren des Kindes, unbedingt aber noch 
bevor sich der knöcherne Ring ganz geschlossen hat, verläßt, 

Kehren wir jedoch zum Bilde jener Hüftverrenkung zurück, 
die mit der Littl eschen Krankheit im Zusammenhänge stand! 
Bei dem S^/zjährigen Kinde finden wir beide Ringe knöchern ge¬ 
schlossen. Gerade aus dieser frühen Ossifikation der knorpligen Lücke 
schließe ich, daß wir es bei diesem an L i 111 e scher Krank- 


Fig. 39. 



Lu.\atio post osteomyelit. 


heit leidenden Kinde mit keiner Verrenkung kongenitalen Ursprungs 
zu tun haben, da angenommen werden kann, daß, wenn die Verrenkung 
vorangegangen wäre, dieselbe ihre die Verknöcherung verzögernde 
Wirkung auch in diesem Falle geltend gemacht hätte. 

Doch wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem weiteren Verlauf 
des interessanten Falles zu. Nach der Reposition der rechtseitigen 
totalen Verrenkung näherte das ein wenig imbecille Kind seinen Fuß 
sehr lange nicht der Mittellinie und erst mit Hilfe von Gips verbänden 
gelang allmählich eine Fixierung in mäßiger Abduktion. In diesem 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 32 


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490 


Michael Horvath. 


Zeiträume war auch die linke untere Extremität (mit Rücksicht auf 
die L i 111 e sehe Krankheit) anfangs in hochgradigerer, später in 
mäßigerer Abduktion fixiert. Nach Monaten wandte ich einen Schienen¬ 
hülsenapparat an, dessen Konstruktion ermöglichte, daß ich die beiden 
Extremitäten in beliebiger Abduktion fixieren konnte, ohne daß die 
Beugung des Hüftgelenkes gehindert gewesen wäre. Doch trotz dieser 
Vorsichtsmaßregel kam der linke Fuß infolge des von neuem ent¬ 
schiedener auftretenden Krampfes (Spasmus) und dann auch deshalb, 


Fig. 40. 



weil das rechte (reponierte) Bein noch in mäßiger Abduktion war,^auf- 
fallenderweise in Adduktion und entwickelte sich während 
dieser Zeit auf der linken Seite vor meinen Augen 
die Hüftverrenkung, richtiger die Subluxation. 

Wie die Röntgenbilder und die nach denselben verfertigten 
Konturzeichnungen zeigen, stützte sich allmählich ein immer kleinerer 
Teil des Schenkelkopfes an das Dach, so daß ich den Schenkel köpf bei 
einer Gelegenheit, als sich das Kind in einem Apparate und einem 


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^Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 491 


Gehstuhle im Stehen und Gehen übte, unter der Spina ant. sup., etwas 
auswärts von den großen Gefäßen tastete, während ich, in Flexion und 
Adduktion untersuchend, den Trochanter, den Schenkelhals und -köpf 
— wenn auch noch nicht ganz deutlich — hinten unterscheiden konnte. 

In diesem Falle ist es also ganz gewiß, daß der Schenkelkopf bei¬ 
läufig innerhalb eines Jahres die Pfanne allmählich verließ, während 
welcher Zeit das proximale Ende des Schenkels sich etwas nach vorne 
drehte (Anteversion). 

Nach dem Gesagten glaube ich nicht zu irren, wenn ich behaupte, 
daß sich, ebenso wie auf der linken Seite während meiner Beobachtung, 

Fig. 41. 




dem vorangehend auch auf der rechten Seite die Verrenkung als Folge 
der L i 111 e sehen Krankheit entwickelte. 

Und nun vergleichen wir die Röntgenbilder des Kindes, resp. die 
nach denselben verfertigten Konturzeichnungen. 

Das erste Bild (Fig. 40, 41) zeigt uns die Verrenkung des rechten 
Schenkelknochens. Auf der Pfanne finden wir die für Luxationen 
tjrpischen Veränderungen. Aehnliche Bilder fand ich in meiner Samm¬ 
lung bei sehr vielen kongenitalen Hüftverrenkungen. 

Auf der noch gesunden Seite liegt der Schenkelkopf noch ganz 
im Zentrum der Pfanne. Während der Zeit meiner Beobachtung jedoch 
rutschte er immer mehr und mehr nach außen und oben, ließ die Ge¬ 
lenkhöhle zum großen Teile leer, und dementsprechend wurde auch 


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492 


Michael Horvath. 


der Fundus dicker (Fig. 42, 43). Auf dem Bilde (Fig. 44, 45), welches 
ich 10 Tage nach der Reposition der linkseitigen Subluxation gewann 
(vom Gipsverband schnitt ich den das Gelenk bedeckenden Teil aus), 
können wir beobachten, daß auf der seit einem Jahre reponierten 
rechten Seite die Doppellinie der Tränenfigur wieder zum Vorschein 
kommt, während auf der linken Seite die beiden Linien dieser Figur 
entschieden weiter voneinander liegen. 

Fast können wir in dieser Bilderserie lesen, daß die p a t h o- 


Fig. 42. 



logisch-anatomischen Symptome auf der rech¬ 
ten Seite im Abnehmen sind, während sich die¬ 
selben auf der linken Seite vor unseren Augen 
entwickelten. 

Nach der Verrenkung des Schenkelkopfes verdickte sich der 
knöcherne Pfannengrund (der Fundus), das Dach wurde etwas steiler, 
ja, nach Bades Messungen untersucht, ist sogar die Hypoplasie des 
Pfannendaches augenscheinlich. — 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 493 


Durch Mitteilung meiner Fälle wollte ich Beweise bringen bezüg¬ 
lich dessen, daß bei den nach der Geburt im jungen 
Alter erworbenen Verrenkungen (traumatische Luxation(?), 
an Spondylitis resp. an spastische Kontraktur sich anschließende 
und mit L i 111 e scher Krankheit zusammenhängende Hüftver¬ 
renkung) sich an der Gelenkpfanne nachträglich 
Veränderungen von ebendemselben Typus ent¬ 
wickeln können, wiemansiebei kongenitalen 
Luxationen findet, und ebendeshalb ist es meiner Ansicht 
nach durchaus nicht begründet, daß wir diesen Veränderungen 
ätiologische Bedeutung zuschreiben sollten (Bade). 


Fig. 43. 



Konturzeichnung nach dem Negativ. 



Einzig und allein aus den pathologischen Veränderungen kann 
man auf die Ursache des Entstehens der kongenitalen Hüftverrenkung 
keinen Schluß ziehen, da dieselben gegebenenfalls zur Entscheidung 
ihrer primären oder sekundären Bedeutung nicht genügenden Grund 
bieten. Fick, v. Friedländer, Deutschländer, Roux 
haben durch ihre Untersuchungen — denen ich auch die meinigen an¬ 
reihen kann — eine ganze Reihe von Tatsachen ermittelt, in deren 
Sinne die veränderten Druckverhältnisse sowohl die Richtung wie 
auch die Größe des Wachsens der Pfannenteile zu verändern im stände 
sind, was dann zur Form Veränderung der teilweise noch knorpligen 
Gelenke führt. 


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494 


Michael Horvath. 


Wie Schanz richtig bemerkt, muß man bei ätiologischen 
Forschungen jene Kraft suchen, die den Schenkelkopf aus seinem Platz 
heraustreibt, imd die Theorie wird der Wahrheit am meisten nahe 
kommen, welche diese Kraft am einfachsten erklären kann. 

DiesbezügUch wollte ich durch Mitteilung meiner 8 Fälle (Ana¬ 
mnese), in denen man auf dauernde Zwangsstellung der Leibesfrucht 


Fig. 44. 



und auf daraus entsprungenen abnormen Druck schließen muß, einen 
Beitrag liefern. — 

Im Zusammenhänge mit der Frage der Aetiologie will ich nur 
noch einen Punkt berühren, den die Anhänger der „Vitium primae 
formationis “-Theorie als Beweis für die Richtigkeit ihrer Auffassung 
benützen. 

H o f f a war der erste, der bemerkte, daß in einem großen Teile 
der Fälle (nach Bade 25 Proz.) auch das klinisch gesunde Gelenk 
solche Symptome aufweist, die nahelegen, daß zur Zeit der Gelenk¬ 
bildung, noch im intrauterinen Leben, vom Normalen abweichende 
Vorgänge statthatten. So fand er besonders bezüglich des Pfannen- 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 495 

daches, daß es auch auf der klinisch gesunden Seite steiler ist, als es 
unter normalen Verhältnissen zu sein pflegt. 

Zu beurteilen, ob ein Pfannendach vom Normalen abweicht, ist 
insofern schwierig, als es nicht genau bestimmt ist, welche Gestalt 
und Neigung des Pfannendaches am Röntgenbilde als absolut normal 
betrachtet werden muß und wiefern geringe Abweichungen — denn 
nur von ihnen kann ja die Rede sein — schon pathologisch genannt 
werden können. 

Mit der Untersuchung der Verhältnisse des Pfannendaches be¬ 
faßten sich eingehend L u d 1 o f f und Bade. Beide schöpfen aus dem 
Studium des Röntgenbildes und beide kamen zu dem Resultat, daß 


Fig. 45. 




die Pfannengrube, besonders die Tiefe des Daches, kleiner und der 
obere Teil des Fundus (in der Höhe des Daches) verdickt ist. 

L u d 1 o f f schließt auf eine Verdickung des Fundus daraus, daß 
die horizontale Fuge des -<-Knorpels auf der luxierten Seite verlängert 
ist. Bade zieht in der Höhe des normalseitigen Pfannendaches eine 
mit dem horizontalen Aste des Y-Knorpels parallele Linie und ver¬ 
längert dieselbe derart, daß sie auf der entgegengesetzten Seite das 
Darmbein schneidet und vergleicht den Querschnitt des Hüftbeines in 
der Höhe dieser Linie. Aus seinen Untersuchungen schließt er auf die 
Hypoplasie des Pfannendaches. 

Auch ich studierte die Eigenheiten der Gelenkpfanne am Röntgen¬ 
bilde und meine Untersuchungen bezogen sich auf die Form des Pfannen¬ 
daches, die Dicke des Fundus und die Tiefe der Pfannengrube. Die 
zwei letzteren sind in enger Beziehung zueinander, sofern nämlich im 


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496 


Michael Horv4th. 


Verhältnis der Verdickung des Fundus Verminderung der Pfannengrube 
angenommen werden muß. Betrachten wir also, inwiefern es gelingt, 
die Eigenheiten der Form der Gelenkpfanne auf Grund des Röntgen¬ 
bildes zu erforschen. 

Nach L u d 1 o f f ist das Pfannendach auf der luxierten Seite 
steiler, sofern dieses mit der Horizontallinie einen größeren Winkel ein¬ 
schließt (Neigungswinkel), als das Pfannendach der normalen Seite, 
In meinen Untersuchungen ging auch ich vom Neigungs- 

Fig. 46. 




Winkel des Pfannendaches aus, doch bei der Winkelmessung nahm ich 
nicht die Horizontallinie, sondern den horizontalen Ast des Y-Knorpels 
oder — wie Bade sagt — die durch die dem Y-Knorpel entsprechende 
Lücke gezogene Gerade resp. ihre Verlängerung als Grundlage. 

Die den Winkel einschließende andere Linie bestimmt einerseits 
der äußere Endpunkt des horizontalen Astes vom Y-Knorpel, ander¬ 
seits derjenige Punkt desselben, den die Berührung der Seitenlinien 
des Daches und des Darmbeines (Os ilei) bezeichnet (Fig. 46). Geht 
das Dach in die Seitenlinie des Darmbeines ohne jeden scharfen Winkel 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 497 


Über — wie wir dies auf der Verrenkungsseite häufig sehen —, so wurde 
die zweite Linie durch die zur konvexen Linie des Pfannendaches ge¬ 
zogene Tangente gebildet. 

Ich stellte den Neigungswinkel des Pfannendaches an 78 ßöntgen- 
bildern solcher Kinder fest, die an Luxation litten; davon war in 
52 Fällen einseitige, in 26 Fällen doppelseitige Luxation vorhanden. 
Behufs größerer Uebersichtlichkeit ordnete ich in den zwei Tabellen 
die Fälle nach dem Alter der Kinder (Tab. III, IV). 


Tabelle III. 


Journal 1 

Nr. 1 

' 

Alter 

Jahre 

Seite 

gesund luxiert 
Grad | Grad 

Differenz 

Grad 

Journal 

Nr. 

Alter 

Jahre 

Seite 

gesund 1 luxiert 
Grad 1 Grad 

Differenz 

Grad 

106 

1 

35 

50 

+ 

15 

76 

3V« 

29 

50 

+ 

21 

13 

IV« 

33 

38 

+ 

5 

80 

3'/« 

45 

55 

4- 

10 

79 

r/« 

46 

50 

4- 

4 

100 

372 

37 

50 

4- 

17 

107 

IV« 

30 

40 

+ 

10 

117 

37a 

56 

63 

4- 

7 

61 

Va 

47 

59 


12 

89 

374 

48 

65 

4- 

17 

86 

vi* 

44 

45 


1 

90 

4 

48 

62 

4- 

14 

6 

2 

21 

47 


16 

121 

474 

37 

54 

4- 

17 

23 

2 

40 

60 

+ 

20 1 

60 

5 

23 

47 

4- 

24 

24 

2 

33 

40 

4- 

7 

62 

5 

34 

40 

4- 

6 

48 

2 

39 

46 

4- 

7 

77 

5 

37 

55 

4- 

18 

97 

2 

43 

48 

4* 

5 i 

103 

5 

27 

47 

4- 

20 

101 

2 

30 

47 

4- 

17 

12 

6 

22 

52 

4- 

30 

119 

2 

25 

52 

4- 

27 

33 

6 

16 

45 

4- 

29 

36 

2‘/4 

28 

44 

4- 

16 

58 

6 

33 

40 

4- 

7 

67 

274 

38 

56 

4- 

18 : 

72 

6 

10 

32 

4- 

22 

63 

2 7-2 

39 

47 

4- 

8 

111 

6 

35 

39 

4- 

4 

84 

2'/2 

55 

60 

4- 

5 

83 

672 

28 

46 

4- 

18 

11 

3 

36 

41 

4- 

15 

15 

7 

73 

47 

4- 

24 

14 

3 

21 

37 

+ 

16 

25 

7 

21 

60 

+ 

39 

53 

3 

30 

38 

4- 

8 

1 51 

8 

29 

38 

4- 

9 

78 

3 

36 

49 

4- 

13 

54 

8 

27 

1 48 

4- 

21 

81 

3 

38 

48 

4- 

10 

40 

9 

13 

58 

4- 

45 

88 

3 

24 

50 

+ 

26 1 

115 

10 

23 

50 

+ 

27 

98 

3 

37 

37 

- 

; 

110 

10 

23 

64 

4- 

31 

99 

3V4- 

42 

57 

4- 

16 

69 

11 

18 

40 

4- 

22 

116 

374 

38 

55 

4- 

17 

59 

12 

17 

44 

4- 

27 


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498 


Michael Horv4th. 


Tabelle lY. 


Te 


1 Seite 



1 Seite 

E ^ 

r 

Alter 

Jahre 

links 

(» rad 

rechts 

Grad 

'' i !5 

■ o ^ 

Alter 

Jahre 

links 
_Grad 

1 rechte 

* Grail 

113 

1*4 

65 

54 

49 

4 

1 


71 

2 

53 

62 

114 

4 

50 

' 49 

68 

2V'4 

47 

48 

120 

4 

47 

50 

109 

2 «', 

53 

60 

91 

4V* 

42 

36 

74 

2^4 1 

48 

55 

17 

5 

47 

47 

30 

3 ^ 

61 

66 

52 

5 1 

70 

59 

32 

3 1 

48 

32 

; Ö3 

5 

58 

42 

75 

3 

41 

54 

82 

5’'2 

48 

, 40 

108 

3 

57 

52 

87 

6 

60 , 

44 

123 

3 t 

50 

44 

66 

7 i 

36 

’ 60 

73 

3'* 

52 

52 

44 

8 j 

26 , 

49 

27 

4 

44 

47 

4 

8 

41 j 

45 

46 

4 I 

1 

55 

32 

H. 

1 10 

50 1 

55 


Bei den einseitigen Luxationen variierte der Winkel auf der ver¬ 
renkten Seite — unabhängig von dem Alter der Kinder — zwischen 
32—65®. Den Mittelwert (48,5®) übertreffende Winkel fand ich in 
25 Fällen, während in einem sehr großen Teil der Fälle (in 46 unter 53) 
der Neigungswinkel mehr als 40® betrug. 

Bei den 25 doppelseitigen Verrenkungen (50 Gelenke) fand ich 
den kleinsten Neigungswinkel bei einem 8jährigen Kinde (26®), wäh¬ 
rend der größte Winkel (70®) bei einem 5jährigen Kinde vorkam. 
Mittelwert des Neigungswinkels sämtlicher Gelenke 48®. Ueber diesem 
Wert waren von den 50 Gelenken 31, und mehr als 40® betrug der 
Neigungswinkel in 45 Fällen. 

Die bei der ein- und doppelseitigen Verrenkung gewonnenen Werte, 
deren Mittelw^ert 48® betrug, summierend, finden wir, daß von den 
103 Gelenken 59 über dem Mittelwert waren, und mit mehr als 40® 
in der Statistik 77 Gelenke vorkamen. Der Neigungswinkel jener Ge¬ 
lenke, die die 40® nicht erreichten, war um 4—22® größer als der 
Neigungswinkel der klinisch gesunden Seite, so daß (mit Ausnahme eines 
Falles, des 98., in welchem das Pfannendach des gesunden und kranken 
Gelenkes = 37® betrug) auch nach dieser Statistik die Steil¬ 
heit des Daches der luxierten Seite als charakte¬ 
ristische Eigenheit der Verrenkung betrachtet 
werden muß. 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 499 

Bei den 53 Fällen der einseitigen Luxation wechselt an dem 
klinisch gesunden Gelenk der Wert des Neigungswinkels zwischen 
10—56®, mit einem Mittelwerte von 33®, der in 28 Fällen überschritten 
wurde. Den auf die verrenkten Gelenke sich beziehenden Mittelwert 
(48®) erreichten nur 4. Neigungswinkel über 40® kamen auf der klinisch 
gesunden Seite in 11 Fällen vor. Bei Kindern, die mehr als 4V 2 Jahre 
alt waren, betrug auf dieser Seite der Maximalwert 37®, und jenseits 
des 6. Jahres verliert das Dach derart an Steilheit, daß der Neigungs¬ 
winkel nicht einmal mehr 30® erreicht. 

Gleichzeitig stellte ich auch noch an mehreren Röntgenbildern 
verschieden alter Kinder vergleichende Messungen an (Tab. V), an 

Tabelle Y. 

Seite * Seite 


i links I rechts Alter j j j rechts 

_ Grad_Grad __ _ Grad | _ Grad 


19 Tage 

60 

38 1 

4 Jahre 

_ 

30 

4 Monate 

53 

45 

5 „ 

27 

27 

9 „ 

37 

40 

5 

22 

29 

1 Jahr 

44 

45 

5 „ 

— 

28 

3 Vs Jahre 

26 

22 

7 „ 

31 

30 

4 

32 

29 

9 „ 


18 

4 

31 

33 

11 . 

15 

11 

4 

31 

31 

14 „ 

22 

25 

4 

30 

30 

1 




Bildern solcher Kinder, deren Hüftgelenk nicht luxiert war. Diese 
Tabelle ist nicht vollständig, denn nicht alle Lebensalter sind in ihr 
vertreten, und trotzdem fällt es auf, daß wir bei den kleineren Kindern 
größere Werte finden, während dieselben mit dem höheren Alter bei¬ 
nahe proportional kleiner werden, was so viel heißt, daß sich das Pfannen¬ 
dach während der Zeit der Verknöcherung immer mehr und mehr aus¬ 
bildet. 

Im ersten Lebensjahre ist das knöcherne Pfannendach derart 
steil, daß es ohne Ausnahme in sämtlichen Fällen als zum Halten des 
Schenkelkopfes ungenügend betrachtet werden müßte. Das Röntgen¬ 
bild jedoch gibt bloß das projizierte Bild der schon verknöcherten 
Teile, veranschaulicht hingegen nicht, in welchem Maße der den Rand 
desselben begrenzende knorplige Ring die Pfannengrube ergänzt und 
zur Aufnahme des Schenkelkopfes geeignet macht. 


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500 


Michael Horv4th. 


Aus meinen Untersuchungen bezüglich des Neigungswinkels der 
Pfannenwölbung geht hervor: 

1. daß zur Ausbildung des knöchernen Pfannendaches wenigstens 
4—5 Jahre notwendig sind, 

2. daß bei der einseitigen Verrenkung das Pfannendach auf der 
luxierten Seite immer steiler ist als auf der anderen, 

3. daß auf der Seite, die man als kUnisch gesund betrachten kann, 
bei Kindern unter 4 Jahren im großen Teil der Fälle noch 
ein steileres Gelenk vorhanden ist, von denen jedoch den auf 
der luxierten Seite gefundenen Mittelwert (48®) nur 4 erreichen. 

Vom 6. Jahre an ist das Dach des klinisch gesunden Ge¬ 
lenkes in jedem Falle normal. 

Somit muß bei den jungen Kindern die Steilheit des klinisch 
gesunden Daches teilweise für eine physiologische gehalten werden, 
und dies berücksichtigend, kann man aus der Steilheit des Daches an 
und für sich noch nicht mit Sicherheit schließen, daß die Bildung des 
Gelenkes zur Zeit der Entwicklung desselben durch von den normalen 
abweichende Vorgänge gehemmt wurde. Und kann auch die Frage 
aufgeworfen werden, ob nicht in den 25 Proz., die Bade an Hoffas 
Material nachwies, gerade die mit dem jüngeren Alter der Kinder zu¬ 
sammenhängende größere Steilheit figurierte? 

In 4 Fällen fand ich — wie aus der obigen Tabelle hervorgeht — 
auch auf der klinisch gesunden Seite solche Neigungswinkel, die größer 
sind wie der Mittelwert (48—56®) und bei denen die Verrenkung des 
Schenkelkopfes trotzdem nicht eintrat — als Zeichen dessen, daß man 
jene Kraft, welche die Luxation verursacht, in erster Reihe nicht in 
dem Gelenke selbst, sondern in äußeren Verhältnissen suchen muß. 

Am Röntgenbilde jüngerer Kinder kann die Tiefe der Pfannen¬ 
grube nicht genau fest gestellt werden, da der noch knorplige Rand 
kein radiographisches Bild hat. Doch können wir auf die Tiefe 
der Pfannengrube aus der Dicke des knöchernen Bodens der Gelenk¬ 
pfanne (Fundus) Folgerungen ziehen. 

Ich durchmusterte einen Teil meiner Fälle und bestimmte, ähnlich 
wie L u d 1 o f f bei seinen Untersuchungen, die Dicke des oberen Teils 
vom Fundus mittels Messung des horizontalen Astes des Y-Knorpels. 
Tab. VI enthält bei 44 einseitigen Verrenkungen gefundene Werte. 
In 5 Fällen (1.—3. Jahr) war die Horizontalfuge des Y-Knorpels gleich 
lang, während dieselbe auf 39 Röntgenbildern (bei Kindern im Alter 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 501 


Tabelle TI. 


*3 

r 

Seite 


1 ^ 

: c8 


Seite 


C t* 

0 , 

1 Alter j 

gesund 

laxiert 

Differenz 

1 .0 

Alter 

gesund 

laxiert 

Differenz 

1 

Jahre 

mm 

mm 

mm 

1 _ 

Jahre 

mm 

mm 

mm 

6 

2 

! s 

12 

+ 4 

63 

2Vi 

8 

10 

+ 2 

11 

3 

10 

15 

4- 5 

67 

2 '4 

10 

15 

4- 5 

12 1 

6 

14 

25 

+ 9 

i 72 

6 

10 

17 

4- 7 

13 

IV* 

1 8 

11 

+ 3 

76 

3*/i 

1 9 

16 

4- 7 

14 

3 

6 

13 

+ 7 

' 77 

5 

7 

14 

4- 7 

15 

7 j 

15 


4- 2 

78 

3 

7 

9 

4- 2 

23 

2 

10 

16 

4 - 6 

79 

1’» 

9 

10 

4- 1 

24 

2 

8 

0 

1 

81 

3 

11 

17 

4- 6 

25 1 

7 

13 

17 

4 - 4 

83 

6V* 

10 

17 

4- 7 

33 

6 

11 

20 

4 - 9 

84 

27* 

12 

12 

0 

36 

2Vi i 

8 

10 

4- 2 

86 

UA 

10 

10 

0 

46 

4 

11 

16 

4- 5 

88 

3 

12 

13,5 

4 - 1,5 

48 

2 

9 

13 

4 - 4 

89 

3*4 

9 

13 

4 - 4 

51 

8 

7 

20 

4-13 

90 

4 

9 

11 

4- 2 

53 

3 

8 

13 

4- 5 

92 

7 *'2 

7 

9 

4- 2 

54 

8 

11 

20 

4 - 9 

97 i 

2 

7 

9,5 

4- 2,5 

56 

5 

10 

15 

4- 5 

98 

3 

10 

10 

0 

58 

6 ' 

12 

20 

4- 8 

99 

3''4 

10 

12 

4 - 2 

59 

12 

14 

17 

4 - 3 

100 

372 

9 

12 

4 - 3 

* 60 

5 

10 

15 

4 - 5 

103 

5 

12 

19 

4 - 7 

61 

1*4 

1 8 

12 

4 - 4 

106 

1 

8 

8 

0 

62 

5 1 

1 8 

10 

2 

107 1 

'■'’i 

10 

10 

0 


von IV 2 —12 Jahren) auf der luxierten Seite länger war (-f 1—13 mm). 
Verhältnismäßig zeigten sich zwischen dem Horizontalaste der gesunden 
und pathologischen Seite bei den älteren Kindern größere Unterschiede. 

Somit bestärkt diese Tabelle Ludloffs Resultate. 

Der obere Teil des Fundus ist also gemeinhin auf der kranken 
Seite dicker und dementsprechend wird auch die Pfannengrube kleiner. 
Daß der Fundus auch im unter dem Y-Knorpel gelegenen Teile der 
Gelenkpfanne verdickt ist, beweisen unter anderem auch die Unter¬ 
suchungen von Bade. Derselbe wählt behufs Erklärung des Ent¬ 
stehens der Verrenkungen gerade die primäre Verdickung des unteren 
Pfannenviertels zum Ausgangspunkt. 

Am Röntgenbilde können wir — wie dies aus der radiographischen 
Anatomie des Hüftgelenkes bekannt ist — um die Dicke des Fundus 
zu bestimmen, die Tränenfigur benützen. Jedoch tritt die Tränenfigur 
typisch nur im radiographischen Bilde des normalen Gelenkes hervor, 


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502 


Michael Honr&th. 


während bei der Hüftgelenksverrenkung die laterale (äußere) Linie | 
häufig verschwommen oder gar unsichtbar ist. In diesem Falle kann i 
die innere Grenze des Fundus dadurch bestinunt werden, daß der 
entsprechende, die Dicke des Fundus andeutende Teil etwas kom¬ 
pakter ist und somit auf der Röntgenplatte etwas mehr schattiert er¬ 
scheint. Verschiebt sich die äußere Linie der Tränenfigur, so verliert 
dieser Teil seine typische Gestalt. Die innere Linie entspricht — wie 
dies aus meinen Untersuchungen hervorging — der inneren Grenz¬ 
linie des Fundus nur in seinen oberen zwei Dritteln, und fällt an dieser 
Stelle mit einem tiefer gelegenen Teile der Seitenwand des kleinen 
Beckens, resp. mit dem projizierten Bilde desselben zusammen. 

In 62 Fällen einseitiger und 21 Fällen doppelseitiger Luxation 
studierte ich die Dicke des Fundus an den Röntgenbildern der betreffen¬ 
den Kinder (Tab. VII, VIII) und machte mir bezüglich einiger Fälle, 
in denen mir scharfe und somit zur Untersuchung geeignete Bilder zur 
Verfügung standen, über die Veränderungen, welche die Dicke des 
Fundus im Laufe der Behandlung erlitt, Aufzeichnungen. 

Diese Tabellen zeigen: I 

1. daß der Fundus der Gelenkpfanne in sämtlichen Fällen auf 
der luxierten Seite dicker ist. 

2. In 22 Fällen finden wir, wenn auch die beiden Seiten einen ge¬ 
wissen Unterschied aufweisen, doch auch auf der normalen 
Seite einen größeren Wert, als der durchschnittliche (3—5 mm 
Differenz). 

3. Auf der luxierten Seite ist die Tränenfigur, resp. das radio¬ 
graphische Bild des Fundus umso dicker, je älter das Kind ist. i 

4. Nach gelungener Reposition wird der Fundus der Gelenk¬ 
pfanne dünner. 

Aus Punkt 1, 3, 4 kann gefolgert werden, daß auf die Dicke des 
Fundus und dementsprechend auf die Tiefe der Pfannengrube der ' 
seitens des Schenkelkopfes ausgeübte Druck, resp. das Fehlen des- | 
selben Einfluß hat. ^ 

ad 2. An und für sich führt der Umstand, daß der Fundus dicker | 
ist als gewöhnlich, noch nicht zur Verrenkung des Schenkelknochens. 

Wenn wir nun jene Tabelle (VII, VIII), welche die Dicke des 
Fundus zeigt, mit derjenigen vergleichen, die sich auf die Untersuchung | 
des Neigungswinkels der Wölbung bezieht (III, IV), so fällt auf, daß in I 
sehr vielen Fällen, in denen auf der klinisch gesunden Seite die Dicke , 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 508 


Tabelle YII. 


Journal 

Alter 

Seite 

Differenz 

Journal 

Alter 

Seite 

Differenz 

Nr. 

Jihr 

IlMl 

laxiert | gesund 
mm I mm 

mm 

Nr. 

Jahr 

Iml 

laxiert Igesund 
mm 1 mm 

mm 

Ib 

3 

6 

10 

4 

4- 

6 

63a 

2 

3 

6,5 

5,5 

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1 

d 

6 

11 

12 

4 

+ 

8 

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5 

6 

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2 

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11 


10 

4 


6 

67a 

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6 

5 

3 

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2 

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7 

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2 

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11 

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6 

3 

+ 

3 

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10 

— 

7 

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+ 

2 

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6 

— 

11 

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4- 

6 

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6 

8 

7 

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6 

+ 

2 

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6 

4 

4 


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6 

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3 


2 

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1 

7 

5 

4 


1 

b 

5 

4 

4,5 

2,6 


2 

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3 

— 

7 

4 

-f 

3 

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2 

— 

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+ 

3 

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4 


2 

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2 

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5,5 

5 

4- 

0,5 

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0 

3 

— 

4 

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+ 

1 

d 

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— 

10 

3 

4- 

7 

79a 

1 

8 

8 

6 

4- 

2 

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7 

— 

9 

4 

4- 

5 

c 

2 

2 

7 

5 

4- 

2 

b 

8 

— 

9 

4 

4- 

5 

d 

2 

9 

6 

4 

4- 

2 

c 

12 

— 

8 

4 

4- 

4 

81a 

3 

— 

8 

3 

4- 

5 

20 a 

9 

— 

— 

11 


— 

0 

4 

— 

4 

4 

+ 

4 

b 

15 

— 

10 

8 

4- 

2 

83a 

6 

6 

7,5 

4 

4- 

2,5 

21 b 

9 

— 

13 

6 

4- 

7 

c 

7 

4 

6 

4 

4- 

2 

c 

13 

— 

4 

4 


0 

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1 

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+ 

1,6 

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4 

4 

— 

6 


— 

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2 

4 

7 

7 


0 

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8 

5 

15 

4 

+11 

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3 

9 

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6 

4- 

3 

d 

10 

— 

13 

4 

4* 

9 

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3 

4 

5,5 

5,5 


0 

23a 

2 

— 

5 

3 

4- 

2 

f 

4 

4 

4,6 

4,5 


0 

24a 

2 

9 

— 

7 



89a 

3 

9 

6,5 

5 

+ 

1.6 


— 

— 

12 

4 

4- 

8 

90a 

4 

— 

7 

5 

4- 

2 

25a 

7 

— 

8 

4 

4- 

4 

92a 

8 

— 

12 

5 

+ 

7 

33a 

6 

— 

— 

7 


— 

b 

8 

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4- 

3 

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— 

14 

3 

+11 

97a 

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7 

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4- 

3,5 

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6 

5,5 

5,5 


— 

98a 

2 

^ 10 

8 

5 

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3 

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10 

5,5 

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4,5 

b 

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6 

6 


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4 

6 

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4- 

6 

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5 

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4- 

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10 

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12 

5 

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7 

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2 

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2 

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14 

4 

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2 

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4- 

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4 

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5 

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6 

103a 

5 ' 

1 

10 

6 

4- 

4 

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7 

4,5 

4- 

2,5 

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1 

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6 

4- 

0,5 

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8 

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10 

5 

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5 

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12 

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4 

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4- 

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4- 

7 

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6 

6 

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9 

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4- 

4 

Herv. 1 

1 

4 I 

8 

5,5 

4- 

2,6 


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504 


Michael Horvath. 


Tabelle TlII. 



f 


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6 

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8 

8 

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8 

10 

6 

6 

123a 

3 

— 

9 

9 


des Fundus durch eine große Zahl (größer als 5) bezeichnet ist, gleich¬ 
zeitig auch der Neigungswinkel des Daches größer ist als der gefundene 
Mittelwert (33®). 

In diesen Fällen war also die Pfannengrube unbedingt etwas mehr 
verflacht, als gewöhnlich, und trotzdem verrenkte sich der Schenkel¬ 
kopf weder bis zur Zeit der Untersuchung, noch aber im Laufe der 
Behandlung des anderen Gelenkes (wo das frühere Gelenk beim Gehen 
oft in adduzierte Lage kam), und so ist dieses Gelenk in klinischem 
Sinn für ganz gesund zu halten. 

Daß an diesen Gelenken — trotz der einigermaßen günstigen 
Verhältnisse (dickerer Fundus, etwas steileres Dach) — dennoch keine 
Luxation zu stände kam, kann ich mit nichts anderem als dem erklären, 
daß auf dieser Seite jene äußere Kraft, welche die Verrenkung bewerk¬ 
stelligt, nicht zur Geltung kam. 

Gleichsam die Bestätigung meiner Annahme sehe ich in dem 
Umstande, daß die Anamnese eines Teiles jener Fälle, die in den beiden 
Tabellen auf Grund der Identität der anatomischen Verhältnisse in 
eine Gruppe gereiht werden können, identische Daten aufweist. In 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 505 

der Anamnese der einseitigen Luxation Nr. 24, 36, 106 verzeichneten 
wir auch im postuterinen Leben Kontrakturen, und zwar auf der 
Seite, auf der die Verrenkung auch klinisch konstatierbar war. Auf 
der klinisch gesunden Seite, für die jedoch der dickere Fundus und die 
Steilheit des Daches typisch waren und die zu Verrenkungen beinahe 
prädisponiert war, fand sich im postuterinen Leben nicht einmal eine 
Kontraktur vor. 

In der Anamnese von Fall 75 (bilaterale Luxation) obwaltete auf 
beiden Seiten eine Kontrakturstellung, war das Pfannendach steil 
(41—54°), der Fundus dicker. 

Ueber Fall 89 finden wir notiert, daß das Kind mit einem Schief¬ 
hals zur Welt kam. Auf der klinisch gesunden Seite ist der Fundus der 
Gelenkpfanne um 1V 2 mm schmäler als auf der luxierten Seite (6,5 mm), 
der Neigungswinkel des Daches betrug 48°. Im embryonalen Leben 
spielten also auch hier solche Verhältnisse mit, aus denen man auf 
einen solchen Druck folgern kann, dem der Embryo ausgesetzt war, 
obgleich die Stellung der Extremitäten in diesem Falle im postuterinen 
Leben eine normale war, und somit uns, wenn wir annehmen, daß die 
verrenkte Extremität im intrauterinen Leben in einer gezwungenen 
Lage war, hierfür kein positiver Beleg zur Verfügung steht. 

In dem bisher Gesagten habe ich die aus dem Studium meines 
eigenen Materials von Hüftluxationen geschöpften Daten aufgezählt. 

Die Aetiologie der kongenitalen Hüftgelenksverrenkung ist jedoch 
viel zu verwickelt, als daß ich dieselbe auf Grund meiner Studie 
für endgültig gelöst halten könnte, dennoch muß ich — gestützt auf 
die in derselben detaillierten Ergebnisse — zu der Schlußfolgerung 
gelangen, daß 

1. bei der kongenitalen Hüftgelenksverren¬ 
kung die an der Gelenkpfanne sich zeigen¬ 
den typischen Veränderungen sekundärer 
Natur sind und demnach 

2. jene Kraft, welche die Verrenkung zu¬ 
stande bringt, nicht im Gelenke, sondern 
außerhalb desselben zu suchen ist. 

In einem Teil meiner Fälle glaube ich diese Kraft in der abnormen 
Stellung des Embryos und den in dieser Stellung geltend werdenden 
äußeren Kräften von abnormer Richtung finden zu können. — 
Zeitschrift für orthopitdische Chirurgie. XXII. Bd. 33 


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506 


Michael Horväth. 


Jene anfangs vertretene Ansicht, in deren Sinne die kongenitale 
Hüftverrenkung fast immer eine Luxatio iliaca wäre, kann schon längst 
als überwunden betrachtet werden. Bei Kindern, die früh genug unter 
Beobachtung kommen, findet man den luxierten Schenkelkopf am 
häufigsten in der Höhe der Spina ant. sup. und von derselben aus¬ 
wärts, ja auch solche Fälle kommen oft genug vor, in denen der Schenkel¬ 
kopf während seiner Wanderung nicht einmal diese Höhe erreichte 
und unter der Spina ant. sup. zu tasten ist. Die Luxatio iliaca ist die 
letzte Station der Verrenkung und wird in der Regel, wenngleich 
nicht immer, schon bei den verhältnismäßig älteren Kindern beobachtet. 

In einer Tabelle (IX) ordnete ich mein Material nach dem Alter 
der Kinder und der Form der Luxation. Ein Blick auf diese Tabelle 
genügt, damit man jenen Weg, den der luxierte Schenkelkopf unter 
der Wirkung des Muskelzuges und der Belastung macht, gleichsam 
vorgezeichnet sehe. 

Bis zum 3.—4. Lebensjahre befindet sich der Schenkelkopf noch 
häufig genug in der Nähe der Gelenkpfanne, ja in 10 Fällen konnte ich 
teils im Wege der Röntgenuntersuchung, teils nur der klinischen 
Untersuchung Subluxation feststellen. 

Auch die Lange sehe Luxatio supracotyloidea kommt eben¬ 
falls bei jungen Kindern vor, doch schon mit größerer Häufigkeit, 
jedoch am allerhäufigsten — in 100 zwischen 171 Gelenken — treifen 
wir jene Form an, die durch Lange supracotyloidea et iliaca genannt 
wurde. An zweiter Stelle kommt bezüglich der Häufigkeit die hintere 
Verrenkung (einseitig 16, doppelseitig 29). Diese Fälle beobachtete ich 
verhältnismäßig häufig bei den älteren Kindern, doch — wie die Tabelle 
zeigt — steht die untere Altersgrenze bei der doppelseitigen Verrenkung 
auffallend tiefer (3—4 Jahre). Erklärt kann dies dadurch werden, daß 
die Beckenneigung bei der doppelseitigen Verrenkung sich infolge der 
labileren Stütze verhältnismäßig früher steigert, und so die Ver¬ 
hältnisse das Entstehen der Luxatio iliaca bei den doppelseitigen Ver¬ 
renkungen viel mehr begünstigen, als bei den einseitigen. Die supra- 
cotyloide Form, bei welcher der Schenkel unter der Spina ant. sup. 
und ein wenig nach innen getastet werden kann und laut der Röntgen¬ 
untersuchung in der Gegend der Spina ant. inf. seine Stütze hat, kann 
in seltenen Fällen verhältnismäßig lange Zeit hindurch bleiben. So 
fand ich in einem Fall diese Form noch bei einem 11jährigen Mädchen 
(Fig. 37). Zur Zeit meiner Untersuchung betrug die Verkürzung IV 2 cm 
und war der Gang, wenn das Kind darauf achtete, auffallend gut. 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftyerrenkung. 507 


Tabelle IX* 

(Uebersicht über die Form der Luxation im verschiedenen Lebensalter 
sämtlicher Fälle.) 


Anatomi¬ 

sches 




E 

inseitige 

Luxation 








Lebensalter 





TJ ^ 

Resultat 

1—2 

2-8 

3-4 

4—B 

B-6 

6 — 7 

7—8 

8 9 

9 10 

10-11 

11-12 

a » 

( 5 ^ 

12 u 

Subluxatio . 

1 

1 

2 

— 

— 

_ 

_ 

— 

— 



— 

4 

Lux. supra- ^ 
cotyloidea 

4 

5 

1 

1 

_ 

_ 

_ 

_ 

_ 

_ 

1 

1 

_ 

12 

Lux. supra- 
cotyloidea 
et iliaca . 1 

i 

i 7 

8 

10 

j 

4 

5 

6 

3 

1 “ 

1 

1 

i 

2 

45 

Luxat. iliaca 

1 

— 

— 

1 — 

1 

2 

2 

3 

3 

4 

— 

1 

16 

Summe 

1 12 

t 

14 

13 

5 

6 

1 

7 

1 5 

i 

3 

4 

4 

1 

3 

77 


Doppelseitige Luxation 


Anatomisches 

, 


Lebensalter 



kl 

a S 

Resultat 





! 






2-3 

3—4 

4 6 

1 B-6 

6-7 

7- 8 

8-9 

io 

■ ^ ^ 

L- 


- - 


1 




. CO 

Subluxatio . . 

2 

2 

' 2 


— 

— 

— 


6 

Luxatio supra- 
cotyloidea . 
Luxatio supra- 

i 

3 

1 

— 

— 

— 

— 

1 

4 

1 

cotyloidea et 
iliaca .... 

1 2 

19 

15 

8 


_ 

! " 

2 

55 

Luxatio iliaca 

— 

— 

1 2 

' 10 

, 5 

4 

6 

2 

29 

Summe 

' ^ 


20 

18 1 

10 i 

4 

1 

^ i 

94 


Im 14. Jahre hingegen, wo die Beckenneigung physiologisch schon 
größer ist (12. Jahr), betrug die Verkürzung schon 4 Vs cm, der Schenkel¬ 
kopf verließ seine bishin eingenommene Lage und tastete ich ihn hinten 
unter den Glutäen. 

Ein auffallendes Resultat meiner Statistik ist, daß von 171 Ge¬ 
lenken in 10 der Schenkelkopf die Pfannengrube noch nicht ganz ver- 


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508 


Michael Horvdth. 


lassen hatte. In diesen Fällen kann also von einer Subluxation dir 
Rede sein. 

Mit Rücksicht auf den Umstand, daß in der mir zur Verfügung j 
stehenden Literatur dieselbe als große Seltenheit hingestellt wird, er¬ 
achte ich es als meine Pflicht, diese Fälle eingehender mitzuteilen. j 

Nach der Lorenz sehen Definition^) wird jene Form der Hün- * 
Verrenkung eine Subluxation genannt, wo der Schenkelkopf den hinterer 
Pfannenrand noch nicht überschritten hat, also etwa auf der Höhe 
derselben steht und durch Abduktion des Beines leicht wieder kon¬ 
zentrisch zur Pfanne gestellt werden kann. 

Fälle von Subluxation teilten mit: Zenker*), Heusner’). 

W a 11 h e r^). Auch ich besprach 3 ähnliche Fälle in meiner vorigen i 
Mitteilung®), in der ich behufs Charakterisierung der Subluxation I 
folgendes bemerkte: „Das Röntgenbild demonstriert ganz genau diese \ 
verschiedenen Formen der Luxation. Bei der Subluxation ist das 
Caput femoris beiläufig in einer Höhe mit jenem der gesunden Seite. | 
Es ist auffallend, daß die Entfernung zwischen dem Caput femoris ^ 
und der Pfanne größer ist. In der frontalen Projektion ist das Caput ^ 
femoris scheinbar noch unter dem Gewölbe der mehr oder weniger gut 
entwickelten Gelenkpfanne, die klinische Untersuchung weist jedoch 
auf eine größere Erschlaffung der Gelenkverbindung hin, hauptsächlich 
in der antero-posterioren Richtung.“ 

Dem kann ich nun als Ergänzung noch beifügen, daß wir den 
Schenkelkopf bei äußerer Untersuchung ganz entschieden unter der ^ 
Spina sup. ant. und von derselben ausgesprochen einwärts, sehr nahe 
den großen Gefäßen palpieren, während, wenn wir den Schenkel in 
flektiert-adduzierter und nach innen rotierter Stellung untersuchen. j 
der Schenkelkopf in der Gegend der Glutäen sehr imdeutlich oder 
überhaupt nicht getastet werden kann. Das Trendelenburg sehe 
Symptom ist nicht ausgesprochen, nicht deutlich genug, vielmehr ' 
hinken ältere (2—3jährige) Kinder merklich nur dann, wenn sie längere 
Zeit hindurch gegangen sind und ermüden. 

In meinen unten mitgeteilten Fällen fand ich durchweg diese 


^) Lorenz, Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 
*) Zenker, lieber inkomplette angeborene Hüftgelenksverrenkung. 
Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen, I. 

®) Heusner, Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 5. 

Walther, Münchner med. W^ochenschr. 1902, 14. 

®) Horvath, Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 12, 62. 


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Beiträge zur Pailiologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 509 


Symptome, so daß ich bei aufmerksamer, eventuell bei längerdauernder 
Untersuchung die Diagnose der Subluxation schon im Wege der 
äußeren Untersuchung zu machen im stände war. Meine Diagnose 
wurde in diesen Fällen auch durch die Röntgenuntersuchung bestätigt. 

F a 11 81. S. A., 3jähriges Mädchen. Hielt sein linkes Bein eine 
Zeit hindurch nach der Geburt mit Vorliebe flektiert, während es das 
andere leicht strecken konnte. Fing spät zu gehen an. Kaum bemerk- 


Fig. 47. 



bares, allmählich zunehmendes Hinken. Gelegentlich der Röntgen¬ 
untersuchung war der Schenkel nach außen rotiert und trotzdem 
finden wir den Schenkelkopf teilweise noch unter dem Dache (Fig. 47). 
(Hätten wir das Bein nach innen rotiert, so wäre der Schenkelkopf 
bedeutend weiter einwärts in die Pfannengrube geraten, wie auf einem 
3 Monate später verfertigten Bilde sichtbar ist.) Der Schenkelkopf 
überschreitet die Höhe des Y-Knorpels mit 5 mm (Fig. 48). 

Fall 98. K. B., 2 V 2 jähriges Mädchen. Fällt beim Gehen nach 
links. Trendelenburg nicht ausgesprochen. Im Liegen dreht sich der 


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510 


Michael Horvdth. 


linke Fuß mehr auswärts. Evidente Verkürzung kaum vorhanden. I 
Messung ergibt ca. 7 mm. Abduktion etwas mehr gehindert als auf ^ 
der rechten Seite. Schenkelkopf von der Spina abwärts und entschieden j 
einwärts fühlbar, sehr nahe zu den großen Gefäßen. In der Glutäal- 
gegend ist er nicht fühlbar. Beim Heraufschieben und Herabziehen 
rückt der Schenkelkopf kaum aus seiner Lage. Beim Herabidehen 
etwas Krachen. Das Röntgenbild (Fig. 49) bestätigte die Richtigkeit 
der Diagnose. Der Schenkelkopf überragt die Höhe der Y-Knorpel 
mit 5 mm, steht um 3 mm weiter von der Mittellinie als der andere 
Schenkelknochen. Ferner wurde die Diagnose auch durch die Re- 


Fig. 48. 




Position, die einfach in der Dehnung der ein wenig gespannten Ad¬ 
duktoren bestand, erwiesen. Bei Einrichtung des Schenkelkopfes oder 
Reluxation kann das typische Geräusch nicht ausgelöst werden; in 
Ermanglung desselben konnte die gelungene Reposition bloß aus dem 
Umstande festgestellt werden, daß der Schenkelkopf in der Leisten¬ 
beuge besser palpabel war und die Leiste nebst den großen Gefäßen 
nicht eingedrückt werden konnte. Diesen Fall halte ich für ein klassi¬ 
sches Beispiel der Subluxation. Die Behandlung führte übrigens 
zu einem in jeder Hinsicht idealen Resultat (Fig. 50). 

Fall 107. Bei dem 1 Jahr und 10 Monate alten Kinde Sch. J. 
(Mädchen) sind die anatomischen Verhältnisse den vorigen ganz ähn- 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 511 

lieh. Verkürzung kaum nachweisbar, den Schenkelkopf tastet man 
nur vorn (hinten nicht) und zwar von der Spina ant. sup. ab- und 
einwärts, in der Nähe der großen Gefäße. Auf dem Röntgenbilde 
(Fig. 51) überschreitet der Schenkelkopf jene Linie, welche die Y-Knor- 
pel verbindet, hinaufzu mit 3 mm und steht zwar von der Mittellinie 
in größerer Entfernung, doch teilweise immerhin noch unter dem gut 
genug erhaltenen Dache. 9 Monate später, als das Kind 2 Jahre und 
7 Monate alt w^ar, zeigten die Verhältnisse nur insofern eine Verände- 


Fig. 49. 



rung, als das T r e n d e 1 e n b u r g sehe Symptom etwas ausge- 
.sprochener war. Ein Unterschied in der Länge der zwei Beine konnte 
ebenfalls noch nicht konstatiert w^erden. Bei Reposition oder Re- 
luxation fehlte das typische Geräusch. 

Fall 112. Kl. M., 2 Jahre und 2 Wochen altes Kind. Die Eltern 
wurden, als das Kind IV 2 Jahre alt war, auf die Verkürzung des linken 
Beines aufmerksam. 18 Monate alt begann es zu gehen. Seitdem nimmt 
das Hinken zu. Trochanter U /2 cm oberhalb der Roser-Nelaton-Linie 


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Michael Horv^ath. 


Fig. 50. 




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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 513 

linkerseits. Ausgesprocliene Luxatio supra-cotyloidea et iliaca. Das Kind 
hinkte derart entschieden mit dem linken Bein, daß ich nur eine einseitige 


Fig. 52. 




Luxation annahm. Doch die Röntgenuntersuchung (Fig. 52) ergab, daß 
auch auf der rechten Seite von keinem ganz normalen Gelenk die Rede 

Fig. 53. 




sein konnte, insofern nämlich der Kopf des Schenkelknochens 3 mm 
über jene Linie emporragte, welche die Y-Knorpel verbindet, während 


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514 


Michael Horvath. 


derselbe sich nach außen vom Gelenk 7 mm weit entfernte. In diesem 
Fall dürfte also das Hinken, welches mit Rücksicht auf die Subluxation 
vorausgesetzt werden kann, so gering gewesen sein, daß aus der Gang¬ 
art nur noch auf die anderseitige ganz entwickelte Luxation gefolgert 
werden konnte. Leider meldete sich dieses Kind nicht mehr. 

Fall 113. Bei der K. E., 1 Jahr und 10 Monate alt, bemerkte 
man die Verkürzung des linken Beines im Alter von 1 Jahr. Beim 


Fig. 54. 



Gehen hinkt es ausgesprochen auf dem linken Fuß. Diesseitig Luxatio 
supra-cotyl. et iliaca, sofern der Schenkelkopf vorn und gelegentlich 
der Innenrotation auch hinten getastet werden kann. Der rechte 
Schenkelkopf liegt in der Leistenbeuge, doch nicht an der Stelle, wo 
das Pulsieren der Schenkelgefäße fühlbar ist. Beim Heraufschieben 
rührt er sich nicht aus seiner Lage. Auf dem ersten Röntgenbilde 
(Fig. 53) steht — obzwar das Bein etwas mehr nach außen gekehrt 
(der Trochanter minor stärker sichtbar) ist — der Schenkelkopf ober¬ 
halb der verbindenden Linie der Y-Knorpel um 3V2 höher, hat 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 515 


sich auch ein wenig vom Pfannenboden entfernt, doch dessen Grube 
noch nicht verlassen. 

Da sich der Schenkelkopf beim Herauf schieben nicht aus seiner 
Stelle herausrührte, vollzog ich — wie dies vom folgenden Bilde 
veranschauhcht wird —^ vorläufig nur auf der linken Seite eine Re¬ 
position (Fig. 54). Auch dieses Bild zeigt den rechten Schenkelknochen 
in subluxierter Stellung. 

Fall 115a. F. KL, 2 Jahre 3 Monate altes Mädchen. Begann, 
als es iVzjährig war, zu gehen, hinkt von der Zeit an, besonders auf 
dem rechten Fuß. An dieser Seite finden wir den Schenkelkopf von der 

Fig. 55. 




Spina ant. sup. ab- und auswärts, beim Drehen nach innen ist er hinten 
zu tasten. Auf der linken Seite ist der Schenkelkopf von der Spina ab- 
und einwärts fühlbar; gelegentlich des Drehens des Beines nach innen 
und bei geringgradiger Abduktion erscheint derselbe unmittelbar 
neben den großen Gefäßen. Auf dem Röntgenbilde ist das linke Bein 
wiederum nach außen rotiert sichtbar (Fig. 55) und scheint deshalb 
teilweise schon außerhalb des Pfannendaches zu stehen. Das Kind 
kam später in Lorenz’ Behandlung. Die Diagnose der Sub¬ 
luxation bestätigte auch er. 

Fall 125. B. E., SVz Jahre altes Mädchen. Hinkt auf der einen 
Seite ganz ausgesprochen* Doch ist dieses Hinken nicht so typisch, 


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516 


Michael Horvath. 


daß schon aus demselben mit Sicherheit auf die Verrenkung geschlossen 
werden könnte. Wenn wir das Kindlein auf fordern, möglichst schön 
zu gehen, nimmt man an seinem Gang kaum eine Abweichung wahr. 
Der Schenkelkopf ist von der Spina ant. sup. abwärts fühlbar. Die 
Stelle des Acetabulum ist leer, während auf der linken Seite bei rotie¬ 
renden Bewegungen der Schenkel köpf nahe an den großen Gefäßen 
fühlbar ist. Die Diagnose ergibt bei dieser Luxatio incipiens eigent¬ 
lich die Röntgenuntersuchung, sofern der Schenkelkopf oberhalb der 
verbindenden Linie der Y-Knorpel um 4 mm höher steht, ein wenig 


P'ig. 56. 



auch vom verdickten Pfannenboden entfernt (Fig. 56). Im größten Teil 
meiner Fälle wurde die mittels klinischer Untersuchung gestellte 
Diagnose auch durch das Röntgenbild bestätigt; sehr wichtig ist meines 
Erachtens die Einhaltung jener Regel, daß während der Röntgen¬ 
aufnahme die Extremitäten in vollkommen paralleler Lage derart 
liegen müssen, daß die beiden Kniescheiben geradeaus nach oben oder 
etwas nach innen zu sehen; denn nur in diesem Falle kommt der Schenkel¬ 
hals in die frontale Ebene und mit ihm zusammen der Schenkelkopf 
in eine die pathologische Stellung treu veranschaulichende Lage. 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 517 


Von meinen im XII. Band dieser Zeitschrift mitgeteilten 3 Fällen 
konstatierte ich in zweien anfangs typische einseitige Verrenkungen. 
Leider folgte in diesen Fällen keine Röntgenuntersuchung, dennoch 
muß ich aus dem Umstande, daß ich in dem einen Fall nach 1V 2 Jahren 
bei einer neueren Untersuchung, im anderen Falle während der Behand- 
limg auch auf der anderen Seite ganz zweifellos totale Verrenkungen vor¬ 
fand, den Schluß ziehen, daß in diesen Fällen auf einer Seite das Gelenk 
schon gelegentlich der ersten Untersuchung subluxiert war; und daß 
diese damals nicht diagnostiziert wurden, kann ich nur so erklären, 
daß meine ganze Aufmerksamkeit jene Seite in Anspruch nahm, auf 
der die klassischen Symptome das Bild der einseitigen Hüftverrenkung 
ergaben. 

Nur noch auf eine Erscheinung, die auch schon Zenker in 
seiner Mitteilung erwähnt, wünsche ich noch hinzu weisen, daß näm¬ 
lich Subluxationen nicht nur in den ersten 2 Lebensjahren, sondern daß 
— wie die Tabelle zeigt — in meiner Statistik auch in dem 3. und 
4. Lebensjahre einige (4) Fälle Vorkommen. Erklärt kann dies meines Er¬ 
achtens nur dadurch werden, daß in diesen Fällen das Kapselband die 
Entwicklung der totalen Verrenkung hinderte. Daß die Spannung des 
Kapselbandes die Verrenkung des Schenkelknochens wirklich zu ver¬ 
hindern im Stande ist, beweisen auch die mittels unblutiger Re¬ 
position geheilten Fälle; kann ja doch in der Periode, wo das Kind 
vom fixierenden Gipsverband befreit (3—5 und mehr Monate) frei ein¬ 
hergeht, von einer Neubildung der Pfanne noch kaum die Rede sein, 
da zur Beendigung derselben die Arbeit von Jahren nötig ist. Und trotz¬ 
dem gehört es zu den größten Seltenheiten, daß der reponierte Schenkel¬ 
kopf in dieser Periode der Heilung reluxiert, da die im Laufe des 
Heilverfahrens geschrumpften Weichteile, in erster Reihe das Kapsel¬ 
band (wie dies Müllers Fälle zeigen, Zeitschr. f. orthopäd. Chir. 
Bd. 11), den Schenkelkopf im Zentrum der übrigens noch insuffizienten 
Pfanne erhalten. Daß in jenen Fällen, wo man den Schenkelkopf auch 
noch bei den verhältnismäßig älteren (3—4jährigen) Kindern bloß sub¬ 
luxiert findet, später unter der Wirkung der mit dem Gehen verbundenen 
Belastung Totalverrenkung entstehen würde, halte ich für wahrschein¬ 
lich. Doch kann es Vorkommen, daß das Kapselband dem Druck noch 
längere Zeit hindurch widersteht, der Schenkelkopf nicht aus dem 
Gelenk gleiten kann, sondern am äußeren Pfannenteile noch gehörigen 
Halt findet. Infolge des exzentrischen Druckes kann die Steilheit des 
Daches noch zunehmen. (Dr. K o p i t s präsentierte gelegentlich des 


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518 


Michael Horvath. 


II. Kongresses der ungarischen Chirurgengesellschaft bei schon älteren 
[8jährigen] Kindern 2 wunderschöne Fälle von Subluxation.) 

II. 

Die im Jahre 1895 erschienene Mitteilung von Lorenz (Zentral¬ 
blatt f. Chir.) wies der Therapie der kongenitalen Hüftverrenkungen 
neue Bahnen. Sie legte den Grund zu einem Heilverfahren, 
welches seitdem allgemeines Bürgerrecht gewonnen hat. Die seither 
verflossenen 13 Jahre haben bewiesen, daß Lorenz auf richtiger 
Spur an die Lösung ging und es ihm und seinen Mitarbeitern gelungen 
ist, das Verfahren derart zu vervollkommnen, daß heutzutage schon 
in einem sehr hohen Prozentsätze der Fälle von einer Heilung in ana¬ 
tomischem Sinne gesprochen werden kann. 

Uns allen, die sich mit dieser Frage befassen, widerfuhren be¬ 
sonders im Anfang viele Enttäuschungen. Doch jede Enttäuschung 
brachte eine neue wertvolle Erfahrung, und mit Hilfe dieser Er¬ 
fahrungen gelang es, die prinzipiellen Fragen der Behandlung mit einer 
gewissen Gleichförmigkeit zu ordnen und bezüglich der Detailfragen 
die Näherung der entgegengesetzten Ansichten zu fördern. 

Wenn wir die von der Therapie der Verrenkung handelnden Mit¬ 
teilungen der letzten Jahre überblicken, nehmen wir mit Freude wahr, 
daß die Autoren in ihren Statistiken von auffallend hohen Prozenten 
geheilter Fälle Rechenschaft ablegen (N a r a t h 70,29 Proz., Calot 
96Proz.). Die Erklärung jener Erscheinung, daß die Zahl der Heilungen 
von Jahr zu Jahr höher wird, finde ich darin, daß die Grundprinzipien 
der Behandlung allmählich geklärt wurden und daß dieselben — als aus 
den Erfahrungen von uns allen abgeleitete Wahrheiten — auch seitens 
jener eingehalten werden, die ihre Behandlungsweise wegen Ausarbeitung 
gewisser Einzelfragen als eigene Methode betrachten. Nur natürlich 
ist es, daß bei der Behandlung, besonders in ihrer Technik ein jeder 
seine eigenen Erfahrungen verwertet und dementsprechend die Technik 
der Reposition und Retention, sowie die Nachbehandlung teilweise um- 
gestaltct. 

Doch reicht die Berechtigung und Richtigkeit solcher Modifika¬ 
tionen nur so weit, als dieselben gewissen Anforderungen entsprechen 
und mit jenen Prinzipien, welche das Wesen der unblutigen Reposition 
ausmachen, vereinbar sind. 

Und damit ich nur beispielsweise eine der zahlreichen empfohlenen 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 519 


Modifikationen erwähne, der Umstand, ob das Bein nach der Reposition 
des Schenkelkopfes nach innen oder außen rotiert fixiert werden soll, 
ändert noch nichts am Wesen des Verfahrens, denn tatsächlich können 
solche Fälle Vorkommen, in denen die anatomischen Verhältnisse die 
eine oder die andere Stellung wünschenswert machen. Doch wenn 
wir die Außenrotation des reponierten Beines im Laufe der Nach¬ 
behandlung mittels Osteotomie (Schede) beseitigen wollen, so ent¬ 
kleidet dies das Verfahren gänzlich seines ursprünglichen Gepräges. 
Das einfache unblutige Verfahren haben wir mit einem alle Gefahren 
einer blutigen Operation in sich bergenden Eingriff verbunden. 

Während der 12 Jahre, seit denen ich mich mit der Behandlung 
der kongenitalen Hüftverrenkung befasse, unterzog auch ich mein 
eigenes Verfahren mehreren Veränderungen, die sich namentlich auf 
die Steigerung der Sicherheit der Retention, sodann auf die Zeitdauer 
der Fixierung und auf die Nachbehandlung beziehen. 

Im folgenden will ich mitteilen, wie ich auf Grund jener Er¬ 
fahrungen, welche ich während meiner 12jährigen Tätigkeit zur Geltung 
zu bringen bemüht war, verfahre. In einigen Details weicht vielleicht 
auch dieses von der Heilmethode anderer ab, doch den Charakter der 
unblutigen Behandlung war ich bestrebt nach Möglichkeit unversehrt 
zu bewahren. 

Wann soll man die Behandlung der Hüftver¬ 
renkung beginnen? Verhältnismäßig selten kam ich in die 
Lage, daß den Zeitpunkt des Beginnens der Behandlung festzustellen 
mir zufiel. In einem sehr großen Teil der Fälle sah ich das Kind in 
einem solchen Alter, in dem die Frage vorzulegen nicht mehr nötig 
war. Und wenn ich das Auf werfen dieser Frage dennoch für notwendig 
fand, so geschah dies aus dem Grunde, daß auch heute noch, wo an den 
Erfolgen dieser Behandlung niemand mehr zweifelt, solche Fälle Vor¬ 
kommen, in denen das Kind verspätet in die Hände des Spezialisten 
gelangt. Jeder Fachmann stimmt heutzutage darin überein, daß die 
größte Garantie des vollkommenen Erfolges das junge Alter 
des Kindes bildet. Dies verkündet jeder Fachmann, doch dies zu er¬ 
fahren und zur Kenntnis zu nehmen, ist auch der praktischen Aerzte 
Pflicht, denn von ihnen hängt es ab, ob wir unser Ideal, daß nämlich 
kein einziges Kind aus dem Alter, welches zur 
Bewerkstelligung der Reposition am geeignet¬ 
sten ist, herauswachse, erreichen. Ungemein überzeugend 
ist in dieser Hinsicht die Statistik von N a r a t h, laut welcher die 


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520 


Michael Horvdth. 


innerhalb der ersten 4 Jahre vorgenommenen Repositionen zu idealen 
anatomischen und funktionellen Resultaten führten, während üb« 
dieses Alter hinaus die vollkommenen Heilungen in Proportion mit den 
Jahren immer seltener und seltener wurden. 

Bei der Zusammenstellung meiner eigenen Fälle konnte ich nicht 
unberücksichtigt lassen, daß in den erwähnten 12 Jahren die Vervoll¬ 
kommnung des Heilverfahrens das Heilungsprozent ungemein beein¬ 
flußte. Deshalb unterscheide ich in den Tabellen bei Anführung der 
Fälle, ob dieselben nach dem Verfahren begonnen wurden, welches ich 
gegenwärtig anwende, oder nicht. (In den Rubriken die mit einem 
+-Zeichen verbundenen Ziffern. I., 11. Periode). 

Bei der Zusammenstellung der Tabellen legte ich N a r a t h s 
Einteilung zu Grunde, da auf diese Art ermöglicht wird, das Material 
mehrerer Autoren auf Grund derselben Prinzipien zu ordnen, und so 
auch die aus denselben gezogenen Schlüsse gewichtiger sind. 

In den Tabellen wurden solche Fälle, bei denen die Behandlung 
inzwischen unterbrochen wurde, und anderseits jene, die auch gegen¬ 
wärtig noch in Behandlung stehen, nicht verwertet. 

Tabelle X. 

Ueber das funktionelle Resultat bei denjenigen Fällen von einseitiger Luxation, 
bei welchen die Behandlung beendigt ist. 






F u 

n k t 

i 0 n e 

1 1 e 

s Resultat 





1 

c: 

ideal 

sehr gut 

gut 

mittel¬ 

mäßig 

schlecht 

Summe 


^ 1 , 

Periode 

Periode 

Periode 

Periode 

Periode 

Periode 




I i 

ir 

I ' 

! II 

I 

i 11 

I i 

t II 

I 

11 

I 

1 11 

L 



1—2 

— 

4 

1 

— 

— 

— 

— 

_ 

1 

_ 

o 

4 


6 

2—3 

1 ' 

4 

1 

1 

— 

i — 

4 

— 

! — 

1 

6 

5 

= 

11 

3—4 

1 

6 

2 

— 

1 

i — 

1 

— 


I _ 

4 

6 

= 

10 

4—5 

— 

— 

— 

__ 

1 

1 — 

— 1 

— 

'i — 

1 

1 

i 1 

= 

2 

5—0 

— 

3 

1 

2 

— 

1 — 

1 , 

— 

— 

1 _ 

1 

5 

= 

6 

6—7 

— 

— 


— 

2 

1 2 

1 i 

1 

— 

1 _ 

3 

3 

= 

6 

1 

— 

— 


— 

1 ; 


1 

1 

— 

1 _ 

2 

1 

= 

3 

8— 9 

9— 10 

10—11 

— 

— 


1 

1 

1 

1 

— 

1 

1 

1 

1 

!' — 

— 

1 

1 

1 

1 2 

1 ^ 

= 

3 

1 

1 

_ 

_ 

1 

_ 

_ , 

- 1 

— 


_ 

— 

— 

11—12 

— 

— 

_ 

1 

— 1 

— '' 

- i 

— 

— 

— 

— 

1 

== 

1 

Summe 

2 + 17 
= 19 

4 + 5 
= 9 

8 - 

f 2 

10 

7 - 

f 3 
10 

1 + 1 
= 2 

22 + 2B 
= 50 

= 

50 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftveri-enkung. 521 


Tab. X veranschaulicht die bei 50 einseitigen Verrenkungen er¬ 
reichten funktionellen Resultate und zwar nach dem Lebensalter ge¬ 
ordnet, während Tab. XI von den bei 22 an bilateraler Luxation leiden¬ 
den Kindern (44 Gelenken) erreichten Resultaten Rechenschaft gibt. 


Tabelle XI. 

XJeber das funktionelle Resultat bei denjenigen Fällen von doppelseitiger Luxation, 
bei welchen die Behandlung beendigt ist. 


Funktionelles Resultat 


1 '1 

J 

ideal 

sehr gut 

i 1 

j mittel- 

1 mäßig 

1 1 

schlecht 1 

1 

a> 

Periode I 

Periode | 

1 Periode | 

1 Periode | 

1 Periode 


I 

! ” 

I i 

II 1 

1 I i 

1 " ! 

1 I 

II 1 

1 > 1 

1 ” ! 

1—2 

— 

_ 

_ ! 

_ 

_ 1 

_ 

— 

_ 

1 _ 

_ 

2—3 

1 

2 

2 

2 

— ; 

— 

1 

— 

2 

— 

3—4 

2 

4 

2 

— 

2 1 

2 

3 

— 

1 

— 

4—5 

— 

— 

— ' 

2 

— 

2 

2 

— 

2 

— 

5—6 

— 

— 

3 

— , 

— 

2: 

1 

— 

— 

— 

6— 7 1 

7— 8 1 

_ 

i 

_ 

___ 

— 

4 ‘ 

— 

— 

. 1 

— 

’ i| 

Summe' 

3 

+ 6 

= 9 ' 
1 

7+4 
= 11 

1 

2 + 10 
= 12 

1 ^ 

— 

1 '1 

! ® 

— 


Summe 


Periode 

I I II 


6 
10 
4 
4 


— — 4 


24 + 20 
= 44 


= 10 
= 16 
= 8 
= 6 


= 4 
= 44 


Bei Beurteilung der Qualität der Heilung hielt ich mich (im 
Interesse der Einförmigkeit) möglichst an jene Kriterien, von denen 
sich bei der Klassifizierung seiner Fälle N a r a t h leiten ließ. 

Aus diesen zwei Tabellen geht hervor, daß ideale funktionelle 
Resultate, wo man also im Vergleich zu einem normalen Gelenke gar 
keine Abweichung findet, besonders bei den Kindern unter 4 Jahren, 
hie und da noch (im Falle unilateraler Verrenkung) im 5.—6. Jahre 
zu finden sind. 

Ebenfalls hauptsächlich Kinder unter 4 Jahren figurieren in der 
zweiten Rubrik (sehr gute Funktion), obzwar die Behandlung mit¬ 
unter auch noch bei älteren (0—12jährigen) Kindern vollkommenen 
Erfolg hatte. 

Bei älteren Kindern mußte ich mich gewöhnlich mit der Be¬ 
zeichnung „gut“ oder „mittelmäßig“ begnügen. 

In 7 Fällen schließlich war das Resultat ein schlechtes; auffallend 
ist es jedoch, daß, während sich die inNaraths Statistik vorkommen- 
Zeitschrift für orthopildische Chirurgie. XXII. Bd. 34 


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522 


Michael Horvath. 


den 4 Fälle sämtlich auf ältere Kinder beziehen, ich bei diesen Kindern 
unter 5 Jahren kein besseres Resultat aufweisen konnte als eben dieses. 
Der Schlüssel hierzu ist, daß mit Ausnahme eines Falles (des 9<).) 
alle übrigen auf den ersten Zeitabschnitt meiner Retentionspraxis 
fallen, wo auch ich selbst noch nicht genug Uebung in der Retentions¬ 
technik besaß. 

Fassen wir diese beiden Tabellen zusammen, so gewinnen wir 
eine Tabelle, welche veranschaulicht, wie sich bei den 94 Gelenken, 
die dem Ausweis zu Grunde liegen, das Verhältnis der Heilungen ge¬ 
staltete (Tab. XII). 

Tabelle Xll. 

lieber das funktionelle Resultat der sämtlichen Fälle, bei welchen die 
Behandlung beendigt ist. 


M . I 

1 

F u n k t i 

i 0 n e 1 1 e s ] 

Resultat 



1 

1 

ideal 

sehr gut 

gut 

1 

1 mittelmäßig 

1_ 

schlecht 

1. 

SlUf 

1 

1—2 

1 4 

1 

_ 1 

1 

1 1 

6 

2—3 

8 

6 

— 

5 

i 2 

21 

3—4 

13 

4 

6 

3 

1 

1 26 

4—6 

— 

2 

3 ; 

2 

3 

10 

6—6 

3 

5 

1 2 

1 2 

j - 

12 

6—7 

1 

— 

4 

2 

1 - 

6 

7-8 1 

— 

— 

5 

2 

— 

7 

8—9 1 

— 

1 ^ ' 

1 

1 

— 

3 

9—10 

1 - 

— 1 

1 

1 

[ 

1 

10—111 

1 T— 


1 



1 

11—12' 

; — 

1 

— 

— 

— ^ 

1 

Summe 

28(29,78^0) 

20 (21,277o) 

22(23,400/0)1 

17 (18,080;o) 

7 (7,447o) 

04 


48 (51,05 7o) I 

70 (74,45» 


Laut derselben erzielte ich in nahezu drei Vierteln der Fälle 
(74,45 Proz.) mindestens ein gutes Resultat, was mit Rücksicht auf 
den Umstand, daß in der Reihe der Fälle eben auch diese figurieren, 
welche am Anfang meiner Praxis unter meine Behandlung kamen, in 
denen ich also die Schwierigkeiten des Anfangs überwinden mußte, 
jedenfalls ein bedeutendes Resultat ist. 

Und daß mit der Vervollkommnung der Behandlungstechnik auch 
der Prozentsatz der Heilungen zunahm, sehen wir aus den nachfolgen- 


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I 



Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeboi*enen Hüftverrenkung. 523 


den Tabellen, in denen die Fälle der I. und II. Periode abgesondert 
verarbeitet sind. 


Tabelle Xlll. (Unilaterale Luxationen.) 


Funktionelles 

Resultat 


ideal. 

sehr gut. . . 

gut. 

mittelmäßig. 
schlecht . . . 

Summe 


Erste Periode (1896—1902) 


Zweite Periode (1902—1907) 


FiUle 

Prozent 

1 

Fälle 

Prozent 



I 

1 

63,63 



85,69 

8 ) 

36,36 ) 


2 ) 

7,14 ) 


7 


31,81 

3 


10,77 

1 

1 

4,54 

1 


3,51 

22 


98,98 1 

28 


99,97 


Tabelle XIT. 

Ueber das funktionelle Resultat der sämtlichen 
unilateralen Luxationen. 


Resultat 

Zahl der Fälle 

Prozente 

ideal. 


*®l56l 

sehr gut .... 

9/ [38 

18/ 76 

gut. 

10 ) 

20 ) 

mittelmäßig ... 

10 

20 

schlecht. 1 

2 

: 4 

Zusammen 

50 

100 


Tabelle X?« (Bilaterale Luxationen.) 


Resultat 


Erste Periode (1896—1902) j Zweite Periode (1903—1907) 
Fillle j Piozt'iite | Fillle Prozente 


ideal. 

sehr gut . . . 


12,50 \ 
29,16/ 




100 

gut. 

2 J 

8,33 

1 

10 J 

50 J 


mittelmäßig . 

7 


29,16 

— 


— 

schlecht . . . 

5 


20,83 

1 


— 

Zusammen 

24 


99,98 ' 

20 

1 

100 



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524 


Michael Horvath. 


Tabelle XYl. 

Ueber das funktionelle Resultat der sämtlichen 
bilateralen Verrenkungen. 


Resultat 

Zahl 

der Gelenke 

Prozente 

ideal. 

1>!32 

1 12 J 

; 7 

5 

72,72 

27,27 ) 

' 15,90 

1 11,36 

CfUt. 

Pt .. 

sehr gut . . . 
mittelmäßig. . 
schlecht.... 

Zusammen 

44 

99,98 


Diesen Tabellen gemäß steigerte sich also mit der Vervollkomm¬ 
nung der Behandlungstechnik sowohl bei den einseitigen wie auch bei 
den bilateralen Verrenkungen der Prozentsatz der geheilten Fälle um 
ein bedeutendes und zwar erreichte ich mindestens ein gutes Resultat 

bei einseitiger Verrenkung (von 63,63 Proz.) in 85,69 Proz., 
bei doppelseitiger Verrenkung (von 49,99 Proz.) in 100,00 Proz. 

Wenn wir die Fälle sämtlicher ein- und doppelseitigen Ver¬ 
renkungen einzeln erwägen, zeigt sich — wie dies die zwei Tabellen 
XIV und XVI darlegen — bei den unilateralen Luxationen etwas Ver¬ 
besserung (siehe Tab. XII), während bei den bilateralen der Prozentsatz 
um ein geringes kleiner ist, was man dem zuschreiben kann, daß am 
Anfang meiner Repositionspraxis verhältnismäßig mehr mißlungene 
bilaterale Luxationen die Wagschale herunterdrückten. 

Welchen Einfluß übt das Lebensalter auf das 
anatomische Resultat? Dies ist jene Frage, die zu beant¬ 
worten mir noch übrig ist. 

Auch in dieser Tabelle (Tafel XVII) konnte ich nur jene 94 Ge¬ 
lenke verwerten, bei denen von der Beendigung der Behandlung an 
gerechnet schon wenigstens V 2 Jahr verflossen ist, obgleich in einem 
sehr großen Prozentsatz der Fälle dieser Zeitraum schon mehrere Jahre 
umfaßt. 

Natürlich sah ich bei der Beurteilung des anatomischen Resultate 
von der Qualität der Beweglichkeit und Funktion des Gelenkes voll¬ 
kommen ab, und gab einzig und allein die gegenseitige Lage des Schenkel¬ 
kopfes und der Pfanne den Ausschlag. (N a r a t h, Therapie der Lux. 
cong. S. 359.) 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 525 


Tabelle XVII, 

(Ueber den Einfluß des Lebensalters auf das anatomische Resultat.) 


Anatomisches Resultat 


5 

1 

s 

Repositio j 
completa ' 

Repositio 

excentrica 

Subluxatio 
nach oben 
vorne 

Reluxatio 
nach oben 

1 vome 

Reluxatio 
nach hin¬ 
ten oben 

Summe 
der Gelenke 


Periode , 

Periode 

Periode 1 

1 Periode 

Periode 

1 Periode 



I 

II 

I 

II 

I 

“ 1 

I 1 

11 

I 1 

II 

1 I 

II 


1—2 

1 

4 

_ 



_ 

1 

_ 

1 

_ 

2 

4 1 

1= 6 

2—3 

' 3 

9 

3 

— 

i — 

— 

6 

_ 

— 

— 

12 

9 

' = 21 

3-4 

5 

11 

5 

1 

1 

— 

2 

_ 

1 

— 

14 

12 

' =26 

4—5 

— 

2 

' — 

1 

1 

1 ! 

