Google
Über dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin¬
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nutzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter http : //books . google . com durchsuchen.
Digitized by
I
I
Digitized by VjOOQle
Digitized by
C r>*
^ZEITSCHRIFT
FÜR
ORTHOPÄDISCHE CHIRURGIE
EINSCHLIESSLICH DER
HEILGYMNASTIK UND MASSAGE^
UNTER MITWIRKUNG
VON *
Prof. J- WOLf F in Berlin, Dr. BEELY in Berlin, Dr. KRUKENBERG in
Halle a. S., Dr . LORENZ in Wien, Privatdocent Dr. W. SCHULTHESS in
Zürich, Dr. NpJBEL in Frankfurt a.M., Privatdocent Dr. VULPIUS in Heidelberg,
Oberarzt Dr. L. HEUSNER in Barmen, Privatdocent Dr. .10 ACHIMSTHAL
in Berlin, Privatdocent Dr. F. LANGE in München.
HERAUSGEGEBEN
VON
DR- ALBERT HOFFA,
a o. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT WÜRZBÜRO.
V. BAND.
MIT 106 IN DEN TEXT GEDRUCKTEN ABBILDUNGEN.
---
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1898.
Digitized by VjOOQle
Drnck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart.
Digitized by
Google
Inhalt
Seite
I. Ueber einen Fall von habitueller Subluxation des Oberarmkopfes
nach oben. Vortrag, gehalten auf der chirurgischen Abtheilung der
Naturforscherversammlung in Frankfurt a. M. Von Dr. L. Heusner 1
II. Aus der chirurgisch-orthopädischen Privatklinik des Prof. Dr. A. H o f f a
in Würzburg. Ein Fall von multiplen congenitalen Contracturen.
Von Dr. A. Schanz, Assistenzart der Klinik. Mit 1 in den Text
gedruckten Abbildung. 9
III. Ein verstellbarer Finger-, Daumen- und Handgelenks-Pendelapparat.
Von Dr. Hermann Nebel, Director des orthopädischen Instituts in
Frankfurt a. M. Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen . . 16
IV. Das Gipsbett zur Behandlung der Skoliose. Von Dr. M. Jagerink-
Rotterdam. Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen .... 24
V. Mittheilungen aus dem orthopädischen Institut zu Frankfurt a. M.
Von Dr. H. Nebel. Mit 6 in den Text gedruckten Abbildungen . SO
1. Ein Schlittenextensionsapparat zur Erleichterung guter Ver¬
bandanlegung am Beine und bequemer Redressirung von Genu val-
gum, Klumpfuss- und Plattfussstellung.31
2. Das vereinfachte, leicht transportabel hergestellte Schwebe¬
lagerungsgestell für Corsetverbandanlegung.36
VI. Aus der Poliklinik und Privatklinik für orthopädische Chirurgie des
Dr. Vulpius zu Heidelberg. Ueber die Verwendung der Cellulose
in der Orthopädie. Von Dr. Oscar Vulpius, Privatdocenten der
Chirurgie. Mit 7 in den Text gedruckten Abbildungen .... 40
VII. Beobachtungen über die statischen Beziehungen des Beckens zur
unteren Extremität. Von Ferdinand Bährin Hannover. Mit 4 in
den Text gedruckten Abbildungen.52
VHI. Bemerkungen zu der vorstehenden Arbeit des Herrn Dr. Bähr. Von
Prof. Dr. Julius Wolff.60
IX. Ein neues Messverfahren für seitliche Rückgratsverkrümmungen. Von
Dr. G. Joachimsthal-Berlin.66
Referate. 69
X. Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses. Vortrag, gehalten
in der Sitzung der Gesellschaft für Natur- und Heilkunde zu Dresden
am 29. Februar 1896. Von Prof. Dr. Sprengel, Oberarzt der chirur¬
gischen Abtheilung des Herzoglichen Krankenhauses zu Braunschweig.
Mit 21 in den Text gedruckten Abbildungen.109
XI. Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning
und Dr. W. Schulthess, Privatdocenten in Zürich. VII. Aerztlicher
Bericht Über den Zeitraum vom 31. December 1890 bis zum 31. De-
cember 1894. Erstattet von den Anstaltsärzten. Mit 23 in den
Text gedruckten Abbildungen.166
Digitized by CjOOQle
IV Inhalt.
Seite
XII. Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning
und Dr. W. Schulthess, Privatdocenten in Zürich. VIII. Ein
Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). Von Dr.
Heinrich Schmid. Mit 5 in den Text gedruckten Abbildungen 248
. XIII. Angeborene Knickung des Femurs beiderseits. Von Dr. S. B. Ranneft,
Privatdocent für Orthopädie an der Reichsuniversität zu Groningen.
Mit 1 in den Text gedruckten Abbildung.265
XIV. Ein fernerer Beitrag zur Casuistik des Genu recurvatum. Von
Dr. F. Staffel, Besitzer und Leiter des medico-mechanischen und
orthopädischen Institutes in Wiesbaden. Mit 2 in den Text ge¬
druckten Abbildungen.270
XV. Untersuchungen über den Einfluss der Nervenverletzung auf das
Knochenwachsthum. Von Dr. Cesare Ghillini, Oberarzt der
Krankenhäuser, Director der Abtheilung der orthopädischen Chi¬
rurgie an der Poliambulanza felsina.274
XVI. Ueber Ursachen, Geschichte und Behandlung der angeborenen Hüft-
luxation. Vortrag, gehalten in der Frühjahrsversammlung des
Vereins der Aerzte des Regierungsbezirks Düsseldorf 10. Mai 1897.
Von Dr. L. H e u s n e r. Mit 5 in den Text gedruckten Abbildungen 276
XVII. Erwiderung an Julius Wolff. Von Ferdinand Bähr. Mit 1 in
den Text gedruckten Abbildung.295
XVIII. Zur Aetiologie der Skoliose. Von Christen Lange, Vorsteher
der Klinik der „Gesellschaft zur Fürsorge der Verkrüppelten“ in
Kopenhagen.304
XIX. Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning
und Dr. W. Schulthess, Privatdocenten in Zürich. IX. Messung
und Röntgen’sche Photographie in der Diagnostik der Skoliose.
Von Dr. Wilhelm Schulthess. Mit 2 in den Text gedruckten
Abbildungen.307
Referate. Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.316
XX. Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung. VonDr. A. Schanz-
Dresden.359
XXI. Aus der orthopädischen Heilanstalt DrDr. Pilling und Köhler, Aue
(Erzgebirge). Arbeitsklaue als Ersatz der oberen Gliedmassen. Von
Dr. Köhler. Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen . . . 375
XXII. Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning
und Dr. W. Schulthess. Privatdocenten in Zürich. X. Beiträge
zur Kenntniss der Beckenstellung. Von A. Henggeier, med.
pract. in Zürich. Mit 1 in den Text gedruckten Abbildung . . 379
XXIII. Mittheilungen aus dem orthopädischen Institut« von Dr. A. Lüning
und Dr. W. Schulthess, Privatdocenten in Zürich. XI. Klinische
Studien über die Totalskoliose und die dabei beobachtete concav-
seitige Torsion. Von Jakob Steiner, med. pract. Mit 5 in
den Text gedruckten Abbildungen.404
XXIV. Ueber die grundlegenden Gesichtspunkte und Methoden der mo¬
dernen Skoliosentherapie. Von Docent Dr. med. M. Dolega, In¬
haber der vormals Schreber-Schildbach’schen orthopädischen und
mechanotherapeutiscben Heilanstalt zu Leipzig. Mit 10 in den
Text gedruckten Abbildungen.439
Referate.455
Autorenregister.475
Sachregister.477
Digitized by CjOOQle
Ueber einen Fall von habitueller Subluxation des
Oberarmkopfes nach oben.
Vortrag gehalten auf der chirurgischen Abtheilung der
Naturforscherversammlung in Frankfurt a. M.
Von
Dr. L. Heusner.
Der 27jährige Bandwirker Eduard Haibach consultirte mich
im August dieses Jahres wegen einer Schwäche in der rechten Schulter,
die ihn bei seiner Arbeit, wobei er die Arme häufig nach vorne er¬
heben muss, um Fäden zu ordnen und anzuknüpfen, sehr belästigte.
Patient hat keinerlei Verletzung erlitten, konnte den Arm früher
normal gebrauchen, war überhaupt stets gesund gewesen und hat
nur 1891 bei einem Aufenthalt in Mexiko einige Tage an heftigen,
rheumatismusartigen Schmerzen in den Beinen gelitten. Während
seiner Militärzeit 1893—1895 bemerkte er, wenn er längere Zeit
den Tornister trug, ein unangenehmes lähmendes Gefühl in der
rechten Schulter; auch konnte er aus diesem Grunde das Gewehr
nur kurze Zeit auf der rechten Seite tragen. Bei anderen Ver¬
richtungen war er im Gebrauche des rechten Armes nicht behindert.
Ostern dieses Jahres fühlte er, während er seine Stiefel auf den Füssen
wichste, plötzlich heftige stechende Schmerzen in der rechten Schulter,
und der Arm sank ihm dabei wie gelähmt am Körper herunter. Der
Ellenbogen nahm eine leichte Beugestellung ein, und beim Versuche,
den Arm zu strecken, gerieth der Beugemuskel am Oberarm in
schmerzhafte Spannung und trat an der Ellenbeuge als fester Strang
unter der Haut hervor: Druck auf die Gegend der langen Biceps-
sehne am Oberarmkopfe verursachte bis zur Hand ausstrahlende
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. |
Digitized by
Google
2
L. Heusner.
Schmerzen, und noch jetzt zeigt sich hierselbst nach längerem Unter¬
suchen und Betasten Empfindlichkeit.
Im Schlaf legte Patient den gebeugten Vorderarm unwillkür¬
lich unter das Hinterhaupt (wohl im Bestreben den M. biceps
möglichst zu entspannen), und der Arm stand dann Morgens in
dieser Stellung steif, so dass Patient ihn nur mit fremder Beihilfe
und unter bedeutenden Schmerzen herunterbringen konnte. Bei
stärkeren Bewegungen bemerkt Patient seitdem eine Verschiebung
im Schultergelenke, die das Erheben des Armes erschwert, auch im
nachfolgenden Ruhezustand anhält und sich durch ein Gefühl von
Zwang und Unbehagen bemerkbar macht. Besichtigt man in diesem
Zustande den entblössten Oberkörper des ziemlich musculösen Mannes,
so bemerkt man, dass der rechte Oberarmkopf ein wenig mehr nach
vorn und oben hervorragt als der linke, doch wird die Veränderung
erst augenfälliger, wenn man den Patienten abwechselnd bald die
normale, bald die verschobene Kopfstellung erzeugen lässt. Durch
Einwärtsdrehung des Oberarmes tritt der Kopf regelmässig in den
verschobenen oder, wie der Patient sich ausdrückt, festen Zustand
ein. Durch eine kurze, schleudernde Auswärtsrotation unter gleich¬
zeitiger Anspannung der Beugemuskeln wird er wieder frei und
kann nun ungehindert in jeder Richtung bewegt werden. Wird
der Arm aber bei unfreiem Zustand der Schulter nach aussen empor¬
gehoben, so stösst der Oberarmkopf auf ein anscheinend knöchernes
Hinderniss, wobei er stärker nach oben und vorne hervorgedrängt
wird. Mit Gewalt kann man dann den Arm unter einem für den
Patienten schmerzhaften Ruck freimachen und völlig emporheben.
Bei der Arbeit pflegt der Patient beim Erheben des Armes die Be¬
freiung in der Schulter durch die erwähnte Drehbewegung jedesmal
selbst vorzunehmen.
Es ist augenscheinlich, dass es sich bei unserem Patienten um
eine habituelle Luxation, oder vielmehr Subluxation, des rechten
Oberarmkopfes nach vorne und oben handelt; aber die Ursache und
genaueren Vorgänge bei der Verschiebung sind nicht sogleich er¬
sichtlich, und nur so viel ist klar, dass die Sehne des langen Biceps-
kopfes dabei eine Rolle spielt. Wir wissen, dass traumatische
Luxationen nach vorne und einwärts zu den häufigsten Oberarm¬
verletzungen gehören, und dass habituelle Verschiebungen im Ge¬
folge dieser Verrenkungen nicht gerade selten sind. Man pflegt
vorzeitigen Gebrauch des Armes, Abbruch des inneren Randes der
Digitized by CjOOQle
Ueber einen Fall von habitueller Subluxation etc.
3
Gelenkpfanne, Verbindung des Eapselrisses mit dem subscapularen
Schleimbeutel als Ursache des Habituellwerdens zu beschuldigen,
und auch Zerreissungen der Musculatur, besonders des Supraspina-
tus, Infraspinatus, Subscapularis, wie auch der Sehne des langen
Bicepskopfes als Hilfsmoment anzuführen, weil hierdurch die Locker¬
heit und Verschieblichkeit des Gelenkes begünstigt wird. Es sind
auch traumatische Subluxationen nach vorne von A. Cooper, Dou¬
glas, Hargrave, Dupuytren beschrieben worden, und dieselben
können ebenfalls habituell werden; doch machen Malgaigne und
Hamilton mit Recht darauf aufmerksam, dass auch partielle trau¬
matische Verschiebungen kaum ohne Zerreissung der Kapsel vor
sich gehen können und dass man diese Fälle richtiger zu den wirk¬
lichen Luxationen rechnen sollte. Es kommen nun auch angeborene
Luxationen des Oberarmkopfes in der Richtung nach vorne zu vor
und haben wahrscheinlich ähnliche Ursachen wie die angeborene
Hüftluxation, nämlich abnorme Lage des Oberarmes und Raum¬
beengung im Fruchtbehälter während der ersten Fötalmonate.
Smith hat fünf Fälle dieser seltenen Verrenkungsform beob¬
achtet, darunter einen doppelseitigen, und aus der Beschreibung
Melich e r’s, welcher ebenfalls einen Fall gesehen hat, geht hervor,
dass die Symptome einigermassen ähnlich sind, wie bei unserem
Patienten, dass aber die Verschiebung des Kopfes nach einwärts
meist eine beträchtlichere ist. Meli eher sagt, es sei ihm wahr¬
scheinlich, dass Fälle, welche als habituelle traumatische Subluxa¬
tionen aufgefasst wurden, auf angeborene Verschieblichkeit des
Kopfes zurückzuführen seien. Es ist nicht anzunehmen, dass in
unserem Falle, in welchem der Patient erst im Mannesalter den
Fehler erworben hat, eine angeborene Ausweitung der Kapsel zu
Grunde lag. Wenn auch die in der Militär zeit bereits hervor¬
getretene Empfindlichkeit in der Schulter auf eine gewisse Schwäche
daselbst hindeutet, so haben wir doch keine Veranlassung, dieselbe
auf das Gelenk zu beziehen, werden vielmehr durch das Hervor¬
treten des Fehlers bei einer so leichten Beschäftigung wie das
Stiefelwichsen, durch die Localisation des Schmerzes, sowie durch
die Betheiligung des Musculus biceps, auf die Sehne des langen
Bicepskopfes hingewiesen. Wir wissen, dass diese Sehne wegen
ihrer nahen Beziehungen zum Gelenke bei den Luxationen der
Schulter öfters in Mitleidenschaft geräth. Bei den Verschiebungen
des Kopfes nach einwärts kann sie demselben nur unter beträch t-
Digitized by VjOOQle
4
L. Heusner.
licher Anspannung folgen, woraus die Flexions- und Supinations¬
stellung des Vorderarmes sich erklärt; bei stärkerer Gewalteinwir¬
kung wird sie aus ihrem Bett herausgerissen, kann sich zwischen
Kopf und Pfanne stellen und hierdurch ein ernstliches Hindemiss
ftlr die Einrenkung abgeben. Durch ihre Befestigung am oberen
Pfannenrande und ihren Verlauf über den Gelenkkopf hin übt die
Sehne in unversehrtem Zustande einen nach abwärts und einwärts
gerichteten Druck auf den letzteren aus und hält dadurch den
Muskeln, welche den Oberarm nach aufwärts zu heben trachten,
das Gegengewicht. Wird sie zerrissen, oder aus ihrem Bett ver¬
schoben, so erhebt sich der Kopf, soweit es das knöcherne Dach
über ihm gestattet, nach aufwärts. Hamilton macht darauf auf¬
merksam, dass nach wohlgelungenen Repositionen von Schulter¬
luxation der Kopf öfters etwas nach vorne vorstehend bleibt v und
ist geneigt, diese Veränderung auf stattgehabte Zerreissung oder
Verschiebung der Bicepssehne zu beziehen. Er beobachtete einen
Fall, wo die verschobene Sehne nach einigen Tagen wieder ein¬
schnappte, und damit die unnatürliche Hervorragung des Kopfes
verschwand. Diese Betheiligung der Bicepssehne führt uns auf das
etwas umstrittene Gebiet der Sehnenluxationen und ihr Vorkommen
auch ohne gleichzeitige Knochenverschiebungen. Es ist nicht zweifel¬
haft, dass bei einigen Fingersehnen, besonders jener des Extensor
pollicis longus, und ebenso bei den beiden Peronealsehnen trau¬
matische Verschiebungen Vorkommen und auch habituell werden
können. So erzählt Pitha, dass die amerikanischen Klopfgeister
ein räthselhaftes Klopfen dadurch erzeugten, dass sie die Peroneal¬
sehnen willkürlich auf den Knöchel verschoben und dann wieder
einschnappen liessen. Betreffs der langen Bicepssehne sind die
Meinungen aber getheilt: Cowper, Monteggia, Stanley, Frank
u. A. haben Fälle traumatischer Verschiebungen der Sehne mit-
getheilt, und zwar soll sich dieselbe nach Meinung dieser Autoren
auf das Tuberculum majus begeben. Cowper z. B. erzählt in seiner
Myotomia reformata von einer Frau, welche beim Ausringen von
Wäsche plötzlich ein Ueberspringen in der Schulter verspürte, so
dass sie den Arm nicht mehr gebrauchen konnte und glaubte, sich
denselben verrenkt zu haben. Ausser einer leichten entzündlichen
Schwellung auf der Höhe der Schulter und einer gewissen Spannung
im Musculus biceps, welche die völlige Streckung im Ellenbogen
verhinderte, war für die Gebrauehsunfähigkeit kein Grund aufzu-
Digitized by CjOOQle
Ueber einen Fall von habitueller Subluxation etc.
5
finden, und Cowper fand seine Vermuthung, dass die Sehne des
Biceps aus ihrer Coulisse geglitten sei, dadurch bestätigt, dass bei
den vorgenommenen Bewegungen plötzlich etwas einschnappte und
die Kranke sofort den Gebrauch ihres Armes wieder erlangte. In
dem Falle Monteggia’s, welcher eine Frau betraf, die sich bei
einem Sturze den Arm verdrehte, hörte der lebhafte Schmerz in
der Schulter ebenfalls erst auf, als die Patientin fühlte, dass etwas
Verschobenes in der Schulter an seinen Platz zurückkehrte. Sie
hatte seitdem oft einen ähnlichen Schmerz, der plötzlich verschwand,
wenn sie die Hand auf die Schulter einer anderen Person hinauf¬
brachte: also eine habituelle Luxation. Auch Jarjavay, Professor
am Hospital Beaujon zu Paris, theilt eine Reihe einschlägiger Fälle
mit, welche alle durch eine gewaltsame Einwärtsdrehung des Armes
bei angespannter Musculatur entstanden waren, aber nicht plötzlich,
sondern nach und nach, welche im Laufe einiger Tage oder Wochen aus¬
heilten und sich ausserdem auszeichneten durch ein knackendes oder
krachendes Geräusch in der Gegend des Akromion, wenn der hori¬
zontal abducirte Arm passiv rotirt wurde. Jarjavay hat dies
eigentümliche Geräusch einschliesslich des gesammten Symptomen-
complexes auch bei einem Falle nicht traumatischer Entzündung der
Bursa subacromialis beobachtet und glaubt, dass dasselbe durch eine
Reibung des verdickten Schleimbeutels zwischen Akromion und Tuber¬
culum majus zu Stande komme. Er erinnert an die solide Befesti¬
gung der langen Bicepssehne im Sulcus intertubercularis, weist darauf
hin, dass noch Niemand die Verschiebung der Sehne auf das Tuber¬
culum majus anatomisch nachgewiesen habe, und spricht sich schliess¬
lich dahin aus, dass es sich in seinen und auch den übrigen be¬
schriebenen Fällen gar nicht um eine Verschiebung der Sehne, son¬
dern um eine Quetschung und Entzündung der Bursa subacromialis
gehandelt habe.
Diese Einwendungen nötigen uns, einen Blick auf die ana¬
tomischen Verhältnisse zu werfen. Die lange Bicepssehne verläuft
von ihrem Ursprung am Tuberculum supraglenoidale zunächst eine
Strecke weit frei im Gelenk. Hier ist sie allen Schädlichkeiten,
welche das Gelenk selbst betreffen, ausgesetzt: bei tuberculöser und
eitriger Entzündung wird sie zerstört; bei deformirendem Rheuma¬
tismus wird sie abgeplattet, zerrieben, in einzelne Stränge zerfasert.
Zwischen den Tubercula ist die Sehne, welche im frühen Fütal-
Digitized by VjOOQle
6
L. Heu8ner.
zustande ganz extracapsulär verläuft, eingescheidet von einer schleim¬
beutelartigen Ausstülpung der Gelenkkapsel, welche sie in ihrem
Verlaufe durch den Sulcus intertubercularis umhüllt und fest mit
der Knorpelauskleidung dieser Furche verwachsen ist. Choinacky
fand den Sulcus durch einen Längsfirst in zwei Abtheilungen ge¬
trennt, über welchen die Sehne bei Rotationsbewegungen unter
scharfer Reibung hin und her glitt. Unterhalb der Gelenkkapsel
begiebt sich die Bicepssehne nach kurzem ungeschütztem Verlaufe
unter die Sehne des Pectoralis major, welche sich wie ein breiter
Thorbogen über sie hinspannt. Aus Faserztigen, welche sich von
der Unterseite der Pectoralissehne abspalten und, die Bicepssehne
überbrückend, theilweise am Knochen anheften, theilweise zur Sehne
des Latissimus dorsi hinüberstreichen, wird jetzt eine neue Um¬
scheidung gebildet, deren Dicke und Widerstandsfähigkeit eine
wechselnde ist. Eine Luxation der Bicepssehne nach aussen, in der
Richtung auf das Tuberculum majus zu, ist allerdings durch die
Befestigung unter der mächtigen Sehne des Pectoralis major un¬
möglich gemacht. Dagegen kann an der Leiche die Einscheidung
der langen Bicepssehne nach Eröffnung des schützenden Thorbogens
(durch Abtrennen und Zurückschlagen des Pectoralis major) durch
einen kräftigen nach einwärts gerichteten Ruck am Musculus biceps
ziemlich leicht gesprengt werden, und wenn man weiterhin an der
Sehne nach einwärts zerrt, so wird auch ihre Befestigung im Sinus
intertubercularis so weit gelockert, dass eine Verschiebung nach ein¬
wärts auf das Tuberculum minus möglich wird. Jarjavay hat daher
ganz Recht, wenn er die Luxation der Bicepssehne auf das Tuber¬
culum majus für nicht möglich erklärt; sie wird eben nicht nach
aussen, sondern nach einwärts auf das Tuberculum minus luxirt, wo
sie dem Nachweise durch das Gefühl sehr schwer zugängig ist. Da¬
mit steht im Einklang die Entstehungsursache, als welche in fast
allen Fällen eine starke Einwärtsrotation des Oberarmes bei gleich¬
zeitiger Anspannung der Beugemusculatur angeführt wird. Bei dieser
Armstellung kommt die Sehne in eine abschüssige Lage und kann,
wenn ihre Befestigung von Natur keine starke, oder allenfalls noch
durch chronische Tendovaginitis geschwächt ist, durch den Muskel¬
zug nach innen luxirt werden. Durch Auswärtsrotation bei gleich¬
zeitiger Muskelanspannung werden die Verhältnisse umgekehrt, und
die Sehne gleitet wieder in ihr Bett zurück. Damit stimmen ferner
die Beobachtungen von R. W. Smith, Gregory Smith und Soden
Digitized by
Google
Ueber einen Fall von habitueller Subluxation etc.
7
überein, welche bei chronischer Erkrankung des Schultergelenkes
die Sehne des langen Bicepskopfes nach innen auf das Tuberculum
minus dislocirt fanden. Der Fall des letztgenannten Autors ist be¬
sonders instructiv, weil er dem unserigen ganz ähnlich gewesen zu
sein scheint, obgleich nur der anatomische Befund, nicht auch die
Krankengeschichte vorliegt. Soden fand bei einem Patienten mit
Schädelbruch, der */* Jahr vorher eine Verletzung der Schulter er¬
litten hatte, neben Zeichen von Entzündung im Gelenk, eine Dis¬
location der Sehne des Biceps mit seiner Scheide nach einwärts auf
das Tuberculum minus. Gleichzeitig war eine leichte Verschiebung
des Kopfes nach oben vorhanden, wie bei unserem Kranken, wes¬
halb A. Cooper den Fall als partielle Luxation nach oben be¬
schreibt. Was nun das von Jarjavay hervorgehobene knackende
Geräusch betrifft, so entsteht dasselbe, wie ich mich bei Unter¬
suchungen an der Leiche überzeugt habe, nicht dadurch, dass die
vergrösserte Bursa subacromialis zwischen den Knochen gequetscht
wird, sondern dadurch, dass die unregelmässigen Hervorragungen,
welche die Bicepssehne nebst den angrenzenden Rändern des Tuber¬
culum majus und minus am Kopfe des Oberarmes bilden, unter dem
Acromion hinreiben. Man kann das Geräusch auch bei sehr vielen
gesunden Personen ohne weiteres erzeugen, wenn man die ent¬
sprechenden Drehbewegungen bei stark abducirtem Oberarm vor¬
nimmt. Dasselbe wird noch viel leichter und stärker auftreten,
wenn durch entzündliche Reizung die Verdickung und Unebenheit
an der betreffenden Stelle vermehrt wird. Dass auch eine stark
vergrösserte und verdickte Bursa subacromialis unter Umständen
einmal zur Entstehung von Reibegeräuschen Veranlassung geben
kann, soll nicht geleugnet werden; für gewöhnlich ist aber die
Bursa so weit rückwärts gelagert, dass sie gar nicht zwischen die
Tubercula und das Acromion gerathen kann. Jarjavay's Gründe
gegen die Möglichkeit dieser Sehnenverschiebung sind also nicht
stichhaltig; vielmehr sind seine als Bursitis traumatica aufgefassten
Fälle ebenfalls als Luxationen der Bicepssehne zu betrachten. Wenn
nun auch, wie Jarjavay hervorhebt, der directe anatomische Nach¬
weis der Luxation nicht geführt ist, so lässt sich doch in unserem
Falle ein Nachweis von fast gleicher Beweiskraft führen. Stelle
ich mich nämlich hinter den Patienten und suche mit den fest auf
die Gegend der Bicepsfurche angedrückten Fingerspitzen das Heraus¬
gleiten der Sehne zu verhüten, so kann der Patient die Verschiebung
Digitized by VjOOQle
8
L. Heusner. Ueber einen Fall von habitueller Subluxation etc.
des Oberarmkopfes trotz aller Anstrengungen nicht zu Stande bringen.
Und zwar ist es nicht etwa der gegen den Knochen geübte Druck,
sondern nur die Fixation der Sehne, wodurch dieser Erfolg bewirkt
wird, da durch einen weit stärkeren, mit flacher Hand ausgeübten
Druck die Verschiebung des Oberarmkopfes nicht verhindert wird.
Dieser Versuch beweist auch, dass bei unserem Patienten die Luxa¬
tion der Sehne das Primäre und die Verschiebung des Oberarm¬
kopfes das Secundäre ist. Wir werden daher alle Symptome ver¬
stehen, wenn wir annehmen, dass schon zur Militärzeit ein Reiz-
oder Schwächezustand in der Sehnenscheide bestanden hat, dass
beim Stiefelwichsen zu Ostern des Jahres eine Zerreissung der
Sehnenscheide und Hinausgleiten der Sehne stattgefunden hat, und
dass die hundertfältige Wiederholung dieses Vorganges und das
damit verbundene Aufwärtsdrängen des Kopfes eine Ausweitung der
Kapsel und Abschleifung des oberen Pfannenrandes zur Folge hatte.