1 4 

1 

— ' 

— 

5 

5 

= 10 

0—6 

3 

5 

— 

— 

— 

2 

2 

— 

— 

— 

5 

7 

= 12 

6—7 

— 

3 

1 

— 

— 

— 

2 

— 

— 

— 

3 

3 

= 6 

7—8 

— 

1 

— 

4 

1 

— 

1 

— 

— 

— 1 

2 

5 

= 7 

8—9 

1 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

— 

1 

2 

= 3 

9—10 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

i — 

— 

— 

1 

— 

= 1 

10—11 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

_ 

— 

— ‘ 

1 

— 

= 1 

11—12 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

= 1 

Summe 

1 13 + 37 

1 = 50 

il 

10 

+ 6 
16 

3 

4- 3 

= 6 

i'i 

+ 2 
21 

'i 

1 

— 

46 + 48 

1 

= 94 


Laut der Tabelle hat das Lebensalter auf das anatomische Re¬ 
sultat einen entscheidenden Einfluß, sofern letzteres umso günstiger ist, 
je früher die Kinder in die Behandlung kommen (N a r a t h). Beson¬ 
ders wenn ich die Fälle betrachte, welche ich zur sogenannten II. Periode 
zählte, als sich ergo die Retentionstechnik derart vervollkommnete, 
daß es im großen Teil der Fälle gelang, den Schenkelkopf in der Pfanne 
bis zum Ende konzentrisch zu erhalten. Diese Fälle berücksichtigend, 
hatte ich in den Jahren 1 — 2 und 2—3 in je 100 Proz. in anatomischer 
Hinsicht vollkommene Resultate, und auch noch in den Jahren zwischen 
3 und 4 gelang es mir, in 91,66 Proz. solches Resultat aufzuweisen, doch 
im folgenden Jahre fiel die Proportionszahl schon auf 40 herab. Der 
Prozentsatz der Heilung sämtlicher Fälle (1. und 11. Behandlungs¬ 
periode) war nicht so hoch, da bei der noch mangelhaften Gipsbehand¬ 
lung der Schenkelkopf nach vorn und nach oben verhältnismäßig oft 
reluxierte und dies die Bilanz herunterdrückte. 

Zum Schluß will ich noch meinen Bericht ergänzen in einer 
Tabelle (XVIII), welche die genauen Details über die anatomischen 
Resultate aller Fälle von Hüftverrenkung bringt. 


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526 


Michael Horvath. 


Tabelle XYIII. 

Uebersicht über die anatomischen Resultate der Behandlung aller Fälle 
von Hüftverrenkung. 


Gelenksbefund 


Luxatio 

unilateralis 

Anzahl | % 


Luxatio bilateralis 


Summe 
aller Gelenke 


Anzahl | % 1 Anzahl 


g 


I 

Repositio com- 


1 


1 

1 


pleta. 

4 -f 26 = 30 60 9 -f 11 = 20 45,45 13 + 

37 = 50 53,19 

II 

Repositio ex- 




1 


centrica . . . 

6 + 

0 = 6 12 4 -1- 

6 = 10 22,72! 10 + 

6 = 16 17.02 

III 

Subluxatio nach 


[| 




oben vorne . 

2 + 

0 = 2 4 I -f 

3 = 4 9,09 3 -h 

3=6 6.3«; 

IV 

Reluxatio nach 


1 j 

. 

1 


oben vorne . 

10 + 

2 = 12 24 9 -f 

0 = 9 20,45 19 -h 

2 = 21 j 2-2..34 

V 

Reluxatio nach 


i 


1 


hinten oben . 

0 + 

0 = 0 0 1 -f 

0=1 2,27 1 -f 

11 

0 = 1 l.fX> 

Summe aller ver- 



j 


wendbaren Fälle . 


50 

44 

94 

Repositio ohne Er- 





folg versucht . . . 


4 

12 1 

16 

Behandlung unter- 





lassen. 


12 

14 

26 

Noch 

in Behandlung 





befindlich. 


12 

24 

36 


Gesamtsumme 


78 

94 

172 


Daß eine vollständige funktionelle Heilung ohne Ausnahme nur 
an Gelenken zu erwarten ist, die auch anatomisch tadellos beschaffen 
sind, das beweisen die nebenstehenden Tabellen, welche über die funk¬ 
tionellen und anatomischen Resultate nach der Reposition ein- und 
doppelseitiger Hüftverrenkungen berichten. — 

Das Bisherige rekapitulierend, können wir uns also mit ganzer 
Entschiedenheit der Ansicht N a r a t h s anschließen, laut welcher so¬ 
wohl in anatomLschem Sinne wie auch bezüglich der Funktion das 
Resultat desto günstiger sein wird, je früher wir die Behandlung be¬ 
ginnen. 

Die Reposition bewerkstellige ich auch heute noch auf die Art. 
welche ich in meinen früheren Mitteilungen beschrieb. Vorherige Ex¬ 
tension wende ich überhaupt nicht mehr an, weil nach meiner Er- 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 527 


4^ 

Cd 

4^ 

d 

CO 

© 

mittelmäßig 

0 + 2 = 2 

1 + 0=1 

1 + 0=1 

4+1 = 1 

o 

4d 

cS 

4^ 

0 

CO 

© 

P5 

CO 01 ^ 

o 


CO 

^ II II II II 


CO 

© 

4* 1 

3 Ol O O O 


© 


+ + + + 



© 

^ 01 ^ 


© 

a 





schlecht 

II II 

1 1 1 ® <= 
+ + 


^ ^ IO 

<a 


:ecJ 

II II II 

a 

1 o o o 1 

4^ 

+ + + 

mi 

^ ^ lO 


^ 00 CO 


II II II 

■§ 

^ CO CO 1 1 

bO 

1 ' ' 
+ + + 


1 O Ol o 


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F u n 1 

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CO 

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1 ^ 



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Ol Ol 


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' ' Ol ^ 

I J « w o' o" 

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1 05 ^ ^ 05 ^ 


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^ 1 'S 

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O « Ö g 3 

ü © Q K Ö 


I II I s 

01 © s © © 

PE^ p[^ 


Digitized by 


Googk 


Summe (24 + 20) 44 99,98 I 





528 


Michael Horvath. 


fahrung das wichtigste Hindernis der Reposition, die Spannung der 
verkürzten Adduktoren, durch dieselbe in sehr geringem Maße beein¬ 
flußt wird. 

Die Dehnung der Adduktoren gehört zu den wichtigsten Akten 
der Reposition. Ist die Verlängerung der Muskeln mittels Extension 
oder Myorrhexis gelungen, so folgt dem meist innerhalb eines kurzen 
Zeitraumes der Vorgang, daß sich der Kopf an die Stelle der Pfanne 
begibt. Besonders bei älteren Kindern, doch auch überhaupt in allen 
Fällen benütze ich als Hypomochlion statt des dreieckigen Keiles meine 
unter den Trochanter gelegte Faust. Auf diese Art kann ich jene Kraft, 
die ich gelegentlich der Operation ausübe, viel besser kontrollieren und 
vielleicht dem Umstande kann ich verdanken, daß ich während meiner 
172 Repositionen den Schenkelknochen in keinem einzigen Fall brach. 

In der überwiegenden Mehrzahl meiner Fälle reponierte ich 
durch den hinteren oberen Pfannenrand, denn meines Erachtens ist 
diese Art der Reposition die geeignetste. Mit Vorliebe wende ich die¬ 
selbe deshalb an, da das Becken am einfachsten in diesem Fall fixiert 
werden kann, wozu die Herabdrückung des gegenseitigen Hüftknochens 
vollkommen genügt. Weiterhin, da ich die zur Bewerkstelligung der 
Reposition nötige Kraft eben bei Abduktion des fast rechtwinklig 
eingebogenen Beines am besten geltend machen und gleichzeitig auch 
auf den Trochanter einen sehr großen Druck ausüben kann. Die Grenze 
des hinteren oberen Randes eignet sich übrigens auch sonst zur Ein¬ 
renkung des Schenkelkopfes, nachdem — wie wir aus der Anatomie 
wissen — der Schenkelkopf an dieser Stelle während des Luxierens 
eine wahrhaftige Gleitfurche gebildet, den Rand abgeflacht hat. 

Von 172 Gelenken gelang bei 16 derselben die Reposition trotz 
wiederholter Versuche nicht und zwar bei 4 unilateralen und 6 bi¬ 
lateralen Verrenkungen. Die Verkürzung variierte in diesen Fällen 
zwischen 4,5—10 cm. Die Kinder waren meist schon über 5 Jahre alt. 
Bei einem 12jälirigen Kinde war der Reposition außer der großen Ver¬ 
kürzung auch noch die sehr ausgesprochene Coxa vara-Stellung hinder¬ 
lich. In einem anderen meiner Fälle, über den ich auch in meiner 
früheren Mitteilung referierte^), sah ich von weiteren Repositionsver¬ 
suchen deshalb ab, weil nach dem ersten erfolglosen Eingriff ausgeprägte 
Peroneuslähmung auftrat, was übrigens auf der anderen Seite — als 
gelinde Parese —■ schon nach der präliminären Volkmannextension sich 
meldete. 

Horvath, Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 12. 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 529 

Behufs Beurteilung dessen, ob die Reposition vollkommen ge¬ 
lungen ist, bieten meines Erachtens in der Regel jene Symptome 
(Lorenz, L u d 1 o f f), welche der Reposition selbst folgen, einen 
genügenden Anhaltspunkt. Bade nimmt außer dieser klinischen Fest¬ 
stellung der Reposition in jedem Fall innerhalb einiger Tage die Röntgen¬ 
untersuchung in Anspruch. 

In der Praxis würde dies, besonders in der Spitalpraxis, auf sehr 
viele Schwierigkeiten stoßen; dort muß man sich für gewöhnlich mit 
den klassischen Symptomen der Reposition begnügen. Wenn wir je¬ 
doch dem Anträge Bades folgen wollen, müssen wir, glaube ich, 
noch um einen Schritt weitergehen und mittels Verfertigung stereo¬ 
skopischer Röntgenbilder kontrollieren, ob der Schenkelknochen eine 
vollkommen konzentrische Lage angenommen hat. 

Die Reposition mittels des Röntgenbildes zu kontrollieren, war 
nur selten (so bei der an die L i 111 e sehe Krankheit anknüpfend zur 
Entwicklung gelangten Verrenkung) notwendig, nämlich im Fall gänz¬ 
lichen Fehlens der klassischen Symptome; da war es tatsächlich wün¬ 
schenswert. 

In der Praxis halte ich die Kontrolle mittels Röntgenbildes aus¬ 
nahmslos für notwendig bei Gelegenheit des Wechselns der Verbände, 
besonders aber gelegentlich der endgültigen Entfernung derselben, bei 
welcher Gelegenheit wir auch ohne jegliches Bewegen des Schenkels 
hinsichtlich der Stellung des Schenkelkopfes wertvolle Schlüsse ziehen 
können. 

Auch heute noch herrschen Meinungsverschiedenheiten in Bezug 
auf jene Frage, ob bei doppelseitiger Luxation die Operation gleich¬ 
zeitig vorgenommen werden soll oder aber der Fall so aufzufassen ist, 
als wären zwei einseitige Luxationen vorhanden, und zur zweiten Ope¬ 
ration erst nach der Heilung der einen Seite geschritten werden soll? 

Abgesehen von den älteren Kindern, bei denen wir zu gleichzeitiger 
Behandlung direkt gezwungen sind, reponiere ich meinerseits die bi¬ 
laterale Verrenkung jüngerer Kinder womöghch ebenfalls gleichzeitig. 
Hierzu bestimmt mich nicht allein die Rücksicht, daß ich dem Kinde 
die Wiederholung der Narkose ersparen und die Zeitdauer der Behand¬ 
lung verkürzen will, sondern hauptsächlich der Umstand, daß ich ge- 
legenthch der Abduktion des zum zweiten Male reponierten Beines die 
bishin mit Erfolg behandelte erste Seite gefährde. Der Einwand, daß 
durch die gleichzeitige Operation das Kind am Gehen verhältnismäßig 
längere Zeit hindurch gehindert ist, hält in der Praxis insofern nicht 


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530 


Michael HorvÄth. 


stand, als das kleine Kind im Gipsverband und mit den höheren Sohlen 
das Gehen de facto ohnedies sehr schwer erlernt, und somit die mit 
dem Gehen und der Belastung verbundenen Vorteile kaum zur Geltung 
gelangen können. Uebrigens bleibe ich, der ich das Gehen auch bei der 
Behandlung einseitiger Verrenkungen nicht forciere, sondern auf die 
sichere Fixation des Schenkelkopfes das Gewicht lege, auch dann. 
wenn ich nach der Reposition der bilateralen Verrenkung dem, daß 
das Kind herumgehe, entsage, nur diesem meinem Standpunkte treu. 

Und bin ich, aus welchem Grunde immer, bemüßigt, von der 
gleichzeitigen Behandlung abzusehen, bringe ich an dem bei der ersten 
Gelegenheit reponierten Fuße einen bis zum Knie reichenden Gips¬ 
verband an, dem Hüftgelenk entsprechend hingegen verwende ich — 
einen Teil des Verbandes ausschneidend — eine das Beugen des Hüft¬ 
gelenkes gestattende, also mit einem Scharnier versehene Schiene und 
verhindere auf diese Art die Adduktion der Extremität. 

Ein zweifelloser Vorteil besteht bei der gleichzeitigen Behandlimg 
darin, daß sich die beiden Gelenke stets im selben Stadium der Be¬ 
handlung befinden, und somit auch die gleichmäßige tmd gleichzeitige 
Neubildung der Gelenke ermöghcht ist. Neuerdings bezwecke ich die 
Verkürzung der Narkose durch das Verfahren, daß auf der einen Seite 
ich selbst, auf der anderen zur gleichen Zeit mit mir der gut ein¬ 
geübte Assistent reponiert. Die Notwendigkeit der separaten Fixie¬ 
rung des Beckens fällt neben diesem Verfahren weg. Schädüche Folgen 
desselben beobachtete ich bisher noch nicht. 

Nunmehr kann ich zu der Erörterung dessen übergehen, welche 
Lage der Extremität meiner Erfahrung nach am meisten sichert, daß 
der Schenkelkopf in der Pfanne bleibe. 

Diesbezüglich bin ich ganz entschieden für die minimal neunzig- 
gradige oder — sofern notwendig — für eine noch größere Abduktion. 
Am Anfang meiner Repositionspraxis hatte ich vollauf Gelegenheit, 
zu erfahren, daß neben Abduktion von mehr als 90® das Drinnen¬ 
bleiben des Schenkelkopfes, besonders wenn wir das Kind nur mit 
einem das Hüftgelenk fixierenden Verband herumgehen lassen, nicht 
gesichert ist. Diesbezüglich teile ich ganz die Ansicht von N a r a t h. 
Im späteren Stadium der Behandlung wird die Retention des Schenkel¬ 
kopfes in erster Reihe durch die entsprechende Schrumpfung der Bänder 
gesichert, denn die Neubildung der Pfanne beansprucht eine so lange 
Zeit, daß dieselbe abzuwarten und die Fixierung durch Bänder bis 
dahin zu verschieben, nicht zweckmäßig wäre. 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 531 

Die Abduktion von 90 oder nötigenfalls noch mehr Graden 
schließt außerdem, daß sie das Schrumpfen der Bänder fördert, fast 
auch die Möglichkeit dessen aus, daß der Schenkelkopf nach oben 
rutsche. Auf diese Art bewirken wir in gewissem Grad eine Ankylose 
des Gelenkes, die anderseits ermöglicht, die Zeit der Fixation des Beines 
bis zum möglichsten Minimum zu reduzieren. Erfahrungsgemäß ent¬ 
wickelt sich bei älteren Kindern schon während einer verhältnismäßig 
viel kürzeren Zeit so hochgradige Fixation, daß die Beseitigung der¬ 
selben Monate hindurch dauernde Nachbehandlung erheischt. Bei 
kleinen Kindern ist diese Zeit in der Regel sehr lang und vergehen auch 
6 —7 Monate, bis die Extremität ohne Gefahr einer Reluxation frei¬ 
gelassen werden kann. 

Den Schenkelkopf in der Pfannengrube zu erhalten, bildet die 
wichtigste Aufgabe dieses Stadiums der Behandlung, und der will ich 
genügen, wenn ich mich bloß mit der Fixation des reponierten Ge¬ 
lenkes nicht begnüge, sondern den allgemeinen Prinzipien entsprechend 
auch die zwei Nachbargelenke mit fixierenden Verbänden versehe. 
Ich führe also den Verband auf der reponierten Seite bis unter das 
flektierte Knie, auf dem gesunden Fuß in Strecksteilung des Schenkels 
bis zum Knie herab. In solchen N a r a t h sehen Verbänden ist die 
Fixierung des Hüftgelenkes absolut sicher, was besonders dann nottut, 
wenn wir die bilaterale Verrenkung nicht gleichzeitig reponierten. Mit 
so einem Verband gelang es mir übrigens noch vor der Mitteilung 
Naraths im Fall 17 trotz wiederholter Reluxation schließlich ein 
vollkommenes anatomisches und funktionelles Resultat zu erreichen. 

Calot begnügt sich nicht damit, den Schenkelkopf in der Pfanne 
zu fixieren, sondern bringt denselben womögüch in konzentrische Stellung 
und zwar dadurch, daß er das Bein in Abduktion von 70®, Flexion 
von 70® und Rotation von 0® fixiert. Auf Grund meiner eigenen Er¬ 
fahrungen kann ich mich zur Befolgung dieses Calot sehen Rat Schlages 
nicht entschließen. Bei älteren Kindern machte ich nämlich die Er¬ 
fahrung, daß die der Spina ant, sup. anhaftenden Muskeln, sowie auch 
die Adduktoren nach der Entfernung des Fixationsverbandes zur Kon¬ 
traktur sehr geneigt sind. Bei gleichzeitiger Traktion derselben wird 
eine Kraft von solcher Richtung wirksam, welche den Schenkelkopf 
in der Richtung nach oben und hinten herauszurücken bemüht ist, 
sofern die Extremität in mäßige Flexion und Abduktion kommt. Diese 
Stellung erinnert mich sehr an jene, in der Calot den Fuß unmittel¬ 
bar nach der Reposition fixiert. Und ebendeshalb glaube ich, daß es 


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532 


Michael Horvath. 


— besonders bei älteren Kindern — nicht gelingt, mittels der C a 1 o t- 
schen 70*^—70®—0®-Stellung die Muskeln in vollkommener Dehnung 
zu halten und somit diese Stellung zu nachträglicher Verschrumpfung, 
deren Beseitigung eine langwierige Nachbehandlung erfordert, noch 
leichter führen kann. Bei jüngeren Kindern entwickeln sich selbst nach 
verhältnismäßig längere Zeit hindurch eingenommener Abduktion von 
90® keine Kontrakturstellungen; das Kind adduziert innerhalb 1 bis 
IV 2 Monaten seine Extremität meist bis zu einem solchen Maß, daß 
es mit Hilfe der auf der anderen Seite angebrachten höheren Sohle sehr 


Fig. 57. 



gut gehen kann. Bei mäßiger Abduktion der Extremität hält es auch 
sein Knie vollkommen gestreckt und macht sich an der Pfanne die 
umgestaltende Wirkung des Gehens, der Belastung besonders da 
geltend. 

Diejenigen, die im Interesse dessen, daß der Schenkelkopf absolut 
sicher an seiner Stelle gehalten werde, den mit dem Funktionieren der 
Extremität verbundenen Vorteilen im ersten Stadium der Behand¬ 
lung entsagen, müssen mit einem Umstand rechnen. Am Schenkel¬ 
knochen entwickelt sich während dieser Zeit unbedingt geringere oder 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 533 


größere Atrophie. In gewissen Fällen (Lorenz, Narath, Vogel, 
Lange, Bade) ist diese Atrophie so hochgradig, daß dies gelegent¬ 
lich des Aenderns der Primärstellung bei der Mäßigung der Abduktion 
eine Fraktur des Schenkelknochens zur Folge hatte. Diesem Umstande 
trage auch ich Rechnung, obzwar das Brechen des Knochens in keinem 
einzigen meiner Fälle vorkam. Daß jedoch in meinen Fällen die 
Atrophie des Knochens tatsächlich eintrat, beweist auf guten Röntgen- 
bildem die Veränderung der inneren Knochenstruktur, ja in manchen 


Fig. 58. 



Fällen sogar die Verändenmg der äußeren Form des Knochens ganz 
zweifellos. Der Schatten solcher atrophischen Knochen ist im Röntgen¬ 
bilde viel weniger kontrastisch, durchsichtiger, die innere Struktur ver¬ 
schwommener. Gut veranschauUcht wird die hochgradige Atrophie 
des Schenkelkopfes durch die beigefügten Figuren (Fig. 57, 58). 

Bei der Behandlung der kongenitalen Hüftverrenkung die Atrophie 
berücksichtigend, modifizierte ich mein Verfahren vor Jahren in zwei 
Richtungen. 


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534 


Michael Horvdth. 


1 . Bemühte ich mich, dieZeitdauer derF ixation 
auf das mögliche Minimum zu reduzieren, damit j 
proportional damit der weitere Knochenschwund gemäßigt werde. 

2. Die Verbesserung der Beinstellung, die all¬ 
mähliche Verringerung der rechtwinkligen Ab- ^ 
duktion überlasse ich womöglich dem Kinde und > 
wollte auf diese Art jegliche äußere Gewalt, die bei anderen in einigen | 
Fällen die Fraktur des Knochens zur Folge hatte, vermeiden. 

Daß am Anfang meiner Repositionspraxis der Schenkelkopf so 
häufig nach vorn imd nach oben reluxierte, schreibe ich eben dem 
Umstande zu, daß ich die Extremität aus der OOgradigen Abduktion 
mittels sehr mäßiger Gewalt nebst mehrmaligem Wechseln des Ver¬ 
bandes herunterbrachte und inzwischen der Schenkelkopf aus der 
Wölbung ein wenig herausgeglitten sein dürfte. Unter der Wirkung 
des Gehens und der Belastung sodann konnte der Schenkelkopf die 
Pfanne, deren Wölbung, denselben zu erhalten, noch immer ungenügend 
ist, immer mehr und mehr verlassen. Diese Erfahrung bewog mich 
später zur Aenderung meines Verfahrens und dazu, die Verminderung 
der in der Primärstellung entstandenen Fixation womöglich dem Kinde ^ 
zu überlassen. 

Die Fixierung dauert bei jüngeren Kindern längere Zeit, 6 bis 
7 Monate. Während dieser Zeit schreitet die Ankyjose so weit vor, 
daß sich in dem durchs Becken und den Schenkel gebildeten Winkel 
die Weichteile, wenn man das Bein — ob nun mit alctiver oder aber 
mäßiger passiver Gewalt — adduzieren will, mächtig anspannen. Bei 
so hochgradiger Anspannung der äußeren Weichteile muß man keine 
Reluxation befürchten. Bei größeren, 5—6jährigen Kindern kann sich 
auch binnen 3—1 Monaten so hochgradige Fixierung entwickeln, daß 
dieselbe seitens des Kindes nur innerhalb einer sehr langen Zeit und 
mittels großer Mühe und Fleißes bis aufs gehörige Maß gelockert werden 
kann. In solchen Fällen darf die Nachbehandlung, die aus Massage 
und Adduktionsübungen besteht, nicht verabsäumt werden. Die | 
passive Stellungsverbesserung der Extremität und die Fixierung des 
erreichten Resultates —• mittels neuer Verbände — vermeide ich jedoch, 
wenn nur möglich. Auch bei älteren Kindern lasse ich Zeit, daß all¬ 
mählich sie selbst die Extremität adduzieren mögen, und nur wenn 
ich sehe, daß es hierzu innerhalb von 1—IV 2 Monaten unfähig wäre, 
nehme ich die passive Methode in Anspruch. 

Auch bei der aktiven, besonders aber bei der passiven Korrektur 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 535 

beobachtete ich —• namentlich bei älteren Kindern — häufiger, daß das 
Hüftgelenk in gesteigerte Flexion gerät. In solcher flektierten Stellung 
kann die Abduktion leicht behoben werden, doch wenn wir während 
des Adduktionsversuches den Schenkel möglichst extendieren, da ge¬ 
winnen wir die Erfahrung, daß sich die der Spina ant. sup. anhaftenden 
Muskeln, ja selbst auch noch die Adduktoren mächtig spannen. Die 
gleichzeitige starke Anspannung dieser beiden Muskelgruppen nun ge¬ 
fährdet die konzentrische Position des Schenkelkopfes. Ebendeshalb 
muß man bei Aenderung der Primärlage außerordentlich darauf be¬ 
dacht sein, daß die Extremität in der Frontalebene bleibe. Und könnte 
ich dies mittels Lagerung, aktiver Uebungen, Gewichtsbelastung, ja 
selbst mit Gipsverbänden nicht sichern, würde ich in diesem seltenen 
Falle auch vor der subkutanen Durchschneidung der an die Spina ant. 
sup. anhaftenden Muskeln nicht zurückschrecken. Nach der Myotomie 
bewerksteUige ich die Adduktion der Extremität nach Dollingers 
bekanntem Verfahren (Coxitis) und gehe nach 2—3 Wochen wiederum 
auf aktive Uebungen über. Doch unter normalen Umständen habe ich 
diese Modalität nicht notwendig; Kinder, die im der Repositions¬ 
behandlung günstigen Alter sind, können nach dem Verlauf der kürzeren 
oder längeren Fixierungszeit verhältnismäßig binnen kurzem ihr Bein 
derart adduzieren, daß sich den Steh- und Gehversuchen gar kein 
Hindernis entgegenstellt. Und obzwar das Kind in diesen Fällen so¬ 
zusagen sich selbst überlassen wird, sofern nämlich hier von einer 
eigenthchen ärztlichen Nachbehandlung nicht einmal eine Rede ist, muß 
man dennoch keine Reluxation befürchten. Und sollte trotzdem eine 
solche Vorkommen, was der Gang des Kindes und die häufige Kontrolle 
noch zur rechten Zeit verrät (in meinem 77. und 88. Falle), dann lege 
ich auf einen Monat in der gewöhnlichen Primärstellimg einen neuen 
Verband an. Meiner Erfahrung nach bringen die Kinder ihr Bein so 
weit, daß sie dann das Stehen und allmählich auch das Gehen üben 
können, sehr vorsichtig binnen 1 —2 Monaten herab. Doch gestatte 
ich dies nur dann, wenn das Kind seinen Fuß schon derart adduzieren 
kann, daß es dabei auch die Kniee gestreckt zu halten fähig ist. Doch 
für die Erhaltung einer gewissen Abduktion sorge ich noch lange Zeit 
hindurch teils so, daß ich auf der normalen Seite die Schuhsohle beim 
Gehen um 2— 2^/2 cm erhöhe, teils dadurch, daß ich das Kind über 
Nacht in einen Lagerungsapparat, der das Bein in der „Primär “-Stellung 
fixiert, lege. 

Seitdem ich dieses Verfahren anwende, gelang es mir bei solchen 


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536 


Michael Horvath. 


Kindern, die im für die Reposition geeigneten Alter unter meine Be¬ 
handlung kamen, ohne Ausnahme in sämtlichen Fällen konzentrische 
anatomische Reposition und ideale oder sehr gute funktionelle Re¬ 
sultate zu erreichen. 

War die Gelenkstarre nicht übermäßig groß (dem ich bei älteren 
Kindern dadurch auszuweichen versuche, daß ich bei denselben das 
reponierte Bein verhältnismäßig kürzere Zeit hindurch fixiere), dann 
ist auch das ältere Kind noch fähig, seine Extremität von selbst zu ad- 
duzieren, was meines Erachtens befriedigendere funktionelle Resultate 
zeitigt. Bei solchen älteren Kindern besteht die Nachbehandlung in 
der Uebung des Adduzierens, eventuell im Massieren der Muskulatur, 
und nur selten mußte ich dafür, daß die Extremität nicht in Flexions¬ 
kontraktionsstellung gerate, mittels Gewichtsbelastung (Lorenz, 
Bade, C a 1 o t) Sorge tragen. 

Wenn jedoch das Gelenk während der verhältnismäßig kurzen 
Fixationsperiode dennoch sehr erstarrte und ich für passive Adduktion 
der Extremität zu sorgen bemüßigt war, erzielte ich in der Regel kein 
ideales Resultat. Nebst der exzentrischen oder subluxierten Stellung 
des Schenkelkopfes war der Schenkel in außerordentlich störendem 
Maße nach außen rotiert und hat — scheint mir — Bade recht, wenn 
er die Ursache dieser auswärtsrotierten Stellung der Extremität nicht 
in der Schrumpfung der Weichteile, sondern eben in dem Umstand 
findet, daß der Schenkelkopf in der Pfanne nicht mehr konzentrisch 
zu liegen kommt. Derartige Verhältnisse traf ich bei der Revidierung 
von 9 Gelenken bei 5 Kindern an, also bei exzentrischer Reposition oder 
Subluxation, mit gutem oder mittelmäßigem Resultate, woselbst ich 
infolge der minder- oder hochgradigeren Außenrotation des Beines das 
Kind auch heute noch, mehrere Jahre nach der Reposition, unter meiner 
Behandlung habe. 

Auf diese abnorme Außenrotation der Extremität muß man große 
Sorgfalt verwenden, und muß man auch dieselbe nach Kräften zu 
beseitigen bestrebt sein, da sie eventuell jene Folge haben kann, daß 
der Schenkelkopf die Pfannengrube verläßt. Der Schenkelkopf gerät 
in eine exzentrische Stellung oder subluxiert, wie ich dies bei der doppel¬ 
seitigen Verrenkung eines 7jährigen Kindes beobachtete (Fig. 59). 
(Von der stärkeren Rotation der Extremitäten abgesehen, geht das 
Kind ausdauernd und gut, Trendelenburgsches Phänomen 
negativ.) — 

Eine unvermeidliche Folge der anhaltenden Fixation ist eine mehr 


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Beiträge zur Pathologie and Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 537 


oder minder hochgradige Atrophie des Schenkelknochens, was sich 
nicht nur in der inneren Struktur des Knochens und in der Größe des¬ 
selben als Schwund zeigt, sondern auch eine Veränderung des Neigungs¬ 
winkels des Schenkelhalses zur Folge haben kann. Die Varusstellung 
des Schenkelhalses fand ich im Fall von 12 reponierten Hüftgelenks¬ 
verrenkungen. Diese große Zahl macht mir zur Pflicht, mich mit der 
Coxa vara, als eventueller Folge der Reposition, eingehender zu be¬ 
fassen. Hierzu fühle ich mich umsomehr bewogen, da mir über einen 
jeden meiner Fälle gute Röntgenbilder zur Verfügung stehen. 

lieber zwei ähnliche Fälle berichtet L u d 1 o f f, der das Entstehen 

Fig. 59. 




der Coxa vara aus der Loslösung und Verschiebung der Epiphysis er¬ 
klärt. Nach L u d 1 o f f hat die Extremität während der Zeit der 
Fixation eine nach außen rotierte Stellung. Wenn wir dann später 
zwecks Beseitigung dieser Stellung die Extrenutät mit passiver Gewalt 
nach innen rotieren und in dieser Stellung mit einem im Knie flek¬ 
tierten und bis zum Knöchel reichenden Verband fixieren, so fördern 
wir hierdurch die Torsion des Schenkelknochens, da in diesem Fall der 
Innenrotation der Diaphyse des Knochens die Kontraktur des proxi¬ 
malen Schenkelendes, des Glutäus und des hinteren Kapselbandes 
nicht folgt. Forciert man die Innenrotation weiter, so gibt der Schenkel¬ 
knochen auf seinem schwächsten Punkt, der Epiphysenlinie, nach, im 
Zeitschrift für orthopildische Chirurgie. XXII. Bd. 35 


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538 


Michael Horvath. 


Wege der Epiphysenlösung entwickelt sich die Anteversion und in¬ 
folge der Wirkung des in der Richtung der Schenkelknocheiiachjse aus¬ 
geübten Druckes (Mikulicz-Gersunyscher Kniescharnierver- 
band) gleichzeitig die Coxa vara-Stellung. 

Mit höherem oder geringerem Grad von Coxa vara hatte ich es 
in 12 meiner Fälle zu tun und zwar nach der Reposition von 5 bi¬ 
lateralen Verrenkungen in 8 Gelenken und bei 4 unilateralen Luxationen. 
VonMiesen 12 Gelenken weist das gut gelungene Röntgenbild in einem 
Falle am Schenkelhals schon vor der Reposition gewisse Abweichungen 
auf. Meine Daten sind bezüglich der 9 Kinder die folgenden: 


Fig. 60. 



Fall 20. Ojähriges Kind. Luxatio sin. Iliakale Verrenkung. 
Verkürzung 6 cm. Trotz präliminarer Gewichtsextension wiederholt 
vorgenommener Reposition.sversuch von IV 2 —1% Stunden erfolgla«^. 
25. November 1900 : Arthrotomie. Schenkelkopf gut entwickelt. Nach 
Durchschneidung des Isthmus Reposition. Verband in rechtwinkliger 
Abduktion. Den Verband mehrmals wechselnd, adduzierte ich inner¬ 
halb 10 Monaten successive das Bein. Nachbehandlung. 

Im Jahre 1906 revidierte ich den Fall. Röntgenbild zeigt aus¬ 
gesprochene konzentrische Atrophie des Schenkelkopfes. Coxa vara- 
Stellung (Fig. 60). 

F a 11 21. 8jähriges Kind. Luxatio sin. iliaca, 7 cm Verkürzung. 
Nachdem der Repositionsversuch auf einer anderen Abteilung miß- 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 539 

lungen war, eliminierte ich nach vorhergegangener Myotomie die Span¬ 
nung der Adduktoren, der an die Spina anhaftenden und der hinteren 
Schenkelmuskeln. (In meinen späteren Fällen ließ ich dies ganz weg.) 
Reposition in IV 2 Stunden. Verband in Adduktion von weniger als 90®. 
Peroneuslähmung, die erst nach Monaten heilte. [^Innerhalb von 10 Mo¬ 
naten beseitigte ich mittels mehrmaligen Wechselns des Verbandes die 
Abduktion und Außenrotation. Beweglichkeit des Gelenkes nach der 
Nachbehandlung genügend. 5 Jahre später Revision: Konzentrisch in 
der Pfanne sitzender Schenkelkopf. Beweglichkeit gut, nur in der 


Fig. 61. 



Richtung der Abduktion und Außenrotation etwas beschränkt. Dif¬ 
ferenz in der Länge der Extremitäten 2 cm. Laut Röntgenbild (Fig. 61) 
ausgesprochene Coxa vara, mit Atrophie des Schenkelkopfes und 
-halses. 

Fall 30. 3jährig. Luxatio bilateralis. Beiderseits 4 cm Ver¬ 
kürzung. Besonders auf der linken Seite schwere Reposition. Genügend 
gute Stabilität. Verband in Abduktion von je 45® und Hyperextension 
bis zur Mitte des Unterschenkels. Geht nicht. Nach 3 Monaten wegen 
stärkerer Prominenz der Schenkelköpfe neuer Verband ohne Hyper- 


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540 


Michael Horvath. 


exteiision, in derselben Abduktion. 2 Monate darauf neuer Verband. 
Die Schenkelköpfe wölben die Inguinalbeuge noch immer stark vor. 
weshalb ich den neuen Verband in stark nach innen rotierter und in 
der Hüfte und dem Knie flektierter Stellung anlegte. Gipsperiode 
9 Monate. Die Gelenkstarre weicht nach Massage und Uebungen. 
Nach 3 resp. 4 Jahren Revision: Lordose gänzlich behoben. Beini 
Sitzen mäßige lumbale Kyphose, nachdem die Flexion der Extremi¬ 
täten etwas gehindert ist. Länge der Extremitäten gleich. Beide 


Fig. 62. 



Hüftknochen füllen und bauchen die Leistenbeuge entschieden aus. 
Beim Einwärtsrotieren der Schenkelköpfe verschwindet derselbe. 
Gang ausdauernd ohne Hinken. Bei Heraufschiebung der Extremi¬ 
täten verlassen dieselben nicht ihre Lage. Beweglichkeit des Gelenkes 
linkerseits sehr gut, auf der rechten Seite ein wenig gehindert, insofeni 
das Hüftgelenk nur dann flektierbar ist, wenn gleichzeitig der Schenkel¬ 
knochen etwas auswärts rotiert wird. Röntgenbefund: Sehr hoch¬ 
gradige Atrophie und Coxa vara-Stellung; das proximale Ende des 


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Beiträge zur Pathologie und Tlierapie der angeborenen Hüftverrenkung. 541 


rechten Schenkels giraffenkopfförmig, der dem Schenkelkopf ent- 
eprechende Teil fehlt auf beiden Seiten, der übriggebliebene Teil des 
Halses ist der Pfannengrube gegenüber, zum Teil noch unter dem 
Dache implantiert (Fig. 62). 

Fall 35. 4V2jähriges Mädchen. Luxatio bilateralis. 2 V 2 cm 
betragende Verkürzung. Ausgesprochene Anteversion. 

1. Mai 1902; Typische Reposition. In rechtwinkliger Abduktion 
Verband an beiden Beinen. 15. Juni: Infolge Widerstandes des Kindes 


Fig. 63. 



wird die Verbesserung der Beinstellung in Narkose vorgenommen, wobei 
die große Spannung der Weichteile zu überwinden war. Mehrmaliger 
Wechsel des Verbandes. Gipsperiode 6 Monate. Extremitäten aus¬ 
gesprochen nach außen vertiert. Schenkelköpfe unter der Spina ant. sup. 
fühlbar. Gelenke starr. Nachbehandlung. Revision 20. Juni 1907: Beide 
Schenkelköpfe unter der Spina ant. sup. Extremitäten in mäßiger 
Außenrotation. Stark hervorstehende Trochanteren. Trochanter¬ 
stellung: Beiderseits oberhalb der Roser-Nelaton-Linie. + 3 cm. 


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542 


Michael Horvath. 


Schenkelknochen nicht aufwärts schiebbar. Gang bei etwas Aufmerk¬ 
samkeit sehr gut. Röntgenbefund: Schenkelknochen nicht atrophiscL 
AnteVersion und Torsion des oberen Schenkelknochenendes sehr hccb* 
gradig. Mäßige Coxa vara (Fig. 63). 

Fall 49. 4jähriges Mädchen. Luxatio bilateralis. Verkürzung 4 cm. 

10. Mai 1903: Leichte Reposition. Auffallend gute Stabilität. 
Verband in Abduktion von je 90®. Kind geht nicht. 


Fig. 64. 



13. September 1903: Verband entfernt. Innerhalb von 2 V 2 Mo¬ 
naten adduziert es die Füße successive derart, daß es stehen und an der 
Hand gehen lernt. 

Juni 1904: Konzentrische Reposition. Sehr gute Beweglichkeit 
Laut Röntgenbild transformiert sich das Dach sehr schön. Schenkel¬ 
hals nicht verändert. 

Juni 1905: Ideale Funktion. Konzentrische anatomische Heilung. 
Linkseitig sehr mäßige, an Coxa vara erinnernde Stellung. Schenkel¬ 
kopf atrophisch (Fig. 64). 

















Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 543 


Fall 57. 3jäliriges Mädchen. Luxatio bilateralis. Die erste 
Reposition wurde nicht von mir vorgenommen und so habe ich denn über 
die der Reposition vorangegangenen Verhältnisse keine Aufzeichnungen. 
Auf der linken Seite war infolge Reluxation neue Reposition notwendig. 

Im Laufe der sehr langwierigen Behandlung mußte die Reposition 
auf der linken Seite 3mal wiederholt werden, während ich wegen Sub¬ 
luxation der rechten Seite in Abduktion von 110° (ohne Narkose) ein¬ 
mal bemüßigt war, einen neuen Verband anzulegen. 

Fig. 65. 



Nachbehandlung: Massage, Lagerung, Uebungen, Der starken 
Prominenz der Trochanteren wegen trägt das Kind ein Korsett mit 
einer die Trochanteren stützenden Pelotte. 

Revision Juni 1908: Funktionelles Resultat gut. Schenkelknochen 
nicht aufwärts schiebbar. Hüftenhebung (Trendelenburg) auf 
beiden Seiten ziemlich gut. Nur nach längerem Gehen, bei Ermüdung 
hinkt das Kind ein wenig. Lordose nachgelassen. Röntgenbefund: 


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544 


Micliael Horvath. 


Rechtseitig mäßige Anteversion. Der exzentrisch stehende Schenke * 
köpf ist nicht atrophisch. Auf der rechten Seite ausgesprochene AtropL^ 
und Coxa vara-Stellung, konzentrische Lage. Epiphysenlösung nkh 
konstatierbar (Fig. 65). 

Fall 77. öjähriges Mädchen, mit Spuren einer überstandene: 
Rachitis. Luxatio sinistra. Verkürzung 3 cm. Auf der luxierte 
Seite ist geringe Coxa vara cervicalis (Fröhlich) konstatierkr 
(Fig. 66), insofern der obere Rand des Schenkelhalses keinen gerader 


Fig. 66. 



sondern einen nach oben zu konvexen Bogen beschreibt und der Hals 
zwischen dem Schenkelkopf und Trochanter gebeugt erscheint. 

7. Mai 1905: Leichte Reposition. Primärstabilität gut. Verband 
in 90gradiger Abduktion, ohne Hyperextension. Nach 4monath’cher 
Fixation adduziert das Kind sehr langsam seinen Fuß. Anfang 1906 
beginnt es gut zu gehen. Revision September 1906 und Juni 1908: 
Anatomische Reposition. Trochanterstellung linkseitig kaum bemerk¬ 
barhöher. Anteversion. Gang tadellos. Röntgenbefund: Ausgesprochene 
Atrophie, Coxa vara-Stellung, auffallend kurzer Schenkelhals (Fig. 67). 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 545 


Fall 83. 672 Jahre alter Knabe. Luxatio dextra. Verkürzung 
472 cm. 

1. April lOOb: Sehr schwere Reposition. Verband in 90gradiger 
Abduktion. Nach 3^/2 Monaten ohne Verband. Ausgesprochen steifes 
Gelenk. Da der Knabe seinen Fuß lange Zeit hindurch nicht adduzieren 
konnte und sich daneben auch noch eine Flexions-Abduktionskontraktur 
entwickelte, legte ich ihn (10. Juni 1907) nach subkutaner Durch¬ 



schneidung der an die Spina ant. sup. haftenden Muskeln in einen 
Redressionsverband. Inzwischen überstand er Masern, welche das 
Kind sehr entkräfteten, weshalb es seine aktiven Uebungen nach¬ 
lässig verrichtete. Einer Flexions-Abduktionskontraktur zufolge be¬ 
kam es einen neuen Verband. Nachbehandlung. Revision Juni 1908: 
Gang bessert sich sehr, Caput von der Spina ant. sup. ab- und 
einwärts palpabel. Beweglichkeit besser. Länge der Extremi¬ 
täten gleich. 


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546 


Michael Horvith. 















Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 547 


Röntgenbefund! Sehr ausgesprochene Atrophie, mäßige Coxa vara 
(Fig. 68). 

Fall 91. 4Y2jähriges Mädchen. Luxatio bilateralis. 4 cm Ver¬ 
kürzung. Sehr starke Lordose, die infolge der mäßigen Flexions¬ 
kontraktur der Hüftgelenke selbst in liegender Position nicht ver¬ 
schwindet. 

21. Mai 1900: Sehr schwere Reposition auf beiden Seiten. Ver- 


Fig. 70. 



band in rechtwinkliger Abduktion. Primärstabilität sehr gut. Verband 
nach 3 Monaten entfernt. Laut Röntgen (Fig. 69) konzentrische Re¬ 
position auf beiden Seiten, Schenkelhals noch nicht verbogen. Seine 
Füße adduziert es sehr langsam (6—7 Monate) so weit, daß es gehen 
kann. 

Revision 5. April 1908: Linke Extremität um 1 cm kürzer, Tro¬ 
chanter auf beiden Seiten, besonders aber der linken oberhalb der 
Roser-Nelaton-Linie. Die rechte Hüfte kann es nicht gut heben. 


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548 


Michael Horvath. 


Röntgenbefund; Linkseits atrophischer Schenkelkopf, ausge¬ 
sprochene Coxa vara trochanterica. Auf beiden Seiten mäßige Ante- 
version (Fig. 70). 

Mit Ausnahme von Fall 35 ist in allen übrigen die Atrophie des 
Knochens stark ausgeprägt. Am meisten zeigt sich die Atrophie am 
Caput femoris, ja in manchen Fällen (20, 30) kann selbst von einem 
gänzlichen Schwund desselben die Rede sein, und wird das proximale 


Fig. 71. 



Liiikseitige Reposition. 8 Jahre geheilt. 


Femurende vom atrophischen Schenkelhals gebildet, der sich der 
Diaphysis des Schenkelknochens unter dem Trochanter major anfügt. 
Auch am Schenkelhals findet man in der Regel ausgesprochene Atrophie. 
Der Hals ist auffallend kurz, obzwar infolge der ausgesprochenen Ante- 
version nicht genau meßbar. Die Bestimmung des Richtungs¬ 
winkels (Alsberg) auf Grund des Röntgenbildes ist weiteren Ver¬ 
änderungen des proximalen Femurendes zufolge sehr schwer, doch 
kommt die Varusstellung schon an und für sich in der augenfälligen 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 549 

bedeutenden Verminderung des Neigungswinkels, der gewöhnlich 128® 
beträgt, zum Ausdruck. 

Die Loslösung und das Herabgleiten der Epiphyse anzunehmen, 
würde ich mir auf Grund der Röntgenbilder in keinem einzigen Fall 
Zutrauen, höchstens betreffs Fall 77 und 91 kann von einer teilweisen 
Lioslösung der Epiphyse gesprochen werden. 

Für eine sehr wichtige Erscheinung halte ich jedoch, daß ich die 
Epiphysenlösung oder die Varusstellung des Schenkelhalses in den der 


Fig. 72. 



Luxut. dextr. sanat. 9 Jahre geheilt. 


Reposition folgenden wenigen Monaten in keinem einzigen Fall beob¬ 
achtete, während der Zeit nämlich, wo der Schenkelknochen in pri¬ 
märer Stellung war und das Kind noch nicht ging. Zum Beispiel auf 
der Fig. 69 erscheint der Schenkelknochen noch als ganz gesund. 

Von den 12 Fällen wandte in 7 (Nr. 20, 21, 30, 35, 83) behufs Be¬ 
seitigung der Rotation und Abduktion auch ich passive, doch in allen 
Fällen mäßige Kraft an. In den übrigen hingegen überließ ich die Ver¬ 
minderung der Primärstellung der Extremität ganz und gar dem Kinde, 
was in allen Fällen erst im Laufe von Monaten gelang. Von äußerer 


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550 


Micliael Horvath. 


Gewalt kann in letzteren Fällen nicht gesprochen werden, da dr 
aktive Kraftentfaltung des Kindes groß, aber nicht gewaltig genannt 
werden kann. 

Die Coxa vara-Stellung ist — wie ich schon oben erwähnte — 
in der Periode, in welcher die Extremität in abduzierter Stellung war 
nach den Röntgenbildern nicht nachweisbar. Doch entwickelt sicli 
dieselbe und wird successive größer, wenn das Kind wieder auf di» 


Fig. 78. 



Beine kommt und sich die Belastung wieder geltend macht. Im größten 
Teil der behandelten Fälle jedoch entsteht nach der Reposition de:' 
luxierten Schenkelkopfes keine Coxa vara; diesen Umstand muß ich 
bei Erklärung meiner 12 Fälle unbedingt berücksichtigen, da man au> 
demselben den Schluß ziehen kann, daß die Herstellung der normalen 
Belastungsverhältnisse an und für sich die Varusneigung des Schenkel¬ 
halses noch längst nicht zur Folge hat. Doch die in meinen Fällen auf¬ 
tretende, auffallend starke Atrophie, welche die Unzulänglichkeit der 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 551 


Fig. 74. 



Kei»ositio e.xrtMitrica sin. (>‘,2 Jahre R^heilt. 


Fig. 75. 



Luxatio bilateral, sanata. 5 Jahre geheilt. 


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Michael Horvath. 


Tragfähigkeit des Schenkelhalses verursacht, erklärt meines Erachte: 
die Entstehung der Coxa vara zur Genüge. Ein solcher pathologi^ : 
geschwächter Knochen muß nach der Reposition der Verrenkung her. 
Gehen dieselben Dienste leisten, wie der andere, der gesunde Schenke¬ 
knochen. Dieses Mißverhältnis, das derart zwischen der Tragfähigk-; 
und Belastung zu stände kommt, verursacht meiner Meinung i 
die langsame Ent\vicklung der Varusstellung, und da die LrsacL 
dieses Mißverhältnisses die ausgesprochene Atrophie des Schenke 


Fig. 76. 



Luxiitio sin. sanata. 4 Jahre geheilt. 


knochens ist, schreibe ich ebendeshalb der entwickelten Deformität 
symptomatische Bedeutung zu. 

Daß hie und da — wie z. B. in den Fällen Ludloffs — die 
Epiphysenlösung ebenfalls mitwirkte, will ich nicht bezweifeln; diese 
Fälle kann man eine Coxa vara traumatica nennen, bei der der Kopf, 
nach der teilweisen oder gänzlichen Loslösung der Epiphyse, allmäh¬ 
lich eine Verschiebung erlitt. Doch kann hiervon in einem großen Teil 
meiner Fälle nicht die Rede sein. 

Was die Atrophie selbst anbelangt, kann festgestellt werden, daß 
sich dieselbe in meinen Fällen in größerem Maße in dem der Reposition 


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Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 553 

folgenden Zeitabschnitte entwickelte. Dagegen, daß dieselbe einfach 
der Inaktivität zugeschrieben werde, scheint das zu beweisen, daß in 
der großen Mehrzahl der Fälle — unter vollkommen ähnlichen Ver¬ 
hältnissen — Atrophie von solchem Maße nicht gerade zu den gewohnten 
Erscheinungen gehört. Und vielleicht entbehrt auch die Erwähnung 
jenes Umstandes nicht alle Bedeutung, daß ich hochgradigeren 
Knochenschwund besonders bei den verhältnismäßig älteren Kin¬ 
dern antraf, bei denen die Reposition verhältnismäßig sehr schwer 


Fig. 77. 



Liixatiü bilater. sanata. 5.Jahre grheilt. 


gelang. Derartige schwere Repositionen kann man als ein das 
Gelenk und den Schenkelknochen getroffen habendes Trauma, das 
sodann zu akuter reflektorischer Knochenatrophie (S u d e c k) führt, 
betrachten. Ob diese meine Annahme standhält, müßten weitere, 
womöglich pathologische und histologische Untersuchungen ent¬ 
scheiden. 

Der Umstand, daß ich die Coxa vara in so auffallend hoher Zahl 
vornehmlich bei älteren Kindern und nach schwerer Reposition beob- 

Zeitschrift für orthopiklische Chirurgie. WIl. Bd. 36 


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554 


Michael Horvath. 


achtete, ist ein Grund mehr dafür, daß wir die Behandlung der Hüft¬ 
gelenksverrenkung in möglichst jungem Alter beginnen. 

Und nun zum Schluß einige Worte über die Resultate, die Tran5- 
formation des Gelenkes, ihre Neubildung. 

Vor Jahren legte ich im Laufe meines in der Wanderversammlurj^ 
zu Bartfa gehaltenen Vortrages einige Röntgenbilder vor, auf deren 


Fig. 78. 



Luxatio siu. sanat;u 4 Jahre geheilt. 


Grund ich der Ueberzeugung Ausdruck verlieh, daß die Pfanne nach 
der Reposition der Verrenkung ihre normale Gestalt wieder zurück¬ 
gewinnt. Zur Beendigung dieser Umgestaltung ist natürlich eine längere 
Zeit notwendig, und findet man in vielen Fällen, die im funktionellen 
Sinne als ideal geheilte betrachtet werden können, an den das Gelenk 
bildenden knöchernen Teilen noch lange die für die Luxation typischen 
Veränderungen. Daß die Umgestaltung des Gelenkes nicht immer eine voll¬ 
kommene sein wird und daß dieselbe besonders nach bei älteren Kindern 







Beiträge zur Pathologie und Therapie der angeborenen Hüftverrenkung. 555 

vorgenommener Reposition nicht eintreten wird, könnte ich mit sehr 
vielen meiner eigenen Fälle illustrieren. Dafür jedoch, daß das Gelenk 
seine normale Form vollkommen zurückgewinnen könne, gibt es zwei 
unerläßliche Bedingungen: 1. das junge Alter des Kindes 
und 2. die vollständige anatomische Reposition. 

Von einem Dauerresultat natürlich kann man erst nach Ablauf 
mehrerer Jahre sprechen. Die Neubildung des Gelenkes, besonders der 
Wölbung, kann in 2—3 Jahren nicht zum Abschluß gelangen und eben¬ 
deshalb können wir solche Fälle, die wir der Revision einige Jahre nach 


Fig. 79. 



Luxat. dextr. saiiat. 4 Jahre geheilt. 


Beendigung der Gipsperiode unterzogen haben, dazu, daß aus denselben 
die endgültige anatomische Transformation beurteilt werde, nicht für 
geeignet halten. Somit ist es ganz gerechtfertigt, wenn Bade in 
seinem Buch (S. 190) bemerkt: „Diejenigen Autoren, welche sich seit 
Jahren mit der unblutigen Behandlung befassen, hätten wohl die Ver¬ 
pflichtung, jetzt Röntgenbilder von denjenigen Fällen vorzulegen, die 
mindestens seit 4 Jahren ohne jeden Verband sind. Aus diesen würde 
man einigermaßen sich ein Urteil bilden können!“ Dem will ich ge¬ 
nügen, da ich einige solche Kopien vorlege (Fig. 71—79), die ich 
4—9 Jahre nach Beendigung der Gipsbehandlung verfertigte. 


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556 Michael Horvath. Beiträge zur Pathologie und Therapie etc. 

Die Fälle Nr. 1, 2, 10, 14, 17 stammen noch aus jener ersten 
Periode, in der ich das reponierte Bein lange Zeit hindurch fixierte uivd 
mittels Etappenverbänden herunterbrachte. Funktionelle Belastung 
kam eigentlich erst im Verband II und III zur Geltung, sofern ich das 
Kind im ersten Verband gewöhnlich nicht gehen lasse. Die übrigen 
Röntgenbilder wurden nach solchen Fällen verfertigt, bei denen 
(II. Periode) ich die Fixierungszeit bedeutend verkürzte, und die Ad¬ 
duktion der Extremität dem Kinde überließ. Belastung infolge de? 
Gehens begann etwa Y 2 Jahr nach der Reposition. 

Derartige anatomische Heilungen werde ich nach einigen Jahren 
in viel größerer Anzahl vorlegen können, weil die gewünschten 4 Jahre. 
vor deren Ablauf von einem Dauerresultat, der Transformation der 
Gelenkpfanne nicht gesprochen werden kann, eben bei jenen Kindern 
um sein werden. 

Bishin mögen diese etlichen Fälle dafür als Beweis dienen, daß 
unsere Resultate — dank dem großen Fortschritte der Repositions¬ 
und Retentionstechnik — schon dermaßen vollkommen sind, daß wir 
ihnen gleiche aufzuweisen kaum bei einigen von den der Orthopädie 
angehörenden Affektionen im stände sind. 


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XXXI. 

(Aus der orthopädischen Abteilung der chirurgischen Klinik zu Jena.) 

Angeborener Elnmpfuß, entstanden durch Ein¬ 
wirkung amniotischer Fäden. 

Von 

Dr. W. Röpke, Privatdozent. 


Mit 2 Abbildungen. 


lieber die Art und Weise, wie das Amnion die Ursache für das 
Zustandekommen von Mißbildimgen abgeben kann und welche Formen 
dabei entstehen, sind unsere Kenntnisse besonders durch A h 1 f e 1 d 
und V. W i n c k e 1 gefördert worden. Wir wissen heute, daß die Enge 
des Amnion zu partiellen Verwachsungen führen kann, die von stören¬ 
der Einwirkung auf die normale Ausbildung der betroffenen Teile 
während des intrauterinen Lebens sind. 

Durch die nachträgliche Absonderimg des Liquor amnii werden 
die verwachsenen Stellen voneinander entfernt und es entstehen 
Stränge und Bänder, die weiterhin störend sich bemerkbar machen 
können. 

Schon Geoffroy St. Hilaire hatte sich dahin geäußert, 
daß die Verwachsung des Fötus mit seinen Hüllen als die gewöhnlichste 
Ursache der Mißbildungen zu betrachten sei. Auch für Kümmel, 
A h 1 f e 1 d u. a. gilt als feststehend, daß die irreguläre Abhebung des 
Amnion die bei weitem größte Menge der menschlichen Mißbildungen 
überhaupt erzeugt. 

Für den angeborenen Klumpfuß hat man die Möglichkeit einer 
Entstehung durch Einwirkung amniotischer Stränge auch angenommen 
und hat für diese Annahme vor allen Dingen dann Beweise bei der Hand 
zu haben geglaubt, wenn sich neben dem Klumpfuß sonstwo Störungen 
amniogener Natur nachweisen ließen. So in allen den Fällen, wo eine 
Kombination des Klumpfußes mit Schnürfurchen am Unterschenkel 


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558 


W. Röpke. 


gefunden wurde; Bessel-Hagen, JuliusWolff, J oachimf- 
thal, Hoffa und Ewald haben außer einigen anderen solcit 
Fälle beschrieben. 

Nicht immer braucht sich die Einwirkung der amniotiscte 
Fäden in der Form ausgesprochener Schnürrfurchen kenntlich n 
machen, auch oberflächliche zirkuläre und sich trennende Streifei. 
wie sie Ewald an seinem Falle beschrieben hat, können beweä- 
kräftig sein für die Mitwirkimg amniotischer Fäden bei Entwicklui^ 
des kongenitalen Klumpfußes. 

Die Stärke der Eindrücke, die die Fäden hinterlassen, ist eljet 
abhängig von der Dauer der Widerstandsfähigkeit der Fäden, von dei 
Zeit, in welcher die Einwirkung beginnt, und von der Dauer der letz¬ 
teren. 

Je später der Druck dieser Fäden zur Wirkung gelangt, oder je 
frühzeitiger infolge ihrer Widerstandsunfähigkeit die Fäden gespren^ 
werden, desto schwächer ausgeprägt, desto oberflächlicher werden 
später die Eindrücke sein. So werden auch die flachen, zirknläreiL 
narbigen Streifen im Ewald sehen Falle sich erklären lassen^). In 
Fall Bremmenkampf^) war es überhaupt noch nicht zur Aus¬ 
bildung solcher Marken gekommen. Bei dem 4 Monate alten Fotu^ 
umgab ein von der Scheide des Nabelstrangs ausgehender amniotischer 
Strang von 1 mm Dicke den verkümmert erscheinenden linken FuiJ 
in der Knöchelgegend nach Art einer Schlinge. Von der vorderen wScite 
dieser Schlinge zog ein feiner Faden zum rechten Fuß, der den letz¬ 
teren ebenfalls in der Höhe der Knöchelgegend schlingenartig um¬ 
faßte, der rechte Fuß bot nichts Abnormes. Hier war also noch Spiel¬ 
raum zwischen Extremität und umschlingendem Faden und „wohl erst 
im späteren Fötallcben würden diese Fäden zur Einschnürung geführt 
haben“. 

In den Fällen, wo die vorhin erwähnten Einschnürungen und 
Marken als Komplikationen des Klumpfußes gefunden wurden, kann 
man sich die Mitwirkung amniotischer Fäden so vorstellen, daß letztere 
den Unterschenkel gegen die Uteruswand fixierten in einer Stellung, 
welche bei genügender Dauer des von der Uteruswand ausgeübten 
gleichen Druckes die Herausbildung eines vorher normal entwickelten 
Fußes zum Klumpfuß veranlaßte. Je nachdem, ob in den ersten oder 
späteren Monaten der Schwangerschaft dieser Vorgang sich abspielte, 

Ewald, Zeitschr. f. orthop. Chir., Bd. XV. 

Bremmenkampf, Inaug.-Diss. Marburg 1889. 


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Angeborener Klumpfuß, entstanden durch Einwirkung amniotischer Fäden. 559 

werden die Füße die stattgehabte mechanische Abänderung ihres Wachs* 
tums durch einen ungewöhnlichen atypischen Bau noch erkennen 
lassen; oder sie sind als aus vorher normal entwickelten Füßen in 
späterer Entwicklungsperiode entstandene, sekundäre Deformitäten 
charakterisiert. 

Die Wirkung amniotischer Bänder kann aber auch direkt am 
Fuß einsetzen, wie in dem Falle von J e n s e n. Es handelt sich hier 
um einen Tmonatigen Fötus. Der linke Fuß steht in Varusstellung und 
ist in diese Stellung gezwungen durch ein an der Vorderfläche des 
rechten Oberschenkels sich inserierendes Band. Bei Annäherung des 


Fig. 1. 



Fußes an den Oberschenkel, also bei Erschlaffung des Bandes, ver¬ 
bessert sich die Stellung etwas. Die große und kleine Zehe sind normal 
entwickelt, an Stelle der zweiten Zehe finden sich zwei kleine warzen¬ 
förmige Hautanhänge. Die dritte und vierte Zehe, zwischen denen das 
Ligament sich inseriert, hängen mehr oder weniger mit demselben zu¬ 
sammen und entbehren der Nägel. Der rechte Fuß ist ein exquisiter 
Pes calcaneus ohne sonstige Störungen. 

Dies wäre ein durchaus einwandsfreier Fall. Auch der von 
H o f f a^) erwähnte muß hierher gerechnet werden, bei diesem bestand 
neben doppelseitigen Klumpfüßen auf der einen Seite eine starke am¬ 
niotische Schnürfurche am Unterschenkel, gleichzeitig fehlten an dem 

*) Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie. 4. Aufl. 


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560 


W. Röpke. 


betre£Eenden Fuß einige Zehen und ebenso bestand ein Pingerdefekt an 
der Hand. 

Mein Fall, den ich hier erwähnen möchte, betrifft einen 1 ^/2 Monate 
alten Knaben, der, abgesehen von abnormen Zuständen an beiden 
Füßen, noch Defekte an den Fingern der rechten Hand aufzuweisec 
hatte. Der rechte Fuß ist ein ausgesprochener Hackenfuß, der linke 
dagegen ein Klumpfuß. 

Die Form dieses Fußes ist besonders auffällig. Die Großzebe 
steht medianwärts abduziert und innenrotiert und ist bedeutend im 


Fig. 2. 



Längenwachstum zurückgeblieben. Die übrigen Zehen stehen latmi 
abduziert und plantar eingerollt. 

Wenn man die Zehen dorsal flektiert und den Fuß, soweit 
möglich ist, streckt, erkennt man eine narbig glänzende Schnürfurch^ 
die, imter dem Ballen der fünften Zehe beginnend, quer über die YvS- 
sohle proximal von den Zehenballen nach dem Spatium I verläuft 
über welcher distal die Zehenballen als kräftige Wülste stark vor¬ 
springen. 

Die Schnürfurche setzt sich im Spatium I fort und läuft an der 
Basis der großen Zehe über deren Dorsum hinweg. Ueberläßt man der 
Fuß sich selbst, so sieht man, wie er, der im übrigen ausgesprochene: 


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Angeborener Klumpfuß, entstanden durch Einwirkung amniotischer Fäden. 50 J 


Klumpfuß ist, distal von der geschilderten Furche scharf nach vorn 
überfällt, indem die Zehen abduziert stehend, sich einrollen, mit Aus¬ 
nahme der großen Zehe, welche ihre stark abgespreizte Stellung bei¬ 
behält. 

Der ganze Fuß ist im Wachstum zurückgeblieben, auch der 
Unterschenkel ist schwächer entwickelt als der rechte. Die größte 
Länge des Fußes vom Hacken bis zur Spitze der zweiten Zehe gemessen 
und bei gestrecktem Fuß beträgt links 7 cm, während der rechte Fuß 
fast 9 cm lang ist. Diese Beschränkung des Wachstums gibt sich deut¬ 
lich zu erkennen bei Betrachtung der Röntgenbilder. Sämtliche Knochen 
des linken Fußes treten an Größe hinter denen der rechten Seite zurück. 
Was aber am meisten auffällt, sind die Veränderungen an den Kon¬ 
turen des II. bis IV. Metatarsus in ihrem distalen Drittel. Deutlich 
erkennt man eine Konkavität an deren lateraler Seite. Es sind aus¬ 
gesprochene Knickungen, die sich hier durch Uebereinanderschieben 
der lateralen Corticaliskonturen zu erkennen geben. 

Außer den Veränderungen an den Füßen findet sich noch eine 
Verstümmelung der rechten Hand. Vom fünften und vierten Finger 
sind nur noch minimale Weichteilstümpfe vorhanden, während der 
Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen tiefe zirkuläre Schnürfurchen 
auf weisen. 

Wir werden ohne weiteres die Amputation des fünften und vierten 
Fingers und die tiefen, feinen, zirkulären Einschnürungen an den 
übrigen Fingern der rechten Hand der Einwirkung amniotischer Stränge 
zur Last legen, wenn auch nichts von Fädenresten mehr vorhanden, 
oder bei der Geburt beobachtet worden ist. 

Wir wissen ja, daß trotz der Häufigkeit der sogen. Spontan¬ 
amputation einzelner Extremitäten oder von Teilen derselben nur 
selten amniotische Rudimente noch vorgefunden wurden, aber die 
wenigen einwandsfreien Fälle, bei denen in den Einschnürungen haftende 
Fäden beobachtet wurden, sind beweiskräftig genug, um gleichartige 
pathologische Zustände auf die gleiche Ursache zurückführen zu können. 

So ist auch die narbige Furche, die über das distale Drittel der 
Fußsohle nach dem Spatium I und durch dieses hindurch auf das 
Dorsum der Großzehe zieht, mit solchen Fäden in ursächlichen Zu¬ 
sammenhang zu bringen. 

Der Strang hat offenbar bei seinem eigenartigen Verlauf um die 
Großzehe diese medialwärts abgespreizt in dieser Stellung fixiert ge¬ 
halten, den Fuß an der Innenseite in seiner Längenentwicklung ge- 


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562 


W. Röpke. Angeborener Klumpfuß etc. 


hindert. Der übrige Fuß distal des Stranges wurde durch den an¬ 
drängenden Uterus über den Strang plantarwärts gedrückt, wobei die 
übrigen Zehen lateral abwichen. 

Diese Einwirkung muß wohl lange und kräftig genug statt¬ 
gefunden haben, dafür spricht das hartnäckige Bestreben des Vorder¬ 
fußes, in dieser Narbenlinie immer scharfwinklig plantarwärts abzu¬ 
knicken, die Wachstumshemmung und vor allem der Befund an den 
Metatarsalknochen. Dieser letztere eben deutet auf eine Ablenkung 
der Wachstumsrichtung dieser Knochen, entstanden infolge der lang- 
dauernden mechanischen Einwirkung des Stranges und des andrängen¬ 
den Uterus. Es ist ausgeschlossen, daß eine direkte Einwirkung auf 
die Knochen während ihrer Entwicklung stattgefunden hat, da die 
bedeckenden Weichteile bis auf die narbige Schnürfurche der Haut 
sich intakt erwiesen. 

Die Behandlung bestand in Anlegung eines redressierenden Ver¬ 
bandes aus Heftpflasterstreifen und Gipsbinden, welcher 3 Wochen 
liegen blieb. Nach Abnahme des Verbandes war die Klumpfußstellung 
beseitigt. 

Die Verkürzung der großen Zehe war nicht ausgeglichen, letztere 
verharrte in der abgespreizten Stellung, ebenso wiesen die übrigen 
Zehen noch die Neigung auf, lateral abzuweichen und sich plantar 
einzurollen, wenn dieses auch nicht mehr in dem Maße stattfand, wie 
vor der Behandlung. 

Anmerkung. Die Zeichnung ist nach^dem Röntgenbilde angefertigt, da 
die Einzelheiten auf den Abzügen nicht deutlich in die Erscheinung traten. 


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XXXIL 

(Aus dem pathologlsclien Institut der Universität Berlin.) 


lieber multiple kongenitale (xelenkdeformitäten. 

Von 

Max Meyer, Medizinalpraktikant* 

Mit 4 Abbildungen, 

Während die kongenitale Hüftgelenksluxation gerade kein sel¬ 
tenes Leiden ist, gehören angeborene Verrenkungen an anderen Ge¬ 
lenken nicht zu den alltäglichen Vorkommnissen. Es sind die kon¬ 
genitalen Verrenkungen symptomatisch und pathologisch-anatomisch 
von den traumatischen und entzündlichen scharf zu trennen; im wesent¬ 
lichen handelt es sich bei ihnen um fötale Mißbildungen. Die Gelenk¬ 
kapsel ist im Gegensatz besonders zu den traumatischen völlig imver- 
sehrt, nur Stellungsanomalien der Gelenkenden liegen vor. Aber auch 
vom ätiologischen Standpunkte dürfte eine Differenz gegenüber der 
gewöhnlichen erworbenen Luxation zu verzeichnen sein, insofern 
wenigstens nicht nur mechanische Einwirkungen, vielmehr auch eine 
fehlerhafte Kapselentwicklung für die Entstehung der Luxation ver¬ 
antwortlich gemacht werden müssen. Das letzte Moment erfreut sich 
jedoch nicht allgemeiner Anerkennung. Deshalb erscheint mir die 
Mitteilung eines Falles gerechtfertigt, der, wenn er auch nicht im stände 
ist, diese Frage ganz zu klären, jedenfalls doch zu ihrer Klärung bei¬ 
tragen kann imd auch nach anderer Richtung manches Interessante 
bietet. Es handelt sich um einen männlichen Fötus, der dem patho¬ 
logischen Institut der Universität Berlin übergeben wurde. 

Die Sektion des 42' cm langen männlichen Fötus, über dessen 
Herkunft leider nichts bekannt ist, ebensowenig wie über den Geburts¬ 
verlauf und die Fruchtwassermenge, ergab an den inneren Organen 
keinen pathologischen Befund. Die Lungen waren noch atelektatisch. 


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564 


Max Meyer. 


Das Foramen ovale war noch nicht geschlossen, die distalen Femur¬ 
epiphysen enthielten keinen Knochenkem. 

Die erheblichsten Deformitäten fanden sich an den unterem 
Extremitäten. 


Fig. 1. 



Röntgenbild der beiden unteren Extremitäten. 

Rechte Extremität von vorn, linke Extremität infolge der Außenrotation 
von der medialen Seite aufgenommen. 

Das rechte Kniegelenk war ein Schlottergelenk. Die Haut wies 
mehrere Falten auf, die Patella war nicht zu palpieren, passive Beu¬ 
gung, Streckung und Ueberstreckung in ergiebigstem Maße möghch. Das 
Röntgenbild (Fig. 1) zeigt, daß die Epiphysen ebenso die Patella noch 
keine Knochenkerne enthalten. Ich präparierte die Muskeln und fand 


Diaitized bv Goo<^Ie 







Ueber multiple congenitale Gelenkdeformitäten. 


565 


sie alle intakt bis auf den Quadriceps, der im ganzen, besonders aber 
der M. rectus femoris, etwas atrophiscli war. Das Lig. patellae war in 
der Kapsel nicht einmal als Verstärkung zu sehen. Bei Eröffnung der 
sehx dünnen Gelenkkapsel fand sich die Patella von normaler Größe 
subkapsulär gelegen, aber nach oben auf die Vorderfläche des Femur 
verlagert so, daß die Apex patellae noch oberhalb des oberen Randes 
der Facies patellaris femoris gelegen war, wie es in der Abbildung 
(Fig. 2) zu sehen ist. Ein Gelenkerguß war nicht vorhanden. Die 
Ligg. cruciata zeigten sich erheblich verlängert, die Menisci waren 
beide gut ausgebildet. 

Am rechten Fuß war das C h o p a r t sehe Gelenk ebenfalls 
schlotternd; zugleich bestand ein Pes equino-varus mit Kontraktur 
der Achillessehne. 


Fig. 2. 



Rechtes Kniegelenk in der Ansicht 
von vorn. 

Ap Apex patellae in natürlicher Lage 
nach Eröffnang des Gelenkes. Fp Facies 
patellaris femoris (leer). Lc Ligg. 
cruciata. 


Fig. 3. 



Linkes Kniegelenk durch einen Längs¬ 
schnitt medial von der Patella eröffnet. 
P Patella, CI Condylus lateralis, 
Cm Condylus medialis femoris. 


Das linke Knie war hyperextendiert, Flexion völlig unmöglich, 
wie überhaupt fast völlige Bewegungsunmöglichkeit im ganzen Gelenk 
bestand. Die Haut der Vorderseite war glatt, die Kniekehlenfalte 
zwar angedeutet, die Regio poplitea dagegen etwas kugelig vorgewölbt. 
Hier war die Patella an normaler Stelle zu palpieren. Die Femurkondylen 
waren undeutlich in der Kniekehle zu fühlen. Der Unterschenkel 
stand in Außenrotation. Das Röntgenbild zeigt dieselben Verhältnisse 
wie rechts, nur kommt die Außenrotation zum Ausdruck, insofern die 
Fibula hinter der Tibia liegt, sie ist als stärkerer Schatten in dem 
Tibiaschatten sichtbar. Es handelt sich — das sei ausdrücklich be¬ 
merkt — nicht um einen Fibuladefekt. Auch hier präparierte ich die 


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566 


Max Meyer. 


Muskeln und konnte keine Abweichung von der normalen Anatoin^ 
feststellen. Die Gelenkkapsel war unversehrt, reichliches Fett in df: 
BLniekehle. Dort waren jetzt die beiden Femurkondylen stark pro¬ 
minent. Als ich das Gelenk vom durch einen medial geleg^enen Lär^ 
schnitt eröffnete, fand sich die Patella von normaler Größe etwas nari 
oben verlagert, der mediale Kondylus des Femur war nach hint^ 
und seitwärts über den etwas abgeschrägten Margo glenoidalis tibiae 
herabgerutscht. Der laterale Kondylus stand über der Eniinenri- 
intercondyloidea (Fig. 3). Die Gelenkflächen der Tibia sind nä* :: 
hinten verlagert, die Ligg. cruciata in ihrer Länge kaum von der Xorrt 
abweichend — ich habe zum Studium der normalen Verhältnisse eiiif 
Anzahl normaler Gelenke bei Totgeborenen und Föten eröffnet — 
die Menisci sind vorhanden, aber im ganzen auch etwas nach hinten 
gesunken, wie gewöhnlich mit der Kapsel verwachsen. 

Auch am linken Fuß war das C h o p a r t sehe Gelenk schlotternd, 
es bestand wie rechte ein Pes equino-varus mit Achillessehnenkontra kt ur. 

Die oberen Extremitäten wiesen geringere Deformitäten auf. 

Das rechte Ellbogengelenk bot äußerlich keine auffälligen Ver¬ 
änderungen. Es war passiv frei und normal beweglich. Das Röntgen- 
bild zeigt den Unterarm in Supinationsstellung. Den Bandapparat 
fand ich etwas schlaff. 

Desgleichen bestanden zwischen Carpus und Metacarpus Schlotter¬ 
gelenke geringen Grades. 

Das linke Ellbogengelenk bot dagegen auffälligere Veränderungen, 
zuer.-t seine Funktion betreffend. Maximale Streckung ist unmöglich, 
der Vorderarm wird etwas proniert gehalten und ist nicht total zu 
supinieren. Am Gelenk ist nichts Pathologisches zu palpieren. Auf dem 
Röntgenbild (Fig. 4) kommt die Pronationsstellung zum Ausdruck in der 
Kreuzung von Radius und Ulna. Denkt man sich den Radius in seiner 
Achse verlängert, dann schneidet dieser die Humerusachse oberhalb 
der Epiphysenlinie, woraus schon ersichtlich ist, daß keine normale 
Gelenkverbindung zwischen Radius und Humerus bestehen kann, 
ebensowenig ist eine solche zwischen den proximalen Epiphysen von 
Radius und Ulna denkbar, da eine erhebliche Divergenz proximal 
an diesen besteht. An den Muskeln ließen sich keine Besonderheiten 
nachweisen, die ganze Muskulatur nur war in ihrer Lage etwas verzerrt. 
Man fühlte nach Präparation der Muskeln deutlich durch, daß das 
Radiusköpfchen nach vorn luxiert war und bei Eröffnung der 


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Ueber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten. 


567 


intakten Kapsel fand es sich auf der Vorderfläche des Humerus, 
an dessen Epiphysenende jegliche Andeutung von Eminentia capi- 
t^ata fehlte. 

Auch fanden sich zwischen Carpus und Metacarpus der linken 
Hand erheblich schlotternde Gelenkverbindungen. 

Es bleibt mir noch übrig zu erwähnen, daß beide Schultergelenke 
einen derartig schlaffen Bandapparat besaßen, daß eine völlige Rotation 


Fig. 4. 



Röntge ubild der beiden oberen Extremitilten in ihrer Haltung zum Rumpf von vorn. 
Vorderarme in Supinationsstellung, beide Arme jedoch im Schultergelenk vollkommen nach 

innen rotiert. 


nach innen möglich war, was auch auf dem Röntgenbilde zum Ausdruck 
kommt: die Arme sind bei dem auf dem Rücken liegenden Fötus ganz 
nach innen rotiert, was aus der in ihrem ganzen Querdurchmesser 
sichtbaren distalen Humerusepiphyse besonders links hervorgeht und 
aus der Haltung der Hände. Die Supinationsstellung rechts ist also 
von der dorsalen Seite des Unterarms aufgenommen. 

Ob an den anderen Gelenken eine besondere Schlaffheit der 
Kapseln und Bänder bestand, will ich nicht entscheiden, da man geringe 
Grade dieses Zustandes bei der normalerweise bei Föten und Neu- 


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568 Max Meyer. 

geborenen vorhandenen Nachgiebigkeit des Bandapparates immögli : 
diagnostizieren kann. 

Ich fasse zusammen, was sich in unserem Falle fand: 

1 

1. an den unteren Extremitäten ! 

I 

a) Schlottergelenke zwischen Tarsus und Metatarsus, P- 
equino-varus utriusque lateris; 

b) Subluxatio genu congenita sinistra; 

c) Schlottergelenk des rechten Knies mit Dislokation dt' 

Patella nach oben; • * 

2. an den oberen Extremitäten 

a) Schlottergelenke zwischen Carpus und Metacarpus beider . 
seits; 

b) Luxatio radii antica congenita sinistra; 

c) Schlaffheit der Bänder und Kapsel des rechten Ellbogen- 

gelenkes ; 1 

d) Schlaffheit der Articulatio humeri utriusque lateris. 

t 

Dieser Fall, glaube ich, ist geeignet, zur Klärung mehrerer Fragen 
beizutragen, die über die Entstehung und Entstehungsbedingunger. 
der kongenitalen Luxationen, besonders der des Kniegelenkes und 
des Radius aufgeworfen worden sind. 

Betrachten wir zuerst die Pathogenese der kongenitalen Knie¬ 
gelenksluxation. Dreh in a n n^) hat in seiner Arbeit im Jahre | 
die vorher erschienene Literatur so eingehend und kritisch behandelt, 
daß wir sie füglich vernachlässigen und von seiner Bearbeitung ausgeheii 
können. Nur wo wir der Ansicht der früheren Autoren beizupflichten 1 
für notwendig erachten, werden wir sie berücksichtigen. 

D r e h m a n n hat es sich hauptsächlich zur Aufgabe gemacht, 
die Beziehungen zwischen Genu recurvatum congenitum und Luxati*: 
genu antica congenita zu untersuchen. Dabei kommt er zu dem Ergebniv 
daß das Genu recurvatum congenitum das erste Stadium einer j 
kongenitalen Luxation, das durch eine abnorme Steigerung der Ex- * 
tensionsbewegung bei sonst normaler Beugebewegung ohne Versehiebuni: j 
der Feinurkondylen nach hinten sich charakterisiere. Häufiger komme ■ 

Dreh mann, G., Die kongenitalen Luxationen des Kniegelenks i 
Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 7 S. 459. Vgl. auch Handb. d. orthop. Chir., herausgeg. ' 
von J o a c h i m s t h a 1 II, 2, S. 440. 1 


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I 



Ueber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten, 


569 


d£ts zweite Stadium und zwar in der Regel nur bei Neugeborenen 
zur Beobachtung, von einigen Autoren fälschlich als „(Jenu recurvatum 
congenitum“ bezeichnet, sonst landläufig „kongenitale Luxation“ be¬ 
nannt. Es handle sich eigentlich um eine Subluxation, für die aber mit 
Recht die Bezeichnung „Luxation“ beibehalten werde, weil aus ihr, 
falls sie imbehandelt bleibt, die totale Luxation sich zu entwickeln 
pflegt. Sie besteht klinisch in einer Hyperextensionsstellimg bei völliger 
aktiver imd passiver Flexionsunmöglichkeit, pathologisch-anatomisch 
in einer Luxation der Femurkondylen nach hinten oder, da man sich 
daran gewöhnt hat, immer den distalen Knochen als den luxierten 
zu betrachten, in einer Luxation der Tibia auf die Gelenkfläche der 
Patella. Diese bei der Geburt höchst auffällige Deformität fordere 
in der Regel sofort die Therapie heraus, weshalb das dritte Stadium, 
die totale Luxation, die sich nur durch die unverletzte Gelenkkapsel 
von der traumatischen unterscheide und im späteren Leben durch die 
infolge des Gehens hervorgerufene Belastung, oft nur durch aktive 
Beugungsversuche oder Manipulationen der Mutter zur Korrektur der 
Deformität schon, bevor das Gehen erlernt wird, zu stände kommt, 
nur selten beachtet wird. Er führt als einzigen einwandfreien Fall von 
totaler Luxation den von J. Wo 1 f f i) an, in dem sich sogar ganz wie 
bei der traumatischen Hyperextensionsmöglichkeit fand, was also 
durchaus nicht zur Auffassung derartiger Talle als Genua recurvata 
congenita berechtige, wie P o t e 1 es tue. 

Nun kann ich diesem Fall allerdings noch einige aus der neueren 
Literatur hinzufügen. Reiner^) beschreibt einen Fall totaler kon¬ 
genitaler Kniegelenksluxation bei einem 8jährigen Knaben, M a g n u s^) 
teilt 3 Fälle totaler angeborener Kniegelenksverrenkimg bei drei Ge¬ 
schwistern mit: bei einem Mädchen von 4^4 Jahren und zwei Knaben 
von 272 und ^4 Jahren. Schließlich finde ich inBacilieris^) Arbeit 
noch 2 Fälle: den von Kocher selbst untersuchten 27jährigen Korb- 


^) W o 1 f f, J., Ueber einen Fall von willkürlicher angeborener Kniegelenks¬ 
luxation nebst anderweitigen angeborenen Anomalien fast sämtlicher Gelenke 
des Körpers. Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 2 S. 23. 

Reiner, M., Ueber einen blutig reponierten Fall von angeborener 
Kniegelenksluxation. Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 13 S. 442. 

Magnus, P., Ueber fötale kongenitale Luxationen der Kniegelenke 
bei drei Geschwistern. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 78 8. 555. 

Bacilieri, Luciano, Ueber kongenitale Luxationen im Kniegelenk. 
Archiv f. Orthop., Mechanotherapie u. Unfallcliirurgie Bd. 3 S. 213. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 37 


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570 


Max Meyer. 


macher und den Fall von J o a c h i m s t h a 11) bei einem 2 Monate 
alten Mädchen. 

Zwar spricht Reichel^) nur von dem seltenen V^orkommet 
der totalen Luxation und führt die meisten Fälle, wie P h o c a s^) e 
getan, als Genua recurvata congehita an. Diese sind aber in Wirk' ‘ 
lichkeit seltener, am häufigsten findet sich die Subluxation. Es ist 
also Drehmann nicht gelungen, die Verwirrung ganz zu beseitigeii, 
wie mir scheint, weil er die am häufigsten vorkommende Defomiiü:, ' 
die Subluxation, nicht bei ihrem richtigen Namen nannte. Wir habei 
doch den übrigens recht guten Ausdruck, es wäre also wünschenswert, j 
wenn er für die kongenitalen Kniegelenksdeformitäten, die durtl 
Hyperextension und Flexionsunmöglichkeit ohne präfemorale Tibia¬ 
dislokation ausgezeichnet sind, allgemein angenommen würde. Ist auct 
die Tibiaepiphyse vor die Femurepiphyse gerückt, dann spreche man . 
von kongenitaler Kniegelenksluxation. Damit sind zugleich die drei 
Stadien: Genu recurvatum congenitum, Subluxatio i 
genu congenita imd Luxatio genu antica (totalis) ’ 
congenita präzis auf Grund ihres pathologisch-anatomischen 
Befundes benannt. I 

Die korrekte Bezeichnung „Subluxation“ hat bereits Wehsarg"^) 
gewählt, er beschreibt 3 Fälle dieser Deformität des Kniegelenks: bei 
einem Neugeborenen doppelseitige Subluxation mit allen charakte¬ 
ristischen Symptomen und fehlerhafter Patella, bei dem auf der einen , 
Seite die Reduktion spontan eingetreten ist, auf der anderen Seite 
leicht durchzuführen war und ohne fixierenden Verband bestehen blieb; 
bei einem 4jährigen Knaben doppelseitige Subluxation mit Patcllar- 
defekt; bei einem 22jährigen Mann ein angedeutetes Genu recurvatum 
congenitum dextrum, das natürlich keinen Anlaß zur Ausbildung einer 
Luxation geben konnte, und eine linkseitige Subluxation, die merk- } 
würdigerweise nicht zur Luxation sich entwickelt hat; außer dem ^ 
Fall II von Krönlein^), der einen 20jährigen Mann .betrifift, sei 
keine weitere präfemorale angeborene Subluxation nach dem 9. Jahre 1 
in der Literatur aufgeführt. 

') Joachimsthal, Geheilte angeborene Knie- und Hüftgelenksluxation ^ 
{Freie Vereinigung d. Chirurgen Berlins; 12. Januar 1903) zitiert nach Bacilieri. 

Reichel, Handb. d. prakt. Chir. 1907, Bd. 5. 

P h o c a s, zitiert nach D r e h m a n n. , 

*) W e h 8 a r g, R., Ueber die kongenitale Subluxation des Kniegelenkes. ' 
Archiv f. Orthop., ^lechanotherapie u. Unfallchirurgie Bd. 3 S. 197. 1 

K r ö n 1 e i n, zitiert nach W e h s a r g. I 


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üeber multiple kongenitale Gelenkdefoimitäten. 


571 


Wehs arg erkennt die Pathogenese der kongenitalen Knie¬ 
gelenksluxation, die von Drehmann begründet worden ist, an; 
während Magnus und Perthesi) glauben, sie deshalb ablehnen 
zu müssen, weil sie bei einem 7^ Jahre alten Knaben eine totale Lu¬ 
xation beobachtet haben, die, ohne daß von Belastung beim Gehen die 
Rede sein konnte, vorhanden war; sie nehmen an, daß diese bei der 
Geburt bestand. Es hat aber Drehmann betont, daß die Belastung 
beim Gehen zum Zustandekommen der Luxation nicht einmal er¬ 
forderlich ist, es genügen unrichtige Repositionsversuche seitens der 
Hebamme oder der Mutter oder besonders aktive Beugungsinner¬ 
vationen des Kindes, um eine totale Luxation herbeizuführen; wir 
wissen ja, daß die Beugung auch beim Mechanismus der traumatischen 
Luxation eine große Rolle spielt. 

Ich glaube, Drehmanns Darstellung von der Entstehung 
der angeborenen Kniegelenksluxation verdient unbedingte Anerkennung. 
Es liegt mir fern, auf Grund meines Falles nur dieses auszusprechen. 
Indes liefert er einerseits eine Bestätigung des Gesagten, anderseits 
gestattet er die Kritik der Widersprüche. Das rechte Kniegelenk ist 
ein Schlottergelenk, das wir doch als nichts anderes auffassen können, 
als einen hohen Grad von Genu recurvatum congenitum im Sinne 
Drehmanns, denn es besteht Hyperextensions-und Flexionsmög- 
lichkeit in maximalem Grade, es unterscheidet sich von dem Genu 
recurvatum congenitum s. str. nur dadurch, daß bei letzterem eine 
fixierte Hyperextensionshaltimg besteht. Links haben wir eine deutliche 
Subluxation. Es war also links die KapselerschlafFung nur ausreichend 
gewesen, die Subluxation zu ermöglichen, nach deren Eintritt die 
Extremität ein starres Glied darstellt. Ich sehe in diesem Stadium 
keine Möglichkeit für das Zustandekommen einer sekundären totalen 
Luxation in utero, die doch nur in einem mechanischen Momente zu 
suchen wäre. Will man dieses aber ablehnen imd allein die Kapsel¬ 
erschlaffung für die Entstehung der Luxation verantwortlich machen, 
dann glaube ich dem durch den Hinweis auf das rechte Kniegelenk be¬ 
gegnen zu können. Bei schlafferer Kapsel wird sich zuerst eben ein Genu 
recurvatum congenitum und schließlich ein Schlottergelenk ausbilden. 

Damit habe ich bereits eine ätiologische Frage gestreift. Schon 
Krönlein^) sagt mit Recht, daß nirgends in der Medizin so viel 

^) Perthes, Zur Pathologie und Therapie der angeborenen Luxation 
des Kniegelenkes. Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 14 S. 629. 

Krönlein, Die kongenitalen Luxationen in der „deutschen Chirurgie“. 


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572 


Max Meyer. 


die Phantasie und Spekulation mehrerer Autoren sich betätigt hat^ 
wie bei der Frage nach der Aetiologie der kongenitalen HüftgelerJr- 
Verrenkung, und Drehmann führt aus, daß alle über deren El: 
stehungsursachen aufgestellten Theorien auch zur Erklärung der 
Aetiologie der kongenitalen Eniegelenksluxation herangezogen worden: 
sind. So sind wir denn über diese Frage noch recht wenig klar, es smc 
uns eigentlich, wenn wir ehrlich sein wollen, nur die Entstellungs¬ 
bedingungen sicher bekannt. 

Man hat Theorien aufgestellt, die die kongenitale Kniegelenb- 
luxation sowohl als primäre wie als sekundäre angeborene Deformiu: 
erklären sollen. 

Strohmeyer und nachher J. Wo 1 ff glaubten die Ursaclf 
der kongenitalen Kniegelenksluxation in einer abnormen Schlaffheit 
und Lockerheit des Bandapparates suchen zu müssen. Diese wäre 
dann als primäre Keimesvariation anzusprechen, wie sie als familiäre 
primäre Keimesvariation in den Fällen von Magnus und Perthes 
sich findet, teilweise vielleicht auch als vererbte KeimesvariatioiL 
Für die kongenitale Hüftgelenksluxation nämlich ist das erbliche 
Vorkommen für einen Teil der Fälle von Krönlein i) nachgewiesen. 
für die kongenitale Kniegelenksluxation noch nicht; nur ein Fall von 
angeborener vererbter Verbildung beider Kniee (Genua valga) ist Ycm 
Roskoschny2) beschrieben worden, der aber vielleicht nicht hierher 
gehört. Es genügt aber die angeborene Schlaffheit und Lockerheit des 
Bandapparates allein wohl nicht, wie ich unten auszuführen gedenke, 
es wäre dann das nachweislich nicht erbliche Vorkommen der angeborenen 
Kniegelenksverrenkung auf das häufigere Fehlen der Hilfsmomente, 
teilweise auch auf mangelnde Erfahrung zurückzuführen. 

P o t e 1 nimmt an, daß es sich um eine primäre Retraktion der 
Streckmuskulatur handelt, welche eine Entwicklungshemmung zur 
Folge haben soll. Indessen wird eine solche Retraktion weder besonders 
häufig beobachtet, wo sie vorkommt — wie auch in unserem Falle — 
ist sie sicher das sekundäre, ein Inaktivitätszeichen. 

Als sekundäre angeborene Deformität suchte zuerst Müller^ 
die kongenitale Kniegelenksluxation zu erklären, imd zwar glaubt er 

^) Vgl. die von K r ö n 1 e i n aufgestellten Stammbäume. 

Roskoschny, Ein Fall von angeborener vererbter Verbüdung 
beider Knie- und Ellbogengelenke. Deutsche Zeitschr. f. Chir. Bd. 76 S. 569. 

Mülle r, C., Uebcr kongenitale Luxationen im Knie. Arbeiten aus 
der Chirurg. Universitätspoliklinik zu Leipzig. Heft 1. Leipzig 1888. 


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üeber multiple kongenitale Gelcnkdeformitäten. 


573 


mechanisclie Ursachen, Fruchtwassermangel und dadurch bedingte 
Raumbeengung in utero, für ihre Entstehung anschuldigen zu müssen, 
es handelt sich dann also um eine „intrauterine Belastungsdeformität“, 
Seine Theorie stützt sich auf die Beobachtung, daß häufig die Kinder 
mit nach oben geschlagenen Beinen zur Welt kommen und daß Mangel 
an Fruchtwasser in der Anamnese berichtet wird. Potel wendet mit 
Unrecht dagegen ein, daß letzterer Umstand nicht beteiligt sein könne, 
weil dann der Fötus keinen Platz habe, aus normaler Haltung in eine 
Zwangshaltimg überzugehen; es ist nämlich sehr wohl möglich, daß 
dieser seine Zwangshaltimg zu einer Zeit eingenommen hat, wo die 
Fruchtwassermenge noch normal war, und daß sie erst im Verlaufe 
der Schwangerschaft sich abnorm verringert hat. 

Drehmann, der einerseits den Einwand P o t e 1 s für berech¬ 
tigt hielt, anderseits aber fand, daß ebenso oft Fruchtwassermangel 
wie Fruchtwasserfülle angegeben wurde, glaubte daher diesem Momente 
nicht so viel Bedeutimg beimessen zu können, und da er fernerhin 
auch die Richtigkeit der Beobachtimg zugestehen mußte, daß die be¬ 
treffenden Kinder mit nach oben geschlagenen unteren Extremitäten 
zur Welt kamen, mußte er zur Stütze der Belastimgstheorie annehmen, 
daß es entweder schon bei der Differenzienmg der Gelenke gar nicht 
zu einer Beugestellung des Kniegelenks komme oder aber, daß das 
Bein zu einer Zeit, wo die obere Körperhälfte die untere bedeutend 
überragt, imd so die unteren Extremitäten in ihren geringen Propor¬ 
tionen freieren Spielraum haben, in Strecksteilung gebracht werde. 
Entstehe dies zu einer Zeit, in welcher die Muskulatur noch nicht völlig 
ausgebildet ist, zu welcher Annahme wir nach dem Verhalten der Pa¬ 
tella berechtigt seien, so könne das Bein längere Zeit in dieser ab¬ 
normen Strecksteilung liegen bleiben. Der Fuß, irgendwo am Kinn 
oder in der Achselhöhle festgehalten, hindert das Bein selbst bei 
reichlichem Fruchtwasser, da es jetzt in der Proportion an Länge zu¬ 
genommen hat, wegen der Eihäute und Uteruswandungen, in Beuge¬ 
stellung überzugehen. Beim weiteren Wachstum der Extremität in 
dieser Zwangsstellung entstehe, wie wir es bei erworbenen Deformitäten 
annehmen, durch die Belastung in einer von der normalen abweichen¬ 
den Haltung die Deformität. Zunächst komme es wohl zu einer ein¬ 
fachen Ueberstreckung des Knies, Genu recurvatum, später zum Ab¬ 
gleiten der Gelenkflächen voneinander; dann gebe entweder das 
Hüftgelenk oder das Kniegelenk oder es geben beide nach. 

Dieser Theorie schließt sich W e h s a r g bis auf einen Punkt an. 


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574 


Max Meyer. 


er kann nicht zugeben, daß der Fötus schon in den ersten Monat-i 
die falsche Stellung einnimmt; er führt einerseits einen Fall an. wo i 
Kniekehlenfalte erhalten war — wir haben das auch an unserem Fcri* 
gesehen —, anderseits fand er in der Anamnese eines seiner Fälle, 
die Mutter in der letzten Zeit vor der Gebiut sehr heftige 
bewegungen verspürt habe, dasselbe gibt B 1 a n c i) in seinem Falle ai 
Ich möchte nicht verfehlen auf die stark subjektive Färbung solci>: 
Mitteilungen aufmerksam zu machen, immerhin kann man in d-: 
Anamnese darauf achten. 

Mir scheint keine dieser Theorien allein zur Erklärung der Er:- 
stehung der kongenitalen Kniegelenksluxation zu genügen. Wem 
wir uns mehr an die Tatsachen halten, brauchen wir, glaube ich, vfi 
weniger theoretische Annahmen, die doch nur Gegenstand des 31 ei* 
nimgsstreites sind, zugleich aber können wir auf bestimmte Vorkoimn- 
nisse unser Augenmerk richten und so vielleicht eine endgültige Ei- 
klänmg finden. 

In fast einem Viertel der Fälle bestehen nachweisliche Deformi¬ 
täten und Veränderungen an anderen Gelenken, welche auf Ver¬ 
änderungen des Kapselapparates schließen lassen. Unser Fall zeif. 
dies besonders exquisit. Leider war das Material nach der Pra- 
paration der Muskeln nicht mehr zur mikroskopischen Untersuchunf 
geeignet. Sie ist künftig zuerst in einem solchen Fall vorzimehmeit 
Sollte sich diese berechtigte Vermutung, die übrigens von Perthes 
und B a c i 1 i e r i im großen und ganzen geteilt wird, bestätigen, dann 
erblicke ich in dieser Kapselerschlaffung Grund genug für das Eintreten 
pathologischer Haltungen; Gelenke mit schlaffen Kapseln sind eben 
leichter beweglich. Ob die Kapselerschlaffung als ein Vitium primae 
formationis oder als eine fötale Erkrankung aufzufassen ist, wie Per¬ 
thes und Strauß es tun, lassen \vir am besten dahingestellt; das 
erste können vdr kaum exakt beweisen, das zweite müßte erst bewiesen 
werden; es bringt uns diese Spekulation nicht weiter. Ist einmal die 
pathologische Haltung eingetreten, dann genügt eine vorübergehende 
Fruchtwasserschwankung' — so erklärt sich die Verschiedenheit der 
Angaben von Fruchtwassermangel und Fruchtwasserfülle —, um die 
Luxation einzuleiten; steht aber das Glied einmal in Strecksteilung 
fest, dann reicht das eigene Wachstum sicher aus, um die Deformität 
zu verstärken. 

So glaube ich denn sagen zu dürfen, daß einerseits allge- 

^) Blanc, zitiert nach W e h s a r g. 


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lieber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten. 


575 


meine Schlaffheit des Bandapparates, anderseits mechanische Momente 
(Zwangslage und Fruchtwassermangel) die Entstehungsbedingungen 
der kongenitalen Kniegelenksdeformitäten sind. 

Mit dieser Betrachtung ist das Interesse, das der vorliegende 
Fall beansprucht, noch nicht erschöpft. Eine kongenitale Luxation 
des Capitulum radii bei einem Neugeborenen oder Fötus ist bisher 
noch nicht beobachtet worden. 

Diese Gelenkdeformität hat überhaupt eine wechselvolle Ge* 
schichte. Zuerst in Dupuytrens^) Vorträgen erwähnt, wurde das 
kongenitale Vorkommen der Luxatio capituli radii bald von Mal- 
g a i g n e^) angezweifelt, bis B e s s e 1 - H a g e n^) sie zum Gegenstand 
einer eingehenden Betrachtung machte und wieder in ihre Rechte 
einsetzte. Er gibt zwar an, daß die Mehrzahl der als kongenital bezeich- 
neten Luxationen des Radiusköpfchens doch wohl im frühen Kindes¬ 
alter erworben sein dürften, insofern grade dieser Knochen infolge 
der geringeren Dimensionen, die das Radiusköpfchen im Verhältnis zur 
Diaphyse in den ersten Lebensjaliren besitzt, und der mehr lockeren 
Verbindungen des Gelenkapparates der Entstehung der Luxation an 
sich schon günstig ist, geschweige denn, wenn Anomalien in der Weite 
der Gelenkbänder hinzukommen, wie sie gelegentlich beobachtet worden 
sind. Vor allem glaubt dieser Autor die Fälle von Adams als 
nicht den kongenitalen Luxationen des Radiusköpfchens zugehörig aus¬ 
schließen zu müssen, er hält sie für allmählich entstandene Verrenkungen. 
Das Mißverhältnis im Längenwachstum der beiden Vorderarmknochen 
sieht er als keinen Beweis für ihre kongenitale Herkunft an, da es auch 
eine Folge der Entlastung des Radius von dem wachstumhemmenden 
Drucke des Humerus sein könne, also sekundär entstanden; eben¬ 
sowenig beweiskräftig sind Verwachsungen d^r Vorderarmknochen, sie 
sprechen im Gegenteil für Fraktur^). Eine Epiphysenlösung ani 

Dupuytren, zitiert nach Bessel-Hagen. 

M a 1 g a i g n e, J. F., Die Knochenbrüche und Verrenkungen. Deutsch 
von C. G. B u r g e r. Bd. 2. Stuttgart 1856. S. 631 zitiert nach Bessel-Hagen. 

Bessel-Hagen, F., Ueber Knochen- und Gelcnkanomalien ins¬ 
besondere bei partiellem Riesenwuchs und bei multiplen kartilaginären Exostosen. 
Archiv f. klin. Chir. Bd. 41 S. 420. 

*) Drenkhahn teilte jüngst einen Fall von solch knöcherner Ver¬ 
bindung der beiden Vorderarmknochen bei einem 23jährigen Mann mit. Der 
Vorderarm sei seit der Geburt in Pronationsstellung fixiert. Von Luxation er¬ 
wähnt er nichts. Der Patient war olme Kunsthilfe geboren. Zeitschr. f. orthop. 
Chir. Bd. 11. 


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Max Meyer. 


proximalen Ulnaende kann zudem ein Zurückbleiben des WacKstuiu 
dieses Knochens zur Folge haben und so, da die Ulna in fester Gelenk¬ 
verbindung mit dem Humerus steht, eine Luxation des Radiusköpfchen? 
verursachen. 

Dennoch gibt Bessel-Hagen für einige wenige Fälle dtn 
kongenitalen Ursprung zu. Zwar vermißt er noch den schlagendsten 
Beweis: das Vorkommen der Luxation bei einem Neugeborenen (xier 
Fötus. Den erbringe ich mit vorliegendem Fall. 

Sodann teilt der Autor die kongenitalen Verrenkimgen Bä- 
diusköpfchens nach ätiologischen Gesichtspunkten in primär unc 
sekundär entstandene ein. Denn er nimmt mit Recht auf Grund de: 
vorhandenen Beobachtungen keine einheitliche Aetiologie an. 

Die primären Luxationen denkt er sich entstanden infolge fehler¬ 
hafter Anlage. Es wurde schon oben betont, daß mitunter eine Kapsel- 
erschlafFung besteht, wir wollen es auch hier dahingestellt sein lassen, 
ob diese aus einem Vitium primae formationis entspringt. Als sekundäres 
Moment könnte dann, wie bei der Kniegelenksluxation, eine path«> 
logische Haltung in utero hinzukommen. Ich muß sagen, das kasuistisclie 
Material ist eigentlich noch zu gering, um hier so sichere Schlüsse wie 
bei der Kniegelenksluxation zu gestatten. Ich beschränke mich daher 
auf die Mitteilung der Tatsachen. 

Zu den primären Luxationen zählt Bessel-Hagen die 
Beobachtung von Se r v i e r i). Dieser beobachtete bei einem 21 jährigen 
Soldaten, der allerdings während des Erieges ausgehoben worden war, 
eine Verlagerung des Radiusköpfchens gemeinsam mit einer kongenitalen, 
durch Vererbung vom Vater auf den Sohn übergegangenen Patellar- 
luxation und einem gleichfalls angeborenen Klumpfuß. Der Vorderarm 
wich beiderseits nach außen ab, während das Radiusköpfchen nach 
hinten vorsprang und erst bei der Beugung unter das Gelenkende des 
Humerus hinunterwanderte; zugleich beschränkte es durch seinen 
fehlerhaften Sitz Pronation und Supination in hohem Maße. Beiläufig 
erwähnt Servier eine ähnliche weniger gut ausgesprochene Defor¬ 
mität bei einem anderen Manne. 

Ebenso ist der von Mitscherlich2) beschriebene Fall hierher 
zu rechnen. Bei einem 6jährigen geistig zurückgebliebenen Mädchen 

^) Gazette hebdomadaire de med. et de chir. Paris 1872. T. IX p. 214. 

2) Mitscherlich, A., Ein Fall von angeborener Verbildung beider 
Ellbogengelenke. Archiv f. klin. Chir., herausgeg. von v. Langenbeck, Bd. 6 
S. 218. 


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Ueber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten. 


577 


fanden sich außer einem doppelseitigen angeborenen Klumpfuß und 
Flexionskontrakturen an den Händen imd Fingern beide Arme im 
Verhältnis zum übrigen Körper verkürzt und dabei ausgezeichnet durch 
eine Luxation des Radiusköpfchens nach vorne, die ihrerseits mit einer 
Beschränkung der Flexions- imd Pronationsbewegimgen imd mit hoch¬ 
gradigen Anomalien in der anatomischen Beschaffenheit der Gelenk¬ 
körper und ihrer Beziehungen zum Bandapparat verbunden war. 

Die Literatur weist sonst keine einwandfreien Fälle primärer 
kongenitaler Radiusluxation auf, so daß ich also als vierten Fall meine 
eigene Beobachtung anfügen kann, die darum erhöhtes Interesse ver¬ 
dient, weil sie bei einem Fötus gemacht wurde. Damit ist zugleich, 
wie schon oben bemerkt, der sicherste Beweis für das kongenitale 
Vorkommen der Radiusluxation erbracht, der bisher noch ausstand. 
Hier will ich nur die Vermutung aussprechen, daß die Lockerheit des 
Bandapparates und pathologische Haltung die Bedingungen ihrer 
Entstehung sind, zumal die Luxatio capituli radii auf der Seite sich 
fand, auf der die ganze untere Extremität emporgeschlagen war. Diese 
Annahme will ich nicht nur nicht verallgemeinert wissen, im Gegenteil, 
vielmehr glaube ich, daß die Luxationen des Radiusköpfchens kon¬ 
genitalen Ursprungs keine einheitliche Aetiologie haben. 

In einer zweiten Gruppe von Fällen nämlich ist die Deformität 
sicher sekundär entstanden; sie muß ich der Vollständigkeit wegen 
anführen. 

Das Primäre ist in diesen Fällen nach Bessel-Hagen eine 
Störung des normalen Wachstums an den Vorderarmknochen xmd zwar 
kann sowohl eine Hemmung des Längenwachstums der Ulna als auch 
ein vermehrtes Längenwachstum des Radius die Ursache der Luxation 
des Radiusköpfchens sein. Zugleich wird hervorgehoben, daß diese 
Wachstumsstörungen im Bereiche der Vorderarmknochen sowohl 
während des intrauterinen als auch im postfötalen Leben sich geltend 
machen können. 

Humphryi) beobachtete an der Leiche eines Mannes mit 
unbekannter Vorgeschichte links eine Dislokation des stark verbildeten 
Radiusköpfchens nach oben auf das ebenfalls stark veränderte untere 
Humerusende neben unnatürlicher Verbiegung des Radiusschaftes und 
erheblicher Verkürzung der Ulna, deren distales Ende vollkommen 
spitz war, rechts eine ähnliche Dislokation des Radiusköpfcheiis neben 


Humphry zitiert nach Bessel-Hagon. 


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578 


Max Meyer. 


ankylotischer Verbildung von Radiiis und Ulna, welch letztere an ihr?r 
distalen Epiphyse noch die normalen Beziehungen zu dem gleich langes 
Radius bewahrt hatte. An beiden Seiten ist das Aufsteigen des Radius¬ 
köpfchens oflEenbar durch die imgleiche Entwicklung der beiden Vorder¬ 
armknochen verursacht worden; an dem einen Arme ist die Wach^ 
tumshemmung der Ulna die Folge eines Bildungsmangels an ihrer 
distalen Epiphyse, an dem anderen die Folge frühzeitiger Verknöcherung 
ihres proximalen Intermediärknorpels. 

Offenbar eine analoge Entstehungsgeschichte haben zwei weitere 
Fälle kongenitaler Radiusluxation; der eine ist von Devi 11 e der 
andere von Senftleben^) mitgeteilt worden. In beiden Fällen 
war da, wo an Stelle der Ulna nur ein weicher ligamentöser Strang zu 
fühlen war, eine Einsenkung vorhanden, während der Radius in leichter 
Krümmimg vom Ellbogen zur Hand verlief. 

Bei einer Reihe von Fällen, die bislang zu den kongenitalen 
Radiusluxationen gezählt wurden, bei denen auch ungleiches Wachstum 
der beiden Vorderarmknochen die Ursache der Luxation war, glaubt 
Bessel-Hagen eine postfötale Entstehung der Verrenkung selbst 
annehmen zu müssen, wenn auch kongenitale Anomalien oder Bildungs¬ 
fehler die Grundlage bilden, insofern sie auf das Wachstum von Radius 
und Ulna von Einfluß sind. 

Zwei Skelettanomalien finden wir in ursächlichem Zusammenhang 
mit diesen Luxationen des Radius: den partiellen kongenitalen Riesen¬ 
wuchs und die Exostosis cartilaginea multiplex. 

Bei einem 17jährigen Mädchen mit partiellem kongenitalem 
Riesenwuchs, der im wesentlichen nur die oberen Extremitäten, doch 
nicht alle zu dem Aufbau der rechten Extremität vereinigten Teile in 
gleicher Weise betraf, beobachtete Bessel-Hagen folgende für 
uns interessante Veränderungen: links war die Ulna 2,5 cm länger als 
der Radius, rechts der Radius wenig länger als die Ulna, dort fand sich 
die Luxation des Radius nach hinten, das luxierte Köpfchen in der 
Höhe des Olecranon. Der Autor nimmt in diesem Falle an, daß die 
postfötale Entstehung der Luxation trotz der entgegengesetzten An¬ 
gabe der Patientin hier wahrscheinlich ist, gibt indes die Möglichkeit 
einer intrauterinen Entstehung bei Riesenwuchs zu. 

Die zweite Skelettanomalie ist die Exostosis cartilaginea multiplex, 
in deren Rahmen Bessel-Hagen einerseits bei seinen 13 Fällen 

D e V i 11 e zitiert nach Bessel-Hagen. 

*) Senf t leben zitiert nach Bessel-Hagen. 


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lieber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten. 


579 


ausnahmslos auch Hemmung des physiologischen Knochenwachstums 
fand, wie sie neuerdings von Ribbert in seiner Geschwulstlehre 
auch angegeben wird, anderseits die Luxation des Radiusköpfchens 
eine öfter wiederkehrende Krankheitsäußerung darstellt, was der Autor 
aus eigener Beobachtung mit 2 Fällen belegen kann. Die Verrenkung 
war zurückzuführen auf Hemmung des Längenwachstums der Ulna. 
Nun ist Bessel-Hagen der Ansicht, daß in diesen Fällen d’e 
Luxation postfötal entstanden sei. Wir können aber heute sagen, daß 
die Wachstumshemmungen des Skeletts nicht die Folgen des Vorhanden¬ 
seins der Tumoren sind, wie es Bessel-Hagen selbst schon ver¬ 
mutet hat. Einerseits finden sie sich an Knochen, die von Neubildungen 
frei sind, anderseits verschonen sie Knochen, die mit Exostosen reichlich 
besetzt sind, so daß beide Erscheinungen als gemeinsamer Effekt einer 
Entwicklungsstörung aufgefaßt werden können (Ribbert). Nehmen 
wir hinzu, daß die Genese der Exostosen nachweislich bis in das fötale 
Leben zurückgeht und nicht mit Rhachitis in Zusammenhang steht, 
so wäre es auch denkbar, daß die Wachstumshemmungen schon zur 
selben Zeit sich geltend machen und in utero die Luxationen des Radius 
veranlassen. Damit stimmt die Beobachtung Münterßi) überein, 
der bei Vater und Sohn neben multipler kartilaginärer Exostosen¬ 
bildung einwandfrei durch die Ananmese nachgewiesene kongenitale 
Luxation des Capituliim radü gefunden hat. Die Ulna war im Längen¬ 
wachstum zurückgeblieben gegenüber dem reichlich mit Exostosen 
besäten Radius. 

Guerin-Valmale und Jeanbran2) teilten jüngst noch 
einen Fall von Mißbildung beider Hände mit bei einem 15 Monate alten 
Kinde, das außerdem noch beiderseitige Klumpfußbildung und eine 
trichterförmige Einziehung der Steißbeingegend auf wies. Diesen Fall 
füge ich hier an, weil auch hier eine Anomalie des Knochenwachstums 
die Ursache der Luxation ist. Das Hauptinteresse konzentriert sich auf 
die eigentümlichen Deformitäten an beiden Händen. Es handelt sich 
um beiderseitige Klumphandbildung, welche ihre Erklärung in der 
eigentümlichen Bildung des Radius findet. Dieser ist nach vom auf 

^) M ü n t e r, Otto, Kongenitale Luxation des Radiusköpfchens mit Ver¬ 
erbung. Inaug.-Diss. Erlangen 1899. 

Guerin-Valmale et Jeanbran, Dissection d’une main-bote 
cubitale pure avec luxation congenitale du coude. Montp. med. Nr. 11 zit. nach 
den Jahresberichten über die Leistungen und Fortschritte in der gesamten Me¬ 
dizin 1900. 


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580 Max Meyer. lieber multiple kongenitale Gelenkdeformitäten. 

den Humerus luxiert und in seiner ganzen Ausdehnung nach innen 
gekrümmt. An seinem unteren Diaphysenende ist er stark verdickt, 
so daß die untere Epiphysenlinie schräg von innen oben nach unten 
außen verläuft. Somit setzt sich die ebenfalls stark vergrößerte Epi¬ 
physe schräg an die Diaphyse an. Hieraus resultiert die eigentümliche 
Stellung der Hand, welche, im übrigen normal gebildet, stark ulnarwärts 
abduziert steht, aber nicht flektiert ist. Die Ulna ist ebenfalls nach 
innen verbogen, nach hinten subluxiert und weist ein stark vergrößertes 
Olecranon auf. Der Humerus zeigt einen stark verdickten Schaft; 
an Stelle des Caput humeri befindet sich eine zylinderförmige, ungleich¬ 
förmige Auftreibung, während das distale Humerusende entsprechend 
der Olecranonvergrößerung ebenfalls stark verbreitert ist. 

Aus den vorstehenden Ausführungen geht zur Genüge hervor, 
daß die kongenitalen Luxationen des Radius noch in manchen Punkten 
unaufgeklärt sind. Weniger gilt das für die angeborenen Kniegelenks- 
Verrenkungen, wenn auch nicht verschwiegen werden kann, daß auch 
hier noch manches der Untersuchung bedarf. Vor allem verdient —das 
beweist der vorliegende Fall — die Schlaffheit des Bandapparates 
Beachtung. Jedenfalls ist eme Vermehrung des kasuistischen Materiales ' 
mit besonderer Berücksichtigung dieser Frage erwünscht. 



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XXXIII. 


(Aus der chirurgischen Abteilung des Kinderkrankenhauses „Kron¬ 
prinzessin Lovisa*', Stockholm.) 

Die operative Behandlang von Tnberknlose im 
Scbenkelhals. 

Von 

Dr. Henning Waldenstrom, 1. Assistent. 

Mit 2 Abbildungen. 

In aller Kürze will ich hier die operative Behandlung der tuber¬ 
kulösen Collumherde besprechen, um später ausführlicher auf diesen 
Gegenstand zurückzukommen. 

Dank dem freundlichen Entgegenkommen meines Chefs, Dr. B. 
Floderus, habe ich 60 Fälle von Tuberkulose im und um das Hüft¬ 
gelenk behandeln können. In 18 derselben fand sich bei der Röntgen¬ 
untersuchung ein isolierter primärer Herd im Collum femoris innerhalb 
des Gebietes der Kapsel, Alle diese Fälle zeigen eine Anamnese, die 
mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hindeutet, daß die Tuberkulose 
im Collum außerhalb des Gelenkes begonnen hat und erst später, ver¬ 
mutlich durch Perforation, zu einer Coxitis, wo eine solche vorlag, 
Anlaß gegeben hat. (Der Einfachheit halber verstehe ich hier überall 
unter Coxitis eine Tuberkulose im Gelenk.) 

Mein Aufsatz will ein Beitrag zur vorbeugenden Behandlung der 
Coxitiden sein. Der äußerst langsame Verlauf der ELrankheit und die 
bösartigen Symptome, unter denen sie auftritt, machen eine effektive 
prophylaktische Behandlung vielleicht noch mehr wünschenswert als bei 
anderen Blankheiten. Daß die Coxitiden in diesen Fällen aus isolierten 
Herden im Collum entstanden sind, scheint mir, soweit ich die Sache 
durch genaue Röntgenphotographien beurteilen kann, sicher. Nur 
in 3 Fällen ist der Patient zur Behandlung gekommen, ehe sich der 


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582 


Henning Waldenström. 


Herd zu Coxitis oder Zerstörung des Caput weiter verbreitet hatte. 
Von diesen sind 2 durch die Operation vollständig ohne Funktions¬ 
störung wiederhergestellt worden, l hat eine gelinde Coxa vara bekommen, 
ist aber mit sehr guter Funktion geheilt. 10 von den anderen Fällen 
hätten wahrscheinhch in gleicher Weise ohne Funktionsstörung geheil: 
werden können, wenn sie nur rechtzeitig zur Behandlung gekommen 
wären, d. h. gleich nach Anfang des Hinkens. Denn das gelinde, zeit¬ 
weilige Hinken, das sich bei Anstrengung einstellt, meistens bei Ruhe 
schwindet und wochen-, ja monatelang vollständig ausbleiben kann, 
ist vielleicht das einzige Symptom von dem Eintritt der großen nach- 
herigen Zerstörung. Erst wenn Aerzte und Eltern dies einsehen, kann 
man hoffen, die Anzahl derer, die während des ganzen Lebens die Folgen 
einer geheilten Coxitis tragen müssen, vermindern zu können. 

Meine Fälle geben Beispiele von schnell destruierenden Herden 
mit Coxitis (6 an der Zahl). Drei derselben sind konservativ behandelt 
worden. In 3 Fällen, allen mit Abszeß (2 derselben mit Fisteln), mußte 
eine besonders eingreifende Resektion mit Kapselexstirpation vorge¬ 
nommen werden. 

Von sehr chronisch verlaufenden Herden mit gelinder oder gar 
keiner Coxitis habe ich 7 Fälle aufzuweisen. In diesen Fällen war 
der Epiphysenknorpel durchbrochen und das Caput infiziert worden, 
weshalb eine operative Beseitigung ohne Beschädigung des Gelenks 
zu jenem Zeitpunkt für unmöglich gehalten wurde. 

Die übrigen 5 F ä 11 e sind nach der unten beschriebenen Methode 
operiert worden, außer einem kleinen Knaben, bei dem ein Abszeß 
die vordere Partie des Collum perforiert und einen großen Teil der Peri¬ 
pherie des Collum zerstört hatte, warum es mir am geeignetsten schien, 
vom vorderen Teil des Collum aus zu operieren. In diesem Falle war 
indessen das Collum zu schwach, den Zug der Muskeln aushalten zu 
können, weshalb sich, wie oben erwähnt, eine gelinde CoxavarasteUung 
mit sehr guter Funktion und ohne Coxitis entwickelte. Die drei zuerst 
operierten Fälle von Collumherden ohne Coxitis sind während 17, 15 
bezw. 3^/2 Monate beobachtet worden, und bei allen ist der Gang aus¬ 
gezeichnet, und kein Symptom der Coxitis hat sich entwickelt. 

Die Fälle geben Beispiele von schnell destruktiv und chronisch 
verlaufenden Tuberkulosen, ohne Möglichkeit, dies bei der ersten 
Untersuchung auf irgend eine Weise festzustellen. Eine Beobachtungs¬ 
zeit von 1 Monat ist, selbst bei schnell vorrückenden Zerstörungen, 
meistens zu kurz, um die Tendenz der Entwicklung zu zeigen. Uebrigens, 


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Die operative Behandlung von Tuberkulose im Schenkelhals. 583 

wie viel kann sich in einem Monat ereignen! Eine Perforation in das 
Gelenk hinein, von Coxitis begleitet, kann leicht entstehen, ohne irgend 
eine Wamimg bei der ei*sten Untersuchung. Außerdem ist ja jede 
Iconservative Therapie ziemlich machtlos, wenn es sich darum handelt, 
das rasche Vordringen der Tuberkulose schnell zu hemmen. Ist eine 
Coxitis erst einmal eingetreten, so ist mutmaßlich ein vollständiges 
Wiederherstellen aller Funktionen des Hüftgelenks unmöglich. 

Es scheint mir daher das einzig Richtige, nach einer genauen 
Untersuchung jeden isolierten Collumherd herauszunehmen, ohne das 
Gelenk zu verletzen, und zwar aus folgenden Gründen: 

1. Es gibt keine Methode, in kurzer Zeit zu bestimmen, ob die 
Tuberkulose stillsteht oder zunimmt. 

2. Der Herd im Collum liegt so, daß er bei seinem Vorrücken 
nach allen Richtungen, außer gegen den Trochanter major, nur einen 
kurzen Weg zurückzulegen hat, um in das Gelenk hineinzukommen. 

3. Ist er erst in das Gelenk hineingelangt, so wird die Destruktion 
entsetzlich. Das Caput und der größere Teil des Collum werden zer¬ 
stört: eine Krankheit, die sicherlich mehrere Jahre dauert und in den 
meisten Fällen zu einem Abszeß Anlaß gibt, der lebensgefährlich werden 
kann. 


Bei diesen isolierten Collumherden haben die Kinder in meinen 
Fällen unbehindert laufen und springen können. In den operierten 
Fällen hat die Belastung auch keine Krümmung des Collum verur¬ 
sacht. Vor der Operation habe ich daher gewußt, daß das Collum 
kräftig genug ist, unter den schwierigsten Umständen (z. B. beim 
Springen) das Körpergewicht zu tragen. Ebenfalls ist es möglich 
zu bestimmen, ob der Herd in das Gelenk hinein perforiert und Coxitis 
hervorgenifen hat oder nicht. Zu den Gefahren der Operation gehört 
natürlich die Möglichkeit, die Kapsel und die reine Wunde mit Tuber¬ 
kulose zu infizieren. 

Die Operation muß daher geschehen: 

1. mit größtmöglicher Schonung des Knochenmaterials, speziell 
derjenigen Teile, die mehr als andere die Haltbarkeit des Collum be¬ 
dingen; also besonders der Peripherie; 

2. ohne die Kapsel zu verletzen; 

3. ohne den Inhalt des Herdes (soweit möglich) mit der Wunde 
in Berührung kommen zu lassen. 


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584 


Henning Waldenström. 


Durch die unten beschriebene Operationsmethode, die zuerst i. 
Leichen wiederholt ausgeführt wurde, habe ich gesucht diese Am:: 
derungen zu erfüllen. 

Die Operation erfolgt mit temporärer Resektion des Trochan: 
major. Wie aus dem Operationsbericht ersichtlich, müssen die Or- 
rierten, sobald der Trochanter gut festgewachsen ist, ein fast ebe'r 
tragfähiges Collum haben wie vor der Operation. Dies halte ich für se: 
wichtig. Mit welcher Geschwindigkeit Knochen nach Tuberku]> 
neugebildet wird, ist nicht bekannt; man weiß nur, daß es sehr langsä~ 
vor sich geht. Allem Aiischein nach muß es schneller gehen, wenn q-: 
Herd beseitigt ist; sobald aber das Collum seiner Tragfähigkeit beraut 
ist, wird es jedoch eine sehr mißliche Sache, festzustellen, wann si: 
der Patient auf das operierte Bein stützen kann. Operiert man der unten 
dargelegten Methode gemäß, so muß sich der Patient etwa 2 SIoDatr 
nach der Operation auf das Bein stützen können ohne die Gefahr, eine 
Belastungsdeformität zu erleiden, die dann unheübar wird. 

Selbst wenn angeraerkt werden kann, daß diese Herde durcL 
konservative Behandlung auszuheilen sind, gibt es meines Erachten' 
keinen Gnmd, sich auf eine unsichere Behandlung mit so großen Ge¬ 
fahren einzulassen, zumal da die Gefahr der Operation sicher äußenr 
gering ist. In meinen Fällen ist alles gut gelungen, ohne irgendwelche 
Komplikationen. Aber selbst wenn die Gefahr sich in der Zukunft 
größer erweisen sollte, als sie sich bisher gezeigt, so ist sie zweifellcsf 
ungemein viel kleiner als die Gefahr einer fortschreitenden Tuber¬ 
kulose in der Hüfte. Ganz davon abgesehen, daß diese Operation ein 
ideales Resultat leistet, während dies bei der konservativen Behandlung 
nur selten der Fall ist. Unter meinen Fällen befindet sich einer, wo 
das Gelenk dauernd frei erscheint, wo aber die Tuberkulose trou 
der konservativen Behandlung innerhalb des Knochens fortschreitet 
und jeden Augenblick zu einer Coxitis Anlaß geben kann. Dieser Fall 
ist nicht operiert worden, weil das Caput infiziert ist. 

Meine Darstellung hat bisher die isolierten Collumherde ohne 
Coxitis berührt. Hinreichende Beweise dafür, daß die Behandlung 
derselben nur eine rein operative werden kann, glaube ich vorgebracht 
zu haben. Ich will aber noch einen Schritt weiter gehen. Ein jeder, 
der Gelegenheit gehabt hat, den Verlauf einer reinen synovialen Coxitis 
mit einer solchen, von einem größeren Knochenherd ausgegangenen, zn 
vergleichen, kann nicht umhin, sich über den gelinderen Charakter 
der ersteren zu verwundern, vorausgesetzt natürlich, daß beide 


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Die operative Behandlung von Tuberkulose im Schenkelhals. 585 


vom Anfang der Coxitis an rationell behandelt werden. Die erstere 
bietet eine recht bequeme ambulatorische Behandlung und heüt mit 
einer normalen oder jedenfalls einer für das Gehen völlig ausreichenden 
Beweglichkeit in verhältnismäßig kurzer Zeit aus (2—3 Jahre). Die 
letztere kann alle möglichen Komplikationen haben, Schmerz, Abszeß, 
begleitet von starker Herabsetzung des Gesamtzustandes des Patienten, 
Fieber u. s. w., und heilt in vollkommen unbestimmbarer Zeit aus, 
mitunter erst nach Eesektion. Sie heilt im besten Falle mit steifem 
Gelenk in guter Stellung imd einer Verkürzung des Beines aus, die 
ziemlich gering sein kann, die sich aber bei Beginn der Behandlung nicht 
berechnen läßt und daher auch sehr groß werden kann. 

Angesichts dieser Tatsachen scheint es berechtigt zu versuchen, 
eine solche Coxitis mit großem Knochenherd in eine solche ohne Knochen¬ 
herd zu verwandeln; eine ostale Coxitis zu einer nur synovialen zu 
machen. 

In 2 Fällen habe ich dies versucht. Natürlich muß die Coxitis 
in diesen Fällen alle Zeichen für eine kurze Dauer haben. Der eine 
Fall ist ein Knabe von 7 Jahren mit einem kolossalen Herd im Collum 
mit Sequestern und Perforation in das Gelenk hinein abwärts-vorwärts, 
der andere Fall ein Emabe von 14 Monaten mit einem großen Herd 
im Collum und Perforation in das Gelenk hinein aufwärts. Bei 
beiden wurde der Herd nach der unten beschriebenen Methode ex- 
stirpiert. Darauf wurde die Kapsel mit einem feinen Trokar punktiert 
und Jodoformglyzerin in das Gelenk eingespritzt; erst nun war die 
Kommunikation zwischen Gelenk und Knochenherd ersichtlich. Voll¬ 
ständige Sutur wie gewöhnlich. 

Die Krankheit wird nun wie eine gewöhnliche synoviale Coxitis be¬ 
handelt. Der ältere Patient geht mit Krücken und hohem Schuhe an dem 
gesunden Fuß und Gips über Hüfte und Knie. Der jüngere liegt im 
Gipsbett mit Extension am Bein. Das Collum war bei dem Kleinen 
so schwach, daß man es für das behutsamste hielt, Extensionsbehandlung 
anzuwenden. Das Befinden beider ist gut; da sie aber erst vor kurzem 
operiert sind, kann man über ihr künftiges Schicksal noch nicht ent¬ 
scheiden. 


DieOperation, 

Am Tage vor der Operation wird ein hinteres Gipsbett angefertigt 
in starker Abduktionsstellung, um beim Anbringen das Ziehen der 
Muskeln am Trochanter aufzuheben. Das Bett wird gut getrocknet, 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Fand. 38 


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586 


Henning Waldenström. 


montiert und während der Operation erwärmt gehalten. Das Eii. 
wird in Eztensionsverband gelegt, wenn anzunehmen ist, daß ol 
C ollum durch die Operation erheblich geschwächt werden wird. 

Am Abend vor der Operation wird ccm Digalen per •: 

gegeben. 

Am Morgen darauf ist die Dosis im Bedarfsfall wiederholt wonk: 

Narkose mit Aether tropfenweise. 

Gleichzeitig mit dem Hautschnitt wird physiologische Kochsab 
lösung subkutan an der Brust gegeben. 

Der Patient liegt auf der gesunden Seite mit dem Bein etv^ 
gekrümmt in der Hüfte. Ein Eissen stützt den Kücken. Der Um 
schnitt ist ein Winkelschnitt und beginnt vorne am hinteren Kacd 


Fig. 1. 



Fig. 2. 



des M. t e n s o r f a s c., etwas unterhalb der Spina i 1. a n t. s u p.. 
verläuft gerade hinter dem vorgenannten Muskel von hier im Bog^u 
2—4 cm unterhalb der Trochanterspitze schräg nach hinten in dei 
Richtung des Glutaeus max. Die Fascia lata vorne abwärts 
und der M. glutaeus max. hinten werden in gleicher Richtuii^ 
durchgeschnitten (Rydygiers Schnitt) und aufwärts gehoben 
Stumpf imd zum Teil mit Hüfe einer Schere wird der M. t e n s o r 
fase, vom M. g 1 u t. m e d, hinimter auf den Trochanter zu losgel^. 
Hinter dem Trochanter wird das stets hier vorkommende feste fett¬ 
haltige Bindegewebe durchgeschnitten. Die hinteren Ränder der 
Glut, med. und min. werden losgelöst. Eine Rachenzange oder 
dergl. wird von hinten zwischen dem Glut. min. und der Kapsel 
eingeführt. Diese arbeitet stumpf abwärts und löst den Glut. min. 


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Die operative Behandlung von Tuberkulose im Schenkelhals. 587 

von der Kapsel. Da sie stark aneinander befestigt sind, werden hierbei 
einige Muskelfasern zerrissen. Die Bachenzange wird zwischen den 
Glutäen und dem Tensor herausgeführt. Eine schmale Säge wird in 
die Zange eingesetzt und durch die geöffnete Spalte zwischen Trochanter 
und Collum, gleich lateral von der Kapsel, gezogen. Das Sägengestell 
wird angebracht und das Sägen beginnt, nachdem das Periost und der 
M. vastus ext. durchgeschnitten sind, wo die Säge herauskommen 
soll. Von der lateralen Corticalis am Femur laufen in gleicher Höhe 
mit dem Trochanter minor spongiöse Balken, die in den Trochanter 
major ausstrahlen. Ungefähr in dieser Sichtung läuft die Säge. Beim 
Sägen wird der möglich größte Teil vom Trochanter genommen, um 
das Elnochenmaterial, das von der folgenden Bohrung zerstört wird, 
so viel wie möglich zu verringern. Der Trochanter mit seinen Muskeln 
wird aufgehoben. Ein zylindrischer Trepan von 1 cm Durchmesser 
wird in der Richtung des Collum eingesetzt. Unter genauer Kontrolle 
der Finger der linken Hand rings um das Collum wird an den Herd 
herangebohrt, ohne irgendwo die Peripherie zu erreichen. 

Ein steriles Gummituch, größer als die Wunde und mit einem 
Loch im Zentrum von gleicher Größe wie der Bohrer, bedeckt die Wunde. 
Durch dieses Loch im Tuch imd dann in das Collum hinein wird ein 
mit Gewinde versehener Knopf eingeschraubt. Derselbe besteht aus 
einer kreisnmden Scheibe. Inmitten ist ein Loch ausgeschnitten, worin 
ein runder, außen mit Gewinde versehener, hohler Zylinder fest¬ 
gelötet ist (siehe die Figur). Derselbe wird gut festgeschraubt, um das 
Gummizeug, das ziemlich dick ist, gegen die Sägefläche anzudrücken. 
Das Herausnehmen des Herdes beginnt vorsichtig mit kleinen Löffeln 
und schmalen Gazestreifen. Die größeren Sequester verursachen oft 
viel Mühe, zumal da man sehr behutsam Vorgehen muß. Die Wände 
können äußerst dünn sein oder fehlen, ohne daß die klinische Unter¬ 
suchung einen Verdacht in dieser Hinsicht erweckt hat. Wenn alles, 
was zu fühlen imd zu sehen ist, mit dem Löffel beseitigt ist, wird mit 
einer Wundspritze, die an den Boden des Herdes hinuntergeführt wird, 
genau gespült. Hierauf folgt sorgfältiges Auswischen. Der Knopf 
und das Gummizeug, welche hindern, daß etwas nebenher kommt, 
werden nun weggenommen, und die Höhle wird mit der Stimlampe 
genau imtersucht. Für die feinere Reinigung eignet sich besonders ein 
Löffel mit vorwärts gebogenem Stiel und dem scharfen Löffelrande 
oval quer gestellt. Um die Wände vollständig imd ohne Schädigimg 
reinzumachen, bedarf es kleiner Löffel mit schmalem Stiel in verschie- 


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588 Henning Waldenström. Die operative Behandlung von Tuberkulose etc. 

denen Krümmungen. Die Wände werden nun von tuberkulösen Mem- ; 
branen befreit, imd der Knochen wird vorsichtig, ohne das merklich etwis j 
von dem gesunden Knochen weggenommen wird, reingekratzt. Wo äcli 
der Herd nach der Oberfläche durchgefressen hat, wird in gleicher | 
Weise eventuell bloßgelegtes Periost gereinigt. Die äußerst sorgfältife j 
mechanische Reinigung hat den Zweck, alles tuberkulöse Grewebe zü * 
beseitigen, und das nachher eingegossene Jodoformglyzerin soll nach- ' 
helfen, wenn dies nicht ganz der Fall gewesen sein sollte. Das Gummi- i 
zeug und der Knopf, welche gekocht worden sind, werden wi^ei 
angebracht, die Höhle wird ein paarmal gespült und ausgewischt, 
worauf das Zeug und der Knopf abgenommen werden. 

Die Hände dürfen nicht in Berührung mit dem Inhalt des Herdes 
kommen; die Muskulatur ist mit Kompressen genau zu bedecken, 
wenn das Gummizeug entfernt ist. Die Gelenkkapsel wird mit Augen 
imd Händen genau untersucht unter gleichzeitigen Bewegungen im 
Gelenk. Wenn dieses sich nun als gesimd herausstellt, wird in die ' 
Höhle 5—10 ccm lOprozentiges Jodoformglyzerin gegossen. Der Rest der j 
Höhle mag vollbluten. Dies gibt vielleicht die kräftigsten Granulationen. I 
Einige Monate nachher zeigt das Röntgenbild deutlich, wie das Jodofomi * 
mitten darin zusammengebacken liegt. Mutmaßlich schießen die 
Granulationen von beiden Seiten gleichmäßig vor, pressen das Jodoform 
zusammen und resorbieren dasselbe nach und nach. 

Der Trochanter wird nun mit grober Seide oder Silber festgenäht. 

Im übrigen wird das Periost an den Außenseiten des Trochanter mit 
Katgut genäht. Ein kleiner Jodoformgazestreifen wird nach hinten | 
gegen die Trochanterwunde eingelegt. Die Muskulatur wird mit Katgut ■ 
genau und vollständig genäht. Die Haut wird vollständig mit Silk- 
wormgut oder fortlaufender Languettenaht mit Seide genäht. Ein j 
harter Verband wird angelegt. I 

4 Tage nach der Operation wird der Tampon herausgenommen 
ohne Einlegen eines neuen. 8 Tage nach der Operation werden die 
Suturen beseitigt, und die Wunde wird auf eine Woche mit Heft¬ 
pflaster bedeckt; die Spannung ist nämlich recht stark. 


1 


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XXXIV. 


(Aus der I. chirurgischen Universitätsklinik in Wien. Vorstand: 

Hofrat Prof. Dr. Frhr. A. v. Eiseisberg.) 

Zur Frage der Therapie des angeborenen 
Schiefhalses. 

Von 

Dr. 0. von Frisch, Assistent der Klinik. 

Es war in den Neunzigerjahren, als die Erfolge in den üblichen 
Behandlungsmethoden des muskulären Schiefhalses den modernen Be¬ 
strebungen der Chirurgen nicht mehr genügten und in rascher Aufein¬ 
anderfolge die Arbeiten von Mikulicz^) imd jene von Lorenz^) 
erschienen. Beide Autoren bemühten sich, durch ihre Operations¬ 
methode die Möglichkeit einer Eezidive, welche bis dahin bei dem 
Verfahren nach Stromeyer^) und v. V o 1 k m a n n^) nicht selten 
war, auszuschalten. Mikulicz erstrebt dies durch totale oder 
partielle Exstirpation des Kopfnickers, Lorenz dadurch, daß er an 
die Tenotomie beider proximalen Ansätze ein energisches model¬ 
lierendes Eedressement anschließt. Diese Korrektur der Cervikal- 
skoliose stellt den wesentlichen Teil des Eingriffes dar, weshalb man 
schlechtweg die Methode als die orthopädische im Gegensatz zur 
chirurgischen von Mikulicz bezeichnen kann. 

Beide Operationen wurden späterhin modifiziert und vielfach 
nach ihrem Wert verglichen. Eine Einigung, welcher von ihnen der 
Vorzug gebührt, ist bisher nicht gelungen. 

Zu der orthopädischen Methode, deren wesentlicher Bestandteil 
im Eedressement des Schiefhalses liegt, gehört auch das Verfahren 

Zentralbl. f. Chir. 1895, Nr. 1. 

2) Zentralbl. f. Chir. 1895, Nr. 5 und Wiener klin. Wochenschr. 1881, Nr. 17. 

Beiträge zur operativen Chirurgie 1833. 

*) Zentralbl. f. Chir. 1885, Nr. 14. 


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590 


O. von Frisch. 


Langes^) (Ueberkorrektnr nach Durchschneidung des Kopfnicbr 
am Warzenfortsatz), während die F öderische*) Operation (Mu^tc 
plastik) sich der von Mikulicz anschließt. 

Die von Gerdes^) (derselbe durchtrennte auch den Scaleri i 
anticus) und von Wullstein^) (Verkürzung des gesunden Ko: ; 
nickers neben der Tenotomie auf der kranken Seite) scheinen kacr 
geübt zu werden, und lasse ich dieselben weiterhin ganz außer acl* ; 

Eine im letzten Jahr von A b e r 1 e^) und kürzlich von H a u d e k- ; 
erschienene Arbeit über den Gegenstand veranlaßten mich, die an dr* 
V. Eiseisberg sehen Klinik behandelten Fälle von Schiefhals nac i 
zuprüfen. Es sind dies 23, von welchen 14 nach F ö d e r 1, 7 na i 
Lange und je 1 nach Mikulicz und Lorenz behandelt wurdfn^ 1 
Von denselben gelangten 18 zur Nachprüfung (davon 10 nach F ö d e r l ; 
6 nach Lange, 1 nach Mikulicz, 1 nach Lorenz) und zwar m i 
einem Zeitraum von 1—9 Jahren nach der Operation. Es waren 
16 Mädchen und 7 Knaben im Alter von 4 V 2 —23 Jahren, von welche: , 
3 im 5. Lebensjahre, 9 im 7., 3 im 9. bis 11., 6 im 13. bis 16., 2 im I n 
und 23. operiert wurden. Ein spezieller Grund, weshalb hier dieee. } 
dort jene Methode zur Anwendung gelangte, bestand nicht. Im all* 1 
gemeinen wurden die schweren Fälle nach Föderl behandelt, dit 
leichten nach vorhergehender Tenotomie redressiert. 

Ohne auf die Details meiner Statistik, welche nichts Neues ent* i 
halten, näher einzugehen, will ich betonen, daß von den 11 „operativ" I 
behandelten und nachgeprüften mit Ausnahme eines Falles, alle eii , 
tadelloses Resultat gaben. Bei einem nach Föderl operierten Kind 
vereiterte die Wunde (wahrscheinlich auf hämatogenem Wege von einem 
am Rücken befindlichen Furunkel). Während in der ersten Zeit nach : 
der Operation der Kopf vollkommen gerade war, stellte sich im Laufe | 
der Zeit, offenbar durch Schrumpfung der Narbe, wieder eine leichte | 
Neigung und Drehung des Kopfes ein. Auch bei der Nachprüfung der 
6 orthopädisch behandelten Fälle fand sich ein Mißerfolg, insofern ab 
bei einem nach Lange operierten Kind jetzt nach einem Jahre wieder 


Hohmann, Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 13. 

Arbeiten aus dem Gebiete der klinischen Chirurgie (Gussenbauer). 
Wien und Leipzig 1903. 

3) Zentralbl. f. Chir. 1907, Nr. 6. 

*) Zentralbl. f. Chir. 1903, Nr. 33. 

") Zentralbl. f. Chir. 1907, Nr. 28. 

®) Zeitschr. f. orthopäd. Cliir. Bd. 20. 


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Zur Frage der Therapie des angeborenen Schiefhalses. 591 

eine leichte Schiefstellung des Kopfes bemerkbar ist. Die Ueber- 
korrektur war in diesem Falle 6 Wochen durch den Gipsverband fixiert, 
worauf noch durch längere Zeit aktive und passive Uebungen vor¬ 
genommen wurden. Vielleicht hat in diesem Fall die Dauer der Nach¬ 
behandlung nicht genügt. 

Wenn auch unsere Resultate eine kritische Beurteilung der 
zwei sich prinzipiell gegenüberstehenden Behandlungsmethoden nicht 
zulassen, so möge uns, die wir beides erprobt haben, gestattet sein, 
auf Grund unserer Erfahrungen während der Behandlung das 
Für imd Wider kurz gegeneinander zu stellen. 

V. A b e r 1 e bricht eine Lanze für die orthopädische Behandlung 
und sagt in seiner Schrift, wie folgt: „Wir gehen von dem Prinzip aus, 
daß bei der Operation des Caput obstipum in allen Fällen das Haupt¬ 
gewicht auf die Korrektur der C e r v i k a 1 s k o 1 i o s e 
zu legen ist. Das Redressement der Halswirbelsäule muß daher in 
jedem Falle vorgenommen werden, ob es sich um einen leichten oder 
schweren Fall von Schiefhals handelt. “ Eingeleitet wird das Redresse¬ 
ment durch die subkutane Durchtrennung des Stemocleidomastoideus; 
eine offene Durchschneidung, insbesondere aber jede mit Substanz¬ 
verlust der Muskulatur (Mikulicz) verbimdene Operation erschwert 
das Redressement bezw. macht dasselbe vollkommen unmöglich. 

Dieser Meinung A b e r 1 e s ist entgegenzuhalten, daß bei den 
operativen Methoden ein Redressement vollkommen wegfällt, worin 
ein besonderer Vorteil des Verfahrens liegt. Daß hier jede aktive Kor¬ 
rektur unnötig ist, erhellt zur Genüge aus den Arbeiten von Miku¬ 
licz, aus dem Jahre 1895, von Stumme^) und B ö c k e r^) aus der 
H o f f a sehen Klinik, welch letztere über 90 nach Mikulicz be¬ 
handelte Fälle verfügte. Auch in unseren Fällen wurde niemals ein 
Redressement vorgenommen, nur in einigen Fällen ein Verband in 
leicht überkorrigierter Stellung angelegt, meistens jedoch nach voll¬ 
endeter Operation nichts weiter als ein aseptischer Wund verband 
gemacht. Die Nachprüfung ergab uns, ebenso wie den zuletzt ge¬ 
nannten Autoren, daß mit einzelnen Ausnahmen die Cervikalskoliose 
nach relativ kurzer Zeit verschwunden war. 

Es liegt etwas Unheimliches in jener forcierten Ueberkorrektur, 
wobei der bei der Tenotomie nicht durchtrennte Rest der verkürzten 
Weichteile mehr oder weniger gewaltsam zerrissen wird. Es sind auch 

Zeitschr. f. orthopäd. Chir. Bd. 9. 

Zentralbl. f. Chir. 1907, Nr. 16. 


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592 


O. von Frisch. 


gerade genug üble Zufälle (darunter ein Todesfall!) dabei beobacht^ 
worden (Reiner, Riedl, H o h m a n n, F ö d e r 1). Es ist ni:: 
von der Hand zu weisen, daß bei dem Redressement infolge der Ve: 
kürzimg, welche mit den Muskeln auch die Gefäße und Nerven d- 
Halses durch die seit der Geburt bestehende Deformität erlitten kb: 
müssen, diese lebenswichtigen Organe einer Belastungsprobe unte 
zogen werden, welche nicht ganz im Verhältnis zur Schwere des Leide: 
steht. Dieses Lorenz sehe Redressement erfordert weiters eine re:: 
komplizierte Nachbehandlung. Zunächst ist ein nicht leicht anr^ 
fertigender Gipsverband zu machen, der mehrere Wochen liegen bleib: 
der die Leidenszeit des Kranken nicht minder als die Dauer der or 
mittelbaren Behandlung hinauszieht, v. A b e r 1 e gibt fernerhin 
Lederdiadem mit Gummizug, Lange eine Zelluloid-Stahldrat: 
krawatte, die 14 Tage ohne Unterbrechung getragen wird und wahrer: 
der weiteren 2—3 Monate nur zum Zwecke der Suspension der Patientei i 
in der Glisson sehen Schlinge täglich auf V 2 Stunde entfernt wiri 

Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Behandlungsweise weseni 
lieh kostspieliger und zeitraubender ist als die Nachbehandlung naci 
Resektion oder Plastik des Muskels. Dabei sind die Resultate 
orthopädischen Verfahrens keinesfalls besser als jene anderen (B ö c ker 
1. c.). Darin liegt eben das Wesentliche des operativen Verfahren' 
daß durch Exstirpation bezw. durch Plastik ohne GewaltanwenduBf 
jenes Moment ausgeschaltet wird, welches in der Regel die Rezidive 
verursacht; die Muskelnarbe. Und deshalb bedarf es hier auch keines 
Redressements, während bei der Lorenz sehen Methode der durct 
trennte Muskel so weit und so lange von seinem Ansätze künstlich ent¬ 
fernt gehalten werden muß, bis der ganze Prozeß der Granulation 
Organisation in das Stadium der Ruhe gelangt ist und das neugebildete 
Bindegewebe als derber fibröser Strang seine Eigenschaft, zu schrumpfen 
nur mehr in geringem, imschädlichem Maße besitzt. 

Wenn die Anhänger der orthopädischen Methode ihr Verfahren 
im Gegensätze zu Mikulicz-Föderl als einfach, rasch un' 
leicht ausführbar bezeichnen, so ist demgegenüber die nicht selten 
V 2 ständige Dauer des Redressionsmanövers, sowie die damit verbundene 
Nachbehandlung entschieden als kompliziert zu bezeichnen, umsomek 
als bei Mißlingen derselben der ganze Erfolg in Frage steht. 

Der Hauptangriffspunkt aber, welchen die Orthopäden am 
operativen Verfahren zu haben glauben, ist die Kosmetik. 
chirurgischen Methoden wird zur Last gelegt, daß sie eine deutliche. 


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Zur Frage der Therapie des angeborenen Schiefhalses. 593 

sichtbare, häufig in Keloid übergehende Narbe verursachen, insbesondere 
aber, daß das Relief des Halses zerstört wird oder — mit den Worten 
A b e r 1 e s — daß „an Stelle der einen unschönen Deformität ein 
ebenso häßliches Loch erzeugt wird“. 

Was zunächst die Hautnarbe betrifft, so ist es kaum jemals 
nötig, den Schnitt länger als 3, höchstens 4 cm zu machen. Es gelingt 
bei der Methode von Mikulicz, wie bei jener nach F ö d e r 1, leicht, 
eine exakte Hautnaht anzulegen und es steht nichts im Wege, dieselbe 
stets nach Halstedzu machen, wodurch die Narbe nach 1—2 Jahren 
nicht mehr sichtbar ist. 

Ein Keloid entwickelt sich anscheinend tatsächlich häufiger nach 
der Operation eines Schiefhalses als nach anderen nicht angeborenen 
Leiden der Halsgegend (in unseren Fällen 2mal). Aber schon Miku¬ 
licz hat darauf hingewiesen — was später wiederholt bestätigt wurde 
— daß sich derartige Narben Verdickungen bereits nach einigen Wochen 
oder Monaten wieder zurückbilden. Auch an der Klinik von E i s e 1 s- 
b e r g wurde ein Gleiches beobachtet. 

Daß durch die Mikulicz sehe Operation „an Stelle der un¬ 
schönen Deformität ein ebenso häßliches Loch erzeugt wird“, ist ent¬ 
schieden zu viel gesagt; zunächst kann ein eventuell bleibender Defekt 
leicht duch die Kleidung verdeckt werden; weiters ist ein solcher nur 
in einem Teile der operierten Fälle beobachtet worden imd zwar dann, 
wenn durch die Totalexstirpation auch der sternale Teil des Kopf¬ 
nickers entfernt wurde. 

Diesen einzigen Nachteil der Resektions¬ 
methode beseitigt vollends Föderl durch seine 
Plastik. Er löst durch einen 3 cm langen Längsschnitt zwischen 
beiden Portionen des Sternocleidomastoideus die clavikulare Portion 
von ihrem Ansätze und der Unterlage bis zum Vereinigungspunkt mit 
dem stemalen Teil ab. An dieser Stelle wird letzterer ebenfalls durch¬ 
trennt und nach der Aufrichtung des Kopfes, wodurch sich die beiden 
Muskelquerschnitte einander nähern, werden dieselben durch einige 
Nähte aneinander fixiert. 

Durch die Erhaltung der stemalen Portion bleibt die Kon¬ 
figuration des Halses bestehen. Das Fehlen der clavikularen 
Portion ist von untergeordneter Bedeutung, wie es sich bei ge¬ 
nauer Nachprüfung der Fälle Föderls und jener unserer Klinik 
herausstellte. 

Die eigens diesbezüglich befragten Patienten und Patientinnen 


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594 


O. von Frisch. 


unserer Klinik erklärten durchwegs, daß sie mit dem kosmetischen i 
Erfolg vollkommen zufrieden seien. f 

Eine leichte Abflachimg der seitlichen Halspartie war nur ba | 
zwei besonders fettarmen, langhälsigen Individuen zu konstatieren | 
Alle anderen hatten einen vollkommen geraden und | 
symmetrischen Hals, und selbst für die Palpation war ein [ 
Defekt der clavikularen Portion nicht immer nachweisbar, offenbar 
infolge von Organisation des durch die Operation im Bette des ver¬ 
lagerten Muskels gesetzten Hämatoms. ; 

Dem Postulat der Vermeidung einer schrumpfenden Narbe m 
durch die Methode ebenfalls Eechnung getragen; es gelingt auch in 
den schwersten Fällen, die Muskelquerschnitte bei korrigierter Kopf ’ 
haltung ohne Spannimg miteinander zu vereinigen. 

Daß eine Tendenz zur Eezidive nicht besteht, erhellt aus Föderlj 
wie aus meiner Statistik. Ersterer verfügt über 14 Beobachtungen. | 
nachgeprüft nach 1—4 Jahren. Unsere Statistik bezieht sich ebenfalb j 
auf 14 nach dieser Methode behandelte Fälle; 10 von diesen konnten i 
nachgeprüft werden und zwar: 

1 nach 2 Jahren 

2 „ 5 „ 





O Q 

^ n 

F ö d e r 1 verzeichnet durchwegs Dauerheilimgen imd auch vb 
haben, mit Ausnahme eines Falles, in welchem infolge von Vereitcruni" 
des Operationsfeldes wieder eine leichte Neigung des Kopfes eintra: 
— ein Mißerfolg, welcher der Methode nicht zur Last gelegt werden 
kann — tadellose Eesultate. 

Noch einige Worte über die von Lange empfohlene Methode: 
Dieselbe erscheint uns wesentlich ungefährlicher als die Stromeyer- 
sehe (subkutan) Tenotomie, am proximalen Ansatz. 

Zunächst macht Lange die Myotomie offen; auch Hegt in de: 
Durchtrennung am oberen Ende des Muskels keine Gefahr der \er- 
letzung einer größeren Vene. Die subkutane Durchschneidung 
Jugulum, wofür v. A b e r 1 e eintritt, muß, wenn auch nicht in hohen 
Grade, so doch als gefährlich bezeichnet werden. Sie geschieht ohne 
Leitimg des Auges und kann bei Vorhandensein atypischer Gefäße 


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Zur Frage der Therapie des angeborenen Schiefhalses. 


595 


oder durch zu starkes Aufdrücken mit dem Messer sehr ernste Ver¬ 
letzungen zur Folge haben. Bei entspr^hender Asepsis ist es besser, 
die vollkommen ungefährliche offene Tenotomie (v. V o 1 k m a n n) 
auszuführen. Der Nachteil besteht in einer nur 5 mm längeren Narbe! 

Eine größere Bedeutung der Lange sehen Methode liegt aber 
darin, daß hier das Eedressement ein weniger gefährlicher imd gewiß 
auch leichterer Eingriff ist, als nach der v. Volkmann sehen Teno- 
tomie. Dieser Vorteil besteht, wie bereits H o h m a n n richtig betont, 
darin, daß die Korrektur der Kopfstellung ziemlich imabhängig von 
der Verkürzung der Fascien imd anderen unter dem Muskel liegenden 
Weichteile vorgenommen werden kann. Es gelingt jedenfalls mit ge¬ 
ringerer Gefahr der Kompression der großen Halsgefäße, den Kopf 
aus der pathologischen Neigung und Dehnung aufzurichten. Freilich 
ist damit noch nicht die Cervikalskoliose korrigiert und muß, ähnlich 
wie es Lange angibt, durch modellierende Gewalt eine Ueberkorrektur 
erreicht werden. In diesem, Punkte der möglichsten Dislokation des 
durchtrennten Muskels von seinem Ansatz, sowie in der Art und Weise 
der Nachbehandlung stimmen beide Methoden ziemlich überein. 

Lange respektiert die Gefahr der forcierten Ueberkorrektur; 
er treibt dieselbe nicht so weit wie Lorenz, legt lieber eine besondere 
Sorgfalt und Ausdauer in die Nachbehandlung. Darin imd in der eben 
begründeten Zweckmäßigkeit der Myotomie am Warzenfortsatz unter¬ 
scheidet sich Langes Methode vorteilhaft von jener Lorenz’. 

Unsere Fälle haben gezeigt, daß auch bei der F ö d e r 1 sehen 
Operation eine Ueberkorrektur nicht notwendig ist. Ich empfehle das 
Verfahren, insbesondere fürschwereFälle von Caput obstipum, 
auf Grund imserer Resultate imd gebe ihm wegen der relativen Un¬ 
gefährlichkeit des Eingriffes und der Einfachheit der Nachbehandlung 
vor den anderen in Frage stehenden Methoden, besonders der von 
Lorenz angegebenen, den Vorzug. Bezüglich der Kosmetik ist 
es durchaus zufriedenstellend, imd was den Dauererfolg betrifft, ge¬ 
bührt ihm der erste Platz. 


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XXXV. 


l 

t 


Aus der Königl. Universitäts-Poliklinik für orthopädische Chimrp* : 
in Berlin. (Interimistische Leitung: Prof. Dr. C. Helbing.) ■ 

Ein Beitrag zur Frage der Vererbung der 
angeborenen Hüftgelenksverrenknng. 

Von 

Dr. Paal Glaessner, 

orthop. Assistent der Königl. chirurgischen Universitätsklinik an der Charite 

In der Frage der Aetiologie der angeborenen Hüftgelenksv^ ■ 
renkung stehen sich noch immer zwei Theorien gegenüber, deren Ver 
treter in ebenso sachlicher wie scharfsinniger Weise ihre Argnmentc 
vorgebracht und verteidigt haben: die Theorie, welche die genannte i 
Deformität als durch einen primären Keimfehler entstanden auffaßt | 
und die Theorie, welche die angeborene Hüftverrenkimg als eine intra¬ 
uterine Belastungsdeformität hinstellt. Nach dem Stande der Dinp . 
scheint es aber, als ob keine der beiden Theorien heute in allen FäDen 
eine zureichende Erklärung für das Entstehen dieser nun als durchaus 
nicht so selten erkannten Deformität geben könnte. 

Wenn die Beobachtung richtig ist, daß man sich in der Orthopädie 
in neuerer Zeit mehr denn je der ätiologischen Forschung zu wendet, 
so ist es gewiß berechtigt, alle Faktoren, die da fördernd wirken können, 
wieder etwas mehr ins Licht zu rücken und auf Gnmd der Sichruii^ 
eines größeren Materials statistische Tatsachen mitzuteilen, besondere 
dann, wenn die letzteren deutlich zu weiteren Fragen bezüglich der 
Aetiologie auffordern. 

Man hat sich vielfach mit der Tatsache abgefunden, daß die an¬ 
geborene Hüftgelenksverrenkung „gar nicht so selten“ vererbt wird. 
Einige Autoren, Delanglade, Vogel, Blencke u. a., habeu 
auf Grund eines größeren Materials diesbezüglich ziffernmäßige Angaben 
gemacht, die auch von Wollenberg in seiner interessanten Arbeit 
„Die Bedeutung der Vererbung für die Aetiologie der angeborenen i 
Hüftgelenksverrenkung“ zusammengestellt sind. Auf Grund dieser 1 


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Ein Beitrag zur Vererbung der angeborenen Hüftgelenksverrenkung. 597 


Mitteilungen nun wächst die Bedeutung der Heredität für die Aetiologie 
der genannten Deformität ganz erheblich. Deshalb scheint es berechtigt, 
diesen Daten neue hinzuzufügen, die umso objektiver sind, als sie sich 
bei der Untersuchung eines zu ganz anderem Zwecke gesammelten 
Materials ergeben haben. 

In dem folgenden möchte ich mir nun erlauben, über alle Fälle 
von echter Vererbung imd familiärem Auftreten der angeborenen Hüft- 
gelenksverrenkimg Mitteilung zu machen, welche ich imter 200 Fällen 
der genannten Deformität habe feststellen können. Das Material zu 
dieser Untersuchung entstammt zum größeren Teil der Privatklinik 
meines verstorbenen Chefs, Herrn Geheimrats H o f f a, zum Teil der 
Kgl. Universitätspoliklinik für orthopädische Chirurgie in Berlin und 
wurde ursprünglich zum Zwecke einer größeren Sammelforschung über 
die in Rede stehende Deformität zusammengetragen. 