Beim Einwärtsdrehen des Oberarmes gleitet die Sehne nach innen
ab. Der Gelenkkopf steigt nach oben bis an den Fornix coraco-
acromialis und das Tuberculum majus stemmt sich bei Abduction
und Erhebung des Armes gegen den Rand des Knochendaches an.
Durch Auswärtsdrehen des Oberarmes und Anspannung des zwei¬
köpfigen Muskels kehrt die Sehne in ihr natürliches Bett zurück
und zwingt den Gelenkkopf das Gleiche zu thun.
Was nun den für den Patienten wichtigsten Punkt, nämlich
die Therapie betrifft, so muss ich leider gestehen, dass meine Be¬
mühungen bis jetzt ganz erfolglos geblieben sind, indem keine Art
von Druck gegen den Kopf oder Unterstützung des Oberarmes etwas
genützt hat. Nur die erwähnte Fixation der Sehne mit den Finger¬
spitzen kann die Verschiebung einigermassen verhüten, ist aber für
den Patienten zu schmerzhaft und kann ausserdem mit mechanischen
Apparaten nicht nachgeahmt werden. Es bliebe also nur das opera¬
tive Verfahren, etwa die Freilegung der Sehne und Fixation in ihrem
Bette übrig, ein Eingriff, zu dem sich der Patient, für welchen die
gute Function des Schultergelenkes eine Lebensfrage ist, einstweilen
noch nicht entschliessen kann. Ich würde mit dem Patienten für
einen guten Rath in therapeutischer Beziehung dankbar sein.
Digitized by CjOOQle
II.
#
Aus der chirurgisch-orthopädisclieii Privatklinik des
Prof. Dr. A. Hoffa in Wiirzburg.
Ein Fall von multiplen congenitalen Contracturen.
Von
Dr. A. Schanz,
Assistenzarzt der Klinik.
Mit 1 in den Text gedruckten Abbildung.
Angeborene Deformitäten haben von jeher das Interesse der
Aerztewelt besessen, sie sind von jeher mit besonderer Vorliebe
studirt und auch beschrieben worden. So zahlreich auch die all¬
überall in der Literatur verstreuten Beschreibungen solcher Deformi¬
täten sind, so finden sich doch immer wieder Fälle, für die man
Analoga in der Literatur vergebens sucht, die mehr weniger als
Unica dastehen. Einen solchen Fall habe ich Gelegenheit gehabt,
an der Klinik meines hochverehrten Lehrers, des Herrn Prof.
Dr. A. Hoffa in Würzburg zu sehen und zu untersuchen.
Ich möchte diesen Fall hier kurz beschreiben, nicht bloss weil
derselbe eben ein Unicum darstellt, sondern hauptsächlich, weil in
diesem Fall die Aetiologie völlig klarliegt und weil dieser Fall
darum geeignet erscheint, auf das ganze noch recht dunkle Gebiet
der Aetiologie der angeborenen Deformitäten überhaupt ein Licht zu
werfen.
Den Patienten, Eberhard B., 4 Jahre, Apothekerssohn aus G.,
zeigt umstehende Abbildung.
An den inneren Organen sind Abnormitäten und pathologische
Veränderungen nicht nachweisbar. Ebensowenig lässt sich eine
Digitized by VjOOQle
10
A. Schanz.
Störung des Nervensystems, weder des centralen noch des peripheren
constatiren. Die Intelligenz des Knaben ist zwar keine besonders
grosse; aber bei näherer Beobachtung* überzeugt man sich leicht,
dass von einer krankhaften Verminderung der Intelligenz keine Rede
sein kann.
Die Körperformen unseres Pa¬
tienten weichen hingegen in ausge¬
dehntem Maasse von der Norm ab.
Wirklich normale Formen zeigt
nur der kräftig entwickelte, gedrun¬
gene Rumpf.
Der Schädel entspricht in seiner
Grösse und in seinem Rauminhalte dem
Rumpfe; derselbe zeigt vor allem keine
Erscheinungen, welche auf einen Hy-
drocephalus schliessen Hessen, noch
ist eine MikrocephaHe vorhanden. Doch
ist die Form des Scheitels nicht nor¬
mal. Während das Hinterhaupt flach
ist, ist der Schädel hoch gewölbt.
Die Ohrmuscheln liegen dem Kopf
auffalHg flach an. Die Mundspalte
ist sehr klein; die Kiefergelenke sind
nicht in normalem Umfang bewegHch.
Die Schneiden der Zähne können nur
bis zu einem Abstand von 2 cm aus
einander gebracht werden. SeitHche
Bewegungen des Kiefers sind nur in
ganz engen Grenzen mögHch.
Der kurze, gedrungene Hals setzt
sich gegen Kopf und Brust nur
wenig ab. Die Halswirbelsäule ist in ihrer Beweglichkeit stark
beschränkt. Seitwärtsdrehungen des Kopfes können kaum um 45°
ausgeführt werden; Vor- und Rückwärtsbeugung sind noch mehr
beschränkt. Bei diesen Bewegungen strengt der Patient seine Hals¬
muskeln stark an und benutzt zur Unterstützung derselben noch
das Platysma, dessen jeweilig zur Action gelangende Faserzüge
reliefartig vorspringen. Die Folge dieser Functionserweiterung des
Platysma ist eine deutliche Hypertrophie dieses Muskels.
Digitized by VjOOQle
Ein Fall von multiplen congenitalen Contracturen.
11
Ebenso wie der Halstbeil sind auch Brust- und Lendentheil
der Wirbelsäule minder beweglich.
Alle Kopf- und Rumpfbewegungen, vor allem aber das Augen¬
spiel unseres Patienten erhalten dadurch ein ganz eigenartiges Ge¬
präge. Wo ein anderes Kind leicht und schnell den Kopf nach der
Seite wendet, muss unser kleiner Eberhard viel grössere Theile
seiner Wirbelsäule in Bewegung setzen, um denselben Ausschlag zu
erzielen, und muss eventuell noch durch Augenbewegungen den zu
geringen Ausschlag ersetzen.
In augenfälligem Missverhältniss zu dem kräftig entwickelten
Rumpf stehen die Extremitäten, welche weder in ihrer Länge noch
in ihrem Umfang normale Grösse erreichen.
Dieses Missverhältniss wird an den einzelnen Extremitäten
vom proximalen nach dem distalen Ende zu immer deutlicher, so dass
Hände und Füsse schliesslich noch viel kleiner erscheinen als Ober¬
arm und Oberschenkel.
Infolge der Enge des Schultergürtels sitzt die Schulter höher
und mehr medial als normal. Das Schultergelenk zeigt normale
Formen. Doch ist dasselbe in seiner Beweglichkeit stark beschränkt.
Der Arm kann seitlich ohne Mitbewegung des Schulterblattes nicht
um 90° erhoben werden, unter Mitbewegung desselben bis 30° über
die Horizontale, nach vorn bis 45° über dieselbe.
Im Ellenbogengelenk sind Beugung und Streckung in normalem
Umfang möglich. Die Supination des Vorderarms ist hingegen nicht
vollständig auszuführen. Doch lässt sich nicht sagen, ob das Hinder¬
niss im Ellenbogen oder im Handgelenk oder in beiden zusammen zu
suchen ist.
Die Excursionen des Handgelenkes bleiben in allen Richtungen
hinter der normalen Breite zurück.
Die Finger werden in halber Beugung gehalten. Versucht
man dieselben zu strecken, so bilden sich an der Volarseite straffe,
bogensehnenartig vorspringende Hautfalten, welche die Weiter¬
bewegung inhibiren.
Beim Spreizen der Finger springen ähnliche Falten schwimmhaut¬
artig zwischen denselben vor. Dasselbe gilt entsprechend vom Daumen.
Die Beugefähigkeit der Fingergelenke ist zwar auch beschränkt,
aber nicht in so erheblichem Maasse wie die Streckfähigkeit. Die
Hände können activ zur Faust geschlossen werden; nur die Klein¬
fingerspitze bleibt dabei etwas zurück.
Digitized by CjOOQle
12
A. Schanz.
Die Hüftgelenke sind in normalen Grenzen beweglich bis auf
die Abduction, welche leicht beschränkt ist. Die beiden Beine können
so weit gespreizt werden, dass sie annähernd einen rechten Winkel
einschliessen.
Die Kniegelenke werden beide in einer mittleren Beugestellung
gehalten, und zwar steht das rechte Knie in noch etwas stärkerer
Beugung als das linke. Es kann das rechte bis auf fehlende 20°
gestreckt und um ungefähr 100° gebeugt werden, das linke erlaubt
etwas grössere Excursionen. In den Kniekehlen spannen sich beim
Strecken die Weichtheile und erzeugen schwimmhautähnliche Bil¬
dungen. Die Patellen sind beide lateralwärts verlagert. Die rechte
liegt auf der Aussenseite des Condylus externus femoris, die linke
auf der vorderen Seite desselben. Die Facies intercondylicae sind
frei und leicht abzutasten. Beide Kniee stehen in massiger Genu
valgum-Stellung.
Noch stärker als die Kniee sind die Füsse deformirt, und
zwar ist der rechte ein Klumpfuss, während der linke einen
Plattfuss darstellt. Lagert man den rechten Fuss mit seiner
Sohle über den Rücken des linken herüber, so verschränken sich
die beiden Füsse in einander und man sieht deutlich, wie der
Druck des einen im Sinne der Erzeugung der Deformität des an¬
dern wirkt.
Wie am Rumpf geben diese Contracturen auch an den Ex¬
tremitäten allen Bewegungen ein eigenartiges Aussehen und beein¬
trächtigen die Functionen im höchsten Grade. Alle Bewegungen
geschehen unter grosser Anstrengung der in Action tretenden
Muskelgruppen. Vielfach müssen auch an den Extremitäten grössere
Abschnitte in Bewegung gesetzt werden, um ein bestimmtes Ziel
zu erreichen. Alle Bewegungen geschehen dabei langsam und haben
etwas Krampfhaftes, Unbeholfenes an sich. Die oberen Extremi¬
täten sind zu vielen Verrichtungen untauglich. Ein Gebrauch der
Beine zu selbstständigem Stehen und Gehen ist unmöglich. Dieser
Umstand hatte den Patienten in die Klinik geführt.
Trotz der grossen Seltenheit des hier gezeichneten Krankheits¬
bildes konnten über die Diagnose ernste Zweifel nicht bestehen. Dass
es sich nicht um eine Missbildung infolge einer Störung der Keim¬
anlage handelt, beweist der Umstand, dass wir an dem Patienten
nirgends einen Defect oder eine Verlagerung oder etwas dergleichen
finden können. Dass eine Erkrankung des Centralnervensystems
Digitized by CjOOQle
Ein Fall von multiplen congenitalen Contracturen.
13
für die Entstehung nicht verantwortlich gemacht werden kann, ist
schon oben erwähnt.
Dass die Deformitäten unseres kleinen Patienten nicht der
Ausdruck einer centralen Störung sind, beweist schlagend die oben
geschilderte Möglichkeit, die Ftlsse des Patienten im Sinne ihrer
Deformität mit einander zu verschränken. Wir sehen daraus, dass
im intrauterinen Leben die Ftlsse in dieser Weise andauernd gegen
einander gepresst worden sein müssen. Dass der congenitale Klump-
fuss und Plattfuss in der Form, wie wir sie hier vor uns haben,
typische intrauterine Belastungsdeformitäten darstellen, braucht nicht
weiter ausgeführt zu werden. Da weiterhin dieser Klumpfuss und
dieser Plattfuss auch congenitale Contracturen darstellten, so liegt
nichts näher, als auch die Contracturen der übrigen Körperabschnitte
als intrauterine Belastungsdeformitäten aufzufassen.
Nehmen wir als Ursache der abnormen intrauterinen Be¬
lastung die häufigste, den Mangel an Fruchtwasser, so finden wir
für alle Deformitäten an unserem Patienten leichte und ungezwungene
Erklärungen.
Zusammengepresst von der Uteruswand hatte der Fötus nicht
Raum, seine Gelenke genügend zu bewegen. Ebenso aber wie zur
Erhaltung der normalen Beweglichkeit eines Gelenkes gehören zur
Ausbildung derselben Bewegungen des Gelenkes in normalem Umfang.
Können dieselben nicht ausgeführt werden, so ist die Beweg¬
lichkeitsbeschränkung, die Contractur, die unausbleibliche Folge.
Wie die Contracturen, so sind die übrigen Abweichungen von
der Norm, welche unser Patient bietet, leicht als Folgen derselben
Ursache zu erklären. Zunächst das Missverhältnis zwischen der
Grösse des Rumpfes und der der Extremitäten. Das Zurückbleiben
der Extremitäten stellt eine Art Inactivitätsatrophie der festge¬
drückten, wenig bewegten Glieder dar. Dass die eigenthümliche
Schädelform als Druckfolge anzusehen ist, beweisen die eng ange¬
drückten Ohrmuscheln.
Eine prompte Bestätigung der Diagnose „multiple congenitale
Contracturen als Folge von Raurabeengung im intrauterinen Leben“
ergab die Anamnese, welche aus äusseren Gründen erst erhoben
werden konnte, als die Diagnose längst gestellt war.
Die Mutter des Patienten gibt an, dass ihr Leibesumfang
während der Schwangerschaft so wenig zunahm, dass man auch in
den letzten Wochen kaum sehen konnte, dass sie schwanger sei.
Digitized by VjOOQle
14
A. Schanz.
Die Kindesbewegungen habe sie auffällig stark gefühlt, vielfach seien
dieselben geradezu schmerzhaft gewesen. Die Geburt erfolgte
7 Wochen zu früh in Steisslage. Fruchtwasser war ganz
auffällig wenig vorhanden. Die Geschwister des Patienten sind
frei von Deformitäten.
Nach dieser Anamnese können Zweifel an der Diagnose nicht
bestehen. Ja, unfeer Fall ist so klar und rein, dass derselbe ge-
wissermassen als ein Paradigma dieser intrauterinen Belastuugs-
deformitäten dasteht.
Es ist äusserst interessant, an unserem Patienten zu sehen,
wie die Contracturen der einzelnen Gelenke, die Deformirungen der
einzelnen Theile im allgemeinen vom Centrum nach der Peripherie
hin immer stärker werden. Interessant ist es weiter, dass ein ana¬
loges Yerhältniss in der Häufigkeit des Vorkommens der einzelnen
hierher gehörigen Deformitäten besteht. Angeborene Klumpfüsse
und Plattfüsse gehören zu den täglichen Beobachtungen, angeborene
Contracturen der Finger und des Handgelenkes sind nicht über¬
mässig selten, ebensowenig wie angeborene Contracturen der Knie¬
gelenke mit und ohne Luxation der Patella. Angeborene Contrac¬
turen der Hüftgelenke, der Ellenbogengelenke und der Schultern sind
nur äusserst wenig beschrieben; eine Beschreibung von angeborenen
Contracturen der Wirbelsäule und des Kiefergelenkes habe ich in
der Literatur nirgends entdecken können; dieselben stellen jeden¬
falls äusserst seltene Vorkommnisse dar.
Dieselben fehlen auch in einem Fall, der von allen, über die
ich Angaben erlangen konnte, dem unsrigen am ähnlichsten ist.
Es handelt sich in diesem Fall um einen Patienten aus der
Praxis des Herrn Prof. Julius Wolff in Berlin. Für die liebens¬
würdige Ueberlassung der betreffenden Notizen möchte ich nicht
unterlassen, Herrn Prof. Wolff meinen verbindlichsten Dank auch
an dieser Stelle auszusprechen.
Bei dem 1 jährigen Kind fanden sich Contracturen fast aller
Extremitätengelenke. Die Schultergelenke waren schwer beweglich,
die Ellenbogengelenke fast ganz unbeweglich in Extensionsstellung,
ebenso die Kniegelenke. Die Hüftgelenke schwer beweglich und in
der Stellung maximaler Abduction und Rotation nach aussen; dazu
hochgradiger Pes varus beiderseits und Klumphände (Talipomanus
flex. supin.).
Dass dieser Fall ebenso wie der unsere zu den intrauterinen
Digitized by VjOOQle
Ein Fall von multiplen congenitalen Contracturen.
15
Belastungsdeformitäten gehört, unterliegt wohl keinem Zweifel, wenn
auch eine diesbezügliche Anamnese fehlt.
Zum Schluss will ich noch kurz die therapeutischen Mass¬
nahmen, welche bei unserem Patienten zur Anwendung kamen, und
deren Erfolg erwähnen.
Die Aufgabe war die, dem Patienten selbständiges Gehen zu
ermöglichen. Es wurden dazu der Klumpfuss und der Plattfuss,
sowie die Kniee, in der auch sonst geübten Weise redressirt und
das Resultat durch Gips verband festgehalten. Nachdem die Gelenke
sich der erwünschten Stellung genügend angepasst hatten, wurden
die Verbände abgenommen und die unteren Extremitäten einer
Massagebehandlung unterzogen. Diese ist zur Zeit noch nicht ab¬
geschlossen; das erstrebte Ziel wird aber sicher erreicht werden.
Digitized by VjOOQle
III.
Ein verstellbarer Finger-, Daumen- und Handgelenks-
Pendelapparat 1 ).
Von
Dr. Hermann Nebel,
Director des orthopädischen Instituts in Frankfurt a. M.
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
Der hier zu beschreibende Apparat ist die Vervollkommnung
eines vor 2 Jahren von mir construirten und seitdem mit grossem
Vortheil, nicht nur in meiner, sondern auch in verschiedenen anderen
Heilanstalten, so besonders im Hamburg-Eppendorfer Krankenhause,
gebrauchten Fingerbeugependlers. Ich habe denselben zwar
im Frankfurter ärztlichen Verein und auf dem Chirurgencongresse
1895 demonstrirt, aber nicht weiter publicirt, weil die ursprüngliche
Ausführung des Instrumentes noch manches zu wünschen übrig liess,
so dass ich fortgesetzt an seiner Verbesserung arbeitete. Nachdem
der Apparat, in sehr viel vollkommenerer Herstellung, auf der Natur¬
forscherversammlung in Frankfurt a. M. 1896 Beifall gefunden hatte,
wurde er seitens meines Mechanikers, Herrn Ditthorn, noch ein¬
mal gründlich umgearbeitet, so dass er auch für Daumen- und
Handgelenksbewegung dienlich wurde. In seiner jetzigen Ge¬
stalt glaube ich den kleinen, handlichen, je nach seiner Zusammen¬
stellung den verschiedensten Indicationen gerecht werdenden Mobi-
lisirungsapparat den Fachgenossen empfehlen zu dürfen, über¬
zeugt, dass derselbe sich nicht nur für die Nachbehandlung
von Unfallverletzten, sondern auch für jede chirurgische Ab-
*) Der Apparat steht unter Gebr. Musterschutz und wird für 75 Mark
von Mechaniker Ditthorn, Hochstr. 40, Frankfurt a. M., geliefert.
Digitized by CjOOQle
Ein verstellbarer Finger-, Daumen- und Handgelenks-Pendelapparat. 17
theilung, vielleicht auch für manche an Beschäftigungsneurosen:
Schreib- etc. Krämpfen Leidende, als eine nützliche An¬
schaffung erweisen wird.
Der auf Fig. 1 und 2 in der Herrichtung für Fingerbeuge-
pendeln, auf Fig. 3 für Daumenpendeln, auf Fig. 4 in der
Completirung für Handgelenkpendeln abgebildete, an einer
Tischecke aufliegende Apparat setzt sich aus sieben Theilen zusammen:
1 . dem Auflegebrett für Unterarm und Hand, mit Riemchen
und Durchstecklöchern, sowie Knopf vorne zur eventuellen Fixirung
der Grundphalange des Fingers oder des Unterarmes direct hinter
dem Handgelenke; am vorderen Ende des Brettes ist rechts wie
links eine Hülse mit Stellschraube eingelassen, zur Aufnahme
und beliebig hoch vorzunehmenden Einstellung von
Anmerk. In den Abbildungen sitzt die Klemmenträgerstange oben auf
der Gelenkstange des Pendelsystems. Wir haben indess herausgefunden, dass es
besser ist, dieselbe stets unter derselben gleitend zu befestigen, so zwar, dass
der Schieber unten, sein Führungszapfen aussen, die Schraubenmutter (— stets
fest per Schlüssel anzuziehen —) oben auf sitzt.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 2
Fig. 2.
Digitized by tjOOQle
18
Hermann Nebel.
2 . der oben hakenförmig amgebogenen, mit einem Aufnahme*
schlitze für die Nute der Pendelachse versehenen, Pendelträger¬
stange;
3. einem — mit seiner dem Stücke 6 . zu entnehmenden Schraube
innenseitig — einwärts an dieser anzuschraubenden Bänkchen in
Form eines Triangels zum Auflegen des Daumens oder
der bei abwärts schauender Hohlhand yorzunehmenden Finger. Letz¬
teres geschieht besonders dann, wenn ein Patient nicht genügend
supiniren kann, um in der wirksameren Art, mit aufwärts schauender
Hohlhand, zu pendeln. Uebrigens kann das Daumenpendeln zuweilen
auch ohne Bänkchen geschehen;
4 . der Pendelstange, welche articulirend verbunden
ist mit einem, Fixirung in beliebiger Winkelstellung
durch Verschiebung einer Flügelschraube 7. 1 ) gestattenden Ge¬
lenksysteme. An dessen oberer, nach ihrem freien Ende hin
von der Achse ab flach liegend gedrehten, geschlitzten Gelenkstange
sind beliebige, dem jeweiligen Zwecke entsprechende, flach auf¬
liegende, gleichfalls geschlitzte, in einem mittelst der Schraube
zu fixirenden, Schieber s laufende, rechts und links hin, wie vor- und
rückwärts verschiebliche Klemmenträger anzubringen, und zwar:
5. derjenige mit der Klemmvorrichtung für das vor¬
dere Finger- oder Daumenglied. Diese sitzt als Bogen, in
den selbst dicke Finger passen, am freien inneren Ende der Träger¬
stange; sie ist oben durchbohrt, um einer Schraube Durchgang zu
gewähren, die ein innen oben anliegendes Plättchen, welches,
gepolstert, über den Fingernagel zu liegen kommt, so weit
herunter drückt, bis das Fingerglied zwischen ihm und dem von
dem Bogen überwölbten Stücke der Trägerstange fest gepackt ist,
wie Fig. 1 am Ringfinger zeigt, dessen Kuppe in Fig. 2 bis
zurBerührung in dieHohlhand hineingebeugt ist; Fig. B
illustrirt die Fassung und Pendelung am Daumen.
Diese, die verschiedenst gestalteten Fingerglieder rasch und
sicher packende Vorrichtung, die selbst bei festem Schlüsse kaum
Beschwerden macht, die sich vermittelst des Winkelsystemes, an
dem sie angebracht ist, ohne weiteres in jedem beliebigen, der
pathologischen Finger- (Handgelenk)-Stellung entsprechenden, Winkel
*) Diese Ziffern sind auf den betreffenden Theilen und Stücken einge-
schlagen.
Digitized by CjOOQle
Ein verstellbarer Finger-, Daumen- und Handgelenks-Pendelapparat. 19
zum Pendel einstellen lässt, sichert dem Instrumente einen grossen
Vorzug vor allen anderen zu demselben Zwecke angegebenen Ap¬
paraten.
Beim Fingerbeugependeln ist die Pendelträgerstange 2 .
so in die Aufnahmehülse, rechts vorn am Brette für die linke Hand
und umgekehrt für die rechte, einzusetzen ,• dass der Aufnahme-
Fig. 4.
schlitz nach rückwärts (central) schaut; beim Daumen¬
pendeln und beim Fingerpendeln auf dem Auflegebänk-
chen 3, ist sie umgekehrt, nach vorn offen einzusetzen. Ferner
ist, wie aus Fig. 3 — besser noch aus Fig. 4 im Vergleiche zu
Fig. 2 — ersichtlich, das Gelenksystem nach Lockerung der
Flügel schraube 7. herumzuwerfen, so dass der Winkel, welchen die
Gelenkstangen des Hebelsystems mit einander bilden, nach vorne
statt nach hinten offen ist. Da die Fingerklemme hierdurch nach
abwärts zu stehen kommt, muss sie durch Lösung der Schraube
und durch Herausholen und Umsetzen des Schiebers anders herum,
Fig. 3.
Digitized by VjOOQle
20
Hermann Nebel.
mit aufwärts stehendem Klemmbogen, befestigt werden. Dabei achte
man darauf, dass der Schraubenzapfen in den Schlitz der Gelenk-
wie der Klemmenträgerstange, der Führungszapfen aber stets
aussen an die Gelenkstange und in den Schlitz der Klemm en-
trägerstange hineinkommt. (Zur Sicherheit habe ich ein A an dem
Schieber und an der Gelenkstange einschlagen lassen.)
5 A. Die Klemmenträgerstange mit der durch zwei Flügel¬
schrauben mehr oder weniger breit, sowie enger und weiter, ausser¬
dem durch eine besondere Schraube 8. fest zu stellenden, einfachen
Handklemme ist, wie aus Fig. 4 erhellt, bei vorwärts um¬
geworfenem Winkelsystem aber unten, nicht, wie ge¬
zeichnet, oben aufzuschrauben —, worauf man Beuge- und
Streckpendeln, sowohl der vier Finger zusammen im Meta-
carpophalangealgelenk-Systeme, als auch im Handgelenke
vornehmen kann. Im ersteren Falle wäre die Klemme vor, im letz¬
teren hinter den Metacarpophalangealgelenken anzulegen, wobei man
oben ein Stück Filz unterlegt.
Die gleiche Vorrichtung dient aber auch durch Vermitte¬
lung von
6. einem kurzen Winkeleisen, das die Handklemme senk¬
recht, statt wagerecht befestigen lässt, für Handgelenkpendeln
im Sinne der Ulnar- und Radialflexion.
Man löse zu diesem Zwecke die Schraube am Schieber auf
der Gelenkstange, hebe die Handklemme ab und setze statt ihrer
das Winkeleisen mit seinem Schlitze im längeren Ende hin; an das
kurze, aufwärts gerichtete Ende desselben befestigt man mittelst des,
sonst zum Anschrauben des Bänkchens an der Trägerstange dienen¬
den, Schraubenzapfens und seiner Mutter (letztere aussen) die nun
senkrecht gestellte Handklemme, da, wo der Buchstabe B steht, so,
dass ihr längerer Arm nach oben steht und nach aussen, d. h. nach
der Seite des Brettes, wo der Pendel eingehängt ist, also für die
linke, auf die Kleinfingerseite hochkant gestellte und in die Klemme
einzuschiebende, Hand rechts, für die rechte links. Zum Fest¬
stellen der Handklemme in jeder Breite ist noch eine besondere
Schraube, 8 . gezeichnet, an 5 A 1 die nur anzuschieben und dann fest¬
zustellen ist.
Jedem Apparate ist ein kleiner, winkelig gebogener Schrauben¬
schlüssel beigegeben. Die Achsenschraube muss vor dem Ein-
liängen des Pendelsystems immer so weit gelöst werden, dass
Digitized by
Google
Ein verstellbarer Finger-, Daumen- und Handgelenks-Pendelapparat. 21
zwischen dem Schraubenkopfe innen und der in den Aufnahme-*
schlitz einzusetzenden Nute einige Millimeter klaffen; dann muss
sie aber fester angezogen werden, als es mit den Fingern möglich
ist, also mit dem Schlüssel. Bei den anderen Schrauben genügt
anfangs wohl das Schliessen mit den Fingern; durch festeres An¬
ziehen mit dem Schlüssel vermeidet man aber sicherer ein Locker¬
werden und schädliches Hin- und Herjuckeln in den Nuten.
Die Application des Apparates für Pendelbewegungen
im Handgelenke ist aus der Abbildung wohl ohne weiteres klar.