Bezüglich der Einteilung der Vererbungsfälle folge ich dem Modus, 
den Wollenberg in seiner oben zitierten Arbeit angewendet hat, 
und unterscheide 1. eine echte Heredität (alle diejenigen Fälle, bei 
denen die Vererbung der Luxation durch Vater oder Mutter oder einen 
Blutsverwandten derselben zu stände kam) und 2. ein familiäres Auf¬ 
treten, bei welchem mehrere Kinder in einer bisher von der Luxation 
freien Familie die Deformität mit zur Welt brachten. 

Wir haben also unter unseren Fällen folgende Gruppierung zu 
treffen: 

1. Direkte Vererbung durch den Vater. 

II. Indirekte Vererbung durch den Vater. 

III. Direkte Vererbung durch die Mutter. 

IV. Indirekte Vererbung durch die Mutter. 

V. Erbliche Belastung von väterlicher und mütterlicher Seite. 

VI. Erbliche Belastung von väterlicher oder mütterlicher Seite 
(ohne diesbezügliche genauere Angabe). 

VII. Rein familiäres Auftreten der Luxation. 

I. Direkte Vererbung durch den Vater. 

1. Bruno L., 28 Jahre, linkseitige Luxation. Der Vater hat eine 
rechtseitige Luxation. 

II. Indirekte Vererbung durch den Vater. 

1. Ella K., 14 Jahre, doppelseitige Luxation. Ein Vetter des 
Vaters hat eine einseitige Luxation. 


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598 


Paul Glaessner. 


2. Annie N., 6 Jahre, doppelseitige Luxation. Eine Tante de; 
Vaters hat eine (?) Luxation. 

3. Johanna K., SVa Jahre, linkseitige Luxation. Zwei Cousine: 
des Vaters gleichfalls mit linkseitiger Luxation. 

4. Gerda B., 3 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Tante (fc 
Vaters hat eine Luxation. 

5. Martha H., 13 Jahre, doppelseitige Luxation. Eine Schwebte: 
des Vaters und ein älterer Bruder der Patientin haben eine Lnxatior. 

6. Lucie St., 4 Jahre, rechtseitige Luxation. Eine Cousine un- 
eine Stiefschwester des Vaters haben eine Luxation. 

7. Hermann H., 26 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousb* 
des Vaters hat auch eine Luxation. 

8. Stephanie Fr., 13 Jahre, rechtseitige Luxation. Eine Gro3- 
cousine und eine Enkelin der Schwester des Urgroßvaters (väterlicher 
seits) haben eine Luxation. 

9. Anna F., 14 Jahre, linkseitige Luxation. Die Urgroßmutter 
väterlicherseits hat auch eine Luxation gehabt. 

10. Käthe D., 20 Jahre, linkseitige Luxation. Zwei Nichten 
Großvaters väterlicherseits hatten auch eine Luxation. 

11. Julie CI., 3 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousine väter¬ 
licherseits hat eine doppelseitige Luxation. 

12. Hilde B., 4 Jahre, doppelseitige Luxation. Ein Bruder de? 
Vaters hat eine einseitige Luxation. 

13. Nora v. E., 6 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousint 
väterlicherseits hat eine Luxation. 

14. Anneliese K., 5 Jahre, rechtseitige Luxation. Zwei Cousine: 
des Vaters haben auch eine Luxation. 

15. Johann A., 50 Jahre, doppelseitige Luxation. Die UrgroS^ 
mutter des Vaters und zwei andere Urenkel derselben hatten 
Luxation, die Urgroßmutter eine doppelseitige. 

III. Direkte Vererbung durch die Mutter. 

1. Margarete H., 26 Jahre, linkseitige Luxation. Die Mutte: 
hatte auch eine linkseitige Luxation. 

IV. Indirekte Vererbung durch die Mutter. 

1. Charlotte M., 6 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Tante de: 
Mutter hatte eine Luxation. 

2. Elfriede W., 6 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousine der 
Mutter hatte eine Luxation. 


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Ein Beitrag zur Vererbung der angeborenen Hüftgelenksverrenkung. 599 

3. Kurt P., 31/2 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousine der 
Mutter (?) hatte eine Luxation. 

4. Irene v. K., 2 Jahre, linkseitige Luxation. Zwei Brüder der 
Mutter (als Kinder gestorben) hatten angeblich eine Luxation. 

5. Else W., 7 V 2 Jahre, doppelseitige Luxation. Eine Großcousine 
mütterlicherseits hat eine Luxation. 

6. Max U., 4 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Schwester der 
Mutter hat eine einseitige Luxation. 

7. Eveline N., 37 Jahre, linkseitige Luxation. Ein Bruder der 
Großmutter mütterlicherseits hatte eine Luxation. 

8. Erna K., 11 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Schwester der 
Mutter hat eine linkseitige Luxation. 

9. Käthe H., 9 Jahre, linkseitige Luxation. Ein Vetter mütter¬ 
licherseits hat eine linkseitige Luxation. 

10. Lori H., 12 Jahre, doppelseitige Luxation. Ein Bruder der 
Mutter hat auch eine Luxation. 

11. Gretchen G., 7^/2 Jahre, Luxation. Großmutter mütterlicher¬ 
seits hat auch eine Luxation. 

12. Erna D., 177*2 Jahre, rechtseitige Luxation. Urgroßmutter 
mütterlicherseits hatte eine Luxation. 

13. Ruth B., 4 Jahre, linkseitige Luxation. Zwei Cousinen der 
Mutter hatten auch eine Luxation, eine eine doppelseitige. 

14. Else B., 5 Jahre, rechtseitige Luxation. Die Nichte der Gro߬ 
mutter mütterlicherseits hatte eine Luxation. 

V. ErblicheBelastung von väterlicher und mütter¬ 
licher Seite. 

1. Martha W., 10 Jahre, doppelseitige Luxation. 

Maria W., 7 Jahre, doppelseitige Luxation. 

Eine Cousine der Mutter und eine Nichte des Vaters hatten doppel¬ 
seitige Luxationen. 

2. M., 18 Jahre, linkseitige Luxation. Eine Cousine des Vaters 
und eine Cousine der Mutter hatten Luxationen. 

3. Paula H., 8 Jahre, linkseitige Luxation. 

Erika H., 6 Jahre, linkseitige Luxation. 

Eine Cousine des Vaters hat eine einseitige, eine Cousine der Mutter 
eine doppelseitige Luxation. 


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Ein Beitrag zur Vererbung der angeborenen Htiftgelenksverrenkung. 601 

Vergleichen wir diese Werte mit den Berechnungen Wellenbergs 
aus dem in der Literatur mitgeteilten Material von 666 Fällen von 
Vererbung der genannten Deformität, so stehen unseren 18,5 Proz. — 
16,6 Proz. und unseren 2 Proz. — 4,3 Proz. Wellenbergs gegen¬ 
über. Diese Zahlen sprechen doch eine deutliche Sprache. Die in so 
geringen Grenzen sich bewegenden Differenzen lassen immerhin ein 
gewisses konstantes Zahlenverhältnis erkennen und beweisen, 

1. daß das familiäre Auftreten der angeborenen Hüftgelenks¬ 
verrenkung weit seltener ist als die echte Heredität; 

2. daß in mindestens 20 Proz. der Fälle von angeborener Hüft¬ 
gelenksverrenkung eine Vererbung nachzuweisen ist. 

Vielleicht ist die Zahl von 20 Proz. noch etwas zu niedrig. Es 
wrar nämlich auffällig, daß unter dem Material der Privatklinik sich 
verhältnismäßig mehr Angaben über Vererbung fanden als irnter dem 
poliklinischen Material. Die Erklärung dafür liegt nahe. Die minder¬ 
begüterten Klassen besonders in der Großstadt kennen oft eine ganze 
Zahl ihrer weiteren Verwandten gar nicht und wissen oft noch weit 
weniger von der gegenseitigen Aszendenz. 

Auf die Bedeutung des Mißverhältnisses in den Zahlen für echte 
Heredität und familiäres Auftreten für die Aetiologie der angeborenen 
Hüftgelenks Verrenkung hat schon Wollenberg eingehend hin¬ 
gewiesen. Mir kam es nur darauf an, an der Hand eines größeren, völlig 
vorurteilslos beobachteten und zum größten Teil schon vor der Wollen¬ 
berg sehen Publikation gesammelten Materials zu zeigen, daß minde¬ 
stens jeder fünfte Fall von angeborener Hüftgelenksverrenkung vererbt 
ist und daß die Vererbung im wahren Sinne weit häufiger ist als das 
familiäre Auftreten. 

Diesen 20 Proz. von vererbten Fällen stehen aber noch immer 
80 Proz. gegenüber, für welche uns, wie schon eingangs betont, keine 
der beiden Theorien eine befriedigende Erklärung für die Entstehung 
der Deformität zu geben vermag. Vielleicht lassen die geistvollen Aus¬ 
führungen LeDamanys über die Aetiologie der angeborenen Hüft¬ 
verrenkung die ganze Frage in einem neuen Lichte erscheinen. Jeden¬ 
falls stehen sie mit der Theorie des primären Keimfehlers durchaus 
nicht in Widerspruch und auch die mechanischen Theorien kämen, 
wenn auch in etwas anderem Sinne, zu ihrem Rechte. 


Zeitschrift für orthopildische Chirurgie. XXII. Band. 


39 


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I 


XXXVI. 1 

i 

Zur Aetiologie und Pathologie des &enu recurvatm 
und der Tibia recurvata. ; 

Von j 

Dr. Siegfried Peltesohn, [ 

1. Assistenten der König!. Universitäts-Poliklinik für orthopäd. Ghiriirgie zu : 

(Direktor: Prof. Dr. G. Joachimsthal). 

Mit 10 Abbildungen. 

Je größer die kasuistische Literatur über das Genu recurvati: j 
wird, umso deutlicher wird es, wie verschieden sich die Aetiokc \ 
dieser Erkrankung gestaltet. Auch in pathologischer Beziehung , 
das Genu recurvatum kein einheitliches Bild dar, wenn man unt?: 
diesen Begriff alle diejenigen Stellungsanomalien des Unterschenkels ge^ ' 
den Oberschenkel subsumiert, bei denen diese beiden Komponente* ' 
des Kniegelenks einen nach vom offenen Winkel miteinander bilden ode’ 
bilden können. Denn abgesehen davon, daß eine solche Durchbiegnu 
ein versteiftes oder ein bewegliches Kme betreffen kann, wird 
Krankheitsbild ein noch komplizierteres dadurch, daß die Ursacb 
der ßekurvation oft gar nicht im Kniegelenk selbst ihren Sitz 
sondern vielmehr in den benachbarten Knochen. 

Um den Begriff des Genu recurvatum genau zu charakterisier^:! 
ist es von Bedeutung, sich über die Streckfähigkeit des Kniegeleüi? 
zu unterrichten. Daß ein Winkel von 180®, gebildet durch Ober- urc 
Unterschenkel, nicht die Grenze des Normalen darstellt, ist bekannt 
entsteht doch schon bei der militärischen Haltung mit „durchgedrückte: 
Knieen“ ein nach vorne offener Winkel. 

Während nun bei gesunden Kindern die Hyperextension im Knit' 
oft um 100 über die Gerade, d. h. über 180o, gesteigert werden kann 
muß man beim Erwachsenen eine derartige Eekurvation bereits al‘ 
abnorm bezeichnen. Da indessen die Durchbiegungen zwischen ISO 


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Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. @03 


und 1700 an sich Beschwerden wohl kaum einmal auslösen und auch 
in der Regel nicht beachtet, daher auch nicht zum Arzt gebracht werden, 
so dürften als krankhaft nur solche E^egelenke anzusehen sein, die 
einen um mehr als 10° nach vorne offenen Winkel, also einen solchen 
von mindestens 170o mittels ihrer Komponenten bilden. Dieses Maß 
wird auch in neueren Arbeiten meistens als die Grenze des Normalen 
angenommen. 

Im landläufigen Sinne des Wortes versteht man aber imter Genu 
recurvatum zumeist nur die noch hochgradigeren Stellungsanomalien, 
die sofort als krankhaft in die Augen fallen. 

Von vornherein sind nun zwei große Gruppen des G. r. zu imter- 
scheiden, nämlich das G. r, congenitum und das G.r. acquisitum, Erstere 
Erkrankung, als Initialstadium der angeborenen Bmiegelenksluxation 
bekannt, ist in neuerer Zeit der Gegenstand gründlicher Untersuchimgen 
gewesen. Dagegen ist die Kasuistik des erworbenen G. r, noch nicht 
sehr beträchtlich. 

Wir verdanken Le Fort eine jüngst erschienene ausführliche 
Bearbeitung aller in die Rubrik des G. r. acquisitum gehörigen Erkran¬ 
kungen; vor ihm hatte nur Worobief dieses Thema in extenso be¬ 
handelt, doch existiert meines Wissens keine Uebersetzung der in russi¬ 
scher Sprache geschriebenen Abhandlung, so daß man sich auf kurze Refe¬ 
rate derselben beziehen muß. Worobief teilt die primären Ursachen 
des G, r, nach ätiologischen Gesichtspunkten ein in Erkrankungen des 
Nervensystems, so daß es nach ihm ein paralytisches G, r, nach Kinder¬ 
lähmung oder Läsion des Rückenmarks und ein arthropathisches bei Tabes 
oder bei progressiver Paralyse gibt, und in Erkrankungen des Femur oder 
der Tibia oder des Kniegelenks. Diese als osteopathogenetische be- 
zeichnete Abart sah Worobief nach Bruch der Tibia, nach Osteo¬ 
myelitis, Rhachitis, Tuberkulose, Syphilis und Kniegelenksentzündung 
auftreten, endlich als Begleiterscheinung des Pes equino-varus. — 
Ohne dem G, r. einen eigenen Abschnitt zu widmen, bespricht Schanz 
im Handbuch von Joachimsthal an verschiedenen Stellen folgende 
Arten; das G. r. bei Arthritis deformans, bei Tabes, das osteomyelitische, 
das paralytische und das rhachitische. Außer diesen letzteren erwähnt 
noch Reichel im Handbuch der praktischen Chirurgie das G. r. 
nachCoxitis, dem auch Dollinger in Joachimsthals Handbuch 
einige Zeilen widmet. H o f f a führt weiterhin das G. r, durch un¬ 
passende Lagerung oder fehlerhafte Extension an. Weitaus am besten 
ist das Einteilungsprinzip von L e F o r t, der einmal nach anatomischen 


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604 


Siegfried Peltesohn. 


Gesichtspunkten von einem G. r. bei nicht ankylosierenden, von eint:' 
solchen bei ankylosierenden Knieerkranknngen, endlich von dem G.: i 
nach Resectio genu spricht, dann aber in ausführlichster Weise auf c * ^ 
Basis dieser ersten Einteilung nach der Aetiologie das traumatiscl^: ■ 
das funktionelle oder Anpassungs-, das rhachitische, das osteomalaci=cii | 
das achondroplastische, das paralytische und das tabisch-neuropatliisc: 
G. r. behandelt, alles Erkrankungen bei Beweglichkeit des Kniegeleit 

Stößt nun schon die Erklärung der Entstehung des eigentlich" 
G.r. acquisitum hie imd da auf Schwierigkeiten, so trifft dieses in ua: j 
höherem Grade in denjenigen Fällen zu, wo die eigentliche Erkranh:: 
nicht im Kniegelenk selbst sitzt, d. h. wo der Scheitel des Knickung' I 
winkeis nicht in den Gelenkspalt fällt, sondern juxta-artiloilär lie-r 
Mit Recht wird auch dieser Typus des G. r. meist abgetrennt behände 
und, wenn die Knickung an der Tibia sitzt, teils als Tibia recurvau 
teils als pathologische Abknickung der oberen Tibiaepiphyse beschriebe: 

Im Laufe mehrerer Jahre habe ich Gelegenheit gehabt, eine AniaL 
von höhergradigen erworbenen G. r.-Fällen verschiedenen Ir 
Sprungs und verschiedener Pathologie zu sehen und zu untersuche: 
Ueber Aetiologie und Pathologie dieser Fälle zu be 
richten, ist der Hauptzweck der vorliegenden Arbeit. 

Um zunächst zwei Fälle von G. r. bei ankylosierender j 
Erkrankungen des Knies mitzuteilen, so handelte es sich indei 
einen Falle, den ich noch im Stadt. Krankenhause am Urban zu Berlinale j 
Assistenzarzt beobachtete und für dessen Ueberlassung ich auch an dieser 
Stelle Herrn Oberarzt Dr. Brentano meinen verbindlichsten Dank an- 
spreche, um ein Genu recurvatum osteomyeliticun 

Leo K., 31 jähriger Zigarrenmacher, war früher stets gesunc 
gewesen, bis er am 18. März 1888 eine Stichverletzung des linken 
und zwar nach außen und unten von der Blniescheibe erlitt. K. hattt 
damals zunächst keine Beschwerden. Erst, als etwa 2 Monate nacii 
der Verletzung das Knie anschwoll, suchte er ein Krankenhaus 
und es wurden dort mehrfache Inzisionen am Kme gemacht, bei denen 
sich angeblich kein Eiter entleerte. Er wurde danach 4 Monate nin 
Schienenverbänden behandelt und als geheilt mit fast unbeweglicbeir 
Kniegelenk entlassen. 2 Jahre später bemerkte der Patient, welcte 
auch nach seiner Entlassung aus dem Krankenhause meist im 
arbeitete, daß sich sein linkes Kniegelenk ohne besonderen Grund nack 
hinten durchdrückte. Die jetzige Form des Kniegelenks besteht seit 
dem Jahre 1894, seit welcher Zeit die Verbiegung zum Stillstand p* 


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Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. ßOS 

kommen ist. Patient hat angeblich niemals Schmerzen in dem Knie 
gehabt. 

Bei der Krankenhansaufnahme im August 1903 erhob ich folgenden 
Befund: Untersetzter, kräftig gebauter, gut genährter Mann mit ge¬ 
sunden inneren Organen. Das linke Kniegelenk ist in Ueber- 
streckung ankylosiert, so daß Ober- und Unterschenkel einen nach 
vorne offenen Winkel von 120^ miteinander bilden, die Kniescheibe ist 
unbeweglich. Zu beiden Seiten des Knies finden sich je zwei eingezogene, 
von der Operation im Jahre 1888 herriihrende stichförmige Narben. 
Kig. 1 zeigt die damaligen Verhältnisse des linken Knies. Die Mus- 


Fig. 1. 



kulatur war stark atrophisch; die Kondylen des Femur waren deutlich 
abzutasten. Es bestand ein hochgradiger Spitzfuß. — Die Röntgen¬ 
aufnahme, die leider zu schwach zur Reproduktion ist, klärte über die 
weiteren anatomischen Einzelheiten auf. Das Bild zeigt die feste 
Ankylose von Femur imd Tibia in einem nach vorn offenen Winkel 
von 1200, so daß die Konturen der Gelenkflächen noch eben zu erkennen 
sind. Die normalerweise vorhandene leichte Rundung, mit der die 
Kondylen des Femur das untere Ende dieses Knochens bilden, ist im 
Sinne der Streckung ausgeglichen, so daß die Kondylen nur wenig 
nach hinten prominieren. Die Tibiagelenkfläche steht nicht lotrecht 
auf der Längsachse dieses Knochens, sondern verläuft schräg von vom 


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606 


Siegfried Peltesohn. 


unten nach hinten oben und bildet mit der vorderen Tibiakante eine | 
Winkel von ISO^. Die Fibula endet etwa in Höhe des hinteren Bande • 
der Tibiagelenkfläche. 

Am 11. August 1903 wurde von Herrn Oberarzt Dr. Brei 
tano in Alkoholchloroformäthemarkose zur operativen Ge^ad^ 
Stellung geschritten. Freilegung des Knies durch Bogenschnitt m 
die Patella mit zentral gelegener Basis; die mit dem Femur ver 
wachsene E^escheibe wird abgemeißelt imd nun der Lappen mit der 
Kniescheibe nach oben präpariert. Dann wird aus der knöcherner . 
Ankylose ein an seiner Basis 4 cm hoher Keil, dessen Basis nach liinte 
liegt, in zwei Hälften reseziert. Nach Exstirpation der Kniescheik 1 
wurden Femur- imd Tibiasägeflächen durch zwei Silberdrahtnähte fe* 
aneinander fixiert und die Quadricepssehne mit dem Ligamentni: 
patellae proprium durch Katgutnähte vereinigt. Schließung der Hacr 


Fig. 2. 



wunde durch Zwimnähte nach Mobilisienmg der Haut am Unter 
Schenkel durch zwei seitliche Einschnitte. 

Der Verlauf war fieberfrei, die Heilung der Wunde erfolgte asep 
tisch. Die Nachbehandlung bestand in Gips verbänden bis zum Eintrin 
der Konsolidation, welche nach etwa 4 Monaten vollendet war (Fig. 2' 
Eine Nachuntersuchung 4 Monate nach der Entlassung ergab 
daß das Bein in gerader Stellung des Knies fest verheilt war; die Ver¬ 
kürzung betrug 2 Y 2 cm. Entsprechend der geringen Verkürzung va: 
der Gang wenig hinkend; das Fußgelenk war frei beweglich. 

Die auf Osteomyelitis beruhenden Verbiegimgen des Knies nach 
hinten gehören zu den seltenen Vorkommnissen. Bisher existieret 
2 derartige Beobachtungen von Nikolaisen, welche von Kiscl 
zitiert sind, 2 weitere dieses letzteren Autors und 1 Fall von Romano 
(Genu recurvatum di alto grado di origine patologica con sinostos fe 
moro-tibiale: Archivio di ortopedia 1908 Nr. 3). Was die Entstehung 


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Aetiologie und Pathologie des Genu reciirvatum Und der Tibia recurvata. 607 

des vorstehenden Falles betrifft, so ist, da andere ätiologische Mo¬ 
mente nicht vorliegen, ein direkter Zusammenhang zwischen der Stich¬ 
verletzung des Kmes im Jahre 1888 und der späteren Verbiegung anzu¬ 
nehmen. Der Stich verletzte das obere Ende der Tibia, etwas lateral 
vom Ansatz des Lig. patellae eindringend. Die sich anschließende, 
offenbar nur leichte Infektion verursachte eine zirkumskripte Osteo¬ 
myelitis der Tibiaepiphyse und ergriff erst etwa 2 Monate später das 
Gelenk, so daß es zu einem serösen Erguß kam, der auch mehrfach 
punktiert wurde. Es kam zu einer Verwachsung der Gelenkflächen 
von Tibia, Femur und Patella. Wie erklärt sich nun das Entstehen 
des Genu recurvatum? Den ersten Anstoß zur Verbiegung hat hier 
zweifellos die Verletzimg des vorderen Teils der Tibiaepiphyse dadurch 
gegeben, daß eine zirkumskripte, blande, chronische Osteomyelitis 
Platz griff, die zu einem, wenn auch nur geringen, Substanzverluste 
dieser Knochenpartie führte. Diese Annahme wird durch das Röntgen¬ 
bild gestützt, auf welchem die Abschrägung der Tibiagelenkfläche 
von hinten oben nach vorn unten zu erkennen ist. Es hieße den Tat¬ 
sachen Gewalt antun, wollte man die seröse Gelenkentzündung als 
Ursache für die Rekurvation ansehen. Zuzugeben ist selbstverständlich, 
daß eine Arthritis zu Stellungsanomalien des Knies führen kann. 
Indessen kommt es doch dann wohl stets zu einer Ankylose in gerader 
oder flektierter Stellung. Um die Rekurvation zu erklären, muß im vor¬ 
liegenden Falle der Defekt an der vorderen Tibiakante mit herange¬ 
zogen werden. 

Bei der Unmöglichkeit, zu entscheiden, ob bei der Stichverletzung 
die Epiphyse selbst oder die Epiphysenlinie getroffen wurde, ist als 
Grund für die Rekurvation eine Hinderung des normalen Knochen¬ 
wachstums an der Tibiavorderseite nicht a limine zurückzuweisen. 
Daß Läsionen der KLnorpelknochengrenze noch dazu bei einem im 
Wachstum begriffenen 16jährigen Jüngling zu Störungen in der nor¬ 
malen Knochenneubildung führen können, ist einleuchtend und dürfte 
wohl auch in unserem Falle auf die Gestaltung des Beins nicht ohne 
Einfluß gewesen sein. 

Kisch hat nun zur Erklärung der Hochgradigkeit seiner Fälle 
ein verschiedenes Wachstum der vorderen imd hinteren Knochen¬ 
partien am Femur dui'ch differente Verteilimg des Druckes auf die 
Epiphyse heranziehen zu sollen geglaubt. Was die Tibia anbetrifft, 
so scheint jedenfalls in unserem Falle eine derartige Annahme nicht 
wahrscheinlich; denn das Röntgenbild ergibt einmal ein normales 


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608 


Siegfried Peltesohn. 


Lageverhältnis zwischen Tibiahinterkante und Fibula, anderseits aber 
für die Fibula der erkrankten Seite dieselbe Länge wie für die der ge¬ 
sunden Seite, so daß man also auf ein normales Wachstum der Tibb 
an ihrer intakt gebliebenen Hinterseite daraus schließen darf. Wä? 
den Femur anbetrifit, so ist bei der festen knöchernen Ankylose niclt 
mehr zu erkennen, wo die Gelenkfläche saß. Doch glauben wir auci 
hier die H)T)othe3e des ungleichen Wachsens der Vorder- und Hinter¬ 
seite zur Erklärung der Deformität nicht zu benötigen. Vielmehr scheict 
uns das Moment der Belastung zu genügen, um bei einmal in ihren 
Anfängen vorhandener Rekurvation sowohl das Fortschreiten dieser, 
wie die Durchbiegung des Femurknochens zu erklären. In der Tat 
sehen wir, daß in unserem Falle die Rekurvation nur zum Teil an 
Rechnung des Epiphysendefektes an der Tibiavorderkante zu setzei 
ist, daß vielmehr der an der ursprünglichen Erkrankung völlig unb^e- 
teiligte Femur wesentlich zur Verbildung des Beins beiträgt, indem 
hier die Diaphyse eine ausgesprochene Schweifung mit der Konka\’ität 
nach vorn aufweist. Diese Schweifung dürfte vielleicht so zu erklären 
sein, daß der Druck des beginnenden G. r. auf den vorderen Partien 
der Femurepiphyse gelastet und dadurch die Verbiegung des distalen 
Diaphysenendes nach vorn begünstigt hat. Die Belastung hat besonders 
intensiv einwirken können, da der zur Zeit des Beginns der Rekurvation 
eben 16 Jahre alte Patient dauernd im Stehen als Zigarrenmaclier zu 
arbeiten gezwungen war. 

Hofmeister, der die Ursachen der Femurverkrümmungen 
bei Flexionsankylosen des resezierten Kniegelenks untersucht hat, 
sucht in der physiologischen Weichheit der Epiphysenlinienbezirke (he 
Quelle der Wachstums Verbiegungen und erachtet das pathologische 
Moment in der abnormen Beanspruchung dieser physiologisch weniger 
resistenten Teile gegeben. Einen derartigen Vorgang müssen auch wir 
für die Durchbiegung des Femurschaftes in unserem Fall anerkeimen 
und möchten in Analogie mit der Hofmeister sehen Erklärung bei 
dem in Hyperextension ankylosierten Knie den ganzen nach abwärts 
von der Femurepiphyse gelegenen Gliedabschnitt als einen einheitlichen, 
langen Hebelarm ansehen, an welchem die Biegungsgewalt in Form der 
Körperlast angreift. So würde sich das Geradebleiben der Tibia und (he 
Rekurvierung des Femur erklären. 

Was die Bezeichnung dieses Falles als ein G. r. osteomyeliticum 
rechtfertigt, ist der Umstand, daß das primäre, die Rekurvierung 
auslösende, Moment die ßubakute Osteomyelitis der Tibia- 


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Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. ß09 

epiphyse war. Der Begriff des traumatischen 6. r., das ja auch 
unserem Falle zukommen würde, dürfte besser für die nach Frakturen 
und schweren Bandzerreißungen auf tretenden Fälle reserviert werden. 

Interessant sind endlich noch die Veränderungen, welche die 
bei der Operation entfernte Kniescheibe in struktureller 
Beziehung aufweist. Im ganzen ist, wie Furnierschnitte zeigen 
(Fig. 3), die normale Parallelogrammform gewahrt. Dagegen zeigt 
sich eine auffallende Rarefikation der gesamten Knochensubstanz, 
speziell der Corticaliszugbälkchen an der konvexen Außenseite. Diese 
Strukturverhältnisse entsprechen der funktionellen 
Bedeutungslosigkeit der ankylosierten Kniescheibe Fig. 3. 

bei gleichzeitiger Ankylose des Genu recurvatum. 

Einen weiteren für die Aetiologie und Patho¬ 
logie des G. r. bemerkenswerten Befund stellt 
die folgende Beobachtung aus der Reihe 
der ankylotischen Rekurvations- 
deformitäten dar. Da dieser Fall, der 
ebenso wie die folgenden aus der Anstalt des 
Herrn Professor Joachimsthal stammt, bereits 
die Grundlage zu der Inauguraldissertation von 
Zwirn (Leipzig 1906) abgegeben hat, so sei er 
hier nur noch einmal auszugsweise mitgeteilt. Die von diesem Falle 
stammenden photographischen und radiographischen Bilder, welche 
bisher nicht reproduziert sind, verdienen zweifellos unser Interesse. 

Es handelte sich um eine 27jährige Friseursfrau L. T. (R.-Nr. 
3619/05), die sich eine gonorrhoische Gonitis zuzog, deretwegen sie von 
Anfang Januar bis Ende Mai 1903 in einem hiesigen Krankenhause 
behandelt wurde. Die Mitte Januar 1903 sich ausbildende Flexions¬ 
kontraktur mit leichter Subluxation der Tibia nach hinten erforderte 
Mitte April 1903 in Aethernarkose die Mobilisierung mit folgendem 
Streckverband mit einem Zug, der fußwärts, und einem Zug, der am 
proximalen Tibiaende nach aufwärts gerichtet war. Nach 8 Tagen 
begann man mit Gipsverbandbehandlung, welche bis zum August 1903 
fortgeführt wurde. Als die Patientin Ende Mai 1903 zur ambulanten 
Nachbehandlung entlassen wurde, soll nach ihrer eigenen Angabe be¬ 
reits eine leichte Rekurvation bestanden haben, die sich im Laufe der 
folgenden anderthalb Jahre bis zu dem folgenden, im Februar 1905 fest¬ 
gestellten Befimde verschlimmerte. Es bestand (Fig. 4, 5) eine Knie- 



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610 


Siegfried Peltesohn. 


gelenksankylose mit Rekurvation von 145® und ganz geringer Valgns* 
deviation. 


Das Röntgenbild (Fig. 6) zeigt Unter- und Oberschenkel mit¬ 


einander knöchern verwachsen, ebensc 


Fig. 4. 


die Kniescheibe mit dem Femur. Tiläa 



und Femur bilden einen nach vome 
offenen Winkel von 148 o. Die Kon* 
turen des Femur sind zwar noch 
deutlich vorhanden, doch zeigt der 
hintere Teil der Kondylen eine erheb¬ 
liche Aufhellung; letzteres gilt auct 
von der Patella und dem hinteren Ab¬ 
schnitt der Tibiakondylen, ein Zeichen 
für die funktionelle Ausschaltung dies» 
Teile. Der vordere Abschnitt der Tibia- 
kondylen fehlt, so daß die Tibiagelenk- 
fläche schräg von hinten oben nach 
vorn unten verläuft. Stark dunkle 
Knochenmassen zeichnen die Ankylose 
zwischen Tibia und Femur aus. 

Da von der Patientin jeder re- 
dressierende Eingriff abgelehnt wurde, 
beschränkte man sich auf die An¬ 
legung eines Schienenhülsenapparate? 


zum Zwecke der Entlastung des dauernd schmerzhaften Knies und 
der Vorbeugung einer weiteren Rekurvation. 


Fig. 5. 



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Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. 611 


Kurz zusammengefaßt, handelt es sich also in dem vorstehenden 
Fall um ein Genu recurvatum nach Mobilisierung 
und Redressement einer Flexionskontraktur mit 
Subluxatio tibiae nach Gonitis gonorrhoica. 

Hyperextensionskontrakturen bei deformierenden Gelenkent- 


Fig. 6. 



Zündungen — und schließlich deformiert die Arthritis gonorrhoica 
die Gelenke auch — kommen hie und da, allerdings meist nur in leichtem 
Grade, zur Beobachtung, Indessen kann man den vorliegenden Fall 
kaum in diese Kategorie einreihen; denn tatsächlich war ja hier zuerst 
die für gonorrhoische Entzündung typischere Beugekontraktur aus- 


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612 


Siegfried Peltesohn. 


gelöst worden. DasG. r. ist hier zweifellos erst die Folge des thera 
peutischen Eingriffes gewesen. Eine derartigeEntstehungsursacb^ 
gehört glücklicherweise immerhin zu den Seltenheiten. OfFenbar kc 
der Entstehungsmechanismus hier so, daß das durch den ExtensioiL- 
verband gestreckte Knie in geringer Rekurvatumstellung im Gip 
verband fixiert wurde, daß die fixierenden Verbände vor Eintritt völfe 
Konsolidation entfernt worden waren und die Patientin zu früh das Beii 
belastet hatte. Sehr wahrscheinlich war zuerst eine stärkere Zerstömnc 
des vorderen Teils des Tibiagelenkknorpels eingetreten und hat*' 
schnell zu einer Verwachsung dieses Teils der Gelenkflächen mit der 
Femur geführt. Der Streckverband hatte vielleicht auch die hinterer 
Kapselteile und die Beugemuskeln an der Hinterseite des Oberschenkel' 
gedehnt, so daß auch von dieser Seite der Durchbiegung des Knies 
ein Widerstand nicht entgegengesetzt wurde. 

Was nun die Form der Knochen im Röntgenbilde anbetriflt, sc 
muß noch auf eine ungewöhnliche Schweifung des Femur iis 
Sinne einer Steigerung der normalen Schweifung hingewiesen werden: 
diese Deformierung erklärt sich einfach durch die Belastung des Femir 
bei rekurviertem Knie, ein Vorgang, der leicht mit Hilfe biegsamer 
Stäbe nachgealimt werden kann und bei dem sich zeigt, daß bei 
Belastung eines solchen Modells die normale Schweifung des Femur 
stärker werden muß. Offenbar liegen beim erwachsenen Indi\dduuffi 
die Belastungsverhältnisse ganz anders als beim noch wachsenden, 
bei dem eine gewisse physiologische Weichheit der Kinochen den durci 
ungleiche Epiphysenbelastung hervorgerufenen Umformungsfaktorei 
keinen beträchtlichen Widerstand zu leisten vermögen. Auch fällt ja 
hier das von Kisch angenommene ungleiche Wachstum an der 
Vorder- resp. Hinterseite der Schenkelknochen von vornherein fort. 

Handelte es sich in den beiden vorstehenden Fällen um Genua 
recurvata ankylotica, so betreffen die beiden noch folgenden Beob¬ 
achtungen Knierekurvationen beträchtlichen Grades bei 
freier Beweglichkeit; es liegt also abnorm gesteigerte Extension 
bei freier Flexion vor. 

Der erste Fall betraf ein Kind mit Genu recurvatum sini* 
strum bei Coxitis dextra: Erna St., geboren im August 1901. 
R.-Nr. 6314/07. Ein Bruder des Kindes starb an Gehirnhautentzündung: 
sonst waren keine tuberkulösen Krankheiten in der Familie. Im zweiten 
Lebensjahr soll das Kind an schwerer Rhachitis gelitten und starke 


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Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. 613 

O-Beine gehabt haben. Trotzdem lief sie bis zum Alter von 3 Jahren 
gut. Damals fing sie an zu hinken und über Schmerzen in der rechten 
Hüfte zu klagen. Eine regelrechte Behandlung fand aber nicht statt. 
Als sich das Kind im Frühjahr 1907 in der Poliklinik einfand, konnte es 
überhaupt nicht gehen; es bestand eine noch floride Coxitis mit starker 
Adduktion und Flexion. Das Kind wurde 
mit Gipsverbänden nach Streckung in F*g- 7. 

Narkose behandelt; die Verbände konnten 
erst im Mai 1908 fortgelassen werden. 

Um diese Zeit stellte es sich heraus, daß 
trotz der in Abduktion und Streckung 
getragenen Verbände eine Luxation des 
stark zerstörten Schenkelkopfes nach oben 
eingetreten war. Im März 1908 war mir 
das jetzt bestehende Genu recurvatum 
des gesunden Beines aufgefallen. 

Die Untersuchimg zeigte uns jetzt 
(August 1908) ein für sein Alter gut 
entwickeltes Mädchen von blasser Ge¬ 
sichtsfarbe mit gesunden inneren Or¬ 
ganen. Rechte Hüfte: Der Ober¬ 
schenkel steht zum Becken in Adduk¬ 
tion von 1300, Flexion von 100® und 
Einwärtsrotation von 45®. Wird der 
Oberschenkel auf die Unterlage gedrückt, 
so entsteht eine beträchtliche Lenden¬ 
lordose. Der Trochanter steht 4 cm 
über der Roser - Nelaton sehen 
Linie. Der Abstand von der Spina 
ant. sup. bis zum Malleolus extemus 
beträgt rechts 47, links 51 cm. Das 
linke Kniegelenk ist frei be¬ 
weglich , doch kann der Unterschenkel 
aktiv überstreckt werden, so daß sich im Liegen die Malleolen um 
7 cm von der Unterlage entfernen, was einer Hyperextension von 
150 0 entspricht. Auch im Stehen prägt sich diese Rekurvation 
deutlich aus (Fig. 7). Man sieht auf dem Bilde die Atrophie des 
rechten Beines imd bemerkt ferner, wie das Kind die Verkürzung 
durch Beckenneigung und entsprechende Lumballordose ausgleicht; 



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614 


Siegfried Peltesohn, 


die ebenfalls vorhandene Beckensenkung nach der kranken Seite üt 
auf dem Bilde natürlich nicht zu erkennen. 

Es liegt hier also ein 6 e n u recurvatum der gesunden 
Seite bei coxitischerKontraktur vor. Wenn auch ohne 
Frage das Vorkommen dieser Stellungsanomalie keine aUzugroße 
Seltenheit darstellen dürfte, so sind doch einzelne Beobachtungen dieser 
Art bisher in der deutschen Literatur nicht mitgeteilt worden, Reiche! 
sagt darüber im Handbuch für praktische Chirurgie nur, daß das G. r. 
zuweilen bei chronischer Coxitis mit starker Verkürzung des Beines 
entsteht in ähnlicher Weise wie das paralji:ische, indem der an 
der Rückseite des Kniegelenks durch Belastung beständig in An¬ 
spruch genommene Bandapparat allmählich nachgibt und sich dehni. 
Dollinger sah 6. r. am gesunden Bein auftreten imd bezeichnet 
es als eine der Bestrebungen zur Ausgleichimg der Verkürzung, da 
dadurch auch das gesunde Bein verkürzt wird. Zweckmäßig unter¬ 
scheidet man mit Le Fort das coxalgische G. r. der bettlägerigen Kin¬ 
der von demjenigen der herumgehenden, noch floriden Coxitiker und der 
alten Hüftgelenkskontrakturen, Das G. r. der Bettlägerigen sah diese: 
Autor in 27 Fällen und führt es auf die lange Ruhelage, die damit 
verbundene Spannung der Ligamenta cruciata und die hieraus resul¬ 
tierenden Knochen Veränderungen, bestehend in übermäßigem Wachstum 
der hinteren Teile der Femur- und Tibiaepiphyse, zurück. Bei den 
umhergehenden Patienten mit G. r. kann nun entweder die kranke oder 
die gesunde Seite die Rekurvation auf weisen. Was die letztere Kate¬ 
gorie betrifft, so hat Le Fort einschließlich seiner eigenen 3 Beobach¬ 
tungen im ganzen nur etwa 10 hierher gehörige Fälle finden können. 

In unserem Fall war das G. r. schon zu einer Zeit vorhanden, als 
die Coxitis noch nicht völlig abgelaufen war und das Bein in der Hüfte 
flektiert war. In völliger Streckung war das Kind niemals, auch nicht 
im Gipsverband, umhergegangen. Analog den bisher bekannten Fällen 
handelt es sich auch in unserem Falle um einen statischen Aus¬ 
gleich der verkürzten kranken Extremität, Indessen ist diese Erklärung 
insofern doch nicht ausreichend, als der Längenausgleich auch durch 
Flexion in Hüfte und Knie der gesunden Seite stattfinden könnte, 
wobei dann allerdings diese beiden Beugungen noch höhere Grade 
annehmen müßten, als es auf der kranken Seite schon der Fall ist, 
G a s n e und Courtelemont haben zur Erklärung angegeben, 
daß, da der Kranke beim Stehen das Becken wegen der Hüftflexion 
nach vorne neigen müßte, die anatomische Achse der gesimden Ex- 


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Aetiologie und Pathologie des Qenu reeurvatum und der Tibia recurvata. ßl5 

tremität hinter die mechanische fallen muß, woher die Neigung zur 
Rekurvation entstehe. Ein dem Schema obiger Autoren analoges 
Schema unseres Falles zeigt diese Verhältnisse recht deutlich. Man 
sieht in b der Fig. 8, daß, wenn die Kranke auf dem kranken Bein 
stehen will, d. h. wenn die anatomische Achse des Femur mit der me¬ 
chanischen Achse zusammenfallen soll, das Becken stark nach vom 
geneigt werden muß. Dann ist aber der gesimde Oberschenkel ge¬ 
zwungen, nach hinten zu gehen. Man erkennt, wie die anatomische 
Achse des gesunden Beins (ausgezogene Linie) ganz beträchtlich hinter 
die mechanische (punktierte Linie) fällt. Auf diese Weise muß die 

Fig. 8. 




physiologische Rekurvation des gesunden Beins gesteigert werden, soll 
der Körper von beiden Beinen und nicht nur von dem der kranken 
Seite getragen werden. 

Hier sei zum Schluß noch auf das absolute Fehlen jeglicher 
Knochenveränderung des rekurvierten Knies hingewiesen, wie ein 
Böntgenbild ergab, dessen Reproduktion sich daher erübrigt. Es be¬ 
stehen normale Epiphysen, normale Diaphysen, normale Intermediär¬ 
knorpel an Tibia und Femur, also keines der Symptome, die L e F o r t 
als anatomisches Substrat der Rekurvation auch dieser Fälle fand. 
Damit ist natürlich die Möglichkeit, daß in der Zukunft bei etwaigem 


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614 


^Aecfned IVacBcaa, 


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Frxee OBS V v"V- r-- d>e?€r St TT^! p« ^T> nfrai i-Eiae iZtcT. 
SeCieT.^ffT ctr^e- sc* szti 5:ci erLÄZie Seccafcr^rrrrgg. i*; 

dfcrrr^ irr fir priikrzifcije L i-zxrpe rxr. di-i iis 

xtvf‘£Vfx 'Sä rir.'ciscifc .':xra5 HuI s^iKrker Tercizxiiz^ 5?= B-i: 

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LiT'TÄjru r: ^ LL.i.i r- .i hähl^-Tu xitiz an. 

. iXL gfsctiSfa. x*«rt h^jizrt^sr xirif 
niiTÄL xnr * "xnmr T~*r ~i r.-rm 








Aetiologie und Pathologie des Genu reeurvatum und der Tibia recurvata« ßl5 

-tiremität hinter die mechanische fallen muß, woher die Neigung zur 
Rekurvation entstehe. Ein dem Schema obiger Autoren analoges 
Schema unseres Falles zeigt diese Verhältnisse recht deutlich. Man 
sieht in b der Fig. 8, daß, wenn die Kranke auf dem kranken Bein 
: stehen will, d. h. wenn die anatomische Achse des Femur mit der me¬ 
chanischen Achse zusammenfallen soll, das Becken stark nach vom 
geneigt werden muß. Dann ist aber der gesunde Oberschenkel ge¬ 
zwungen, nach hinten zu gehen. Man erkennt, wie die anatomische 
Achse des gesunden Beins (ausgezogene Linie) ganz beträchtlich hinter 
die mechanische (punktierte Linie) fällt. Auf diese Weise muß die 


Fig. 8. 



a b 


physiologische Rekurvation des gesunden Beins gesteigert werden, soll 
der Körper von beiden Beinen und nicht nur von dem der kranken 
Seite getragen werden. 

Hier sei zum Schluß noch auf das absolute Fehlen jeglicher 
Knochenveränderung des rekurvierten Knies hingewiesen, wie ein 
Röntgenbild ergab, dessen Reproduktion sich daher erübrigt. Es be¬ 
stehen normale Epiph 5 ^en, normale Diaphysen, normale Intermediär¬ 
knorpel an Tibia und Femur, also keines der Symptome, die L e F o r t 
als anatomisches Substrat der Rekurvation auch dieser Fälle fand. 
Damit ist natürlich die Möglichkeit, daß in der Zukunft bei etwaigem 


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61 Ü 


Siegfried Pelt^isohn. 


längeren Bestehen der gleichen ungünstigen statischen VerhältnLvr 
die von Le Fort festgestellten Knochen Veränderungen auch in 
unserem Falle noch eintreten, nicht ausgeschlossen. Zurzeit handeh 
es sich aber jedenfalls pathologisch-anatomisch aus¬ 
schließlich um eine Schlaffheit der Weichteil?, 
vornehmlich der hinteren Kapselpartien. 


Fig. 9. 



Wenn auch die nun folgende vierte Beobachtung nicht direkt 
in die Kategorie des Genu reciirvatum fällt, d. h. der am Anfang dieser 
Arbeit gegebenen Definition nicht völlig entspricht, so steht doch die Affek¬ 
tion, welche diesen Fall charakterisiert, in so innigem Zusammenhang, so¬ 
wohl was die Aetiologie wie das khnische Aussehen betriflFt, daß die Be¬ 
schreibung desselben an dieser Stelle ebenfalls gerechtfertigt sein dürfte. 


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Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. (}17 


“ Was zunächst den Fall selbst anlangt, so handelt es sich um eine 

- 12jährige Küferstochter, welche sich Anfang April 1908 in der Poli- 

- klinik des Professors Joachimsthal wegen ihres schlechten Ganges 
und der Verkürzung ihres linken Beines vorstellte (R.-Nr. 8089/08) 
und bei welcher ich bei der Untersuchung die ungewöhnliche Affektion 
des linken Knies feststellte. Leider kam uns die Patientin nur einmal 
zu Gesicht, so daß die anamnestischen Angaben nicht die der Bedeu¬ 
tung des Falles angemessene Genamgkeit aufweisen. Immerhin konnten 
wir aus der Vorgeschichte erfahren, daß das Kind mit 3 Jahren eine 
tuberkulöse Entzündung am rechten Fußgelenk durchgemacht hatte, 
die aber ohne weitere Störung nach einer Inzision ausgeheilt war, daß 
weiter im 9. Lebensjahr, also vor nunmehr 4 Jahren, eine Coxitis der 
linken Hüfte einsetzte, wegen deren sie zunächst mit Gipsverbänden, 
später von einem Naturheilkundigen mit Licht- und Wasserbädem, 
Packungen und Massagen behandelt worden war. 

Aus dem Befund ist hervorzuheben, daß das sonst gut entwickelte 
Mädchen eine Ankylose des linken Hüftgelenks aufweist; der Ober¬ 
schenkel ist um etwa 60^ flektiert, um 60<> adduziert und ein wenig 
einwärts rotiert. An der Außenseite des Oberschenkels vor dem Tro¬ 
chanter ist eine etwa 10 cm lange, leicht eingezogene Narbe. Die durch 
die Stellungsanomalie hervorgerufene scheinbare Verkürzung beträgt 
10 cm. Sie wird durch Tragen einer starken Sohlenerhöhung ziemlich 
ausgeglichen. Das linkeKnie zeigt folgende Besonderheiten (Fig. 9). 
Der Unterschenkel bildet mit dem Oberschenkel in der . Streckung 
keine gerade, vielmehr eine gebrochene Linie, so daß die Verlänge¬ 
rung des Oberschenkels nach abwärts vor den Unterschenkel zu fallen 
kommt und für gewöhnlich, so beim Stehen, mit dem Unterschenkel 
parallel läuft. Die Kniescheibe, an normaler Stelle in Bezug auf die 
Femurkondylen gelegen, prominiert stark; dann folgt nach abwärts 
davon eine Strecke von etwa 5 cm, die nach hinten und unten zieht; 
es schließt sich der Unterschenkel an, der mit diesem letztgenannten 
Stück einen nach vorne offenen Winkel von etwa 45 ^ bildet. Das Knie 
hat also eine richtige Bajonettform. Das Kniegelenk ist anscheinend 
frei beweglich und kann überstreckt werden, so daß der Unterschenkel 
mit dem Oberschenkel einen nach vorn offenen Winkel von 135^ bildet. 

Während ich wegen der gesteigerten Extensionsmöglichkeit des 
linken Knies die Deformität zunächst für ein Genu recurvatum coxiticum 
der kranken Seite hielt, welches mehrfach von französischen Autoren 
beschrieben und in Analogie mit dem als Ausgleich der Adduktions- 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Band. 40 


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618 


Siegfried Peltesohn. 


kontraktur im Hüftgelenk vorkommenden Genu valgum zu Stollen k 
fiel mir bereits damals die an eine Subluxation der Tibia nach hinten 
erinnernde Form des Knies auf. Die eigenartige Erkrankung wurde 
aber erst durch die Radiographie entschleiert. 

Auf dem Röntgenbilde (Fig. 10), das in stärkster passiver 
Hyperextension des Knies aufgenommen ist, fällt die BajonettsteUimr 
von Unter- und Oberschenkel sofort in die Augen. Femur und Femui 


Fig. 10. 



kondylen sind normal gebildet, ebenso die an richtiger Stelle befindliche 
Patella. Mit den Femurkondylen artikuliert in normaler Weise die 
Gelenkfläche der Tibia; die Epiphyse der Tibia, die entsprechend 
dem Alter der Patientin sich noch mit deutlicher Linie von der Diaphyse 
absetzt, ist überall gleich hoch und zwar durchschnittlich 
13 mm. DieEminentia intercondylica markiert sich schwach erkennbar. 
Eine auf der Gelenkfläche in deren Mitte errichtete Senkrechte schneidet 
die Femurachse an normaler Stelle. Es zeigt sich dabei, daß da« 


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Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. ßlQ 

Kniegelenk in Wahrheit bei stärkster Streckung eine Beu- 
g u n g V o n 1500 a u f w e i s t; eine Verschiebung nach hinten besteht 
nicht. In ihrem vordersten Teil ist das Knochengewebe der Epiphyse 
aufgehellt. Während nun die vordere Kante der Tibia in ihrem obersten 
Teil von der Margo infraglenoidalis auf eine Strecke von 3 cm senkrecht 
zur Tibiagelenkfläche verläuft, weist sie hier plötzlich einen scharfen 
Knick auf, biegt mit einem nach vorn konkaven Winkel von 140o 
um, um nach abwärts davon wieder in gerader Linie weiterzugehen. 
An der Stelle der Winkelbildung ist der Knochenschatten tief dunkel, 
ebenso ist der Schatten der Corticalis der Tibiavorderkante deutlich 
verbreitert und dunkel gefärbt. Die hintere Fläche der Tibia weist 
keine Einknickung auf, sie verläuft von der Epiphysenfuge in leicht 
geschwungener Linie nach abwärts. Die Fibula ist zart, in ihrer Diaphyse 
leicht nach vom geschweift, der proximale Teil durchscheinend. Das 
Ganze macht den Eindmck, wie wenn an der Stelle der Knickung ein 
Zerstömngsprozeß stattgefunden hätte, der zu einer Infraktion des 
Knochens geführt hat. 

Es handelt sich nach diesem Befunde um eine Tibia recur¬ 
vata. Dieser Zustand ist durch eine Winkelbildung zwischen oberstem 
Ende und Diaphyse der Tibia gekennzeichnet. Von dieser merkwürdigen 
Affektion existiert in der Literatur bisher keine Röntgenabbildung; 
besclirieben ist die Affektion 9mal. 

Sonnenburg hat als erster auf eine besondere Form des 
Kniegelenks aufmerksam gemacht, wobei eine Abbiegung in der oberen 
Tibiaepiphyse im Verlaufe chronischer Kniegelenksentzündungen vor¬ 
kommt. Diese Erscheinung deutet er bei bettlägerigen Kindern so, 
daß sich das Knie bei Entzündungen in Beugung begibt. Die Tibia¬ 
epiphyse ist nun durch starke Bänder fest mit den Femurkondylen 
verbunden, anderseits mht das Glied mit dem Hacken auf der Bett¬ 
ebene, wodurch die Beugung verhindert wird und die Tibia sich gegen 
den Femur nach hinten verschieben muß. Bei der festen Verbindung 
zwischen Femurkondylen und Tibiaepiphyse, besonders auch durch 
die fest kontrahierten Muskeln, kann sich nun die Streckung nicht 
in der Gelenklinie abspielen, sondern nur in der Epiphysenlinie. Für 
die Erwachsenen, bei denen man ebenfalls diese Knieform beobachtet, 
nimmt Sonnenburg eine Ernährungsstörung der in der Nähe befind¬ 
lichen Knochen infolge der Gelenkentzündung an, eine Art Osteoporose. 

Im ganzen schließt sich K i r m i s s o n diesen Erklämngen bei 
der Besprechung seiner, auch von Hoffa erwähnten Beobachtungen 


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620 


Siegfried Peltesohn. 


an. Diese betrafen zunächst zwei Kranke, bei denen die Defonniüt 
wenn auch in ungleicher Stärke, beiderseits vorhanden war, trotzdem 
es sich vorher beidemal nur um eine einseitige Gonitis, die in mkom- 
pleter Ankylose ausgeheilt war, gehandelt hatte. Bei beiden war die 
Deformität ganz allmählich, ohne je Beschwerden verursacht zu babeü, 
entstanden. Noch wunderbarer mutet uns der dritte Kirmisson- 
sche Fall eines 16jährigen jungen Mannes an, bei dem einseitig die^ 
Affektion entstanden war, ohne daß auch nur das geringste sonstige 
Krankheitssymptom oder in der Anamnese irgend eine schwerer? 
Erkrankung je Vorgelegen hätte. Kirmisson schuldigt in dieses 
Fällen eine auf den Epiphysenknorpel lokalisierte Rhachitis an; für die 
Erklärung der Erkrankung bei Erwachsenen folgt er den Sonnen- 
bürg sehen Erklärungen, da auch er in derartigen Fällen eine ^Rare 
fikation und fettige Degeneration des Knochengewebes, also eine 
richtige Osteoporose“ beobachtet hat. lieber die Natur dieser lokalen 
Rhachitis ist irgend eine Tatsache nicht bekannt, so daß Kirmisson 
auf den Wert neuer anatomisch-pathologischer und klinischer Unter¬ 
suchungen hinweist. 

Weiterhin hat Ja b o u 1 a y, wie Le Fort angibt, einen Fall 
von Tibia recurvata beobachtet, der mir aber leider nicht zugänglich 
war. Dann berichtete Jalaguier über einen 14Y 2 jährigen Knaben 
mit hereditärer Syphilis, der mit 8 Jahren eine unbekannte Knieaffektioa 
durchgemacht hatte, in deren Verlauf sich eine Flexion einstcllte, die 
3inal gestreckt wurde; nach 2 Jahren war das Knie in gerader Stellung 
verheilt. Ganz allmählich entstand dann ohne Schmerzen die Rekur- 
vation der Tibia, die also vor 472 Jahren angefangen hatte. Jala¬ 
guier glaubt, daß bei dem wachsenden Individuum die Epiphysenlinie 
eine Störung erleidet und zwar nur der vordere Teil; da nämlich das 
Kind stets mit steifem Knie herumgegangen war, als die IiiflexioD 
anfing, so lag mehr Druck auf den vorderen Teilen des Knorpels und 
daher auch der Epiphysenlinie als auf den hinteren. 

Die folgenden und letzten 3 Fälle stammen von P a t e 1 und 
C a v a i 11 o n, die hierfür den Ausdruck „genou en baionette“ gebrauchen. 
Kurz zusammengefaßt, handelte es sich um geringe Flexionsaiikylosen 
der Hüfte nach Coxitis im 13., 15., resp. 6. Lebensjahr, deren Träger 
mit kurzen Unterbrechungen gehfähig waren. Zur Zeit der Beobachtung 
waren 18, 27 resp. 36 Jahre seit der Goxitis verflossen. Außer den be¬ 
kannten gleichzeitig vorhandenen kompensatorischen Deformitäten 
(Spitzfuß, Beckensenkung etc.) fiel eine Rückwärtsbiegung der Femur- 


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Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. 621 


kondylen (enroulement des condyles femoraux) und die Abknickung 
des oberen Tibiaendes (Tibia recurvata) auf. Die Autoren fassen 
auch diese Skelettveränderungen als kompensatorische und die Funktion 
verbessernde auf, da gleichzeitig abnorm gesteigerte Beweglichkeit im 
Knie- und Fußgelenk bestand. Ohne sich auf genauere Untersuchung 
dieser Fragen einzulassen, weist Le Fort auf die Schwierigkeit der 
Diagnose dieser Deformität hin, indem er erwähnt, daß er mehrere 
Fälle anscheinender Tibia recurvata gesehen habe, die sich aber im 
Röntgenbilde als nicht vorhanden erwies. 

Zweckmäßig dürften folgende Hauptgruppen dieser Affektion 
unterschieden werden: 1. diejenigen Fälle, bei denen die Rekurvation 
ein früher erkranktes Knie ergriffen hat, 2. solche, welche bis dahin 
gesunde Kniee betrafen. Bei diesen letzteren ist weiterhin zu sondern, 
ob die Erkrankung bei Gonitis der anderen Seite auftrat oder bei 
Coxitis. Zu der ersten Hauptgruppe, bei der übrigens stets Ankylose 
des betroffenen Knies vorlag, gehören die Fälle von Sonnenburg 
und der von Jalaguier; zu der ersten Unterabteilung der zweiten 
Hauptgruppe die beiden ersten Fälle von Kirmisson. Zur zweiten 
Unterabteilimg der zweiten Gruppe sind endlich die Fälle von P a t e 1 
imd C a V a i 11 o n und der meinige zu rechnen. Abseits von allen diesen 
steht der dritte Kirmisson sehe Fall und zwei von H u m p h r y 
gemachte Beobachtungen, bei denen überhaupt keine anderweitigen 
Erkrankungen Vorlagen. 

Alle Autoren gehen bei dem Versuch, die Erkrankung zu 
erklären, von der Voraussetzung aus, daß es sich dabei um eine Schä¬ 
digung der Epiphyse oder eine solche in Höhe der Epiphysenfuge handelt. 
Trifft diese Annahme wirklich zu? Soweit die Möglichkeit einer Klar¬ 
stellung dieser Frage nach den Beschreibimgen vorliegt, können wir diese 
Voraussetzung als richtig nur für die Fälle gelten lassen, wo die primäre 
Erkrankung in dem affizierten Kniegelenk lag. Hier können wir uns 
auch sehr wohl mit Sonnenburg eine abnorme entzündliche 
Erweichung der dem Kniegelenk benachbarten Knochensubstanz 
denken. Es scheint aber, wie wenn bei den anderen Fällen der Sitz 
der Erkrankung weder in der Epiphyse noch in der Epiphysenlinie, 
sondern vielmehr distal von letzterer, also in der D i a p h y s e liegt. 
Zu dieser Annahme werden wir durch unseren Fall und die Betrachtung 
seines Röntgenbildes gedrängt. In der Tat sehen wir hier, daß die 
Winkelbildung distal von der Epiphysenlinie statthat. Es ist imgefähr 
die Stelle des Ansatzes des Ligamentum patellae, also der Tuberositas 


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622 


Siegfried Peltesohn. 


tibiae. Diese Beobachtung findet sich auch in dem von J a 1 a g u ier 
gegebenen Krankheitsbericht, der sagt; „La tuberosite tibiale anterieure 
avait disparu et etait remplacee par une depression.“ Analysieren vir 
die einzelnen Teile des proximalen Tibiaendes auf unserem Röntgenbild 
so bietet die Epiphyse normale Verhältnisse dar; man sieht die Kappen^ 
form derselben, wie auf Röntgenbildem gleichaltriger Individuen, 
gewahrt und findet, daß der Gelenkteil derselben überall eine gleich* 
mäßige Höhe aufweist. Auch die Epiphysenfuge ist in ihrem ganze:: 
Verlauf deutlich ohne wesentliche Verändenmg zu verfolgen. Beweisend 
dafür, daß es sich nicht um eine Läsion der Epiphysenlinie handelr. 
ist aber, daß der Scheitelpunkt des Knickungswinkels in diesem Falle 
zweifellos proximaler sitzen würde, als es in der Tat der Fall ist. Wir 
halten uns daher auch nicht für berechtigt, die Entstehung der Knie¬ 
deformität auf Wachstumsdifferenzen an der Vorder- und Hinterseite 
der Tibia zurückzuführen, so verlockend und einfach auch diese Erklärung 
wäre, da die Affektion auch bei uns wrieder, wrie fast immer, ein noch 
wachsendes Individuum betroffen hat. Jalaguier hat das direkt 
behauptet und aus Messungen der Vorder- und Hinterkante der Tibia 
zu beweisen gesucht. Er rechnet folgendermaßen: Fällt man von dem 
Scheitel des Knickungswinkels ein Lot auf die Achse der Tibia, so 
mißt in seinem Falle nach aufwärts von dieser Linie die Vorderkante 4. 
die Hinterkante 8 cm; es fehlt also ein Stück von 4 cm. Für unseren 
Fall würde nach dieser Berechnung ein Stück von 17 mm fehlen. Diesen 
Befund kann ich nicht als pathologisch ansehen. Bei der Betrachtung 
der Radiographien normaler gleichaltriger Individuen fand ich stets, 
daß die Epiphysenlinie der Tibia nicht senkrecht, sondern etwas schräg, 
und zwar von hinten oben nach vom unten, zur Längsachse der Tibia 
verläuft. Im übrigen beweist unserer Meinung nach diese Berechnung 
noch nicht, daß zu wenig Knochen gebildet worden ist; es kann die 
gleiche Deformität durch ein Zusammensinken normal gebildeter 
Knochenmassen eintreten. Dieser Vorgang braucht kein plötzlicher 
zu sein, wie etwa bei einer Fraktur, sondern kann auch ganz allmählich 
herbeigeführt werden, analog dem allmählichen Zusammensinken des 
Schenkelhalses bei der Coxa vara statica. Daß das Primäre der De¬ 
formität in unserem Falle ein solches Insichzusammensinken ist, scheint 
auch aus der Häufung von Knochensubstanz an der Knickungsstelle 
hervorzugehen, die wolü kaum ausschließlich als eine sekundäre funktio¬ 
neile Strukturveränderung gedeutet w^erden kann. Daß möglicherweise 
sekundär durch die Veränderung der Druckverhältnisse die Knochen- 


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Aetiologie und Pathologie des Grenu recurvatum und der Tibia recurvata. ß23 

Produktion beeinflußt werden kann, ist zwar zuzugeben; doch dürfte 
dieser Vorgang hier nur eine untergeordnete Rolle zweiten Ranges 
spielen. Die Frage kann jedenfalls mit einiger Sicherheit nur entschieden 
werden, wenn es gelingt, ein jugendliches mit dieser Affektion behaftetes 
Individuum über Jahre hinaus zu beobachten und festzustellen, ob bei 
gleichbleibenden statischen Bedingungen die Rekurvation zunimmt und 
wie sich die Längenverhältnisse des proximalen Tibiaendes an der 
vorderen und hinteren Seite gestalten. Solange die Lage Verhältnisse 
der Epiphysenlinie so regelrechte und die Diaphysenknickung eine so 
deutliche ist, wie in unserem Falle, ist man nicht berechtigt, das Primäre 
der Tibia recurvata in einer Wachstumsstörung zu erblicken. 

Wir zweifeln nicht daran, daß in den drei bereits erwähnten Fällen 
von P a t e 1 und C a v a i 11 o n dieselben anatomischen Veränderungen 
wie in unserem Falle Vorgelegen haben. Die Photographien imd die 
Beschreibung stimmen damit überein. Diese Autoren fassen auch die 
Tibia recurvata als kompensatorischen Vorgang zum Ausgleich der 
Hüftkontraktur auf und sehen speziell die vorliegende Knie Veränderung 
als einen Ausgleich für die Flexion der Hüfte an, da der Schwerpunkt 
des Körpers allein durch die Lumballordose nicht genügend nach hinten 
verlegt würde. Es müßte noch ein weiteres Gegengewicht in Form der 
Rekurvierung des Knies geschaffen werden. Daß die statischen Ver¬ 
hältnisse durch die Zurückverlagerung des Knies auch in unserem Falle 
wesentlich günstigere werden, ist zweifellos richtig. Trotzdem genügt 
diese Erklärung durchaus nicht für die Tibia recurvata; denn das 
Gleichgewicht könnte ebensogut durch Entstehung einer Rekurvation 
im Kniegelenksspalt, also durch ein einfaches Genu recurvatum com^ 
pensatorium hergestellt werden. Worin dieses weitere Moment zu suchen 
ist, warum nicht das einfachere Genu recurvatum entsteht, ist die 
wichtige Frage. 

Von der größten Bedeutung hierfür scheint mir nun das Verhalten 
des Kniegelenks selbst zu sein. Ein Umstand, auf den ich schon bei 
der Beschreibung unseres Röntgenbildes hinwies, ist der, daß auch 
bei stärkster Geradestreckung des Beines die Articulatio genu 
in deutlicher, ziemlich beträchtlicher Flexion 
steht. Dieser Tatsache wurde meines Erachtens bisher nicht genügend 
Rechnung getragen. Nur L e F o r t macht gelegentlich der Besprechung 
der pathologischen Anatomie des kompensatorischen Genu recurvatum 
darauf aufmerksam, daß die Schlaffheit der Kniebänder bei Genu recur¬ 
vatum nur eine scheinbare ist, indem sich ja das Gelenk bei Streckung 


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Siegfried Peltesohn. 


von 180® in Wahrheit noch in leichter Beugung befinde, weil nämlicL 
die Ueberstreckung auf Knochenbiegung beruhe. Wir stellen füi 
unseren Fall einwandfrei das Vorhandensein einer dauernden F1 e- 
xionskontraktur des Kniegelenks von 150® fest. 

Das Auftreten von sekundärer Flexionskontraktur im Kniegelenk 
bei Coxitis beobachtet man nun nach Dollinger entweder bei stark 
flektiertem Hüftgelenk, wenn Patient mit Krücken herumgeht, oier 
bei beiderseitiger Hüftgelenkskontraktur, wenn Patient beständig sitzt 
und die Kniegelenke lange Zeit hindurch nicht gestreckt werden. Wel¬ 
chen Grund die Kontraktur des Kniegelenks in unserem Falle hat, 
kann ich leider wegen der mangelnden anamnestischen Daten nicht 
entscheiden; daß sie existiert, unterliegt keinem Zweifel. Diese Flexions¬ 
kontraktur aber als eine sekundäre Erscheinung, d. h. als Folge der 
Verbiegung der Tibia aufzufassen, liegt kein Grund vor. Wir sehen 
doch nicht selten derartige Verbiegungen dicht imter dem Kniegelenk 
z. B. nach Frakturen jahrelang bestehen, ohne daß sich deswegen 
das Kniegelenk selbst in Flexionskontraktur begibt, d. h. einer passiven 
Streckung bis 180® nicht mehr fähig ist. Wir glauben nun, daß ein 
Teil der Schuld für die Ausbildung der Tibia recurvata dieser Kontraktur 
beizumessen ist, indem selbstverständlich eine Rekurvation im Knie¬ 
gelenk selbst durch die Tatsache der Flexionskontraktur verhindert 
wird; es kann Flexionskontraktur und Hyperextension nicht gleich¬ 
zeitig an einer und derselben Stelle auf treten. 

Wie ich schon oben ausführte, drängen aber die statischen Ver¬ 
hältnisse bei Flexionsankylose der Hüfte geradezu zu einem Ausgleich, 
zu einer Rückwärts Verlagerung des Körperschwerpunktes, also zu einer 
Rekurvierung des Knies. WTe groß in unserem Falle speziell die Ver¬ 
lagerung des Körperschwerpunktes nach vorne war, geht aus dem 
Umstande zur Genüge hervor, daß es unserer Patientin nicht möglich 
war, ohne Stütze nach vom mit durchgedrücktem linken Knie zu stehen, 
was auch die Notwendigkeit ergab, ihr bei der photographischen Auf¬ 
nahme einen Halt an einer Stuhllehne zu gewähren. 

Da nun die Rekurvation des Beins im Kniespalt selbst nicht 
zu Stande kommen konnte, mußte sie entweder am Femur oder an der 
Tibia Platz greifen. Für den Femur bestand aber weder von seiten 
der Hüfte noch des Kniegelenks ein Grund, diese Durchbiegimg zu 
besorgen; denn er war in der Hüfte in Flexion ankylosiert und wurde 
daher nur selten über die Vertikale nach abwärts gesenkt; auch war 
er im Kniegelenk flektiert, so daß auch hier eine Rekurvierung nicht 


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-Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvatÄ. 625 

stattfinden konnte. Zu diesem Verhalten trug vielleicht auch noch die 
Tatsache des physiologischen Uebergewichts der Beugemuskeln über die 
Streckmuskeln bei. 

Wie liegen nun die Verhältnisse bei der Tibia? Riedinger 
setzt bei der Besprechung der Entstehung der Deformitäten im 
J oachimsthal sehen Handbuch auseinander, daß die Ausbildung 
der Belastungsdeformitäten des Unterschenkels wesentlich von dem 
Verhalten des Kniegelenks abhängt, speziell wie bei der Rhachitis aus 
der Beugung des Kniegelenks sich eine Disposition für Verkrümmung 
der Unterschenkeldiaphyse mit Konvexität nach vom ergibt. Eigentlich 
würde also auch in unserem Falle, wo allerdings von einer Rhachitis 
zunächst nicht die Rede sein kann, eine Biegung der Tibia mit Kon¬ 
vexität nach vorn zu erwarten sein. Indessen walten hier doch durch 
die eigenartigen statischen Verhältnisse, namentlich aber auch durch 
die Wirkung der Muskeln veränderte Umstände ob. Es ist zu bedenken, 
daß in unserem Falle stets das Bestreben bei der Patientin vorhanden 
war, den Unterschenkel zu strecken, daß hier also an der Vorderseite 
des Unterschenkels ein dauernder starker Zug von seiten des Quadriceps 
femoris ausgeübt werden mußte, um die Streckung zu erreichen. Der 
Scheitel des Knickungswinkels bei unserer Tibia recurvata entspricht 
nun, ebenso wie bei den analogen Fällen P a t e 1 s und Cavaillons, 
fast genau dem Ansatz des Ligamentum patellae, also des Quadriceps 
femoris. Wie auf dem Röntgenbilde zu erkennen ist, setzt das Ligament 
sogar dicht unterhalb dieses Punktes an. Es erscheint also durchaus 
möglich, daß dieser Muskelzug mit zu der eigenartigen Verbiegimg 
beiträgt. Aber es ist nicht zu vergessen, daß der bloße Muskelzug bei 
gesundem Knochengerüst keine derartige eingreifende Knochenum¬ 
gestaltung herbeiführt. Man kann also nicht umhin, noch das Vor¬ 
handensein eines Locus minoris resistentiae anzunehmen, wie es auch 
bereits Kirmisson für seine Fälle getan hat, indem er von einem 
„rachitisme local“ sprach. Wir möchten einen solchen neuen Begriff hier 
umsoweniger einführen, als sonst an unserer Kranken von Rhachitis- 
symptomen nichts zu bemerken war. Es scheint uns näher zu liegen, 
diesen Locus minoiis resistentiae als den Ausdruck der Gesamtschädigung 
des erkrankten Beins aufzufassen; wdr wissen durch neuere Forschungen, 
besonders französischer Autoren, daß die Tuberkulose auch in einer ab¬ 
geschwächten Form—der sogenannten „Tuberculose inflammatoire“ — 
auftreten kann und möchten daher bei einem Individuum, das 
tuberkulöse Herde an verschiedenen Stellen des Körpers auf weist. 


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626 


Siegfried Peltesohn. 


1 


lieber annehmen, daß auch hier die Knochenweichheit die Manifestadcc 
eines solchen Knochenherdes ist. Ueber die Natur der lokalen Ver* ; 
änderung kann allerdings erst die Zukunft Aufschluß geben, wenn der ! 
Zufall einen derartigen Fall zur au toptischen Untersuchung liefen 
sollte. Will man nun auch diese Annahme, für die Beweise zu exbrinreL 
wir in unserem Falle natürlich nicht in der Lage sind, nicht akzeptiererL 
so vrird man sich der Tatsache erinnern, daß durch eine sich über JaLr? • 
erstreckende tuberkulöse Coxitis der ganze, distal davon gele^reii? I 
Gliedabschnitt zweifellos in seiner Ernährung gestört werden kann. 

Ob auch in den Fällen von Tibia recurvata, die bei Knieaffektic^cen 
der gleichen Seite auf traten, also den Kirmisson sehen Beobac li- 
tungen, unseren Ausführungen analoge pathologische VerhälmL^ 
vorliegen, oder ob hier in der Tat die Erkrankung eine reine Epiphysen- 
erkrankung ist, kann durch die vorliegende Beobachtung natürlich 
nicht entschieden werden. 

Was aber die Tibia recurvata bei Flexionsankylose der gleich¬ 
seitigen Hüfte anbetrifft, so möchte ich zusammenfassend das Weser 
derselben in einer in Höhe der Tuberositas tibiae be¬ 
findlichen Einknickung und darauf beruhender 
Schweifung des ganzen proximalen Teils des 
Knochens, vergesellschaftet mit einer leichten 
Flexionskontraktur des Kniegelenks, erblicken. 
Diesem seltenen Leiden begegnen wir bei Fle¬ 
xionskontraktur des Kniegelenks. Die sich an¬ 
schließende Rekur vie r ung des proximalsten Teils 
der Tibiadiaphyse ist als eine Folge der stati¬ 
schen Verliältnisse und gewisser uns noch nicht 
bekannterKnochenerweichungsprozesse anzusehen. 


Literatur. 

L e F o r t, Le genu recurvatum acquis. Revue d’orthopedie 1907. 

W o r o b i e f, O genu recurvatum. WraLsch 1901. Ref. Zentralbl. f. Chir. 19tü. 
Schanz, Deformitäten im Bereich des Kniegelenks. Handb. d. orthop. Chir.. 

herausgeg. von Joachims t ha 1. Jena 1905/07. II S. 2. 

Reichel, Verletzungen und Erkrankungen des Kniegelenks und Unterschenkels. 
Handb. d. prakt. Chir. Bd. 4. 

D o 11 i n g e r, Hüftgelenkentzündung, Kontraktur und Ankylose. Handb. d. 
orthop. Chir. von J o a c h i m s t h a 1. Jena 1905/07. II, S. 2. 


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5d ^ 


Aetiologie und Pathologie des Genu recurvatum und der Tibia recurvata. 627 


K. i 8 c h, Uebar das Genu recurvatum osteomyeliticum. Beiträge zur klin. Chir. 
Bd. 41 S. 2. 

Hof m e i 8 t e r, lieber Verkrümmungen des Beins nach Kniegelenksresektion 
im Kindesalter. Beiträge zur klin. Chir. Bd. 37 Heft 1. 

Zwirn, Das Genu recurvatum acquisitum. Inaug.-Diss. Leipzig 1906. 
Gasne et Courtelemont, Le Genu recurvatum dans la coxalgie. Nouv. 
Iconographie de la Salpetriere 1901. 

Sonnenburg, Die spontanen Luxationen des Kniegelenks. Deutsche Zeitschr. 
f. Chir. Bd. 6, 1876. 

ICirmisson, Sur une d^formation particuliere du genou simulant la luxation 
du tibia en arriere. Revue d’orthop. 1890. 

J alaguier, Flexion ant4ro-posterieure de la partie sup^rieure du Tibia. Revue 
d’Orthopädie 1890. 

atel etCavaillon, Ankylose de la hanche etc. Revue d’Orthopädie 1904. 
o m a n o, Genu recurvatum di alto ^ado di origine pathologica con sinostosi 
femoro-tibiale. Archivio di ortopedia 1908 Heft 3. 


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Referate. 


Paul Reichel, Lehrbuch der Nachbehandlung nach Operationen. 2. Auflage. 
J. F. Bergmann. Wiesbaden 1909. 

Es ist mit Freuden zu begrüßen, daß der Autor sich entschlossen hat. 
das seit fast 9 Jahren im Buchhandel vergriffene Werk, das auch dem Orthopädec 
vielfache wertvolle Fingerzeige bietet, in einer Neubearbeitung^ erscheinen la 
lassen. Von neu hinzugekommenen Abschnitten erwilhne ich die Behandlucg 
der akuten Entzündungen mit Stauungshyperämie, sowie eine kurze Besprechußg 
der für die Begutachtung von Unfallverletzten maßgebenden Gesichtspunkte. 

Joachimsthal. 

Mauclaire, Maladies des os. Nouveau traite de Chirurgie. Bailliere et hls 
Paris 1908. 

ln der Einleitung dieses neuen Werkes über die Erkrankungen der Knochen 
weist Mauclaire darauf hin, daß die Pathologie der Knochen nur ein Spiegel 
der allgemeinen Pathologie ist; so führen die Infektionskrankheiten zur Ostec»- 
myelitis, die Lungenerkrankungen zu Osteoarthropathia pneumica, die Maeen* 
krankheiten zu Rhachitis und Gicht, die malignen Neubildungen zu Spontan¬ 
frakturen, die Erkrankungen der Drüsen mit innerer Sekretion zu Zwergwuchs 
und Riesenwuchs etc. Bei dem heutigen Stande der allgemeinen Pathologie 
scheint die Ostitis die Grundlage der meisten nicht traumatischen Knooben- 
erkrankungen zu sein. Unter Berücksichtigung der verschiedenen pathogeneti¬ 
schen und ätiologischen Krankheitsursachen der Knochen bespricht Mauclaire 
das gesamte Gebiet der nichttraumatischen Knochenaffektionen in folgenden fünf 
nach klinischen Gesichtspunkten geordneten Hauptgruppen: 1. Infektiöse Er¬ 
krankungen (Osteomyelitis, Tuberkulose, Syphilis). 2. Parasitäre Krankheiten 
(Echinococcus und Aktinomykose). 3. Chemische Intoxikationen (Phosphor- und 
Quecksilbervergiftungen). 4. Trophische oder nervöse Knochenkrankheiten, di? 
wiederum in atrophierende (Achondroplasie, Rhachitis, Osteomalacie, Osteo- 
psathyrosis) und hypertrophierende (Pagetsche Krankheit, Osteoarthropathie 
pneumique, Akromegalie, Leontiasis ossea) eingeteilt werden, wobei Verfasser 
aber selbst auf das Schematische dieser die verschiedensten Knochenaffektionen 
aufweisenden Gruppenteilung hinweist. 5. Neubildungen der Knochen. — Di? 
Nekrose und die Abszesse werden nicht gesondert abgehandelt, da sie ja nur 
ein Syndrom, keine selbständigen Knochenkrankheiten darstellen; sie finden Er¬ 
ledigung bei der Besprechung der einzelnen obengenannten Affektionen. 