Die erste Sorge muss immer sein, die Achse des zu bewegen¬
den Gelenkes in die Achse des Apparates richtig einzu¬
stellen, was hier gar keine Schwierigkeit macht, eher beim Pendeln
im Metacarpophalangealsystem; für kleine dünne Hände lässt die
Trägerstange sich nämlich, weil der Aufnahmeschlitz für bequeme
Handhabung seiner Stellschraube eine gewisse Höhe haben muss,
nicht so tief herunterstellen, als dies für die Höhenlage der Pendel¬
achse wünschenswerth sein kann. Dem ist durch Unterlegen eines
Stückchens Filz unter die Hohlhand leicht abzuhelfen. Die zweite
Sorge ist, zunächst jede Beunruhigung des Patienten durch
schmerzenden Zwang zu vermeiden. Man befestige daher
stets die Klemmen bei gelöster Stellschraube, damit Klemme und
Pendel den die pathologische Gliedverstellung thunlichst berück¬
sichtigenden Winkel zu einander bilden. Das Weitere findet sich
dann leicht durch schonendes Ausprobiren im Verschieben und durch
Feststellung der Stellschraube im Schlitze der die Lage der Pendel¬
stange regulirenden Gelenkstange. Je spitzer der Winkel wird,
desto mehr Beugung, resp. Ulnarflexion, je stumpfer er wird,
desto mehr Streckung, resp. Radialflexion bewirkt das In¬
gangsetzen des Pendels, welches ebenso gut als rein passive Be¬
wegung, wie activ geschehen kann. Für allzu grobe Zwangs¬
bewegungen ist das Instrument allerdings kaum stark genug gebaut,
als dass es dabei nicht leiden möchte. Dem physiologisch Denken¬
den sollten sie sich aber ohnehin verbieten.
Die Einklemmung der Finger oder des Daumens nach Auf¬
legen auf das Bänkchen ist sehr einfach. Bei loser Schieber-Stell¬
schraube, also beliebig von rechts nach links, wie es die Stellung
des Fingers an der Hand, und von vom nach hinten, wie es die
Wahl der Phalange, an der man angreifen will, verlangt, hin- und
hergleitender Klemmenträgerstange kann man einmal die Neigung
Digitized by CjOOQle
22
Hermann Nebel.
der Klemme den pathologischen Verhältnissen entsprechend wählen,
damit sie bequem um das Glied zu schieben ist, andererseits ihr die
richtige Entfernung vor-, rückwärts und seitwärts von der Drehungs¬
achse geben. Je nachdem die Beweglichkeit im vorderen oder mitt¬
leren Phalangophalangeal- oder im Metacarpophalangealgelenke zu
wünschen übrig lässt, klemmt man das vordere, mittlere oder untere
Fingerglied ein, und zwar so, dass man die Klemme — wenigstens
für die Endphalange — möglichst nahe an das Gelenk heranschiebt,
indem man das mittlere oder untere Glied oder die Hohlhand auf
das Bänkchen auf legt. Für Daumen, Zeige- und Mittelfinger der
linken Hand arbeitet man bei rechterseits am Auflegebrett einge¬
hängtem Pendel, für Ring- und kleinen Finger linkerseits, umgekehrt
für die rechte Hand.
Die Application für Fingerbeugependeln (bei rückwärts offenem
Gelenkwinkel) Fig. 1 und Fig. 2, erfordert die grösste Sorgfalt im
Einstellen.
Die Höhenstellung der Pendelachse ist durch Auf- und Nieder¬
schieben der Pendelträgerstange in der Auihahmehülse so zu regu-
liren, dass sie, entweder bei gestreckt in einer Linie mit dem Hand¬
rücken auf dem Brette gerade zwischen dessen Schlitzen auf der
betreffenden Seite, durch das übergezogene Riemchen fixirt, auf¬
liegender oder bei aufwärts in die Hand gebeugter loser Basal¬
phalange der Drehungsachse des vorderen Phalangophalangealgelenkes
entspricht. In beiden Fällen ist vorderes und mittleres Fingerglied
leicht ad maximum zu beugen. Man kann natürlich auch, um das
mittlere Phalangealgelenk besonders vorzunehmen, die Klemme an
der mittleren Phalange anlegen. Um die Bewegung aufs Metacarpor
phalangealgelenk zu übertragen, muss man die Klemme um die unterste
Phalange schliessen; anfangs event. bei strecksteifem Gelenk bei ganz
herumgeworfenem, nach vorn offenem Gelenkwinkel und abwärts
sehender Klemmschraube. Wenn man die Finger in Spreiz- und
Schliessbewegung pendeln lassen will, ist die Handstellung und Her¬
richtung des Apparates, wie sie Fig. 3 zeigt, zu wählen. Das Bänkchen
käme weg, der Klemmenträger entsprechend weit vor, und nachdem
die Pendelachse in die Höhe der Gelenkachse des Metacarpophalangeal-
gelenkes des vorzunehmenden Fingers gestellt wäre, hätte die Klemme
den seitlich aufliegenden Finger vorn zu fixiren. Dabei ist es rath-
sam, ein Stückchen Filz unter den Finger zu legen, da er, seitlich
auf liegend, empfindlich ist gegen den Metalldruck, dem gegenüber
Digitized by CjOOQle
Ein verstellbarer Finger*, Daumen- und Handgelenks-Pendelapparat. 23
-er, flach aufliegend, genügend gepolstert ist. Das Riemchen wäre
dabei vor dem Daumen um die Hand zu fixiren.
Es ist erstaunlich, wie leicht und rasch man mit dem Pendel¬
apparate bei Fingerversteifungen voran kommt, wie wenig Empfind¬
lichkeit die Patienten bei seiner Anwendung verrathen. Dieselben
Leute, die mir bei passiven manuellen Mobilisirungsbemtthungen
ihrer Finger stets Widerstand bereiteten, stöhnten und kaum Fort¬
schritte zeigten, pendelten, sich selbst überlassen, im Apparate ihre
Fingerkuppe nach kurzer Zeit bis zur Berührung in die Hohlhand
herein. Man spart Zeit, Mühe und Aerger, welche die stete Gegen¬
wehr und Maulerei der manuell vorgenommenen Verletzten uns be¬
reiten. Ich kann, nach sehr ausgedehnter Anwendung des Pendelns
speciell bei Fingerversteifungen, ursprünglich mit primitiven In¬
strumenten nach Art der von Krukenberg 1891 angegebenen,
später mit immer mehr vervollkommnten Mitteln, nur durchaus be¬
stätigen, was Krukenberg seiner Zeit schon als unschätzbare Vor¬
theile dieser Bewegungsart proclamirt und neuerdings S. 175 u. 176
seines vorzüglichen, hochinteressanten Lehrbuches der mechanischen
Heilmethoden weiter ausgeführt hat. Mit Einführung des Pendel-
principes in die chirurgische Praxis zum Zwecke der Mobilisirung
versteifter Gelenke hat Krukenberg einen ausserordentlich glück¬
lichen Griff gethan und sich ein gar nicht hoch genug zu veran¬
schlagendes Verdienst um die so vielfach zwecklos gequälten, steif
gewordenen Verletzten erworben. Wenn es Sitte wäre, Instrumente,
wie Bücher, mit Widmungen zu versehen, so würde ich das vor¬
stehend beschriebene in Hochachtung Herrn Dr. H. Krukenberg
widmen.
Digitized by VjOOQle
IV.
Das Dipsbett zur Behandlung der Skoliose.
Von
Dr. M. Jagerink, Rotterdam.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Die guten Erfolge, die bei der Behandlung der Spondylitis
das Gipsbett nach Lorenz aufweisen kann, die bequeme Lage,
welche die Patienten darin einnehmen, so dass sie 3—4 Monate
ohne Unterbrechung die nämliche Lage beibehalten können ohne
jede Belästigung, und hauptsächlich die gute Fixation, die ohne
jegliche Mühe in einem Gipsbett zu erreichen ist, riefen bei mir
den Gedanken wach, diesen Apparat zu benutzen bei der Behand¬
lung der Skoliose.
Es schien mir erwünscht, die Zeit, welche die Patienten mit
Skoliose schlafend zubringen, also die ganze Nacht, zu benutzen zur
Redression der seitlichen Abweichung und der Torsion der Wirbel¬
säule und zur Verminderung der Verbiegung der Rippen.
Die Resultate, die ich bei meinen Patienten habe constatiren
können mit der Behandlung in diesem Skoliosenbett, combinirt mit
gymnastischen Uebungen, mit Massage und mit einer zweckmässigen
Haltung in einer guten Bank, sowohl zu Hause wie in der Schule,
veranlassen mich, jetzt schon eine Beschreibung von der Anfertigung
und der Anwendung dieses Skoliosenbettes zu geben. Ich behalte
mir vor, später eingehender auf diese Behandlung zurückzukommen
und mehr detaillirt die Resultate bei einigen Patienten, bei denen
schon vorgeschrittene Buckel vorhanden waren, mitzutheilen.
Nach vielen Proben fertige ich das Gipsbett einigermassen
abweichend von Prof. Lorenz an. Darum aber auch hauptsächlich,
weil ich meine, dass die so einfache, aber um so mehr geniale Er-
Digitized by CjOOQle
Das Gipsbett zur Behandlung der Skoliose.
25
findung von Prof. Lorenz noch viel zu wenig bekannt ist, wage
ich es, eine Beschreibung meiner Technik zu geben.
Der Patient wird in Bauchlage auf einen flachen, hart ge¬
polsterten Tisch gelegt, so dass der Kopf die Tischkante überragt
und die Stirne eine Stütze findet auf einer Unterlage, die etwas
niedriger wie die Tischebene liegt, wodurch das Kinn etwas gegen die
Brust gebeugt wird. Die Beine kommen ziemlich nahe an einander
zu liegen, und durch einen Zug am Kopf und an den Beinen wird
der Patient so viel wie möglich gestreckt. Man bedeckt dann den
Patienten mit Watte; am besten braucht man hierzu ungereinigte
Baumwolle, die, da sie nicht entfettet ist, die nasse Gipsmasse nicht
durchlässt. Liegt der Patient ruhig gestreckt, dann fertige ich
einen halbdünnen Gipsbrei an, in welchem kurze, ungefähr 10 cm
breite Flanellbinden aufgerollt werden. Es wird darauf geachtet,
dass die Gipsbinden beim Aufrollen immer tüchtig untergetaucht
bleiben, und man sorgt dafür, dass ziemlich viel Gipsmasse an
der Binde haften bleibt, dadurch dass man sie nur locker aufrollt.
Die so mit Gipsbrei tüchtig imprägnirten Binden werden in der
Länge über den Patienten gelegt und zwar so, dass er überall mit
einer doppelten bis dreifachen Lage zugedeckt ist, und damit später
beim Abheben keine Brüche entstehen, werden an den Stellen, wo
der Kopf und die Beine an den Rumpftheil sich anschliessen, einige
kleine Binden zur Verstärkung eingefügt. Jetzt fertige ich einen neuen
Gipsbrei an, dem etwas Kochsalz hinzugefügt wird, und streiche den
Verband über die ganze Oberfläche damit ein. Darüber lege ich
wieder eine Lage Flanellbinden, die in Gipsmasse aufgerollt sind,
und streiche nochmals mit dem Kochsalz enthaltenden Brei ein. Durch
das Hinzufügen des Kochsalzes hat man den grossen Vortheil, dass
das Bett fast augenblicklich, nachdem es. fertig ist, auch hart genug
ist, um abgenommen zu werden.
Noch wünsche ich, einige praktische Winke hinzuzufügen, die
ich immer bei der Anfertigung des Gipsbettes befolge.
Die Binden werden nur so lang genommen, dass sie ohne Um¬
schläge über den Patienten ausgelegt werden können, wodurch man
eine unerwünschte Dicke an den Enden verhütet.
Die erste Binde wird über die Wirbelsäule gelegt und jede
folgende soweit lateral, dass etwas mehr wie die Hälfte der vorigen
überdeckt wird; dadurch bekommt der Verband überall die gleiche
Dicke und wenn man abwechselnd die Binden rechts und links legt,
Digitized by VjOOQle
26
M. Jagerink.
halten sie einander fest, sie können von den Seitenflächen des Pa¬
tienten nicht herunterrutschen.
Das Gipsbett reicht von dem Scheitel des Patienten bis un¬
gefähr in die Kniekehle und an beiden Seiten bis auf die Unter¬
lage, es stützt sich also auf den Tisch; hierdurch hat man den
grossen Vortheil, dass das abgenommene, noch nicht völlig harte
Gipsbett mit der ganzen Länge gleichmässig auf die Unterlage drückt
und keine falsche Form annehmen kann. Der abgenommene Ver¬
band wird einige Tage ruhig hingelegt und ist dann trocken genug
zur weiteren Bearbeitung.
Fig. 1.
Skollosenbett von der Seite.
Dazu werden vom Schlosser Reifen von Bandeisen, genau passend,
auf das Gipsbett gebogen.
Zwei dieser, AB und A'B', verlaufen an den beiden Seiten¬
flächen vom Scheitel bis zum unteren Ende. Diese kreuzend wer¬
den zwei quer verlaufende Eisen angebracht, das eine, EE\ hoch
oben an der Schulter, das andere, C(7, unten am Kreuz. Diese
schmiegen sich den Seitenflächen genau an, und haben jedes an
beiden Seiten Ausläufer, die alle ungefähr 20 cm über den Rand
des Bettes hinausragen. Die Enden des hinteren Reifens, CG und
C G', sind, wenn das Gipsbett flach auf dem Boden liegt, wagerecht
nach oben gerichtet, während die beiden Enden des oberen Reifens,
EH und E' H', parallel an einander verlaufend, einen nach dem Kopf¬
ende offenen Bogen bilden. Die zwei äussersten Enden der Aus¬
läufer an jeder Seite des Bettes werden durch Längsstäbe, HG und
H'G\ mit einander verbunden.
Ein hufeisenformg gebogenes Eisen, KLM, wird über den
Beinstücken und dem unteren Rumpftheil passend gebogen.
Endlich wird noch ein runder Eisenstab, DF, in der Mitte
Digitized by VjOOQle
Das Gipsbett zur Behandlung der Skoliose.
27
passend aufgebogen; dieser überragt das Kopfende um 15 cm und
theilt sich im Lendentheil gabelförmig.
Alle diese Eisen werden solid auf dem Gipsbett befestigt; dazu
klebt man sie mit einem dünnen Gipsbrei auf und bedeckt sie dann
überall mit breiten, in dünner Gipsmasse aufgerollten Binden, die
durchaus fest auf der Unterlage ausgestrichen werden.
Bis hier ist die Bearbeitung des Skoliosenbettes unabhängig
von der Verkrümmung des Patienten. Zur weiteren Beschreibung
wählen wir einen Apparat für einen Patienten mit rechts dorsaler
und links lumbaler Verkrümmung.
Fig. 2.
Man schneidet aus den, der Verkrümmung entgegengesetzten
Theilen des Skoliosenbettes, lateral von der Wirbelsäule, also links
dorsal und rechts lumbal, lange, ungefähr 2 cm breite Schlitze,
NO und PB. An zwei breiten Bändern, 10—15 cm breit, werden
an das eine Ende drei Oesen befestigt, welche durch die Schlitze
gesteckt werden, und an der hinteren Seite des Apparates wird durch
einen Eisenstab, SU, der durch die Oesen gesteckt wird, das Zu¬
rückziehen verhindert. Das Band, das durch den Schlitz am Brust-
theil geht, wird über den Eisenstab, HG, an der rechten Seite ge¬
schlagen, das Band im Lendentheil über den linksseitigen Stab H'G\
Beide Bänder enden in zwei Lederriemen, die durch Gespen, welche
auf der nach hinten sehenden Fläche der Bänder aufgenäht sind,
augezogen werden können. Man kann also die Bänder mehr oder
weniger straff spannen; jedes Band ist für sich eine Schwebe.
Schneidet man jetzt die Ränder noch glatt zu, und wenn genügend
grosse Ausschnitte für die Arme gemacht sind, so ist das Skoliosen¬
bett fertig.
Der Patient wird in dieses Skoliosenbett gelegt, entweder
mit den gewöhnlichen Nachtkleidern oder in Tricotanzug gekleidet.
Digitized by VjOOQle
28
M. Jagerink.
Die breiten Bänder werden so verschoben, dass sie gerade gegen
die prominentesten Lenden- resp. Brusttheile zu liegen kommen.
In den ersten Tagen werden die Riemen nur schlaff angezogen, so
dass der Patient nur wenig von diesen gehoben wird, aber doch so
stark, dass der Rumpftheil schwebend gehalten wird und der Körper
auf dem Gipsmodell nur ruht mit dem Rücken und Beinen, und mit
dem Kopf und den Schultern. Die eingefallenen Lenden- oder
Brusttheile berühren weder den Gips noch die Schlingen, können
also vom ersten Tage an schon auswachsen, während auf die promi¬
nenten Stellen ein anhaltender Druck ausgeübt wird.
Nach 2—3 Tagen wird der Kopf des Patienten in einer
Glisson'schen Schwebe befestigt, deren Quereisen an den Haken D
aufgehängt wird und das Skoliosenbett etwas schräg gestellt und also
durch die eigene Schwere des Körpers eine andauernde Extension der
Wirbelsäule erreicht. Indem man das Skoliosenbett nur allmählich
schräger stellt, gewöhnt der Patient sich an den immer stärker
werdenden Zug und wird die Wirbelsäule immer stärker gestreckt.
Die Schlingen werden auch bald stärker angezogen, wodurch
der Rumpftheil immer stärker gehoben, und also fortwährend auch
ein stärkerer Druck auf den Buckel ausgeübt wird. Man überzeugt
sich sehr leicht durch die untergeschobene Hand, dass der Druck
ein ganz beträchtlicher ist und dass er in fast idealer Weise auf
die Rippen einwirkt: die meistprominenten Theile drücken sich
am stärksten auf den Bändern, die sich einigermassen in einem
Bogen um den Buckel legen. Der Hauptdruck ist fast gerade von
hinten nach vorn gerichtet, nur etwas diagonal, also genau wie
Hoffa es immer und immer wieder fordert, und da die Bänder
schräg nach oben verlaufen, auch einigermassen seitlich; es wird
also nicht allein auf die Verbiegung der Rippen und die Torsion der
Wirbelsäule, sondern auch auf die seitliche Verbiegung der Wirbel¬
säule eine günstige Wirkung ausgeübt. Der Effect dieses Skoliosen¬
bettes liegt in diesem richtigen Druck und in der Extension
der Wirbelsäule, welche während der ganzen Nacht und auch
noch während einiger Stunden bei Tag ohne grosse Unbequemlich¬
keiten für die Patienten auszuhalten ist.
Bisweilen ist es nüthig, an dem dem Rippenbuckel entgegen¬
gesetzten Halstheil und dem dem Lendenbuckel entgegengesetzten
Gesässtheil ein flaches Kissen zur Linderung des Druckes anzu¬
bringen. Diese Kissen wirken übrigens auch wieder redressirend.
Digitized by
Google
Das Gipsbett zur Behandlung der Skoliose.
29
In den letzten Monaten habe ich an 20 dieser Skoliosenbetten,
meist bei älteren Patienten, bis zu 25 Jahren, oft mit grossem
Buckel, angefertigt, und die Resultate sind so, selbst über meine
grossen Erwartungen, günstige, dass ich diesen einfachen und wohl¬
feilen Apparat auf das wärmste empfehlen kann.
Leider habe ich von den ersten Patienten keine Photographien,
sonst würde ich die einer jungen Dame von 18 Jahren vorzeigen
können, bei der eine ziemlich starke Wirbelsäulenverkrümmung mit
sehr ausgesprochenem Lendenbuckel innerhalb 2 Monaten völlig ver¬
schwunden ist. Die Mutter des Fräuleins war ganz erstaunt über
den schnellen Erfolg.
Digitized by VjOOQle
V.
Mittheilungen ans dem orthopädischen Institut in
Frankfurt a. M.
Von
Dr. H. Nebel.
Mit 6 in den Text gedruckten Abbildungen.
1. Ein Schlittenextensionsapparat zur Erleichterung guter Verband¬
anlegung am Beine und bequemer Redressirung von Genu valgum,
Klumpfuss- und Plattfussstellung.
Seit 5 oder 6 Jahren habe ich mich bei Anlegung von Gips¬
verbänden an der unteren Extremität mit Vortheil einer einfachen
Vorrichtung bedient, die mir, störende Assistentenhände überflüssig
machend, den Fuss, unter Garantie rechtwinkliger Stellung zum
Unterschenkel, tixirt hielt und zugleich sehr gute Correctur-
hilfen, sei es gegen winklige Verstellung der Fracturen, sei es zur
Redressirung von Genu valgum oder von Klumpfuss und Platt-
fuss, bietet. *
Es war ein ca. 1 m langes, 40—45 cm breites, starkes Brett,
an dessen unterem Rande eine 12—15 cm lange Hülse mit Stell¬
schraube, wie in Fig. 1 und 2 unten *) zu sehen ist, angebracht
war; in diese Hülse wurde ein T-förmiger, starker Eisenstab ein¬
geschoben und in der für die richtige Fussstellung wünschenswerthen
Höhe durch die Stellschraube fixirt. Der Patient sass auf einem
20 cm hohen Bänkchen, das so zurecht geschoben wurde, dass der
0 In dem photographisch aufgenommenen Apparate (Fig. 1 u. 2) sind
die Hülsen zu kurz und nicht ganz an der richtigen Stelle angesetzt gewesen.
Sie sollten weiter von einander, mehr nach den Ecken hin, sitzen, für den
Fall, dass man an beiden Beinen zugleich extendiren und arbeiten will.
Digitized by VjOOQle
Mittheilungen aus dem orthopädischen Institut in Frankfurt a. M. 31
Furo gerade, wie Fig. 1 zeigt, an das T zu stehen kam. Befestigt
man den Patienten per Schenkelbinde an das Bänkchen und dieses
per Zug rückwärts ans obere Ende des Brettes heran, so wirkt man
extendirend. Natürlich darf dies erst dann geschehen, wenn der
Fuss, wie in Fig. 1 zu ersehen, durch die Anbandagirung am T un¬
verrückbar fest gestellt ist.
Digitized by VjOOQle
32
H. Nebel.
Man legt dann seinen Verband weiter, so hoch er eben reichen
«oll, an, schneidet ihn je nachdem auf der unterlegten Schnur auf
oder nicht, hat aber jedenfalls vor Starr werden des Gipses daran
zu denken, durch einen über die Querstange des T oben weg, bis
auf die an demselben befestigte Pappsohle (siehe Fig. 2) geführten
Schnitt, welcher die, Pappsohle und Stange verbindende, Schnur
auch trennen muss, den Weg für das Herausheben des T aus dem
Verbände frei zu machen. Zu diesem Zwecke braucht man dann nur
die Schraube zu lösen, das Bein gut halten zu lassen und, be¬
hutsam juckelnd, die Stange aufwärts herauszuheben.
Indem ich nun dem ursprünglich sehr primitiven Hilfsmittel
allmählich bessere, sicherere Formen gegeben habe, bin ich schliess¬
lich zur Construction des Apparates gekommen, wie ihn Fig. 2 zeigt,
aus Eisenrohr und einem auf Rollen laufenden Sitze mit verstell¬
barer Rücklehne, mit hinten an demselben angebrachter Schrauben¬
extension. So oder einfacher, theilweise aus Holz, hergestellt, ist der
Apparat 1 ) keine grosse Anschaffung, die sich für jedes Kranken¬
haus unbedingt empfehlen dürfte.
Ein Blick auf die Abbildungen zeigt, was der Apparat bezweckt
und wie er zu gebrauchen ist. Es bedarf nur einiger Worte über
seine Verwendbarkeit für die verchiedenen, eingangs erwähnten
Zwecke.
Handelt es sich um Anlegung eines Modellgipsverbandes,
der vor dem Erstarren aufzuschneiden, abzuheben und später aus-
zugiessen wäre, so ist zuerst eine starke gewachste Schnur über den
Fussrücken und die Vorderfläche des blossen Beines zu legen, der
entlang man, stark anziehend, den fertig gestellten Verband spalten
kann. Man beginut, um den Fuss recht genau in der Form zu be¬
kommen, damit, dass man die ersten Touren der gut anzureibenden,
nicht stark ausgedrückten Gipsbinde um den blossen, hochgehobenen
Fuss und die Ferse und Knöchel glatt anlegt; dann erst stellt man
den Fuss gegen das T resp. die, wie Fig. 2 zeigt, an diesem befestigte,
starke, der Fusssoble knapp entsprechende Pappsohle an, indem man
nur unter der Ferse ein wenig stützen lässt. — Hierauf befestigt man
*) Mechaniker Ditthorn, Hochstrasse 40, Frankfurt a. M., liefert den
Apparat, wie abgebildet, für 75 Mark, etwas vereinfacht, mit Holzsitz und Ex¬
tensionsriemen für 50 Mark; dazu auf Wunsch auch eine Lorenz’sche Becken¬
stütze, an jedem Tische anschraubbar, für 18 Mark.
Digitized by
Google
Mitteilungen aus dem orthopädischen Institut in Frankfurt a. M. 33
den Fuss durch gut anzuziehende, die Ferse stützende, abwechselnd
von rechts und links her den Querstab umgreifende, die Fusssohle
fest an die Apparatsohle heranholende Bindetouren. Dann erst mag
man, wo dies wünschenswert, durch Einhängen der Kette oben am
Stuhle und Anziehen der Schraube nach Befestigung des Patienten
(resp. des Riemens am Holzsitze) mittelst Schenkelbinde am Stuhle,
extendiren. An die Stelle der in Fig. 1 zu sehenden festen Schraube
hinten kommt in Zukunft eine lose, einfach durch ein Loch zu steckende
und in die Kette einzuhängende, auch anderweitig, z. B. am Schräg¬
schwebeapparat zur Extension zu benutzende Flügelschraube.
Kniebeugecontracturen kann man nun bei der bequem zu
übersehenden und nirgends durch Assistentenhände gestörten Ver¬
bandanlegung leicht einigermassen überwinden durch Zügelführung
nach abwärts um die Seitenstangen des Apparates herum.
Um Genu valgum zu corrigiren schiebt man eine, jedem
Apparate beigegebene, seitlich aufragende Stange an und schlingt
die stark in dieser Richtung angezogene Binde mehrfach um dieselbe.
Für Dauerverbände wären selbstverständlich vorher entsprechende
Filzpolster, oben auf das Knie, oder innen an dasselbe anzulegen.
Handelt es sich um Correctur von Plattfussstellung, wobei die
Pappsohle auf der Innenseite gut hohl auszuschneiden ist, so hat
man einfach die späteren Bindentouren am Fusse so anzulegen, dass
sie, von der Sohle kommend, den Fuss innen umgreifen und durch
starken Anzug heben, indem man die Binde gegen das Ende der
Querstange anderseits zuführt und herumschlingt. Ergreift man,
nach guter Fixirung des Fusses auf der Sohle und Lösung der
Schraube, den Querstab und führt langsam zunehmende Drehung
mit demselben im Sinne der Supination aus, um diese dann durch
Feststellung der Schraube zu fixiren, so erreicht man unweigerlich
ein gutes Resultat. So ist es mir erst kürzlich gelungen, einen ent¬
zündlichen Plattfuss höchsten Grades nach Injection einer 5°oigen
Cocainlösung ins Gelenk schön zu redressiren, ohne die Patientin
zu quälen. Ich habe nur den Fuss bis zu den Knöcheln mit Filz
geschützt, innen doppelt, den Strumpf übergezogen und auf diesem
meinen Verband ängelegt.
Umgekehrt verfährt man bei Klumpfüssen, die man so
zweifellos besser und mit weniger Risiko, als nach J. Wolffs
Vorgang mit mehreren Assistenfcenhänden, redressiren kann, sofern
,man der vorzüglichen Lorenz’schen Methode des. modellirenden
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Baud. 3
Digitized by Cjooole
34
H. Nebel.
Redressements nicht unbedingt den Vorzug vor der Eingipsung eines
noch widerstrebenden, rückfedernden Klumpfusses geben möchte.