Wie schon die obige Inhaltsangabe beweist, ist das gesamte Gebiet der 


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Referate. 


629 


nichtraumatischen KnochenafFektionen vollständig behandelt. Trotz der Fülle 
des Materials findet man sich, dank der großen Uebersichtlichkeit der Gruppie¬ 
rung, schnell zurecht, üeber 160, zum Teil sehr gute Bilder illustrieren das 
Werk. Peltesohn-Berlin. 

K. Ewald, Hilfsbuch zum Anlegen chirurgischer Krankengeschichten und 
Ordnen der gemachten Beobachtungen. Franz Deuticke. Leipzig und 
Wien 1909. 

Ewald hat in diesem Buche seine eigenen und die Erfahrungen der 
Ko eher sehen Klinik im Anlegen und Ordnen chirurgischer Krankengeschichten 
niedergelegt. Er bringt das Schema eines Allgemeinstatus und eine Anzahl 
Schemata der hauptsächlichsten chirurgischen Erkrankungen, in denen alle 
Punkte berücksichtigt sind, die einem jungen Hilfsarzt beim Anlegen wissen¬ 
schaftlich verwendbarer Krankengeschichten nützlich sein können. Geordnet 
werden sie durch einen Archivar mit Hilfe von Registerblättern in zwei Zettel¬ 
katalogen: alphabetisch nach den Namen der Kranken und mit Ordnungs- 
Dummern nach Diagnosen, die in einem besonderen Verzeichnis aufgeführt 
werden. In ähnlicher Weise erfolgt die Ordnung der Röntgen platten, Photo¬ 
graphien und mikroskopischen Präparate. Eh ringhaus-Berlin. 

V. Baeyer, Die Aufgaben der modernen Orthopädie. Münch, med. Wochenschr. 
1908, 36. 

In seiner Probevorlesung bespricht v. Baeyer zunächst die Ansichten ver¬ 
schiedener Orthopäden (Hoffa, Lorenz, Vulpius) über dieses Thema, gibt 
sodann eine kurze Uebersicht über die Vergangenheit der Orthopädie und 
schildert die Aufgaben der modernen Orthopädie, indem er die Erfolge der 
mechanischen, unblutigen und operativen Behandlung der hauptsächlichsten 
Gruppen von Erkrankungen des Bewegungsapparates beschreibt. Für die näch¬ 
sten Aufgaben der Zukunft hält er die Ausarbeitung der Nerven- und Sehnen¬ 
plastiken und fordert auch Beschäftigung mit theoretischen Aufgaben, von denen 
er zwei Probleme, 1. den normalen und den kranken Knochen, 2. das Verhalten 
von Fremdkörpern im Organismus, etwas ausführlicher schildert. 

Bl en cke-Magdeburg. 

Jahrbuch der Pfeifferschen Stiftungen zu Cracau bei Magdeburg 
für das Jahr 1907. 

Aus dem Bericht interessiert den Orthopäden wohl in der Hauptsache 
nur der der Krüppelanstalt gewidmete Abschnitt. Die Zahl der Krüppelkinder 
betrug Anfang 1908 inkl. der Handwerkerlehrlinge 175. 40 Proz. der aufge- 
noramenen Kinder eigneten sich noch für eine Behandlung. Besonders zahl¬ 
reich waren die schweren schlaffen und spastischen Lähmungen, ferner die 
Fälle von ausgeheilter oder noch mit Fisteln verbundener Knochentuberkulose, 
besonders der Wirbelsäule und der Hüfte. Operiert wurden 18 Kinder, an 
denen 6mal Operationen an den Sehnen und Muskeln, 6mal am Knochen¬ 
system, und zwar 3mal Oberschenkeldurchmeißelung bei hochgradigem X-Bein, 
alle mit vorzüglichem Erfolge, 2mal Versteifung eines gelähmten Beines, Imal 
Entfernung des tuberkulös zerstörten Hüftgelenks vorgenommen wurden. Wieder* 


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630 


Referate. 


holt wurden difforme Gelenkstellungen operativ korrigiert. Rein orthopädisd- i 
Verfahren richteten sich in erster Linie auf die Besserung schwerer Skolic^ 
mit ihren Beschwerden; es wurden 6mal Gipskorsette und 5inal Lederkorjcit^r 
angefertigt, ferner wurden wiederholt * Gehgipsverbände und Gipsschienen 1« 
gestellt. Bl encke-Magdeburg. 

Gelhaar, Sport und Schule. Aerztlicher Verein zu Frankfurt a. M., 11.^ 
1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 36. 

Gel haar empfiehlt zur körperlichen Ausbildung der Schuljugend a , 
Sommer obligatorische Turnspiele, Vermehrung der Spielplätze, im Winter h- 
lauf, Fußball und Hockeyspiel für die Kräftigeren. Er verlangt weiter reg^ 
mäßige Wanderungen für alle und endlich tunlichste Förderung des Flii> 
Schwimmens. Bl encke-Magdeburg. 

Schmiedicke, Erfahrungen über körperliche Entwicklung im militärpflichlires 
Alter. Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M., 11. Mai 1908. Münch, mei 
Wochenschr. 1908, 36. 

Schmiedicke weist auf die Zunahme der Herzkrankheiten unter d« 
Gestellungspflichtigen hin, die auf Sport, besonders Radfahren, znröckzufübw 
sind. Anderseits ist aber nach seiner Meinung eine ausgiebige Tätigkeit is 
freier Luft gerade für den Großstädter sehr nötig, da unter den Gestelloßg*^ 
pflichtigen der Großstädte sich der niedrigste Prozentsatz von Tauglichen find« 
Schmiedicke empfiehlt daher sorgfältige, dem Arzt zu überlassende 
derer, die bestimmte Maximal- oder Dauerleislungen anstreben, während 
dazu nicht geeigneten sich mit leichten Körperübungen begnügen sollen. 

Blencke-M agdeburg. 

Altschul, Geschichte des Sports. Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M., 11 
1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 36. 

Altschul schildert die geschichtliche Entwicklung des Sports von der 
Zeit der alten Kulturvölker her bis in die neueste Zeit unter besonderer 
rücksichtigung des Turnens und des Fahrradsports, sowie der literarischen 
samkeit des ärztlichen Stiindes in dieser Frage von Hippokrates an bis 
Neuzeit. Bl encke-Magdeburg. 

Lazarus, Vorläufige Mitteilung über konzentrische Gelenkstützapparate. Zentnl- 
blatt f. Chirurg, und mechan. Orthopädie Bd. II, Heft 9. 

Lazarus hat für Schulter und Hüftgelenk Apparate konstruiert, derto 
geometrischer Drehpunkt mit demselben Punkt des anatomischen Gelenkes 
saramenfällt. Infolgedessen beeinträchtigen diese Apparate die normalen Be¬ 
wegungen dieser Gelenke nicht nur nicht, sondern sie beugen auch jeglkl’^“ 
unregelmäßigen Bewegungen vor. Aus diesem Grunde sollen sie hauptsac^^'^ 
Verwendung finden bei Luxationen (angeborenen sowohl wie akquirierten) 
als Hilfsapparate bei der Nachbehandlung von Gelenkresektionen. Eine 
Beschreibung der Apparate hat sich der Verfasser noch Vorbehalten. 
fahren nur, daß die Bewegungen derart vor sich gehen, daß zwei konzentriKk^- 
das ganze Gelenk umgebende Kugelabschnitte, deren Mittelpunkt mit dem Drel> 


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Referate. 


631 


punkt des Gelenkes zusammenfallen, sich ineinander bewegen, ebenso wie sich 
der Kopf in der Pfanne des Gelenkes dreht. Pfeiffer-Frankfurt a. M. 

Thilo, Orthopädische Technik. Archiv f. Orthopädie Bd. VI, Heft 2—3. 

Die obige Monographie ist eine kurze Zusammenfassung zahlreicher, in 
verschiedenen Zeitschriften zerstreuter Arbeiten Thilos über orthopädische 
Technik, die Herstellung einfacher, aber sinnreicher Verbände und Apparate 
und über Bewegungstherapie. Der reiche Inhalt der Arbeit und die Vielseitig¬ 
keit und Mannigfaltigkeit der abgehandelten Themata lassen jedes Referieren 
als zwecklos erscheinen. Es genügt der Hinweis, daß hier nicht nur der prak¬ 
tische Arzt, der ja naturgemäß auf einfache Mittel angewiesen ist, sondern auch 
der Fachorthopäde manchen nützlichen Wink erhält, und manche Vereinfachung 
und last but for patients not least manche Verbilligung kostspieliger Apparate 
lernen kann. Pfeiffer-Frankfurt a. M. 

Patrik Haglund, Om bandagebehandling vid forlamningar i de nedre ex- 
treraiteterna. (lieber Bandagebehandlung bei Verkrüppelungen in den unteren 
Extremitäten.) Allmänna svenska Läkartidningen 1908, Nr. 7 — 8. 

Vortrag über Behandlung der spinalen Kinderparalyse mit Schienenhülsen¬ 
apparaten unter Betonung der schönen funktionellen Resultate, die eintreten, wenn 
man die Patienten sorgfältig lehrt, sich in Apparaten zu bewegen. Er fordert, daß 
man diese Apparate nicht als ein ultimum refugium, sondern frühzeitig zu einer 
üebungstherapie benutzen soll: „Wenn es in meiner Macht stände, so wollte 
ich ein allgemeines Gymnastikschlagwort ausrotten, welches in der ganzen 
Welt Poliomyelitispatienten daran hindert, eine gute Bandagebehandlung bei 
saohkundigen Orthopäden zu erhalten. Es wird nämlich, übrigens sehr ver¬ 
lockend gesagt, daß man sich möglichst lange enthalten soll, die schwachen 
Beine in Bandagen zu setzen, sie werden nur mehr und mehr zu Grunde 
gerichtet.“ Im Gegenteil, denn nur dadurch, daß man den Extremitäten zu 
ihrer normalen Funktion verhilft, können sie sich den Verhältnissen ent¬ 
sprechend entwickeln. — Restiert nur ein einzelner Muskel (z. B. tibialis ant.), 
so erachtet H. es für schädlich, diesen mittels Massage und Gymnastik zu 
entwickeln, da ein derartiger einzelner Muskel nur zü Kontrakturen Veran¬ 
lassung gibt. Nyrop Kopenhagen. 


Louis Bramson, Om Traktionsbehandling og et Apparat hertil (lieber Trak¬ 
tionsbehandlung und einen hierzu benutzten Apparat). Hospitalstitende 
1908, 5. 

Bramson beschreibt einen von ihm konstruierten „Sugetrakmassage“- 
Apparat. Er hat Aehnlichkeit mit Bi er-Klapps Saugglaa, an welches ein 
Handgriff’ zur Ausführung der Traktion angebracht ist. Hat sich die Glocke 
festgesaugt, so erzeugt man mit Hilfe des Handgriflfs abwechselnd Zug und 
Druck. Man soll hierdurch eine gleichzeitig mechanische und lokal kongestio- 
nierende Behandlung des subkutanen Gewebes erzielen. Der Apparat wird bei 
Ischias, Myositiden, Neuralgien, zikatriziellen Festheftungen, Hämatomresten etc. 
empfohlen. Ny rop-Kopenhagen. 


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632 


Referate. 


Bade, Ein neuer orthopädischer Operationstisch. Zentralbl. f. chirurg. dic 
mechan. Orthopädie Bd. II, Heft 5. 

Der neue Badesche Operationstisch ist aus dem Schedeschen rei 
Heu8nersehen Extensionstische entstanden. Er ist mit einer auswechsellire 
Beckenschwebe, die der Gochtsehen ähnelt, versehen, ferner mit verscbiec- 
baren niederzuklappenden und herausnehmbaren Zwischenplatten und mit Ko^ 
traextensionsvorrichtungen am Kopf und nach unten. Sämtliche Tischplatte 
tragen Schlitze, durch welche die verschiedenen Züge hindurcbgeleitet werde: 
können. Die vorderen Tischplatten besitzen herunterklappbare Griffe and s 
konstruierte Scharniergelenke, daß sie vollständig aufgeklappt werden könne: 
und auf diese Weise den Schulz eschen Klumpfußosteoklasten ersetzen. Scisie. 
daß keine Abbildung dieses Tisches der Empfehlung beigegeben ist. 

Pfeiffer - Frankfurt a. IL 

V. Wreden (Petersburg), Eine künstliche Hand mit aktiv beweglicie: 
Fingern. Zentralbl. f. chirurg. und mechan. Orthopädie Bd. H, Heft 10 
V. Wreden hat die Idee Vanghettis, einen Amputationsstuinpf ber 
austeilen, der der Prothese aktive Beweglichkeit MithjUt, mit Erfolg verwirk 
licht. Er hat die „Kinematisation* des Stai0fifi*ii in der Art ausgeführt. dä5 
er an einem Handamputationsstumpf a«ir der Sehne des oberflächlichen Fing?*'* 
trägers eine Schlinge bildete, die er aus der Wunde hervorragen ließ, um he 
dann mit Haut ringsum zu decken. Es trat rasche Heilung ein und scbca 
nach kurzer Zeit war der Patient im stände, mit seiner Sebnenscblinge 6 kg 
Gewicht zu ziehen. Nun wurde die Schlinge mittels eines vernickaUen 
hakens mit den Drahtsehnen der künstlichen Hand in Verbindung gehrAcbt, 
wodurch der Patient befähigt war, aktiv seine Finger zu beugen und 
schiedene Gegenstände zu fassen und festzuhalten. Die Extensionsbewegungen 
waren durch elastische Züge ersetzt worden. Noch größere Erfolge ließen sicii 
natürlich durch die Bildung von zwei Schlingen, für den Daumen und für die 
übrigen Finger, erzielen, was im Moment der Amputation natürlich leichter n 
bewerkstelligen sein wird. Pfeiffer-Frankfurt a.-M. 

Charles M. Paul, An extension without use of wights, for fractures. 
York med. Journ., 15. August 1908, S. 299. 

Verfasser gibt einen Verband an, durch den eine Extension ohne Gewich 
erreicht wird, lieber einen Pflastersteigbügel verband legt er einen bis zum ober» 
Drittel des Oberschenkels reichenden Eisenbügel. Indem er Gummizüge von deis 
Pflastersteigbügel zu dem Fuße des Eisensteigbügels führt, übt er eine EitenMO» 
aus. Im einzelnen muß die illustrierte Arbeit eingesehen werden. 

F. Wo blauer- Charlottenburg. 

A. Hofmann, Die Umsetzung der longitudinalen Extension in transversai? 
Extension, ein leicht zu improvisierender, wie auch als Dauerextension 
benützender Streckverband. Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59, Heft- 2, S. 2So. 
Die erste der beiden von Hof mann beschriebenen Modifikationen is'l 
dadurch cliaraktcrisiert, daß die longitudinale Extension in queren 
zwei Seiten umgesetzt wird, während die zweite Extensionsart eine l®* 
Setzung des longitudinalen Zuges in einen solchen transversalen nur nach ein^^ 


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Referate. 


633 


Seite darstellt. Die Technik der Extensionsübertragung nach zwei Seiten ge¬ 
staltet sich so, daß zunächst die Heftpflasterstreifen an der unteren Ex¬ 
tremität in der gewöhnlichen Weise befestigt werden. An Stelle des üblichen 
Spreizbrettes kommt ein Spreizbrett, das aber dem weiteren Zweck dient, als 
Träger der Umsetzung zu wirken. Dasselbe besteht aus einer halbkreisförmigen 
2—3 cm dicken Holzscheibe, an welcher an jeder Seite je eine Ringschraube 
angebracht ist. Die Extensionsstreifen laufen um die Peripherie dieser Holz¬ 
scheibe und werden von den Ringschrauben durchbohrt. Die Holzscheibe be¬ 
findet sich also genau an derselben Stelle, an welcher bei der sonst üblichen 
Extension das Spreizbrett eingeschaltet ist. Um das untere Brettende wird eine 
Schnur gelegt, welche in sich selbst zurückläuft. Dieselbe muß straff angezogen 
sein. Um den dem Bette zugewendeten Teil dieser Schnur wird eine quer 
verlaufende Schnur heruingeführt, welche nach links wie nach rechts durch je 
eine der vorhin erwähnten Ringschrauben gleitet und nun mit beiderseits gleich 
schweren Gewichten belastet wird. Dieser Zug zieht zunächst die um das untere 
Bettende gelegte Schnur fest an und übt dann einen Zug an der unteren Ex¬ 
tremität direkt nach unten aus. 

Bei der Umsetzung des longitudinalen Zuges in einen solchen nur nach 
einer Seite geschieht die Ablenkung distal von dem in der üblichen Weise 
benutzten Spreizbrette mit Hilfe einer Fadenrolle, welche die die Uebertragung 
der Extension bewirkende, einerseits an dem Spreizbrett, anderseits an einer 
das Bettende umgebenden Schnur wirkende Zugvorrichtung aufnimmt. 

Das beschriebene Extensionsverfahren stellt zunächst eine Improvisation 
dar. In jedem Haushalt kann es schnell und ohne besonderen Aufwand aus¬ 
geführt werden. Alles, was man dazu braucht, ist in dem einen Falle eine 
Fadenrolle, im anderen ein halbkreisförmiges Spreizbrett, welches aus einem 
Stück Holz leicht zurecht geschnitzt werden kann. Das Extensionsverfahren 
besitzt aber nicht nur den Zweck, einer Improvisation zu genügen. In dem 
städtischen Krankenhause zu Karlsruhe werden seit 2 Jahren sämtliche Streck¬ 
verbände an der unteren FiXtremität in der gleichen Weise angelegt. 

Joachimsthal. 


Vogel, Zur Technik des Gipsverbandes. Zentralbl. für Chirurgie 1908, 42. 

Um den Gipsverband leichter zu machen, setzt Vogel Chemikalien 
hinzu, die im Moment, wo die Binde ins Wasser getaucht wird, Kohlensäure 
entwickeln. Er nimmt ein Gemisch von 

Gumm. arab. 10,0 

Amyl. 20,0 

Cretae alb. subtill. pulv. 27,0 
Alum. sulf. 60,0 

und vermengt dieses innig mit dem gewöhnlichen Gips und zwar im Verhältnis 
von 1 (Gemisch) zu 6 (Gips). 

Festigkeit, Dauerhaftigkeit und Billigkeit des Gipsverbandes leiden dar¬ 
unter ebensowenig, wie die bequeme Art der Herstellung und die schnelle Er¬ 
härtung. Blencke-Magdeburg. 

Zeitschrift für orthopiidische Chirurgie. XXII. Bd. 41 


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634 


Referate. 


Frankel, Die Technik der Gehgipsverbände. Mdnch. med. Wochenschr. v 

Fränkel empfiehlt den mittels des Lorenzschen Tretbügela hergesteKte^ 
Gipsgeh verband, der bisher nur bei der Behandlung der Gelenktuberkulose vr 
wendet wurde, auch zur ambulanten Behandlung von ünterschenkelfraktnr«: ^ 
von fixiertem Plattfuß und als Verband, der einen operierten Fuß oder Unt-r 
Schenkel vor Belastung schützen soll. Für die Fälle, in denen ein abnehmbarer Gi;- [ 
verband erwünscht ist (z. B. zur Applikation der Bier sehen Stauung bei Geloi 
tuberkulöse) hat Fränkel den Lorenzschen Bügel durch Finfügen eiie i 
Hodgenschamiergelenks in einen Schenkel der Doppelschiene zum Auf- und Z: 
klappen eingerichtet. Als besondere Vorzüge dieses abnehmbaren entlastenia , 
Gipsgehverbandes gegenüber den Hessing- und Zelluloidapparaten hebt Vtr 
fasser die Billigkeit und Einfachheit der Herstellung hervor. i 

Blencke-Magdeburg. | 

Kofmann, Die Technik der Gehgipsverbände. Randbemerkungen zu dem Artikel [ 
von Dr. Fränkel in der Münch, med. Wochenschr. 1908, 33. — Müd.^ I 
med. Wochenschr. 1908, 36. 

Kofmann hebt hervor, daß er bereits 1904 den Lorenzschen Gehböz:- 1 
zur Anlegung des Gehverbandes bei Oberschenkelfrakturen und auch die tci 
F ränkel angegebenen Sandalen empfohlen hat, legt aber bei Erkrankungen dö 
Fußgelenkes mehr Wert auf die Immobilisation als auf die Entlastung nti 
nimmt deshalb den Fuß mit in den Verband hinein. 

Blencke-Magdeburg. i 

I 

Dibbelt, Die Pathogenese der Rhachitis. Aerztlicher Verein zu Marburg. 

22. Juli 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 35. 

Das wesentliche Ergebnis der Untersuchungen und Stoffwechselvei^ock 
Dibbelts ist der Nachweis, daß das Wesen der Rhachitis in einer Störung 
Kalkstofi'wechsels besteht. Der Calciumgehalt der Frauenmilch deckt nur ud* ^ 
genügend das Kalkbedürfnis der Säuglinge, läßt sich aber durch kalkreicb? 
Nahrung, vor allem viel Kuhmilch und Darreichung anorganischer Kalkpräparate. | 
erhöhen. Kuhmilch enthält zwar mehr Kalksalzc als Frauenmilch, aber die 
Ausnutzung ist eine viel schlechtere. Noch ungünstiger sind die Ansatz Verhält¬ 
nisse für das Calcium bei Mehlpräparaten. Therapeutisch ergibt sich daraus die 
Forderung, die Rhachitis prophylaktisch zu bekämpfen durch Ausschaltung da 
künstlichen Nahrung und Erhöhung des Kalkgehaltes der Frauenmilch dard 
kalkreiche Nahrung. Blencke-Magdeburg. i 


Palagi, Ricerche sul ricambio materiale nella rachitide tardiva. SocietA di 
medicina e biologia. Sitzung vom 2. März 1908. 

Bei zwei Kranken mit Spätrhachitia hat Redner Untersuchungen üb»er 
den Phosphor-, Kalk- und Magnesiastoffwechsel angestellt, auf Grund welcher 
er zu folgenden Schlüssen kommt: 

1. Es besteht bei diesem Leiden eine sehr geringe Kalkausscheiduiu: 
durch den Harn, welche als der Ausdruck des alterierten Stoffwechsels des 
Knochengewebes zu betrachten ist. 


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( 



Referate. 


635 


2. Eine gleiche Bedeutung ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Uneu* 
länglichkeit der Phosphorsäure zuzuschreiben. 

3. Der Magnesiastoffwechsel dürfte ebenfalls alteriert erscheinen. 

Ros. Buccheri-Palenno. 

Arcangeli, Ancora poche parole sulla teoria Bossi. Societa Lancisiana degli 
ospedali di Roma, 25. April 1908. 

Arcangeli bespricht die Theorien über die Osteomalacie und kommt 
zu dem Schluß, daß eine große Anzahl experimenteller und klinischer Tatsachen 
für die Infektionstheorie sprechen. Die Adrenalinbehandlung ist nicht ge¬ 
nügend durch das Experiment und die klinische Beobachtung begründet, sie 
kann überdies gefährlich sein. 

Bis jetzt haben Chloroformnarkose, Phosphor, Kalksalze voi*zügliche 
therapeutische Resultate gegeben. 

Ros. Buccheri-Palermo. 

De Gregorio, La cura adrenalinica delf osteomalacia. Societa Lancisiana 
degli ospidali di Roma, 25. April 1908. 

De Gregorio teilt die Resultate der Adrenalinbehandlung in drei Fällen 
von Osteomalacie nach Bossi mit. Dieselben sind: 

1. In allen drei Fällen erhebliche Efesserung der subjektiven Beschwerden, 
aber keine Besserung der objektiven Läsionen, außer der Besserung, die gewöhn¬ 
lich durch Ruhe und Phosphorkur erzielt wird. 

2. In allen drei Fällen während der Behandlung Allgemeinbeschwerden, 
die zuweilen so schwer waren, daß die Behandlung selbst ausgesetzt wer¬ 
den mußte. 

3. In einem Fall Glykosurie, die nach Aussetzen der Adrenalininjektionen 
rasch verschwand. 

4. In einem Fall schwere Läsion der Aorta, bestehend in hyaliner Nekrose 
der Media. 

Bei sämtlichen drei Kranken haben wiederholte Radiographieen in den 
Veränderungen des Skeletts (Rarefaktion der Knochen) keinerlei wahrnehmbaren 
Unterschied nachgewiesen. 

Ros. Buccheri-Palermo. 

T. 0. Schobad, Ein Fall von durch Schädeltrauma bedingtem Zwergwuchs 
im jugendlichen Alter, ßerl. klin. Wochenschr. Nr. 45. 

Bei dem 9 Jahre alten Knaben mit proportionaler Entwicklung aller 
Körperteile, dessen Längenwachstum und Gewicht dem 3. Lebensjahre ent¬ 
sprechen, während die am Röntgenbilde erkennbare Entwicklung des knöchernen 
Skeletts und der Zahnwechsel nur auf eine Verlangsamung der Entwicklung 
hinweisen, trat der Stillstand im Wachstum im Alter von 3 Jahren nach einer 
Schädelfraktur ein. Am Stirnbein fühlt man 1V* cm nach links von der 
Mittellinie und 5* 2 cm über den Augenbrauen eine Einsenkung des Knochens 
mit unregelmäßigen Rändern. Die geistigen Fähigkeiten sind normal. 

Joachiinsthal. 


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036 Referate. 

Hans Iselin, Wachstumshemmung infolge von Parathyreoidektomie bei Raret 
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, 93. 

In neuerer Zeit sind den Glandulae parathyreoideae Sandströms, d-i j 
jetzt unter den Namen „Epithelkörperchen“ (Cohn) allgemein bekannten er: j 
zusehends mehr gewürdigten kleinen Organen, eine größere Anzahl experimri 
toller Arbeiten gewidmet worden. Sie bestanden in Exstirpationen oder 
plantationen. Dank einer Reihe ausgezeichneter Arbeiten kann heute als fe?t 
stehend angesehen werden, daß die Cachexia strumipriva und das kongeniUi- 
Myxödem auf dem Ausfall der Schilddrüsenfunktion (Thyreoaplasie) benihL 
während die Tetanie auf den Ausfall der Epithelkörperfunktion zuruckzufübrei 
ist. In einer außerordentlich exakten Arbeit hat Erdheim im Jahre 
den Nachweis erbracht, daß bei den Tieren, die die Tetanie überstanden haben 
längere Zeit am Leben blieben, trophische Störungen auftraten, insbesonder- 
an den Nagezähnen. Es gelang Erdheim der Nachweis, daß die Brüchigkez! 
der Zähne auf mangelhafter Kalkablagerung im Dentin beruht; er hob berver 
daß es von Interesse sein würde, den Einfluß der Epithelkörperfunktion auf 
das Wachstum und namentlich die Kalkablagerung des wachsenden Skeiet^ 
bei jungen Tieren zu studieren. An die Erd heim sehen Versuche und Be¬ 
merkungen nun knöpfen die Versuche Iselins an. 

Es gelang Iselin, an? Ratten, die die Ektomie überlebt haben ud 
über einen Monat beobachtet wurden, die Feststellung, daß die Tiere eid 
Verzögerung oder gar einen Stillstand in Gewichtszunahme und Wachstas 
aufwiesen. Allerdings fehlt bei allen Tieren der Sektionsbefund, der das ln- 
taktsein der Schilddrüse beweist. Eine der Arbeit beigefügte Gewichtstabelir 
und die photographischen Bilder zweier Exemplare mit Kontrolltier veransebatr 
liehen die Wachstumsstörung. Sie kommt auch in einem angefügten Rontgec- 
bilde des Skeletts klar zum Ausdruck. Sollte es gelingen, diese Beobachtungea 
Iselins durch Experimente in großer Zahl und an verschiedenen Tierarten m 
bestätigen, so müßte die Lehre von der Tyreoaplasie (d. h. von den Folgen der 
sogen, reinen Tyreoidektomie) eine gewisse Modiflkation erfahren. 

Bibergei I-Berlin. 

J. Schrumpf, lieber das klinische Bild der Achondroplasie (Chondrodjstrophie' 
beim Erwachsenen und eine ihr sehr ähnliche, bisher noch nicht be¬ 
schriebene Form von mikromelem Zwergwuchs bei einer 56jährigen Frao. 
Berl. klin. Wochenschr. Nr. 48 S. 2137. 

In dem von Schrumpf beschriebenen Fall handelt es sich um eine 
50jährige Patientin, die bis zum 7. Lebensjahr normal entwickelt, in diesem 
Alter im Anschluß an eine kurze fieberhafte Erkrankung, die mit Gelenk¬ 
schwellungen einhergegangen ist, ziemlich plötzlich das Gehen verlernte und 
die Gebrauchsfähigkeit der Arme und Beine verlor. Rumpf und Kopf ent¬ 
wickelten sich weiterhin normal, während die Extremitäten ihre Größe beib^- 
hielten. Die geistigen Fähigkeiten sind von der Krankheit nicht beeinflußt 
worden. Die Patientin zeigt eine Körperlänge von 119 cm, Rumpf und Kopf 
erweisen sich als ziemlich normal, während die Extremitäten denjenigen eines 
6—7jährigen Mädchens entsprechen. Die Schultergelenke sind partiell, die Ell¬ 
bogen fast vollkommen rechtwinklig ankylosiert. Ferner besteht eine starke 




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Referate. 


637 


Drehung beider Hände nach außen mit partieller LuJtation der Handgelenke. 
Die linke Hand ist in dieser Stellung fixiert, die rechte schlottert. Als Schlotter¬ 
gelenke sind auch die meisten Metakarpophalangealgelenke, sowie Interpha- 
langealgelenke zu bezeichnen. Es besteht teilweise Ankylose der Hüftgelenke 
und völlige Ankylose der Knie* und Fußgelenke. Die Zehen sind beweglich. 
Die Röntgenuntersuchung ergibt gerade, dicke Diaphysen und verdickte Epi¬ 
physen. Die Epiphysenfugen sind deutlich sichtbar, jedoch nirgends offen. 

Auch nach des Ref. Ansicht kann es sich in dem vorliegenden Falle 
keineswegs um eine Achondroaplasie handeln; die eingehende Besprechung 
dieser Störung erscheint daher als Einleitung zu der Krankengeschichte wenig 
angebracht. Joachimsthah 

H. W. Takkenberg, lieber idiopathische Osteopsathyrosis. Nederh Tijdschrift 
voor Geneeskunde 1908, II, 4. 

Das Hauptsymptom dieser Krankheit, die nur bei Kindern vorkommt und 
in oder nach der Pubertät immer allmählich verschwindet, ist das Auftreten 
von vielen Knochenbrüchen. Entweder sind diese nur auf ein Glied (meist ein 
Bein) beschränkt, oder verschiedene Glieder werden von der Krankheit befallen. 

Takkenberg berichtet über einen 38jährigen Zigarrenarbeiter, der nach 
geringfügigen Anlässen sechs Knochenbrüche am linken Bein erlitten hatte. 
3 Jahre alt, brach er den linken Oberschenkel (diese Fraktur wurde nicht 
behandelt), 6 Jahre alt, brach er wieder den linken Oberschenkel, 9 Jahre alt, 
das linke Bein (die Stelle war nicht zu eruieren), im Alter von 11 Jahren hatte 
er einen Knochenbruch am Unterschenkel, 1 Jahr nachher wieder einen am linken 
Bein (die Stelle konnte Patient nicht angeben) erlitten. Januar 1908 hatte er 
den Unterschenkel gebrochen; der Bruch ist im Gipsverbande gut geheilt. 

Die Brüche waren nicht sehr schmerzhaft. Das Bein ist jetzt um 18 mm 
verkürzt. Patient legt mit einer Korksohle von 18 mm ohne Ermüdung mehr¬ 
mals täglich einen Weg von ‘20 Minuten zurück; er hinkt aber deutlich. 

Patient war übrigens immer gesund; Symptome von Rhachitis, Syphilis, 
Nervenkrankheiten fehlen. Die Eltern, Geschwister und Kinder des Patienten 
haben nie Knochenbrüche erlitten, 

Ueber das Wesen der Krankheit sind die Meinungen sehr geteilt. Die 
Ergebnisse der histologischen Untersuchungen widersprechen einander. 

Die Krankheit an sich können wir therapeutisch nicht beeinflussen; 
ira späteren Alter werden die Brüche von selbst immer seltener. Die 
Knochenbrüche heilen im allgemeinen ebensogut und schnell als bei nor¬ 
malen Knochen. Man soll nach den üblichen Methoden die Dislokation be¬ 
seitigen. Leider versäumen die Kranken wegen der geringen Schmerzen öfters, 
sich zur rechten Zeit behandeln zu lassen. So wurde bei diesem Patienten die 
erste Fraktur von der Mutter für eine unbedeutende Verletzung gehalten; es 
wurde kein Arzt zu Kate gezogen. van Assen-Amsterdam. 

Alexander Lipschütz, Ueber idiopathische Osteopsathyrose. Berl. klin. 
Wüchenschr. Nr 18 S. 866. 

Der von Lipschütz beschriebene Fall zeichnet sich dadurch aus, daß 
die Frakturen vorzugsweise an den spongiösen Teilen des Knochens lokalisiert 


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638 


Referate. 


sind: Epiphyse des rechten Vorderarms (Oleokranon), Oberschenkelhals. Frc: 
oberhalb des rechten Knies und linkes Fußgelenk. Die Frakturen in der link-i 
und rechten Tibia sind auch tief im unteren Drittel gelegen. Gebrochen 
der rechte Vorderarm Imal, der rechte Oberschenkelhals Imal, der unterste Air 
schnitt des rechten Oberschenkels Imal, der rechte Unterschenkel 4mal, der liri- 
8mal, das linke Fußgelenk Imal, der linke Radius Imal. Joach imst hal 

Frederik Wood Jones, Some lessons from ancient fracturea. The 
medical Journal, 22. August 1908, S. 455. 

Verfasser berichtet über 200 Fälle von geheilten Knochenbrüchen, a- 
6000 Skeletten entstammen, welche in Nubien ausgegraben wurden und 
dem Zeitraum von ca. 4000 v. Chr. bis 500 n. Chr. angehören. Verfasser jr.:* 
eine vergleichende statistische Tabelle über die prozentuale Häufigkeit der 
zelnen Frakturarten in seinen Fällen und denen der heutigen Zeit und zwar 
dem London Hospital und dem Hudson Street Hospital in New York. K« iv 
auffallend, daß keine Patellarfraktur in den 6000 Fällen sich fand, überha:': 
sind die Frakturen unterhalb des Knies sehr selten. Verfasser meint, dieses rüh^ 
von dem Barfußgehen, dem Fehlen von Treppen und Bordschwellen her. 
Zusammenhang damit steht, daß von 10 Oberschenkelfrakturen 9 auf christliciifs 
Kirchhöfen gefunden wurden, die christlichen Ansiedler trugen Schuhe und 
wurden auch in der Nähe der Leichen gefunden. 

Fuß- und Handfrakturen wurden prozentualiter sehr selten gefunden, c:- 
ersteren wegen des fehlenden Wagenverkehrs, die letzteren wegen des Fehles? 
von Maschinenverletzungen. 

Vorherrschend waren Vorderarm- und Claviculafrakturen. Dies wird 
das Tragen des „Naboot“, eines langen Stocks zuröckgeführt, der der stete 
Begleiter des Nubiers war und stets das ultimum refugium wurde. 

Humerusfrakturen finden sich im selben Prozentsatz wie heute. 

Was die Behandlung anlangt, so hat man auf einem Kirchhof der fünftem 
Dynastie, anderseits auf einem christlichen Kirchhof Schienen gefunden, worau? 
mit Wahrscheinlichkeit hervorgeht, daß auch die Jon es sehen Fälle mit Schiecen- 
verbänden behandelt worden sind — mit Ausnahme der pradynastischen und 
der Fälle, die so komplizierte Verbände benötigt hätten, daß sie die Kunst der 
alten Aerzte übersteigen mußten. Trotzdem also eine Anzahl Fälle unbehandrlt 
waren, so sind doch die Heilungsresultate ebenso gute, ja teilweise bessere 
heute. So wurde z. B. in einer Serie von über 40 Frakturen des distalen Uln*- 
endes kein einziges schlechtes Resultat gefunden; bei einfachen Frakturen 
schient eben der Begleitknochen, hier der Radius. Bei der Fraktur beidtr 
Knochen — z. B. Radius und Ulna — waren die Resultate teilweise recht schlechtr' 

Vorzügliche Resultate zeigten Femurfrakturen (Verkürzung nur 11 miui. 
Humerusfrakturen, an Ulna und Fibula markierte nur eine geringe Auftreibur.g 
die Frakturstelle (Abbildungen). 

Die einzigen Fälle von Nichtheilungen fanden sich bei Claviculafrakturea. 

Sepsis nach Frakturen fand sich nur sehr selten. Die guten Resultate 
dieser zum Teil gar nicht, zum Teil kunstlos behandelten Fälle erweisen, 
durch ausschließliche Ruhe gute Frakturheilungen zu stände kommen können. 

F. Wohlaner-Charlottenburg. 


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Referate. 


639 


Bernardi, Di alcune modificazioni citologiche nel eangue dei fratturati. Tipo- 
grafia Editrice Mariotti. Pisa 1907. 

In vorliegender Arbeit teilt Verfasser die Resultate von über 1000 Blut¬ 
untersuchungen an normalen und frakturierten Individuen mit. Bei sämt¬ 
lichen Frakturierten hat er ausnahmslos eine Gesamtvermehrung der zirkulie¬ 
renden Leukozyten konstatiert. Die cytologischen Aenderungen in den ver¬ 
schiedenen Verhältnissen sind in zahlreichen Tabellen zusammengestellt, aus 
^enen Verfasser folgende Sclilüsse ziehen zu können glaubt: 

1. Beim Bestehen einer Fraktur bekommt man im Blut eine Vermehrung 
der absoluten Leukozytenzahl, die im Verhältnis steht zu dem Alter des Frak¬ 
turierten, zu der Bedeutung des verletzten Knochens und zu der Schwere der 
V erletzung. 

2. Diese Vermehrung erreicht ihr Maximum 10—15 Tage nach der Fraktur 
und neigt dazu, allmählich mit dem Heranrücken der Heilung zu verschwinden. 

3. Es findet sich im Blut sämtlicher Frakturierter eine ziemliche Anzahl 
von Myelozyten, welche weder zu der Schwere der Verletzung und der Be¬ 
deutung des frakturierten Knochens noch zu dem Alter des Patienten in Ver¬ 
hältnis steht. 

4. Die vielkernigen neutrophilen Zellen, die großen einkernigen und die 
Uebergangsformen sind stets (außer in sehr hohem Lebensalter) bedeutend zum 
Kachteil der Lymphozyten vermehrt. 

5. Die eosinophilen Zellen streben dahin, sich in den ersten Tagen der 
Fraktur zu verringern, um späterhin, falls keine Komplikationen bestehen, sehr 
hohe Ziffern zu erreichen. 

6. Das Fehlen, die erhebliche Spärlichkeit oder das allmähliche Ver¬ 

schwinden der zirkulierenden eosinophilen Zellen bei den Frakturierten ist ein 
prognostisches Zeichen von mehr oder weniger schweren Komplikationen im Ver¬ 
lauf der Verletzung. Ros. Buccheri-Palermo. 

Piovesana, Di una complicanza infrequente nella cura delle fratture degli arti. 
Rivista Veneta di scienze mediche 1908, Nr. 2. 

Die Komplikation besteht in Schmerz in der Extremität, Anschwellung 
und mehr oder weniger erheblicher Abkühlung. Die Rückbildung der Gewebe 
zum normalen oder fast normalen Aussehen erfolgt nach 8—20 Tagen, worauf 
unmittelbar eine Muskelschrumpfung, eine Kontraktur folgt, welche von ver¬ 
schiedener Stärke, von allgemein progressivem Charakter ist und zuweilen in 
wenigen Wochen den äußersten Grad erreicht. Die Schnelligkeit des Verlaufes 
bildet sogar das Wesentlichste zur Unterscheidung des Krankheitsprozesses 
von anderen paralytischer Natur, welche üebereinstimmungen besitzen können. 
Am meisten trifft die Störung von den Muskelgruppen die Beuger des Vor¬ 
derarmes, die Fuß- und Unterschenkelstrecker, kann aber auch eine isolierte 
Gruppe ergreifen. Die Sensibilität erhält sich intakt; die elektrische Muskel¬ 
reaktion ist zuweilen normal, zuweilen herabgesetzt, seltener umgekehrt in ihrer 
Kontraktionsformel. 

Ursache dieser Kontraktur ist stets die arterielle Ischämie, welche zumeist 
durch einen zu engen Verband hervorgerufen wird. 

Ros. Buccheri-Palermo. 


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640 


Referate. 


C. Ewald-Wien, Beiträge zur Behandlung von Knochenbrüchen und Vf 
renkungen. Wien. klin. Wochenschr. 1908, Nr. 39, S. 1347. 

Ewald stellt die mobilisierende oder funktionelle Therapie der Kdc-tl-'’ 
brtiche der älteren Behandlungsart mit längerer Fixationsperiode gegenüber ^ 
weist darauf hin, daß nicht immer unliebsame Folgezustände auf zu Ur. 
Ruhigstellung zurückzuführen sind, sondern häufig ihre Ursache in der Ar: 4r 
Nebenverletzung von Nerven, Blutgefäßen, Sehnen und Muskeln haben. Er Tr 
wirft jede schematische Behandlung und läßt sich in seinem Vorgehen iL- 
schließlich von der Verschiebung der Bruchstücke bestimmen. Frakturen ijbi 
Dislokation und Fissuren behandelt er mit unwatlierten Gips- bezw. Gii-g- 
verbänden. Letztere Tverden mit Flanellbinden unterfüttert; eine auf die S - 
geklebte Filzplatte erleichtert das Umhergehen. Nach 3—4 Wochen seu: 
Nachbehandlung mit Plattfußeinlage und festem hohem Schnürstiefel ein. Ir- 
Knickungsbrüchen der Vorderarmknochen sucht Ewald durch Anlegen eirr' 
Schiene an die dem Scheitel des Knickungswinkels gegenüberliegende Seite er 
stärkeres Anziehen der über dem Scheitel des Winkels verlaufenden Bindenzh^ 
ein günstiges Resultat zu erzielen. Zur Verhütung bezw. Behandlung d« 
valgus traumaticus nach Knöchel- und anderen Unterschenkelbrüchen gibt r- 
einen Apparat an, bei welchem eine äußere Schiene einen von innen nach 
abgeschrägten Absatz mit einem in Höhe des Knickungswinkels kräftig asj 
zogenen Riemen verbindet und nun durch diesen bei jedem Schritt eneriT.^: 
redressierend auf die Verbiegung ein wirken soll. — Verschiebungen ad Ior£ 
tudinem behandelt Ewald nach den Bardenheuerschen Prinzipien. — fi- 
Auswärtsrolluug des proximalen Bruchstückes der Oberarmfrakturen zwingt 
das distale Bruchstück durch stärkste Elevation mit Gewichtszug in die ent^preche^:^ 
Stellung. Die gleiche Dislokation beseitigt er bei Oberschenkelbrüchen 
eine am Fuß befestigte rechtwinklige Armschiene, deren freier Schenkel uä:" 
außen absteht. Für hartnäckige Fälle empfiehlt er eine Zinkschiene, die j-vi: 
mit einem entsprechend gebogenen weichen Teil der Extremität anschmie^t- 
während der feste gerade Teil entweder der Unterlage aufliegt oder mineb 
Gewichtszug über eine Stelle an der gegenüberliegenden Seite des Bettes nio' 
weniger gehoben wird und so eine besonders wirksame Innenrotation des du- 
talen Frakturstückes herbeiführt. — Ganz desolate Fälle und solche nait l^te^ 
Position von Weichteilen sind der blutigen Behandlung Vorbehalten. 

Schulter- und Hüftverrenkungen richtet Ewald in der Weise ein, di: 
der Patient auf einer Bettdecke am Boden gelagert wird, dann ergreift d- 
Operateur mit beiden Händen die betreffende Extremität und kann, indem er 
mit dem vom Schuh entblößten Fuß eine Gegenstütze am Körper des Krankes 
findet, einen besonders kräftigen Zug ausüben; oder aber die Extremität wira 
über Schulter bezw. Nacken des Operateurs gelegt und nun wird durch Aüf 
richten eine sehr energische Wirkung erzielt, die noch durch Manipulationrs 
der Hände unterstützt wird. Ellbogenverrenkungen werden durch eine Art toe 
H ebelwirkung reponiert, indem das an der Innenseite des oberen Vorderaiß* 
drittels angesetzte Knie des Operateurs als Hypomochlion dient, und die fr^'^ 
Hand die Ulna herabzuachiebeu sucht; doch fehlen Ewald hierüber noch eigeßt- 
Erfahrungen. Eine größere Zahl von Textfiguren erläutert das Gesagte. 

E h r i n g h a u s - Berlin. 


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Referate. 


G41 

Pucci, Sülle pseudo-artrosi con speciale riguardo al tessuto muscolare inter- 
posto. La clinica chirurgica 1908, Nr. 4. 

Pucci spricht in seiner Arbeit von den Pseudarthrosen im allgemeinen 
und glaubt, daß die Hauptursache derselben im Kindringen von Weichteilen 
zwischen die Bruchstücke zu suchen sei. Bei 54 an Kaninchen vorgenommenen 
Versuchen hat er das eingedrungene Muskelgewebe untersucht und ist zu folgen¬ 
den Schlußfolgerungen gekommen: 

In dem Muskelgewebe, welches sich in den ersten Tagen zwischen die 
Bruchstücke geschoben hat, findet man eine sehr deutliche Vermehrung der 
Sarcolemmkerne, während die Muskelfaser entartet und nach und nach atrophiert. 
Indessen sucht die Proliferation der Sarcolemmkerne sich von ihrem Ausgangs¬ 
punkt zu entfernen und sich zwischen die einzelnen Muskelfasern zu lagern, 
dabei sich mit ihren Zellen in einer oder mehreren Reihen anordnend. Während 
die kontraktile Substanz sich zu einer Art von feinem, staubförmigen Detritus zu¬ 
rückbildet, verwandeln sich die proliferierten Sarcolemmkerne in bald spindel¬ 
förmige, bald sternförmige Zellen mit zentralem Kern, welche an dem die beiden 
Stümpfe einhüllenden Keimgewebe teilnehmen und je nach ihrer Lage sich in 
Osteoblasten oder Knorpelzellen verwandeln, die die Bildung des Gallus ver¬ 
mehren, sowohl des Periosts als des Knochenmarkes und des Zwischencallus. In 
diesen Fällen hat Pucci stets Konsolidierung der Fraktur erhalten. 

Nur selten hat Verfasser die sogenannte Muskelverbindung gesehen und 
in diesen seltenen Fällen Pseudarthrose bekommen. 

Das Muskelgewebe bildet demnach kein ernstliches Hindernis für die 
Callusbildung, und wenn dies ausnahmsweise der Fall ist, verursacht es im all¬ 
gemeinen keine Pseudarthrose. Ros. Buccheri-Palermo. 

Reinhardstoettner, lieber Pseudarthrose und ihre Behandlung, Diss. 
München 1908. 

Nach kurzen einleitenden Worten über Pseudarthrosen und deren Be¬ 
handlungsmethoden berichtet Reinhardstoettner über die in den Jahren 
1901—1908 in der Münchener chirurgischen Klinik behandelten Pseudarthrosen- 
fälle, bei denen die Naht, Stauung und Blutinjektion angewandt wurden. Es 
handelt sich um 14 Fälle, von denen 2 Fälle mit Naht, 6 mit Stauung und 
6 mit Blutinjektion behandelt wurden, und zwar wurde in 12 Fällen Heilung 
erzielt, bei einem Fall ist die Heilung noch im Gang und bei einem sind die Nach¬ 
fragen unbeantwortet geblieben. Die 6 gestauten Fälle gingen durchwegs in 
iVa—4 Monaten in Heilung aus, ebenfalls gute Resultate ergab die Blutinjektion 
mit —6V2 Monaten Dauer. Auf Grund dieser seiner Erfahrungen scheinen 
demnach nach Reinhardstoettners Ansicht Stauung und Blutinjektion be¬ 
rufen, die Naht bei Pseudarthrosenbildung zu verdrängen; die Resultate beider 
halten sich das Gleichgewicht. B1 e n c k e - Magdeburg. 

Steinmann, Eine neue Extensionsmethode in der Frakturenbehandlung. Zen¬ 
tralblatt f. Chirurgie 1907. Heft 32. 

Steinmann empfiehlt statt der heute allgemein üblichen Heftpflaster¬ 
extensionsmethode das Einschlagen langer Nägel in das periphere Fragment, 
an denen dann die nötigen Gewichte mittels Draht angehängt und über Rollen 


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642 


Referate. 


geleitet werden. Die Nägel sowie die Haut müssen natürlich sterilisiert werdes 
ferner müssen die Nägel, da sie sich später lockern, schräg in der Zugrichtos^ 
eingetrieben werden. Die Lockerung ist umso geringer, je kompakter de: 
Knochen ist. Nennenswerte Schmerzen „soll* die Operation nicht herromifci 
jedenfalls „soll* die spätere Extension vollständig schmerzlos sein, worin de 
Verfasser einen Hauptvorzug seiner Methode sieht. Sie soll ferner einfache 
sein als die Heftpflasterextension und jegliche Reizung der Haut amsschlife^en. 
so daß die ständige Kontrolle fortfällt. Sie gestattet sicher die sofortige Aif 
nähme der gymnastischen Behandlung und ist bei komplizierten wie unkompb- 
zierten Brüchen verwendbar. Es fragt sich nur, ob sich die Methode in Deutsch' 
land rasch einbürgem wird. Pfeiffer-Fi-ankfurt a. M 

Bülo W'Hansen, Om behandling, speciell efterbehandling af frakturer i Ini 
(lieber Behandlung, speziell Nachbehandlung der Gelenk frakturen.) Nor^k 
Magazin for Lagevidenskaben. Februar 1908. 

Bülow-Hansen hebt die Schädlichkeit passiver Bewegungen zur Mobiiw* 
rung eines frakturierten Gelenkes hervor. Durch diese Bewegungen werden nämlich 
in der Kapsel und in dem neugebildeten Gallus kleine Läsionen hervorgerufen; manch¬ 
mal sieht man sogar stärkere Geschwülste, welche auf Blutexti-avasate zurück¬ 
geführt werden müssen. Infolgedessen erhält man eine Calliishyperplasie, welche 
der späteren Funktion schädlich ist. Außerdem sind diese Bewegungen in hohem 
Grade schmerzhaft. Bülow-Hansen benutzt Massage und aktive Bewegungen 
mit und ohne Apparat. Nyrop-Kopenhagen. 

Vignard et Grüber, Du plombage des os par le procede deMosetig. Joum 
med. fran 9 ais 1908, Nr. 643. 

Seit einem Jahre haben die Verfasser in mehreren Fällen von Knock-^c- 
höhlen die Mosetigsche Jodoformplombierung in ihrer ursprünglichen Zq- 
sammensetzung angewendet und berichten nun über ihre Resultate, die äutWr^ 
günstig sind und daher verdienten, auch in Frankreich mehr geübt za werden. 
Wenn die Methode noch keine weitere Verbreitung gefunden hat, so liegt da« 
an der, übrigens unberechtigten Furcht vor der Jodoformintoxikation resp. an 
den auf fehlerhafter Technik beruhenden Mißerfolgen. Die Verfasser unterscheh 
den zwei Anwendungsarten des Mosetigschen Gemisches, je nachdem es sich 
um reine Knochenhöhlen oder um Knochenhöhlen mit Eiterung der Weichteiie 
handelt. 

Im ersteren Falle, d. h. bei wenig infizierten, wenig eiternden Höhlen 
mit intakten Weichteilbedeckungen, kann man die Füllung der Höhlen und den 
Schluß der Wunde durch die Naht sofort vornehmen. Unter diesen, allerdings 
ziemlich seltenen Voraussetzungen kann man auf Heilung per primam inten- 
tionem rechnen. Bildet sich aber immerhin eine kleine Fistel, so wird doch 
der Zweck, bestehend in schmerzloser Vernarbung mit seltenem Verbandwechsel 
erreicht, wenn der größte Teil der Plombe an Ort und Stelle bleibt.. Diese 
Heilung per primam oder mit kleiner Fistel kann aber auch bei Fällen nut 
stärker sezernierenden Knochenhöhlen und gleichzeitig geringeren Weichteil¬ 
läsionen erzielt werden, wenn die Plombierung zweizeitig vorgenommen wird. 
Man muß dann in der ersten Sitzung die Höhle durch sorgfältigen Verband 


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Referate. 


G43 


aseptisch machen und sie so erhalten, um die Füllung und Naht nach einiger 
Zeit auszuführen. Diese eigentliche Plombierung tritt in ihre Rechte bei tuber¬ 
kulösen Ostitiden und chronischen fistulösen Osteomyelitiden. 

Bei der Behandlung alter Knochenprozesse mit Zerstörung und Unter¬ 
minierung der Weich teile kann von der oben besprochenen eigentlichen Plom¬ 
bierung nicht die Rede sein. Immerhin bietet auch hier die Mosetigsche Masse 
als lokales Mittel große Vorteile, indem die Wundhöhle verkleinert, die Eite¬ 
rung wesentlich vermindert, namentlich aber das jedesmalige Wechseln der 
Tampons überflüssig wird. Aus diesem Grunde bietet sie auch für den Kranken 
eine große Erleichterung. 

Was die Technik anbetrifft, so muß die Höhle völlig rein sein, d. h. neue 
Wandungen erhalten und größter Wert auf minutiöse, namentlich auch 
nach Lösung der Konstriktionsbinde andauernde Blutstillung gelegt werden. 
Hierzu bedienen sich die Verfasser einer Saugvorrichtung zur Aspiration des 
Blutes und gleichzeitig eines heiße Luft ausströmenden Thermokauters. Ferner 
muß die Plombenmasse fest in die Höhle und ihre Rezessus mit Gazestückchen 
hineingedrückt werden. Ist Drainage nötig, so soll sie jedenfalls nicht durch 
die Nahtlinie geführt werden. 

Daß trotz der großen Menge des eingeführten Jodoforms keine Intoxi¬ 
kation auftritt, führen Verfasser auf die außerordentlich langsame Resorption 
des mit dem Walrat und Sesamöl fest verbundenen Jodoforms zurück. Im 
Gegenteil befanden sich die Kranken in einem äußerst günstigen Allgemein¬ 
zustand bei gutem Appetit. 

Peltesohn-Berlin. 

Vignar d, Sur le plombage de TarticulationTibio-tarsienne apres astragalektomie. 

Soc. de chir. de Lyon, Mai 1908. Arch. gen. de chir. 1908, 11, p. 176. 

Vignard teilt seine Erfahrungen über die Plombierung von Höhlen nach 
Gelenkresektionen mit und führt den Fall eines Knaben an, der seit 15 Monaten 
an Tuberkulose des Fußgelenks litt. Der Talus wurde exstirpiert, die ganze 
Gegend gründlichst gesäubert, dann die Höhle mit Plombenmasse gefüllt und 
zugenäht. Nach 2 Monaten fast völlige Heilung. Auf dem Röntgenbilde 
sieht man noch einen nußgroßen Schatten der Plombe. In Fällen von ge¬ 
schlossener Tuberkulose kann diese Methode ohne Risiko versucht werden. 

Pe 1 tesohn-Berlin. 


Nove-Joss erand, Plombage des os. Soc. de chir. de Lyon, März 1908. Arch. 
gen^r. de chir. 1908, II, p. 50. 

Die Plombierung war bei einem Kinde ausgeführt worden, bei dem wegen 
Spina ventosa eine Auskratzung des ersten Metetarsalknochens vorgenommen 
worden war. Da die Vernarbung nicht von statten ging, wurde der Knochen voll¬ 
ständig ausgeräumt, und dann nach Plombierung die Haut darüber vernäht. 
Ha die Wunde nicht vollkommen geschlossen wurde, trat hhterung und Aus¬ 
stoßung eine« Teils der Plombenmasse ein. Trotzdem wurde in kurzer Zeit Ver¬ 
narbung erzielt, so daß sich Verfasser als ausgesprochener Anhänger dieses Ver¬ 
fahrens erklärt. Peltesohn-Berlin. 


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644 


Referate. 


John Ridlow und Wallace Blanchard-Chicago, A new treatment for ck 
tubercular sinuses. Amerie. joum. of orthoped. surg. August 1908, S. 13. 

Emil Beck machte vor kurzem, als er zum Zweck einer röntgeii> 
graphischen Untersuchung eines tuberkulösen Hüftgelenkes einen alten Fist-- 
gang mit einer Wismutpaste injizierte, die Beobachtung, daß die letztere ?ik 
für die Fistel als ein entschiedener Heilfaktor erwies. Ridlow und Wallace 
haben nun den Vorgang Becks an 26 Fällen von alten tuberkulösen Fisteln kl 
K rüppelheim in Chicago nachgeprüft und in einem auffallend großen Prozentfüti 
ein vollkommen befriedigendes Resultat erzielt. Für diagnostische Zwecke wurdr 
eine Mischung von einem Teil Bismutum subnitr. und zwei Teilen Vaselin ^ 
gewandt. Diese, auf etwas über Körpertemperatur erwäi*mt und mit sanfte- 
Druck in die Fistel injiziert, ermöglichte im Röntgenbilde eine sehr g^ute Ceber- 
sicht über die sämtlichen Verzweigungen und Ausbuchtungen der Fistelgänge 
und wurde in der Regel nach 24 Stunden von den Fisteln wieder ausgeschieden. 
Zu therapeutischen Zwecken wurde eine zweite Mischung benutzt, welche in 
folgender Weise durch Kochen hergestellt wurde: 

Bismutum subnitr. . . 6 Teile 

Weißes Wachs ... 1 Teil 

Weichparaffin . . . . 1 Teil 

Vaselin.12 Teile. 

Die Paste, in die Fisteln injiziert, erhärtete daselbst innerhalb von 3 Minnteo. 
wurde jedoch in den meisten Fällen nach 1 oder 2 Tagen teilweise wieder ao?- 
gestoßen, worauf die ausgestoßene Masse durch erneute Injektionen ersetit 
wurde. In günstigen Fällen, unter den 26 Fällen in 9, war am zweiten U? 
dritten Tage das vorher eitrige Sekret serös geworden und verschwand nad 
und nach, so daß die Heilung der Fisteln in einem Zeitraum von 7—30 Tages 
erfolgte. In 7 weiteren Fällen ließ sich eine entschiedene Besserung feststelien. 
indem das Sekret serös geworden war, die Fisteln sich aber noch nicht 
schlossen hatten, in 5 Fällen konnte man von einem bestimmten Resultate noei 
nicht sprechen, und nur I Fall mit großem Sequester blieb unverändert, Is 
4 Fällen von Senkungsabszessen wurde der Abszess mit einem kleinen Inzision?- 
schnitt eröflnet, der Eiter abgelassen und in die kleine Wunde die Injektion 
mit der Wismutpaste vorgenommen mit dem Erfolg, daß in sämtlichen Fällen 
in einem Zeitraum von 18—28 Tagen eine vollständige Heilung der Abszesse 
eintrat. Im Gegensätze zu Beck, der geneigt ist, dem Wismut eine direkte 
Heilkraft zuzuschreiben, suchen Ridlow und Wallace eine Erklärung für 
diese auffallend guten Heilungsvorgänge auf mechanischem Wege zu geber, 
indem sie annehmen, daß durch die harte Wismatwachsplombe der Eiter herein- 
gedrückt, der Eintritt von Infektionsträgern aus der Luft durch die kompakte 
Füllung der I^istelgäiige verhindert wird, die ungesunden Granulationen zer¬ 
drückt werden, so daß neue gesunde an deren Stelle treten können. 

Bö sch-Berlin. 

Eggenberger, Wismutvergiftung durch Injektionsbehandlung nach Beck. 
Centralbl. f. Chirurgie 1908, 44. 

Eggenberger behandelte verschiedene Fisteln nach der Beckschen 
Methode mit gutem Erfolg, sah aber in einem Falle von spondylitischem Abszeß 


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L 



Referate. 


G45 


im Abdomen bei einem 7jährigen Knaben eine Wismutvergiftung, die zum Tode 
führte. Bei der Autopsie fanden sich ausgeprägte anatomische Veränderungen 
im Verdauungstraktus. Eggenberger ist deshalb der Ansicht, daß man sich 
bei der Wismuttherapie nach Beck stets bewußt sein muß, daß man es mit 
einer unter Umständen sehr giftigen Substanz zu tun hat. 

B1 e n c k e ^ Magdeburg. 

Becker, Fälle von Ersatz defekter Knochen. Aerztl. Verein Rostock. 12. Sept. 

1908. Münch, raed. Wochenschr. 1908, 45. 

Becker ersetzte eine wegen Spina ventosa resezierte Diaphyse durch 
freie Transplantation einer dem distalen Ulnaende desselben Armes entnommene 
Periostknochenspange und wandte das gleiche Verfahren in einem anderen 
Falle von Myxochondrom der Grundphalanx des Mittelfingers an. In einem 
dritten Fall ersetzte er einen wegen Diaphysentuberkulose operativ geschaffenen 
4 cm langen Defekt der Tibia durch freie Ueberpflanzung einer Periostknochen¬ 
schlinge aus der Tibia des anderen Beines. B1 e n c k e - Magdeburg. 

Seedorf, Ueber Knochenplastik nach Exstirpation eines Knochensarkoms. 

Diss. Kiel 1908. 

Bei einem 42jährigen Mann hatte sich im Anschluß an eine Verletzung 
an der Innenseite des rechten Fußes eine allmählich zunehmende Geschwulst 
entwickelt, die, wie die Röntgenaufnahme zeigte, sich auf das Os metatars. I und 
das Os cuneiforme I beschränkte und bei der nach der Operation vorgenom¬ 
menen mikroskopischen Untersuchung als Osteochondrosarkom erkannt wurde. 
Bei der Operation wurde mit dem Tumor das Os metatars. I und Os cunei¬ 
forme I entfeiTit. Der dadurch entstandene Defekt wurde gedeckt, indem das 
Os cuneiforme II und Os metatars. II gespalten und die abgespaltenen Teile 
in die Lücke verpfianzt wurden. Die verpflanzten Knochen heilten ein. 

Blencke - Magdeburg. 

A. Barth, Ueber Osteoplastik. Arch. f. klin. Chir. Bd. 86, Heft 4, S. 859. 

Barth hält die Auto- und Homoplastik mit periostgedeckten Knochen¬ 
stücken für den Ersatz von Kontinuitätsdefekten der Röhrenknochen für die 
souveräne und allein sicher zum Ziele führende Methode, während die Fremd¬ 
körpertherapie im Sinne Glucks durch die Erfolge der osteoplastischen Chi¬ 
rurgie mehr denn je zurückgedrängt wird. Ganz anders liegen die Verhältnisse 
bei wandständigen höhlenförmigen Defekten der Röhrenknochen und bei Schädel¬ 
defekten. Hier verlangt der ossifikationsfähige Boden den knöchernen Ersatz 
auch bei Implantation sterilen toten Materials, wovon sich Barth namentlich 
bei komplizierten Schulterbrüchen des öfteren überzeugen konnte. Er pflegt 
hier die beschmutzten Fragmente durch Auskochen zu sterilisieren und zu 
replantieren. Bei aseptischem Verlauf hat er noch stets binnen weniger Wochen 
knöchernen Verschluß des Schädels erzielt. In einem Falle erreichte er das¬ 
selbe Resultat durch sekundäre Einheilung ausgeglühter Knochenstücke in die 
granulierende Schädelwunde, der knöcherne Verschluß des Schädeldefektes er¬ 
folgte hier allerdings langsamer, im Verlauf einiger Monate. In solchen Fällen 
erscheint die Autoplastik überflüssig. Einen schönen Erfolg mit der Implan- 


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646 


Referate. 


tation von toten Knochen erzielte Barth bei einem 17jährigen Mädchen, i ' 
im 5. Lebensjahre eine ganz abenteuerliche Verkrümmung der Gliedmaßen. • 
scheinlich infolge von juveniler Osteomalacie erworben hatte und sieh ::, 
kriechend und rutschend auf der Erde fortbewegen konnte. Verschiedene Ve | 
suche, das Mädchen durch Osteotomien wieder auf die Beine zu bringen, we?- j 
fehlgeschlagen, weil jedesmal Pseudarthrosen zurückblieben, die allen Behä; [ 
lungsversuchen durch Jahre getrotzt hatten. Ein Versuch durch Einlegen m 
K nochenkohle in die Markhöhle eine bessere Callusbildung herbeizufuhren, b- ! 
vollen Erfolg. Binnen 10 Wochen war die Konsolidierung eingetreten. Barth b; * 
dann nacheinander sechs Osteotomien (Keilezzisionen) an Femur und Tibiä te 
der Beine ausgeführt und jedesmal Knochenkohle in die Markhöhle implanr^ 
stets mit demselben günstigen Erfolg. Es gelang auf diese Weise eine £. 
rektur der verkrümmten Beine herbeizuführen, die dem Mädchen das selbri: 
dige Gehen (unter Sicherung der atrophischen Knochen durch Scliienenafp 
rate) ermöglichte. Joachimsthil 

M. Hofmann, Weitere Untersuchungen und Erfahrungen über Perio^ttriE' 
plantationen bei Behandlung knöcherner Gelenkankylose. Beitr. z. klin. Ca 
Bd. 59, Heft 3, S. 717. 

Hof mann hat eine Reihe von Tierversuchen unternommen, um 
zustellen, ob das Periost seine spezifischen Fähigkeiten der Knochenapposr.a 
und Resorption auch nach der Transplantation auf wunde Knochenflächeu W: 
behält, also als Periost weiterfunktioniert oder nicht Von allen Gelenken 
Hundes eignet sich das obere Sprunggelenk am besten zu diesen VeRUcheDu:. 
wurde deshalb ausschließlich verwendet. Es zeigt nach Abtragung der beleb 
knorpel zur Transplantation gutgeeignete, d. h. genügend große, relativ eintV- 
gestaltete Resektionsfliichen. Hofmanns Versuche zeigen, daß bei Huntic^ 
frei auf wunde Knochenflächen transplantiertes Periost dort nicht nur anheb 
sondern auch als Periost am neuen Orte weiterfunktioniert. Es muß nor dt 
Periost zur Transplantation den Knochen so entnommen werden, daß seiir 
Osteoplastenschicht möglichst erhalten bleibt, was am besten imter nur geringeir 
Zug bei der Ablösung mittels Raspatorium unter Druck desselben gegen 
Knochenoberfläche geschieht. Die Frage, ob der Knochen etwa durch 
entnähme in größerer Ausdehnung geschädigt wird und ob sich an den 
Periost entblößten Stellen neues Periost bildet, sei es nur durch Hinüberwucbr 
des Periosts der Nachbarschaft über den Defekt oder durch Regeneration 
bei der Entnahme zurückgebliebenen Osteoblasten her, hatte Hof mann Gelegec 
heit, auch in einem Falle beim Menschen zu erörtern, indem er, nachdem SMocst^ 
zuvor die vordere Tibiafläche in ganzer Breite und großer LängenausdehnuEJ 
ihres Periosts beraubt worden war, ein Stück Corticalis samt dem deckendem 
festhaftenden Bindegewebsüberzug, über dem die Haut vollständig verschieblib 
geblieben war, mikroskopisch zu untersuchen Gelegenheit hatte. Die deck^®'^ 
Bindegewebshülle des Knochens hatte mikroskopisch rein bindegewebigen Chi 
rakter ohne Osteoblastenschicht; nur an einer Stelle unter vielen Präparat® 
schien eine kleine Insel von Osteoblasten vorhanden zu sein, die offenbar lu® 
bei Ablösung des Periosts zurückgeblieben waren. Es dürfte also wohl 
nehmen sein, daß ein weitgehender Ersatz großer Periostdefekte durch neo^ 


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Referate. 


647 


Periost nur dann stattfinden kann, wenn die Periostentnahme in der Weise ge¬ 
schieht, daß Osteoblasten vielfach am Knochen haften bleiben, daß dagegen, 
wenn das Periost vollständig mittels Raspatoriums entfernt wird, der Defekt 
rein bindegewebig zur Deckung kommt. Daß der auf letztere Weise seines 
Periosts beraubte Knochen keinen späteren Schaden nimmt, zeigten Hofmanns 
2 Fälle, in welchen er 8 Monate und 3 Jahre nach der Periostentnahme Kranke 
wieder zu sehen Gelegenheit hatte. Die Haut über der periostentblößten vorderen 
Tibiafläche war vollständig verschieblich geblieben, die Knochenoberfläche fühlte 
sich glatt an, dagegen konnte man im Bereich der Periostentnahme eine Ge> 
staltsumänderung der sonst planen Tibiafläche in der Weise konstatieren, daß 
dieselbe nun konvex gestaltet war, offenbar durch Wegfall der sonst vom Periost 
ausgehenden, die Gestaltung der Knochenflächen regulierenden Resorptions¬ 
vorgänge der Knochensubstanz. Hof mann hatte weiterhin außer in einem 
bereits früher publizierten Falle von Ellbogengelenksankylose noch Gelegenheit, 
in 4 weiteren Fällen das Verfahren der Periosttransplantation^ auf seine Brauch¬ 
barkeit zu prüfen. Es wurden ein knöchern-ankylotisches Knie-, Schulter- und 
Interphalangealgelenk operiert und in einem schon einmal operierten, aber 
rezidivierten Falle von Brückencallus zwischen Radius und Ulna neuerlich 
knöcherne Vereinigung durch Periostüberkleidung der wunden Knochenflächen 
zu hindern gesucht. In allen Fällen hatte die Periosttransplantation auf die 
wunden Resektionsflächen der Gelenkenden genügt, um neuerlich Ankylosierung 
zu hindern, und in der Folge trat mit zunehmendem Gebrauch sich steigernde 
aktive Bewegungsmöglichkeit der mobilisierten Gelenke ein. In keinem Falle 
kam es zu einem Schlottergelenk. Das die Knochenenden überkleidende Periost 
bildet einen natürlichen Abschluß der Knochen gegen ihre Umgebung und 
hindert dadurch Ausbildung von Callusmassen zur Vereinigung mit dem gegen¬ 
überliegenden Knochen, sowie Osteophyten. Man muß ferner annehmen, daß das 
Periost, das als solches weiterfunktioniert, durch Resorptioiis- und Appositions¬ 
vorgänge an der Knochenoberfläche, wie Röntgenbilder zeigen, eine besonders 
rasche Anpassung der neuen Gelenkkörper an ihre Funktion in hohem Grade 
begünstigt. Joachimsthal. 

Hentschel, Ueber Wachstumsstörungen am Unterschenkel nach akuter Osteo¬ 
myelitis. Diss. Jena, 1908. 

Im Anschluß an einen Fall aus der chirurgischen Poliklinik zu Jena, 
bei dem es nach einer akuten Osteomyelitis der Tibia bei einem 3 Jahre alten 
Kinde zu einer starken seitlichen Verbiegung von Tibia und Fibula gekommen 
war, bespricht Hentschel die nach akuter Osteomyelitis vorkommenden 
Wachstumsstörungen am Unterschenkel. Er stellt alle darüber bisher veröffent¬ 
lichten Fälle zusammen und hat dabei folgende Veränderungen gefunden: 1. Ver¬ 
kürzungen der erkrankten Knochen, 2. Verlängerungen, 3. Defekte, 4. Pseud- 
arthrosen und 5. Verbiegungen und Deformitäten. Blencke-Magdeburg. 

Putzu, Contributo allo studio dell’ eziologia, patogenesi e cura dell’ osteo- 
mielite. La clinica chirurgica 1908, Nr. .5. 

Die Osteomyelitis der Erwachsenen ist nichts weiter als das Wieder¬ 
aufflackern eines schon im Wachstumsalter aufgetretenen Prozesses und könnte 
daher als rezidivierende Osteomyelitis bezeichnet werden. 


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648 


Referate. 


Bei der akuten Osteomyelitis wird man die Markhöhle öffnen, wenn 
wisse Anzeichen für zentrale Läsionen des Knochens vorhanden sind, in anderr- 
Fällen dagegen wird man sich auf die einfache Inzision des Perioets te 
schränken. 

Bei den ausgedehnten Knochenresektionen soll man die Reprodokt;:: 
des Knochens abwarten. Wenn dies nicht möglich ist, verdient vor 
anderen Knochenplastikmethoden das Hahn sehe Verfahren den Vorzug. 

Ros. Bucche r i-Palerma. 

Edwin und Kyerson, Blastomycosis. Report of two cases resemblini: U-- 
tuberculosis. Americ. journ. of orthoped. surg. August 1908, S.79. 

Es handelte sich um 2 Fälle von destruktiven Knochenerkrankungen, b 
ersten Falle am linken Knie- und Knöchelgelenke, im zweiten Falle an der Hjb 
Wirbelsäule. Beide Erkrankungen traten unter dem Bilde der Knochen!ub^ei 
kulose auf, bis die mikroskopische Untersuchung im Spätstadium der letal t-: 
laufenden Erkrankungen ergab, daß es sich um seltene Formen von Blastomvi j^- 
handelte. Bösch- Berlin. 

Anschütz, Knochencyste des Humerus (Ostitis fibrosa). Med. Gesellschaft n 
Kiel. 19. Juni 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 32. 

Ein 13jähriger Junge erlitt innerhalb von 5 Jahren 3mal eine Fraktur d* 
Oberarmes an derselben Stelle, Das Röntgenbild zeigte das typische Bild einrr 
Knochencyste im oberen Drittel des linken Humerus, sonst waren am Skelen 
keine Veränderungen nachzuweisen. Der Krankheitsprozeß ist nach der vir 
genommenen Untersuchung als eine Ostitis deformans fibrosa localisata aufn 
fassen, als ein Krankheitsbild, welches mit der v. Recklinghausen be 
schriebenen Ostitis deformans fibrosa generalisata und wohl auch mit 
Pag et sehen Krankheit und den Fällen von multiplen Riesenzellensarkon- 
bildungen in den Knochen in engsten Beziehungen steht oder sogar nahen 
identisch ist. Anschütz hat vier ausgesprochene Fälle dieser seltenen Krank¬ 
heit gesehen; bei einem Falle, bei dem man zuerst auch glaubte, eine lokali¬ 
sierte Erkrankung vor sich zu haben, zeigten sich im Laufe der Jahre an 
anderen Stellen noch weitere Krankheitsherde. Blencke-Magdeburg. 

Anschütz, Multiple Enchondrome im Femur und Tibia bei einem gesunden 
9jährigen Mädchen. Med. Gesellschaft in Kiel. 19. Juni 1908. Münd. 
med. Wochenschr. 1908, 32. 

Bei einem 9jährigen Mädchen, das 3 Jahre vorher nach einem Stoß ein- 
Schwellung am rechten Schienbein und 2 Jahre vorher eine Fraktur des rechten 
Femur im unteren Drittel erlitten hatte, zeigte das Röntgenbild zwei Enchon- 
drome im rechten Femur und zwei an der rechten Tibia. Das sonstige Skelet! 
war frei. Diese Herde wurden in mehreren Sitzungen durch Auskratzung udJ 
Aufmeißelung entfernt, die mikroskopische Untersuchung zeigte Konglomerate 
regelmäßig gebauter, typischer, hyaliner Knorpelzellen, aber nur wenig Rare 
fizierung der Knochensubstanz in der Umgebung, nirgends Bindegewebszüge. 
also ein von der Ostitis fibrosa ganz abweichendes Bild, 

Blencke- Magdeburg. 


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Referate. 


649 


Anschütz, Sarkom der Fibula nach Fractura malleoli. Med. Gesellschaft 
in Kiel. 19. Juni 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 32. 

In dem vorliegenden Falle handelte es sich um ein Sarkom der Fibula 
nach einer Malleolarfraktur, bei dem zwischen der Konstatierung und dem Unfall 
nur 3 Wochen lagen, eine für die traumatische Entstehung des Tumors recht kurze 
Frist. Wenn auch das Gewebe ringsum erweicht war, so liegt nach des Vor¬ 
tragenden Ansicht doch die Möglichkeit vor, daß die Fraktur bereits eine 
spontane war, was in einem anderen Falle, den Anschütz beobachten konnte, 
^anz sicher aus der Eburnisierung des das Sarkom umgebenden Knochens 
geschlossen werden konnte. B1 e n c k e - Magdeburg. 

Pauchet, Sarcome de l’omoplate. Soc. de chir. de Paris. Mai 1908. Arch. 
gen. de chir. 1908, II, p. 174. 

Vorstellung eines an Sarkom des Schulterblatts erkrankt gewesenen 
Patienten, bei dem die Scapula in toto exstirpiert und ein bisher 4jähriges 
Dauerresultat erzielt worden war. Reseziert war das äußere Viertel der Clavi- 
cula, der Humeruskopf, das ganze Schulterblatt und die Muskulatur worden. 
Der Patient kann den Oberarm nicht abduzieren; aber er kann sich anziehen 
und seiner Beschäftigung, dank der Gebrauchsfähigkeit des Unterarms und der 
Hand, nachgehen, so daß er also wesentlich besser daran ist, als ein Ex¬ 
artikulierter. — In der Diskussion betont Qudnu die Wichtigkeit der Fort- 
nahme der angrenzenden Muskulatur, da das Rezidiv erfahrungsgemäß von dieser 
ausgeht. Peltesohn - Berlin. 

Carl Goebel, Ueber kongenitales Feraursarkom, geheilt durch operative und 
Röntgenbehandlung, nebst Bemerkungen über kongenitale maligne Tumoren. 
Arch. f. klin. Chir. Bd. 87, Heft 1, S. 191. 

Es handelt sich um ein Swöchiges Kind mit einem kongenitalen, d. b. 
bei der Geburt sofort bemerkten und dann rasch gewachsenen periostalen Spindel¬ 
zellensarkom der rechten unteren Femurepiphyse (vor allem der Innenseite), das 
durch kombinierte operative und Röntgenbehandlung (56 Minuten) bis zur 
Zeit der Publikation (14 Monate lang) vollkommen geheilt wurde. Mikroskopisch 
fanden sich in dem Tumor zunächst deutliche Zeichen schrankenlosen Wachs¬ 
tums, als Eigentümlichkeit das Vorkommen eines mit Rundzellen erfüllten 
Kanalsysteras, als Zeichen der Röntgenstrahlenwirkung beginnende und ausge¬ 
sprochene nekrobiotische Vorgänge mit mehr oder weniger intensiven entzünd¬ 
lichen Erscheinungen. Joachimsthal. 

Rovsing, Ueber die Sicherheit der histologischen Geschwulstdiagnose als Basis 
radikaler chirurgischer Eingriffe. Münch, med. Wochenschr. 1908, 38. 

Rovsing warnt davor, sich hei der Diagnose von Geschwülsten allein 
auf das mikroskopische Bild zu verlassen. Er führt einige Fälle an, in denen 
die histologische Untersuchung Geschwülste als gutartige kennzeichnete, die sich 
bei der Operation als bösartige erwiesen, während umgekehrt in einigen Fällen 
die Untersuchung von zur Probe aus dem Uterus ausgeschabten Gewebe Karzi¬ 
nom ergeben hatte, bei denen sich aber nach der Totalexstirpation keine Spur von 
maligner Neubildung fand. Besonders interessant sind einige Fälle, in denen auf 
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 42 


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650 


Referate. 