Für Spitzfusscorrectur wäre das T mit dem auf der Sohle
befestigten Fusse allmählich zu senken, resp. bei Hochhalten des
Knies durch eine untergelegte, um die Stange rechts und links
hoch befestigte Schlinge niederzudrängen. Wo spitzere Fussstellung
wünschenswerth sein sollte (Pes calcaneus), wäre es hoch zu stellen.
Ueber die Bindenanlegung am Unterschenkel und Oberschenkel hin¬
auf ist nichts zu sagen, als dass sie glatt und faltenlos, unter stetem
Einreiben des Gipses in die Maschen der Binde geschehen sollte.
Man kann mit dem Verbände natürlich bis zu jeder beliebigen
Höhe gehen, auch tadellose Geh verbände in dem Apparate an-
legen, wenn man den Patienten nur entsprechend weit genug vor,
mehr auf der anderen Sitzhälfte aufsitzend, auf dem Bänkchen fixirt
und die Lehne gesenkt hat. Man kann aber auch sehr wohl von
der Zehe, und zwar beide Beine zugleich, bis zur Achsel in dem
Apparate eingipsen, indem man die hierfür vorgerichtete Rücklehne
herausnimmt, die Lorenz’sche Beckenstütze (wie Fig. 2 zeigt) vom
am Sitze anschraubt und unter den Nacken resp. Schultergürtel
des Patienten einen entsprechend hohen Keil unterschiebt. Becken¬
gipsverbände dürften schwerlich bequemer, als in dem, tadelloses
Halten der Beine garantirenden, Apparate anzulegen sein.
Das Aufschneiden der nur als Modellverbände angelegten Gips¬
verbände auf der Schnur erfordert einige . Uebung; besondere
Schwierigkeit macht die Partie auf dem Fussrücken. Man thut
jedenfalls gut, nicht zu weit erstarren zu lassen, indem man lieber
zur Sicherheit von oben herunter, hinter der durch den Schlitz ge¬
zogenen Schnur hergehend, den Verband mit einer Mullbinde wie¬
der provisorisch schliessen lässt. Das Abheben, resp. Herausziehen
des Beines und Fusses aus dem von dem T befreiten Hülsenverbande
gelingt meist leicht. Dieser wird nun mit einer Gipsbinde, nament¬
lich unten herum, gut geschlossen, und, nach Einführung eines
starken Drahtes, am besten mit einer gut verrührten Mischung,
halb Gips halb Cement, ausgegossen. So hergestellte Modelle sind
leichter durch Abschaben und Aufstreicben der Masse mit dem
Messer oder Spatel zurecht zu modelliren und nachher glatt zu feilen.
Mit dünnem Filz überzogen sind sie sehr viel haltbarer, als Gips¬
abgüsse, welche beim Aufspannen des Leders für die Hülsen zu oft
brechen. Man kann schadlos Nägel in diese Modelle einschlagen.
Digitized by CjOOQle
Mittheilungen aus dem orthopädischen Institut in Frankfurt a. M. 35
Was nun die Fracturenbehandlung anlangt, soglaubeich,
dass der Apparat sich hier ganz besonders nützlich erweisen möchte.
Ich bin überzeugt, dass wenn sich das ebenso sichere wie bequeme
Verfahren erst eingebürgert haben wird, wir sehr viel weniger
Schiefheilungen, Verdrehungen, miserable Fussstellungen u. s. w.
Kunstfehler nach Fracturbehandlung zu sehen bekommen werden,
als bislang, weil diese Feh¬
ler ja zumeist auf schlech¬
tes Halten des Fusses und
Behinderung der Ueber-
sicht über das Operations¬
gebiet zurückzuführen sind,
Uebelstände, die mein Ap¬
parat durchaus vermeiden
lässt.
Wo es nicht angeht,
nur über einen dicken wol¬
lenen Strumpf oder über
Tricot, worunter über Reihe
und Knöchel weg stets Filz einzuschieben wäre, zu gipsen, müsste
man geleimte, in schmale Binden zurechtgeschnittene und aufgerollte
Watte glatt umlegen und mit Mullbinden fest anwickeln. Ein Haupt¬
hindernis guter Verbandanlegung ist das vielfach übliche dicke, nicht
gleichmässige Polstern mit Watte. Wer seine Binden glatt und ohne
zu viel Zug anzulegen weiss, braucht sehr wenig Polsterunterlage.
Auch bei Fractureingipsung würde ich erst vor Anstellung des Fusses
an das T eine Binde um Fuss und Knöchel legen, ohne viel Zug
gut anreibend; wenn man den schon in halbwegs erstarrender Gips¬
hülle befindlichen Fuss dann anstellt und fixirt, so wirkt der dabei
nothwendig feste Anzug weniger gefährdend.
Die Schnur würde ich dabei immer — und zwar über dem
Strumpfe, Tricot oder Polster — auflegen vor dem Gipsen, um nach¬
her den halbstarren Verband zu öffnen, ein wenig zu klaffen und
nach dem Trocknen per Kleisterbinde wieder zu schliessen. So
entgeht man jeder Gefahr und kann im Bedarffalle rasch weiter
klaffen oder abnehmen, unter Conservirung einer, nach Abtragung
von zwei Querfinger breiten Stücken jederseits vom Schnitt aus
stets wieder verwendbaren Hülse.
Die Verbände sollten stets als Gehverbände dienen, indem sie
Fig. 3.
Digitized by CjOOQle
36
H. Nebel.
dem Patienten nach 3—4 Tagen spätestens das Aufstehen und Um¬
hergehen gestatten sollten. Am unverletzten Fussgelenke wäre event.
am noch weichen Verbände, nach dem Vorschläge von Harbordt,
eine etwas Beweglichkeit gestattende Rinne (siehe Fig. 3) einzu¬
schneiden. Unter Umständen wäre es gewiss rathsam, die Ver¬
bände schon nach 10—14 Tagen abzunehmen und in eine an- und
abnehmbare Gehrinne zu verwandeln, um den von Lucas Cham¬
pionniere in seinem „Traitement des fractures par le massage et
la mobilisation* mit etwas viel Emphase breit getretenen Gesichts¬
punkten, denen man ja auch von anderer Seite, in Schweden wie
in Deutschland, schon das Wort geredet hat, in vernünftigen Grenzen
Rechnung zu tragen.
•
2. Das vereinfachte, leicht transportabel hergestellte Schwebelagerungs¬
gestell für Corsetverbandanlegung.
Gelegentlich des Ckirurgencongresses 1895 habe ich eine neue
Methode der Corsetverbandanlegung, nämlich in Bauch¬
schwebelage statt in Suspension am Kopfe demonstrirt. Dieselbe
ist im IV. Bande der Zeitschrift, S. 104, kurz besprochen. Nachdem
ich sowohl, wie eine Reihe von anderen Aerzten, seit Jahren nur
Gutes von dieser, für den Arzt sehr viel sichereren und wirksameren,
für den Patienten viel schonenderen Art der Verbandanlegung ge¬
sehen habe, so dass ich seit 2 Jahren nie mehr Veranlassung ge¬
habt habe, zu der, von mir doch vordem sehr geschätzten und viel
geübten Verbandanlegung im Kopfhang zurückzugreifen, glaube ich,
dieselbe noch einmal dringend empfehlen zu sollen. Dies geschieht
unter bildlicher Vorzeigung eines gegen mein ursprünglich aus
Holz, etwas schwerfällig construirtes Gestell, sehr vereinfachten,
leichten zweitheiligen, rasch zusammen zu stellenden und aus ein¬
ander zu nehmenden Apparates 1 ); der Rahmen desselben wiegt 9 kg,
der Kopftheil kg. Fig. 4 zeigt ihn aufgestellt, mit einge¬
spannten Traggurten und aufgelagertem Patienten, dessen Füsse
stets durch Einschnallen in den untersten Quergurt fixirt werden.
Wie die Verbandaulegung an dem mit Tricot (Achtenich) be¬
kleideten, mit einem dicken Magenpolster — von oben bis herunter
über die Schamfuge reichend — versehenen Patienten, je nach Art
*) Mechaniker Ditthorn, Hochstrasse 40, Frankfurt a. M., liefert den
Apparat, sammt Gurten, für 50 Mark.
Digitized by
Google
Mittheilungen aus dem orthopädischen Institut in Frankfurt a. M. 37
der vorliegenden Verkrümmung, vor sich geht, erhellt wohl ohne
Weiteres aus der Abbildung.
Im vorliegenden Falle soll es sich um Correctur einer rechts¬
convexen Dorsalskoliose mit Rippenhöcker handeln. Um diese mit¬
telst schräg von rechts nach links heranziehenden Zügels wirksam
zu corrigiren, muss man erst durch einen Bindenzügel einen Gegen-
Fig. 4.
halt, durch Fixirung des Beckens nach rechts heran, geben. Ein
zweiter Zügel kommt dann von links an der Verbindungsstange aus
schräg über den Rücken weg, holt den, durch die auf dem Rippen¬
höcker stark links hinüber und rechterseits niederdrückende Hand
des Assistenten fixirten, Thorax nach links heran und endet oben
links an der Seitenstange des Kopftheils. Ein dritter Zügel geht
von links oben an der Querverbindung aus, umgreift den von der
Hand des Assistenten nach links und abwärts gedrückten Thorax
Digitized by VjOOQ
38
H. Nebel.
nach vorn herum und abwärts geführt, um sozusagen detorauirend
unten links an der Seitenstange des Rahmens zu enden.
So und ähnlich kann man alle möglichen, Fixation des Beckens
nach unten rechts und links hin, Taillenbildung, Fixirung, Hebung
resp. Senkung der Schultern- und Seitencorrectur bewirkende Binden¬
züge und Detorsionszüge nach Art der von Lorenz seiner Zeit an-
Fig. 5.
Fig. 6.
gegebenen, im Hängen aber ziemlich unwirksamen, entweder vor
der Verbandanlegung mit Flanellbinden ausprobiren und anlegen
oder direct mit der Gipsbinde im Verlaufe der Eingipsung an¬
bringen.
Damit man den Patienten, nach Erhärtung des Verbandes,
bequem aus dem Gestell wieder herausbringen kann, ist der Längs¬
gurt, wie obenstehend gezeichnet, aus drei Theilen zusammen¬
gesetzt. Bei o — der Jugulargrube etwa entsprechend — und
bei u — etwas unter der Schenkelbeuge — wird er durch die Vor-
Digitized by VjOOQle
Mittheilungen aus dem orthopädischen Institut in Frankfurt a. M. 39
richtung a6, d. h. einen im oberen und im unteren Gurttheil ein¬
genähten Oesenträger und einen durch dessen Oese einerseits, dann
durch eine, am oberen wie am unteren Ende des mittleren Gurt¬
stückes umgenähte Tasche und anderseits wieder durch die Metallöse
herauszusteckenden Stab, zusammengehalten. Man braucht also nur
vom Assistenten den Stift b oben ausziehen zu lassen, während man
den Patienten umfasst und hält, um ihn dann auf die Ftisse zu stellen
und nun auch die untere Verbindung zu lösen.
Schneidet man dann, was des ganz längs unterliegenden
Polsters wegen ungenirt geschehen kann, den Verband etwas seit¬
lich anstatt in der Mittellinie vorn auf, so kann man das mittlere,
bei nicht abnehmbarem Corset natürlich in demselben zu belassende
Gurtstück sogar schonen, um es wieder zu verwenden.
Fig. 6 zeigt wie compendiös das zusammengelegt an die Wand
zu stellende Lagerungsgestell ist, das ebenso leicht zu transportiren,
aber sehr viel verwendbarer ist, als der bisher übliche Dreifuss.
Was den Ausguss der als Modell angelegten Gipsver¬
bände betrifft, so bin ich, nach vielerlei Versuchen: Ausklatschung
nach Walltuch’s Vorschlag mit Werggipsfladen, mit Holzwolle und
Gips, Sägmehl-Gipsmischung, Cementausgüssen u. a. — dazu ge¬
kommen, eine Mischung von Gips und Cement zu gleichen
Theilen zu nehmen, weil diese Ausgüsse besser wie all die erwähnten
zu bearbeiten sind, indem man nur mit dem Spatel resp. Messer,
nach Abnahme des Negativs am 2. Tage, abzutragen braucht, um
die abgeschabte Masse direct wieder zu benutzen zum etwaigen
Aufträgen.
Es ist nicht absolut nöthig, aber rathsara, den geglätteten
Torso, wenn man ein Corset aus Leder, das meiner Erfahrung nach
allem anderen Material vorzuziehen ist, aufspannen will, mit dünnem
Filz zu überziehen. Er ist dann tadellos glatt, das Leder leidet
innen nicht, und man kann ruhig Nägel einschlagen, ohne den Torso
zu gefährden. Natürlich nehmen wir den Filz immer wieder für
andere Torsos ab. Ueber die Art des zur Corsetherstellung benutz¬
baren Leders, seine Vorbereitung, Aufspannung und Fertigstellung
zum Corset handelt die nächste Mittheilung.
Digitized by
Google
VI.
Aus der Poliklinik undPrivatklinik für orthopädische
Chirurgie des Dr. Vulpius zu Heidelberg.
lieber die Verwendung der Cellulose in der Orthopädie.
Von
Dr. Oscar Vulpius,
Privatdocenten der Chirurgie.
Mit 7 in den Text gedruckten Abbildungen.
Die Orthopädie verdankt ihre erheblichen Fortschritte in der
Herstellung von Stützapparaten vor allen Dingen der Einführung
des Hülsenverbandes. Damit diese Hülsen dem betreffenden Körper-
theil sich exact anschmiegen, werden sie auf demselben genau nach¬
gebildeten Modellen gearbeitet. Die Vorzüge derartiger Modell¬
hülsenapparate leuchten sofort ein, sie erstrecken sich auf die beiden
Theile, aus denen ein orthopädischer Apparat zu bestehen pflegt,
auf den seiner Befestigung am Körper dienenden sowohl wie auf
den die Heilwirkung ausübenden Theil.
Einige das Glied circulär umgebende, mit Riemen zu schliessende
Spangen bewirkten früher die Fixation der Schienen eines Extremi¬
tätenapparates, die Mangelhaftigkeit dieser Befestigung wurde durch
Hinzufügung eines den Rumpf miteinbeziehenden Reifes, etwa eines
Beckengurtes, zu bessern versucht. Letzterer bildete auch die wenig
sichere Grundlage, auf welcher Stützapparate des Rumpfes und
Kopfes aufgebaut wurden.
Die Hülse dagegen verbindet durch ihr flächenhaftes Angreifen,
das dem Relief der normalen sowohl wie der pathologisch veränderten
Körperoberfläche bis ins Detail sich anpasst, Körper und Apparat
zu einem einheitlichen Ganzen. Diese Art der Befestigung ist nicht
Digitized by CjOOQle
Ueber die Verwendung der Cellulose in der Orthopädie.
41
nur zuverlässiger als die ersterwähnte, sie ist auch unschädlicher.
Dass auch der beste orthopädische Apparat neben dem Nutzen
Schädlichkeiten in sich birgt, dürfen wir nicht leugnen und nicht
übersehen. Ausser der Last, welche mit dem noch so geschickt
construirten Apparat dem häufig schwächlichen Körper aufgebürdet
werden muss, ist es namentlich die Einschnürung, welche Unheil
stiften kann. Sowohl der directe Druck auf die Musculatur, als auch
die Störung der Blutcirculation bleibt nicht ohne Einfluss auf den
Ernährungszustand der Muskeln, die ohnehin schon oft durch das
einen Apparat erfordernde Leiden afficirt sind. Je unsicherer die
früher gebrauchten Spangen fixirten, um so fester mussten sie zu¬
geschnürt werden bis zum tiefen Einschneiden in die Weichtheile,
in denen allmählich bleibende Rinnen sich entwickeln. Die Hülse
dagegen bedarf wegen ihrer breiten Angriffsfläche keiner grossen
Kraft, sie saugt sich gleichsam am eingeschlossenen Körper fest.
Ihr diffuser Druck erzeugt keine so beträchtliche Alteration des Blut¬
umlaufs. Bis zu einem gewissen Grad freilich tritt dieselbe doch
ein, und wir müssen es uns zur Regel machen, jeden Patienten, dem
wir einen Hülsenapparat verordnen, auf diesen Nachtheil hinzuweisen
und denselben mit Massage und Gymnastik bekämpfen zu lassen,
wenn die Natur des Leidens nicht absolute Ruhe erheischt.
In gleicher Weise treten die Vorzüge einer Hülse am thera¬
peutischen Theil eines Apparates hervor. Auch dieser ist in seiner
Lage und somit in seiner Wirkung gesichert. Wie schwer ist es,
eine Pelotte genau an der Stelle festzuhalten, an welcher ihr Druck
erwünscht ist. Der circumscripte Druck derselben wird vom Pa¬
tienten lästig empfunden, auf die Dauer nicht ertragen oder um¬
gangen, indem der Kranke die Körperhaltung oft in schädlicher
Weise ändert. Bei der Hülse dagegen vertheilt sich der Druck
gleichmässig über ihre ausgedehnte Angriffsfläche und darf deshalb
wesentlich stärker angewendet werden, ohne Beschwerden zu ver¬
ursachen.
So vereinigen die Hülsen Vorrichtungen Sicherheit der Wirkung
und relative Annehmlichkeit des Tragens. Der auf die Haut an¬
gelegte Fracturengehverband, das Sayre’sche Corset, das Lorenz’sche
Gipsbett, sie alle verdanken ihre Wirksamkeit der möglichst sicheren
Fixation des kranken Körpertheils durch eine demselben angepasste
Modellhülse.
Im Princip bleibt es sich gleich, ob Gips oder Wasserglas,
Digitized by CjOOQle
42
Oscar Vulpius.
Filz, Pappe oder Leder zur Herstellung der Hülse verwendet wird.
In der Praxis aber tritt die Frage der Haltbarkeit, der unveränder¬
lichen Starrheit der Form, der Schwere und der Widerstandsfähig¬
keit gegen Wärme und Feuchtigkeit hervor, und last not least
kommen die Kosten des Materials und der Herstellung sehr wesent¬
lich in Betracht. Der Erfindungsgeist hat sich bemüht, einen Stoff
aufzuspüren, der all diesen Anforderungen genügen kann, und es
müsste den vorhin schon genannten Substanzen eine ganze Reihe
anderer hinzugefügt werden, um eine vollständige Uebersicht zu
geben.
Ihnen allen kleben Nachtheile an, deren ausführliche kritische
Besprechung den Rahmen dieser Mittheilung überschritte. Gips-
htilsen sind schwer, plump, brüchig und nicht wasserbeständig. Der
Filz gibt in der Wärme nach, er muss, um haltbar zu sein, mit
Schienen verstärkt werden und verliert dann den Vorzug der Leichtig¬
keit. Besser sind Hobelspahnhülsen, doch ist gleichmässiges Material
schwer erhältlich und theuer, die Bearbeitung ziemlich mühselig.
Schon seit 4 Jahren habe ich nun, durch einen wenig beachteten
Vorschlag Hübscher’s in Basel angeregt, die Cellulose in Ver¬
wendung gezogen und erprobt. Nachdem ich in meinen Jahres¬
berichten der hiesigen orthopädischen Poliklinik wiederholt die An¬
wendung derselben erwähnt hatte, kamen von vielen Seiten Anfragen
über die Art der Verarbeitung. Diese Technik hat sich im Lauf
der Zeit entwickelt und ist jetzt nach Herstellung von mehr als
einem halben Tausend derartiger orthopädischer Apparate in der
poliklinischen und privaten Praxis wohl genügend vervollkommnet,
um den Herren Collegen geschildert und empfohlen werden zu
dürfen.
Es wird dies wohl am besten an der Hand einzelner Beispiele
geschehen können, als welche das Stützcorset für Skoliosen und
Kyphosen, die Cravatte für Spondylitis cervicalis und Schiefhals, die
Coxitishülse ausgewählt werden sollen.
Zur Herstellung eines Skoliosencorsets bedarf es zunächst
eines Modells. Der Körper wird am Kopf massig suspendirt, so
dass die Füsse noch leicht auf dem Boden aufstehen, stärkere
Streckung erscheint unzweckmässig, da sie die ohnehin schon in
ihren antero-posterioren Krümmungen beeinträchtigte skoliotische
Wirbelsäule weiterhin abzuflachen vermag. Da aber der flache Rücken
die Entwickelung der Skoliose begünstigt, so müssen wir Wieder-
Digitized by VjOOQle
Ueber die Verwendung der Cellulose in der Orthopädie.
43
herstellung normaler Krümmungen erstreben. Die Arme werden
so gehalten, dass die Schulterblätter nicht abnorm stark vorspringen
und die Rückencontouren möglichst wenig verdecken. Es muss die
geeignete Stellung für jeden Fall ausgesucht werden. Weiterhin
wird das Becken in einer leicht gepolsterten Gabel oder an einer
Querlatte fixirt; durch ex¬
centrische Befestigung kön- Fig ‘
nen wir die laterale Rumpf¬
verschiebung beseitigen
oder selbst übercorrigiren,
so dass die „hohe Hüfte“
verschwindet.
Schliesslich ist es
möglich, die Rotation resp.
Torsion der Wirbelsäule
wenigstens theilweise durch
Rückdrehung des Rumpfes
zu bessern.
Man hat bekanntlich
unter extremer Rückdreh¬
ung mittelst elastischen
Zuges sogen. „Detorsions-
corsette* angelegt, ich bin
davon aus technischen und
cosmetischen Gründen zu¬
rückgekommen und ziehe
vor, die Correctur in noch
zu beschreibender Weise
nachträglich am Modell
vorzunehmen. Es empfiehlt sich, den Verlauf der Crista ilei mit
Farbstift auf der wenig befetteten Haut oder auf dem übergezogenen
Tricot, den ich nur bei Erwachsenen verwende, zu bezeichnen, damit
man am Positiv diese Stelle genau wiederfindet.
Nunmehr wird ein gewöhnliches Gipscorset angelegt, vor dem
völligen Erhärten vorne aufgeschnitten, vorsichtig abgenommen, dann
wieder geschlossen, getrocknet und mit Gipsbrei ausgefüllt.
An dem so gewonnenen Positiv werden nun Veränderungen
vorgenommen, die den Werth oder Unwerth des darüber anzufer¬
tigenden Apparates bedingen und anatomisches Verständniss, Kennt¬
en oraet für Skoliose.
Digitized by
Google
44
Oscar Vulpius.
niss des speciellen Falles in seiner Eigenart, ferner etwas Geduld
und ein wenig künstlerische Fertigkeit erfordern. Dies Modelliren
am Gipstorso hat den doppelten Zweck, prominente Knochen und
empfindliche Weichtheile vor Druck zu schützen, sowie einen corri-
girenden Einfluss auf die bestehende Deformität im Sinne der oben
erwähnten Detorsion auszuüben.
Es wird also längs der Crista ilei, die durch den Blaustift
markirt ist, bis zur Spina ein leichter Wulst von Gipsbrei aufgelegt,
ferner wird die Magengegend, die in Suspension eingezogen ist, etwas
ausgefüllt, auch die Brüste müssen bei Mädchen erhöht werden, da
sie beim Anlegen des Gipscorsets gewöhnlich flach gedrückt werden.
Ueberhaupt empfiehlt es sich, die obere vordere Thoraxfläche
etwas aufzufüllen, damit die Athmung nicht beeinträchtigt wird.
Je nach der Lage und Beschaffenheit der skoliotischen Ver¬
biegung und unter Berücksichtigung der Ausgleichungsfähigkeit und
Elasticität des Thorax wird dann am hinteren und vorderen Rippen¬
buckel wie an der lumbalen Torsion mehr oder weniger abgeschabt,
die Erfahrung und der Schaden machen da allmählich klug und
lehren das rechte Maass einzuhalten.
Entsprechend viel Gipsmasse wird dann auf der concaven Seite
aufgelegt. Prominiren die Schulterblätter, so muss auch hier aus¬
geglichen werden, damit nicht das Corset am oberen Rand hässlich
absteht. Die Lendengegend wird leicht ausgehöhlt, um die nor¬
malen antero-posterioren Krümmungen wieder herzustellen und den
oben erwähnten schädlichen Einfluss der Suspension auf das Lumbal¬
segment auszugleichen.
Schliesslich steht das kleine Kunstwerk vor uns, und wir sind
erfreut, den verbogenen und verschobenen Rumpf corrigirt zu haben,
zunächst freilich nur im Gips und mit Gips. Handelt es sich um
ausgleichbare Skoliosen, so dürfen wir uns ein völlig normal ge¬
formtes Modell herstellen, während der starren Skoliose eines Er¬
wachsenen eine detorquirende Correctur nicht oder nur in geringem
Maasse zugemuthet werden kann.
Jetzt erst kommen wir zur Anfertigung des definitiven Corsets.
Das Modell wird zunächst mit straff anliegendem Stoff überzogen,
der die Trennung des Apparates vom Gips sichert und dem unter
dem Corset zu tragenden Unterjäckchen entspricht. Darüber kommt
der die Innenfläche des Mieders bildende wasserdichte Stoff, ein mit
Gummimasse bestrichener Tricot. Auf ihn wird eine Schichte Lein-
Digitized by
Google
Ueber die Verwendung der Cellulose in der Orthopädie.
45
wand geleimt, darüber kommt die Cellulose. Dieselbe wird in hand¬
breite Streifen geschnitten und mit dünnem Leim getränkt, dann
auf der Aussenseite mit etwas warmem Wasser, innen mit dickem
Leim bestrichen und nun in völlig weichem Zustand aufgelegt und
angewalkt.
Darüber kommt eine gleiche zweite, bei besonders grossen
Apparaten wohl auch eine dritte Lage. Diese wird dann von einer
engmaschigen Gaze überdeckt.
Es bedarf einiger Tage, bis die Masse getrocknet ist und vom
Modell genommen werden kann, um dem Patienten angeprobt und
zurecht geschnitten zu werden. Das Corset muss soweit nach unten
reichen, dass das Sitzen möglich ist, oben endigt es vorne auf der
Höhe der Brüste, stützt seitlich eben leicht die Schultern und steigt
hinten weiter aufwärts. Nach dem Probiren kommt auf die Aussen-
fläche ein Stoffüberzug, die Ränder werden mit Leder besetzt und
an den Spinae und in den Achselhöhlen gut gepolstert. Eine reich¬
liche Durchlochung sorgt für Ventilation und Ausdünstung; Achsel¬
träger, die am hinteren oberen Rand des Corsets beginnend über
die Schulterhöhe nach vorne und durch die Axillae nach dem Rücken
laufen, ziehen die Schultern zurück. Die Schnürung geschieht in
der vorderen Mittellinie mittelst Gumminestel, welche die inspira¬
torische Ausdehnung des Thorax frei gestatten. Auch an der Rücken-
flache befindet sich gewöhnlich eine Schnürung, so dass das Corset
aus zwei Hälften besteht. Es wird in den meisten Fällen die Wir¬
kung des Apparates, wenn er nur genau sitzt, dadurch nicht ge¬
schwächt, bei den schwersten Fällen kann man leichte, quer ver¬
laufende Stahlspangen anbringen, welche den Apparat zu einem
einheitlichen Ganzen verbinden. Die hintere Schnürung erleichtert
das Anziehen ungemein und befördert die Haltbarkeit ausserordent¬
lich. Doch kann man auch ein einheitliches Rückenschild herstellen
und die vordere Hälfte des Corsets durch Schnürung in der Axillar¬
linie mit ihm verbinden. Oder es wird statt der hinteren Schnürung
ein Ledercharnier angebracht. In Fällen, wo die Athmung aus
irgend welchen Gründen absolut keine Beeinträchtigung erleiden
durfte, wurde die vordere Corsethälfte gelegentlich zweigeteilt, so
dass dann vorne und seitlich Schnürungen sich befinden. Bei Pa¬
tienten, wo eine Correctur des Modells nicht möglich war, wo also
auf den cosmetischen Effect derselben verzichtet werden musste,
darf eine verdeckende Polsterung nur auf der Aussenseite des Corsets
Digitized by CjOOQle
46
Oscar Vulpius.
angebracht werden, da hier exactes allseitiges Anliegen desselben
zur Stützung unbedingt erforderlich ist.