Grund der histologischen Diagnose „Osteosarcoina femoris“ OberscbenkelaDp. 
tationen gemacht werden sollten, und bei denen es sich, da die betreffcsk: 
Patienten die Operation verweigerten, später herausstellte, daß es sich um 0>ir 
myelitis handelte. Rovsing empfiehlt zur Sicherung der Diagnose st^tsR': 
genaufnahmen zu machen, die die Probeinzisionen überflüssig machen, und 
dann zu letzteren zu greifen, wenn die Röntgenuntersuchung sich außer Sti:: 
gezeigt hat, klaren Bescheid zu geben. B1 e n c k e - Madgebor^ 

Matsunami, Zwei Fälle von primärem Muskelangiom. Diss. Greifm- 
1908. 

Im ersten Fall handelte es sich um ein zum Teil sarkomatös enturt^w 
Angioma cavernosum im Muscul. temporal, sin. einer 37 Jahre alten Frau, ei 
sich im Laufe eines Jahres bis zur Größe einer Männerfaust entwickelt bu:. 
Der zweite Fall betraf einen 21 Jahre alten Bauersmann, bei dem sich im 
vastus int. ein kavernöses Angiom in der Zeit von 7 Jahren bis zu Mänufr 
faustgröße ausgebildet hatte. Beide Kranke wurden vom Verfasser in seit-: 
Klinik in Japan durch Operation (Exstirpation) glatt geheilt. Matsunasi 
gibt dann noch eine Zusammenstellung aller bisher beschriebenen Falle n: 
primärem Muskelangiom mit besonderer Berücksichtigung des raikroskopi^s?? 
Befundes. Bl enck e - Magdeburg. 

Meriel, Gros sarcome du triceps brachial ä evolution cutanee. Consideratifisf 
cliniques et therapeutiques. Arch. provinc. de chir. 1908, p. 407. 

Die Beobachtung betrifft einen zur Zeit der Operation 32jährigen Mari, 
dem 2 Jahre früher unter der Diagnose eines Lipoms ein Tumor am linkrt 
Arm exstirpiert worden war. Der Tumor war rezidiviert und hatte die Grüte 
eines Kindkopfes; er war stark ulzeriert. Es handelte sich um ein primäre 
Sarkom des M. triceps brachii ohne Beteiligung der Knochen. Der Tumo: 
wurde im Gesunden exstirpiert und ergab noch nach 8 Jahren eine Dauer¬ 
heilung. Derartige Resultate gehören zu den Seltenheiten, ln therapeutkbrr 
Hinsicht genügt die Enukleation der Weichteilsarkome durchaus nicht; dagegen 
kommt man mit der weitgehenden Exstirpation aus, wenn der Tumor ns 
schrieben ist, mag er auch ulzeriert sein. Endlich bedürfen die schlecht 
grenzten, am Knochen anhaftenden Weichteilsarkome der Amputation. 

Peltesohn* Berlin. 

Sencert, Un cas de myosteome traumatique. Archives generales de mbe 
eine 1908, Nr. 6. 

Bei einem 34jährigen Manne bildete sich bereits 1 Woche nach einer 
Luxatio cubiti posterior ein Flexionshindernis aus; der Grund wurde is 
einem von dem Processus coronoideus ausgehenden, 8 cm nach oben wach>«* 
den Myosteom gefunden. 3 Monate später wird der Tumor operativ entfernt; 
trotzdem bestand bei Beendigung der Operation noch keine gute Beweglichkeit 
was auf einer das ganze Gelenk umgebenden Stalaktitenbildung von Kno<hec- 
Bubstanz beruhte. Obgleich kein lokales Rezidiv eintrat, blieb das funktior-ik 
Resultat minderwertig. Verfasser neigt der Ansicht zu, daß die traumatisches 
Myosteome Folgezustände von Myositis ossificans sind. Unter dem Reiz de? 


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Referate. 


651 


Traumas erlangen offenbar die bereits in Muskel-, Bindegewebs- oder Knorpel¬ 
zellen differenzierten Mesenchymzellen ihren indifferenten Typus wieder und 
können nun knöchernen Typus erlangen. Peltesohn-Berlin. 

H ausen. Beitrag zur Kasuistik der Myositis ossificans traumatica des Musculus 
brachialis internus. Dissert. Greifswald 1908. 

In 2 Fällen hatte sich im Anschluß an eine nicht allzuschwere Verletzung 
(Schlag bezw. Fall auf den Arm, keine Fraktur oder Luxation) eine Myositis 
ossificans im Muscul. brachial, intern, entwickelt. Die Bewegungsstörungen und 
Schmerzen machten beide Male die Operation nötig, zu der man sich umso eher 
entschließen konnte, als nach dem Röntgenbild der Prozeß zum Stillstand ge¬ 
kommen war. Es wurde der ganze Muscul. brach, int. entfernt. Dabei zeigte 
sich, daß die Verknöcherung beide Male vom Periost, im 2. Fall außerdem noch 
vom Muskel ausgegangen war. Als Ursache für das Eintreten der Myositis ossi¬ 
ficans sieht Hausen die frühzeitige Massage und Bewegungsübungen an, die 
gerade den Mu.scul. brach, int. immer von neuem schädigten und reizten. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Würth V. Würthenau, Beitrag zur Trommlerlähmung und deren Behandlung. 
Militärärztl. Zeitschr. Heft 10, S. 073 

In dem von Würth v. Würthenau mitgeteilten Falle von ,Trommler¬ 
lähmung“ wurde die gestellte Diagnose einer Zerreißung der Sehne des linken 
langen Dauraenbeugmuskels bei der vorgenommenen Operation bestätigt. Das 
etwa 6 cm oberhalb des Handgelenks zurückgezogene obere Sehnenende ließ sich 
leicht hervorziehen, das untere Sehnenende lag ungefähr in der Mitte des Mittel¬ 
handknochens. Die beiden kolbig verdickten, ebenso wie die Sehnenscheide mit 
rötlichen Auflagerungen bedeckten Sehnenstümpfe wurden angefrischt und durch 
Katgutnaht miteinander vereinigt. Bei der mikroskopischen Untersuchung der 
Sehnenstümpfe fanden sich Auffaserungen der Sehnenbündel, quere Zerreißungen 
der Sehnenfasern, Degenerationserscheinungen und Nekrose; die VVundheilung 
erfolgte in normaler Weise. Die Beweglichkeit des Daumens blieb indessen 
erheblich beschränkt, indem die Abspreizung des Daumens nur in geringem 
Grade, Beugung und Streckung des Nagelgliedes nur in unvollkommener Weise 
möglich wurden. Patient wurde dauernd Halbinvalide mit 20 prozentiger Erwerbs¬ 
beschränkung. Joachimsthal. 

Bardenheuer, Behandlung der Nerven bei Amputationen zur Verhütung der 
Entstehung von Anii)utationsneuronien und zur Heilung der bestehenden 
Neurome durch die sogen. Neurinkampsis. Zeitschr. f. ärztliche Fortbil¬ 
dung 1908, 19. 

Ausgehend von dem Gedanken, daß die von Witzei zur Verhütung von 
Neuromen an Amputationsstümpfen angegebene Methode, den Nerven zentral- 
wärts in weiter I^ntfernung von der Wundfläche des Amputationsstumpfes zu 
durchtrennen, nicht in allen Fällen genügte, schlägt Bardenheuer die Um- 
schlagung des eventuell gleichzeitig gekürzten Nerven vor und die Umlagerung 
des umgeklappten Nervenendes mit einem Muskellappen. Er gibt vier Me¬ 
thoden an. Die erste ist die einfache Umschlagung des Nervenendes, die zweite 


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652 


Referate. 


das Hindurchziehen des um geschlagenen Endes durch einen höher in 
Nerven angelegten Schlitz und die Vernähung und die dritte die Spaltung 
Nerven und das Umschlagen jeder Hälfte zur Schnittfläche hin. Ebenso 
man auch zwei benachbarte Nerven Umschlägen und miteinander vemiL-'i- 
Zur Naht nimmt er dünne Katgutnähte. In 10 Fällen von Amputationen, rei 
denen er so verfuhr, hat er keine Neuralgien mehr beobachtet^ und auch ie 
6 Fällen von vorhandenen Neuromen hat sich diese Methode sehr gut 
wobei aber alle Nervenäste aufs genaueste berücksichtigt werden 
Bardenheuer nennt sein Verfahren Neurinkampsis von xapsTs-.v irs- 
schlagen. Bl encke-Magdeburg 

Fr. Purpura, Processo di rigenerazione, ripristino funzionale e cura da 
nervi periferici. Gazzetta niedica italiana 1908, Nr. 7 u. 8. 

Die sorgfältigen Untersuchungen, über die wir bereits verfügen, gtlrs 
uns Gewißheit über das Funktionsvermögen der regenerierten Fasern; belrhres 
uns über die Wichtigkeit der Naht durchtrennter Nerven und zeigen uns 
Art und Weise, wie dieselbe auszuführen ist. 

Für die Maßnahmen, die vorzunehmen sind, wenn die beiden Stümcte 
eines durclitrennten Nerven nicht in Kontakt gebracht werden können, 
noch das klare Licht der mit den heutigen feinen Methoden geführten Uni^ 
suchungen. Dieselben werden feststellen, welches die Behandlungsweisen sisi 
die mit Grund den Vorzug verdienen. 

Für die Einpflanzung und Kreuzung der Nerven werden neue anatomisib^ 
Untersuchungen und neue Erfahrungen an Kranken eine Besserung in die 
Technik bringen und zu besseren Resultaten führen. Neue Gebiete 
indessen dem Studium erschlossen. Ros. Bucch eri- Palermo. 

Vulpius, Erfolge der orthopädisch-chirurgischen Behandlung schwerer Kinder¬ 
lähmungen. 2. Jahresversammlung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte. 
3. u. 4. Okt. 1908. Heidelberg. 

Vulpius berichtet über die bei schweren Kinderlähmungen in Betracht 
kommenden mechanischen und chirurgischen Behandlungsmethoden, über die 
Arthrodese, die Sehnenüberptianzungen, die Nervenplastik etc. und stellt eic- 
Reihe von Patienten vor, die mit gutem Erfolg nach diesen Methoden behandelt 
worden sind. Blencke-Magdeburg. 

W. R. Townsend, The necessity for early orthopedic treatment in poliom^eliti?- 
Americ. journ. of orfhoped surg. August 1908, S. 91. 

Townsend betont die Wichtigkeit einer sorgfältigen Ueberwachung der 
Fülgezustände einer frischen Kinderlähmung; er warnt davor, ein solches ge 
lähmtes Glied allzufrüh zu belasten oder mit Uebungen zu beanspruchen, di 
durch die dadurch erfolgende Kräftigung der gesund gebliebenen Muskeln der 
Kontrakturstellungen resp. der Deformierung der Gelenke Vorschub geleistet 
werde. Er empfiehlt möglichst lange Ruhigstellung und bei drohender Def'r- 
iiiität rechtzeitige Korrektur im Apparat und meint, daß auf diese Weise 
in der überwiegenden Anzahl der Fälle die Bildung der paralytischen Deformität 
verhindert werden könne. Bösch-Berlin. 


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Referate. 


653 


Arthur T. Legg, The cause of atrophj in joint disease. Americ. journ. of 
orthoped. surg. August 1908, S. 84. 

Legg hat an einer Reihe von Versuchstieren experimentelle Studien über 
"die Frage angestellt, ob die Muskelatrophie oberhalb eines erkrankten Ge¬ 
lenkes auf reflektorischer Basis beruhe oder als Inaktivitätsatrophie anzusehen 
sei. Er bildete drei Gruppen von Versuchstieren. Den ersten wurde ein Knie¬ 
gelenk infiziert und man ließ die Tiere umherlaufen; die Tiere der zweiten 
Gruppe wurden ebenfalls infiziert, das erkrankte Gelenk aber immobilisiert und 
man ließ die Tiere umherlaufen; den Tieren der dritten Gruppe wurde nur das 
Gelenk immobilisiei-t und die Tiere durften nicht umherlaufen. Als Ergebnis 
dieser Versuche zeigte sich, daß die Atrophie infolge funktioneller Ausschaltung 
eines Muskels sich in demselben Maße ausbildete wie dort, wo, wie in der 
zweiten Versuchsreihe, das Gelenk infiziert und immobilisiert war, während die 
Muskeln oberhalb des infizierten aber nicht immobilisierten Gelenkes einen ge¬ 
ringeren Grad von Atrophie aufwiesen (erste Versuchsreihe), so daß Legg an- 
tiehmen zu dürfen glaubt, daß bei der Muskelatrophie infolge einer Gelenk¬ 
erkrankung das Nervensystem nicht die bedeutungsvolle Rolle spiele, wie man 
früher annahm, sondern daß die Atrophie als eine Inaktivitätsfolge aufzufassen sei. 

Bösch-Berlin. 

Preiser, Ueber die praktische Bedeutung einer anatomischen und habituell¬ 
funktionellen Gelenkflächeninkongruenz. Fortschritte auf dem Gebiete der 
Röntgenstrahlen Bd. 12, H. 5. 

Preiser weist auf die Bedeutung einer Gelenkflächeninkongruenz hin, 
die zur ,idiopathischen“ monartikulären Arthritis defornians disponiert. Er 
bespricht das Vorkommen dieser Gelenkflächeninkongruenz an Hüfte, Knie, 
Schulter und Ellbogen. An der Hüfte kann die Inkongruenz auf traumatischer 
Basis beruhen (Coxa vara, Coxa valga träum.) oder die Folge von infektiösen 
Arthritiden (Tuberkulose, Gonorrhoe) sein, und zwar findet man dann eine 
anatomische Inkongruenz, während eine funktionell-habituelle Inkongruenz der 
Gelenkfläche durch eine Stellungsveränderung der Pfanne zur frontalen Lage 
(bei Rhachitis) oder lateraler Lage (bei Außenrotation des Femur) bedingt ist. 
Am Kniegelenk kommt die Inkongruenz der Gelenkflächen durch seitliche Hüft- 
pfannenstellung oder Plattfüße oder ein anderes valgierendes Moment, auch 
durch Außenrotation des Unterschenkels infolge traumatischen oder infektiösen 
Ergusses zu stände. Auch am Ellbogen findet sich eine anatomische Inkongruenz 
der Gelenkflächen, meist verbunden mit gesteigerter Valgität. Im Schulter- 
gelenk endlich besteht schon eine physiologische Inkongruenz. In allen Fällen 
von Inkongruenz kann schon allein dadurch, daß ein Teil der Gelenkfläche 
nicht zur Artikulation gebracht wird, Knorpelauffaserung hervorgerufen und 
damit Arthritis defornians eingeleitet werden. Von größter Bedeutung aber 
wird die Inkongruenz, wenn ein Trauma die infolge der Inkongruenz nicht 
geschützte Gelenkfläche trifft und Kapselquetschung, Bluterguß oder gar Knorpel¬ 
verletzung setzt; dann schließt sich meist die Arthritis deformans direkt an die 
Verletzung an. Dies wdrd besonders für Knie- und Schultergelenk wichtig sein. 
Die Arbeit wird durch Abbildung und Röntgenogramme erläutert. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 


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654 


Referate. 


P r e i 8 e r , lieber pathologische Gelenkflächeninkongruenz. Zentralblatt i 
Chirurgie 1908, 33. 

Preis er fand bei 28 Fällen von monartikulärer idiopathischer Arthnti* 
deforinans des Kniegelenks eine Gelenkflächeninkongruenz, die er als 
dieser Form der Arthritis deformans angesehen wissen möchte, die mit Kapsd- 
verdickungen, Knorpelauffaserungen, Krepitation und schließlich mit Zu:?p:t 22 ii^ 
der Gelenkkondylen im Röntgenbild einhergeht und die man bisher oft irnci= 
licherweise auf klimatische Einflüsse zurückzuführen geneigt war. Die Ii 
kongruenz macht sich auf der Platte dadurch bemerkbar, daß der laterak 
Tibiacondylusschatten seitlich unter dem des lateralen Femurcondylus frei fcer- 
vorragt bis 1V* und 2 cm. Bei der idiopathischen Arthritis deformaus culiti 
fand Preiser ein ganz analoges laterales Hervorragen der überknory^ekea 
Gelenkfläche des Radiusköpfchens. Blencke-Mag-debur^ 

Rodler, lieber einen eigenartigen Fall des sogen, chronischen im Kiudesalte: 
beginnenden Gelenkrheumatismus mit deformierender Arthritis. Fort^ckrinr 
auf dem Gebiete der Röntgenstnihlen 1908, XII, 6. 

Rodler beschreibt einen Fall von chronischer, ohne Schmerzen uri 
akute Entzündungserscheinungen einhergehenden Erkrankung, die sieh stresr 
auf Finger und Zehen beschränkt und anscheinend im 3. oder 4. Lebensjahre 
mit Wachstumshemmung der Fingerglieder beginnt. Dazu tritt später chroniMhe 
Entzündung und Wucherung in den Interphalangealgelenken, die dann zu mehr 
oder minder starken Deformitäten führt. Die Erkrankung trat in der Familk 
des Patienten in fünf Generationen vererbt auf. Betreffs der Aetiologie lie5e 
sich am ehesten an die Theorie des «trophoneurotischen Ursprungs rhecmati' 
scher Gelenkatfektionen“ denken. Auf den beigefügten Röntgen bildern sini 
die Veränderungen sehr deutlich zu sehen. Blencke-Magdeburg. 

Palagi. Ricerche del ricambio materiale in casi die osteo-artrite deformante 
giovanile delT anca. Societä Milanese di medicina e biologia. 2- März 19<}', 

Palagi hat Gelegenheit gehabt, 3 Fälle dieses Leidens zu beobachteB. 
und hat bei denselben Untersuchungen über den Stoffwechsel des Phosphors, 
des Kalks und der Magnesia angestellt In allen 3 Fällen konnte er als 
Haupterscheinung eine bedeutende Verminderung dieser Stoflfe im Organismoi 
konstatieren. 

Das Resultat ist von umso größerem Interesse, als eine ähnliche Reduk¬ 
tion von den Autoren nachgewiesen worden ist, welche dementsprechende Unter¬ 
suchungen bei typischer chronischer Arthritis deformans des Mannes- oder 
Greisenalters angestellt haben. Die Verwandtschaft, welche nach der klinischen 
und pathologisch-anatomischen Seite hin zwischen der jugendlichen und senika 
Form des fraglichen Leidens anerkannt werden zu müssen scheint, findet darja 
eine Stütze. Ros. B ucch er i-Palermo. 

K. Sohäffer, Om reoidiverende tuberkulös Polyarthritis, {üeber rezidi¬ 
vierende tuberkulöse Polyarthritis; tuberkulöser Gelenkrheumatismusl 
Hospitalstidende 190'^, 23. 24. 

S 0 h ä f f e r beleuchtet die tuberkulöse Polyarthritis unter Zuhilfenahme von 
13 Krankenberichten und schließt sich der Lehre über deren toxischen Ursprung an. 


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Referate. 


G55 


Die 6 ersten Fälle betreffen Patienten mit verschiedenen tuberkulösen 
Affektionen; sie bekommen wiederholt Gelenkleiden, welche in groben 
Zügen das Bild der Febris rheumatica wiedergeben, doch geringe Temperatur¬ 
erhöhung und indolente Ansammlungen. In einem der Fälle hatte eine 
Tuberkulininjektion besonders ausgeprägte Lokalreaktion des ergriffenen Ge¬ 
lenks zur Folge. 

Die zwei folgenden Krankenberichte zeigen, was auch König beobachtet 
hat, daß ein Hydrarthros auf tuberkulöser Basis vollständig verschwinden kann. 

Vier Fälle zeigen, daß die tuberkulösen Gelenkaffektionen sich schließlich 
auf ein bestimmtes Gelenk lokalisieren, nachdem sie sich kürzere oder längere 
Zeit unter polyartikulären Attacken manifestiert haben. 

Im letzten Krankenbericht gibt S. ein Beispiel von chronisch deformie¬ 
rendem Rheumatismus von zweifellos tuberkulösem Ursprung. 

Ny r 0 p - Kopenhagen. 

Melchior, Zur Kasuistik des tuberkulösen Gelenkrheumatismus. Therapie der 
Gegenwart 1908, Heft 10. 

Melchior bespricht ini Anschluß an 7 selbst beobachtete Fälle von 
tuberkulösem Gelenkrheumatismus (Poncet) die Pathogenese dieser Erkrankung, 
ihre Symptome, ihren Verlauf und die Therapie. Er erblickt in dem tuberku¬ 
lösen rielenkrheumatismus, der in der Regel mehrere Gelenke befällt, eine 
direkte Manifestation der Tuberkulose allein. Den Grund für die Gelenk¬ 
veränderungen (multiple Ergüsse, auch noch nach dem febrilen Stadium zurück¬ 
bleibende Versteifungen, Kontrakturen und Knochenatrophie) sieht er in der lokalen 
Anwesenheit der Bazillen selbst. Die Therapie besteht in einer lokalen und 
ullgemeinen. Salizyl bleibt wirkungslos, was differentiell-diagnostisch wichtig 
ist. Dagegen erschien Heißluftbehandlung günstig; aktive und passive Be¬ 
wegungen waren zu schmerzhaft. Die Allgemeinbehandlung deckt sich mit der 
initialer Tuberkulosen überhaupt. Ueber das von Poncet empfohlene Cyrogenin 
fehlen noch Erfahrungen. Die Tuberkulinbehandlung hat noch keine günstigen 
Resultate ergeben. Pfeiffer-Frankfurt n. M. 


Hellin, Die Behandlung von Abszessen. Zentralbl. f. Chir. 1908, 43. 

Hell in behandelt Abszesse mit minimalen Inzisionen ohne Tamponade 
oder Drainage. Bi er sehe Hyperämisierung wurde dabei in keiner Form ange¬ 
wandt. Die Vorteile dieser Behandlung sollen sein: Abkürzung der Heilungs¬ 
dauer, geringere Schmerzen, minimale Narben. Große Schnitte und Tamponade 
verzögern nach Hel lins Ansicht die Heilung. Bien cke-Magdeburg. . 


Schreiber, Erfahrungen mit Fibrolysin. Med. Gesellschaft zu Magdeburg. 
30. April 1908. Münch, ined. Wochenschr. 1908, 37. 

Schreiber sah gute Erfolge unter anderem auch bei chronischer 
Arthritis, empfiehlt aber, da Fibrolysin nur aufwe»chend wirkt, daneben fleißig 
Massage und orthopädische Uebungen anzuwenden, die unbedingt zur Er¬ 
zielung eines guten Erfolges notwendig seien. Blencke-Magdeburg. 


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Referate. 


Kölliker, Kin Fall von partiellem Riesenwuchs. Med. Gesellschaft zu Leip^:g. 
14. Juli 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 39. 

Es handelt sich um einen Fall von echtem Riesenwuchs, der den vierten 
und fünften Finger der rechten Hand betraf bei einem 13 Jahre alten Mädchen. 

B1 e n c k e - Magdt*bürg. 

Broca et Barbet, Hypertrophie congenitale de toute la moitie droite Ja 
corps. Revue d’orthop. 1908, II, p. 467. 

Mitteilung eines Falles von Riesenwuchs der ganzen rechten Körper¬ 
hälfte. Bei dem 4jährigen Mädchen, dessen Vorgeschichte nichts Bemerkens¬ 
wertes ergibt, entsprach der rechte Arm demjenigen eines 6Va—7jährigen 
Kindes bei absoluter Wahrung normaler Proportionen. Die Hypertrophie er¬ 
streckte sich nicht etwa auf das Fettgewebe; die Muskulatur war kräftig, die 
Knochen waren derb und kräftig. Die linke Seite war nicht atrophisch. Dass-c-lbc 
Verhalten zeigte die rechte untere Extremität. Das Radiogramm ergab Volums¬ 
vermehrung der rechtseitigen Knochen in allen Dimensionen. Der Händedruck 
war rechts wesentlich stärker als links. Auch das Gesicht bot eine gerintre 
Asymmetrie mit stärkerem Hervortreten des Tuber frontale dextrum dar. Eine 
*/4 Jahre später vorgenommene Untersuchung ergab eine gleichmäßige 
längerung der Beine um 2 cm und Wachstum des rechten Arms um 1 cm. 
während der linke stehen geblieben war. Peltesohn - Berhn. 

Lamy, Hypertrophie congenitale du membre inferieur gauche. Revue d orthi p. 
1908, Nr. 471. 

Beschreibung eines Falles von partiellem Riesenwuchs bei einem Tjährigim 
Knaben, der einen die ganze Vorder- und Außenseite des linken Oberschenkels 
einnehmenden Naevus piloso-pigmentosus aufwies. Der ganze linke Oberschenkel 
war hypertrophisch, in der Länge um 2 cm, im Umfang um 6 cm vergrößert. 
Auch das Becken schien nach der Messung und dem Röntgenbilde links hyper¬ 
trophisch. Pel t e s o h n - Berlin. 

Coville, Malformation congenitale des membres inferieurs. Revue d’orthop, 
190S, Nr. 4. 

Der Fall betrifft ein 4 Monate altes Kind mit angeborenem doppel¬ 
seitigem Klumpfuß, Knie- und Hüftluxation. Zuerst wurden die Klumpfüße 
redressiert, dann 6 Wochen später die Kniee in rechtwinkliger Beugung fixiert: 
zur Reposition der Hüftluxationen ist das Kind noch zu jung. Auffallend war. 
daß im Anfang eine offenbare vollständige Anästhesie der unteren Extremitäten 
bestand, tür die ein Grund nicht auffindbar war und die allmählich zu ver- 
schv/inden scheint. Coville nimmt für die Deformitäten Druck seitens des 
Amnions in Anspruch; die Sensibilität^störung wäre auf Zerrung der Nerven 
des I lexus sacralis infolge starker Beugung des Fötus in utero zurückzuführen. 

Peltesobn - Berlin. 

Gerard Renvall, Till kännedomen om kongenitala i non samma slägt upp- 
trädande extremitetsmissbildningar. (üeber kongenitale in demselben Ge 


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Referate. 


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schlechte vorkommende Mißbildungen.) Finska Läkaresälskapets Handlingar. 
April 1908. 

Der Verfasser gibt unter Zuhilfenahme einer Stammtafel von fünf Genera¬ 
tionen ein Beispiel von Vererbung von Mißbildungen durch die weibliche Linie. Bei 
a.llen Mitgliedern des Geschlechts, welche mit dem Leiden behaftet waren, wurde 
ein kongenital gekrümmter kleiner Finger gefunden. Außerdem war zu finden: 
Defekt der Ulna, Defekt der drei ulnaren Finger, Syndaktylie etc. 

N y r o p - Kopenhagen. 

Viannay, Absence des muscles pcctoraux et atrophie du sein correspondant. 
Revue d’orthop. 1908, S. 459. 

Das 14jährige Mädchen, dessen Anamnese nichts Bemerkenswertes ergab, 
zeigte einen kongenitalen Defekt der Mm. pectorales raajor und minor der 
rechten Seite, sowie eine Hypoplasie der rechten Mamma. Die drei ersten 
Rippen und die Clavicula markierten sich ungewöhnlich stark; das Skelett 
wies nichts Abnormes auf. Die Adduktion des Oberarmes war stark beschränkt 
und wurde durch die Rückenmuskeln notdürftig besorgt. Weiterhin bestand 
eine Art von Flughaut, gebildet durch eine zwei Querfinger oberhalb der rechten 
Mamilla beginnende, sich in ganzer Länge an der Innenseite des Oberarmes 
ansetzende Hautfalte. Bei Elevation des Armes spannte diese sich straff an 
und ließ erkennen, daß sich in der Falte ein Fascienstrang mit äußerst scharfer 
vorderer Kante befand. Bei der Operation, die in Z-förmiger Plastik bestand, 
erwies sich dieser Strang als Ausläufer ^der oberflächlichen Armfascie. Seine 
Insertion am Thorax entsprach dem Ursprung des Pectoralis major. Nach seiner 
Durchtrennung kam ein zweiter, dem Pectoralis minor entsprechender Strang zu 
Gesicht. — Das operative Resultat war sehr günstig. Peltesohn-Berlin. 

Ganser, Ein Fall von Akromegalie. Gesellschaft für Natur- und Heilkunde 
zu Dresden, 4. April 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 35. 

Ganser stellt einen Fall von Akromegalie mit charakteristischen Knochen¬ 
veränderungen an Kopf und Händen vor. Das Leiden hatte sich erst nach dem 
20. Jahre entwickelt, ohne daß eine Ursache gefunden werden konnte. 

B1 en ck e -Magdeburg. 

Schlippe, Ein Fall von Akromegalie. Dissertation. München 1908. 

Schlippe beschreibt einen Fall von Akromegalie bei einer 72jährigen 
Frau; der Beginn der Erkrankung lag 14 Jahre zurück. Es fanden sich die 
typischen Veränderungen: Volumenzunahme der Hände und Füße, Nase und 
Lippe unter gleichzeitiger Verdickung und Verstärkung der Haut der betreffenden 
Körperteile. Daneben fanden sich schwere Veränderungen an den Augen, vor 
allem bitemporale Hemianopsie, Lähmung einzelner Augenmuskeln, teilweise 
Optikusatrophie. In dem gleichzeitigen Bestehen dieser Augenveränderungen 
sieht Schlippe den Beweis für die Theorie Maries, daß die Akromegalie auf 
einer Erkrankung und zwar Wucherung der Hypophysis cerebri beruht. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 


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658 


Referate. 


Vorschütz, Röntgenologisches und Klinisches zum Bilde der Akromegalie. Zei 
Schrift f. Chir. Bd. 94, S. 371. 

An der Hand von drei eigenen Beobachtungen von Akromegalie ce- 
schäftigt sich Vor schütz vornehmlich mit der röntgenologischen Seite des Krasi- 
heitsbildes. In dem einen Falle war es möglich, die Befunde des klini^cfc« 
Bildes post mortem durch die Sektion zu kontrollieren und teilweise die kinu- 
schen Untersuchungen zu bestätigen, teilweise denselben eine andere Deutirsf 
zu geben. So war z. B. im Röntgenbilde der erweiterte Türkensattel sehr scL:s 
zu sehen und die Sektion ergab einen Hypopliysisturaor. Anderseits stellte 
eine über dem Sternum bestehende Dämpfung nicht als eine vergrößerte TcymuS, 
wie man angenommen hatte, sondern als ein tuberkulöses Drüseni>aket henjcs. 

Neben der starken Hypertrophie der Knochen konnte Vorschütz ebenst» 
wie Curschmann starke Atrophie konstatieren, die sich vornehmlich is 
Händen und Füßen zeigte und zwar in der Weise, daß, je weiter die einzeineE 
Körperteile peripherwärts entfernt w’aren, um so deutlicher die Atrophie sich 
zeigte. So sah Vorschütz in zweien seiner Fälle an den Fingern und Zehec, 
daß sowohl die Diaphysen, als auch die Epiphysen starke atrophische Ver¬ 
änderungen aufwiesen, während weiter proximalwärts nur die Epiphysen be¬ 
fallen waren. Neben dieser sich vornehmlich auf die Extremitäten erstreckcn<i«eE 
Atrophie konnte Vorschütz deutlich atrophische Erscheinungen auch an dtn 
einzelnen Kippen erkennen. Alles in allem genommen gewann man den Er¬ 
drück, daß die hypertrophischen Erscheinungen umso stärker auÜreten, jt 
weiter die Knochenteile peripherwärts entfernt sind, und daß in Analogie hiena 
auch die Atrophie eine umso stärkere ist. Diese an den Phalangen sowohl der 
Hände wie auch der Füße ausgeprägte Knochenhypertrophie an der Basis und 
an der Spitze möchte Vorschütz nicht, wie andere Autoren annehmen, ah 
sekundär osteoarthritische Erscheinungen ansprechen, sondern als selbständige 
außerhalb der Gelenkkapsel entstandene Knochenwucheningen, was schon daraas 
hervorgeht, daß man niemals am Knorpel diese Vorsprünge findet, und daß die 
Hypeitrophieen vornehmlich an der Spitze der letzten Phalange zum Ausdruck 
kommen. Joachimsthal. 

Rosalia Rafilsohn, Aetiologie. Pro;.ino8e und Therapie der Erb sehen 
Lähmung Diss. Freiburg 190S. 

Verfasserin bringt die Krankengfschichten von 3 Fällen Erbscher Lähmung. 
In dem ersten ließ sich eine Aetiologie nachträglich nicht mehr feststellen; 
wenn die Zange schuld war, so müßte der hintere rechte Löffel auf der hinten 
liegenden Halsseite gedrückt haben, oder die Verletzung wäre durch Leber* 
drehiing des hinteren Plexus bracliialis entstanden. Im zweiten Fall scheint 
der Druck einer schlecht angelegten Geburtszange für die Erklärung der be¬ 
treffenden Lähmung nicht unwahrscheinlich zu sein, und im dritten Fall war die 
Lähmung entstanden durch Zug am Kopf und durch üeberdrehung der Pleius- 
fasern an der linken Halsseite, ln den beiden ersten Fällen, in denen aller 
Wahrscheinlichkeit nach keine schwere Zerreißung der Nerven vorlag, trat Hei¬ 
lung in relativ kurzer Zeit ein, in dem dritten Falle war bei der Entlassung aus der 
Klinik noch keine Be.sserung eingetreten; jedenfalls handelte es sich hier um eine 
totale oder partielle Zerreißung der Nervenstämme. Blencke*Magdeburg. 


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Referate. 


659 


Krüger, Doppelseitige GeburtsUlhmung. (Erb u. Klumpke.) Verein der 
Aerzte in Halle a. S., 3. Juni 1908. Münch, med. Wochenscbr. 1908, 38. 

Bei einem 4jährigen Kind fand sich beiderseitige Geburtslähmung, Typus 
Krb-Duchenne und Klumpke. Die Entbindung soll ziemlich normal ge¬ 
wesen sein, nur die Schultern machten Schwierigkeiten beim Durchtritt. Eine 
Fraktur irgend eines Knochens oder eine Luxation war auch durch Röntgenunter¬ 
suchung nicht festzustellen. Die Lähmung war eine atypische insofern, als 
neben der 5. und 6. Cervikalwurzel auch der 1. Dorsalnerv befallen waren. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Brückner, 2 Fälle hereditärer Ataxie, Typ Friedreich. Gesellschaft f. Natur- 
und Heilkunde zu Dresden, 4. April 1908. Münch, med. Wochenschr. 
1908, 35. 

Brückner stellt zwei Schwestern mit hereditärer Ataxie (Typ Fried¬ 
reich) vor, bei denen sich außer starker Ataxie und Gehstörungen Skoliose 
und Spitzfußstellung fanden. Bl encke-Mogdeburg. 

Ganser, Ein Fall von hereditärer Ataxie (Friedreich). Gesellschaft f. Natur- 
und Heilkunde zu Dresden, 4. April 190S. Münch, med. Wochenschr. 
1908, 35. 

Demonstration eines 17jährigen schwachsinnigen Menschen mit hereditärer 
Ataxie (Friedreich). Es handelte sich um einen typischen Fall, so daß ein 
näheres Eingehen auf den Fall nicht nötig erscheint. Blencke-Magdeburg. 

Hahn, Radialislähmung nach Oberarmfraktur. Aerztlicher Verein in Nürn¬ 
berg, 7. Mai 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 36. 

10 Wochen nach der Verletzung wurde der gelähmte Nerv freigelegt, 
der gerade über der Bruchstelle verlief und mit dem Periost innig verwachsen 
war. Er wurde an den M. brachialis angeheftet und das alte Bett wurde über¬ 
näht. Der Erfolg, der lange Zeit äußerst fraglich erschien, war schließlich doch 
ein sehr guter, da, nachdem von nervenärztlicher Seite die elektrische Behand¬ 
lung geraume Zeit fortgesetzt wurde, völlige funktionelle Heilung eintrat. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Bardenheuer, Entstehung und Behandlung der subkutanen Kompressions¬ 
lähmungen. (Versamml. der Rheinisch-westfälischen Gesellschaft für innere 
Medizin und Nervenheilkunde 1908.) 

Die Kompressionslähmungen können verschiedene Ursachen haben Zum 
Teil sind sie die Folge davon, daß bei der Kompression die intra- und peri¬ 
neuralen Blut- und Lymphgefäße zerreißen und daß durch den Druck des Blutes 
und der Lymphe eine Entzündung entsteht, die die Nervenleitung unterbricht 
und bei längerem Bestehen zur sekundären Degeneration des peripheren Stückes 
führt. In anderen Fällen wird die Lähmung durch das den Nerv umgebende 
Narbengewebe verursacht. Je nach der Ursache ist die Behandlung der Kom- 
pressionslähmung eine verschiedene. So gelang z. B. die Heilung einer trau¬ 
matischen Lähmung durch Inzision und Entfernung des in der Nervenscheide 
Vorgefundenen Blutes, der Lymphe, und des entzündlichen h]xsudates. In einem 
Fall von Drucklähmung des Rückenmarks bei Kyphosis als Folge von Caries 


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660 


Referate. 


tuberc. gelang Bardenheuer die Heilung durch die Laminektomie in der 
Ausdehnung vom 5. bis 11. Wirbel. Eine Lähmung des Nerv, tibial. und peräx. 
wurde durch Exzision des Narbengewebes beseitigt. In einem Fall rief eine 
Einklemmung des Nerv, ischiadicus nur eine Neuralgie und nicht gleichzeiüf 
eine Lähmung hervor. Die Heilung gelang ebenfalls durch Exzision des Narb«- 
gewebes und Verlagerung des Nerven zwischen zwei aus dem Glutaeus niaxicLni 
gebildete Muskellappen. B1 e n c k e - Magdeburg. 

Zrenner, Ein Fall von traumatischer Hämatoiuyelie. Dissert. Erlangen 

Der 24 Jahre alte Patient war, nachdem er vorher eine schwere körper¬ 
liche Arbeit verrichtet hatte, plötzlich vornübergefallen und dabei zunächst mit 
den Händen auf den Boden gekommen und mit der Stirn auf eine SieinpUtie 
aufgeschlagen. Ohne das Bewußtsein zu verlieren, war er sogleich nicht meiir 
im stände, sich zu bewegen, beide Arme und Beine waren gelähmt. Die Läh¬ 
mungen bildeten sich allmählich zurück. Bei der Aufnahme in die Erlanger 
Klinik (4 Monate nach dem Unfall) fanden sich noch folgende Störungen: Auf 
der linken Körperhälfte Lähmungserscheinungen am Arm, Andeutung des okulo¬ 
pupillären Phänomens, Erhöhung der Sehnenreflexe am Bein und leichte By w 
ästhesie, auf der rechten Seite ausgedehnte Analgesie und Thermanästhe>ie. 
Es handelte sich also um eine Blutung infolge eines Traumas, die einen Herd 
in der linken Rückenmarkshälfte in der Höhe vom 7. Cervikal- bis 1. Dorsal- 
segment mit fast völliger Zerstörung der Vorderhörner und Veränderung in 
Vorderseitenstrang und Pyramidenseitenstrang hinterlassen hatte. 

Bl encke-Magdeburg. 

Dietrich, Ueber die Conus- und Caudaerkrankungen des Rückenmarks. DisserL 
Jena 1908. 

Dietrich rekapituliert zunächst die Anatomie und Physiologie des 
Conus- und Caudagebietes, gibt dann einen Ueberblick über Diagnostik und 
Pathologie der Conus- und Caudaerkrankungen und führt zum Schluß 5 Kranken¬ 
geschichten aus der Jenenser Klinik an. Die Erkrankungen sind hervorgerufen 
durch primitive pathologische Aft'ektionen der die genannten Organe zusamruen- 
set/.enden Gewebe selbst, dann durch solche ihrer Umgebung, Tumoren, tut^er- 
kulö.se und luetische Prozesse, Häraatomyelie, traumatische Myelitis nach Frak¬ 
turen und Luxationen der Kreuzbeingegend, ferner Stich- und Schuß Verletzungen 
des unteren Wirbelsäulenabschnittes. Die dififerentialdiagnostischen Merkmale 
werden eingehend besprochen. Bien cke-Magdeburg. 

Mainzer, Mitteilung über das Fehlen des Patellarreflexes bei scheinbarer Ge¬ 
sundheit des Rückenmarks. Aerztlicher Verein in Nürnberg, 18. Juni llKG. 
Münch, med. Wochenschr. 1908, 88. 

Mainzer berichtet über 2 Fälle, bei denen, ohne daß einer der be¬ 
kannten Gründe vorlag, trotz aller angewandten Methoden die Kniescheiben- 
reflexe nicht nachzuweisen waren. Es handelte sich um ein Tjähriges Kind 
und um eine 8Jjährige Frau; die Väter beider hatten Lues gehabt, die von 
anderer Seite als die Ursache angeschuldigt wird, wenn auch in einer gegen¬ 
wärtig noch nicht genau zu bestimmenden Weise. B1 e n c k e - Magdeburg. 


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Referate. 


661 


V 0 ß, Zur Frage der erworbenen Myotonien und ihrer Kombination mit der 
progressiven Muskelatrophie. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde 1908, 
Bd. 34. 

V 0 ß berichtet über die Erkrankung eines 46jährigen Patienten der 
Greifswalder Nervenklinik, bei dem sich ein teilweiser Defekt (wahrscheinlich) 
aller Bauchmuskeln linkerseits fand, der angeboren war, außerdem eine Kom¬ 
bination von Myotonie mit progressiver Muskelatrophie, die sich allmählich 
in den letzten 10 Jahren entwickelt hatte. Nach V o ß’ Ansicht handelt es sich 
nicht um ein zufälliges Zusammentreffen, sondern es beruht der Muskeldefekt 
auf mangelhafter Keimesanlage des neuromuskulären Apparates, ebenso wie 
die progressive Myatrophie nichts anderes als der Ausdruck einer mangelhaften 
Anlage oder unzureichender Vitalität des neuromuskulären Apparates ist. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Bähr, Zur Behandlung der Pseudohypertrophia musculorum. Zentralbl. f. 
chirurgische und mechanische Orthopädie 1908, 8. 

Bähr berichtet über einen Fall von Pseudohypertrophia musculorum, 
bei dem vorsichtige, leichte Gymnastik, in der Hauptsache mit möglichster Be¬ 
schränkung auf die atrophischen Muskeln, daneben leichte, schonende Massage 
eben dieser Muskeln insofern einen Erfolg brachte, daß der Junge kräftiger 
wurde, der Gang den watschelnden Charakter verlor und das Treppensteigen 
leichter ging. Objektiv war insbesondere eine Volumszunahme des Quadriceps 
nebst vermehrter Konsistenz der atrophischen Muskulatur zu verzeichnen. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Wandel, lieber nervöse Störungen der oberen Extremität bei Arteriosklerose 
(Dyskinesia und Paraesthesia intermittens). Münch, med. Wochenschr. 
1908, 44. 

Auf Grund seiner an 32 Fällen gemachten Beobachtungen kann Wandel 
die auch schon von De t er mann betonte Tatsache bestätigen, daß beim weib¬ 
lichen Geschlecht die Folgen der Arteriosklerose sich häufiger an der oberen 
Extremiiät äußern, während Männer mehr das Kontingent der Beinarterio¬ 
sklerose mit den charakteristischen Funktionsstörungen ausmachen. Von den 
für die Aetiologie der Arteriosklerose anerkannten Allgemeinschädlichkeiten 
spielte keine in diesen Fällen eine bemerkenswerte Rolle. Nur das Alter mit 
seinen allgemeinen und besonderen Abnützungserscheinungen kam in allen 
Fällen in Betracht. Auch die neuropathische Diathese kam nicht in Frage, 
wohl aber die funktionelle Belastung der befallenen Extremitäten, d. h. lokale 
Erkältung und Durchnässung der Glieder, thermische und funktionelle Reize, 
wie sie die einförmigen beruflichen Anstrengungen auf die Länge der Zeit mit 
sich bringen. Von 13 Frauen, die die Zeichen der Armarteriosklerose mit den 
erwähnten Parästhesieen und gewissen Störungen der motorischen Sphäre zeigten, 
waren 4 Wasch- und Scheuerfrauen, 1 Lumpensortiererin, 1 Scheuerfrau, 1 Ar¬ 
beiterin in der Gelatinefabrik, 1 Melkerin, 1 Zeitungsausträgerin, 1 Handarbeits¬ 
lehrerin, 1 Haushälterin und 3 Arbeiterinnen ohne nähere Angabe des Berufs. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 


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662 


Referate. 


Rostoski, Ein Fall von Lähmung des Deltoides und Serratus anticus maior | 
bei erhaltener Abduktion des Armes. Gesellschaft für Natur- und HeH- 
künde zu Dresden, 14. März 1908. Münchener med. Wochenschr. j 

Nr. 27. 

Trotzdem die beiden Muskeln, welche zur Erhebung des Armes dieneü. 
gelähmt waren, konnte Patient doch den Arm erheben, je länger, je besser, 
zuletzt sogar 30 Grad über die Horizontale hinaus. Dies war dem Patien^ea 
dadurch möglich, daß der Pectoralis maior und die mittlere Partie des Trapexios 
vikariierend eingetreten waren, vielleicht auch noch der Supra- und Infraspinats?. 

ßlencke - Magdeburg. 

M omburg, Die künstliche Blutleere der unteren Körperhälfte. Zentralbl. L 
Chirurgie 1908, 23. 

Um bei eingreifenderen Operationen im oberen Teil des Oberschenkel? 
und am Becken Blut zu sparen, empfiehlt Momburg in der Taille zwisch-n 
Beckenschaufel und unterem Rippenrand einen abschnürenden Gummischlauch 
anzulegen, was angeblich die Bauchorgane nicht schädigen soll. Eine Störung 
der Herztätigkeit bei Lösung des Gummischlauches will er durch Abschnür^n 
beider Ober- und Unterschenkel und succesives Lösen der einzelnen Abschnü¬ 
rungen vermeiden. Bl encke-Magdeburg. 

M omburg, Zur Blutleere der unteren Körperhälfte. Zentralbl. f. Chirurgie 
1908, 41. 

Momburg empfiehlt nochmals sein Verfahren, durch Anlegen mehrerer 
— 3 bis höchstens 4 — Touren eines Gummischlauches um die Taille, die 
untere Körperhälfte blutleer zu machen, und teilt einen Fall mit, in dem der 
Schlauch 30 Minuten lang ohne jede Schädigung lag. Er beschreibt ferner 
seine Methode, auch am Becken eine fast absolute Blutleere zu erzielen. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Dejardin, L’hcmophilie et rhemostase chez les hemophiles: Comment il faut 
preparer un hemophile ä une Intervention chirurgicale. Arch. provinc, de 
chir. 1908, p. 38ö. 

Dejardin empfiehlt bei der Behandlung von Blutungen bei Hämophilen, 
als allgemeine Behandlung der Hämophilie, endlich als Vorbereitung für chi¬ 
rurgische Eingriffe bei Blutern die Anwendung von frischem Serum vom Kaninchen, 
vom Pferde oder vom Menschen. Er injiziert entweder 10—20 ccm intravenös oder 
10—30 ccm subkutan, bei Kindern halb so viel. Ist kein frisches Serum vor¬ 
handen, so bedient er sich des Antidiphtherieserums, das in einem Fall von 
Blutung aus einer Zahnalveole einem 4jährigen Bluterkind nach Versagen aller 
anderen während 13 Tagen fortgesetzten Verfahren das Leben rettete, 

Pel tes oh n- Berlin. 

Schanz, Jodpinselungen zur Erzielung schmaler Narben. Zentralbl. f. Chir. 
1908, Nr. 32. 

Ausgehend von der Beobachtung, daß oftmals Wunden, die uns in ihrem 
Aussehen nicht vollständig befriedigen, weil sie leichte Reizerscheinungen zeigen. 


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Referate. 


663 


günstige Narbenbildung gaben, rät Schanz in Fällen, bei denen es uns darauf 
ankommt, denkbar schmale Narben zu erhalten, die Ränder ideal aseptischer 
Wunden in einen leichten Reizzustand zu versetzen, und zwar geschieht dies 
am besten mit Jodtinktur, mit der man vor der Entfernung der Nähte die 
Wunde ein- oder mehreremal bepinselt, am besten 3—5 Tage nach der Opera¬ 
tion. Der Einfluß dieser einfachen Manipulation auf die Narbenbildung ist 
nach des Verfassers mehrjährigen Erfahrungen ein deutlich sichtbarer in dem 
gewünschten Sinne. Blencke-Magdeburg. 

Krajca, Zur Epithelisierung granulierender Flächen durch Scharlachrotsalbe. 

Münch, med. Wochenschr. 1908, 38. 

Krajca berichtet über günstige Erfolge bei granulierenden Wundflächen 
mit 8prozentiger Scharlachrotsalbe, die abwechselnd mit Borsalbe verwendet 
wurde. Ceber die Salbenläppchen wurde wasserdichter Verbandstoff gebreitet. 
Diese Salbenbehandlung wurde mit Thierschschen Hauttransplantationen 
kombiniert. B1 e n c k e - Magdeburg. 

Hörrmann, Zwischenfälle bei der Lumbalanästhesie. Münch, med. Wochenschr. 

1908, 40. 

Hörrmann gibt die Krankengeschichten zweier Fälle wieder, bei denen 
nach Lumbalanästhesie schwere Erscheinungen auftraten, einmal ein 25 Tage 
lang anhaltender schwerer Symptoraenkomplex von Meningismus, der für den 
Arzt dadurch besonders peinlich war, daß er ihm gänzlich machtlos gegentiber- 
stehen mußte. In dem anderen Falle handelte es sich um eine Kokainvergiftung, 
höchstwahrscheinlich um eine Idiosynkrasie gegen Kokain. Glücklicherweise 
kam es in keinem Falle zu einer Katastrophe, obwohl im 1. Fall ein 4tägiges, 
unstillbares Erbrechen, im 2. ein 12tägiges schweres Delirium das Schlimmste 
befürchten ließen. B1 e n c k e - Magdeburg. 

T ach au, Beiträge zur Lumbalanästhesie mit Stovain. Diss. Göttingen 1908. 

Nach einer kurzen geschichtlichen Einleitung berichtet T ach au über 
57 Fälle, bei denen in der Göttinger Universitäts-Frauenklinik die Lumbal¬ 
anästhesie angewandt wurde. Verwendet wurde das Billonsche Präparat. In 
39 Fällen gelang die Analgesie gut und reichte bis zum Schlüsse der Operation, 
in 11 Fällen mußte, nachdem die Lumbalanästhesie mindestens 1 Stunde ein 
schmerzloses Operieren gestattet hatte, wegen Rückkehr der Schmerzempfindung 
die Operation in Chloroform- oder Aethernarkose beendet werden, in 4 Fällen 
war die Anästhesie ungenügend, in 3 Fällen versagte sie vollständig, ln 3 Fällen 
erfolgte nach mehreren Tagen der Exitus, doch war nicht mit Sicherheit ein 
ursächlicher Zusammenhang mit der Lumbalanästhesie nachzuweisen. In einem 
von diesen Fällen fand sich bei der Sektion hochgradige Arteriosklerose, im 
zweiten war bei der Operation eine Meningocele (Folge von Spina bifida lumbo- 
sacralis anterior) irrtümlich für eine Ovarialcyste gehalten und eröffnet worden, 
und im dritten Fall war eine Apoplexie die Todesursache. Nach- und Neben¬ 
wirkungen waren häufig. Blencke-Magdeburg. 


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Referate. 


Noeaske, Ueber die Technik der Saugbehandlung der Extremitäten. Med. Ge¬ 
sellschaft zu Kiel. 19. Juni 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 32. 

Noeaske benutzt statt einer Saugspritze eine WasserstmhlluftpuEupe tnit 
regulierbarem Sicherheitsventil und Quecksilbermanometer. Er erzielte gnt? 
Erfolge und Nachlassen der Schmerzen mit dieser Behandlun^methode 
chronischen rheumatischen Prozessen, bei Distorsionen an Gelenken und be: 
Kontusionen von Knochen und Weichteilen, nach Operationen, Frakturen ucd 
dergleichen mehr. Die Saugbehandlung bewährte sich häufig besser als dir 
Heißluft- und Massagekuren. Biencke-Magdeburg. 

Feliziani, F., Sulla iperemia passiva come metodo di cura. Esperieui? 
cliniche. Societä Lancisiana degli ospedali di Roma 1907. 

Nach einer sorgfältigen Darlegung der Anschauungen und Versuche Biers 
in Bezug auf den Gegenstand, der auseinandergehenden Meinungen, der em- 
gegengesetzten und häufig sich widersprechenden Resultate vieler anderer, be¬ 
sonders deutscher, französischer, englischer und italienischer Forscher bis ani 
die neueste Zeit, kommt Verfasser zur Beschreibung von 28 Fällen persönlicher 
Versuche, die auf der chirurgischen Abteilung von Prof. Postempski im 
Ospedale di S. Giacomo ausgeführt wurden. Es handelt sich um 5 Panaritiec. 
5 Phlegmonen der Hand, 6 akute Phlegmonen des Fußes, 2 akuto Periostitiiieo 
des Unterschenkels, 2 Adenophlegmonen des Halses, 2 Gonokokkenarthro- uri 
2 Gonokokkentendosynovitiden, 2 vollständige Frakturen des Unterschenkels mit 
Verzögerung in der Konsolidierung, 2 Gelenkdistorsionen, davon eine schwer?. 
Verfasser erzielte eine vollkommene Heilung in den letzteren 3 Fällen; unsichere 
Resultate bei den beiden Halsphlegmonen, bei zwei der Finger, bei zwei der 
Hand und bei zwei Phlegmonen des Fußes; schwere Ausgänge bei einer Phle^^monc 
des Fußes und des Unterschenkels, bei einer der Hand, bei einem Panaritian. 
Die übrigen Fälle heilten, doch handelte es sich um leichte Formen. Verfasser 
führt die verschiedenen Erklärungen und die verschiedenen experimentellen 
Untersuchungen an, um sich über die verschiedenen Resultate Rechenschaft rn 
geben, die mit der Methode bei den verschiedenen Phlegmonearten erhalten wer¬ 
den, und sucht selbst, sich auf die Theorien von der Immunität stützend, 
Grund der verschiedenen Resultate zu erklären, welche bei den schweren akuten 
Infektionen und bei den leichten erhalten werden. Er kommt zu dem Schlab. 
daß er die Methode bei den deutlich phlegmonösen Formen widerrät und sie 
bei den leichten zirkumskripten Phlegmonen, in den traumatischen Fällen mit 
anormalem Verlauf und den Gonokokkensynovitiden empfiehlt. 

Ros. ßuccheri-Palermo. 

Iselin, Behandlung akut eitriger Entzündungen mit heißer Luft, Zentralbl 
f. Chir. Nr. 43. 

Iselin berichtet über günstige Erfolge der Behandlung phleginonöie^ 
Entzündungen mit heißer Luft, wie sie seit Y 2 Jahr in der Baseler chirurgi¬ 
schen Poliklinik geübt wird. Der Heißlufttherapie geht immer der chirurgisch? 
Eingriff voran, am Tage nach der Operation beginnt das .Heizen* in ßie^' 
sehen Ilolzheizkästen 2nial täglich 2—3 Stunden bei Temperaturen von 44— 
an der Haut. Die Heilung war eine schnelle, bei Panaritien mit teilweiser 


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Referate. ß 65 

Nekrose der Sehnenscheide und bei eitrigen Sehnenscheidenphlegmonen blieben 
die Sehnen mit ganzer Bewegungsfähigkeit erhalten. 

B1 e n c k e • Magdeburg. 

Ferrari-Modena, ün caso di trömbosi dell* arto inferiore sinistro (phlegmatia 
coerulea dolens) al termine di una polmonite diplococcica. La riforma 
medica 1908, Nr. 22. 

Beschreibung eines klinischen Falles, der wegen seiner relativen Selten¬ 
heit von Interesse ist. Ros. Buccheri-Palermo. 

Schürmayer, Zur Kenntnis der chemischen Vorgänge beim Verderben der 
Emulsionen der Röntgenplatte und die hierdurch bedingten Entwicklungs¬ 
fehler. Zeitschr. f. med. Elektrologie und Röntgenkunde 1908, 10. 

In einem früheren Bande dieser Zeitschrift hat Verf. seine Mißerfolge 
der letzten Jahre mit mehreren Packungen von Schleußner-Röntgenplatten 
publiziert und versuchte auf Grund chemischer Tatsachen die Erklärung für 
einige Erscheinungen zu geben. Er empfahl damals die Lumi^re-X-Platte und 
hob deren Vorzüge hervor, was eine Abwehrschrift eines Anonymus der Aktien¬ 
gesellschaft vormals Dr. Schleußner zur Folge hatte. Mit dieser beschäftigt 
sich Verf. in der vorliegenden Arbeit ausführlich. Da sie zum großen Teil 
polemischer Natur ist, eignet sie sich nicht für ein kurzes Referat. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Gilmer* üeber chirurgische Schnellaufnahmen. Münch, med. Wochenschr, 
1908, 42. 

Gilmer hat mit einem Instrumentarium der Firma Reiniger, Gebbert 
& Schall chirurgische Schnellaufnahmen gemacht, von denen 15 auf 2 Tafeln 
beigefügt sind. Die Bilder lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. 
Die Expositionszeit schwankte zwischen V* und 5 Sekunden. Die technischen 
Einzelheiten sind im Original zu ersehen. Blencke-Magdeburg. 

Steiner (Rom), Sulla radioderroite. Societä Lancisiana degli ospedali di Roma, 
Sitzung vom 7. März 1908. 

Redner macht darauf aufmerksam, daß die Radiodermititiden von dei) 
physikalischen Verhältnissen der strahlenerzeugenden Röhren abhängig sind, 
und daß Haarausfall, Insensibilität, Avantreaktion, welche für besondere Merk¬ 
male derselben gehalten worden waren, dies ganz und gar nicht sind. Er be¬ 
schreibt die verschiedenen klinischen Formen, unter denen die Radiodermatitis 
auftritt. In Abrede stellt er, daß eine besondere Idiosynkrasie für die X-Strahlen 
bestünde, und beschreibt sämtliche zur Vorbeugung dieser Komplikation ge¬ 
eigneten Mittel, so z. B. die Dosimetrie, die Filtration der Strahlen, die Ver¬ 
wendung elektrostatischer Maschinen, die Immunisierung der Gewebe. Redner 
verweilt sodann bei dem Nachweis, daß die Radiodermatitis als Heilmittel dienen 
kann. So ist sie notwendig, wenn man eine sichere Enthaarung oder eine 
Pigmentierung zur Begünstigung der Weiterleitung der Strahlen in die Tiefe 
oder eine Analgesie zur Ermöglichung ausgedehnter Applikationen in Fällen 
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXIl. Pd. 43 


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von ausgedehnten und unoperierbaren oberflächlichen Krebsen erzielen wi!]. 
Er stellt zwei Kranke vor; bei dem einen rief er eine Radiodermatitis ersten and 
zweiten Grades zur Behandlung eines Epithelioms des inneren Winkels de? 
rechten Auges hervor. Bei dem anderen gaben 8 Applikationen wegen Tuber¬ 
kulose des Calcaneus nicht zu dem geringsten Anzeichen von Dermatitis Anlab. 

Ros. Buccheri-Palermo. 

Graeßner, Die Röntgenuntersuchung der Wirbelsäule, insbesondere ihr Werl 
bei der Beurteilung von Wirbelsäulenverletzungen. Zeitschr. f. Chir. Bd. 94. 
S. 241. 

Graeßner gibt einen Ueberblick über seine Erfahiningen bei der 
Röntgenuntersuchung und Beurteilung von Wirbelsäulen verletzten. In Bezug aaf 
die Technik folgt er im wesentlichen den Weisungen, wie sie Al b e rs* 
Schönberg in seinem bekannten Lehrbuche gibt, und macht in ausgiebiger 
Weise von seiner Kompressionsblende Gebrauch. Die Aufnahmen der Hal?- 
wirbelsäule hat Graeßner bisher nur in sagittaler und frontaler Strahlen- 
richtung hergestellt. Zur Darstellung der beiden obersten Halswirbel zieht er 
die Einstellung auf den geöflheten Mund deijenigen mit Schnigstellang des 
Kompressionszylinders vor, um die erheblichen Verzeichnungen zu vermeiden 
Bei der Brustwirbelsäule kommen für Erwachsene seitliche Aufnahmen wohl 
nicht in Betracht. Daß die Aufnahme bei schräger Einstellung etwa unter 
einem Winkel von 50® mehr Aufschluß über krankhafte Prozesse ergeben hätten, 
als solche in sagittaler Richtung, kann Graeßner nicht behaupten. Vor der 
Aufnahme der Lendenwirbelsäule muß der Darm durch Abführmittel, eventuell 
Klistiere, gründlich gereinigt und dann durch Opiate ruhig gestellt werden. 
Die Aufnahme des Patienten muß zur Ausgleichung der physiologischen Lordose 
mit erhöhten Schultern, gleichzeitig der Brust genähertem Kopfe und mit er¬ 
höhten angezogenen Beinen erfolgen. Es kommt dann die Wirbelsäule mög¬ 
lichst nahe an die Platte heran, auch werden die Bauchmuskeln entspannt und 
so kann eine kräftigere Kompression ausgeführt werden. Der Uebelstand, daß 
bei neutraler Einstellung die Processus articulares durch den Wirbelkörper ge¬ 
deckt werden und Veränderungen an ihnen und am Gelenkspalt nur schwer za 
erkennen sind, kann vermieden werden, wenn man bei der Aufnahme mit 
der Kompressionsblende den Focus der Röhre nicht über der Mitte, sondern 
dicht unter dem oberen Rande der Blende einstellt, wodurch die Gelenkfort¬ 
sätze der unteren im Bilde sichtbaren Wirbel in den Zwischenwirbelraum pro¬ 
jiziert werden. 

In der Zeit vom 1. April 1905 bis zum 31. März 1908 wurden von 
Graeßner von 283 Personen Wirbelsäulenaufnahmen gemacht, darunter in 
206 Fällen, bei denen nach einem vorausgegangenen Trauma eine Wirbel¬ 
säulenverletzung vorliegen konnte. In diesen Fällen von fraglicher Wirbel- 
Säulenverletzung wurden 75mal traumatische Veränderungen nachgewiesen. Der 
Arzt hat nach Graeßner als Begutachter die Pflicht, namentlich in den 
Fällen, bei denen nach einer verhältnismäßig geringfügigen Gewalteinwirkung 
auf die Wirbelsäule der Verletzte über mehr oder minder erhebliche Beschwerden 
klagt und die klinische Untersuchung keinerlei Veränderungen nachzuweisen 
vermag, so daß diese Leute oft als Uebertreiber, wenn nicht gar als Simulanten 


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hingestellt werden, durch eine röntgenologische Untersuchung den Wirbelbefund 
klarzustellen. Es wird dann mancher von diesen Verletzten zu seinem Rechte 
kommen. Joachimsthal. 

Earl Rosenthal, Einfluß der Massage auf die Erhöhung der Hauttemperatur. 

Zeitschr. f. physikal. u. diätetische Ther. Bd. 12 S. 401. 

Bei den von Rosenthal ausgeführten Versuchen wurde ein von Rosin 
angegebenes Hautflächenthermometer auf der Mitte des Vorderarms und zwar 
stets an derselben Stelle mittels einer Binde ohne Anwendung eines starken 
Druckes befestigt. Zunächst wurde die normale Hauttemperatur auf das ge¬ 
naueste festgestellt, worauf dann die Beugeseite des betrefiTenden Vorderarms 
5 Minuten lang, und zwar bei den verschiedenen Untersuchungsreihen mit den 
verschiedenen Massagehandgriffen, behandelt wurde. Unmittelbar nach be¬ 
endeter Prozedur wurde dann die Hauttemperatur wiederum ermittelt. 

Die Erhöhungen der Hauttemperatur durch eine 5 Minuten währende 
Effleurage belief sich in zahlreichen Versuchen auf 0,9—1,6® C. Im Mittel 
wurde 1,5® C. festgestellt. Die höheren Werte betrafen stets Personen weib¬ 
lichen Geschlechts. Um vieles bedeutender zeigt sich die Wirkung einer 
5 Minuten lang währenden Vibrationsmassage. Die betreffenden Zahlen be¬ 
trugen im Mittel 3,25® C. Eine Knetung von 5 Minuten Dauer erzielte in der 
Regel nur geringfügige Erhebung der Temperatur (im Durchschnitt nur 8® C.) 
Ungefähr dieselbe Ziffer wurde bei einem 5 Minuten dauernden Tapotement 
erzielt. 

Verfasser ist geneigt, der Friktionswärme bei der durch die Massage 
bewirkten Temperaturerhöhung den Löwenanteil zuzumessen. Er wurde in 
dieser Auffassung bestärkt durch Versuche an blutleer gemachten Glied- 
abschnitten. Es ergab sich aus denselben, daß, ob Blutleere oder nicht be¬ 
stand, durch die Massage fast stets dieselben hohen Temperaturziffem erreicht 
wurden. Joachimsthal. 

H. Lehr, Sandwasserbäder. Zentralbl. f. Chirurg, u. mechan. Orthopädie. Bd. II, 
Heft 4. 

Lehr empfiehlt speziell gegen Plattfußbeschwerden laue Sandwasserbäder 
von 5—10 Minuten Dauer; dabei sollen die Füße im Sande kräftig arbeiten, 
jedoch ohne daß Ermüdung eintritt. Die Absicht dabei ist, eine Hyperämie zu 
erzielen; die Tretbewegungen stellen eine Art Uebungsbehandlung dar, und 
durch die aufgewirbelten Sandkörner wird ein starker Hautreiz ausgeübt. 

Pfeiffer -Frankfurt a. M. 

König, Die traumatische Knochengelenkentzündung in ihrer Bedeutung für 
das Gutachten des Unfallarztes. Berl. klin. Wochenschr. Nr. 37, S. 166. 

Sowohl der Tierversuch als auch die Erfahrung an Menschen haben er¬ 
wiesen , daß sich die große Mehrzahl der traumatischen Tuberkulosen alsbald 
nach dem Stattönden des Traumas entwickelt. Die Kenntnis des klinischen 
Verlaufs dieser Fälle lehrt, daß sie in der Regel bereits in den ersten 14 Tagen 
nach der Verletzung auftreten. Immerhin darf man aber auch den Zeitraum, 
bis zu welchem große Wahrscheinlichkeit für den Zusammenhang spricht, auf 


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etwa 2 Monate, und wenn man bedenktj daß sich manche Formen sehr lauf 
sam entwickeln, bis sie der Kranke bemerkt, auf 3 Monate bestimmen. 
allen später auftretenden Erkrankungen muß, um die Wahrscheinlichkeit ein^s 
Zusammenhanges anzugeben, nachgewiesen werden, daß bis zum Offenkundig 
werden der Erkrankung von dem Moment des Unfalles an krankhafte Erscbri- 
nungen (Schmerz, Schwellung, Funktionsstörung) vorhanden waren. Ist 
nicht der Fall, so ist nach Königs Auffassung die Erkrankung nicht als Be¬ 
triebsunfall anzuerkennen« Es wird dann auch öfter möglich sein direkt natb 
zuweisen, daß andere im Wesen der tuberkulösen Erkrankung gelegene Ycr 
hältnisse die Entstehung derselben erklären. JoachimsthaL 

Zweig, Traumatische Erkrankung oder Muskeldefekt. Aerztliche Sachver 
ständigen-Zeitung 1908. 18. 

Im Anschluß an einen Fall von einem beladenen Heuwagen hatten sici 
bei einer 40jährigen Frau motorische Störungen einer Seite entwickelt, die ein 
Begutachter auf einen 3 Wochen post trauma erfolgten Schlaganfall, eie 
anderer wegen sich findender Differenzen im Umfang der beiderseitigen Muskeln 
auf ein Rückenmarksleiden, ein dritter ohne Berücksichtigung des Muskel- 
befundes auf eine funktionelle Nervenerkrankung bezog. Alle nahmen überein¬ 
stimmend einen ursächlichen Zusammenhang des Leidens mit dem Unfall an. 
In der psychiatrischen Klinik zu Königsberg kam man dagegen zu der Ansicht, 
daß es sich um eine Kombination von traumatischer Hysterie mit angeborenem 
Muskeldefekt handelte. Und zwar lag ein vollkommener Defekt des Muscolos 
interosseus primus vor und eine Hypoplasie der anderen Muskeln, wofür die 
Volumensverminderung und die quantitative elektrische Herabsetzung sprach. 
Der Fall beweist nach Zweigs Ansicht, wie schwierig oft die Begutachtung 
besonders von Nervenkranken ohne längere Beobachtungs- und öftere eingehende 
Untersuchungsmöglichkeit ist, und regt zu gleicher Zeit an, bei Veränderung 
isolierter Muskeln vor der Annahme einer zentralen Ui-sache immer an die Mög¬ 
lichkeit einer angeborenen Hypoplasie oder eines Defektes zu denken. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Zweig, Beiträge zur Begutachtung der Wirbelsäulenverletzungen. Aerztliche 
Sachverst.-Zeitung 1908, 15. 

Die Erfahrungen, die an der psychiatrischen Klinik zu Königsberg an 
6 Fällen von Wirbelsäulenverletzungen gemacht wurden, bei denen nur in einem 
Falle die Erkrankung und auch erst IV* Jahre nach dem Unfall richtig erkannt 
wurde, veranlaßten den Verfasser, die diesbezüglichen Beobachtungen zu ver¬ 
öffentlichen zur Warnung vor derartig folgenschweren diagnostischen Irrtümem. 

Im 1. Falle wurde trotz vieler Hinweise auf die Wirbelsäule von drei 
Gutachtern Neurasthenie angenommen, l*/* Jahre nach dem Unfall fand sich 
zum erstenmal der Verdacht einer Versteifung der Wirbelsäule. In der Klinik 
wurde dann erst eine Spondylitis traumatica der Lendenwirbelsäule fest- 
gestellt; auch im 2. Falle, bei dem auch eine traumatische Neurose an¬ 
genommen wurde, lag eine Spondylitis traumatica infolge wahrscheinlicher 
Wirbelverletzung vor, daneben auch noch eine Arthritis deformans der 
Schulter. Im 3. Falle wurde 14 Tage nach der Rückenverletzung durch Röntgen- 


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aufnabme eine Veränderung an der Wirbelsäule festgestellt. Alle folgenden 
Gutachter sprechen immer, ohne auf den ersten Befund Rücksicht zu nehmen 
und gründlich die Wirbelsäule nachzuuntersuchen, von funktionell nervösen 
Störungen. Erst in der Klinik wurde die frühere Wirbelverletzung wieder 
festgestellt. Im 4. und 6. Falle handelte es sich um eine Spondylitis de- 
formans; in beiden Fällen wurden die Verletztea als Simnlanten erklärt und 
für voll arbeitsfähig angesehen. Im 5. Falle wurde der Verletzte 2 Monate 
nach dem Unfall als gesund bezeichnet. Trotz dauernder Klagen und trot? ob¬ 
jektiven Befundes wurde ohne Durchleuchtung die Diagnose Altersskoliose ge¬ 
stellt und der Patient mit seinen Ansprüchen abgewiesen. Bei der Untersuchung 
in der Klinik wurden Frakturen an Querfortsätzen der Wirbel gefunden. — 
Auf Grund dieser Fälle formuliert Verfasser die Schlußsätze seiner Arbeit 
folgendermaßen: 

1. Jeder Unfall, der bezüglich seiner Lokalisation und der subjektiveil 
Klagen auf die Gegend der Wirbelsäule hinweist, erfordert wiederholte Röntgen¬ 
untersuchung. 

2. Die sogenannte traumatische Neurose ist in nicht wenigen Fällen nur 
ein für einen Reizzustand des Nervensystems sprechender Symptomenkomplex. 

3. Hinter diesem Symptomenbilde der traumatischen Neurose verbirgt 

sich oft eine schwere körperliche Erkrankung, in den vorliegenden Fällen stets 
eine Schädigung der Wirbelsäule, Blencke-Magdeburg. 


Boettiger, Ueber traumatische Gelenkneurosen. Altonaer ärztlicher Verein. 

6. Mai 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 86. 

Auf dem Boden einer neuropathischen Veranlagung, einer Chlorose öder 
Anämie beginnen häufig, meist nach geringen traumatischen oder rheumatischen 
Schädlichkeiten Schmerzen, teils neuralgischen, teils neurotischen Charakters in 
dem betreflPenden Gelenk, an dem sich objektiv sonst nichts nachweisen läßt, 
auch nicht mit Röntgenstrahlen. Dagegen treten in der Umgebung der Ge¬ 
lenke Veränderungen auf, besonders Atrophie der Muskulatur und Störungen 
in der Haut und im Unterhautzellgewebe, die Boettiger für trophoneurotische 
hält. Differentialdiagnostisch kommt Hysterie in Betracht, bei der aber auch 
diese objektiven Symptome fehlen und die subjektiven ins Ungeheuerliche 
wachsen. Bl encke-Magdeburg. 

Karl Dahlgren, Fall af sentransplantation. Hygiea, Februar 1908. 

Dahlgren hat mit gutem Resultat einen Patienten mit Paralysis musc. 
quadric. d. post haematomyelit. traumat. operiert. Da Tensor fasciae latae 
und sartorius ebenfalls paretisch waren, benutzte D. das Caput long. bicip. 
und den Semimembranosus. Um eine gute Zugrichtung zu erhalten, führte 
er den Biceps durch das Sept. intermusc. ext. und die restierenden Teile 
vom Vastus und Semimembranosus durch das Sept. intermusc. int. 

D. ist zu der Auffassung gelangt, daß die Sehnenplastik —- in weitester 
Bedeutung des Wortes — an vielen Stellen in einem Umfang betrieben wird, 
der sich kaum durch die gewonnenen Resultate motivieren läßt. - 

N y r 0 p - Kopenhagen. 


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Referate. 


Walzberg, Tenotomie des Musculus ileopseas am Trochanter minor. MüdcIl 
med. Wochenschr. 1908, 41. 

W a 1 z b e r g hat bei einem 40jährigen Patienten mit spastischer Spinä] 
paralyse, dem infolge schwerster Kontrakturen das Gehen fast unmöglich wir, 
nach zahlreichen Tenotomieen die Adduktoren offen durchschnitten und, da sich 
dann noch als einziges Hindernis der M. ileopsoas stark anspannte, auch dir 
Sehne dieses Muskels an ihrem Ansatz am Trochanter minor durcbschnittem 
Er ging dabei von einem 15—20 cm langen schrägen Hautschnitt am äuberes 
Rande des M. sartorius aus am medialen Rande des M. rectus femoris tot 
wiegend stumpf in die Tiefe. Der Zweck der Operation wurde erreicht, es 
gelang, die Beine zu strecken, und Patient konnte im Schienenhülsenapparit 
mit gestreckten Beinen stehen. Blencke-Magdeburg. 

Riedinger, Zur Technik der Achillotenotomie. Zentralbl. f. chir. u. me<hiiL 
Orthopädie Bd. II, Heft 2, 

Zur Erleichterung der Tenotomie bei schwach entwickeltem und hoch¬ 
stehendem Galcaneus empfiehlt Riedinger, mittels eines Häkchens mit nicht 
konzentrisch verlaufender Krümmung die schlaffe Achillessehne hervorzuziehen 
und die möglichst gespannte Sehne von außen nach innen zu durchschneitiec 
Er durchsticht, während ein Assistent die Sehne mit dem Häkchen anspaiiDt. 
die Haut neben der Sehne mit einem Skalpell, führt das Guerinsche voni 
stumpfe Tenotom ein, bringt den Fuß in stärkste Dorsalflexion und durch 
schneidet die Sehne von außen nach innen. 

Auch für die Tenotomie in anderen Körpergegenden empfiehlt Rie¬ 
dinger das Herausheben der Sehne durch seinen Haken, wenn die Sehne deut¬ 
licher hervortreten soll. Pfeiffer-Frankfurt a. M. 

Tixier, Osteite-malaire tuberculeuse limitee. Soc. de chir. de Lyon, März 19C^S 
Arch. gän. de chir. 1908, TI, p. 51. 

Bei einem mit Tuberculosis fistulosa des Fußgelenks behafteten jungen 
Manne mußte der Fuß exartikuliert werden. Trotzdem Fortdauer der Schmerzen 
in der Tibia. Daher Aufmeißelung des Knochens, dessen Markhöhle sich aU 
mit Fungusmassen durchsetzt erwies. Tixier schritt daher sofort zur Exart:- 
kulation im Kniegelenk. Die entfernten Knochen waren weich und osteomala- 
cisch. — In der Diskussion fragt Berard, ob das Mark echte Tuberkeln ent 
hielt, da Osteomalacie ohne solche und entfernt von dem Tuberkuloseheri 
spontan ausheilen kann. Gangolphe sah einen ähnlichen Fall wie Tixier. 
Ein Kind mit Fußgelenkstuberkulose zeigte eine von einem ausgedehnten kaltes 
Abszeß durchsetzte Tibiamarkhöhle. Es handelte sich um eine echte tuberkulc?^^ 
Osteomyelitis, die sich von der Osteomalacie dadurch unterscheidet, daß t'Ci 
letzterer das erkrankte Knochenmark rot und angiomatös aussieht. Die lokale 
Osteomalacie der Tuberkulösen hat nichts gemein mit Osteomalacia generali¬ 
sata. Bei ersterer sind stets nur die Knochen des erkrankten Gliedes osteo- 
malacisch, die anderen Knochen zeigen im Gegenteil oft eine erhöhte Festig¬ 
keit. Gayet weist schließlich darauf hin, daß das Markgewebe sich bei diesen 
beiden Formen der Osteomalacie histologisch nicht unterscheiden lasse. 

Peltesohn-Berlin. 


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ubiz Galeazzi, Sui criteri d’intervento nelle tubercolosi articolari delF et4 giovane. 

Societä Milanese di medicina e ohirurgia. 18. März 1908. 
ntöL Redner teilt kurz seine Erfahrungen Über die schlechten funktionellen 

§ tekiH: Dauerresultate nach radikalen Eingriffen bei Gelenktuberkulose in der Eind- 
:ik 1 ? heit und im Jünglingsalter mit, hebt auf Grund seiner persönlichen Erfahrung 
: niri is: deren Häufigkeit hervor und sucht sich über die Ursachen klar zu werden, 
ii't’rr Darauf legt G. seinen persönlichen Standpunkt von der Güte einer kon- 

211 hx: servativen Therapie dar und bespricht die mit derselben erzielten vorzüglichen 
k i X, Resultate (definitive Heilungen in 80 Proz.) sowohl unter dem Gesichtspunkt 
des ursächlichen Prozesses wie unter dem der Gelenkfunktion. 

,, 5 . SM G. hat ein warmes Wort für die Einrichtung von Seesanatorien, deren 

außerordentlichen erzieherischen Einfluß er hervorhebt. 

Ros. Buccheri-Palermo. 