Statt des Gummitricots kann natürlich auch Oelfarbe und Lack
zum Schutz gegen Schweiss verwendet werden. Doch wird dies
Corset dadurch schwerer, die Herstellungszeit verzögert sich um einige
Tage. Derartige Cellulosecorsets sind trotz der geringen Dicke von
2—3 mm äusserst hart und formbeständig und merkwürdig leicht.
Ein grosses Corset für einen starken Mann wiegt etwa 1000—1200 g,
für ein Mädchen nur 800—900 g, für Kinder entsprechend weniger.
Bei einigermassen liebevoller Behandlung sind die Apparate recht
haltbar, sie können 2—3 Jahre getragen werden, wenn die Körper¬
form es erlaubt. Zweckmässig wird das Corset über ein feines
Unterjäckchen angelegt und während der Nacht immer auf das Modell
gespannt und geschnürt, um sicher die richtige Form zu behalten.
Ich möchte nicht so verstanden werden, als ob ich dieses Corset
unterschiedslos für alle Skoliosen empfehle und anwende. Die Indi-
cation für dasselbe ergibt sich aus seiner Wirkung: Es vermag, in
Suspension angelegt, eine ausgleichbare Skoliose in corrigirter Stel¬
lung festzuhalten hinsichtlich seitlicher Biegung wie lateraler Ver¬
schiebung und Torsion. Es ist demnach zu verordnen bei Kindern
und Heranwachsenden mit Skoliose ersten und zweiten Grades, nament¬
lich wenn das Schulsitzen nicht zu vermeiden ist.
Ist die Fixation der Skoliose eine absolute und therapeutisch
nicht mehr zu beeinflussen, so genügt meist das bequeme und cos-
metisch vortheilhaftere Stoffcorset mit Stahleinlagen.
Bei Scoliosis dolorosa und bei besonders schweren Verkrüm¬
mungen werden auch Erwachsene das Cellulosecorset mit Vortheil
tragen, da dieses weit besser allseitig stützt und entlastet und da¬
durch die neuralgischen Beschwerden verschwinden macht.
Es ist nur wenig über das Stützcorset bei Spondylitis
hinzuzufügen. Hier darf natürlich eine Correctur des Gibbus nicht
angestellt werden, sondern nur Fixation und Entlastung des kranken
Wirbelsäulenabschnittes. Das Corset ruht fest auf den Hüften, indem
es die seitliche Lendengegend mässig eindrückt, es reicht in den
Achselhöhlen höher hinauf als es bei der Skoliose angegeben wurde.
Es wird ferner seitlich geschnürt, um die Gegend der Wirbelsäule
in ihrer Starrheit nicht zu beeinträchtigen. Dem Gibbus entsprechend
zeigt das Mieder eine Höhlung, die gepolstert ist, die Prominenz
exact fasst und stützt, doch ohne zu drücken.
Digitized by CjOOQle
Ueber die Verwendung der Cellulose in der Orthopädie.
47
Auch hier mögen kurz die Indicationen für Corsetbehandlung
gegeben sein: Nur Erkrankungen des lumbalen sowie des unteren
und mittleren dorsalen Segments können in Betracht kommen; eine
ambulante Behandlung ist erst dann gestattet, wenn jede Schmerz¬
haftigkeit verschwunden ist. Bis zu
diesem Zeitpunkt ist die Lagerung am
besten in einem Gipsbett durchzufüh¬
ren, dessen Vorzüglichkeit hier nur
kurz erwähnt sei.
Ist für eine Spondylitis cer-
vicalis die Indication zur ambu¬
lanten Behandlung erfüllt, so kommt
die Stützcravatte als portativer Apparat
in Betracht. Dieselbe muss die kran-
Fig. 3.
Conet fax Spondylitis mit Jury-Mast.
Coxitishülse mit Gehbügel (geöffnet).
ken Halswirbel fixiren, ihnen das Gewicht des Kopfes abnehmen, also
entlasten und gleichzeitig extendiren.
Um ein richtiges Modell zu erhalten, legen wir um Kinn und
Hinterhaupt je einen einfachen Bindenzügel »und befestigen dieselben
Digitized by tjOOQle
48
Oscar Vulpius.
über dem Kopf des Patienten so, dass derselbe massig extendirt
und das Kinn leicht erhoben ist. Die Arme und Schultern müssen
ruhig und lose herabhängen. Entsprechend der Nackenschulterlinie
wird ein schmaler Zinkstreifen angebogen, das Haar gut eingefettet
und dann ein Gipsverband angelegt, der
das Kinn umfasst, das Hinterhaupt hoch
hinauf umgreift, nach abwärts unter die
Brustwarzen und bis zur Mitte der Schul¬
terblätter reicht. Auf dem schützenden
Zinkstreifen wird der Verband geöffnet,
abgenommen und nach dem Trocknen
ausgegossen.
Die Correctur des Modells ist sehr
einfach, es bedarf nur leichter Gipsauf¬
lage an den vorspringenden Knochen¬
kanten, am Kinn, an den Schlüsselbeinen,
Stützapparat für Spondylitis cervicalis. CoxltUhülse mit Gehbügel (geschlossen).
an den Spinae scapularum und am Kehlkopf. Ueber dem so her¬
gerichteten Modell wird nach der oben geschilderten Methode die
Cellulose gewalkt, die getrocknete Hülse beiderseits aufgeschnitten,
derart zugerichtet, dass die Armbewegung möglichst unbehindert ist,
schliesslich mit Schnürung und leichter Polsterung auf der Schulter¬
höhe und am Kinn versehen. — Der Apparat, der unter dem Hemd
getragen, cosmetisch wenig stört, wird von den Patienten als sichere
und doch leichte Stütze, angenehm empfunden und gerne benützt.
Digitized by VjOooLe
Ueber die Verwendung der Cellulose in der Orthopädie.
49
. Auch zur Nachbehandlung des operativ beseitigten Caput
obstipum leistet derselbe gute Dienste, er wird dann in über-
corrigirter Haltung, also bei nach der kranken Seite gedrehtem, nach
der gesunden Seite geneigtem Kopf angelegt.
Gelingt es, den ausgedehnten Gelenkcomplex der Wirbelsäule
in einer Hülse genügend zu fixiren, so muss dies um so leichter
möglich sein an einem einzelnen grossen Gelenk, wie dem Hüft¬
gelenk, um ein besonderes wichtiges Beispiel herauszugreifen. In
der That beruht der grosse Fortschritt der heutigen Coxitistherapie
auf der Anwendung portativer Hülsenapparate.
Diese kommen in Betracht, wenn das Stadium heftiger Schmerzen
noch nicht eingetreten oder vorüber ist, wenn die Stellung eine
günstige auch im Fall eintretender Ankylosirung ist. Letztere muss
durchaus nicht die Folge langdauernder Fixation des entzündeten
Gelenks sein. Während und trotz derselben kann selbst bei Ent¬
stehen einer Eiterung die vorher spastisch fixirte Articulation eine
meist freilich beschränkte Beweglichkeit wieder erlangen. Die er¬
wähnte brauchbare Position des Hüftgelenks, massige Abduction und
Flexion, muss nöthigenfalls in Narkose oder auf mechanischem Wege
herbeigeführt und in festem Verband gesichert sein, ehe die gleich
zu beschreibende Coxitishülse angelegt werden kann. Die Abscess-
bildung oder der Verdacht auf eine solche ist durchaus keine Contra-
indication derselben, man erlebt nicht selten die Resorption des schon
gebildeten Eiters, das Verschwinden entzündlichen Oedems, offenbar
unter dem Einfluss der Ruhigstellung.
Die Erfüllung der erwähnten Indicationen vorausgesetzt, schreiten
wir zunächst zur Anlegung des Modellgipsverbandes, der von den
Axillae bis zur Mitte des Unterschenkels reicht. Je leichter der Fall,
je näher er seiner Ausheilung ist, desto kürzer darf die Hülse wer¬
den. Die Beine müssen parallel gestellt werden, die gewünschte
Beugung des Hüftgelenks muss also durch Lendenlordose, die Ab¬
duction durch Beckensenkung erzielt werden.
Andernfalls würde der Gang ausserordentlich schlecht werden.
Das durch Ausgiessen gewonnene Positiv bedarf nur geringer Nach¬
hilfe entsprechend dem schon bei Beschreibung des Corsets besagten.
Die darüber gearbeitete und in der Hüftgegend eventuell mit
einer leichten Schiene verstärkte Cellulosehülse wird vorne und hinten
aufgeschnitten, besteht also aus drei Theilen, da das Rumpfstück
der kranken Seite mit der äusseren Hälfte der Beinhülse im Zu-
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 4
Digitized by CjOOQle
50
Oscar Vulpiu8.
sammenhang bleibt. Zu der Fixation, die vollkommen gewährgeleistet
ist, lässt sich in einfachster Weise die Entlastung des kranken Ge¬
lenks hinzufügen. An zwei seitlich festgenieteten Schienen wird ein
Gehbügel angebracht, der um weniges die Sohle überragt und ab¬
nehmbar sein muss, um das Auf klappen der Hülse zu gestatten.
Fig. 7.
Beinhülse zur Sicherung der Strecksteilung nach
Knlecontraotur, Resection u. der gl. Corset für Skoliose.
Zwei seitliche Zapfen am Bügel, die in Bohrungen der Seitenschienen
passen, und ein darüber geschobener breiter Reif ermöglichen dies
auf einfachste und billigste Weise. Ein gutes Polster am oberen
inneren Rand der Beinhülse entsprechend dem Tuber ossis ischii
erlaubt dem Patienten, unter Umgehung des Hüftgelenks auf den
Bügel die Rumpf last zu übertragen. Schliesslich kann mittelst
Gamasche und Riemen am Bügel auch die Extension des Beines
bewerkstelligt werden.
Mit abnehmender Empfindlichkeit des Gelenks kann auch ein
Theil des Apparates nach dem anderen in Wegfall kommen, zuerst
die Extension, dann der Unterschenkeltheil der Hülse, um das Knie-
Digitized by
Google
Ueber die Verwendung der Cellulose in der Orthopädie.
51
gelenk freizngeben, weiter die Entlastung. Schliesslich bleibt nur
ein Tutor des Gelenks übrig, der aus einer Beckenhülse und einer
kurzen Oberschenkelhülse bestehend eben hinreicht, das Hüftgelenk
vor heftigen traumatischen Einwirkungen zu behüten, die den er¬
loschenen entzündlichen Process von neuem anfachen könnten.
Die Vorzüge dieser conservativen Coxitisbehandlung sind heut¬
zutage allseitig anerkannt, aber gerade die Anwendung von Hülsen¬
apparaten ist noch nicht genügend gewürdigt worden.
Die abnehmbare Cellulosehülse gestattet das Umhergehen der
Kranken aufs beste und ermöglicht dadurch den Genuss frischer
Luft mit allen seinen vortheilhaften Einflüssen auf den allgemeinen
Kräfte- und Ernährungszustand des Körpers. Insbesondere muss
die Leichtigkeit des Apparates nochmals betont werden, der mit dem
eisernen Gehbügel für mittelgrosse Kinder nur etwa 1000 g wiegt.
Die geringen Herstellungskosten fallen ebenfalls sehr ins Gewicht,
um solche Apparate breiteren Volksschichten zugänglich zu machen.
Hierdurch wie durch ihre Haltbarkeit unterscheiden sie sich
nicht unwesentlich von den complicirten sogen. Hessing’schen Ap¬
paraten, mit denen sie an Wirksamkeit wie auch cosmetischem
Effect wohl concurriren können. Bilden doch auch die Hessing-
schen Apparate eine Kette, welche deren Träger unzerreisslich mit
dem Bandagisten verbindet, eine Kette, die der Arzt aus mehr als
einem Grunde beseitigen sollte, wo sie entbehrlich ist. Es soll da¬
mit durchaus kein absprechendes Urtheil über die Schienenhülsen¬
apparate gefällt werden, die gewiss kein Fachcollege heutigen Tages
entbehren wollte oder könnte. Allein ihrer allgemeinen Anwendung
stehen doch Schwierigkeiten entgegen, die einen Ersatz namentlich
für poliklinische Institute wünschenswerth erscheinen lassen.
Digitized by VjOOQle
VII.
Beobachtungen über die statischen Beziehungen
des Beckens zur unteren Extremität.
Von
Ferdinand Bähr in Hannover.
Mit 4 in den Text gedruckten Abbildungen.
Julius Wolff kam auf Grund seiner von Culmann accep-
tirten Krahntheorie zum Schlüsse, die Hueter-Volkmann'sche
Drucktheorie sei unrichtig, Druckwirkungen in den Gelenken seien
überhaupt nicht vorhanden und will er dies für das Kniegelenk
mathematisch, klinisch und anatomisch bewiesen haben.
Korteweg, Lorenz, Ghillini haben gegen Wolff Stel¬
lung genommen; Hoffa hat in dieser Zeitschrift Korteweg's Ein¬
wand als unberechtigt hingestellt, er hält also wohl Wolff's Be¬
hauptung für richtig.
Schon die Einleitung Wolff's mathematischer Widerlegung
mit dem Gleichniss der Druckwirkung auf die Haut hat etwas Irre¬
führendes. Lastet nämlich auf der Haut ein Druck, so muss dieser
in der Haut genau gleich grosse Druckspannungen hervorrufen
wie in dem darunter liegenden Knochen. Hätten wir in Knochen
und Haut gleich sensible Organe, wäre das Material gleich an Festig¬
keit und Elasticität, so würde ein Druck in beiden genau dieselben
Druckspannungen hervorrufen. Oder aber, wenn wir beispiels¬
weise auf dem Kopf eine Last tragen, würden wir mit Wolff'scher
Consequenz die Druckreaction nicht in die Haut, aber auch nicht
in die Knochen legen dürfen, sondern nothwendigerweise in den
Boden, auf welchem wir stehen u. s. w.
Dass die Femurcondylen und die obere Tibiafläche nicht ge¬
drückt werden, ist ein Unding, selbst bei der Voraussetzung, die
Digitized by
Google
Beobachtungen über die statischen Beziehungen des Beckens etc. 53
Krahntheorie sei richtig, das braucht nicht ernstlich wiederlegt zu
werden. Bei einer excentrisch angreifenden Kraft ist die maximale
Druckspannung an dem von der Belastungsstelle am Weitesten ent¬
fernten Querschnitt zu suchen, am Oberschenkelknochen in der Ebene
der Condylen.
Der Oberschenkelknochen ist nämlich in der Diaphysenmitte
nicht eingemauert, wie Wolff nach seinen Ausführungen still¬
schweigend vorausgesetzt hat. Wäre 'das Femur ein Krahn, so
würde die ganze von oben kommende Last an die mediale Tibia¬
fläche übertragen, ein Fehler, den wir der Natur bei der Gestaltung
der unteren Femurepiphyse nicht Zutrauen dürfen.
Fragen wir mit Wolff bei Betrachtung der unteren Femur¬
epiphyse nach der Zweckmässigkeit, so ist’s ein kleiner Geist, der
solche Knochen baut.
Die Existenz eines sich kreuzenden Curvensystems, eine ent¬
fernte Aehnlichkeit beweist für die Krahntheorie rein gar nichts.
Es gibt in den Knochen ebensolche Anordnungen, wo nur eine Druck¬
wirkung in Betracht kommen kann, resp. wo keine Beanspruchung
auf Biegung vorhanden ist. Man kann als Mathematiker (C ul mann)
die Analogie der Druck- und Zugcurven des Krahn mit der An¬
ordnung der Knochenbälkchen für wahrscheinlich halten, mit dem
Namen Cul mann darf aber nicht der auf das Gebiet der Belastungs¬
deformitäten getriebene Missbrauch gerechtfertigt werden. Culmann
war zudem längst vor der Entstehung der in Betracht kommenden
Wolff’schen Hypothese todt. Ein Statiker kann sich schliesslich
mit der Betrachtung der Knochen an sich zufrieden geben, ein
Mediciner hätte notwendigerweise die Wirkungen von Kapsel, Bändern,
Muskeln nicht ohne weiteres ignoriren dürfen.
»So vortrefflich nun aber Construction und Wirklichkeit mit
einander übereinstimmen, so sehr man geneigt wäre, diese Ueber-
einstimmung als eine sichere Bestätigung der der Construction zu
Grunde liegenden Voraussetzungen anzusehen, so lassen sich doch
gegen die Richtigkeit der Annahme, dass der Hüftknochen (Femur)
ein krahnartig tragender Balken sei, gewichtige Bedenken erheben.
Zunächst müsste es, wenn es sich bestätigte, auffallend er¬
scheinen, dass die Natur für Zug- und Druckwirkungen die näm¬
liche Substanz verwendet, während wir sonst für verschiedene Zwecke
auch verschiedene Mittel in Verwendung finden.
Sodann muss aber namentlich betont werden, dass der Ober-
Digitized by VjOOQle
54
Ferdinand Bähr.
Schenkel nicht einfach durch das Gewicht des über ihm befindlichen
Körpers statisch beeinflusst wird, sondern dass sich an ihm ver¬
schiedene Sehnen und Bänder anheften, deren Wirkung
durchaus nicht zu vernachlässigen ist, sondern vielleicht
diejenige des Körpergewichtes an Stärke noch übertrifft.
Diese Sehnen und Bänder greifen jedoch an so zahlreichen Stellen
der Knochenoberfläche und in so verschiedener Richtung an, dass
man die Aufgabe als eine räumliche anzusehen hat; es dürfte da¬
her schwierig werden, sämmtliche Einflüsse in Rechnung zu ziehen,
ganz abgesehen davon, dass die vorhandenen Kräfte beim Liegen
und Sitzen, Stehen und Gehen beständigem Wechsel unterworfen sind.
So viel wir wissen, hat Professor Zschokke an der Zürcher
Thierarzneischule zuerst die Ansicht ausgesprochen, dass im Inneren
des Knochens keinerlei Zugwirkungen Vorkommen, sondern dass die
Knochensubstanz überall nur Druckspannungen auszuhalten habe.
Damit fiele selbstverständlich die Zulässigkeit unserer oben beschrie¬
benen graphischen Bestimmung der Zug- und Druckcurven gänzlich
dahin. Von Zugcurven könnte überhaupt nicht mehr die Rede sein,
und es hätte den Anschein, als ob der so interessante Zusammen¬
hang zwischen der Vertheilung der Knochensubstanz und deren stati¬
scher Wirkung völlig verloren ginge.
Wenn nun auch eine aufmerksame Prüfung des Sachverhaltes
zwar noch nicht zu einer unzweifelhaften Bestätigung der Zschokke-
schen Behauptung führt, so erscheint diese doch immerhin als wahr¬
scheinlich. Zunächst erkennt man bald, dass mehrere, in charakte¬
ristischer Weise beanspruchte Knochen (so namentlich die Schenkel¬
knochen, die Fussknochen u. a.) von aussen grösstentheils pressende
Kräfte aufnehmen, so dass man mit Sicherheit annehmen kann, dass
in ihrem Inneren die Druckspannungen bei weitem über¬
wiegen.
Sodann muss es auffallen, dass die meisten durch Sehnen oder
Bänder ausgeübten äusseren Kräfte tangential zur Knochenoberfläche
wirken, und dass da, wo ein Muskel sich mehr oder weniger normal
ansetzt, stets eine kleine Vertiefung oder Aushöhlung vorhanden ist,
deren Grund frei bleibt, während die Seitenwand die Spannung in
transversalem Sinne aufnimmt. So lange nun die Oberflächenkräfte
nur normal pressend oder tangential auftreten, ist das ausschliess¬
liche Vorkommen von inneren Druckspannungen immerhin denkbar.
Der Spannungszustand im Innern der Knochen gehört dann zu den-
Digitized by VjOOQle
Beobachtungen über die statischen Beziehungen des Beckens etc. 55
jenigen, bei welchen der Ordnungskegel des Spannungsellipsoides
imaginär ist und sämmtliche Spannungen gleiches Zeichen be¬
sitzen.
(Es sei mir gestattet, dieses an nebenstehendem Schema zu
erklären. Dasselbe stelle ein Knochenende mit seinem Bandansatz
dar. Der Zug des Bandes wird, so lange er nicht über eine ge¬
wisse Maximalgrenze hinausgeht, die beiden Knochenflächen einander
zu nähern suchen. Der Knochen wird zusammengepresst und die
Curven sind lediglich Druckcurven [Fig. 1]. Der Verf.)
Damit braucht jedoch die Bedeutung der Knochenfasern in der
Spongiosa als Spannungstrajectorien durchaus nicht verloren zu gehen.
Es wäre auch gar zu merkwürdig, wenn diese Fasern ganz den Ge¬
setzen der Trajectorien folgten, ohne mit diesen irgend einen inneren
Zusammenhang zu besitzen. Das Wahrscheinlichste ist viel¬
mehr, dass die Spongiosa wirkliche Spannungscurven
darstellt; nur sind diese, entgegen der früheren An¬
sicht, keine Zug- und Druckcurven, sondern ausschliess¬
lich Druckcurven.
Ob es gelingen wird, diese Curven auf Grundlage gegebener
äusserer Kräfte zu berechnen oder zu zeichnen, lässt sich schwer
sagen. Die Aufgabe ist zweifellos eine sehr schwierige und ver¬
wickelte und mit unseren heutigen Kenntnissen und Hilfsmitteln
kaum durchführbar, selbst wenn uns die wirkenden Kräfte ihrer
Grösse noch bekannt wären.“
Auch dieser Satz aus Ritter’s graphischer Statik sei angeführt,
um von vorneherein meinen Standpunkt klar zu legen, nämlich, dass
es sich im Nachstehenden nur um einen schüchternen Versuch handeln
kann, die statischen Verhältnisse der unteren Extremität zu erklären,
resp. auf den Weg hinzu weisen, welchen eine solche Erklärung zu
beschreiten hat.
Auf die Frage, ist der Oberschenkelknochen ein krahnartig
tragender Balken, muss ich ein bestimmtes Nein zur Antwort geben.
Was ist ein krahnartig tragender Balken? Der Krahn ist — wir
nehmen den von Wolff zur Erklärung herbeigezogenen in primi¬
tivster Form — ein gebogener, am unteren Ende eingemauerter
Balken, der am freien Ende belastet wird (Fig. 2).
Der Oberschenkelknochen resp. das ganze Bein dagegen ist
ein freistehender Träger. Man könnte mir hier den Einwand
machen, er sei am Knie eingespannt. Dann fällt natürlich die
Digitized by
Google
56
Ferdinand Bähr.
Wolff’sche Behauptung, die Maximaldruckspannung liege in der
Diaphysenmitte, ohne weiteres.
Ich brauchte mit Bezug auf Wolff diese Annahme nicht zu
widerlegen. Erstlich nämlich giebt es zweifellos einen idealen Gleich¬
gewichtszustand, in welchem das Femur ohne Unterstützung auf der
Tibia ruht. Wirken aber zweitens Bänder und Muskeln, so dass
Fi g. 1.
das Knie fest ist, dann ist das Bein als ein einheitliches Ganze zu
betrachten. -
Bei jeder Erklärung aber darf nicht einseitig vorgegangen
werden.
In der Norm steht der Mensch auf zwei Beinen. (Das Stehen
auf einem ist statisch eine sehr complicirte Sache.) Der Oberschenkel¬
knochen findet im Becken ein Widerlager und damit fällt die
Krahntheorie. Es wirkt also zunächst der Beanspruchung auf Biegung
von der correspondirenden Seite ein Druck entgegen. Um in den
Curven nur Andeutungen zu machen, so sind die im Caput femoris
mehr horizontal gestellten unter keinen Umständen Zugcurven, was
sie nach der Krahntheorie wären (vergl. Fig. 3). In dem Schema
Fig. 4 sei der Balken AB das Becken, bei A und B das bewegliche
Hüftgelenk. Bei X und Y gehe vom Schaft des Femur, fest mit
diesem verbunden, der Schenkelhals in einem Winkel von 125° ab.
Digitized by CjOOQle
58
Ferdinand B&hr.
welches verhindert, dass die Stützen bei X und Y nach aussen ge¬
drückt werden.
Bei einer solchen Anordnung ist es sehr unwahr¬
scheinlich, dass die Diaphyse des Oberschenkelkno¬
chens beim Stehen un¬
ter normalen Verhält¬
nissen überhaupt auf
Biegung beansprucht
wird.
Es wäre höchstens denk¬
bar, dass eine Biegungsbean¬
spruchung im Schenkelhals
vorliegt, eine Möglichkeit,
welche ich mit aller Reserve
hinstelle. Mit dieser knappen,
den in Betracht kommenden
Kräften Rechnung tragenden
Skizze schwindet die Berech¬
tigung der Krahntheorie für
das Femur in toto dahin.
Es ist auf diesem Ge¬
biete noch Manches aufzuklä¬
ren, und der Eingeweihte wird
auf Schritt und Tritt erken¬
nen, wie glatt das Parquet
ist (Lorenz), auf welchem
er sich bewegt. Ich hoffe
aber zuversichtlich, dass jeder
nach den vorstehenden Aus¬
führungen so viel Einsicht hat, den Einwand Körte weg-Lorenz-
Ghillini gegen Wolff als berechtigt zu erkennen. Wie sehr
unrecht Wolff mit seinen Ausführungen über die Drucktheorie
hat, möge das einfache Exempel zeigen: Ein Stab von der Krüm¬
mung des Oberschenkels wird auf Biegung beansprucht, wenn
man auf beide Enden einander zustrebende Kräfte wirken lässt,
Druck (oder Zug). Werden die Enden so gedrückt (oder zu¬
sammengezogen), so wird der Stab auf Biegung beansprucht und
umgekehrt. Wolff behauptet, der Stab werde auf Biegung be¬
ansprucht, folglich muss an seinen Enden eine Druckwirkung vor-
Digitized by VjOOQle
Beobachtangen über die statischen Beziehungen des Beckens etc. 59
banden sein. Wolff behauptet, der Oberschenkel werde auf
Biegung beansprucht und nicht an den Enden gedrückt. — Quod
est demonstrandum 1 ).
0 Sollte ein Leser nach vorstehender Ausführung noch Zweifel an der
Unrichtigkeit Wo 1 ff’s mathematischer Widerlegung der Drucktheorie haben,
so muss ich ihn bitten, sich die Anfangsgründe der Statik anzueignen. Zweifelt
er auch dann noch, so kann ihm leider nicht geholfen werden.
Digitized by VjOOQle
VIII.
Bemerkungen zu der vorstehenden Arbeit des Herrn
Dr. Bähr.
Von
Prof. Dr. Julius Wolff.
Für so unerquicklich ich auch die Aufgabe erachte, mich mit
einer fast durchweg unklaren und theilweise ganz unverständlichen
Arbeit beschäftigen zu müssen, so scheint es mir doch nothwendig
zu sein, durch die folgenden Bemerkungen den Autor, mit welchem
wir es in der vorstehenden Arbeit zu thun haben, und den Werth,
der seinen Ausführungen beizulegen ist, zu kennzeichnen.
Nach Bähr soll ich mich dahin ausgesprochen haben, dass
„Druckwirkungen in den Gelenken überhaupt nicht vorhanden seien“,
dass also „die Femurcondylen und die obere Tibiafläche überhaupt
nicht gedrückt werden“. In Consequenz meiner Darlegungen werde
am Femur „die ganze von oben kommende Last an die mediale
Tibiafläche“ (??) „übertragen“, und sollen wir, „wenn wir beispiels¬
weise eine Last auf dem Kopfe tragen, die Druckreaction nicht in
die Haut, aber auch nicht in die Knochen, sondern nothwendiger-
weise in den Boden legen müssen, auf welchem wir stehen“.
Von den absurden Darlegungen, die Bähr mir hier zuzu¬
schieben versucht, von der Annahme namentlich, dass ein Knochen,
der einem Druck ausgesetzt sei, überhaupt nicht gedrückt werde,
findet sich selbstverständlich auch nicht die entfernteste Andeutung
in meinen Arbeiten.
Thatsächlich habe ich die mediale Femurhälfte die Druckseite,
die laterale Hälfte die Zugseite genannt. Ich wies darauf hin, dass
die Reduction der Druck- und Zugspannungen auf 0, wie dies C ul¬
mann in seiner bekannten Krahnzeichnung, unter Anführung der
directen Zahlengrössen der Spannungen für jeden einzelnen Quer-
Digitized by
Google
Bemerkungen zu der vorstehenden Arbeit des Herrn Dr. Bähr. 61
schnitt des Krahns gezeigt hat, sich an einem einzigen idealen
„Punkte* dieser Zeichnung findet, keineswegs aber an irgend
sinem Punkt des lebenden Organismus, viel weniger an einer ganzen
Gelenkoberfläche, oder gar auch noch an den Gelenkenden ein¬
schliesslich der Condylen.
„Die Drucklinien,“ so heisst es in meiner Arbeit im 53. Bande
des Archivs^für klinische Chirurgie, „beginnen unten an der con-
caven und endigen oben an der convexen Seite, die Zuglinien be¬
ginnen umgekehrt unten an der convexen, und endigen oben an der
concaven Seite.“ — „Während alle Anhänger der Drucktheorie an¬
nehmen, dass die Abänderungen der Knochenformen bei pathologi¬
scher Abänderung der Belastung der Tibia durch das Femur sich
hauptsächlich am oberen Ende derselben oder in nächster
Nähe derselben bemerklich machen, werden diese Abänderungen
thatsächlich im Gegentheil viel grösser an der von der Gelenkober¬
fläche weit entlegenen Mitte der Diaphyse der Tibia sein müssen, als
da, wohin sie die Drucktheorie verlegte, am Gelenkende der Tibia.“ —
„Dies gelte indess nur für Biegungsbeanspruchungen. Bei reinen
Druck- und Zugbeanspruchungen kann die diesen Beanspruchungen
entsprechende stärkste Umwandlung der Knochen bei Abänderungen
der Grösse und Oertlichkeit der Belastung sehr wohl in der Nähe
der Berührungspunkte des belastenden und belasteten Knochens“
— also an den Gelenkenden — „geschehen. Auch könne,“ wie Roux
mit Recht dargethan habe, „selbst bei einer Biegungsbeanspruchung
die Aenderung der Druck- und Zugvertheilung in der Nähe der
geänderten Druckaufnahmefläche am stärksten sein, wenn auch der
quantitative Werth der Spannungen hier der schwächste sei.“
Ich soll fernerhin, so sagt Bähr, „die Wirkung der Sehnen,
Muskeln und Bänder und den beständigen Wechsel der vorhandenen
Kräfte beim Liegen und Sitzen, Stehen und Gehen vernachlässigt und
„ohne weiteres ignorirt“ haben.
In Wirklichkeit habe ich mich folgendermassen geäussert:
„Die Knochengestalt ist unter normalen und unter abnormen Ver¬
hältnissen nichts anderes, als das mathematische Gesammtbild aller
Beanspruchungen, welche bei den verschiedenen Muskelwir¬
kungen und bei den verschiedenen für das betreffende
Körperglied erträglichen Belastungen möglich sind.“ Obwohl
es sich bei diesen Beanspruchungen „eben wegen der Möglich¬
keit ihrer so grossen Verschiedenheiten niemals um con-
Digitized by CjOOQle
62
Julius Wolff.
stante Grössen handeln kann, so ist doch jedesmal die Knochen¬
form, wie es v. Volkmann mit einem treffenden Worte bezeichnet
hat, in diese verschiedenen Beanspruchungen genau ,hineingerechnet“.
Ich soll nach Bähr endlich auch noch kurzweg behauptet
haben, „der Oberschenkel sei ein Erahn“ und ich soll damit »still¬
schweigend vorausgesetzt haben, dass der Oberschenkel in seiner
Diapbysenmitte eingemauert (!) sei.“
In Wirklichkeit habe ich mich dahin geäussert, und durch
viele Beweise, namentlich durch die Orthogonalität der Bälkchen-
kreuzung und die neutrale Bälkchenanordnung in der neutralen Faser¬
schicht des Femur dargethan, dass der Oberschenkel ein kr ahn¬
artig tragender Balken sei. Ich fügte hinzu, dass »die Verhält¬
nisse im lebenden Organismus viel complicirter seien, als es bei der
blossen Betrachtung der Culmann’schen Krahnzeichnung erscheinen
könnte“, dass »beispielsweise beim Genu valgum zwei auf Biegung
beanspruchte krahnförmige Knochen über einander liegen“, und
dass »zur Vervollständigung unserer Erkenntniss in dieser Beziehung
noch viele weitere anatomische und mathematische Untersuchungen
erforderlich sein werden“.
Man wird hieraus zur Genüge ersehen, dass Bähr meine
Arbeiten, gegen welche er polemisirt, gar nicht oder nicht ordent¬
lich gelesen hat, und dass die erwähnten mir von ihm zuge¬
sprochenen Anschauungen lediglich seiner eigenen Phantasie ent¬
sprungen sind.
Ich habe zur Kennzeichnung des Autors der vorstehenden
Arbeit des weiteren einen Blick zu werfen auf das staunenswerthe
subjective Sicherheitsgefühl, von welchem geleitet Bähr mit der
gesaramten Krahntheorie einerseits und mit meiner Lehre von der
functioneilen Pathogenese der Deformitäten andererseits kurz und
bündig aufräumt.
Bähr weiss zwar, dass die Krahntheorie »von Culmann
acceptirt ist“. Er kennt demnach vielleicht auch Culmann’s Aeusse-
rung, dass „meine Schlussfolgerungen vom Krahn auf den Knochen
ihm wie aus der Seele gesprochen erschienen sind“. Aber trotz¬
dem ist es ihm ein Leichtes, mit dem Schöpfer der graphischen
Statik und dem Entdecker der mathematischen Bedeutung des
Knochenbaues mit wenigen Federstrichen fertig zu werden. Cul¬
mann, so sagt er „sei todt“, und „es dürfe nach seinem Tode mit
seinem Namen kein Missbrauch getrieben werden“.
Digitized by
Google
Bemerkungen zu der vorstehenden Arbeit des Herrn Dr. Bähr. 63
Bahr nimmt also offenbar an, dass, wenn Culmann noch lebte,
derselbe, durch die Auseinandersetzungen der vorstehenden Arbeit
vollkommen bekehrt, die ganze Krahntheorie wieder
aufgeben würde. Er nimmt ferner an, dass, obwohl die Lehre
von der functionellen Pathogenese der Deformitäten thatsächlich die
einfache und unbedingte Consequenz der Krahntheorie ist, der
durch ihn bekehrte Culmann keinesfalls die Uebertragung der
Krahntheorie auf die Lehre von den Deformitäten gebilligt haben
würde.
Nachdem er in so erstaunlich gründlicherWeise mit Culmann
fertig geworden ist, fährt Bähr kühnen Sinnes fort, „er müsse
auf die Frage, ob das Femur ein krahnartig tragender Balken sei,
ein bestimmtes Nein zur Antwort geben“. „Die Existenz eines sich
kreuzenden Curvensystems, eine entfernte Aehnlichkeit (!!) beweise
für die Krahntheorie rein gar nichts. Die Diaphyse des Ober¬
schenkels werde beim Stehen unter normalen Verhältnissen wahr¬
scheinlich überhaupt nicht auf Biegung beansprucht.
Nur im Schenkelhals soll“ — und merkwürdigerweise sagt dies Eine
wenigstens der Verfasser „mit aller Reserve“ — „die Möglichkeit
einer Biegungsbeanspruchung vorliegen können“.
Alles dies spricht Bähr aus angesichts der Culmann’schen
Krahnzeichnung für den Oberschenkel, welche es bekanntlich selbst
dem Laien ersichtlich macht, dass das die Biegungsbeanspruchung
darlegende Curvensystem ein für Kopf, Hals und Diaphyse des Ober¬
schenkels einheitliches ist.
Bähr’s Anschauung erinnert sehr lebhaft an die verunglückten
Untersuchungsergebnisse des Italieners Ghillini, zu dessen geistes¬
verwandtem Vertheidiger er sich denn auch in allen Punkten auf¬
werfen zu wollen scheint, an das erstaunliche Ergebniss, dass bei
der Entstehung der Deformitäten die Diaphysen der Röhrenknochen
sich nach dem Transformationsgesetz, die Epiphysen dagegen nach
der Drucktheorie umgestalten sollen.
Zur Stütze seines kühnen Angriffs auf die Krahntheorie be¬
ruft sich Bähr auf Zschokke und auf den Mathematiker Ritter.
Zschokke habe gezeigt, dass die Knochensubstanz überall
nur Druckspannungen auszuhalten habe, und dass im Inneren der
Knochen keinerlei Zugwirkungen Vorkommen.
Hierbei hat nun aber Bähr zweierlei gänzlich übersehen, einmal,
dass Zschokke’s bezügliche Anschauungen durch Tornier voll-
Digitized by VjOOQle
64
Julius Wolff.
kommen widerlegt worden sind, und zweitens, dass, wenn
selbst Zschokke Recht hätte, gerade nach Ritter, dem zweiten
Autor, auf welchen Bähr sich berufen zu dürfen glaubt, die Krahn-
theorie dadurch gar keine Einbusse erleiden würde. „Die
Spongiosa,“ so sagt Ritter, würde, „wenn Zschokke Recht haben
sollte, immer noch wirkliche Spannungstrajectorien dar¬
stellen; nur würden diese, entgegen der früheren Ansicht, keine
Zug- und Druckcurven, sondern ausschliesslich Druckcurven sein.“
Was Ritter selbst betrifft, so wird der Leser nicht wenig
erstaunt sein, zu erfahren, dass Bähr in seinem langen Citat aus
dessen Werke den ersten und wichtigsten Satz der betreffenden Aus¬
einandersetzungen Ritter’s, denjenigen Satz, aus welchem am
offenkundigsten die völlige Nichtigkeit der Bähr’schen Einwen¬
dungen gegen die Krahntheorie hervorleuchtet, einfach ver¬
schwiegen (!) hat.
Dieser Satz lautet folgendermassen: „Freilich lassen sich nicht
sämmtliche Fasern“ (der Spongiosa des oberen Femurendes) „bis ans
Ende deutlich verfolgen; sie bewegen sich stellenweise etwas un¬
sicher, und gehen auch gelegentlich ganz verloren; ferner besitzen
die einzelnen Zellen keine mathematisch rechtwinkelige Form. Aber
wie im Wasserfalle die einzelnen Wasserfäden sich durch einander
schlingen und am Rande zerstäuben, während doch die Masse
als Ganzes die parabolische Linie des freien Falles verfolgt, so
springen auch in der Spongiosa des Hüftknochens bei allen Un¬
regelmässigkeiten im einzelnen, sobald man das Ganze überblickt,
die zwei charakteristischen Curvensysteme aufs Unver¬
kennbarste ins Auge.“
Was speciell noch die Lehre von der functionellen Pathogenese
der Deformitäten bezw. meine Widerlegung der Drucktheorie be¬
trifft, so glaubt Bähr meine bezüglichen Darlegungen ebenso wie
die Krahntheorie durch seine vorstehende ausgezeichnete Arbeit
aus der Welt geschafft zu haben.
Er hält es nicht für nöthig, dabei auch nur wenigstens den
Versuch zu machen, die Beweiskraft meiner in erdrückender Weise
überzeugenden Abbildungen von Deformitätenpräparaten zu be¬
streiten. Er hält es für ebenso unnöthig, auch nur ein einziges
anatomisches Präparat oder auch nur einen einzigen klinischen Fall
in eigener Arbeit auf die Frage der functionellen Pathogenese der
Deformitäten hin zu prüfen.
Digitized by CjOOQle
Bemerkungen zu der vorstehenden Arbeit des Herrn Dr. Bähr. 65
Man kann unter diesen Umständen Herrn Bahr nur empfehlen,
er möge sich zunächst zu wirklicher anatomischer und klinischer
Arbeit auf dem Gebiete der Pathogenese der Deformitäten ent¬
schlossen. Erst dann könnte es ihm vielleicht möglich werden, in so
wichtigen und schwierigen Fragen, wie der hier erörterten, in einer
Weise mitzusprechen, die einen ernsthaften Eindruck zu bewirken
geeignet wäre.
Ich habe zum Schluss noch eine Bemerkung bezüglich der rein
mathematischen Darlegungen Bähr’s zu machen, derjenigen Dar¬
legungen, die sich aus den „Anfangsgründen der Statik“ ergeben
sollen, und bezüglich weicher Bähr jedem Leser, der auch noch
nach dem Erscheinen seiner vorstehenden Arbeit meinen Ausein¬
andersetzungen bezüglich der Drucktheorie zuzustimmen geneigt sein
sollte, die ganz fürchterliche Drohung zuruft, dass „ihm leider nicht
geholfen werden könne“.
Auf rein mathematische Erörterungen habe ich mich bisher
niemals ohne die Beihilfe oder die zuvor eingeholte Zustimmung
anderer Autoren, die auf mathematischem Gebiete competenter sind,
als ich, eingelassen, und ich würde auch Bähr gegenüber nicht
anders verfahren können.
Wenn also Bähr mit seinen rein mathematischen Darlegungen
sich lediglich an meine Adresse gewendet hat, so möchte ich ihm
andere, auf rein mathematischem Gebiete geeignetere Adressen em¬
pfehlen. Er möge sich mit Roux, Tornier und Ritter auseinander¬
zusetzen suchen. Dieselben werden ihm die Kritik seiner vermeint¬
lichen, zu dem Räthsel der Biegungsbeanspruchung des Collum femoris
ohne Biegungsbeanspruchung der Diaphysis femoris führenden merk¬
würdigen „Anfangsgründe der Statik“ nicht schuldig bleiben.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band.
5
Digitized by VjOooLe
IX.
Ein neues Messverfahren für seitliche Rückgrats-
Verkrümmungen.
Von
Dr. G. Joachimsthal-Berlin.
In der Erkenntniss, dass von einem wirklich wissenschaft¬
lichen therapeutischen Vorgehen gegen die Rückgrats Verkrümmungen
nur die Rede sein kann, wenn man sich im Besitz eines geeigneten
Mittels befindet, den Grad der vorliegenden Verbildung genau fest¬
zustellen und zu fixiren, hat man eine ganze Reihe von Messvor¬
richtungen der Wirbelsäule und des Brustkorbes construirt, deren
einzelne, wie die von Schulthess 1 ), Zander 2 ) und Heinleth 3 )
angegebenen, geradezu Vorzügliches zu leisten im Stande sein würden,
falls ihre Anwendung nicht an einem grossen Uebelstande litte. Der
skoliotische Rumpf ist kein starres, unbewegliches Ganzes; vielmehr
sind die Patienten in aufrechter Stellung im Stande, in noch viel
erheblicherem Grade, als wir dies bei anderen Deformitäten, wie
z. B. bei dem Genu valgum, täglich zu beobachten vermögen, durch
Erschlaffung oder Anspannung der Muskeln ihre Verkrümmung vor¬
übergehend zu vermehren oder zu vermindern. Sie sinken speciell
während der Dauer einer Messung, die beispielsweise bei Zander’s
Apparat in den Händen eines geübten Arztes 4—5, bei dem
Schulthess'schen sogar 15 Minuten währt 4 ), in merkbarerWeise
*) Centralbl. f. orthop. Chir. 1887, Nr. 4.
*) Gustav Zander, Ueber die Behandlung der habituellen Skoliose
mittelst mechanischer Gymnastik. Zeitschr. f. orthop. Chir. Bd. 2 S. 338.
*) C. v. Heinleth, Ein neuer Skoliosen- und Körpermessapparat „Thoraco-
meter*. Langenb. Arch. Bd. 46 S. 298.
4 ) A. Hoffa, Lehrb. d. orthop. Chir. 2. Aufl. S. 378.
Digitized by VjOOQle
Ein neues Messverfahren für seitliche Rückgratsverkrümmungen. 67
in sich zusammen. Es erscheint demnach nicht wunderbar, dass
selbst der gewandteste Beobachter bei zwei direct nach einander
oder an zwei verschiedenen Tagen vorgenommenen Untersuchungen
wesentlich verschiedene Messbilder erhält.
Auch die Photographie an sich, resp. das von Oe hl er 1 ) vor¬
geschlagene Verfahren der Photographie mit Einschaltung eines
Fadennetzes sind nicht frei von diesem Uebelstande.
Die grosse Deutlichkeit, mit der auf Röntgenbildern
die einzelnen Wirbel zu Tage treten, legten mir den Gedanken
nahe, bei den seitlichen Rückgratsverkrümmungen durch für diesen
Zweck besonders präparirte Skiagramme eine Vorstellung von den
durch die Verkrümmung eingetretenen Veränderungen an den Knochen
zu schaffen und diese Bilder in Ergänzung der gewöhnlichen
Photographie und der bisherigen Messverfahren direct zur
Controlle der Behandlung zu benutzen. Sind wir doch bei diesen
Aufnahmen gewohnt, die Patienten in der die Muskelthätigkeit er¬
übrigenden Rückenlage zu durchstrahlen und ihnen so eine Stellung
zu geben, die sich bei Benutzung derselben Lagevorrichtung viel
sicherer in gleicher Weise wiederholen und eine Veränderung durch
Muskelthätigkeit mit grösserer Bestimmtheit ausschliessen lässt, als
die aufrechte Haltung. Zum Ausgleich von Niveauunterschieden des
Rückens empfiehlt es sich, unter die abgeflachte Seite zwischen
Körper und Glasplatte Watte einzuschieben. Bringt man alsdann die
Röhre stets in dieselbe — möglichst grosse — Entfernung vom Körper
und genau senkrecht über einen später immer wieder zu wählenden
Punkt, so werden die geringen durch die Projection entstehenden
Verschiebungen auch auf späteren Bildern wiederkehren und weniger
in Betracht kommen. Man kann sich von der Ausdehnung derselben
und den durch die sagittalen Krümmungen der Wirbelsäule bedingten
Fehlerquellen etwa eine Vorstellung machen, indem man einen nach
Art der verkrümmten Wirbelsäule gebogenen Bleistab unter einer
Lichtquelle vorbeiführt und den Schatten auf einem dicht unter ihm
befindlichen weissen Grunde beobachtet. Bei nicht zu hochgradigen
Verbildungen werden diese Fehlerquellen kaum zu berücksichtigen sein.
Die Beurtheilung, resp. Messung der Bilder wird
nun wesentlich durch Einschaltung eines Fadennetzes mit
*) Rud. Oehler, Photographische Messung der Skoliose. Zeitschr. f.
orthop. Chir. Bd. 2 S. 169.
Digitized by
Google
68 G. JoachimsthaL Ein neues Messverfahren f. seitl. Rückgrats verkrümm ungen.
Zahleneintheilung erleichtert, welches man zweckentsprechend
dadurch herstellt, dass man auf das fertig copirte Bild der Verkrüm¬
mung vor dem Fixiren desselben noch von einer — ein für alle Mal
zu diesem Zwecke leicht präparirten — lichtempfindlichen Platte
ein in Quadratcentimeter eingetheiltes Liniennetz copirt und erst
dann das Bild fixirt.
Wir können an diesen Bildern unsere Messungen selbst auf die
einzelnen Wirbelkörper, die theilweise mit grösster Schärfe hervor¬
treten 1 ), ausdehnen, während alle bisherigen Messvorrichtungen die
Lage derselben nur aus der Stellung der auf der verschiebbaren
Haut nur schwer zu markirenden Domfortsätze vermuthen lassen.
Bekanntermassen aber weichen trotz starker Lageveränderung der
Wirbelkörper nach der convexen Seite hin die Processus spinosi
häufig gar nicht aus der Mittellinie heraus.
Das geschilderte Verfahren, das ich hiermit zur Nachprüfung
empfehle, dürfte für die weitere Förderung unserer Studien zur
Pathologie und Therapie der seitlichen Rückgratsverkrümmungen
nicht ohne Werth sein.
*) Vergl. das Bild einer rechtsseitigen Dorsalskoliose in Fig. 8 meiner
Arbeit: Ueber den Werth der Röntgenbilder für die Chirurgie. Therapeutische
Monatsh. Febr. 1897.
Digitized by VjOOQle
Referate.
Leitenstorfer, Das militärische Training auf physiologischer und prakti¬
scher Grundlage. Stuttgart 1897.
Leitenstorfer hat sich der dankenswerthen Aufgabe unterzogen, die
wissenschaftlichen und praktischen Gesichtspunkte zu bearbeiten, welche dem
militärischen Training, der soldatischen Ausbildung des Einzelnen und der
Truppe, zu Grunde liegen. Wir begrüssen diesen wohl geglückten Versuch mit
Freuden. Verfasser hat es in echt wissenschaftlicher Weise verstanden, den
Officieren und Militärärzten einen Leitfaden zu geben, welcher die Wege und
Ziele eines erspriesslichen Zusammenwirkens beider in knapper, ansprechender
Form darstellt. Im wissenschaftlichen Theil wird die Arbeitsphysiologie des
Muskels und der Bewegungsnerven erörtert, die Thätigkeit der Lunge und des
Herzens bei der Muskelarbeit, die Ermüdung und die einzelnen Ermüdungs¬
formen. Im praktischen Theil werden dem militärischen Trainer einige That-
sachen aus der Muskel- und Skeletanatomie gegeben, welche es ihm ermög¬
lichen, die physiologischen Kenntnisse auf specielle Bewegungsarten anzuwenden.
Die Hauptanwendung dieser wissenschaftlichen Thatsachen zeigt der 3. Theil,
welcher das Training des Einzelnen und der Truppe bespricht. Im 4. Theil
werden die praktischen Schlussfolgerungen zusammengestellt, von denen wir
einige hier wieder geben wollen. Bei der Auswahl des zu trainirenden Materials
kommt es neben dem Zusammenwirken unserer Factoren, wie der Körpergrösse,
des Brustumfanges, und des Körpergewichtes, besonders auf den geübten Blick
des Arztes an, welcher mehr Werth legt auf körperliche Elasticität und Spann¬
kraft und die geistige Gewecktheit, als auf etwaige geringe Körperfehler. Grund¬
bedingung für ein gedeihliches Training ist das Zusammenwirken des Trainers
mit dem Arzt. Ersterer soll der ärztlichen Untersuchung der Neuangestellten
beiwohnen. Er muss in der Anwendung der Ausbildungsmittel individualisiren.
Ein grosser Theil der Kunst des systematischen Muskeltrainings liegt in der
richtigen Reihenfolge und Abstufung der Uebungen vom Leichten zum Schweren.
Ein schmerzhaftes, längere Zeit anhaltendes Ermüdungsgefühl ist zu vermeiden.
Das Verharrenlassen von Muskelgruppen in starrer Contraction ist unvorteil¬
haft. Die Uebungen sollen möglichst einfach sein. Man darf ermüden, nicht
erschöpfen. Die lange Dauer des militärischen Trainings bringt es mit sich,
dass angestrengtere Trainingsperioden mit Zeiten relativer Ruhe abwechseln
müssen. Der dauernde Gewinn eines vernünftigen Trainings besteht in Frei¬
heit der Gelenke, Dickenzunahme der Muskeln, Muskelgewandtheit und -gedächt-
Digitized by VjOOQle
70
Referate.
niss, günstige Beeinflussung der ganzen Körperentwickelung und eine nach¬
haltige Erhöhung der mittleren Leistungsfähigkeit über den Durchschnitt Das
Training des Einzelnen umfasst die Detailausbildung des Mannes in der Be¬
herrschung seines Körpers. Besonderer Werth ist auf die Ernährung des Mannes
zu legen, besonders in qualitativer Beziehung. Sie muss Hand in Hand gehen
mit den Ansprüchen an die Leistungsfähigkeit des Mannes. Uebermässige
Flüssigkeitszufuhr und alkoholische Getränke sind zu vermeiden. Besondere
Berücksichtigung verdient auch das geistige Training, die Gemüthsverfassung
und die Intelligenz. Die Hauptaufgabe des Truppentrainings ist die systema¬
tische Steigerung der Marschtüchtigkeit grösserer Verbände bis zur vollen
Kriegstüchtigkeit. Besonders zu warnen ist vor continuirlichem Training. Ein
Versuch, die maximalste Leistungshöhe zu erhalten, führt zum Uebertrainirtsein.
Anspannung der Truppen muss abwechseln mit sinngemässer Entspannung. Die
Kost soll der jeweiligen Höhe der Arbeitsleistung entsprechen. Die Prophylaxe
des Hitzschlages wird näher erörtert, wie sie die Dienstvorschriften vorschreiben,
und wie sie nur von Erfolg gekrönt sein kann, wenn Truppenführer und Arzt
Zusammenarbeiten. — Als Anhang ist der Arbeit eine Anzahl Kephalogramme
(Helmspitzenzeichnungen) beigegeben, welche deutlich zeigen, wie die Muskeln
auch bei Ruhigstellung des Körpers arbeiten und wie dieses Muskelspiel bei
verschiedenen Stellungen des Mannes und zu verschiedenen Zeiten des Trainings
variirt.
Das Buch ist den Militärärzten sehr zu empfehlen. Es wird ihnen will¬
kommen sein in ihrer Thätigkeit als sachverständiger Beirath des militärischen
Trainers. H o f f a.
Krukenberg, Lehrbuch der mechanischen Heilmethoden. (Bibliothek des
Arztes, Stuttgart 1896.)
Krukenberg gibt in seinem vorzüglichen Lehrbuch, welches zum ersten¬
mal die mechanischen Heilmethoden durch physiologische Gesetze in so voll¬
ständiger Weise begründet, eine Darstellung der Behandlung der Bewegungs¬
störungen, soweit sie einer mechanischen Behandlung zugänglich sind. Im
1. Kapitel wird die Mezger-Mosengeil’sche Massagetechnik beschrieben.
Der 2., „Gymnastik“ betitelte, Abschnitt bringt den Einfluss der Uebung
auf die Muskeln und Nerven, Eintheilung und Wirkung der Gymnastik. In
der localen activen Gymnastik werden die Bewegungen der einzelnen Gelenke
analysirt, sowie die verschiedenen Wirkungen eines und desselben Muskels bei
verschiedenen Stellungen des Gelenks, in der allgemeinen wird die Athem-
gymnastik erörtert, der Sport, das Turnen, die Zimmer- und die Nerven-
gymnastik, die Behandlung des Stotterns, der Ataxie nach Frenkel und der
hysterischen Contractur. Daran schliessen sich die passiven Bewegungen bei
Lähmungen, unter genauer Berücksichtigung der Pathologie der paralytischen
Contracturen und der Muskelatrophie nach Gelenkleiden, ferner bei Circulations-
störungen, bei Verletzungen (Bardenheuers Selbstbewegungsapparat) und
die Nervendehnungen (Nägeli’s Handgriffe). Im 3. Abschnitt werden die
redressirenden Manipulationen besprochen. Bei den Muskelprothesen des Hüft¬
gelenks erwähnt Verfasser einer Vorrichtung, welche das Sitzen ermöglicht.
Zwischen Corset und Oberschenkelhülse ist eine Spiralfeder ausgespannt, deren
Digitized by CjOOQle
Referate.