Laussedat, Sur un cas de rhumatisme tubcrculeux ayant evolue pendant 
li ?:tTi cinq ans, termine par une tuberculose pulmonaire. Soc. de Medec. de Paris, 
Seance du 13 raars 1908 (Gaz. des hop. 1908, p. 379). 
ilfe Laussedat berichtet über eine Kranke, deren Beschwerden zunächst 

. X'ii' auf einen entzündlichen Plattfuß hinwieseii. Ganz allmählich stellte es sich im 
Laufe von 5 Jahren heraus, daß es sich um einen Rheumatismus tuberculosus 
rt handelte. Die Frau starb an Lungentuberkulose. — In der Diskussion weist 
[1 rC Poncet darauf hin, daß sich die Tuberkulose nicht nur durch Erkrankung der 
Gelenke manifestiert, sondern auch durch Organläsionen, weswegen man stets 
..T k an die larvierte Form der Tuberkulose denken soll. Poncet will einen zweifel- 
.^ 2 . T-c losen Zusammenhang zwischen schmerzhaftem Plattfuß, Skoliose, Coxa vara und 
V tuberkulöser Infektion gesehen haben. — Dupuy fragt, ob bei Rheumatismus 
tuberculosus Mobilisierung und Massage des erkrankten Gelenks angezeigt seien, 
was Poncet für die blanden Formen des Leidens bejaht; nur bei den schmerz¬ 
haften, entzündlichen Formen sei Immobilisierung indiziert. Größter Wert sei auf 
,t . -die hygienischen Verhältnisse zu legen. Peltesohn-Berlin. 


r ; 





Hör and, Tuberculose sclerosante. Revue d’orthopedie 1908, Nr. 4. 

Hör and wendet sich unter Anführung eines neuen Falles von Kampto- 
daktylie gegen die Anschauung, daß diese Erkrankung ossärer Natur sei. Die 
in der Tat beobachteten Knochenveränderungen — Durchbiegung der Phalangen 
selbst und Hypertrophie des Phalangenköpfchens—sind sekundäre Erscheinungen; 
-das Primäre sind sklerosierende Prozesse in den periartikulären Weichteilen. 
Die Radiographieen des neuen Falles zeigen, daß gar keine Knochendeformierungen 
XU bestehen brauchen. Peltesohn-Berlin. 


Vignard und Mouriquand, Tuberculose diaphysaire, spina ventosa des os 
longs. Revue d’orthop. 1908, Nr. 6 , S. 481. 

Die Spina ventosa der langen Röhrenknochen wird gegenüber den anderen 
tuberkulösen Affektionen der Knochen verhältnismäßig selten beobachtet Verff. 
unterziehen die bekannten Fälle unter Hinzufügung einiger neuen einem ge¬ 
nauen Studium. In Bezug auf das Vorkommen ergibt sich, daß die Majorität 


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Referate. 


der Fälle in den ersten 4 Jahren vorkohimt, weniger in den folgenden 10 Leuc- 
Jahren; indessen gibt es auch Fälle, wo die Krankheit erst im reiferen Alter, 
im 18., sogar erst im 33. Lebensjahre begann. Dieses Prävalieren in der Kind¬ 
heit beruht wohl darauf, daß die Tuberkulose Knochenpartien mit nicht zu ge¬ 
ringer und mit nicht zu reicher Blutversorgung bevorzugt, also Stellen mli 
langsamem Blutstrom; auch fehlt der Diaphyse der Erwachsenen das zur Ent 
Wicklung der Tuberkeln geradezu unentbehrliche Mark. — Der Beginn der Er¬ 
krankung ist meist unbestimmt, da erst mit wachsender Schwellung iin Stadici:: 
der Fistelbildung Beschwerden auftreten. — Am häufigsten ist die L'lna der 
Sitz der Spina ventosa (5mal), dann kommt der Radius, endlich die Fibula. 
Möglicherweise werden auch die anderen langen Röhrenknochen befallen, dxb 
konnten VerfF. keine derartigen Fälle auffinden. Es liegt stets das Bild eia-r 
zirkumskripten Knochengeschwulst vor, die keine Neigung zeigt, auf die Weied 
teile überzugehen. Als Komplikationen, die aber äußerst selten sind, ist 
Ausbreitung in der ganzen Diaphyse und das Fortschreiten auf die Sehner- 
scheiden zu erwähnen. Nur die Clavicula erkrankt gewöhnlich in ihrer ganiei 
Länge, was wohl durch ihren stark spongiösen Charakter bedingt ist. Die IV- 
teiligung der benachbarten Gelenke gehört im schroffen Gegensatz zu der Er 
krankung der kurzen Röhrenknochen zu den größten Seltenheiten. Ditferentiai- 
diagnostisch kommen sowohl dieGummata, wie alle Knochentumoren in Betra-.M 
— Die Behandlung kann zwar zunächst in konservativen Maßnahmen. Ruhi^ 
Stellung, Stauung etc. bestehen; doch sollte man, falls kein Stillstand der Köhler 
bildung eintritt, nicht zu lange mit der Eröffnung des Herdes warten und lieber 
breit öffnen und alles Krankhafte entfernen. Dann kann man entweder 
Höhle sich per granulationem schließen lassen oder sie mit v. Mosetig^cbe^ 
Plombenmasse füllen und die Haut darüber vernähen. Dieses letztere Vorgehen 
gab besonders gute Resultate. Peltesoh n-Berlin. 

Strauß, Das Marmorek-Serum in der Therapie chirurgischer Tuberkuio>c- 
Müneb. med. Wochensebr. 1908. Nr. 42. 

Strauß hat in der Greifswalder chirurgischen Klinik das MarmoreV 
Serum in 38 Fällen von chirurgischer Tuberkulose angewandt. Von den .3^ Pa¬ 
tienten erlitten 14 ausschließlich rektale, 3 lediglich subkutane und 21 rektal 
und subkutane Injektionen. Rektal einverleibt, schien das Marmorek-Senini 
durchaus unschädlich zu sein und in einer Reihe von Fällen eine günstige Wi: 
kung auszuüben. Es dürfte daher als weiteres Hilfsmittel im Kampfe gegen 
die chirurgische Tuberkulose des Versuchs wert sein und neben den bisherigen 
erprobten Heilmetlioden verwendet werden. Bei ausgedehnter Infektion (Lungec- 
und sonstiger Tuberkulose) ist die Wirkung eine recht unsichere, trotzdem er¬ 
scheint ein Versuch mit dem Serum auch in diesen Fällen gerechtfertigt, 

Blencke - Magdeburg. 

Albert H. Freiberg, A further report on the treatment of joint tnberculosi^ 
with Marmoreks serum. Araeric, journ. of orthoped. surg. August 1908, S. bi». 

Freiberg berichtet über Versuche mit dem Marmorekschen Sernin 
das er in 18 Fällen von tuberkulösen Knochen- resp. Gelenkerkrankungren an- 


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Referate. 


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gewandt hat, und zwar wurden durchBchnittlich pro Fall 200 ccm in Dosen von 
10 ccm rektal injiziert. Trotz größter Reserve bei der Begutachtung der Heil¬ 
erfolge dieser beschränkten Anzahl voü Versuchen möchte sich Freiberg dem 
Urteil nicht verschließen, daß in einzelnen Fällen von Knochen- und Gelenk¬ 
tuberkulose dem Marmorekschen Serum ein Heilungsfaktor nicht abzusprechen 
ist, jedoch erwies sich das Serum in verzweifelten Fällen als durchaus unwirksam. 

Bö sch-Berlin. 

John Joseph Nutt and T. W. Hastings, Tuberculin in orthopedic surgery. 

Americ. journ. of orthoped. surg. August 1908, S, 48. 

Nutt und Hastings haben im New York State Hospital, einem Sana¬ 
torium für verkrüppelte Kinder im Staate New York, Tuberkulinversuche mit 
24 Insassen der Anstalt gemacht. Sie benutzten ein Tuberkulinpräparat, welches 
auf einen Kubikzentimeter 0,0047 Keime Trockensubstanz enthielt. Unter Kon¬ 
trolle des opsonischen Index suchten die Autoren einen bestimmten Maßstab für 
die Dosierung der Tuberkulingaben festzustellen und fanden als günstigste Initial¬ 
dosis die Dosierung von 0,0001 bis 0,0002 mg des erwähnten Präparates, enthaltend 
0,000001 Keime pro dosi. Bei langsamer Steigerung der Dosis wurde die Impfung 
2 mal wöchentlich ausgeführt, bis die Dosierung von 0,001 mg mit einem Keini- 
gehalte von 0,00001 erreicht war, von da ab wurde alle 5 Tage resp. einmal in 
der Woche geimpft bis zur Maximaldosis von 0,01 mg mit einem Keimgehalt 
von 0,0001. Diese Dosierung wurde nicht überschritten und von nun ab nur alle 
10 Tage geimpft, wobei die Reaktion sorgfältig beobachtet wurde. Wenn die 
Maximaldosierung einige Wochen angewandt worden war, wurde die Tuberkulin¬ 
behandlung für 1 oder 2 Monate unterbrochen, und dann wieder mit der Dosie¬ 
rung von 0,0001 bis 0,0002 angefangen. Die Temperatur muß vor und nach 
der Impfung regelmäßig gemessen werden; wird das Allgemeinbefinden inner¬ 
halb 24 Stunden nach der Impfung stark alteriert, so ist die Dosis auf die 
Hälfte herabzusetzen und die Steigerung zu verlangsamen. Die Autoren hatten 
die Impfungen vorgenommen unter sorgfältiger Kontrolle des opsonischen Index, 
in dem Bestreben, festzustellen, ob die Kontrolle des Index geeignet ist, für 
die Tuberkulindosierung als Indikator zu dienen. Diese Erwartung hat sich 
nicht erfüllt, es fand sich vielmehr, daß nur die klinischen Erscheinungen für 
die Vornahme der Injektionen maßgebend sein können, und daß die Kontrolle 
des Index für diesen Gesichtspunkt nicht von Belang ist. Tuberkulöse Individuen 
weisen entweder einen sehr niedrigen oder einen sehr schwankenden Index auf. 
Ein Index unter 0,6 oder über 1,3 spricht für eine aktive Tuberkulose. Be¬ 
kommen die Impfungen 6inem Patienten nicht und weist er dabei eine fort¬ 
gesetzte Reihe von niedrigen Indices auf, so ist dieser Umstand ein Fingerzeig, 
die Tuberkulinbehandlung zu unterbrechen, doch weisen, wie oben erwähnt, 
auch schon die klinischen Erscheinungen zur Genüge auf diesen Punkt hin. 
Unter Beobachtung der festgestellten Regeln betrachten die Autoren das Tuber¬ 
kulin als ein gutes Mittel, um die übrigen Heilfaktoren in ihrer Wirkung zu 
unterstützen. Die Krankengeschichten lassen eine günstige Einwirkung des 
Tuberkulins auf den lokalen Erkrankungsherd, also in den untersuchten Fällen, 
auf die Knochen- resp. Gelenktuberkulose, sowie auf die Konstitution im all¬ 
gemeinen erkennen. Bösch-Berlin. 


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Referate. 


Charles Ogiloy, A contribution to the study of tuberculin in orthopedic 
practice. The treatment of tubercular bone and joint disease with small 
doses of tuberculin controlled by the opsonic Index. Americ. journ. of 
orthoped. surg. August 1908. 

Ogiloy hat die von Calmette und Wolf-Eisner angegebene Oph¬ 
thalmoreaktion des Tuberkulins bei 40 Patienten des Ruptured and Crij>p]ed 
children Hospitals in New York geprüft und mit Ausnahme eines Falles jedesmal 
ein positives Resultat erhalten. Ogiloy schildert die Gewinnung und Dosierung 
des Tuberkulinpräparates, sowie die Technik des Verfahrens: Es darf nur ein 
kleiner Tropfen der Lösung in die Conjunctiva eingeträufelt werden, die Con- 
junctiva soll möglichst frei von Tränensekret sein. Ein anfangs negatives, im 
Wiederholungsfälle positives Resultat spricht für einen Fehler in der Technik 
beim ersten Verfahren, die reaktive Conjunctivitis darf nur von kurzer Dauer 
sein. Ogiloy spricht dem Verfahren eine wichtige praktische Bedeutung zu, 
um in zweifelhaften Fällen festzustellen, ob außer der lokalen tuberkulösen 
Knochenerkrankung noch außerdem tuberkulöse Krankheitsherde im Körper vor¬ 
handen sind. 

Derselbe Autor hat Versuche angestellt, tuberkulöse Knochen- und Ge¬ 
lenkerkrankungen mit kleinen Tuberkulingaben unter Kontrolle des opsonischen 
Index zu behandeln. Er kommt zu dem Schlüsse, daß die Feststellung des 
opsonischen Index sehr geeignet ist, um den unbestrittenen Wert der Behand¬ 
lung mit kleinen Tuberkulingaben zu illustrieren, doch sei es nicht notwendig, 
jede Phase der Behandlung durch den Index zu kontrollieren. Für die Diagnose 
der tuberkulösen Knochenerkrankungen hat der opsonische Index keine prak¬ 
tische Bedeutung. Die Hebung des Index geht mit einer Besserung des lokalen 
Krankheitsherdes und des Allgemeinzustandes Hand in Hand. Praktische Be¬ 
deutung gewinnt der Index bei der Prognosestellung einer tuberkulösen Knochen¬ 
erkrankung und wenn es sich darum handelt, ob die mechanische Behandlung 
noch fortzusetzen ist. Bösch-Berlin. 

Houzel, Nouveau trocart pour ponctions d’absces tuberculeux. Arch. provinc. 
de chir. 1908, p. 412. 

Der Uebelstand des gewöhnlichen Troikarts, daß sich das Lumen desselben 
durch Vorlagerung von korpuskularen Elementen bei Punktion tuberkulöser 
Abszesse verstopft, wird bei dem beschriebenen Treikart dadurch vermieden, 
daß das eingeführte Ende desselben zwei sich gegenüberstehende Spitzen auf¬ 
weist, zwischen denen sich tiefe Ausschnitte befinden, Peltesohn-Berlin- 

Rhen ter, Un cas d’dlephantiasis nostras du membre infdrieur gauche. Revue 
d’orth. 1908, Nr. 4. 

Bei einem 40jährigen Landarbeiter bildete sich seit 5 Jahren unter Fieber¬ 
erscheinungen, Kopfschmerzen und Erbrechen eine Schwellung des linken Knies 
und daran anschließend unter Rötung eine allmählich zunehmende Elephantiasis 
des gesamten Beines aus. Da andere Aetiologien auszuschließen sind, Patient 
aber eine chronische Epididymoorchitis hat und die Serumuntersuchung auf Tuber¬ 
kulose positiv austiel, so ist die Affektion als eine tuberkulöse zu deuten. Diese 


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Referate. 


675 


Annahme findet ihre Hauptstütze in der von Poncet inaugurierten Theorie dev 
.entzündlichen Tuberkulose*. Pelteso hn-Berlin. 

Hirschberg, Heilung schwerer Knochentuberkulose durch Sonnenbäder im 
Hochgebirge. — Aerztlicher Verein in Frankfurt a. M., 16. März 1908. — 
Münch, med. Wochenschr. 1906, Nr. 30. 

Hirschberg stellt einen Knaben vor, bei dem er wegen ausgedehnter 
Ellenbogentuberkulose, die trotz weitgehender Resektion des Gelenks und trotz 
zahlreicher Nachresektionen nicht heilen wollte, die hohe Oberarmaniputation 
vorzunehmen im Begriff war, und der durch Sonnenbäder vollkommen im Hoch¬ 
gebirge geheilt wurde. Auch die mehrmals operierten tuberkulösen Knochen 
im Gesicht, am Stirnbein, Jochbein und Oberkiefer kamen zur Ausheilung. Das 
Ergebnis des vorliegenden Falles stellt nach der Ansicht Hirschbergs .einen 
glänzenden Triumph* konservativer Behandlung von schwerer Knochentuber¬ 
kulose dar, wenn auch dieselbe 20 Monate lang dauerte. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Peters, Ueber Gesichts- und Schädelasymmetrien und ihr Verhältnis zum Caput 
obstipum. Münch, med. Wochenschr. 1908, Nr. 34. 

Gegenüber der Ansicht, daß dem Caput obstipum eine ursächliche Rolle 
für die Entstehung der sogenannten sekundären Schädelskoliose zugeschrieben 
werden müsse, weist Peters an der Hand zweier Beispiele darauf hin, daß 
diese Asymmetrien des Schädels und des Gesichtes ohne Caput obstipum einher¬ 
gehen und erblich auftreten können. Er schließt daraus, daß es sich um eine 
fehlerhafte Anlage im Keimplasma handelt, und daß dem Caput obstipum nicht 
für alle Fälle von Schädelskoliose eine ursächliche Bedeutung zukomme, daß 
es sich vielmehr nur um ein gleichzeitiges Vorkommen vererbbarer Anomalien 
handeln könne. Dafür spricht auch das beim Caput obstipum beobachtete 
gleichzeitige Vorkommen anderer vererbbarer Mißbildungen, z. B. Syndaktylie. 
Da aber nach der Operation des Caput obstipum oft eine erhebliche Besserung 
der Schädel- und Gesichtsasymmetrien erfolgen kann, so muß doch für einige 
Fälle von Schädelskoliose ein Abhängigkeitsverhältnis vom Caput obstipum an¬ 
genommen werden. Blencke-Magdeburg. 

Wittek, Ein Fall von Distensionsluxation im Atlantoepistrophealgelenk. Münch, 
med. Wochenschr. 1908, 35. 

Wittek beschreibt einen Fall von Luxation des Atlas gegen den Epi- 
stropheus, der eine seltene Aetiologie hat. Von einer eitrigen Periostitis des 
Unterkiefers aus (infolge von Zahnkaries) hatte sich ein metastatischer Erguß 
in den Gelenken zwischen erstem und zweitem Halswirbel gebildet, der durch 
Ueberdehnung von Gelenkkapsel und Bandapparat die Luxation ermöglichte. 
Die Behandlung bestand in Anlegung einer fixierenden Krawatte. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

V. Baeyer, Halsrippen. — Aerztlicher Verein München, 6. Mai 1908. — Münch, 
med. Wochenschr. 1908, 36. 

Es handelte sich um ein skoliotisches Kind mit auffallend geradliniger 


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676 


Refei-ate. 


Nackenlinie, bei dem das Röntgenbild deutlich Halsrippen erkennen ließ. Im 
Anschluß an diesen Fall erörtert v. Baeyer den Begriff der numerischen 
Variation der Wirbelsäule. Blencke-Magdeburg. 

Kirsch, Rhachitis und Skoliose. Deutsche med. Wochenschr. 1908, 30. 

Kirsch hat eine große Anzahl von Schulkindern untersucht. Die Er¬ 
gebnisse dieser seiner Untersuchungen bespricht er in der vorliegenden Arbeit, 
an deren Schluß er folgende Sätze aufstellt: 

1 . Während der Schulzeit entwickeln sich in großer Anzahl habituelle 
Schiefhaltungen, aber nur wenige und schwach fixierte Skoliosen, bei den 
Mädchen mehr als bei den Knaben. 

2. Es sind beim Eintritt in die Schule schon 7mal so viele fixierte 
Skoliosen vorhanden, wie während der Schulzeit dazu kommen. Während der¬ 
selben verschlimmern sich die fixierten Skoliosen bei den Knaben mehr als bei 
den Mädchen. 

3. Die fixierten Skoliosen sind, soweit sie nicht kongenital bedingt sind, 
fast alle rhachitieehen Ursprungs. 

4. Die Schiefhaltung eines Schulkindes, die sicher keinerlei Fixations 
Symptome erkennen läßt, führt nicht zur schweren Form, kann aber nach 
langem Bestehen klinisch einige leichte Fixationssymptome zeigen. 

5. Schiefhaltung und Schiefwuchs sind als zwei getrennte Krankheits¬ 
bilder aufzufiissen, von denen dieser in der Hauptsache auf Rhachitis beruht, 
jene nicht. Prognostisch erscheint die Schiefhaltung spontaner Rückbildung 
fähig, der Schiefwuchs nie oder selten. Therapeutisch ist jene in jedem Sta¬ 
dium zu beeinflussen, dieser nur in den meist vor dem Schulbesuch sich ab¬ 
spielenden Anfangsstadien. 

Kirsch empfiehlt sehr und dringend, das Lagerungsbett anzuwenden. 
Es muß mit der Ansicht, daß im frühesten Kindesalter noch nichts mit einer 
Skoliose zu machen sei, endlich einmal aufgeräumt werden. Gerade bei den 
weichen Torsionsbuckeln der rhachitischen Kinder ist das Lagerungsbett, da« 
auch späterhin noch sehr befriedigende Erfolge gibt, von der frappantesten 
Wirkung. Bl encke-Magdeburg. 

Hutinel. Des troubles de nutrition dans la scoliose des adolescents. Patho¬ 
logie infantile 1908, p. 198. 

Störungen in der Ernährung sind oft der Anfang von Skoliosen, und 
zwar vornehmlich bei Mädchen im Alter von 8—16 Jahren, während Knaben, 
die denselben Schädlichkeiten ausgesetzt sind, viel seltener Rückgi-atsverkrüm- 
mungen zeigen, die allerdings dann infolge weniger guter Pflege viel schwerer 
auftreten. Der Ursprung der Ernährungsstörung ist oft ererbt; es handelt sich 
um Töchter von Gichtikern, Nervösen, Alkoholikern, Tuberkulösen (20®/o) oder 
Syphilitikern. Daß Knaben seltener erkranken, beruht auf stärkerer Muskel¬ 
übung und größerer allgemeiner Widerstandsfähigkeit. Hutinel nimmt eine 
Art Spätrhachitis zur Erklärung an, die erst nach vollzogener Ossifikation der 
Extremitätenepiphysen, aber noch vor dem Auftreten der sekundären Ossi¬ 
fikationspunkte der Wirbel einsetzt. Die Ernährungsstörung kennzeichnet sich 


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Referate. 


677 


durch Magenatonie, Hyperacidität, Ructus, Magenschmerzen, abnorme Appetit- 
gelüste, Stuhlträgheit, manchmal Zeichen chronischer Appendicitis; oft besteht 
orthostatische Albuminurie. — Die Behandlung muß neben der orthopädischen 
Seite hauptsächlich die allgemeine Kräftigung durch See- oder Höhenaufenthalt, 
lange Bettruhe, Arsenverabreichung herbeizuführen trachten. 

Peltesohn-Berlin. 

E. H. Bradford and Robert Soutter, Studies in the treatment of lateral 
curvature. Americ. journ. of orthoped. surg. August 1908, S. 99. 

Bradford und Soutter legen bei der Behandlung der Skoliose 
das größte Gewicht darauf, daß die gymnastischen üebungen die ganze Zeit 
während des Wachstums fortgesetzt werden. Da dieser Forderung wegen Mangel 
geeigneter Institute und auch aus anderen äußeren Gründen bei den meisten 
Patienten schwer zu genügen ist, vielfach auch die Patienten schon aus ma¬ 
teriellen Gesichtspunkten nicht in der Lage sind, eine konsequente Behandlung 
durchzuführen, so ist nach dem Vorschläge der Autoren zu billigen Improvi¬ 
sationen von Apparaten die Zuflucht zu nehmen. Bradford und Soutter 
geben zu diesem Zwecke eine Reihe von Ideen, die für die Praxis gut durch¬ 
zuführen sind, Besonders ein billig herzustellender Apparat zur Redressierung 
der skoliotischen Wirbelsäule verdient Erwähnung. Ein rechtwinkliges Gestell 
aus Gasrohr von 6 Fuß Höhe mit quadratischer Basis ist an den zwei Vorder¬ 
stangen mit zwei verschiebbaren Eisenmuffen versehen, die je einen kräftigen 
Haken tragen, ln diese Haken wird eine Schaukel aus starkem Eisendraht mit 
verstellbarem Fußbrett gehängt. Der Patient wird seitwärts in die Schaukel 
hineingestellt, einige an der Außenseite unter die Hüfte und den Oberschenkel 
ziehende kräftige Riemen, sowie ein Paar Fußlaschen verhüten das Herabgleiten 
von dem Fußbrett, während der Gegendruck von der anderen Seite gegen die 
stärkste Konvexität der Skoliose durch eine winklig gebogene, ebenfalls ver¬ 
stellbare Stahlstange reguliert wird. Mittels dieses einfachen Apparates kann 
man eine gut redressierende Wirkung auf die tiefergelegene Rückgratverkrüm¬ 
mung ausüben. Der Apparat läßt sich auch in der Weise variieren, daß der 
Patient auf einen Hocker festgeschnallt in dem Gestell sitzt, und nun die früher 
als Schaukel benutzte Vorrichtung als Schwungrahmen benutzt, mit dem er 
den Oberkörper über die verstellbare Stahlstange herüberbiegt und so redres- 
sierend auf den dorsalen Teil der deformierten Wirbelsäule einwirkt. An Stelle 
des teueren Korsetts empfehlen die Autoren einfache Improvisationen starker 
Eisenblechstreifen, die vorn am Thorax und hinten an der konkaven Seite des 
deformierten Rückens herablaufen und durch Querschienen und Züge von starken 
Stoffen die Wirbelsäule überzukorrigieren suchen. Das Hauptgewicht müßte 
aber nach Ansicht von Bradford und Soutter auf einer Belehrung über das 
Wesen der Rückgratverbiegungen den Lehrern und Erziehern gegenüber be¬ 
ruhen, welche durch sorgfältiges Beobachten der Kinder und Belehren viel zur 
Verhütung schlimmerer Deformitäten beitragen könnten. Bösch-Berlin. 

H. Lehr, Zur Behandlung der Cervikalspondylitis. Archiv f. klin. Chir. Bd. 87, 
Heft 2. 

Nach Lehrs Mitteilungen wird in der Schanzschen Klinik der von 


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Referate. 


Schanz bei der Behandlung des angeborenen Schiefhalses nach der Durti | 
schneidung des Kopfnickers verwendete Watteverband auch bei der Behandle^,- 1 
der Cervikalspondylitis mit Vorteil benutzt. Beim Anlegen des Verbandes ) 
übt ein Assistent an dem leicht rückwärts gebeugten Kopf des auf 
Operationstisch liegenden Patienten einen schwachen Extensionszug aus. D 
werden dann mehrere Lagen Verbandwatte zirkulär um den Hals gelegt asi 
mit Mullbinden sehr fest angewickelt. Eine leichte cyanotische Verrärbung ä-< 
Gesichts zeigt an, daß der Verband fest genug angezogen ist. Bei der erst 
maligen Anlegung kann man nicht immer so weit gehen. Wenn der Paticn: 
sich aber etwas an den Verband gewöhnt hat, pflegt er sich gegen das strafe 
Anziehen desselben nicht mehr zu sträuben; denn er empfindet gerade (ko 
seine volle erleichternde Wirkung. Im übrigen drückt sich die Watte bald k 
weit zusammen, daß die Cyanose vollständig verschwindet. Der fertige Verb^ind 
stemmt sich gegen Schultern und Kopf, legt sich diesen Teilen fest an csa 

preßt mit der der Watte innewohnenden Elastizität Kopf und Schultern auf¬ 

einander. So kommt eine ständig und ruhig fortwirkende Extension zu stände, 
wälirend die Fixation durch die dicke zusammengepreßte Wattemasse selb?: . 

und indirekt durch Vermittlung der Extension hergestellt wird. Drückt sich I 

die Watte zusammen und wird der Verband dadurch gelockert, so ist darvs 
eine neu überlegte Binde die Spannung rasch wieder hergestellt. Lockert aici 
der Verband am Kopf oder Schulterende, so wird dort Watte nachgestoplt nci 
durch eine übergelegte Binde mit dem Verband vereinigt. Jm allgemeinen li’t 
sich ein solcher Watteverband V 2 —1 Woche, ohne daß nachgebessert wenlea 
muß. Vollständiger Verbandwechsel braucht wesentlich seltener stattzuhndea. 

Zur Nachbehandlung dient eine Lederkrawatte, die sich durch einen bewegliches 
Kinnteil auszeichnet. Joacbimsthal | 

Brenner, lieber klinisch latente Wirbel tuberkulöse. Frankf. Zeitschr. f. Patho 
logie Bd. 1, Heft 2. 

Brenner teilt die Sektionsberichte von 22 Fällen mit, bei denen sich 
Wirbeltuberkulose fand, die klinisch latent geblieben war, und fugt noch den j 
Bericht über 3 klinische Fälle hinzu, bei denen die Wirbelsäulenkaries sub¬ 
jektiv keine Beschwerden machte, so daß die Diagnose erst spät gestellt wurde. 

Von den Ergebnissen seiner Beobachtung sind folgende besonders hervorzuheben: 

„Die Wirbeltuberkulose macht auch bei hochgradigen Prozessen häufig keine 
auffallenden klinischen Erscheinungen und wird daher häufig nicht erkannt, 
besonders beim Erwachsenen. Der häufigste Sitz der Spondylitis sind der Wirbtl- 
körper und die Zwischenwirbelscheiben. Die Gefahren örtlicher oder allgr- 
meiner Komplikationen sind außer den bekannten Seukungsabszessen, der Pachv- 
meningitis und Myelitis vor allem die Pleuritis und Peripleuritis, panmephriti- 
sehe und Beckenabszesse, endlich die allgemeine Miliartuberkulose. An dtr 
Wirbelsäule sind die am häufigsten befallenen Abschnitte die untere Brust- und 
Lendenwirbelsäule. Scheinbar ausgeheilte, auch sklerosierte Fälle können später 
wieder fortschreiten und bieten dann oft besondere Schwierigkeiten in der Dia¬ 
gnose. In fast allen Fällen von Wirbeltuberkulose finden sich ältere oder gleich¬ 
zeitige tuberkulöse Prozesse in anderen Organen, be 80 ndei *8 in den Lungen.* ^ 

B1 e n c k e - Magdeburg. 




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Referate. 


679 


Tridon, Mal de Pott et doigts hippocratiquea. Revue d’orthopedie 1908, Nr. 4. 

Tridon beobachtete bei einem 15jäbrigen Jüngling mit einem Pott¬ 
seben Buckel mittleren Grades das Auftreten typischer Trommelschlegelfinger, 
die sich auch im Röntgenbild deutlich markierten; ebenso bei einem 10jährigen 
Knaben, der im dritten Lebensjahr eine Spondylitis mit Ausheilung in Gibbo- 
sität durchgemacht hatte. Zwei Theorien existieren zur Erklärung des Phäno¬ 
mens der Trommelschlegelfinger, die der Toxinfektion und die der Zirkulations¬ 
störung. Tridon neigt der Ansicht zu, daß die mechanischen Hindernisse im 
Lungenkreislauf mit Dilatation des rechten Herzens, die ja auch besonders bei 
dorsalen Spondylitikern obwalten, der Grund der Veränderung sind. Die Frage, 
ob die Trommelschlegelfinger einer Rückbildung fähig sind, bejaht Tridon für 
die Fälle, wo der Gibbus noch nicht fixiert ist und das definitive Endstadium 
der Spondylitis darstellt. Die Veränderung wird am ersten bei Individuen auf- 
treten, die in frühester Jugend spondylitisch erkranken und je prominenter der 
Buckel ist. Peltesohn-Berlin. 

Codivilla, Un caso di spondilolistesi. Societä raedico-chirurgica di Bologna, 
7. März 1908. 

Redner stellt einen 28jäbrigen Eisengießer vor, der seit längerer Zeit an 
Lumbosakralschmerzen während der Rumpfbeuge leidet. Es ist eine sakrale 
Kyphose mit Lordose nach rechts offensichtlich. Bei der Palpation bemerkt 
man einen plötzlichen Uebergang, eine Art von Stufe zwischen dem 4. und 

5 . Lendenwirbel. Durch die Röntgenuntersuchung wird keine Aufklärung in 
das Problem gebracht. Die an sich schwierige Diagnose wurde ausschlußweise 
gestellt. 

Das Aussetzen der Arbeit und das Tragen eines Korsetts werden nach 
Codivillas Ansicht befriedigende therapeutische Resultate geben. Ein blutiger 
Eingriff zur Bildung einer Synostose wird angezeigten Falles von Nutzen sein. 

Ros. Buccheri-Palermo. 

Putti, Beitrag zur Aetiologie, Pathogenese und Behandlung des angeborenen 
Hochstandes des Schulterblattes. Fortschritte a. d. Gebiete der Röntgen¬ 
strahlen Bd. 12, H. 5. 

Bei einem 3jährigen Mädchen, das früher bereits wegen Anus vulvaris 
operiert worden war und eine heredosyphilitische Facialisparese gehabt hatte, 
fand sich angeborener Hochstand des linken Schulterblattes, daneben Asym¬ 
metrie des Schädels und Gesichtes, linkseitige Cervikalskoliose mit dor.saler 
Gegenkrümmung, eine Schulterblatt und Wirbelsäule verbindende Knochen¬ 
spange, Hypertrichose an verschiedenen Stellen des Rumpfes und angeborene 
Leistenhernie. Röntgenographisch ergab sich außer genauer Feststellung von 
Form und Stellung der Skapula, sowie der erwähnten Knochenspange, daß vom 

6 . Halswirbel nur die linkseitigen Anteile vorhanden waren. Bei der Operation 
wurde die Knochenspange entfernt, die Muskelansätze wurden durchtrennt, das 
Schulterblatt herabgezogen und in normaler Lage fixiert durch Annähen des 
unteren Endes an der 8. Rippe. Glatte Heilung. Gutes kosmetisches und funk¬ 
tionelles Resultat. — Als Ursache für die Entstehung dieser Mißbildungen nimmt 
Putti die Lues des Vaters an und begründet diese seine Ansicht ausführlich. 

ß 1 e n c k e - Magdeburg. 


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680 


Referatefc 


Hahn, Totalexstirpatiön des Schulterblattes wegen chronischer Osteomyelitis. — 
Aerztlicher Verein in Nürnberg, 7. Mai 1908. — Münch* med, Wochensebr. 
1908, 36. 

In dem vorliegenden Falle hatte sich das Schulterblatt vollkommen re¬ 
generiert, und die Funktion des betreffenden Schultergelenks ließ nichts la 
wünschen übrig, so daß Patient den Arm völlig normal gebrauchen konnte. 

B1 e n ck e - Magdeburg. 

J. W. Rob, An unusual fracture of the clavicle. The Lancet, 1. August 
S. 310. 

Fraktur des Schlüsselbeins durch Fall auf die Schulter; Schmerzen ax 
der Frakturstelle und an der Ulnarseite von Vorderarm und Hand, Zwiscbet 
äußerem und innerem Fragmentende fand sich ein drittes queres Bruchstück, 
welches über die beiden ersten hervorragte. In Narkose Einrichtung und Sayrt- 
scher Verband. Darauf starke anfallsweise Schmerzen im Ulnaris- und Mediani;^ 
gebiet, die nach Abnahme des Verbandes nicht nachlassen. Kein Druck auf 
die Gefäße. Die Röntgenuntersuchung ergibt, daß das mittlere Fragment 1,5 Zoll 
lang ist und nach abwärts sich erstreckt. Operative Entfernung. Es saßen sd 
dem Bruchstück der Musculus subclavius und die Membrana costocoracoidei. 
Auf hören der Schmerzen und gute Fragmentteilung. Der Arm kann jedocb 
nicht über den Kopf erhoben werden. Bemerkenswert ist die Verletzung dt? 
Plexus brachialis bei einer durch indirekte Gewalt hervorgerufenen Claviculafraktur. 

F. Wohlauer‘Charlottenburg. 

Angl ad a, Luxations doubles simultandes scapulo humerales. Arch. gener. de 
chir. 1908, Nr. 6. 

Die gleichzeitige Verrenkung beider Skapulohumeralgelenke gehört m 
den großen Seltenheiten. In dem vorliegenden Fall handelte es sich bei einer 
55jährigen Frau, welche bei einem Sturz von der Treppe mit beiden nach vom 
ausgestreckten Armen gegen eine Wand fiel, um die subkorakoidale Form. 

Derartige Luxationen entstehen entweder durch heftige Muskelkontrak¬ 
tion, durch direkten Stoß gegen die Schultern oder durch Fall auf die Falec- 
bogen oder die Hände. Letzterer Entstehungsmodus ist der häufigste; manch¬ 
mal bewirken verschiedene Mechanismen kombiniert die Luxation. Unter den 
bilateralen Luxationen kann man ihnen nur diejenigen der Hüfte zur Seite 
stellen, bei denen die gewöhnliche Entstehung auf forcierte Beugung des Rumpfes 
gegen das Becken mit oder ohne sekundäre Torsion zurückzu führen ist. 

Durch Fall auf Ellenbogen oder Schulter entstehen in der Regel bilate¬ 
rale, symmetrische, subkorakoidale Schulterluxationen; bei verschiedenartigem 
Trauma finden sich auch meist differente Luxationsarten. 

Poltes oh n-Berlin. 

To dar 0 , Lussazione abituale della spalla. Firenze 1908. 

Todaro behandelt in dieser seiner Monographie die habituelle Luxation 
des Schultergelenkes. Er kommt zu dem Schluß, daß dieselbe von vielfältigen 
Ursachen abhängig ist, und daß die einzig echte prophylaktische Behandlung 


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Referate. 


681 


in der Behandlung des primären Unfalles» d. h. in der Aufsuchung des ana¬ 
tomischen Zustandes der Verletzung, besteht. 

Als symptomatische Behandlung genügt es, nach Malgaignes Weise 
mit einer Sicherheitsnadel den Ellbogen an dem Aermel zu befestigen. Alle 
Apparate sind unzureichend. Die kurative Behandlung muß eine blutige sein. 

Ros. Buccheri-Palermo. 

Borchgrevink, Ambulatorische Extensionsbehandlung der oberen Extremität. 

Jena. Gustav Fischer 1908. 

Als Leiter der chirurgischen Poliklinik des Reichshospitals in Christiania 
hat Borchgrevink an einem größeren Material sich seit dem Winter 1894/95 
mit dem weiteren Ausbau der Extensionsbehandlung der Frakturen der oberen 
Gliedmaßen beschäftigt. Er behandelt diese Frakturen durchweg ambulatorisch 
und zwar mit Schienen, bei denen ein oder mehrere Gummischläuche einen 
Zug an dem der verletzten Extremität angelegten Heftpflasterverband ausüben. 
Die Schienen bestehen aus einem Brett, das am unteren Ende eine Rolle trägt, 
über die die Schnur des Heftpflasterverbandes zum Gummischlauch, der an der 
dem Körper zugewandten Fläche des Brettes läuft, geleitet wird. Der Heft¬ 
pflasterverband wird nach Bardenheuers Vorschriften angelegt. Wird die 
Schnur so stark verkürzt, daß sie den Gummischlauch spannt, tritt die Schiene 
in Wirksamkeit. Der Gummischlauch sucht die verletzte Extremität abwärts 
^egen die Rolle am unteren Ende des Brettes zu ziehen, dabei strebt das Brett 
nach oben zu entweichen. Dieses wird bei der Oberarraschiene dadurch ver¬ 
hindert, daß am oberen Ende des Brettes ein elliptischer Metallbügel, welcher 
am oberen Rande des Armloches einer Weste befestigt wird, angebracht ist. 
Das Heraufgleiten der Weste muß durch einen zweiten durch den Schritt 
laufenden Gummischlauch, Perinäalschlauch, verhütet werden. Bei der ünter- 
armschiene ist eine bewegliche Vorrichtung vorhanden, mittels der sich das 
Schienenbrett gegen die vordere Fläche des Oberarmes stützt. Die Hand- 
Fingerschiene findet ihren Halt am muskulösen Teil des Vorderarmes mittels 
eines zirkulären Pfiasterstreifens. Für die Extensionsbehandlung der Brüche 
am unteren Humerusende ist noch eine besondere Schiene, die kombinierte 
Oberarm-Unterarmschiene, angegeben (abgekürzte Oberarmschiene mit Schulter 
bügel und Unterarmschiene, die am Ellenbogen gegeneinander bewegt werden 
können). Heftpfiasterverband und Zug bei den drei letzten Schienen nur am 
Vorderarm. 

An allen diesen Schienen läßt sich auch ein Querzug überall anbringen. 
Man schraubt zwei 7—8 cm lange Ringschrauben in den Rand des Schienen¬ 
brettes ein, legt in die Oesen dieser Schrauben ein Stück Metalldraht oder ein 
Holzpflöckchen ein, und befestigt hierüber die Enden einer zirkulär angelegten, 
elastischen Schlaufe, z. B. eines der Länge nach gespaltenen Kautschukrohres. 
Oder aber man hilft sich einfacher noch durch Einlegen eines Gaze- oder 
Wattebausches zwischen Arm und Brett und drückt das in der entgegengesetzten 
Richtung verschobene Bruchstück mittels einer zirkulär um die Schiene und 
den Arm angelegten, elastischen Binde gegen die Schiene. Als Zugmaterial 
wird verlangt guter, frischer Gummi, der an keiner Stelle abgenutzt sein darf. 
Für das Improvisieren der Schienen werden genaue Anweisungen gegeben, z. B. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 44 


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682 


Referate. 


Ausüben des Zuges mit elastischen Hosenträgern oder StrumpfbäJidern, bis mas 
die nötigen Schläuche beschafft hat u. s. w. 

Wir haben genau die Schienen, wie sie Bardenheuer für die Behänd 
lung der einzelnen Frakturen der oberen Extremität angegeben hat, nur dai 
sie einfacher, besonders aus einfacherem Material, hergestellt und dadard 
billiger sind, daß sie leicht improvisiert werden können, ferner, mit dem Unter¬ 
schiede, daß die Behandlung aller Frakturformen, auch der suprakondjlärei 
Humerusfraktur, für welche bei schwerer Verstellung Bardenheu er Verlränie 
bei Bettruhe empfiehlt, ambulatorisch durchgeföhrt werden kann. 

Die Barden heu ersehen Schienen sind teuer— wir haben es bis jetzt 
nicht erreichen können, daß sie billiger geliefert werden, und wir wissen, da: 
die hohen Kosten manchen Kollegen abhalten, die Schienen anzuschaffriL 
Bardenheuer begrüßt daher jede Verbesserung, welche eine Vereinfachung, 
besonders aber Verbilligung der Schienen bedeuten würde, mit Freuden, ver¬ 
langt aber von ihnen, daß sich gleich gute, resp. noch bessere Resultate, wie 
mit den von ihm angegebenen Schienen erzielen lassen. Ich darf hier weh! 
erwähnen, daß schon mehrfach angegebene Verbesserungen bei uns im Ge¬ 
brauch als solche sich nicht bewährt haben. 

Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt die Borchgrevinkscbec 
Schienen. Ich halte den von ihm angegebenen Schulterbügel nicht für eine 
praktische Verbesserung, aus dem Grunde, weil einmal eine Weste zur Befe?t> 
gung vorhanden sein resp. angeschafft werden muß, dann aber auch, weil der 
Perinäalschlauch doch mindestens unbequem zum Tragen ist Die von Barden¬ 
heuer angegebene Schulterkappe geniert dagegen in keiner Weise. 

Borchgrevink hat bei seiner Unterarmschienc Gurte zum Befestigen 
am Vorderarm vermieden; er erreicht diese Befestigung durch die Stützvor¬ 
richtung auf den unteren vorderen Teil des Oberarmes (wie es bei der Barden¬ 
heu ersehen Ellbogenschiene die Druckbrücke an dieser Stelle bewirkt). Be: 
-der Bardenheu er sehen Vorderarmschiene — diese entspricht der Borch- 
grevink sehen Unterarmschiene — sind Gurte zur Befestigung angebracht. 
Ich habe aber nie gesehen, daß diese einen solchen Druck beim Bruch eines oder 
beider Vorderarraknochen ausgeübt hätten, daß die Stellung der Fragmente 
beeinflußt wäre. 

Bezüglich der Behebung der seitlichen Verschiebung durch Querzüge, 
worauf Bardenheuer großen Wert legt, spricht sich Borchgrevink dahin 
aus: „An der oberen Extremität ist ein Querzug bisweilen notwendig, meister« 
entbehrlich, ab und zu schädlich. Mit einem hinreichend kräftigen Längszuir 
kommt man in den meisten Fällen zum Ziel.“ Selbstverständlich kann in 
vielen Fällen ein kräftiger Längszug die seitliche Verschiebung mehr oder 
minder beheben, aber einen völligen Ausgleich erzielt er selten. Davon habe 
ich mich in einer großen Zahl von Fällen (als Bardenheuers Assistent habe 
ich über 1700 Frakturen mit Streckverbänden behandelt) im Röntgenbilde und 
zwar, um nicht getäusclit zu werden, an Aufnahmen in zwei aufeinander senk¬ 
recht stehenden Ebenen, soweit möglich, überzeugen können. Ich meine, haben 
wir die Möglichkeit, auch die seitliche Verschiebung, mag sie auch nur gering 
sein, beheben zu können, sollten wir es tun. Borchgrevink warnt davor, 
die Lateral Verschiebung beim Uorderarnibruch mit dem Bardenheuer sehen 


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Referate. 


683 


Querzug zu behandeln, „da das Bruchstück, auf das die Pflasterschlaufe drücke, 
nur einwärts gegen das Spatium interosseum geführt werde, und, weil der 
andere Knochen unbeeinflußt bleibe, die Brucheiiden beider Knochen zusammen- 
f^eführt würden“. Dieses triflft nur dann zu, wenn man nicht nach Barden¬ 
heuer sehen Voi-schriften (Bardenheuer-Gräßner, Technik der Extensions¬ 
verbände, 3. Aufl. 1907, S. 76) verfährt. Bardenheiier verlangt das Hinein¬ 
drücken einer keilförmigen Kompresse bei diesen Frakturen an der Beuge- und 
Streckseite in das Spatium interosseum, wodurch dieses erweitert wird. Borch- 
grevink sucht bei Vorderarmfrakturen durch Zug vermittels einer um das 
Knochenfragment geführten Drahtschlinge die seitliche Verschiebung zu be¬ 
heben. Wenn es sich auch nur um einen kleinen, mit Lokalanästhesie leicht 
ausgeführten operativen Eingrifi’ handelt, kann er doch böse Folgen haben. 
Ein großer Vorteil der Schienen läßt sich aber nicht verkennen, nämlich der, 
daß sie einfach und billig sind und leicht improvisiert werden können. 

Borchgrevink hat eine Reihe von Krankengeschichten beigefügt, 
konnte aber aus äußeren Gründen nicht immer die Röntgenbilder beigeben, 
zum Teil, weil in vielen seiner Fälle solche nicht angefertigt waren. Wenn¬ 
gleich nun die Röntgenogramme vor und nach der Behandlung nichts über das 
funktionelle Resultat sagen, so läßt sich doch aus ihnen die Leistungsfähigkeit 
einer Methode insofern erkennen, als wir sehen, wie weit die Behandlung in 
der Lage ist, die dislozierten Bruchstücke in ihre normale, anatomische Lage 
zurückzubringen und bis zur festen Verheilung in dieser zu erhalten. In Fig. 43 ist 
ein Bruch des Humerus nach Behandlung im Röntgenbilde wiedergegeben. Meines 
Erachtens ist der Kopf im Gegensatz zu dem Verhalten vor der Behandlung völlig 
quergestellt und sieht mit der Bruchfläche nach außen. Die Verstellung ist also 
nicht gebessert. In Fig. 45 ist bei einer Humerusfraktur dicht unter dem Collum 
chirurgicum die seitliche Verschiebung völlig behoben; ob aber die Längsver¬ 
schiebung ausgeglichen ist, kann ich aus dem wenig gut wiedergegebenen Bilde 
nicht entscheiden; ein dichterer Schatten an der Bruchstelle könnte dafür 
sprechen, daß die Fragmente zum Teil noch hintereinander stehen. In Fig. 59, 
61 u. 66 bei der Fract. supracondylica humeri ist die winklige Verstellung nach 
vorne (bei seitlicher Aufnahme) noch erheblich. Aufnahmen von vorne nach 
hinten, um beurteilen zu können, ob die eventuellen seitlichen Verschiebungen 
ausgeglichen sind, fehlen zum Teil, resp. ist es nicht ersichtlich, zu welchen 
Fällen diese gehören. Fig. 77 u. 80 zeigen dagegen ideale Resultate. Soweit 
sich nach den beigegebenen Röntgenogrammen urteilen läßt, habe ich den Ein¬ 
druck nicht gewonnen, daß die Resultate den Bar denh euer sehen ebenbürdig 
sind, und ich glaube auch nicht, daß die Schienen dasselbe wie die Barden- 
heuersehen leisten. Bei der Behandlung der suprakondylären Humerusfraktur 
halte ich eine 2—Swöchige Bettruhe, zumal bei Kinhern, nicht für einen großen 
Nachteil, wenn dieser durch ein ideales Resultat gut aufgewogen wird. 

Anderseits möchte ich betonen, daß, wo die Behandlung nach Barden¬ 
heuer, sei es mit Schienen, sei es im Bettverband, aus irgend welchen Gründen 
nicht durchgeführt werden kann, die ßorchgrevinkschen Schienen bezw. 
seine Improvisationen zur Benutzung zu empfehlen sind, da sie gestatten, die 
Prinzipien der Extensionsbehandlung nach Bar d en h eu er wenigstens größten¬ 
teils durchzuführen; auch werden die Resultate bei weitem bessere sein, als mit 


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684 


Referate. 


jedem fixierenden Verbände. Dann bitte ich auch vorstehendes Urteil, das sieb 
nur auf das Buch stützt, als ein vorläufiges zu betrachten. Bardenhener 
beabsichtigt, eine Reihe von Frakturen nach Borchgrevink zu behandeln, 
und wird dann seiner Zeit darüber berichtet werden. Gräßner - Köln. 

Hermann Coenen, Die Behandlung des suprakondylären Oberarmbruche?. 
Beitr. z. klin. Chir. Bd. 60, Heft 1/2, S. 313. 

Die von Coenen zusammengestellten suprakondylären Frakturen 
sind mit einer Ausnahme sämtlich Extensionsfrakturen; die Fraktur betraf 
9mal das erste, 17mal das zweite, ISmal das dritte und Imal das vierte Los- 
trum. Es handelt sich demnach, wie übrigens auch andere Statistiken ergehen, 
um einen echten Schülerbruch. Unter den vier blutig behandelten Brüchen ist 
nur eine frische Fraktur, die am 2. Tage vernagelt wurde. Die Wundheilung 
war nicht ungestört, das Resultat nicht günstig. Die übrigen drei blutig be¬ 
handelten suprakondylären Brüche wurden im späteren Stadium, um die Funk¬ 
tion zu verbessern, operiert. Bei einem wurde der übermäßige Callus entfernt, 
bei einem zweiten wegen starkem Cubitus varus mit gutem Erfolg eine Keü- 
osteotomie ausgeführt, bei dem dritten wegen schlechter Stellung der Fi-agraente 
eine Verschraubung derselben vorgenommen. Coenen hält nach seinen Er¬ 
fahrungen die blutige Therapie dieser Fraktur nur für berechtigt bei verschleppten, 
nicht reponierten Frakturen, die der unblutigen Behandlung trotzten. 

Der Extensionsverband wurde 8mal benutzt. In 4 dieser Fälle kam es 
zu Störungen in der Nervenfunktion. In 2 Fällen trat die Lähmung d« N. 
medianus resp. ulnaris mehrere Wochen nach der Verletzung auf und ver¬ 
schwand nach Neurolyse. In den beiden weiteren Fällen machte sich die Para¬ 
lyse des Ulnaris aber schon nach 10—12 Tagen bemerkbar und ging nach Ab 
nähme des Extensionsverbandes zurück. 

Die Verhakung der Bruchstücke wird nach den Erfahrungen der Bres¬ 
lauer chirurgischen Klinik in Narkose durch Zug in stumpfwinkliger Richtung 
leicht gelöst. Ph’ne Schiene oder ein Gipsverband, in stumpfwinkliger Stellung bei 
starker Extension in Narkose angelegt, versprechen eine normale spätere Funktion. 
Das Verfahren gestaltet sich im einzelnen so, daß der narkotisierte Patient mit 
überstehendem gebrochenen Arm auf den Tisch gelegt wird. Mit Kraft zieht 
nun ein Assistent bei stumpfwinklig gebeugtem Ellbogen an den flach neben¬ 
einander gelegten Fingern und dem nach oben gerichteten Daumen des ge¬ 
brochenen Armes. Der Vorderarm steht also in Supination. Ein anderer Assi¬ 
stent hat eine Schlinge um den Oberarraschaft gerade Über der Frakturstelle 
gelegt und zieht stark nach hinten. So wird der Schienen- oder Gipsverband 
angelegt und dabei durch direkten Druck, Polsterung oder Anmodellierung die 
seitliche Verschiebung korrigiert. Nach Anlegung des Verbandes muß der 
Bindenzügel entfernt werden, was am leichtesten durch einen kleinen Längs¬ 
schnitt im Verbände oberhalb der Ellbogenbeuge mit einem Langenbeck- 
schen Haken geschieht. Joachimsthal. 

Vignard und Barlatier, De Tintervention sanglante dans les fractures re- 
centes du coude. Revue d’orthopedie 1908, Nr. 5. 

Bericht über 6 Fälle von Frakturen im Bereich des Ellbogengelenks, aus 
denen die Verfasser zu beweisen suchen, daß unter Beobachtung peinlichster 


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Referate. 


685 


Asepsis die blutige Reposition resp. die Entfernung der Fragmente die besten 
Resultate anatomisch und funktionell auch in denjenigen Fällen gibt, in denen 
die anderen Methoden versagen. Peltesohn-Berlin. 

Schwenk, Isolierte Fraktur des Processus coronoideus ulnae. Zentralbl. f. 
Chirurgie 1908, 32. 

Der Fall, den Verfasser beschreibt, dürfte deshalb von Interesse sein, weil 
es sich um eine isolierte Fraktur des Proc. coronoideus ulnae handelte, die 
einen sehr günstigen Ausgang zeigte, im Gegensatz zu den Fällen mit kom¬ 
plizierender Luxation. Nach Abnahme des Verbandes war die Beweglichkeit 
fast momentan eine vollständige und nach 10 weiteren Tagen eine durchaus 
vollständige. Allerdings machten sich gelegentlich seitens des abgesprengten 
Stückes Corpus-mobile-Beschwerden geltend, indem bei plötzlich ausgeführter 
Beugung der Vorderarm mitten in der Bewegung stehen blieb, was sich nach 
des Verfassers Ansicht nur so erklären läßt, daß die Heilung ligamentös er¬ 
folgt ist. B len cke-Magdeburg. 

Müller, Luxation de la tete radiale avec fracture du tiers sup^rieur du cubitus. 
Soci4te des Sciences medicales de Lyon. Lyon medical 1908, Nr. 30. 

Müller demonstriert das Präparat einer Luxatio radii nach hinten mit 
Bruch der Ulna im oberen Drittel; es stammt von einem 50jährigen Manne, 
der die Verletzung in der Kindheit akquiriert hatte. Auffallend war die Atrophie 
des Köpfchens, dessen Durchmesser nicht den der Radiusdiaphyse übertrifft, 
seine Stellung außerhalb der Kapsel, die durch eine dünne Membran ersetzt 
ist. Klinisch bestand keinerlei Bewegungsbeschränkung und keine Muskel¬ 
atrophie. Pel tesohn-Berlin. 

Thon, Volare, mit typischer Radiusfraktur komplizierte ülnaluxation. Ulnaris¬ 
lähmung. Münch, med. Wochenschr. 1908, Nr. 29. 

In dem vorliegenden Falle handelte es sich um eine mit typischer Radius¬ 
fraktur komplizierte volare Luxation im unteren Radioulnargelenk mit nachfol¬ 
gender Lähmung des Ulnaris. dessen Schädigung wohl auf Zerrung und Quetschung 
seines distalen Abschnittes durch das weit nach unten herausgetretene ülna- 
köpfchen zurückzuführen ist. Obgleich die Luxation schon spätestens 2 Stunden 
nach der Verletzung reponiert wurde, war die Läsion des Nerven doch schon 
so stark gewesen, daß eine Lähmung die Folge war. Blencke-Magdeburg. 

Boerger, üeber Radiusfrakturen und deren Behandlung. Dissert. Halle 1908. 

Boerger bespricht die verschiedenen Theorieen über den Entstehungs- 
mechanismus der Radiusfraktur und die Methoden ihrer Behandlung. Die 
sichere Diagnose läßt sich durch Röntgenaufnahme stellen. Er bringt dann 
eine Statistik über 226 vom 1. April 1900 bis 1. April 1906 in der Bramann- 
schen Klinik behandelte Fälle. Bei Frakturen mit Dislokation wird Gipsverband, 
bei solchen ohne Dislokation Pappschienenverband von der Mitte des Ober¬ 
arms bis zu den Fingern unter Extension und gleichzeitiger Flexion, Pronation 
und ulnarer Abduktion der Hand angelegt. Dauer der Fixation 14 Tage, dann 
Nachbehandlung mit Massage und Gymnastik. Die Resultate waren gute. 

B1 e n ck e - Magdeburg. 


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Referate. 


Max Goerlich, lieber einige Radiusmißbildungen. Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59, 
Heft 2, S. 421. 

Goerlich beschreibt 2 Fälle von kongenitaler partieller Synostose der 
Vorderarmknochen, weiterhin 1 Fall von angeborener Luxation des Radius nach 
hinten, oben und außen mit Entwicklungshemmung des Oberarmes und der 
Schulter und angeborener Asymmetrie der Brust und des Gesichts. Von den 
beiden außerdem mitgeteilten Fällen von Radiusdefekt ist der eine totale an¬ 
geboren. Der Patient konnte im Alter von 11 und von 21Jahren untersucht werden. 
Die Krümmung der Ulna hatte in der Zwischenzeit um 15 ® zugenommen. Der 
erworbene partielle Radiusdefekt entwickelte sich im Anschluß an eine Osteo¬ 
myelitis. Die Erscheinungen dieses Falles, die Verkürzung des Vorderarme>, 
die radial und proximal dislocierte Hand, die Krümmung der Ulna erinnern 
lebhaft an den kongenitalen Radiusdefekt. 

Die kongenitale Verwachsung des Radius und der Ulna fixierte in den 
beiden ersten Fällen die Knochen in extremer Pronationsstellung. Die Synostose 
fand sich im Bereiche der Kreuzungsstelle beider Knochen. Die Ulna war in 
beiden Fällen distal von der Kreuzung im Verhältnis zum Radius ziemlich 
schwach entwickelt. Der Oberarm zeigte keine Verkürzung, wogegen der Vorder¬ 
arm wesentlich kürzer und die Hand zarter gebaut war als auf der gesunden 
Seite. JoachimsthaL 

Vignard, Tuberculose du poignet. Plombage de Tarticulation. Soc. de chir. 
de Lyon. 4. Juni 1908. Revue de Chir. 1908, Nr. 7. 

Vorstellung eines jungen Mädchens, bei der Vignard vor 2 Monaten 
die Resektion der zweiten Reihe der Handwurzelknochen wegen Tuberkulose 
mit folgender Plombierung des Gelenks vorgenommen hatte. Ausgezeichnetes 
funktionelles Resultat. Peltesohn-Berlin. 

Stetten, Zur Frage der sogen. Madelun gschen Deformität des Handgelenks, mit 
besonderer Berücksichtigung einer umgekehrten Form derselben. Zentralbl. 
f. Chir. 1908, 31. 

Stetten beschreibt einen Fall, der das genaue Gegenteil des gewohnten 
Typus der Madelun gschen Deformität des Handgelenks darstellt und der nach 
der Ansicht des Verfassers, gerade weil er atypisch ist, besonderes Licht auf diesen 
rätselhaften Zustand wirft. Es handelte sich um ein 12jährige8 Mädchen, welches 
alle Merkmale, die augenblicklich als charakteristisch für eine Madelungsche 
Deformität angesehen werden, zeigte, mit dem Unterschiede, daß die untere 
Radiusgelenkfläche nach hinten anstatt nach vom gerichtet war, daß eine 
scheinbare Subluxation der Hand dorsalwärts anstatt volarwärts bestand, und 
daß eine Luxatio anterior des unteren Ulnarendes im Radioulnargelenk anstatt 
einer Luxatio posterior wie in den typischen Fällen vorhanden war. Hier war 
die Deformität bedingt durch eine Verkrümmung des unteren Radiusendes und 
eine Drehung der Gelenkfläche. Der Carpus behielt seine normalen Verhält¬ 
nisse zum Radius bei, aber die Ulna war im unteren Radioulnargelenk luxiert. 
Stetten will die Deformität durch eine unregelmäßige Ossifikation des unteren 
Endes der Radiusdiaphyse aufgefaßt wissen. B1 e n c k e - Magdeburg. 


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Referate. 


687 


P. Bull, Luxatio dorsalia ossis magni carpi. Norsk Magazin for Laegevidenskab^, 
August 1908. 

Eine von mehreren Abbildungen begleitete kasuistische Mitteilung. B. hebt 
die Untersuchungen Delbets hervor, der die Einheit einer Reihe traumatischer 
Leiden in der Handwurzel, welche zur Zeit unter verschiedenen Namen gehen, 
zu behaupten sucht (Luxatio carpi, Luxatio ossis lunati etc.). Das Zentrale 
in diesen Verletzungen soll sein, daß Os magnum mehr oder weniger stark 
nach hinten luxiert wird und hierbei die übrigen Knochen im Carpus mit sich 
zieht, ausgenommen das Os lunatum. N y r o p - Kopenhagen. 

Vogel, Zur Therapie der Narbenkontrakturen der Hand. Münch, med. 
Wochenschr. 1908, 33. 

Gegenüber dem Verfahren von Reismann, Narbenkontrakturen der 
Hohlhand durch wiederholte Spaltung der Narbenmassen, Extension und 
Thier sch sehe Transplantation zu beseitigen, wiederholt Vogel seinen bereits 
1907 in derselben Wochenschrift gemachten Vorschlag, bei derartigen Kon¬ 
trakturen einen Finger zu entfernen, um mit der dadurch gewonnenen Haut 
narbige Defekte der anderen zu decken und so diese wieder voll funktionsfähig 
zu machen. Im Anschluß daran empfiehlt er nochmals, die zu operierende 
Hand und die Hand des Operateurs durch mehrfach wiederholtes Schwitzen, 
Schwitzenlassen im Bier sehen Heißluftkasten, für die Operation vorzubereiten. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Hartmann, R^traction de Taponevrose palmaire traitee par Tionisation sali- 
cylee. Soc. de chir. de Paris, Mai 1908. Arch. gen. de chir. 1908, H, 
p. 174. 

Der vorgestellte Patient litt an Dupuytrenscher Kontraktur. Die Ioni¬ 
sation mit Salizylsäure (bekanntlich das Galvanisieren mit Anwendung von 
Salizylsäurelösung als leitende Flüssigkeit) hatte das überraschende Ergebnis, 
daß sich mit Beginn der vierten Sitzung die Retraktion besserte und fast die 
vollkommene Extension erzielt wurde. Von der achten Sitzung an wurde keine 
weitere Besserung erzielt, was wohl darauf beruht, daß die Ionisation nur die 
jüngeren Prozesse beeinflußt. Doch genügte das erzielte Resultat in funk¬ 
tioneller Hinsicht vollständig. Peltesohn-Berlin. 

Abadie, Malformation curieuse du membre superieur. Revue d’orthopedie 
1908, Nr. 4. 

Es handelt sich um ein 20jähriges, sonst wohlgebautes Mädchen mit an¬ 
geborener Mißbildung der rechten oberen Extremität, bestehend in einer Ent¬ 
wicklungshemmung des ulnaren Strahls, nämlich partiellem Defekt der Ulna, 
des medialen Teils des Carpus und der medialen (4. und 5.) Finger. Ferner 
besteht eine knöcherne Ankylose zwischen Humerus und Radius. Im ganzen 
weist die Literatur nur 5 analoge Fälle auf, in denen das Ergebnis der Röntgen¬ 
untersuchung bekannt ist. Peltesohn-Berlin. 

Brückner, Angeborener partieller Riesenwuchs. Gesellschaft f. Natur- und 
Heilkunde zu Dresden. 4. April 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 35. 

Es handelte sich in dem vorliegenden Falle um einen 5 Monate alten 
Knaben mit partiellem angeborenem Riesenwuchs der rechten Hand. Das Röntgen- 


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Referate. 


bild zeigte keine nennenswerte Vergrößerung des Knochengerüstes, die Grüßte* 
Zunahme war durch lipomatöse Umbildung des ünterhautfettgewebes bedingt 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Becker, Ueber operativ behandelte Fingerverkrümmungen. Aerztlicher Yerdr 
Rostock. 12. Sept. 1908. Münch, med. Wochenachr. 1908, 45. 

Es handelte sich um eine 19Jährige Patientin, bei der nach spontan ac« 
geheilter Phalangen-Spina-ventosa hochgradige Fingerverkrümmungen zurück 
geblieben waren, die durch keilförmige Osteotomien gut korrigiert werden 
konnten. Bien cke-Magdeburg. 

Max Goerlich, Angeborene Ankylose der Fingergelenke und Brachydaktrlie. 
Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59, Heft 2, S. 441. 

In dem von Goerlich mitgeteilten Falle handelt es sich um eine 
doppelseitige angeborene knöcherne Ankylose des 1. Zwischtn* 
gliedgelenks am 4. und 5. Finger im Verein mit Brachydaktylie de: 
Hand und symmetrischer kutaner Syndaktylie im Bereich der 2. und 3. Zek 
bei einem im allgemeinen in der Entwicklung etwas zurückgebliebenen Manne. 
Die Metacarpalia sind massig und länger als in der Norm, während die Grund* 
Phalangen normal lang, die Mittel- und Endphalangen zu kurz und plamj 
geraten sind, insbesondere am 1., 4. und 5. Finger. Joachimsthal. 

S. Ko f mann. Kasuistischer Beitrag zur Frage der Fingerfrakturbehandlung. Arth, 
f. Orthopädie Bd. VI, Heft 4. 

Kofmann hat schon vor Jottkowitz eine Phalangenfraktur mitnacli 
der Dorsalseite offenem Winkel in Flexionsstellung der Finger bandagiert and 
damit einen vorzüglichen Erfolg erzielt. Er veröffentlicht den Fall, nicht um 
für sich eine Priorität in Anspruch zu nehmen, sondern um die Wichtigkeit 
der scheinbar kleinen Sache in das rechte Licht zu rücken. 

Pfeiffer-Frankfurt a.M. 

Oberst, Die Diagnose der Hüftgelenkserkrankungen. Zeitschr. f. äntlicbe 
Fortbildung 1908, 17. 

Oberst bespricht in sehr gedrängter Kürze die Symptome der tuber¬ 
kulösen Coxitis, der Coxa vara, der Arthritis deformans und von den 
letzungen der Hüfte die Schenkelhals-, Trochanter- und Beckenfrakturen, sowie 
die Luxationen, wobei er auch auf die angeborenen Hüftluxationen zu sprechen 
kommt und auf deren Unterscheidungsmerkmale von der angeborenen Coxä 
vara. Er ist der Ansicht, daß es uns stets gelingen wird und muß, eine pra:i->e 
Diagnose zu stellen, zumal wenn wir uns noch der so schonenden und exakten 
Röntgenuntersuchung bedienen, und dementsprechend auch einen rationellen 
Heilplan mit Erfolg durchzuführen. Wenn auch die Arbeit dem Orthopäden nichts 
Neues bringt, so gibt sie doch dem praktischen Arzt einen kurzen, aber klaren 
Ueberblick über das nicht leichte Gebiet der erwähnten Erkrankungen. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

B1 en 0 k e, Einseitige Coxa vara. Med. Gesellschaft zu Magdeburg, 2. April 1908. 
Münch, med. Wochenschr. 1908, 36. 

Es handelte sich um einen 8jährigen Knaben mit stark ausgeprägte^ 
einseitiger Coxa vara. Die Geburt war sehr leicht; es war nicht das geringste 


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Referate. 


689 


Trauma in der Anamnese nachweisbar. Patient hinkte sogleich bei seinen ersten 
Gehversuchen. B1 e n c k e - Magdeburg. 

Elisabeth Rafilsohn, Coxa vara congenita. Dissertation. Freiburg 1908. 

Zu den bisher in der Literatur veröffentlichten Fällen von Coxa vara 
<:ongenita, die Verfasserin kurz beschreibt, fügt sie zwei weitere Fälle dieser 
Erkrankung hinzu, bei denen sie, was die Aetiologie anbetrifft, auf Grund der 
Anamnese und der Befunde annebmen zu müssen glaubt, daß es sich um eine 
angeborene Mißbildung des Schenkelhalses handelt, die aus inneren Ursachen 
entstanden sein könnte, als die sie alle jene bezeichnet wissen möchte, welche 
«chon im Keime gegeben sind, so daß bei der Entwicklung des Embryo spontan, 
ohne äußere Veranlassung, Mißgestaltungen auftreten. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

O. V. Frisch, Ein Fall von Coxa vara congenita. Wien. klin. Wochenschr. 
Nr. 39, S. 1358. 

V. Frisch bespricht einen Fall von angeborener doppelseitiger Coxa 
vara bei einem 7jährigen Mädchen. Am Skiagramm bilden Hals und Kopf 
miteinander einen spitzen Winkel. Die Epiphysenfuge ist unregelmäßig, sehr 
breit, annähernd vertikal gestellt und so nahe dem Femurschaft, daß der 
Schenkelhals kaum angedeutet ist. Sie teilt sich nach abwärts gabelförmig, 
wodurch ein dreieckiges Knochenstück isoliert wird. Die vertikale Stellung der 
Kopfepiphyse sowie ihre häufige Gabelung sucht v. Frisch so aufzufassen, daß 
die in die bereits knorpelig in Varusstellung befindliche Kopfepiphyse allmäh¬ 
lich vordringende Knochenknorpelgrenze des Femurschaftes sich den abnormen 
Verhältnissen nicht anpaßt. Durch das Zurückbleiben der diaphysären Ver¬ 
knöcherung in der unteren Hälfte des Schenkelhalses ist der Anstoß zu einer 
atypischen Ossifikation gegeben, welch letztere nicht selten durch das Auftreten 
eines überzähligen Knochenkerns besonders in Erscheinung tritt. 

Joachimsthal. 

Alfred Stieda, üeber Coxa valga adolescentium. Arch. f. klin. Chir. Bd. 87, 
Heft 1, S. 243. 

Stieda berichtet über 2 Fälle von Coxa valga adolescentium aus 
der Königsberger chirurgischen üniversitätspoliklinik, in welchen die Diagnose 
durch das Röntgenbild sichergestellt werden konnte. In einem Fall handelt es 
sich um eine doppelseitige Erkrankung. Der andere Kranke bot dadurch be¬ 
sonderes Interesse, daß auf der einen Seite Coxa vara, auf der anderen Coxa 
valga bestand. Klinisch bestand als Merkmal Außenrotation. Ein weiteres 
wichtiges Merkmal ist die ungleiche Länge der Beine, welche durch die ver¬ 
schiedenen Schenkelneigungswinkel bedingt wird. Im Vergleiche zu den sonst 
beobachteten Fällen von Coxa valga ist darauf hinzuweisen, daß in dem ersten 
Falle eine Beschränkung der seitlichen Beweglichkeit nicht bestand. Es fehlte 
nicht nur die gewöhnlich geforderte Abduktionsstellung, sondern die Adduktion 
war in ausgiebiger Weise möglich. Erst bei der Beugung stellte sich der Ober¬ 
schenkel in Abduktion und Außenrotation. Im zweiten Falle war auch in 
Strecksteilung Abduktion und Adduktion beschränkt. Die medico-mechanische 


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Referate. 


Behandlung erzielte im Verein mit Schonung im ersten Falle auch bei einein 
Rezidiv einen guten Erfolg. Beim zweiten Kranken trotzte besonders die Coxa 
vara der Behandlung. Joacbimsthal. 

Blencke, Ein Fall von doppelseitiger Anteversion im oberen Drittel de« 
Femur. Med. Gesellschaft zu Magdeburg, 2. April 1908. Münch, med. 
Wochenschr. 1908, 36. 

Die 6jährige Patientin wurde mit der Diagnose angeb. HüfUoxation zur 
Operation überwiesen. Der Gang war der für diese Erkrankung typische, aber 
es handelte sich nicht um eine solche. Die Köpfe standen in der Pfanne und 
der Schenkelhals erschien auf dem Röntgenbilde beiderseits ganz steil aof- 
gerichtet im Sinne einer Coxa valga. Verzeichnungen infolge falscher Lagerung 
bei der Aufnahme lagen nicht vor. Nach Blenckes Ansicht handelte es sich 
um eine Anteversion im oberen Drittel des Femur, die hervorgerufen war durch 
das Ueberwiegen gewisser Muskelgruppen über die infolge einer in frühester 
Jugend durchgemachten Poliomyelitis ant. acuta gelähmten Antagonisten. Blencke 
glaubt nicht fehlzugehen in der Annahme, daß dieser Fall vollkommen analog 
ist dem seinerzeit von Reichardt auf dem Chirurgenkongreß vorgesteliten, 
den er selbst geröntgent hatte und den man damals damit abtun zu könn^ 
glaubte, daß man sagte, es handle sich um Verzeichnungen des Schenkelhalses 
infolge falscher Beinstellung bei der Aufnahme. Blencke-Magdeburg. 

Perthes, lieber die unblutige Reposition der kongenitalen Hüftluxation. — 
Med. Gesellsch. zu Leipzig, 16. Juni 1908. — Münch, med. Wochenschrift 
1908, 33. 

Bei 36 abgeschlossenen Fällen wurde 17mal ein anatomisch und funktionell 
vollkommenes, 4mal ein funktionell gutes Resultat erzielt. Die 15 Mißerfolge 
beruhten auf Relaxationen oder vorzeitiger Unterbrechung der Behandlung. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Harting, Ueber angeborene Hüftgelenkverrenkungen. Med. Gesellschaft zu 
Leipzig, 2. Juni 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, Nr. 30. 

Härting berichtet über 21 Fälle von angeborener Hüftverrenkung, die 
zum Teil noch in Behandlung sind. 13 Fälle von einseitiger Hüftverrenkung, 
soweit sie abgeschlossen sind, gaben anatomisch vollkommen normale Resultate; 
von 3 doppelseitigen abgeschlossenen Verrenkungen ergaben 2 vollkommen ana¬ 
tomisch normales Resultat, in 1 Falle resultierte auf der einen Seite ein ana¬ 
tomisch richtiges Resultat, während auf der anderen Seite eine Transposition 
des Schenkelkopfes erreicht wurde. Das betreffende Kind hinkte aber nur un- 
merklich und die Eltern waren mit dem Resultat durchaus zufrieden. Bei 
doppelseitigen Verrenkungen geht Härting noch zweizeitig vor; die in den 
anderen 3 Fällen bereits eingerenkte Seite steht anatomisch richtig. Bei zwei 
älteren Kindern wurden Einrenkungsversuche vorgenommen; bei einem 12jährigen 
Mädchen glückte die Reposition in wenigen Minuten, das Kind erlag aber einem 
Chloroformtod; bei einem 11jährigen Mädchen gelang die Reposition nicht 

Blencke- Magdeburg. 


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Referate. 


691 


I>ucroquet, Traitement de la luxation congenitale de la hanche. Presse 
medicale 10. Oct. 1908, p. 649. 

Ducroquet legt bei der Behandlung der angeborenen Hüftluxation 
großen Wert auf den Grad der Abduktion und der Rotation, welcher dem ein¬ 
gerenkten Bein zu geben ist. Den Abduktionswinkel, den er nach der Reposition 
gibt, findet er in der Mitte zwischen dem Winkel größter Stabilität und dem¬ 
jenigen, bei dem die Reluxation eintritt; er muß jedesmal durch Ausprobieren 
festgestellt werden. Diesem Abduktionswinkel entspricht in jedem Falle eine 
bestimmte Rotation, und zwar so, daß bei 90 Grad Abduktion die Außenrotation 
ebenfalls 90 Grad beträgt, d. h. daß der Fuß in der Frontalebene steht. Mit 
geringer werdender Abduktion muß auch die Rotation geändert werden, so daß 
sie bei 20 Grad Abduktion zur Innenrotation von 60 Grad wird. Wird dieses 
Verhältnis nicht beachtet, so wird nach Ducroquet die Einstellung der Kopf¬ 
epiphyse zum Pfannengrund eine ungenügende. Dadurch erklären sich die 
häufigen Reluxationen und die Transpositionen nach vom. Ducroquet entfernt 
den ersten Verband nach 2 bis 3 Monaten und verringert nunmehr die Abduktion 
unter allmählicher Einwärtsrotation in weiteren Gipsverbänden. Daß die Luxation 
nach Abnahme des ersten Gipsverbandes nicht sofort wieder eintritt, führt Ver¬ 
fasser übrigens auf eine fibröse Verwachsung zwischen Kopf und Pfanne zurück. 

Peltesohn - Berlin. 

Franz Wagner, Beitrag zur Frage der kongenitalen Hüftgelenksverrenkungen 
und deren Behandlung. Inaug.-Diss. Berlin 1908. 

Bericht über 15 Fälle aus der Anstalt des Dr. Zinsser in Gießen. Es 
handelte sich um 3 doppelseitige und 12 einseitige Luxationen. Die Resultate 
sind, eine Transposition bei einer einseitigen, eine solche bei einer doppel¬ 
seitigen Luxation, bei der auf der anderen Seite zentrale Einstellung des Kopfes 
erreicht wurde. Die Reposition wurde nicht erzielt bei einer einseitigen und 
zwei doppelseitigen Luxationen. In den übrigen Fällen ist die konzentrische 
Kopfeinstellung erzielt worden. Der einzige Verband, den die Kinder erhielten, 
blieb 4—5 Monate liegen, worauf den Patienten die Richtungstellung des Beines 
überlassen wurde. 

J oachimsthal. 

Wallis, Zur Kenntnis der traumatischen Ischiadicuslähmung (nach Reposition 
der angeborenen Hüftgelenksluxation). Dissertation. Leipzig 1908. 

Wallis beschreibt 2 Fälle von Ischiadicuslähmung nach unblutiger Ein¬ 
renkung der Hüfte. Beide Male war die Verrenkung doppelseitig und beide 
Male war trotz mehrfacher Versuche die Reposition nicht gelungen. Bei dem 
einen, 7 Jahre alten Mädchen, trat nur eine einseitige, bei dem anderen, 3 Jahre 
alten Mädchen, doppelseitige Ischiadicuslähmung ein, im letzteren Falle auch 
Innervationsstörungen von Blase und Perineum, wahrscheinlich zurückzuführen 
auf Hämatomyelie des Conus medullaris. In beiden Fällen trat nach mehr¬ 
monatlicher Behandlung mit Galvanisation, Hydrotherapie, Massage und Gym¬ 
nastik Heilung ein. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 


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692 


Referate. 


Pescbties, Ueber epontane und traumatische Luxationen des Hüftgelenks im 
Kindesalter. Dissertation. Königsberg 1908. 

Peschties berichtet über 3 Fälle von erworbenen Hüftluxationen im 
Kindesalter, die in der Königsberger chirurgischen Universitätsklinik behandelt 
worden sind. In dem einen Falle handelte es sich um eine traumatische Hüft- 
luxation, die blutig reponiert werden mußte, und in den zwei anderen Fällen 
um Spontanluxationen nach Typhus bezw. nach akutem Gelenkrheumatismuf. 
Diese wurden nach der Lorenzschen Methode eingerenkt mit nachfolgendem 
typischen Gipsverband. Blencke-Magdeburg. 

Des tot, Fracture de la cavite cotyloide. Soc. de chir. de Lyon, Mai 
Arch. gen. de chir. 1908, p. 178. 