71
Zug beim Beugen vermindert wird, bis der todte Punkt erreicht ist. Beim Er¬
heben wird dann die Feder durch eine leichte Rückwärtsneigung des Ober¬
körpers wieder in Wirksamkeit gesetzt. Nach Anführung der Ursachen der
arthrogenen Contractur wird vor zu langer Anwendung fhrirender Verbände
und zu langem Liegenlassen von Drain und Tamponade gewarnt und die früh¬
zeitige Anwendung von Massage und Elektricität befürwortet. Hierauf werden
die einzelnen Methoden der Stellungscorrectur in ihrer Bedeutung gewürdigt,
ebenso die Zugverbände und die portativen Extensionsschienen. Bei Schlotter¬
gelenk werden die Muskelprothesen angewendet, aber nur in einer Richtung,
bei Lähmung sämmtlicher am Gelenk ansetzenden Muskeln die Versteifung,
durch immobilisirende Verbände oder Arthrodese. Der 4. Abschnitt behandelt
die maschinelle Heilgymnastik. Im allgemeinen Theil derselben werden die
wichtigsten Zander’schen Apparate für active, für passive Bewegungen und
für mechanische Einwirkungen beschrieben und abgebildet. Dem voraus geht
eine Abhandlung über allgemeine Gesichtspunkte aus der Muskelmechanik. Die
Apparate für active Bewegungen sind Widerstandsapparate und stützen sich
auf das Hebelgesetz und das Schwann’sche Gesetz. Es wird das Hebelgesetz
in der Anwendung auf die Muskelmechanik nach H. v. M e y e r entwickelt Bei
den Beugern trifft das Hebelgesetz nur in bedingtem Maasse zu, vollständig
aber bei den Adductoren. Die Streckmuskeln und die Rotatoren wirken nach
dem Princip der Rolle ein. Das Hebelgesetz wird weiter modificirt durch das
Schwann’sche Gesetz, nach welchem die Kraft des Muskels mit der fort¬
schreitenden Verkürzung stetig abnimmt. Einen Einfluss hierauf hat wieder
die Stellung der Nachbargelenke, die Atrophie des Muskels und die Eigen¬
schwere des Gliedes. Trotzdem die theoretischen Voraussetzungen, dieZander
der Construction seiner Apparate zu Grunde legt, nur zum Theil zutreffen, ent¬
spricht doch das allmähliche Zu- und wieder Abnehmen des Widerstandes bei
denselben den physiologischen Gesetzen. Der Beschreibung der Apparate folgt
eine kurze Angabe allgemeiner Regeln für die Anwendung, sowie der Indica-
tionen. Im Anschluss daran werden die verschiedensten Ersatzmittel der Zander-
schen Apparate betreffs ihrer Brauchbarkeit objectiv beurtheilt. Hier mag noch
auf die Stelle auf S. 85 besonders verwiesen werden, welche den Standpunkt
Krukenberg’s, bezüglich der Behandlung in medico-mechanischen Instituten
bringt. Leider verbietet es der Raum, diese ausgezeichneten Worte wörtlich
anzuführen. — In der speciellen maschinellen Gymnastik treten die Apparate
für passive Bewegungen in den Vordergrund. Nach Anführung der rein passiven
Bewegungsapparate und der Selbstbewegungsapparate werden die vom Verfasser
eingefuhrtenPendelapparate beschrieben. Krukenberg gibt sodann für active
Bewegungen, speciell für locale Muskel- und Gelenkleiden, Widerstandsapparate
an, durch welche es ermöglicht wird, die einzelnen Muskelgruppen scharf von
einander zu scheiden, bei denen die geleistete Muskelarbeit in allen Phasen
der Bewegung möglichst gleich ist und die Muskelarbeit möglichst genau be¬
rechnet werden kann. Er erreicht dies durch das Heben von Gewichten, die
an die Peripherie eines Rades angehängt werden. Die Drehungsachse des Ge¬
lenks fällt mit der Achse des Rades zusammen. Ein Laufgewicht compensirt
das Gewicht der Handhabe und stellt das indifferente Gleichgewicht des zu be¬
handelnden Gliedes in jeder beliebigen Stellung her. Als Laufgewicht lässt
Digitized by CjOOQle
72
Referate.
sieh das Pendelgewicht benutzen durch Umschaltung an dem Rad. Die beiden
Schlusskapitel enthalten einen kurzen Abriss aus den Gebieten der Elektro-
und Hydrotherapie, insoweit dieselben in der Behandlung der Bewegungs¬
störungen eine Rolle spielen. Der Text wird durch zahlreiche, gute Abbildungen
erläutert.
Das Krukenberg’sche Lehrbuch braucht nicht erst besonders empfohlen
zu werden. Derartige gediegene Bücher empfehlen sich von selbst. Dasselbe
wird wohl bald ein unentbehrlicher Rathgeber des Arztes sein, der sich mit
mechanischen Heilmethoden befasst. Müll er-Würzburg.
M c. K e n z i, B. E., Congenital defects of the long bones. (The New York
Med. Journal, Febr. 20, 1897.)
. Verfasser beschreibt nach Anführung der diesbezüglichen Literatur 10 Fälle
von congenitalem Defect der langen Röhrenknochen: Die beiden Tibiae und
Patellae fehlten 2mal, eine Tibia, eine Fibula, der eine Vorderarm, beide Radii,
eine Ulna je linal, der eine Radius 3mal, mehrere Zehen in 2, mehrere Finger
in 6 Fällen. Der eine Fall bot an drei Rippen einen Defect von 10 cm, vom
Brustbein ab. An sechs Gliedern war narbige Beschaffenheit der Haut vor¬
handen. In dem einen Falle, wo sich unter einer kleinen linearen Narbe eine
winkelige Verbiegung der verkürzten Tibia fand, vermuthet Verfasser intrauterin
entstandene complicirte Fractur. In den Fällen von Radiusdefect war die
Function der ulnar gelegenen Finger viel besser, als der radial gelegenen. Bei
Radiusdefect hat er die geschrumpften Stränge an der Radialseite des Gelenks
theils offen, theils subcutan durchschnitten, einmal ein Stück von der Ulna ent¬
fernt. Bei Tibiadefect macht Verfasser die Amputation. Im Falle von Fibula-
defect hofft er mit orthopädischen Massnahmen auszukommen. In keinem der
Fälle war irgend eine Störung der Schwangerschaft bekannt geworden. Es
folgt zum Schluss eine ausführliche anatomische Beschreibung des einen am-
putirten Unterschenkels bei congenitalem Tibiadefect.
Müller - Würzburg.
Müller, Georg, Einige orthopädische Apparate. Monatsschrift für Unfall¬
heilkunde 1896, Nr. 1.
Müller beschreibt und empfiehlt eine Anzahl orthopädischer Apparate,
die er construirt und seit einer Reihe von Jahren mit guten Erfolgen an¬
gewendet hat. Es sind:
1. Ein Apparat zur Behandlung von Fingerversteifungen. Der
Apparat ist aus Leder hergestellt und besteht zunächst aus einer Manschette,
welche um das Handgelenk geschnallt wird. Von dieser Manschette gehen vier
den vier Fingern (Daumen ausgenommen) entsprechende Riemen ab, welche
oben in der Höhe der Mittelglieder Oesen haben, durch welche die Finger ge¬
steckt werden, bevor die Manschette festgeschnallt wird. Nun werden die
Riemen in die entsprechenden, auf der Beugeseite der Manschette befindlichen
Schnallen eingeschnallt, und zwar so, dass die versteiften Finger möglichst
wenig gespannt sind. Ein weiterer in der Höhe der Mittelhand-Fingergelenke
circulär verlaufender Riemen wird festgeschnallt, um das Abgleiten der Finger¬
riemen zu verhindern. Durch allmähliches Anziehen der Fingerriemen wird die
Digitized by CjOOQle
Referate.
73
Beugung der Finger vermehrt. Müller lässt den Apparat 3mal täglich je
15 Minuten bis mehrere Stunden lang anlegen.
2. Ein Apparat für passive Beugung und Streckung des
steifen Ellbogengelenkes. Der Apparat besteht zunächst aus einer
Hohlschiene für den Oberarm und einer für den Unterarm. Btfide sind durch
zwei laterale Stahlschienen, die dem Gelenk entsprechende Charniere besitzen,
verbunden. Durch Anschnallen zweier weiterer Hohlschienen werden jene zu
Hülsen ergänzt, welche durch Einlegen verschiedener Filzplatten für jeden Arm
passend gemacht werden können. An der Oberarm- und an der Unterarmhülse
befinden sich je zwei Oesen, welche eine Verschraubung aufzunehmen im Stande
sind. Diese Verschraubung ist so construirt, dass durch Umdrehung des hervor¬
stehenden Heftes die Distanz der Oesen vergrössert oder vermindert werden
kann, wodurch dann der Ellbogen im Sinne der Streckung oder der Beugung
bewegt wird.
3. Ein Apparat für passive Hüftspreizung und Hüftbeugung.
Derselbe besteht aus einem hohen Stuhl, dessen Lehne in jedem beliebigen
Winkel verstellbar ist. Vorne sind an demselben zwei Beinbretter beweglich
eingefügt und werden durch eine Spiralfeder zusammengezogen. Auf den
Brettern finden sich verstellbare Beinhalter. Mit dem Stuhl steht durch einen
gemeinsamen Unterboden ein festes, durch Stützen abgesteiftes Gerüst in Ver¬
bindung, in welches ein abnehmbares Querbrett eingefügt ist. In dieses Quer¬
brett ist eine Stahlschiene eingelassen, auf der die Räder der Beinbretter laufen.
Mit diesen letzteren stehen Schnüre in Verbindung, welche über seitlich ange¬
brachte Rollen laufen und in Handgriffen endigen. Zieht nun der im Apparat
sich befindliche Patient an diesen, so werden die Beine passiv gespreizt, lässt
der Zug nach, so werden sie durch die Kraft der Spiralfeder geschlossen.
Hakt man nun diese Schnüre aus und hakt man die anderen über die
oberen an dem Gerüst angebrachten Rollen laufenden ein, nimmt man dann
noch das Querbrett heraus, so werden durch Zug an den Schnüren die Beine
in den Hüftgelenken gebeugt. Die Verbindung der Beinbretter mit dem Stuhl
ist nämlich derartig, dass sie Abduction und Flexion — jedoch immer nur eine
oder die andere Bewegung — gestattet.
(Ein principieller Fehler dieses Apparates ist die Unmöglichkeit das
Becken zu fixiren. Der Ref.)
4. Ein Apparat zur Behandlung des runden Rückens. Eine Modi-
fication der BarwelTschen Schlinge: Der Patient sitzt auf einem Schemel; um
das Becken geht ein Gurt , welcher rückwärts in einem Haken eingehakt ist.
Die aufwärts gestreckten Hände erfassen ein Querholz, welches an einem ver¬
stellbaren Gurt befestigt ist. Ueber den Scheitel der Verkrümmung verläuft
ein weiterer Gurt, welcher an einem Flaschenzug verhakt ist und vermittelst
desselben angezogen werden kann. Durch über die Schultern geführte Strippen
wird der Rückengurt am Abgleiten verhindert.
5. Ein Apparat zur Behandlung der verschiedenen Formen der
Wirbelsäulenverk rümmung. Dieser von Müller „ Liegebarren * ge¬
nannte Apparat ist der Beely-Fischer’sche Skoliosenbarren, mit dem einzigen
Unterschied, dass der Patient im Müll ersehen Apparat nicht steht, sondern
Digitized by
Google
74
Referate.
liegt, und dass an demselben eine Vorrichtung zur Extension der Wirbelsäule
angebracht ist.
Die Beschreibungen der einzelnen Apparate werden durch anschauliche
Figuren verdeutlicht. A. Schanz -Sodenthal.
Anders, Ernst, Eine neue Bearbeitung des Filzes für Herstellung von lin-
mobilisationsapparaten. Arch. f. klin. Chir., Bd. 52, Heft 1.
Nach Anders beruhen die ungünstigen, bisher mit dem Filzmieder ge¬
machten Erfahrungen auf seiner mangelhaften Qualität und der bisher üblichen
Bearbeitung desselben. Bei der Fabrication des von Anders benutzten Filzes
werden Hasenfelle verwendet; das Material gewinnt, je mehr dem Rohmaterial
Kaninchenhaar hinzugefügt wird. Indem der Filzmacher die wie Daunen auf-
gewispelten Haufen des Filzmaterials zu möglichst festen Schichten verdichtet,
stellt er einen Schlauch her, der ungefähr der Peripherie des ihm eingehändigten
Gipsmodells an Grösse entspricht. Das feste Gefüge des Filzes wird durch
starkes Walken desselben erreicht. Der fertige Schlauch wird über das Gips¬
modell gezogen und mit diesem in heisses Wasser getaucht, wodurch er sich
gewaltig zusammenzieht und auf das genaueste die für ihn durch das Modell
bestimmte Form annimmt. Im Ofen getrocknet und aufgeschnitten, wird, der
Filz mit einer Lösung von Gummi lacca in tabulis in Spirit, vin. rectific. bis
zum Ueberfliessen getränkt, wieder auf das Modell gespannt und bei gewöhn¬
licher Zimmertemperatur getrocknet. Die Oberfläche lässt sich bis zur Spiegel¬
glätte poliren, die Innenfläche wird nur mit Glaspapier ausgerieben, bis sie
weissgelb erscheint und sich sammetartig anfühlt.
Joachimsthal - Berlin.
Gendron, Simplification dans la confection des corsets plätres. Annales de la
Policlinique de Bordeaux.
Gendron möchte bei der Fertigstellung des Gipscorsetes den Bandagisten
gänzlich entbehren, eine übertriebene Zurückhaltung. In origineller Weise er¬
setzt er deshalb die Schnürhaken durch eingegipste Zinkstreifen, an den mittelst
besonderen Instrumentes Zungen herausgestanzt sind, die nachträglich zu Haken
umgebogen werden. Vulpius-Heidelberg.
Piächaud, Appareil d’Immobilisation et d’extension. Revue d’orthopädie
1890, Nr. 4.
Fixation und Extension der Wirbelsäule bei Spondylitis, des Hüft- oder
Kniegelenks bei Entzündungen und Contracturen erreicht Piächaud durch
folgende Vorrichtung: Der Patient liegt im Bett oder in einem transportablen
Korb. Die Extension geschieht an beiden Beinen mittelst elastischer Schläuche,
die Contraextension, resp. die Fixation des Rumpfes wird durch ein Stoffcorset
vermittelt, von dem Gurten nach den vier Enden des Bettes ziehen.
V u 1 p i u s - Heidelberg.
x'fhilo, Druckverbände mit Filz. Monatsschrift für Unfallheilkunde 1896, Nr. 8.
Als Unterlage für Druckverbände verwendet Thilo Filzstücke, die er
für die einzelnen Gelenke verschiedenartig zurechtschneidet. Auf das Fussgelenk
z. B. legt er aussen und innen je ein Stück Filz, in welches er dem Knöchel
Digitized by CjOOQle
Referate.
75
entsprechend nach Art der Hühneraugenringe ein Loch schneidet. Die Filz¬
stücke haben im Durchschnitt eine Länge von 14 cm, eine Breite von 6 cm,
nach der Sohle zu verbreitern sie sich bis 9 cm. Das Loch für den Knöchel
ist etwa 5 cm lang und 2 cm breit. Die Achillessehne bleibt vom Filz unbedeckt,
ebenso bleibt an der Vorderseite des Gelenkes ein Zwischenraum von einigen
Centimetem zwischen den Filzstücken, damit daselbst eine freie Bahn für den
Rückstrom des Blutes bleibt.
Die für andere Gelenke nothwendigen Modificationen dieses Verbandes
ergeben sich von selbst. A. S c h a n z - Sodenthal.
Dane, John, a study of the blood in cases of Tuberculosis of the bones and
joints. (Reprint, from the Boston Med. and surg. Journal of Mai 28 and
June 4 and 11, 1896.)
Dane hat in 43 Fällen von Knochen-, bezw. Gelenktuberculose (Coxitis,
Spondylitis, mit und ohne Abscess, Ostitis der Femur und der Tibia, Tumor
albus, Lymph. adenitis colli) meist bei Kindern zwischen 3 und 13 Jahren, so¬
wohl bei frischen Fällen wie bei SVsjährigem Bestände der Krankheit, die
Schwankungen der Blutkörperchen untersucht und kommt zu folgenden Schlüssen:
In den meisten Fällen von Tuberculose der Knochen und Gelenke vermindert
sich die Zahl der rothen Blutkörperchen nicht, wohl aber der Procentgehalt
an Hämoglobin. Die Zahl der Leukocyten scheint keine directe Beziehung zur
Temperatur zu haben. Hohe Zahlen, besonders bei Coxitis, machen baldige
Abscessbildung wahrscheinlich, ohne dass niedrige eine solche ausschliessen, be¬
sonders bei Fällen von längerer Dauer. Wo bei niederer Leukocytenzahl ein
Abscess besteht, ist der Eiter steril, und der Fall besteht gewöhnlich lange.
Bei Abscessbildung spricht eine hohe Zahl von Leukocyten für secundäre In-
fection mit pyogenen Organismen, eine niedrige dagegen. Fälle, in denen bei
der Operation der Eiter steril war, zeigen vermehrte Leukocytose, wenn die
Wunde mit pyogenen Organismen inficirt wird. Fälle traumatischen Ursprungs
gehen gewöhnlich mit hoher Leukocytenzahl einher und verlaufen schwerer.
Müller AV ürzburg.
Calot, Traitement de la bosse du mal de Pott. Paris 1897.
Entgegen der allgemein herrschenden Anschauung hat Calot es gewagt,
den Gibbus bei Spondylitis tuberculosa in den Bereich der orthopädischen Be¬
handlung zu ziehen. Bei Abschluss seiner Arbeit verfügte er über ein Beob-
aehtungsmatorial von 37 Fällen, deren älteste bereits seit länger als 1 Jahr in
Behandlung standen. Die Technik des Redressements ist folgende. Während
die Assistenten an den Armen und Beinen des in Bauchlage befindlichen, nar-
kotisirten Patienten kräftig extendiren und zugleich durch Erheben der Ex¬
tremitäten eine lordotische Stellung der Wirbelsäule hervorzubringen suchen,
legt der Operateur beide Hände auf die Höhe des Gibbus und drückt mit
wachsender, zuletzt sehr erheblicher Kraft, bis der Buckel völlig verschwunden
ist. Dieser Vorgang ist bisweilen von einem deutlichen Krachen begleitet. Als¬
dann wird ein circularer Gipsverband angelegt, welcher Kopf und Becken mit
umfasst. Der Verband bleibt 3—4 Monate liegen und wird dann noch 1 bis
2mal erneuert. In der Mehrzalil der Fälle schickt Calot dem Redressement
Digitized by VjOOQle
76
Referate.
die Abmeisselung der vorspringenden Dornfortsätze voraus. Einmal gab schlechte
Knochenneubildung an der Stelle der tuberculös zerstörten Wirbelkörper, und
ein anderes Mal sehr starke knöcherne Verwachsung auf der Höhe des Gibbus
die Indication zur Resection eines keilförmigen Stückes, dessen Basis an der
Convexitat des Gibbus lag. Im ersteren Fall lag nach der Resection das Rücken¬
mark in einer Ausdehnung von 5—6 cm frei (es wurden fast drei Wirbel entfernt),
so dass beim Zusammenschieben der Fragmente das Rückenmark sich falten
musste, und Calot vorzog, einen kleinen Spalt zu lassen, welchen er mit
Periost und Muskeln überdeckte. Im zweiten Fall wurden ein Wirbel und
Theile der dazu gehörigen Rippen entfernt. Die Resection wurde mit einem
besonders construirten schmalen Meissei ausgeführt. Nachbehandlung mittelst
desselben Gipsverbandes, wie in den anderen Fällen. Die Resection kommt
erst in Frage, wenn das Redressement kein genügendes Resultat ergeben hat.
Von den 37 behandelten Patienten ist kein einziger gestorben, obgleich es sich
durchweg um tuberculöse und meist elende Kinder handelte. Ferner trat weder
eine Lähmung noch ein anderer ernsthafter Zwischenfall auf. Eine leichte
Parese verschwand nach vorgenommenem Verbandwechsel innerhalb 12 Tagen.
4mal trat leichter Decubitus ein, ferner ein Psoasabscess im 4., ein Glutäal-
abscess im 6. Monat. Bei drei Patienten waren zur Zeit des Redressements
Psoasabscesse vorhanden; dieselben verschwanden spontan. Das Allgemein¬
befinden hat sich in allen Fällen erheblich gebessert. Das Alter der Patienten
war zwischen 2 und 20 Jahren, das Alter des Gibbus zwischen 6 Monaten und
8 Jahren. Die Entzündung war theils noch vorhanden, theils bereits abgelaufen.
Abscesse und Lähmungen bilden keine Contraindication. Um die Ausbildung
eines Gibbus bei frischer Spondylitis zu verhüten, soll in Narkose die Wirbel¬
säule extendirt und iordotisch ausgebogen werden; alsdann wird ein circulärer
Gipsverband angelegt, der Kopf und Becken mit einschliesst. Hierdurch wird
zugleich das Postulat der Entlastung und Immobilisation aufs sicherste erfüllt,
und der Ausbildung eines Gibbus vorgebeugt. A lsb erg-Würzburg.
Levy-Dorn, Max, Experimentelle Untersuchungen über Rippenathmung und
über Anwendung von Pflastern am Thorax. Centralbl. f. innere Medicin
1896, Nr. 32. (Aus dem physiologischen Institut der Universität zu Berlin.)
Levy-Dorn’s Versuche bezweckten in erster Linie, die Grösse der an
die Brustwand geklebten Pflaster zu bestimmen, welche gerade noch im Stande
sind, mit einiger Sicherheit die Beweglichkeit der Rippen oder besser die thora¬
kale Athmung zu beschränken. Es sollte weiterhin entschieden werden, ob die
Behinderung eine allgemeine ist, sich über den ganzen Brustkorb erstreckt oder
nur im Bereich des Pflasters resp. in der Nähe desselben statthat. Der von
Levy-Dorn benutzte Apparat ermöglichte es, eine umschriebene Stelle des
Thorax während der Athmung auf die Kymographiontrommel zu registriren.
Aus 22 Versuchen geht hervor, dass wir sehr grosse Theile des Brust¬
korbes mit Pflastern bedecken müssen, wenn wir mit einiger Sicherheit die
Athmung behindern wollen. Die Pflaster müssen entweder von der Grenze der
Leberdämpfung bis dicht unter die Achsel gehen oder den Raum von der
Wirbelsäule bis gegen die Mammillarlinie einnehmen, um den genannten Zweck
zu erreichen. Der Grad der Hemmung fiel unter anscheinend gleichen Verhält-
Digitized by CjOOQle
Referate.
77
nissen recht verschieden aus. Die Hemmung erstreckt sich über den ganzen
Brustkorb, wenn sie im Bereich oder der Nachbarschaft des Pflasters deutlich ist.
Gleichgrosse Pflaster schienen die Rippenathmung mehr zu hemmen,
wenn sie die seitlichen Theile des Thorax mitbedecken, als wenn sie dieselben
freilaBsen.
Wer mit einem verhältnissmässig kleinen Verband eine Beschränkung
der Rippenathmung erzielen will, muss sich starrer Massen, wie Gummigutti,
Guttapercha dazu bedienen. Er muss diese der Thoraxform gut anpassen und
mit einigen Heftpflasterstreifen befestigen. Die einfachen, auf Leinwand ge¬
strichenen Pflaster müssen über doppelt so gross sein, um eine gleiche Wirkung
zu entfalten.
Ein um den ganzen Brustkorb gelegter Gipsverband vermag nicht —
wie dies übrigens schon bekannt ist — die thorakale Athmung vollständig
aufzuheben. Es liegt dies daran, dass wir das äusserste Exspirium, in welchem
der Brustkorb den kleinsten Raum einnimmt, nicht bis zum Erhärten der Gips¬
massen andauern lassen können.
Die Art, wie die Hemmung der Athmung bei Pflastern und dergleichen
zu Stande kommt, kann rein mechanisch gedacht werden. Die in ihrer Aus¬
dehnungsfähigkeit behinderte Haut gewährt nicht mehr genug Raum für die
grösste Ausdehnung des Brustkorbes, d. h. für die Inspiration. In anderen
Fällen kann durch grosse Energie das Hemmniss noch überwunden werden, aber
es tritt bald Ermattung ein. Endlich kann man sich vorstellen, dass die unter
abnorme Bedingungen von Druck und Zug gesetzten Endigungen der Haut¬
nerven reflectorisch die Rippenbewegung verhindern.
Joachimsthal - Berlin.
Oeffinger, Die Behandlung alter pleuritischer Exsudate mit schwedischer
(Zander-)Gymnastik. Aerztliche Mittheilungen aus und für Baden
1895, Nr. 1.
Oeffinger empfiehlt nach seinen günstigen Erfahrungen die Behand¬
lung alter pleuritischer Exsudate mit schwedischer Heilgymnastik, speciell mit
Zand er-Apparaten. Bedingung für diese Kuren sind ständige Ueberwachung
des Thorax und des Herzens, sowie grosse Ausdauer. 6—8 Wochen ist im
allgemeinen die geringste Behandlungsdauer. Die Behandlung beginnt mit der
Anwendung von Apparaten, welche thunlichst wenig Anforderungen an die
Muskelarbeit des Patienten stellen, also hauptsächlich mit den durch Dampf¬
kraft getriebenen passiven Apparaten. Bei den activen Apparaten beginnt man
mit den am wenigsten anstrengenden und mit den geringsten Widerständen
und geht erst weiter, wenn eine Vermehrung der Pulsfrequenz nicht mehr ein-
tritt. Betreffe der speciellen Vorschriften verweisen wir auf das Original.
A. S c h a n z - Sodenthal.
Dreesmann, Zur Behandlung von Gelenksteifigkeiten. Monatsschrift für Un¬
fallheilkunde 1896, Nr. 4.
Nebel, Zur Behandlung von Gelenksteifigkeiten. Monatsschrift für Unfall¬
heilkunde 1896, Nr. 7.
Dreesmann, der die passiven Bewegungsapparate für die Behandlung
von Gelenksteifigkeiten vielfach für vortheilliafter hält — vor allem bei Unfall-
Digitized by
Google
78
Referate.
patienten — als die activen, hat, um einem Mangel an solchen passiven Ap¬
paraten abzuhelfen, einen neuen, ziemlich complicirten Apparat constrairt. Der¬
selbe wird durch Handkraft von einem Schwungrad aus getrieben. Es finden
sich an ihm Einrichtungen für Beugung und Streckung im Fuss- und Knie¬
gelenk, für Beugung und Streckung des Hüftgelenkes, für Beugung, Streckung,
Ab- und Adduction der Hand, für Beugung und Streckung des Ellbogengelenkes
und für kreisförmige Bewegung des Schultergelenkes. Betreffs der Details der
Construction müssen wir auf das Original verweisen.
Verfasser rühmt als die Vortheile seines Apparates, dass durch denselben
fast sämmtliche Bewegungen der Extremitätengelenke bewirkt werden, dass
derselbe eines geringen Raumes, dass er keines Motors bedarf, dass sein Preis
ein geringer ist, dass der Arzt, da alle Bewegungen passive sind, stets eine
genaue Controlle über den Erfolg der Behandlung besitzt, und dass an dem
Apparat zu gleicher Zeit 5 bezw. 6 Patienten behandelt werden können.
Nebel wendet sich nun gegen Dreesmann und zeigt, dass der von
Drees mann empfundene Mangel in der That nicht Vorgelegen habe, dass
vielmehr die Z a n d e r’schen Apparate so gut passiven Bewegungen wie activen
Uebungen gegen Widerstand dienen und noch manchen Anforderungen als den
Dreesmann’schen, mit Ausnahme des Raumes und des Preises, vollauf ge¬
nügen. Er führt im einzelnen aus, wie Zander eine grosse Anzahl von durch
Dampf getriebenen Apparaten für passive Bewegungen construirt hat und wie
die zunächst für active Uebungen bestimmten Apparate vielfach leicht für
passive Bewegungen einzurichten sind. Generell erkennt Nebel den passiven
Bewegungen nicht eine so grosse Bedeutung zu, wie Dreesmann. Er hält
es für viel wichtiger, dass man die Patienten dazu bringt, selbst ihre Glieder
wieder zu bewegen. A. Schanz-Sodenthal.
Meyer, Julius, Tic rotatoire. Inaug.-Diss. Freiburg 1896.