Es handelte sich um einen aus 6 m Höhe gefallenen Zimmerer mit Frak¬ 
tur der Hüftpfanne. Das Haupterkennungszeichen ist das Erscheinen einer 
Blutung in Höhe der Gelenktaschen. Die Rektaluntersuchung bleibt häufig er¬ 
gebnislos, besonders wenn der Bruch nur eine nach oben gerichtete scharfe 
Kante oder Spitze gebildet hat. Sieht aber eine derartige Spitze nach unten, 
so kann die Rektaluntersuchung entscheidend sein. Die Prognose ist ganz ver¬ 
schieden; die Behandlung hat in Dauerextension zu bestehen. 

Peltesohn - Berlin. 

Tixier, Fracture du col du femur traitee pat la suture. Soc. de chir. de 
Lyon, März 1908. Arch. gen. de chir. 1908, II, p. 49. 

Die Knochennaht des intrakapsulär gebrochenen Schenkelhalses betraf 
einen Mann, der trotz permanenter Extension eine Pseudarthrose davongetragen 
hatte. Der Eingriff bestand in Anfrischung des Kopf- und Halsfragmentes und 
Vereinigung derselben durch eine große Elfenbeinschraube nach starker Exten- 
sion. Gipsverband mit Extensionsvorrichtung während 100 Tagen; nach 140 Tagen 
Beginn von Gehübungen. Die Operation hatte 3’/* Stunden gedauert; sie gab 
ein funktionell und anatomisch sehr gutes Resultat. — In der Diskussion warnt 
Berard vor übertriebenen Traktionen, wenn der Kranke ein gr^wisses Alter 
überschritten hat. Er enij>tiehlt die Anwendung der Lorenzschen Schraube un¬ 
mittelbar nach dem Unfall. — Gay et wandte bei einer 6 Wochen alten trau¬ 
matischen Luxation einen Zug von 80 kg ohne Erfolg an. — Gangolphe er¬ 
zielte in einem Falle ein sehr gutes Resultat durch Trochanterplastik, indem 
er den Schenkelkopf und den Trochanter anfrischte. Die Prognose der Opera¬ 
tion hängt von der Stärke des Zuges ab, der Muskelzerreißungen und Hämatome 
verursacht. Peltesohn-Berlin. 

V. P. Gibney, The influence of weight-bearing on the treatment of tuberculous 
hip-joint disease. Americ. journ. of orthoped. surg. August 1908, S. 21. 

Gibney schildert seine Beobachtungen über den Einfluß der funktionellen 
Belastung bei der Behandlung der tuberkulösen Hüfigelenksentzündung. Er 
hatte dem von Lorenz inaugurierten Verfahren im Anfänge großes Mißtrauen 
entgegengebracht, ist aber durch den überraschenden Erfolg, der bei 8 bisher 
mit Extonsionssohienen resp. Verbänden resultatlos behandelten Coxitisfällen 
durch lange Zeit fortgesetzte Anwendung des nur bis zum Knie reichenden Gips- 


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Referate. 


693 


Verbandes, erzielt wurde, bekehrt worden. In sämtlichen Fällen trat die Heilung 
mit einer bald mehr bald weniger ausgesprochenen Beweglichkeit des Gelenkes 
ein, ein Vorgang, den Gibney als Ergebnis der funktionellen Belastung be¬ 
sonders hervorheben möchte. Ohne natürlich von Fall zu Fall auf die übrigen 
Hilfsmittel bei der Behandlung der tuberkulösen Coxitis verzichten zu wollen, 
räumt er der Immobilisierung des Gelenkes den ersten Platz als Hauptfaktor 
der Heilung ein. Bei einzelnen Fällen hatte er im Anfänge der Behandlung 
die Extensionsschiene mit dem Lorenz sehen Verbände kombiniert, jedoch bald 
die Extensiousschiene wieder entfernt, da sich die Patienten in dem Verbände 
allein sehr gut und sicher bewegten. Sehr klare Röntgenbilder illustrieren im 
einzelnen Falle die Fortschritte der Heilung der erkrankten Gelenke. 

Bösch-Berlin. 

Ahrens, Ein Fall von Resektion des Hüftgelenks mit Interposition eines 
Muskellappens. Münch, med. Wochenschr. 1908, Nr. 41) 

Um eine Ankylose zu verhüten, hat Ahrens bei einem 22jährigen Pa¬ 
tienten mit florider Coxitis bei der Resektion einen aus dem Muscul. glutaeus 
maximus gebildeten zungenförmigen Lappen mit unterer Basis in die Pfanne 
gelegt und dort durch Naht fixiert. Es resultierte eine verhältnismäßig gute 
Bewegungsmöglichkeit bei absoluter Schmerzlosigkeit der ersten und späteren 
Bewegungen im neugebildeten Gelenk. Patient konnte 47* Monate nach der 
Operation wieder arbeiten. Ahrens empfiehlt diese Methode nicht nur bei 
Resektion wegen florider Coxitis, sondern auch bei der Operation bei Ankylose 
zur Verbesserung einer fehlerhaften Stellung. Im letzteren Falle empfiehlt es 
sich, nur so viel Knochen abzutragen, als für die Einpflanzung des Weichteil¬ 
lappens gerade erforderlich ist, und zur Einpflanzung das dünne Fettgewebe 
zu gebrauchen. B1 e n c k e - Magdeburg. 

H. Luxembourg, Statistik der in den Jahren 1902—1906 im Kölner Bürger¬ 
hospitale behandelten Oberschenkelbrüche mit Ausnahme der Schenkelhals¬ 
frakturen. Zeitschr. f. Chir. Bd. 94, S. 387. 

Luxembourg gibt die genaueren Einzelheiten der Untersuchung be¬ 
treffend die Behandlung der Frakturen des oberen und unteren Endes des Femur 
mittels Extension, deren Resultate Bardenheuer bereits auf dem 36. Kongresse 
der deutschen Gesellschaft für Chirurgie im vorigen Jahre mitgeteilt hat. 

Joachimsthal. 

Graf, Extensionsschiene für den Transport der Oberschenkelfraktur im Kriege. 
Militärärztl. Zeitschr. Heft 16, S. 680. 

Graf empfiehlt eine 2 m lange, 10 cm breite Cramersehe Schiene, die 
ohne Schwierigkeit zusammengelegt wird und dann im Sanitätswagen gut unter¬ 
zubringen ist. Das Anlegen der Schiene geschieht in der Weise, daß sie von 
den untersten Rippen an der Außenseite von Rumpf und Bein bis ein oder zwei 
Handbreit (je nach dem Grade der vorhandenen Verkürzung) unterhalb des 
äußeren Fußrandes geführt, hier rechtwinklig nach innen (parallel zur Fußsohle) 
umgebogen wird und nach einer Fußbreite von etwa 15 cm nunmehr wieder 
nach außen umgebogen und an der Außenseite zurückgeführt wird. Die Ex- 


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694 


Referate. 


tension übt Graf mittels eines runden Holzknebels aus, der in zwei Bindezü;?el 
eingreift, welche, um die gut mit Watte gepolsterten Knöchel geschlungen, 
nochmals geknotet werden Damit die zwischen den Zügeln gelegenen Quer- 
drähte durch die Knebelung nicht zusammengedrückt werden, empfiehlt es sich, 
zwischen Knebel und Schiene ein Holzbrettchen zu legen. Der Gegenzug findet 
in bekannter Weise am Damm statt. Auf diese Weise kann, wenn als Binden- 
material die sehr zugfesten Leinenbänder genommen werden, ein kräftiger Zog 
und Gegenzug ausgeübt werden. Nach genügenden Umdrehungen wird der 
Knebel an der Schiene befestigt. Die so angelegte Extensionsschiene wird für 
den Transport durch lange Schienen aus Pappe oder Schusterspan an der 
vorderen und hinteren Seite des Beckens und der Extremität verstärkt, welche 
mit einigen Gaze- oder Gipsbinden, die zweckmäßig auch das Hüftgelenk der 
gesunden Seite umschließen, befestigt werden. Joachimsthal. 

Montadon, Le traitement des fractures diaphysaires de la cuisse et de la 
jambe. Arch. gener. de chir. 1908, II, p. 133. 

Die aus der Krönleinschen Abteilung der Universitätsklinik in Zürich 
stammende Arbeit beschäftigt sich mit der Behandlung der Diaphysenbrüche 
der unteren Extremität unter besonderer Berücksichtigung theoretischer Unter¬ 
suchungen über die mechanischen Prinzipien der bekannten Zuppingerschen 
Extensionsschiene. Es ergab sich, daß die Dislokation der Fragmente im wesent¬ 
lichen durch die passive Elastizität der Muskulatur aufrecht erhalten wird. Da 
dieser wichtige Faktor nur bis zu einem gewissen Grade, der durch die stärkste 
Spannung der Muskeln gegeben ist, ausgeschaltet werden kann, so ist es von 
Bedeutung, daß die Extension in derjenigen Stellung des Gliedes ausgeführt 
wird, bei der die Muskeln am meisten entspannt sind. Für die untere Extremi¬ 
tät ist dies erreicht, wenn Hüft-, Knie- und Fußgelenk in halber Flexion stehen. 
Diese Bedingungen erfüllen die Zuppingerschen Apparate in idealer Weise 
und führen daher auch zu den besten bisher bekannten Resultaten. 

Pe 11 eso hn-Berlin. 

Bettmann, Ueber eine Schraubvorrichtung zur Heilung des Kniescheibenbruchs. 
Münch, med. Wochenschr. 1908, 36. 

Bettmann empfiehlt an Stelle der Naht, für die er übrigens Katgut 
dem Silberdraht vorzieht, besonders bei veralteten Fällen von Patellarfraktur 
mit großer Diastase der Bruchstücke eine Schraubvorrichtung, deinen Konstruk¬ 
tion und Anwendungsweise am besten im Original nachgesehen wird, da eine 
Beschreibung derselben ohne Abbildungen doch nur schwer verständlich sein 

Blencke-Magdeburg. 

Krempl, Ueber Patellarfrakturen. Dissertation. Erlangen 1908. 

Krempl bespricht die verschiedenen Formen von Patellarfrakturen und 
deren unblutige und blutige Behandlung und schließt daran eine Statistik aus 
der Graserschen Klinik in Erlangen an. Von 12 Fällen wurden 4 mit un¬ 
blutigen Methoden, 7 mit olfener Knochennaht behandelt, 1 Fall war nur zur 
Begutachtung eingebracht. Das beste Resultat gaben die genähten Fälle. Zur 


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Keferate. 


695 


Enochennabt kam Silberdraht in Verwendung, die übrigen Nähte wurden mit 
Katgut ausgeführt, stets wurde ein Längsschnitt gemacht und nach der Operation 
ein Gipsverband angelegt. Blencke-Magdeburg. 

Delbet, Des luxations du genou en dehors et de leur irreductibilit4. Revue 
d’orthop. 1908, p. 387. 

Delbet glaubt, daß ein großer Teil der unter der Flagge einer Distorsio 
gravis genu segelnden Fälle ursprünglich Luxationen des Knies sind, die erst 
nach Reposition zum Chirurgen kommen. Während nun die kompletten Enie- 
luxationen mit totaler Zerreißung aller Bänder einhergehen und daher nicht 
leicht reponierbar sind, ist dies bei den inkompletten nicht der Fall. Diese 
letzteren, speziell die Luxationen nach außen, unterzieht Delbet einem genauen 
Studium. Hierbei ist von größter Bedeutung, daß man sich über die Rolle der 
seitlichen Ligamente klar wird, wozu niemals die Untersuchung des Knies in 
Extension genügt. An der Leiche beobachtete Delbet stets, daß das zerrissene 
Ligamentum laterale internum seitliche Abduktionsbewegungen im Knie nur 
bei Beugung erlaubt; sind aber derartige Bewegungen möglich, so müssen nicht 
nur das Lig. lat. internum, nicht nur beide Ligamenta cruciata, sondern auch 
die inneren Fascienbänder und der mediale Teil der hinteren Kapselteile mit 
dem medialen Teil des Gastrocnemius zerrissen sein. Dann hat wahrscheinlich 
eine richtige Luxation bestanden. Demgegenüber ist die bloße Zerreißung des 
Lig. lat. internum durch das Fehlen abnormer Abduktion in der extendierten 
Stellung und Vorhandensein derselben in der flektierten Stellung charakteri¬ 
siert, und zwar beträgt sie, gemessen an dem Klaffen der inneren Gelenk¬ 
flächen, 10—15 mm. 

Was die Reponibilität der Luxationen nach außen betrifft, so gibt es 
Fälle, die schwer, und solche, die unblutig überhaupt nicht einzurenken sind. Zu 
den ersteren gehören diejenigen, bei denen sich der Rand des Femurkondylus gegen 
die Tibiakante stemmt; sie sind bei Flexion des Kniegelenks fast stets reponibel. 
Bei den unblutig überhaupt nicht reponierbaren Luxationen ist das Hindernis 
durch die Weichteilinterposition gegeben, die entweder einen sich aus dem Lig. 
lat. internum, den seitlichen Kniescheibenbandmassen und der Aponeurose zu- 
samraensetzenden fibrösen Lappen oder durch einen aus dem unteren Teil des 
Vastus internus bestehenden Muskellappen betrifft. Diese Lappen liegen bei 
der Streckung, wie aus den beigefügten Präparatzeichnungen deutlich zu er¬ 
sehen ist, im Gelenk, und zwar so, daß der Condylus medialis femoris wie der 
Knopf in einem Knopfloch festgehalten wird. Das eigentliche Repositions¬ 
hindernis liegt nun nicht darin, daß der Femurcondylus nicht durch diese 
Oeffnung zurückgebracht werden kann, sondern darin, daß der Fascien- resp. 
Muskellappen im Gelenk eingezwängt ist. 

Für diese Fälle, deren Diagnose aus der fixierten abnonnen Lage der 
Kniescheibe und einer deutlichen Hauteinziehung unterhalb des inneren Con¬ 
dylus femoris stets zu stellen ist, tritt die Arthrotomie in ihre Rechte, wenn 
bei tiefer Narkose, rechtwinkliger Beugung des Knies und Druck der Tibia und 
Patella nach innen unter Vermeidung gewaltsamer Manöver die Luxation nicht 
zufällig und sofort einzurenken ist. Bei der Operation soll das interponierte 
Band nicht durchschnitten, sondern hebelnd über den Femurcondylus zurück- 


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Referate. 


gebracht werden. Die Prognose richtet sich dann ausschließlich danach, ob die 
Asepsis gewahrt wurde, da selbst schwere Zerreißungen nach Einrenkung sich 
schnell und vollkommen reparieren. Pe 11esohn-Berlin. 

Hartl eib, Behandlung des Hydrops genu traumaticus. Münch. med.Wochenschr. 

1908, 43. 

Hartleib berichtet über seine am eigenen Körper bei traumatischem 
Kniegelenkserguß gemachten Erfahrungen und ist auf Grund dieser zu der An¬ 
sicht gekommen, daß die am schnellsten wirkende Behandlung die folgende ist; 
Heißluftkastenbad bis 150° eine halbe Stunde lang, dann Schwammkompressions¬ 
verband, dann Massage und für die Nacht ein feuchter Verband. Sollte man 
so wider Erwarten nicht zum Ziel gelangen, erst dann wird man sich ent¬ 
schließen, das Gelenk mit einer 3° oigen Karbolsäurelösung auszuwaschen, unter 
Umständen mehrere Male. Die Patienten sollen erst aufsteben, wenn der Erguh 
einige Tage vollständig verschwunden ist, und zwar sollen dann feste Flanell¬ 
bindenwicklungen des Knies vorgenommen werden. Biencke-Magdeburg. 

H agen, Demonstration photographischer Aufnahmen von Patienten mit X- und 

0-Beinen vor und nach der Behandlung. — Aerztlicher Verein in Nürnberg. 

16. Juli 1908. — Münch, med. Wochenschr. 1908, 39. 

Die Behandlung war in den demonstrierten Fällen stets operativ; die 
Resultate waren sehr gute. Bei Horizontalrichtung des Kniegelenkspaltes wurde 
die Tibia, an der also die wesentliche Verkrümmung bestand, osteotomiert. bei 
schief gestelltem Gelenkspalt (Verkrümmung des Femur) wurde die Mac - E wen'sche 
Operation gemacht, in schweren Fällen eine zweizeitige Osteotomie au Tibia 
und Femur. Bei der Verbiegung im Unterschenkel genügte oft eine Keilexzision 
aus der Tibia, zuweilen mußte auch die Fibula schräg durchmeißelt werden. 

B1 e n c k e - Magdeburg. 

Luther, üeber Genu valgum und seine Behandlung und die Erfolge derselben. 

Dissertation. Halle 1908. 

Luther bespricht zunächst die Aetiologie des Genu valgum, um dann 
auf die verschiedenen Behandlungsmethoden überzugehen, von denen er vor 
allem die re dressieren den Gipsverbände, die Apparate mit elastischem Zug, das 
Redressement forc6, die Osteoklase und die Osteotomie einer eingehenden Be¬ 
sprechung unterzieht. Er gibt der von Mac Ewen empfohlenen keilförmigen 
Osteotomie des Femur oberhalb der Epiphysenlinie den Vorzug und berichtet 
über 31 mit dieser Methode behandelte Fälle, deren Krankengeschichten aus¬ 
führlich mitgeteilt werden. Blencke-Magdeburg. 

Muskat, Ein Beitrag zur Behandlung des Genu valgum. Deutsche med. 

Wochenschr. 1908, 28. 

Muskat ist der Ansicht, daß das X-Knie behandelt werden muß. im 
Gegensatz zu anderen auf Rhachitis beruhenden Verbiegungen. Als Behand¬ 
lung empfiehlt er neben gymnastischen Bewegungen einen Lagerungsapparat 
für die Nacht und Plattfußeinlagen. Die orthopädischen Apparate sollen so 
einfach gestaltet sein, daß die Herstellung ohne besondere Vorrichtungen mög¬ 
lich ist. Blencke-Magdeburg. 


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Referate. 


697 


Hans V. Salis, Zur Frage der blutigen Reposition bei Luxatio genu congenita. 

Zeitschr. f. Chir. Bd. 93, S. 149. 

V. Salis berichtet über einen durch Mangel der Patella komplizierten 
Fall von angeborener linkseitiger Kniegelenksverrenkung bei einem 7^ Jahre 
alten Mädchen mit gleichzeitigem Pes varus, bei dem Hübscher die blutige 
Reposition unter plastischer Verlängerung der Quadricepssehne nach Bayer 
und Bildung einer Kniescheibe aus der Tuberositas tibiae auszuführen genötigt 
war. Ein vorderer Bogenschnitt legt die Vorderseite des Gelenks frei. Stumpfes 
Herauspräparieren des Weichteillappens und Längsspaltung der in einer Aus¬ 
dehnung von ca. 6 cm freiliegenden Quadricepssehne, deren innere Hälfte oben, 
deren äußere Hälfte im Bereich ihrer Anfaßstelle an der Tibia quer inzidiert 
wird, indem man gleichzeitig ein kleinmandelgroßes Stück der Tuberositas tibiae 
auslöst. Beim Versuch der Reposition weichen die Sehnenhälften auseinander; 
doch gelingt die Einrenkung und zwar ruckweise unter schnappendem Geräusch 
erst, nachdem mit gedecktem Messer die vordere Gelenkkapsel durchtrennt ist. 
Die beiden Sehnenhälften sind voneinander abgeglitten, das Ende der lateralen 
Hälfte mit der neugebildeten Patella läßt sich ohne Spannung mit dem Ende 
der medialen Sehnenhälfte durch drei Knopfnähte vereinigen. Die Basis der 
medialen Sehnenhälfte wird mit dem lateralen Rand des KnorpeldefeKle an 
der Tibia durch drei Periostnähte vereinigt, um ihr einen direkt über die Mitte 
des Gelenkes gehenden Verlauf zu sichern, l'/a Monate nach der Operation ist 
die aktive Streckung des Kniegelenks noch nicht möglich, dagegen kann das 
Kind das erkrankte Bein zum Stehen benutzen. 

Joachimsthal. 


Patrik Haglund, Concerning some rare but important surgical injuries 
brought on by violent exercise. Lancet, July 4, 1908, S. 12. 

Die Arbeit behandelt in der Hauptsache die Schlattersche Krankheit, 
also Beschwerden, die bei Sport treibenden Kindern und jungen Leuten be¬ 
obachtet werden und in starken Schmerzen an der Ansatzstelle des Ligamentum 
patellae an der Tuberositas tibiae bestehen. Die Röntgenuntersuchung hat erst 
Licht in diese Krankheit gebracht — es handelt sich um Frakturen des 
Knochenkernes der Tuberositas tibiae. Die Beschwerden steigern sich bei 
Bewegungen — Entzündungen treten auf. 

In schweren Fällen ist Bettruhe, eventuell Schiene — in leichteren nur 
Schonung nötig. — Gehen auf ebenem Boden ist erlaubt, Treppensteigen zu 
vermeiden. 

Jedenfalls dauert die Erkrankung bis zur völligen Restitution 6 Monate 
bis 2 Jahre. 

Verfasser bespricht noch kurz Verletzungen des Epiphysenkerns des 
Calcaneus am Achillessehnenansatz. Da die Wirkung der Wadenmuskulatur 
schwer auszuschalten ist, so muß der Kranke auf ein Invalidenleben von einem 
Jahre und länger gefaßt sein. 

Die dritte Verletzung dieser Kategorie sind Absprengungen am Kern 
des Tuberculum ossis navicularis. Verursacht werden sie durch heftige Be¬ 
wegungen beim Tennisspielen und Tanzen, und werden deshalb häufiger bei 
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. XXII. Bd. 45 


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Referate. 


Mädchen beobachtet. Durch Ruhe und Vermeidung von Anstrengungen kann man 
den Patienten vor einer Invalidität von Monaten, ja selbst von Jahren bewahren. 

F. Wo hl au er-Charlottenburg. 

Martini, Sopra un nuovo apparecchio di cura delle fratture oblique e com- 
plicate della gamba. La clinica chirurgica 1908, Nr. 5. 

Es handelt sich um einen Reduktions- und Kontentivapparat, welcher 
eine genaue Reposition der Knochenfragmente gestattet, und der dadurch, daß 
er den Frakturherd offen läßt, die direkte üeberwachung des frakturierten 
Teiles, die Ausführung der Massage, die Behandlung eventueller Wunden u. s. w. 
ermöglicht. Ros. Buccberi-Palermo. 

V. Baeyer, Kongenitaler Defekt der Fibula und des V. Fußstrahles. Aerzt* 
lieber Verein München. 6. Mai 1908. Münch, raed. Wochenschr. 1908. 3^. 

Es war eine starke Atrophie und Verkürzung des Beines vorhanden mit 
starker Valgusstellung des Fußes. Da keine Narben zu finden waren, handelte 
es sich jedenfalls nicht um eine amniotische Abschnürung, sondern um eine 
intrauterine Belastungsdeformität. Blencke-Magdeburg. 

Stich, Ueber die Erfolge der operativen Behandlung der Fußgelenktuber¬ 
kulose. Deutsche med. Wochenschr. 1908, 28. 

Stich berichtet über die Erfahrungen, die in der Bonner chirurgischen 
Klinik mit der konservativen und operativen Behandlung der Fußgelenktuber¬ 
kulose gemacht wurden, und kommt auf Grund dieser zu der Ansicht, daß 
man sich nicht mit konservativen Maßnahmen aufhalten, sondern sofort operieren 
soll, wenn man einen nachgewiesenen Knochenherd entfernen kann, bevor er 
das Gelenk infiziert hat. Ist bereits eine Gelenkerkrankung vorhanden, so kann 
man in frischen Fällen ohne Fisteln bei gutem Allgemeinbefinden und jugend¬ 
lichem Alter des Kranken dann einen Versuch mit konservativen Methoden 
machen, wenn das Röntgenbild keine ausgedehnteren Knochenzerstörungen auf¬ 
weist und nur ein Gelenk erkrankt ist In allen anderen Fällen rät Stich 
sofort zur Operation, sofern nicht gegen jeden operativen Eingriff geltende 
Kontraindikationen vorliegen. Macht das Leiden trotz konservativer Behand¬ 
lung, die dauernd durch Röntgenbilder zu kontrollieren ist, in kurzer Zeit 
wesentliche Fortschritte, oder tritt nach längerer Zeit keine merkliche Besse¬ 
rung ein, so soll gleichfalls operiert werden. Blencke-Magdeburg. 

Bien cke, Arthropathia tabica des Fußgelenks. Med. Gesellschaft zu Magde¬ 
burg, 2. April 1908. Münchn. med. Wochenschr. 1908, 36. 

Blencke demon.striert die Röntgenbilder einer tabischen Fußgelenks¬ 
erkrankung. Auf dem ersten Bilde war nur eine Fraktur an der Tibia, im 
übrigen keinerlei Veränderung am Gelenk sichtbar. Das zweite Bild wurde 
6 Wochen später aufgenommen und ließ zahlreiche Frakturen an der Tibia. 
Fibula und am Talus erkennen. Das Gelenk war ganz deformiert. Irgend ein 
Trauma hatte in der Zwischenzeit nicht stattgefunden. Sonstige Zeichen einer 
Tabes waren nicht vorhanden. Patient trägt einen Schienenhülsenapparat und 
kann seinem Beruf nachgehen. Blencke-Magdeburg. 


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Referate. 


699 


Zoeppritz, Arthropathia tabica pedis. Med. Gesellschaft zu Kiel, 19. Juni 1908. 
Münch, med. Wochenschr. 1908, 32. 

Zoeppritz stellt einen Fall von Arthropathia tabica pedis vor, der in¬ 
sofern sehr interessant war, als zunächst nichts auf eine schwere Zerstörung 
der Fußwurzelknochen hinwies. Der Sitz des Leidens schien vielmehr das untere 
Drittel des Unterschenkels zu sein, das eine starke Schwellung zeigte, während 
Fußgelenk und Fußrücken weniger geschwollen waren. Die Röntgenbilder er¬ 
gaben eine völlige Zertrümmerung des Talus, dessen Hals fehlte; das Os na- 
viculare erschien wie breitgedrückt, die Zeichnung des Calcaneus war ver¬ 
schwommen. Trotz dieser Veränderungen war der Patient zu Fuß in die Klinik 
gekommen, wo dann die vorgenommene Nervenuntersuchung das Vorliegen 
einer Tabes im präataktischen Stadium ergab. B1 e n c k e - Magdeburg. 

Sievers, Isolierte Talusluxation. Med. Gesellschaft zu Leipzig, 30. Juni 1908. 
Münch, med. Wochenschr. 1908, 35. 

Die genaue Diagnose wurde in dem vorliegenden Fall erst durch eine 
Röntgenaufnahme ermöglicht. Es handelte sich um eine isolierte Talusluxation 
nach innen und außen, kombiniert mit Drehung des Talus um die sagittale 
Achse um 45 ®, während zugleich der hintere Teil des Taluskörpers mit dem 
Proc. post, tali abgebrochen war. Der Talus wurde exstii*piert; es erfolgte 
glatte Heilung mit gutem funktionellem Resultat. Blencke-Magdeburg. 

Nast-Kolb. Ueber indirekte Mittelfußbrüche. Münch, med. Wochenschr, 
190S, 35. 

Verfasser teilt die Krankengeschichten von zwei jungen Mädchen mit, 
bei denen ohne vorhergegangenes nennenswertes Trauma eine schmerzhafte 
Anschwellung eines Fußes eintrat. Bei der Röntgenuntersuchung zeigte sich 
in beiden Fällen eine Fraktur eines Metatarsus. Solche Fälle sind bis jetzt 
fast ausschließlich bei Soldaten als sogen, militärische Fußgeschwulst beobachtet 
und beschrieben worden, kommen aber sicher auch im Zivilleben bei jugend¬ 
lichen Individuen nicht so selten vor. Nast-Kolb empfiehlt, in allen ähn¬ 
lichen Fällen die Diagnose durch Röntgenaufnahmen zu sichern. 

Blencke- Magdeburg. 

Lenorraant, L’intervention chirurgicale dans les luxations irreductibles et 
anciennes de Tarticulation de Lisfranc. Arch. gener. de chir. 2. Jahr¬ 
gang Nr. 6. 

Die Luxationen im Lisfrancschen Gelenk gehören zu den Seltenheiten. 
In einem Falle von totaler Luxation des gesamten Metatarsus nach außen und 
ein wenig nach oben, die 3 Monate alt und irreduktibel war, schritt Lenor- 
mand zur Operation. Diese bestand in partieller Resektion des Cuneiforme I, 
Reposition der Luxation, die aber erst, und zwar nicht völlig, durch Fixation 
mittels dreier Silbernähte und Eingipsen aufrecht zu erhalten war. 

Bisher sind 86 Fälle von Luxatio tarso-metatarsea bekannt; davon be¬ 
treffen 50 Luxationen den ganzen Metatarsus, 46 solche von Teilen desselben. 
Aus dem Studium aller dieser Fälle ergibt sich, daß ein großer Teil (23,6®)o) 
von vornherein irreduzierbar ist, daß die totalen hierbei ein größeres Kontingent 


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Referate. 


stellen als die partiellen. Die hauptsächlichsten Üi-sachen für den Mißerfolg 
geben ab die Interposition der Sehne des Tibialis anticus in Höhe der Articu- 
latio cuneo-metatarsea prima und die Einkeilung von Fragmenten, wenn gleich¬ 
zeitig Frakturen bestehen. Da der operative Eingriff diese Hindernisse leicht 
beheben kann, ist er immer indiziert, umsomehr, als die Resultate dann sehr 
befriedigend sind. — Bei den veralteten Luxationen sind die Erfolge der Opera¬ 
tion infolge der Veränderungen der Gelenkflächen, der Adhäsionen und der 
Verknöcherung der Bänder ziemlich mittelmäßig. Ein sicheres Urteil über den 
Wert des Eingriffs läßt sich aber noch nicht abgeben; man sollte ihn auf die 
Fälle mit dauernden und schweren funktionellen Störungen beschranken und 
sich desselben enthalten, wenn die Luxation einen Gang ohne Ermüdung oder 
Schmerz erlaubt. Peltesohn -Berlin. 

Wette, Zwei Fälle von Luxation im Metatarsophalangealgelenk. Doppelseitiger 

Abriß der Streckaponeurose am Mittelfinger. Münch, med. Wochenschr. 

1908, 37. 

In dem einen Fall handelt es sich um eine plantare Luxation der drei 
mittleren Zehen. Da unblutiger und blutiger Repositionsversuch in Narkose 
mißlangen, mußten die Köpfchen der drei Metatarsi reseziert werden. Der 
Gipsverband wurde in Supinationsstellung angelegt; die Nachbehandlung be¬ 
stand in Massage und mediko-mechanischen Uebungen und im Tragen einer 
Plattfußeinlage. Im zweiten Falle waren die drei mittleren Zehen dorsal luxiert 
Die Reposition gelang in Narkose, und es wurde ein Gipsverband in Valgus- 
Stellung angelegt. 

Sodann berichtet Wette noch über einen Fall von Abriß der Aponeurose 
an beiden Mittelfingern durch gleiche Ursache. — Hängenbleiben des Fingers 
zwischen Strumpf und Strumpfband. Patientin war rhachitisch, hatte zugleich 
habituelle Patellarluxation, ebenso eine Schwester und die Mutter. Die Röntgen¬ 
aufnahme ergab normale Knochenverhältnisse. Biencke-Magdeburg. 

Adolph Hoff mann, Ueber die isolierte Fraktur des Os naviculare tarsi. 

Beitr. z. klin. Chir. Bd. 59, Heft 1. 

Ho ff mann beobachtete bei einem 20jährigen Lehrling, der 4 Monate 
zuvor von einem 5 m hohen Dache mit beiden Beinen auf Steinpflaster und 
zwar mehr mit der rechten Seite aufgefallen war, eine Kompressionsfraktur 
des rechten Os naviculare tarsi. Im Liegen bestanden zur Zeit der Unter¬ 
suchung keine Schmerzen, wohl aber bei der Belastung des Fußes. Die Kon¬ 
turen der Malleoli, besonders des Malleolus internus, waren infolge eines leichten 
Oedems rechts nicht so scharf als links. Das rechte Os naviculare war aut 
Druck schmerzhaft. Am Röntgenbilde erwies sich der ganze mediale Abschnitt 
des Kahnbeins intakt, etwa bis zu seiner Mitte, der laterale war schwer ver¬ 
ändert, in der Richtung der Längsachse des Fußes beträchtlich verschmälert; 
auch erkannte man in dorsoplantarer Ansicht mehrere Fragmente. Trotzdem 
der mediale Teil des Naviculare gar keine Veränderungen aufwies, war doch 
klinisch eine Verkürzung der Innenseite des Fußes um ca. V* cm zu konstatieren, 
eine Tatsache, die übrigens auch durch Messungen an den sowohl in tibio- 
fibularer als auch dorsoplantarer Richtung aufgenommenen Röntgenbildem be- 


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Referate. 


701 


«tätigt wurde. Dieser zunächst etwas befremdende Befund findet eine sehr 
einfache Erklärung darin, daß bei dem Bruch des Naviculare auch seitlich, nach 
Sprengung der Bänder etwas herausgepreßt worden ist, wodurch zwischen 
Taluskopf und die Cuneiformia ein etwas schmälerer komprimierter Teil des 
Naviculare zu liegen kam, demgemäß sich auch die Distanz zwischen diesen 
Knochen veränderte. Mit einem Plattfußstiefel konnte Patient ohne Beschwerden 
gehen, ohne denselben waren trotz der angewandten Massage und Bewegungs¬ 
behandlung die Beschwerden dieselben, wie früher. Joachimsthal. 

Tietze, Beiträge zur Kenntnis des Entstehungsmechanismus und der wirt¬ 
schaftlichen Folgen von Fersenbeinbrüchen. Arch. f. Orthopädie, Mechano- 
therapie und Unfallchirurgie Bd. 6, Heft 4. 

Tietze bespricht zunächst die pathologische Anatomie und Entstehungs¬ 
weise der Fersenbeinbrüche und stellt sich auf die Seite derjenigen, die an¬ 
nehmen, daß die Vorstellung eines Kißbruches nur sehr selten zur Erklärung 
ausreicht, und daß es sich wohl ausnahmslos um Eompressionsbrüche des Cal- 
caneus handelt, deren besondere Gestaltung teils durch die Art der einwirkenden 
Gewalt, teils durch den eigentümlichen Faserverlauf der Spongiosa und die 
Wirkung des vorhandenen Bandapparates hervorgerufen wird. Das Studium 
der Röntgenbilder der von ihm beobachteten Fälle hat ergeben, daß sich keine 
isolierten Brüche seitlicher Fortsätze fanden und niemals eine Bruchform, die 
als Rißfraktur hätte gedeutet werden müssen; es lagen im Gegenteil stets so¬ 
genannte Kompressionsfrakturen vor, deren Zustandekommen nicht allein auf 
Rechnung einer Belastung von oben kam, sondern bei denen auch der Boden¬ 
druck, der Handapparat und die Spaltrichtung des Knochens eine entscheidende 
Rolle spielten. Die Bruchform wechselte im hohen Grade je nach der Richtung 
der einwirkenden Gewalt. Die Ansicht mancher Autoren, daß nach einer Cal- 
caneusfraktur wohl niemals eine normale Funktion zu erwarten sei, sucht 
Tietze durch eine beigegebene Statistik aus dem Breslauer Institut für Unfall¬ 
verletzte zu widerlegen, der 200 Fälle zu Grunde gelegt sind. Von 76 Patienten, 
deren definitives Schicksal bekannt ist, wurden 24 vollkommen erwerbsfähig, 
die übrigen erhielten Dauerrenten, und zwar mehr als die Hälfte durchschnitt¬ 
lich nur 15®/o- Tietze legt seine Patienten für 10—14 Tage in einen Gips¬ 
verband in Vnrusstellung, den er dann durch eine Gipshülse mit Gehbügel er¬ 
setzt, welche den Fuß freiläßt und Bewegungen und Massage gestattet; nach 
6 Wochen erhalten sie dann einen Schienenhülsenapparat, den sie mindestens 
*'2 Jahr tragen müssen. Blencke-Magdeburg. 

Klingelhöfer, Ueber die Kirchnersehe Fußgeschwulst. Aerztl. Verein in 
Frankfurt a. M. 6. Juli 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 45. 

Klingelhöfer zog sich selbst einen Bruch des 2. Metatarsus, etwa 
1 cm hinter dem Köpfchen zu, der unbemerkt in einem dünnen Stiefel auf nassem 
Waldweg entstanden war, wahrscheinlich dadurch, daß K. den Fuß beim Treten 
in ein feuchtes Wagengeleise unvermutet belastete. Sechs Wochen später war 
<lie Gesamtstörung eine sehr beträchtliche, was für die Begutachtung derartiger 
Fälle von Wichtigkeit sein dürfte. B1 e n c k e - Magdeburg. 


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702 


Referate. 


Köhler, üeber eine häufige, bisher anscheinend unbekannte Erkrankung ein¬ 
zelner kindlicher Knochen. Mönch, med. Wochenschr. 1908. 37. 

Köhler beschreibt 3 Fälle, bei denen sich eine eigentümliche Erkran¬ 
kung des Os naviculare, in einem Falle außerdem auch noch der Patella fani 
Alle drei Patienten klagten über mehr oder weniger heftige Schmerzen in der 
Gegend der medialen Hälfte des Dorsum pedis, vorwiegend in der Gegend des 
Os naviculare, ohne daß sich äußerlich etwas feststellen ließ. Die Knochen 
waren, wie die beigegebenen Röntgenbilder erkennen lassen, bedeutend kleiner 
als normal, von unregelmäßiger Gestalt; die Corticalis und Spongiosa waren 
verschmolzen, der Kalkgehalt vermehrt. Die Beschwerden besserten sich don'h 
die Behandlung und Schonung der betreffenden Gliedmaßen, um schließlich 
ganz nachzulassen. In allen 3 Fällen trat nach 1 \ 2 —2V* Jahren Heilung ein. 
Die Aetiologie war nicht klar, jedenfalls schienen Tuberkulose und Rhachia« 
nicht die Ursache zu sein. B1 e n c k e - Magdeburg. 

D o b i s c h, Zur Aetiologie der Köhler sehen Knochenerkrankung. Mönch, med. 
Wochenschr. 1908. 44. 

Dobisch berichtet über einen Fall von heftigen Schmerzanfällen in der 
Gegend der unteren Epiphysen beider Schienbeine und später beider Kniee bei 
einem 3jährigen Knaben, dessen Mutter während der Schwangerschaft mit Gonor¬ 
rhöe infiziert wurde und eine schwere gonorrhoische Kniegelenksenizündung 
durchmachen mußte. Dobisch wirft die Frage auf, ob nicht die gonorrhoische 
Infektion der Mutter in der Aetiologie der Köhlerschen Knochenerkrankung 
eine Rolle spielen könnte. Biencke-Magdeburg. 

0. V. Frisch, Die Gleichsche Operation und ihre Bedeutung in der Therapie 
des Plattfußes. Archiv f. klin. Chir. Bd. 87, Heft 2. 

V. Frisch empfiehlt auf Grund von Erfahrungen an der v. Eisels- 
bergschen Klinik die Gleichsche Operation für die Behandlung schwerer 
statischer Plattfüße. Dieselbe wurde in den letzten 5 Jahren 18mal ausgeführt, 
durchwegs bei schweren Plattfüßen, 5mal einseitig, ISmal an beiden Füßen. 
Es wurden dazu ausschließlich junge Leute gewählt, welche durch ihr Leiden 
arbeitsunfähig waren. Von den 15, welche vor mehr als 2 Jahren operiert 
worden sind, sind 10 vollkommen geheilt und üben durchweg einen schweren 
Beruf aus. Drei weitere Patienten sind gebessert, sie können mehrere Stunden hin¬ 
durch gehen oder stehen, klagen aber, daß sie leicht ermüden und bei stärkerer 
Anstrengung oder bei Witterungswechsel Schmerz empfinden. Die Operation 
wurde stets in der von Brenner modifizierten Weise ausgeführt. Eine Keil¬ 
exzision, wie sie Gleich neben der einfachen Osteotomie angab, "wurde an 
der V. Eiselbergschen Klinik nie ausgeführt, vielmehr stets nur die Ver¬ 
schiebung des Fersenhöckers nach innen, unten und vorn. Ein schräger 
Schnitt, fingerbreit hinter dem Malleolus externus, durchtrennt die Haut des 
Unterhautzellgewebes, die Achillessehne und das Periost des Calcaneus. Beim 
Durchtrennen des Knochens wählt man den Meißel gleich so breit, daß mit dem 
einmaligen Durchschlagen desselben der Knochen vollkommen abgetrennt wird. 
Damit vermeidet man Splitterungen und erhält eine ebene Meißelfläche, wie sie 
zur nachfolgenden Verschiebung vorteilhaft ist. Nach vollzogener Osteotomie 


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Referate. 


703 


lEuß auch das Periost an der Innenseite der Ferse durchschnitten werden; dies 
gelingt leicht mit einem starken Messer, welches in die bereits klaffende Knochen¬ 
spalte eingeführt wird, ist aber notwendig, um eine freie Verschieblichkeit des 
abgemeißelten Knochenstückes nach allen Richtungen zu erhalten. Solange 
letzteres nicht in ausgiebigem Maße möglich ist, ist das Periost noch an irgend 
einer Stelle intakt und muß durchtrennt werden. Hierauf gelingt es leicht, das 
Fragment parallel zur Schnittfläche nach Gutdünken zu verschieben. Es emp¬ 
fiehlt sich in jedem Falle, dasselbe um die Dicke eines kleinen Fingers nach 
abwärts und etwas weniger nach innen zu verschieben. Ist in dem gegebenen 
Falle die Valgität des Fußes besonders stark, so nimmt man die seitliche Dis¬ 
lokation etwas größer. Die gewählte Lage des Fersenhöckers muß mit einem 
Fingerdruck von außen und oben fixiert werden, während ein kräftiger Nagel 
von der Kuppe der Ferse aus in gut zentrierter Richtung das Fragment an das 
Corpus calcanei festheftet. Nach 10—14 Tagen schneidet man an der Ferse 
ein kronenstückgroßes Loch in den nach der Operation angelegten Verband und 
entfernt, ohne die Haut freizulegen, den bis dahin meist lockeren Nagel, indem 
man ihn mit einer Kornzange faßt und heraustorquiert. Nach den ersten 
3 Wochen, die Patient im Bette zubringt, wird ein zum Auftreten geeigneter 
Oipsverband angelegt. Nach Ablauf weiterer 2 Wochen wird den Bewegungen 
des Fußes durch Entfernen resp. Weichklopfen einzelner Teile des Verbandes 
ein größerer Spielraum gelassen. 6 Wochen nach der Operation ist meist ein 
weiterer Verband nicht mehr nötig. Es dauert in jedem Falle einige Monate, 
ehe die Operierten eine gehende oder stehende Beschäftigung wieder aufnehmen 
können. Das Tragen von Einlagen oder Schienen nach der Operation ist nicht 
nötig. Die Besserung nimmt spontan zu. Bei den geheilten Kranken ist nach 
Ablauf mehrerer Jahre häufig eine vollkommene Rückbildung der Difformität 
zu konstatieren. Nicht selten treten trotz reaktionsloser Heilung Fisteln in der 
Narbe auf, welche sich lange Zeit nicht schließen wollen, bis endlich ein kleiner 
Sequester abgestoßen wird, worauf die Wunde rasch verheilt. Es handelt sich 
in diesen Fällen offenbar um kleine Splitter, die während der Operation durch 
ungleiches Meißeln gelöst werden und nicht mehr einheilen. Eben wegen dieser 
Komplikation ist es ratsam, mit einem möglichst breiten Meißel zu arbeiten. 

Joachimsthal. 


Hübscher, Die Behandlung des kontrakten Plattfußes im Schlafe. Zentralbl. 
f. Chirurg. 1908. Nr. 421. 

Ausgehend von der Erfahrung, daß der reflektorische Muskelspasmus 
während des natürlichen Schlafes verschwindet, empfiehlt Hübscher, während 
der Nachtruhe den Fuß in volle Supination zu bringen. Er verwendet dazu 
eine anschnallbare Sandale aus Lindenholz, an der zwei Gummischläuche innen, 
einer außen so angebracht sind, daß sie durch enge Löcher des Brettchens 
durchgezwängt sind und hier selbsttätig halten. Oben werden sie an einem 
am inneren Tibiaknorren anbandagierten Heftpflasterstreifen befestigt. Durch 
Nachziehen der unteren Schlauchenden kann ein kräftiger Supinationszug aus¬ 
geübt werden. Das Brettchen wird angeschnallt und der Zug in Aktion gesetzt, 
«obald Patient sich zur Ruhe begeben hat. Bereits am nächsten Morgen soll 


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704 


Referate. 


der Fuß ohne jede Anstrengung aktiv supiniert und proniert werden können. 
Die Immobilisierung der Füße im Gipaverband soll durch diese Behandlung 
umgangen werden können. B1 e n c k e - Magdeburg. 

Muskat, Stauungshyperämie bei fixiertem Plattfuß. Berl. klin. Wochenschr. 
1908, 26. 

Muskat sieht in der Hyperämie ein Mittel gegen die Fixation des be¬ 
ginnenden Plattfußes, das geeignet ist, schnell und mühelos zu wirken. Er 
verwendet sowohl die aktive wie auch die passive Hyperämie, die aktive durch 
Bestrahlung mit einer intensiv heiß wirkenden elektrischen roten Lichtquelle, 
die passive mittels Anlegen einer Staubinde. Mitunter gelingt es schon nach 
einer einmaligen Sitzung, die Beschwerden und die Spannung so weit zu lösen, 
daß die inzwischen angefertigte Einlage benutzt werden kann. 

B1 e n c k e • Magdeburg. 

Girardi, Sullo stiramento dei nervi plantari come preteso metodo di cura 
deir ulcera perforante del piede. 

Verfasser beschreibt drei klinische Fälle von Ulcus perforans des Fußes, 
in denen er gewissenhaft die von Chipault für die Behandlung dieses Leidens 
diktierten Regeln durchgeführt hat. Er kommt zu dem Schluß, daß die 
Streckung der Plantarnerven keine Garantie für Heilung gewährt, da sie nicht 
im stände ist, die normale physiologische Integrität der beschädigten Gewebe 
wieder herzustellen. Ros. Buccheri*Palermo. 

Kölliker (Leipzig), Zur Klumpfußbehandlung. Zentralbl. f. chirurg. und 
mechan. Orthopädie Bd. II, Heft 11. 

Köl liker beschreibt in Kürze die Grundsätze der Klumpfußbehandlung 
in der Leipziger Poliklinik für Orthopädie. Danach enthält er sich bei Kindern 
unter einem Jahre aller eingreifenden Maßnahmen, er wendet nur Massage 
und redressierende Manipulationen an, sowie seine Klumpfußschiene. Ist der 
Klumpfuß gut beweglich geworden, so folgen Heftpflasterzugverband, Gips¬ 
verbände und zur Nachbehandlung ein Schienenhülsenapparat. Bei älteren 
Kindern erfolgt das gewaltsame Redressement in einer oder in mehreren 
Sitzungen, Gipsverbände und Schienenhülsen. Erst bei Klumpfüßen, die ,dem 
einfachen Redressement nicht mehr zugänglich* sind, werden Sehnen- und 
Faszienschnitte ausgeführt, die Tenotomie der Achillessehne, die offene Durxb- 
schneidung der Sehne des Tibialis posticus und die offene oder subkutane Durch¬ 
schneidung der Plantarfaszie. Genügen auch diese Eingriffe nicht zur Korrektur, 
so wird noch die supramalleolare Osteotomie der Fibula oder die subperiostale 
Resektion des Malleolus lateralis ausgeführt. Nur bei schwerstem Klumpfuß 
Erwachsener ist die Talusexstirpation angezeigt. 

Danach scheint in Leipzig bei der Behandlung junger Klumpfüße etwas 
wenig, bei derjenigen älterer etwas viel zu geschehen. 

Pfeiffer-Frankfurt a. M. 

Lange, Zur Behandlung des Klumpfußes. Archiv für Orthopädie, ßd. 6, 
Heft 2—3. 

Lange benutzt eine Kritik Schultz es, um die Methode seiner Klump¬ 
fußbehandlung, in der Hauptsache eine Schienenbehandlung, ausführlicher za 


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Referate. 


705 


beschreiben. Er unterscheidet dabei die Klumpfußbehandlung von Kindern in 
den ersten Lebensjahren und von älteren Kindern und Erwachsenen. Bei 
ersteren beläßt Lange nach dem Redressement den Gipsverband nur 2 Tage, 
um dann eine nach dem redressierten Fuße gearbeitete Schiene aus Zelluloid- 
«tahldraht anzulegen. Er vermeidet dadurch Decubitus- und Ekzemgefahr und 
die schwere Schädigung der Muskulatur durch die Gipsverbände. Dagegen 
haben seine Schienen den Vorteil, ebensogut zu redressieren wie der Gipsverband 
und von der zarten Haut des kindlichen Körpers gut vertragen zu werden. Ihre 
Herstellung ist so einfach, daß sie vom Arzt ohne Hilfe des Bandagisten an¬ 
gefertigt werden können, und ferner sind sie so einfach zu handhaben, daß sie 
von den Eltern selbst angelegt werden. — Die Lange sehe Behandlung 
älterer Klumpfüße ist von der allgemein üblichen nicht verschieden. Freilich 
sind mit dem Redressement in späteren Lebensjahren oft schwere Gefahren 
verbunden. Deshalb empfiehlt Lange mit Recht, mit der Klumpfußbehandlung 
so früh wie möglich zu beginnen und sich durch die Schwierigkeiten, welche 
die Klumpfüße der Säuglinge der Behandlung entgegensetzen, nicht abschrecken 
zu lassen. Pfeiffer-Frankfurt a. M. 

Schultze, Entgegnung auf die Arbeit Langes ,Zor Behandlung des Klump¬ 
fußes*. 

Lange, Zur Behandlung des Klumpfußes. Schlußwort. Arch. f. Orthopädie, 
Mechanotherapie und Unfallchirurgie Bd. 6, Heft 4. 

Da die beiden Arbeiten rein polemischen Charakters sind, eignen sie 
sich nicht zu einem kurzen Referat. Ich muß mich deshalb darauf beschränken, 
auf die Arbeiten zu verweisen. Blencke-Magdeburg. 

Oskar Vulpius, Die Behandlung des angeborenen Klumpfußes. Therapeutische 
Rundschau Nr. 44, S. 645. 

Vulpius sucht dem Praktiker Direktiven für sein Verhalten gegenüber 
dem angeborenen Klumpfuß zu geben. Die Behandlung soll so früh als möglich 
begonnen werden. Dieses ,möglich* ist bedingt einmal durch den Zustand des 
Neugeborenen. Wir werden ein an sich schwaches Kind nicht durch schmerz¬ 
hafte Manipulationen schädigen dürfen, in jedem I'alle aber auch bei gut ent¬ 
wickelten Patienten das Ende des ersten Lebensmonats abwarten. Eine weitere 
wesentliche Bedingung sind die sozialen Verhältnisse der Eltern. Da eine im 
ersten Lebensvierteljahr eingeleitete Therapie fast tägliche Inanspruchnahme des 
Arztes nötig macht, so wird man bei Armen lieber etwas länger zuwarten, um 
dann bei den drei und vier Monate alten Kindern energischere und darum 
rascher zum Ziele führende Mittel anzuwenden. Gegenüber den Erfolgen des 
,modellierenden* Redressements bei der überwiegenden Mehrzahl der Klump¬ 
füße verweist Vulpius auf die nach seinen Erfahrungen immerhin 10—15 Prozent 
der Klumpfüße betragenden Ausnahmetälle, in denen hochgradige Knochendeformi- 
täten, insbesondere des Talus und zwar sowohl im Bereiche des oberen w'ie des 
unteren Sprunggelenks, vorliegen, die es unmöglich erscheinen lassen, die nach 
vorn verbreiterte Rolle des in Equinusstellung stehenden Talus auf unblutigem 
Wege in die Malleolengabel hineinzuzwängen oder den rechtwinklig abgeknickten 
Vorderfuß in die Längsachse des Calcaneus zu stellen, ohne zugleich eine Sub¬ 
luxation zu erzeugen. Hier glaubt Vulpius nicht ohne blutige Eingriffe — Aus- 


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706 


Iteferate. 


höhlung des Talus, Exstirpation des Talus, Durchmeißelung oder Infraktion des 
äußeren Malleolus, Keilresektionen — auskomraen zu können. 

Joachimsthal. 

Riedinger, Hackenfuß nach Spitzfuß (Pes calcaneus traumaticus). Archiv 
f. physikalische Medizin Bd. III, Heft 2. 

Riedinger beschreibt einen der seltenen Fälle von doppelseitigem Pfö 
calcaneus traumaticus, der sich nach Tenotomieen der Achillessehne wegen 
Spitzfußes entwickelt hatte. Für die mechanische (speziell dynamische) Ursache 
der Deformität hält Riedinger mit Recht die Funktion des Musculus peroneus 
longus, für die kritische den Umstand, daß der Unterschenkel, wenn der Zug 
am Calcaneus fehlt und der Musculus tibialis anterior intakt ist, beim auf¬ 
rechten Stehen nach vorn sinkt und den Fuß in Dorsalflexionsstellung versetzt 
Um nun dem Bein eine festere Stütze zu verschaflfen, ist der Patient genötigt, 
durch Steilstellung des Calcaneus und Verlagerung der Schwerlinie nach rück¬ 
wärts das Tuber calcanei möglichst in die verlängerte Tibiaachse nach vorn 
und sogar darüber hinaus zu bringen. Der Peroneus longus wird dadurch zum 
Dorsalflektor des hinter dem Chopar t sehen Gelenk gelegenen Fußabschnittes. 

Pfeiffer -Frankfurt a. M. 

Heinlein, Ueber Hallux valgus. Nürnberger med. Gesellschaft. Sitzung vom 
2. April 1908. Münch, med. Wochenschr. 1908, 35. 

Demonstration eines Leichenpräparates mit den für dieses Leiden charak¬ 
teristischen Veränderungen. An Stelle der äußeren Seitenbandinsertion am 
Köpfchen des I. Metatarsus findet sich eine mit Osteophyten bedeckte Hervor- 
ragung; sonst überwiegen an Synovialis und knorpeligen Gelenkflächen die Vor¬ 
gänge des Schwundes. Biencke-Magdeburg. 

Berard et Rendu, Hallux varus acquis avec clinodactylie interne des autres 
orteils. Revue d'orthop. 1908, p. 411. 

Der vorliegende Fall betrifft eine 60jährige Frau, bei der zufällig die 
ungewöhnliche Zehenstellung bemerkt wurde. Die große Zehe steht rechte in 
Varusstellung von 85®, die übrigen Zehen ebenfalls, doch in von der medialen 
nach der lateralen Seite abnehmender Hochgradigkeit. Diese Cliuodaktvlie be¬ 
trifft bei der dritten Zehe nur die beiden Fmdphalangen, bei den übrigen alle 
drei Phalangen. Schmerzen bestehen nicht, dagegen Analgesie und Wärme¬ 
anästhesie der Zehen. Der Patellarreflex ist erloschen. Auf dem Röntgenbilde 
erscheinen Osteophyten an den meisten Gelenken. Unter Ausschluß der anderen 
Aetiologieen (kongenitale Deformität, Gicht, Rheumatismus tuberculosus) ge¬ 
langten Verfasser zu der Ansicht, daß die Affektion als eine Erscheinung ent¬ 
weder der myelopathischen Phase (dritte Periode) des chronischen deformieren¬ 
den Rheumatismus oder einer latenten, mit osteoarthritiseben Veränderungen 
einhergehenden Tabes aufzufassen ist. Peltesoh n-Berlin. 

Martin, Zur Behandlung der Zehenkontrakturen, insbesondere der .Hammer¬ 
zehe*. Zeitschr. f. ärztliche Fortbildung 1908, 19. 

Martin verwendet bei Zehendeformitäten den elastischen Zug in Form 
eines schmalen Gummistreifens nach Korrektur der Deformität, die meist keine 


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Referate. 


707 


großen Schwierigkeiten bereitet. Der mittlere Teil des Streifens wird so durch 
die Zehen geflochten, daß er die Stellung derselben korrigiert, und seine Enden 
spiralig am Fuß und Unterschenkel in die Höhe geführt und dort durch ein 
Paar nicht zu feste Bindentouren befestigt. Der Gummistreifen gestattet, wenn 
er richtig angelegt ist, den Zehen die nötigen Bewegungen, die einem eventuell 
beim Stehen und Gehen erfolgenden Druck ausweichen können, aber doch 
jedesmal durch den elastischen Zug des Streifens in die korrigierte Stellung 
zurückkehren. Der Gummistreifen stört den Patienten in der Regel gar nicht; 
man kann mit demselben, je nachdem man ihn von oben oder von unten über 
die difForme Zehe führt, eine Zehe niederdrücken oder heben, man kann auch 
mehrere Zehen gleichzeitig in ihrer Stellung korrigieren. 

Blencke - Magdeburg. 

Couteaud, Etüde sur Torteil en marteau. Revue de Chirurgie Bd. 28, 
Nr. 7, p. 68. 

Die Hammerzehe, welche Couteaud auch bei sehr vielen wilden Völker¬ 
stämmen antraf, kann dreierlei Ursachen haben, mechanische, anatomische, 
dyskrasische. Während bei den Kulturvölkern das mechanische Moment prä¬ 
dominiert, kann bei gewissen wilden Völkern nur das dyskrasische angeschuldigt 
werden. Seine Anschauung stützt sich auf die Beobachtung, daß in den Hoch¬ 
plateaus von Madagaskar die weitaus größte Zahl von Deformitäten der unteren 
Extremitäten vorkommt, Klumpfüße, überzählige Zehen, Hallux valgus, Hohl¬ 
füße, Hammerzehen etc., und daß hier 80 Proz. aller Einwohner syphilitisch 
oder hereditär-syphilitisch sind. Er betrachtet also die Hammerzehe ebenfalls 
als eine Folge der Lues, wie ja Fournier auch die angeborenen Extremitäten- 
mißbildungen als solche ansieht. 

Bei leichten Fällen der Kinder, soll man mit Apparaten die Hammer¬ 
zehe zu heilen suchen; in leichten oder mittelschweren Fällen der Erwachsenen 
muß die keilförmige Osteotomie an den Phalangen ausgefübrt, in den schweren 
Fällen letztere Methode mit der Durcbschneidung der Flexor- und der 
Extensorsehne kombiniert werden. Peltesohn-Berlin. 


Zur Richtigstellung betr. die Publikation des Herrn Dr. Brandenberg 

betitelt: 

Ein Fall von Spondylolistbesis mit Mißbildung des Kreuzbeins bei einem Jüngling 
von 17 Jahren (Bd.XXI, Heft 1—3, S. 219). 

Von Dr. Gustav Baer, Zürich. 

Der Unterzeichnete sieht sich veranlaßt, zur oben zitierten Arbeit folgende 
Bemerkungen zu machen. 

Der in genannter Veröffentlichung erwähnte Patient wurde mir von Herrn 
Dr. Brandenberg zur Untersuchung gesandt (4. September 1907), nachdem 
bereits eine zweimal anderwärts versuchte radiographische Aufklärung resultat¬ 
los verlaufen war. Gemäß der erhaltenen Zuschrift wurde ich um Klarstellung 
der „Geschwulst“, „röntgenologische Festlegung des Sitzes, der Ausdehnung und 
Struktur des Tumors“, sowie „um meine Ansicht in diagnostischer Hinsicht“ 
gebeten. 


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708 


Richtigstellung. 


Es gelang mir dann, durch die äußere Untersuchung lestzustellen, daß 
der Sitz der ,Geschwulst* nicht identisch war mit der vorhandenen Lenden¬ 
kyphose und daß die Kyphose auch wegen ihrer Ausgleichbarkeit sekundären 
Charakter hatte. Die Röntgenogramme zeigten dann auch, daß die .Geschwulst* 
den unterhalb liegenden Abschnitten des 1. und 2. Sakralsegmentes angehörte 
und einfach in einer Mißbildung dieser Knochen mit Einsenkung derselben nach 
vorn zu bestand. Die spondylolisthetische Form konnte durch eine Quer¬ 
aufnahme des Beckens gesichert werden. 

Diese Ergebnisse berichtete ich einläßlich dem Verfasser obigen Artikels 
in einer Zuschrift. 

Trotzdem aus obigem Tatbestand ersichtlich ist, daß eine auch nur ver¬ 
mutungsweise zutreflPende Diagnose von Herrn Dr. Brandenberg vor meinen 
Untersuchungen nicht gemacht worden ist, hat er die Sache im genannten 
Artikel so dargestellt, als ob es sich nur um eine Bestätigung seines selbst¬ 
gefundenen Untersuchungsresultates handle. 

Sein Verlangen, ihm die Originalplatten auszuhändigen, damit er den 
Fall unter seinem eigenen Namen allein publizieren könne, mußte ich nach 
obiger Sachlage abschlägig beantworten, trotzdem er dasselbe damit motivierte, 
daß der .Patient“ sein .eigenes geistiges Eigentum“ sei. 

Die von ihm angesuchte Entscheidung durch den Ehrenrat und das Plenum 
der Gesellschaft der Aerzte der Stadt Zürich hat alsdann das radiologische 
Publikationsrecht ausdrücklich mir zugesprochen und ihn mit seiner Beschwerde 
ganz abgewiesen. 

Dennoch hat er sich nunmehr erlaubt, ohne vorherige Verständigung mit 
mir, die ihm seinerzeit übersandten Pausen und Kopien, die von meinen Auf¬ 
nahmen herstainmen, im obigen Falle direkt zu publizieren. 

Die Beurteilung seiner Handlungsweise habe ich dem Ehrenrat der Ge¬ 
sellschaft der Aerzte in Zürich überlassen. Hier kann ich nur erwähnen, daß 
obige Darstellung sich genau aus schriftlich belegbaren Tatsachen ergibt, wie 
mir namens der Gesellschaft der Aerzte in Zürich Herr Dr. W. Schult- 
heß, Privatdozent für Orthopädie in Zürich, der Mitarbeiter dieser Zeitschrift, 
bestätigen wird. 

Zürich, den 11. Dezember 1908. 

Dr. Gustav Baer. 

Nachschrift zu der Richtigstellung etc. von Herrn Dr. Gustav Baer. 

Der Unterzeichnete bestätigt im Namen und Auftrag der Gesellschaft der 
Aerzte in Zürich, daß die obige Darstellung des Herrn Dr. Baer den Verhand¬ 
lungen und den Beschlüssen entspricht, die in der vorliegenden Sache in dieser 
Gesellschaft gepflogen und gefaßt worden sind. 

Zürich, im Dezember 1908. 

Dr. Wilhelm Schultheß. 


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Autorenregister. 

Originalarbeiten sind mit ♦ versehen. 


A. 

Abadie 687. 

Aberle, v. 134*. 375*. 
Ahrens 693. 

Altschul 630. 

Anglada 680. 
Anachütz 648. 649. 
Arcangeli 635. 


B. 

Bade 224*. 233*. 632. 
Bardenheuer 651. 659. 
Bähr 661. 

Baeyer, v. 629. 675. 698. 
Barbet 656. 

Barlatier 684. 

Barth 645. 

Becker 645. 688. 

Berard 706. 

Bernardi 639. 

Bettmann 694. 

Biesalski 323*. 

Blanchard 644. 

Blencke 688. 690. 698. 
Boecker 106*. 

Boettiger 669. 
Borchgrevink 681. 
Bradford 677. 

Bramson 631. 

Brenner 678. 

Broca 656. 

Brückner 659. 687. 

Bull 687. 

Bülow-Hansen 642. 


C. 

Chlumsky 317*. 
Ohrysospathes 150*. 


Codivilla 679. 
Coenen 684. 
Couteaud 707. 
Coville 656. 
Gramer 68*. 172*. 
Czarnomska 401*. 


D. 

Dalgreen 669. 
Dejardin 662. 
Delbet 695. 

Destot 692. 
Deutschländer 304*. 
Dibbelt 634. 
Dietrich 650. 
Dobisch 702. 
Ducroquet 691. 


E. 

Edwin 648. 
Eggenberger 644. 
Evler 192*. 

Ewald 629. 640. 


F. 

Feliciani 664. 

Ferrari 665. 

Fischer 94*. 

Fo erster 203*. 

Frankel 634. 

Freiberg 672. 

Frisch, v. 589*. 689. 702. 


G. 

Galleazzi 671. 
Ganser 657. 659. 


Gelhaar 630. 
Gibney 692. 
Gilmer 665. 
Girardi 704. 
Gläßner 596*. 
Gocht 252*. 
Goebel 649. 
Goerlich 686. 688. 
Graf 693. 
Graeßner 666. 
Gregorio, de 635. 
Grüber 642. 


H. 

Hagen 696. 
Haglund 631. 697. 
Hahn 659. 680. 
Härting 690. 
Hartleib 696. 
Hartmann 687. 
Hastings 653. 
Hausen 651. 
Heinlein 706. 
Hellin 655. 
Hentschel 617. 
Hirschberg 675. 
Hoffmann 700. 
Hofmann 632. 646. 
Horand 671. 
Hörmann 663. 
Horvath 441*. 
Houzel 674. 
Hübscher 703. 
Hutinel 676. 


I. 

Iselin 636. 664. 


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710 


Autorenregister. 


J. 

Joachimsthal 31*. 
Jones 638. 


K. 

Kirsch 676. 

Klingelhöfer 701. 
Kofmann 483*. 634. 688. 
Köhler 702. 

Kölliker 656. 704. 

König 667. 

Krajca 663. 

Krempl 694. 

Krüger 659. 

Kyerson 648. 


L. 

Lamy 656. 
Lange 704. 
Laussedat 671. 
Lazarus 680. 
Legg (553. 

Lehr 667. 677. 
Lenormant 699. 
Lorenz 287*. 
Lovett 389*. 
Ludloff 272*. 
Luther 696. 


M. 

Mainzer 660. 
Martin 706. 
Martini 698. 
Matsunami 6.50. 
Mauelaire 628. 
Melchior 655. 
Meriel 650. 
Meyer 568*. 
Momburg 662. 
Montadon 694. 
Mouriquand 671. 
Müller 685. 
Muskat 696. 704. 


N. 

Nast-Kolb 699. 
Noeßke 664. 


Nove-Josserand 643. 
Nutt 673. 


0 . 

Oberst 688. 
Ogiloy 674. 


P. 

Palaghi 634. 654. 
Paul 682. 
Peltesohn 602*. 
Perthes 690. 
Peschties 692. 
Peters 675. 
Piovesana 639. 
Posche 649. 
Preiser 653. 654. 
Pucci 641. 
Purpura 652. 
Putti 679. 

Putzu 647. 


R. 

Rafilsohn 658. 689. 
Reichel 628. 
Reinhardstoettner 641. 
Ren du 706. 

Renval 656. 

Rhenter 674. 

Riddlow 644. 

Riedinger 117*. 670. 706. 
Rob 680. 

Rodler 654. 

Roepke 557*. 

Rosenfeld 344*. 

Rosenthal 667. 

Rostock! 662. 

Rovsing 649. 


S. 

Salis, V. 697. 
Schaeffer 654. 
Schanz 57*. 662. 
Schlippe 657. 
Schmiedicke 630. 
Schobad 635. 
Schreiber 655. 
Schrumpf 636. 

1 Schultheß 90*. 


Schultze 1*. 705. 
Schürmayer 665- 
Schwenk 685. 
Seedorf 645. 
Sencert 650. 
Sievers 699. 
Soutter 677. ' 
Steiner 665. 
Steinmann 641. 
Stetten 686. 

Stich 698. 

Stieda 689. 
Strauß 672. 

T. 

Tachau 663. 
Takkenberg 637. 
Thilo 631. 

Thon 685. 

Tietze 701. 

Tixier 670. 692. 
Todaro 680. 
Townsend 652. 
Tridon 679. 


V. 

Viannay- 657. 

Vignard 642. 643. 671. 

684. 686. 

Vogel 633. 687. 
Vorschütz 658. 

Voß 661. 

Vulpius 652. 70-5. 


W. 

Wagner 691. 
Waldenström 581*. 
Wallis 691. 

Walzberg 670. 

Wandel 661. 

Werndorff 122*. 

Wette 700. 

Wittek 371*. 675. 
Wreden, v. 632. 
Würth-Würthenau 651. 


Z. 

Zoeppritz 699. 
Zrenner 660. 
Zweig 668. 


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Sachregister. 


711 


Sachregister. 

Originalarbeiten sind mit * versehen. 


A. 

Abszeßbehandlang 655. 
Achillotenotomie 670. 

Achondroplasie 636. 

Akromegalie 657. 658. 

Amniotische Fäden und Klumpfuß 557*. 
Amputationsneurome 651. 
Ankylosenbehandlung durch Periost¬ 
transplantation 646. 

Apparate aus Chromleder 192*. 

— konzentrische Gelenk- 630. 
Arthritis 654. 

Arthrodese, Technik 224. 

Arthropathia tabica pedis 699. 

Ataxie Friedreich 659. 
Atlantoepistrophealgelenkluxation 675. 


B. 

Bandage für Bein 631. 
Bandagistenkurpfuscherei 371*. 
BerufsskoHose 90*. 
Blastoinykosis 648. 
Bluterkrankheit 662. 

Blutleere, künstliche 662. 
Brachydaktylie 688. 


C. 

Calcaneusbrüche 701. 

Caput obstipum s. Schiefhals. 
Caudaverletzungen 660. 
Chrondrodystrophie 686. 
Chromlederapparate 192*. 
Claviculabruch 680. • 
Clinodaktylie 706. 
Conusverletzungen 660. 

Coxa valga adolescentium 689. 
Coxa vara 688. 

-congenita 689. 

Coxitis, Behandlung 692. 


D. 

Deltoideslähmung 662. 

D u p uy tren sehe Kontraktur 687. 
Dy&kinesia intermittens 661. 


£. 

Elephantiasis, halbseitige 656. 

— tuberkulöse 674. 

Ellbogenbruch, frischer 684. 
Enchondrome, multiple 648. 
Epithelisierung durch Scharlachrotsalbe 
663. 

Erbsche Lähmung 658. 
Extensionsbehandlung der oberen Ex¬ 
tremitäten 681. 

Extensionsschiene für Femurbruch 693. 
Extensionsverband 632. 641. 


F. 

Femuranteversion 690. 
Fersenbeinbrüche 701. 

Fibrolysin 655. 

Fibuladefekt 698. 

Fingerbrüche 688. 
Fingerverkrümmungen 688. 
Fistelbehandlung 644. 

Fraktur im Altertum 638. 

— Behandlung 640. 

— Blutzusammensetzung bei 639. 

— Extensionsbehandlung 632. 681. 

— intrauterine 150*. 
Fußgelenkstuberkulose 698. 
Fußgeschwulst 701. 


G. 

Geburtslähmung, doppelseitige 659. 
Gehgipsverband 634. 

Gelenke, Brüche 642. 

— Deformitäten, angeborene 563*. 

— eigentümlicher Prozeß 134*. 
Gelenkerkrankung und Muskelatrophie 

653. 

Gelenkflächeninkongruenz 653. 654. 
Gelenkneurosen, traumatische 669. 
Gelenkplotnbierung 648. 
Gelenkrheumatismus, deformans 654. 

— infantiler 654. 

— tuberkulöser 654. 655. 670. 671. 
Gelenkstützapparate 630. 
Gelenkwunden, Heilung 172*. 

Genu recurvatum 602*. 

— valgum 696. 


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712 


Suchregister. 


Genu varum 696. 
Geachwulstdiiignose 649. 
Gipsverband 633. 


U. 

Hackenfuß nach Spitzfuß 706. 

Hallux valgus 706. 

— varus 706. 

Halsrippen 675. 

Hämatomyelie 660. 

Hammerzehe 706. 707. 

Hämophilie 662. 

Hand, künstliche 632. 
Handgelenkstuberkulose 686. 
Heißluftbehandlung 664. 
Hochgebirgsbehandlung der Tuber¬ 
kulose 675. 

Hüftgelenkentzündung s. Coxitis. 
Hüftgelenkerkrankungen, Diagnose der 
688 . 

Hüftgelenkresektion 693. 
Hüftpfannenbruch 692. 

Hüftverrenkung s. a. Luxatio coxae. 

— alte traumatische 287*. 
Humerusbruch, suprakondylärer 684. 
Hydrops genu traumaticus 696. 
Hyperämie, passive 664. 

Hypertrophie, angeborene 656. 


I. 

Intermediärknorpeldurchschneidung 

117 ^ 

Intrauterine Fraktur 150*. 
Jschiadikuslähmung, traumatische 691. 


K. 

Klumpfuß, angeborener 557*. 

— Behandlung 704. 705. 
Kniegelenksentzündung 695. 
Kniegelenksluxation 695. 

Knochencyste 648. 

Knochendefektersatz 645. 

Knochen, eigentümlicher Prozeß 134*. 
Knochenkrankheiten 628. 
Knochenplastik 645. 
Knochenplombierung 642. 
Knorpelwundenheilung 172*. 
Kompressionslähmung, subkutane 659. 
Kongenitales Femursarkom 649. 
Krankengeschichten, chirurgische 629. 


Krüppelfürsorge 344*. 

— in Amerika 389. 

— in Deutschland 323*. 

— und Kurpfuscherei 371*. 

— in Oesterreich 375*. 

— in St. Petersburg 401*. 


L. 

Lähmungen, orthopädisch-chirurgische 
Behandlung 652. 

Lumbalanästhesie 663. 

Luxatio carpi 687. 

— coxae congenita, blutige Einrenkung 

212 *. 

-Ischiadikuslähmung nach 691. 

-— Mißbildungen und 31*. 

-— Pathologie 252*. 

-Pathologie und Therapie441*. 

— -Späterscheinungen 277*. 

-Vererbung 596*. 

-unblutige Behandlung 690. 

- spontane 692. 

-traumatica beim Kind 692. 

— genu congenita 697. 

— metatarsi 700. 


M. 

Madelungsche Deformität 686. 
Mammadefekt, angeborener 657. 

Marmoreksches Serum 672. 
Massage 667. 

Mikronielie 636. 

Militärtauglichkeit 630. 

Mißbildungen, kongenitale 81*. 656. 
657. 668. 687. 

Mittelfußbrüche, indirekte 699. 
Muskelangiom 650. 

Muskelatrophie bei Gelenkkrankheiten 
653. 

— progressive 661. 

Muskeldefekt, angeborener 657. 668. 
Muskelsarkom 650. 

Muskelwirkung 94*. 

Myositis ossificans traumatica 106*. 650 
651. 

Myotonie, erworbene 661. 


N. 

Narben, schmale 662. 
Narbenkontrakturen der Hand 687. 


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.Sachregister. 


71B 


.Naviculare tarsi, Brach des 700. 
-- Erkrankung *701. 
Nervenregeneration r»52. 
Neurinkainpsifl 651. 


' ' 0 . ■ * ■ 

Oberschenkelbriiche 693. 

Operi^tion, Nachbehandlung 62S. 
Operationstisch (Bade) 233*. 632. 
Orthopädie, Aufgaben der 629. 
Orthopädische Technik 631. 
Osteoarthritis 654. 

— traumatica 667. 

O.steomalacie 635. 

Osteomyelitis, Wachstumsstörung nach 
647. 

Osteopsathyrosis 637. 

Ostitis fibrosa 122’*. 648. 

— tuberculosa 670. 


P. 

Paraesthesia intermittens 661. 
Parathyreoidektomie 636. 

Partieller Riesenwuchs 687. 
Patellarreflex, Fehlen des 660. 
Pektoralisdefekt, angeborener 657. 
Periosttransplantation 646. 

Phlegmasia coerulea dolens 665. 
Plantamervenstreckung 704. 

Plattfuß, Gl eich sehe Operation 702. 

— entzündlicher 703. 

— Stauungshyperämie bei 704. 

— traumatischer 304*. 

Poliomyelitis, Behandlung 652. 
Polyarthritis 654. 

Pseudarthrose 641. 

Pseudohypertrophia musculorum 661. 
Punktion von Abszessen 674. 


R. 

Radialislähmung nach Oberarmbruch 
659. 

Radiodermatiiis 665. 

Radiusluxation 685. 

Radiusfrakturen 685. 
Radiusmißbildungen 686. 

Rhachitis, Pathogenese 634. 

— und Skoliose 676. 

— Spät- 634. 

Rheumatismus tuberculosus 654. 671. 
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. 


Riesenwehs,^ partieller 687. 
Röntgentechnik 665. 


... s. ■ ; 

Sandwaisserbäder 667. ' , 

Sarkom des Femur, kongenitales 649. 

— naph Fibulabruch 649. 

— der Skapula 649. 

Sarkomatose, multiple 122*. 

Saugbeh and lang 664. 

Scharlachrotsalbe 663. 
Schenkelhalstuberkulose, Operation der 

581*. 

Schenkelhalsbruch, Naht bei 692. 
Schiefhals, Behandlung 589*. [ 

— Schädelasymmetrie 675. 
Schienenhülsenstreckverbände 192*. 
Schlatt er sehe Krankheit 697. 
Schlüssßlbeinbruch 680. 
Schnellaufnahmen, chirurgische 665. 
Schule und Sport 630. 

Schulterblatt, Exstirpation 680. 

— Hochstand, angeborener 680. 
Schaltergelenkluxation, doppelseitige 

681. 

— habituelle 681. 
Sehnentransplantation 670. 
Serratuslähmung 662. 

Skoliose bei Assimilationswirbeln 68*. 

— Behandlung 677. 

— Behandlungsresultate 57*. 

— Berufs- 90*. 

— Ernährungsstörung bei 676. 

— Lockerungs verfahren bei 317*. 

— und Rhachitis 676. 

— Schwedische Gymnastik 317*. 
Sonnenbäder 675. 

Spastische Lähmungen, Behandlung 
203*. 

Spätrhachitis 634. 

Spina ventosa der langen Knochen 671. 
Spitzfuß 706. 

Spondylitis, Behandlung 433*. 

— cervikale 677. 

— latente 678. 

— und Trommelschlegelfinger 679. 
Spondylolisthesis 679. 

Sport und Schule 630. 

— Geschichte 630. 

Stovain 663. 


T. 

Tabische Arthropathie 699. 
Talusluxation, isolierte 699. 
XXII. Bd. 46 


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714 


Saahregister. 


Tenotomie des lleoiMoas 670. 

Tibia recurvata 602*. 

Tortikollis s. Schiefhals. 
Traktionsbehandlung 631. 

Trokart, neuer 674. 
Trommelschlegelfinger bei Spondylitis 
679. 

Trommlerlähmung 651. 

Tuberkulin 673. 

Tuberkulose der Diaphysen 671. 

— Serumbehandlung 673. 

— Sonnenbehandlung 675. 


U. 

Ulnabruch 685. 
Ulnaluxation 685. 


Untere Extrefmität, Deformitäten 1*31*. 
Unterschenkelbrache 697. 


W. 

Wachstumshemmung durch Parathy- 
reoidektomie 636. 

Wirbelsäulenverletzungen 666. 668. 
Wirbeltuberkulose, latente 678. 
Wismutinjektion bei Fisteln 644. 


Z. 

Zehenkontrakturen 706. 

Zwergwuchs durch Schädeltrauma 63a. 


IP 4 p - ^ 


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