Nach Meyer, der über 5 einschlägige Fälle aus der Poliklinik von Mendel
berichtet, beruht der Tic rotatoire in den meisten Fällen auf functioneilen Stö¬
rungen des Gehirns und ist durch körperliche oder geistige Erregungen un¬
mittelbar veranlasst. Nur in seltenen Fällen liegen organische Veränderungen
im Gehirn vor; diese haben dann meist im Kleinhirn ihren Sitz. Wahrschein¬
lich kann auch ein im Frontallappen gelegenes Centrum den Tic rotatoire
hervorrufen; endlich kann dieselbe auch auf krankhaften Veränderungen im
Verlaufe des N. accessorius selbst und seiner Endausbreitung im M. sternocleido-
mastoideus beruhen. Joachimsthal-Berlin.
Finekh, Johannes, Ueber die Reponibilität der veralteten Luxationen des
Schultergelenks. Inaug.-Diss. Tübingen 1896.
Nach Abhandlung einiger statistischer und casuistischer Fragen unter¬
sucht Verfasser, dem 223 in mehreren Jahrzehnten in der Tübinger chirurgi¬
schen Klinik behandelte Schulterluxationen zur Verfügung stehen, von denen
100 veraltete Luxationen betreffen, die Aussichten für die Reposition dieser
letzteren. Er kommt zu dem Resultate, dass, wenn keine Complication irgend
welcher Art mit der Humerusluxation verknüpft ist, die Prognose der 2 bis
4 Wochen alten Luxation eine absolut günstige sei, bis zu 9wöchentlicher Dauer
Digitized by CjOOQle
Referate.
79
der Luxation eine recht gute, indem bis zu diesem Zeitpunkt beinahe 4 /s aller
Falle reponirt werden. Die länger als 9 Wochen bestehenden Schulterluxationen
lassen sich auf unblutigem Wege nur ausnahmsweise noch reponiren.
Simon -W ürzburg.
Bonnardiöre: Traitement orthopedique des affections tabeto-spasmodiques
infantiles. Revue d’orthopedie 1896, Nr. 6.
In der Klinik von Vincent-Lyon werden die Kranken mit Little-
seher Krankheit in typischer Weise behandelt: In Narkose wird zunächst un¬
blutige Stellungscorrectur versucht. Gelingt sie, so wird Gipsverband angelegt,
gelingt sie nicht, so werden die nöthigen Tenotomien ausgeführt und dann in
festem Verband oder in geeigneter Lagerungsmulde das Resultat festgehalten.
Nach 30—40 Tagen beginnt die Nachbehandlung mit Massage, Uebungen
und Apparaten, die eventuell zu erneuter Contractur neigende Gelenke fest¬
stellen.
13 Krankengeschichten derartiger Fälle ergeben, dass unter der skizzirten
Behandlung die Motilität der Beine zunimmt, der Gang sich weiterhin sehr
bessert, und dass ein günstiger Einfluss auf das Gesammtbefinden des Patienten
sich bemerkbar macht. Vulpius-Heidelberg.
T i 1 a n u 8, C. B., Over een geval van craniectomie bij mikrocephalie. Ned.
tijdschrift voor geneeskunde 1896, Deel II, Nr. 19.
Bei einem fast 5jährigen Kind, das von Geburt an mikrocephal und
idiotisch war, machte Tilanus auf dringenden Wunsch der Eltern eine Crani-
ektomie. Er entfernte in zwei Sitzungen ein H-förmiges Knochenstück, dessen
Schenkel je 11 cm lang, 1 cm breit waren, und dessen Querlinie 3 cm betrug.
Beide Operationen wurden gut überstanden. Im directen Anschluss an die
Operation scheinbar geringe Besserung des geistigen Zustandes und nachweis¬
bare Zunahme einzelner Sehädelmaasse (grösster Umfang, horizontaler Längs¬
durchmesser und grösster Verticaldurchmesser um je 0,5 cm). Eine nochmalige
Untersuchung 4 Monate später ergab keine weitere Besserung. Tilanus
glaubt daher vor übertriebenen Hoffnungen warnen zu müssen.
Alsberg - Würzburg.
Martin: Pied bot 4quin paralytique.
Martin ist im Stande durch allmähliches Redressement den paralyti¬
schen Spitzfuss zu beseitigen. Er braucht dazu einige Wochen, einmal aber
auch 8 Monate.
Warum er die Achillotenotomie scheut, sagt er nicht. Er sucht durch
Massage, Elektricität etc. nebenbei die paretische Musculatur zu kräftigen.
V u 1 p i u s - Heidelberg.
Kirmisson, Anatomie pathologique et traitement du pied bot varus 6quin
congenital. Revue d’orthopedie 1896, Nr. 3 u. 4.
Interessanter als die nichts Neues von Belang bietende Schilderung der
Anatomie des Klumpfusses ist die Besprechung der Therapie, wie sie Kirmisson
übt und empfiehlt. Im Alter von 2—3 Wochen wird die Behandlung begonnen,
bestehend in Redressement und Massage, wozu im Nothfall die Achillotenotomie
Digitized by CjOOQle
80
Referate.
kommt. Erst nach 18—24 Monaten (!) wird das Laufen erlaubt. Bei etwas
älteren Kindern wird in Narkose das forcirte Redressement geübt, das nur
manuell ausgeführt wird; die Hand ersetzende Apparate werden wegen der
Gefahr der Quetschung verworfen.
Das typische Verfahren Kirmisson’s bei starreren Formen des Pes
varus ist die Phelps’sche Operation mit ausgedehnter Eröffnung des Talonavi-
culargelenkes.
48mal hat Kinnisson diese Operation gemacht, manchmal musste aller¬
dings daran noch das forcirte Redressement angeschlossen werden. Die zum
Theil mit Abbildungen der Deformität und des Kurerfolges versehenen Kranken¬
geschichten berichten im ganzen von guten Dauerresultaten. In den meisten
Fällen — die Altersgrenzen derselben liegen bei 15 Monaten und 19 Jahren —
hätte gewiss das unblutige Verfahren des modelürenden Redressements das
gleiche geleistet (das dem Referenten bei mehr als 200 Klumpfüssen, auch Er¬
wachsener, fast nie versagte). Vulpius-Heidelberg.
Boquel, Le redressement for^e et la tarsoclasie dans le traitement du pied
bot chez l’enfant. Gazette hebdomadaire de med. et de Chirurgie 1896,
12 Juillet.
Boquel schildert die unblutige Behandlung des Klumpfusses mittelst
gewaltsamen Redressements in ihrer geschichtlichen Entwickelung. Mit Recht
bezeichnet er als beste Methode das von Lorenz angegebene „modellirende
Redressement“, welches selbst bei Erwachsenen ein erstaunlich vollkommenes
Resultat ergeben kann. Das bei uns bereits gewürdigte Verfahren wird ein¬
gehend beschrieben. Vulpius-Heidelberg.
Boquel, Andr£, Traitement du pied bot congenital chez l’enfant. Thdse de
Paris 1896.
Verfasser schildert in ausführlicher Weise die Behandlung des angeborenen
Klumpfusses im Kindesalter. Die Behandlung hat womöglich wenige Tage nach
der Geburt zu beginnen, ehe die Musculatur des Unterschenkels atrophirt. Bleibt
die Musculatur atrophisch, so kann das wesentlichste Postulat einer wirklichen
Heilung, die völlige Herstellung der normalen Function, nicht erfüllt werden.
Zu einer jeden Klumpfussbehandlung gehört daher Massage und Gymnastik.
Solange die Knochen noch weich sind, ist die Tenotomie der Achillessehne dei
einzige in Frage kommende chirurgische Eingriff. Es folgt das unblutige Re¬
dressement, und zwar am besten nach der Lorenz’schen Methode, die eine
erhebliche Verbesserung des bisherigen Verfahrens darstellt. Trotzdem glaubt
Verfasser, dass man bei einer ganzen Anzahl von Fällen mit dem unblutigen
Verfahren nicht auskommt, sobald nämlich die abnorme Formation der Knochen
sich definitiv herausgebildet hat. Das sicherste Verfahren ist dann nach den
im Hospital Trousseau gesammelten Erfahrungen die Tarsektomie, sofern man
sich nur nicht scheut, alles fortzunehmen, was sich dem Redressement hinder¬
lich erweist. Die Nachbehandlung besteht ebenso wie bei den anderen Methoden
in der ausgiebigen Anwendung der Massage. Verfasser gibt die ausführlichen
Krankengeschichten von 12 durch Tarsektomie behandelten Fällen (davon 6 doppel-
Digitized by
Google
Referate.
81
seitigen), bei denen das Endresultat durchweg sehr zufriedenstellend war. Der
früheste Termin für die Tarsektomie ist das 3. Lebensjahr.
Alsberg -Würzburg.
Krauss, Reinhold, Ueber die Resultate der Behandlung congenitaler Klump-
ftisse in der chirurgischen Universitätspoliklinik zu Berlin in den Jahren
1888—1894. Inaug.-Diss. Berlin 1896.
Von 265 Patienten konnte Krauss bei 46 (65 Fällen von congenitalem
Klumpfuss) die Behandlungsresultate feststellen und fand 17°/o Klumpfüsse
1. Grades (nach Krauss), 9% sehr mangelhaftes Resultat, 12% Besserung, 17%
nahezu vollkommene Heilung, 45% Heilung. Für die Beurtheilung der Heil¬
resultate dienten die von Hoffa, König und Krauss aufgestellten Forderungen
zur Richtschnur. Als Behandlungsmethode wurden angewandt: Massage mit
Redressement durch regelmässige Bewegungen, forcirtes Redressement und im-
mobilisirende Verbände, in schwereren Fällen die Phelps’sche Operation, Teno-
tomie der Achillessehne und der Plantarraponeurose und Schienenschuhe.
Krauss empfiehlt für die poliklinische Behandlung besonders das forcirte Re¬
dressement mit immobilisirenden Verbänden, bis der Fuss in stärkster Pronation,
Abduction und Dorsalflexion stehen bleibt, und dann, wenn möglich, noch Mas¬
sage und redressirende Bewegungen bis zur völligen Wiederherstellung der
activen Beweglichkeit. Die Tenotomie am Anfang der Behandlung wird ver¬
worfen (Graser) wegen der Gefahr einer unvollständigen Correction der Ad-
ductionsstellung. Müller - Wür zburg.
Gutsche, Arthur, Ueber Klumpfüsse und Klumpfussbehandlung in der Königl.
Universitätsklinik zu Halle a/S. Inaug.-Diss. Halle a/S. 1896.
Nach Besprechung der Klumpfussätiologie wird über 25 Fälle berichtet.
Davon waren 15 congenitalen, 6 paralytischen, 3 traumatischen und 1 rhachiti-
schen Ursprungs; 12 doppelseitig, 8 rechts- und 5 linksseitig; 7 standen im
Alter von 6—10 Jahren, 2 im 1. Lebensjahr, 2 im 3. Jahrzehnt. Die Resultate
waren durchweg gute. Mit Ausnahme von den 2 im 1. Lebensjahr stehenden
Fällen wurde bei congenitalem Klumpfuss stets das Redressement force aus¬
geführt mit nachfolgenden Gipsverbänden. 13mal folgte darauf die Tenotomie
und nur in 4 Fällen eingreifendere Operationen, 2mal Phelps, 8mal die Ex-
stirpatio tali combinirt mit Keilexcision. Bei den Fällen von paralytischem und
traumatischem Klumpfuss war neben den unblutigen Methoden, eingerechnet die
Tenotomie, nur lmal eine grössere Operation, die Phelps’sche, erforderlich.
Zum Schluss ist die neuere Literatur über Klumpfussbehandlung ausführlich
zusammengestellt. Müller - Würzburg.
Hinrichs, Theodor, Ueber die Erfolge der Behandlung des Klumpfüsses.
Inaug.-Diss. Kiel 1896.
Verfasser gibt eine Zusammenstellung der in den Jahren 1875—1895 in
der chirurgischen Po liklinik zu Kiel behandelten Fälle von Klumpfüssen. Die
Behandlung bestand in Redressement force, Gipsverband, Anwendung von Little-
schen Schienen. Bei sorgfältiger Nachbehandlung sind die Erfolge beim an¬
geborenen Klumpfuss zufriedenstellend, beim erworbenen im allgemeinen weniger
günstig. Simon-Würzburg.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 6
Digitized by VjOOQle
82
Referate.
Kirsch, Zur Plattfusstherapie. Centralblatt für Chirurgie 1896, Nr. 35.
Kirsch arbeitet Plattfusssohlen aus Celluloidplatten. Er fertigt sich ein
Gipsmodell des betreffenden Fusses, corrigirt dasselbe, schneidet die Celluloid¬
platte in der von Hoffa angegebenen Form zurecht und walkt diese dann auf
das Modell. Dazu schnürt er die Platte mit einem Handtuch, dessen Enden er
zusammendreht, auf das Modell, taucht das Ganze 7*—1 Minute in kochendes
Wasser und dreht nun die Enden des Handtuches noch fester zusammen. Diese
Procedur wird, wenn nothwendig, einmal wiederholt. Die Sohle, welche sehr
schnell in der dem Modell entsprechenden Form erstarrt, wird von demselben
abgenommen. Die für den einzelnen Fall sich ergebenden Correcturen lassen
sich leicht änbringen, wenn man die Sohle jedesmal in kochendes Wasser ein¬
taucht. Die Stärke der Sohle schwankt zwischen 1V* und 4 mm, je nach dem
Gewicht des Patienten. A. Schanz-Sodenthal.
Kirsch, E., Die heutige Lehre vom Plattfuss. Med. Correspondenzbl. d. würt-
temb. ärztl. Landesvereins 1896, Nr. 29 S. 225.
Kirsch benutzt beim Plattfuss mit Erfolg Sohlen aus Celluloid. Die¬
selben sind leicht, elastisch und in kürzerer Zeit herstellbar wie die metallenen,
da sie sich in heissem Wasser sehr leicht verarbeiten lassen. Celluloid wird
von der Fabrik in Platten von 1,5 mm Stärke bezogen. In dieser Dicke reicht
seine Tragfähigkeit für Frauen und Kinder aus; für Männer empfiehlt sich zur
Verstärkung eine Drahtunterlage, welche mittelst Aceton — dem Lösungsmittel
für Celluloid — untergeklebt wird. Von der Sohle des Plattfusses wird ein
Gipsabguss genommen, der je nach der Redressionsfähigkeit des Fusses an der
Stelle der inneren Wölbung mehr oder weniger ausgeschnitten wird; über diesem
Modell wird die zugeschnittene Celluloidplatte geformt. Durch allmähliche, in
gewissen Zeiträumen erfolgende Erhöhung ihrer Wölbung kann eine stetige
Erhebung des Fussgewölbes erreicht werden. G. J o ach im sthal-Berlin.
Lovett, R. W. und John Dane, The affections of the arch of the foot com-
monly classified as fiat-foot. Reprint, from the New York med. Journal
for March 7, 1896.
Verfasser unterscheiden drei wohl charakterisirte Zustände, welche man
allgemein als Plattfuss zusammenfasst, den pronirten Fuss, den Plattfuss und
den Pes contractus. Der pronirte Fuss ist sehr häufig eine Vorstufe des Platt-
fusses, aber nicht nothwendig. Der Fuss der Neugeborenen ist nicht platt. Die
scheinbare Abflachung ist durch Fettpolster bedingt. Der pronirte Fuss wird
häufig übersehen, wegen der Mangelhaftigkeit der Russabdrticke. Dies wird
belegt durch einen Fall, in dem der Abdruck normale Verhältnisse zeigte, wäh¬
rend die Photographie deutlich die Pronation des inneren Malleolus und Ab-
duction des Vorderfusses erkennen liess. Der innere Malleolus rückte dabei
0,8 cm nach unten, der äussere nur etwas nach vorn. Die Verringerung des
Abstandes des inneren Malleolus von der Sohlenfläche beim pronirten Fuss muss
immer in Beziehung gebracht werden zur Länge des Fusses. Die Symptome
des pronirten und des platten Fusses sind beim Auftreten dieselben, die Ur¬
sachen beider ebenso. Von den unmittelbaren Ursachen ist die häufigste
schlechtes Schuh werk. Die grosse Zehe wird dadurch in Valgusstellung gebracht»
Digitized by
Google
Referate.
83
und der Flexor hailucis longus dadurch in der Wirksamkeit beeinträchtigt. Der
Fass verliert seine Unterstützung am inneren Rand, und die Pronation ist ein¬
geleitet, Die v. Meyer sehe Linie geht dann nicht mehr durch den Mittel¬
punkt der Ferse, sondern nach innen. Dann werden noch die anderen bekannten
Ursachen aufgeführt. Die Aetiologie des contracted foot ist dunkel. Verfasser
möchte diese Bezeichnung überhaupt an wenden auf die Fälle von Shaffer’s
deforming club-foot» Für die Diagnose hat man bis jetzt nur die Russ-
abdrücke. Man ist daher für die Erkennung des pronirten Fusses nur aufs
Auge angewiesen. Die Behandlung des pronirten und des platten Fusses be¬
steht vor allem in der Anwendung von Schuhen, bei denen der innere Rand
der Sohle und des Absatzes erhöht ist. Bei Abflachung des Fussgewölbes Schiene
mit Polster zur Unterstützung des inneren Malleolus, und besonders Einlagen
von Aluminiumbronce. Letztere sind aber nur vorübergehend anzuwenden.
Grosses Gewicht wird gelegt auf Massage der Muskeln und redressirende Be¬
wegungen und Uebungen. Bei Pes contractus entweder nur eine Sohleneinlage
oder Shaffer’s Schuh oder Schuh mit massig hohem Absatz.
M ti 11 e r - Würzburg.
Thomö, Richard, Die Behandlung des Plattfusses. Inaug.-Diss. Halle a/S.
1896.
Nach ausführlicher Darlegung der Aetiologie und Symptomatologie des
Plattfusses zahlt Thome die bekannten unblutigen und blutigen Methoden der
Plattfussbehandlung auf und beschreibt zum Schluss die an der chirurgischen
Universitätsklinik zu Halle übliche Plattfussbehandlung und die Resultate der¬
selben. ln den meisten Fällen Redressement force, welches eventuell später
wiederholt wird, darauf Gipsverband; nach 10—14 Tagen Massage und methodi¬
sche Uebungen. Dann werden Stiefel mit Einlagen, nach Gipsabguss, ange¬
fertigt, für die schwersten Fälle mit Schienea verbunden, welche noch lange
Zeit hindurch getragen werden sollen. Ausser zwei Recidiven, welche durch zu
baldiges Weglassen der Stiefeleinlagen veranlasst waren, werden nur Heilungen
verzeichnet. Müller - Würzburg.
Lovett, The Mechanics and treatment of the broken-down foot. Reprint, from
the New York med. Journal for June 20, 1896.
Lovett weist durch anatomische Untersuchungen nach, dass bei der Pro¬
nation stete ein Auswärtskehren des Fusses und Abduction des Vorderfusses
nothwendig Zusammengehen. Das ist die Stellung, die der normale Fuss bei
der Belastung einnimmt. Der Grad der Pronation steigt mit der Ermüdung.
Nach 38tündigem Stehen zeigte sich bei einem normalen Fuss ein doppelter
Grad der Pronation als im Anfang. Excessive Pronation ist Begleiterscheinung
des Plattfusses und des Pes contractus und kann auch bestehen ohne jede Ver¬
änderung im Fussgewölbe. Zur Festeteilung des pronirten Fusses reichen die
Russabdrücke nicht hin. Lovett lässt den Fuss gegen eine senkrechte Glas¬
platte stemmen und zeichnet auf der anderen Seite derselben die Contouren
der anämischen, d. i. der an der Glasplatte anliegenden Zone auf, erst bei
nicht belastetem, dann bei belastetem Fusse. Die Stellen, welche besonders an¬
gedrückt werden, sind die Mitte der Ferse und die Gegend des 3. Metatarsus-
Digitized by CjOOQle
84
Referate.
köpfchens. Wenn nun der Fuss pronirt wird, rückt die ganze auf liegende (be¬
lastete) Flüche nach innen, die Druckstelle der Ferse wandert nur wenig, aber
die des 3. Metatarsus geht bis unter den 1. Metatarsus. Der Fussbogen wird
im allgemeinen nicht breiter, oft sogar enger, aber wandert nach einwärts.
Dann wird der Fuss photographirt, erst in normaler, dann in pronirter Stellung,
aber beides auf einer Platte. Dabei zeigt die Pronation Folgendes: die Zehen
bleiben liegen, das ganze Bein wird in der Hüfte einwärts rotirt, der innere
Malleolus wandert nach innen, abwärts und rückwärts, der äussere Malleolus
nur vorwärts. Der ganze Fuss dreht sich nach innen. Diese Bewegung kann
nun gemessen werden. Wenn man am normalen, nicht belasteten Fuss von der
Mitte zwischen 3. und 4. Zehe einmal nach der Mitte des inneren Malleolus,
dann nach dem hinteren Viertel des äusseren Malleolus je eine Gerade zieht,
bekommt man ein gleichschenkliges Dreieck. Wird nun pronirt, so wird die
erstere Linie grösser als die letztere. So lange die Differenz V* 6 der kürzeren
Distanz (also nach dem äusseren Malleolus) nicht wesentlich übersteigt, ist es
normal. Von V 8 0 ab ist es ein Zeichen von Deformität, mit oder ohne Ab¬
flachung des Fussgewölbes. V 7 war der höchste bisher beobachtete Grad. Be¬
züglich der Behandlung ist nur hervorzuheben, dass Schuhe getragen werden
sollen, durch die der Vorderfuss adducirt wird, der Innenrand soll möglichst
gerade verlaufen, etwas erhöht sein, und die Sohle soll entsprechend den Meta-
tarsophalangealgelenken ebenso breit sein wie der belastete Fuss.
M ü 11 e r-Würzburg.
Eichenwald, Der Plattfuss, dessen Formen, sein Zusammenhang mit dem
Schweissfusse und der Einfluss beider auf die Marschfähigkeit und Dienst¬
tauglichkeit des Soldaten. Wien 1896. Gekrönte Preisschrift.
Verfasser bringt eine ausführliche Zusammenstellung der Lehre vom Platt¬
fuss und führt für den Zusammenhang desselben mit dem Schweissfuss in seiner
Bedeutung für die Diensttauglichkeit des Soldaten casuistische Beiträge und
Statistiken der Platt- und Schweissfüsse in den verschiedenen Armeen an. Nach
der einleitenden Schilderung eines Pes valgus contractus beschreibt er die
Formen des Plattfusses, den angeborenen, dann den von Stromeyer als
„schwache Enkel“ bezeichneten Zustand, den paralytischen und spastischen, den
traumatischen, den rhacliitischen, den entzündlichen Plattfuss (im Verlauf einer
primären Gelenkentzündung im Tarsus), den statischen, die Plattfussrecidive
(Lücke), besonders durch Varicen veranlasst, den platten Fuss, der nach Ver¬
fassers Ansicht nur als Schönheitsfehler anzusehen ist, aus dem sich aber bei
schädlicher Einwirkung Plattfuss entwickeln kann. In den nächsten Abschnitten
stellt er die pathologisch-anatomischen Befunde, die verschiedenen Theorien und
die subjectiven und objectiven Symptome zusammen. Darauf folgt eine Be¬
schreibung der Plattfusscomplicationen, des Unguis incarnatus, Hallux valgus,
Syndesmitis metatarsea, Achillodynie, der Varicen, welche Verfasser auf Stö¬
rung des Blutumlaufes infolge des Einsinkens des Fussgewölbes sowie der
Muskelschw'äche zurückführt, und schliesslich ausführlich des Schweissfusses,
dessen Aetiologie, Pathogenese und Zusammenhang mit Plattfuss. Der Schweiss¬
fuss ist eine Folge des Plattfusses, entweder infolge der durch das Einsinken
des Fussgewölbes bedingten passiven Hyperämie oder infolge von Druck auf die
schweissdrüsenreiche Haut der Fusssohle durch Vermittelung der Nerven. Prä-
Digitized by CjOOQle
Referate.
85
disponirende Ursachen, wie nervöser Habitus, allgemeine Körperschwäche und
Rhachitis, werden dabei vorausgesetzt. Dann folgen die Symptome des Schweiss-
fusses und dessen Einfluss auf die Gesundheit, und schliesslich empfiehlt Eichen¬
wald als Therapie nach anfänglicher gründlicher Reinigung nur trockenes Ab¬
reiben des Fusses und alle 4—5 Tage Einstreuen von Lassar’s Salicylzink-
pulver. Bezüglich der Diagnose wird an den nach aussen offenen stumpfen
Winkel zwischen Ferse und Achillessehne erinnert. Dann folgt Prognose und
Aufzählung der bekannten unblutigen und blutigen Methoden der Plattfuss-
behandlung. Das Schlusskapitel enthält den Einfluss des Plattfusses und Schweiss-
fusses auf die Diensttauglichkeit des Soldaten. Flachfüsse bilden kein Hinter¬
niss für die Diensttauglichkeit, geringe Grade von Pes valgus jedoch dann, wenn
gleichzeitig Schweissfuss oder Varicen oder Hallux valgus vorhanden ist. Bei
mit unausgebildeten Plattfüssen behafteten Rekruten soll man sich über die
frühere Beschäftigung Aufschluss verschaffen. Es folgen die diesbezüglichen Dienst¬
vorschriften der verschiedenen Armeen und Tabellen über die in der deutschen
und österreichischen Armee wegen Plattfuss und bezw. Schweissfuss untauglich
befundenen und zurückgestellten Mannschaften. Im Anhang spricht Eichen¬
wald über die Fussbekleidung des Soldaten und empfiehlt nach Beschreibung
der in den verschiedenen Armeen üblichen Schuhe das Tragen von Schnür¬
schuhen und gefütterten Tuchgamaschen mit 2 cm breitem Ledersteg. Der
wichtigste Theil des Schuhes ist die Sohle. Der innere Rand soll parallel der
normalen Meyer’schen Linien verlaufen, der Absatz soll nicht zu hoch sein und
die ganze Ferse stützen, das Oberleder richtig geschnitten sein (nach v. Meyer’s
Angaben). Den Schluss bilden die in den verschiedenen Armeen bestehenden
Vorschriften für Fusspflege. Müller-Würzburg.
Henneberg, Herrmann, Arthrodesen im Talocruralgelenk bei paralytischen
Contracturen und Lähmungen. Inaug.-Diss. Berlin 1896.
Henneberg berichtet über 4 Fälle von Arthrodese im Fussgelenk aus
der v. Bergmannschen Klinik. In dem 1. Fall wurde bei einem 87*jährigen
Mädchen wegen eines paralytischen Schlottergelenks am linken Fuss die Arthro¬
dese im Talocrural- und im Talocalcanealgelenk vollführt. Nach 9 Wochen
constatirte man eine feste knöcherne Ankylose. Patientin ging in einem Schnür¬
schuh, dessen Seiten durch eingenähte Stahleinlagen versteift waren, gut. Bei
der 2. 15 1 /* Jahre alten Kranken wurde wegen eines rechtsseitigen paralytischen
Pes equinus die Arthrodese nach Wladimiroff-Mikulicz vollführt. Bei der
Entlassung nach 3 Monaten bestand eine feste Ankylose, und ging die Patientin
gut im Schienenstiefel. Die folgende 17 72 jährige Patientin, bei der wegen eines
paralytischen Schlottergelenks im rechten Fuss die Arthrodese im Talocrural¬
gelenk zur Ausführung kam, zeigte 4 Monate nachher noch keine feste Con-
solidation und ist zur Zeit der Publication noch in Behandlung. Ein paralyti¬
sches Schlottergelenk der linken Hüfte, eine Flexionscontractur im linken
Kniegelenk und ein paralytischer Spitzfuss war bei der letzten 20 jährigen
Kranken die Veranlassung, zu gleicher Zeit an demselben Beine die typische
Operation nach Wladimiroff-Mikulicz und die Resectio genu auszuführen.
Bis zur Publication, 5 Monate nach der Operation, ist noch keine Ankylose im
Fussgelenk eingetreten. Joachimsthal-Berlin.
Digitized by
Google
86
Referate.
Kirmisson, Manuel opöratoire et resultats de l’arthrodöse tibio-tarsienne.
Revue d’orthopödie 1896, Nr. 2.
Kirmisson schliesst sich der von Samt er ausgesprochenen Ansicht an,
dass eine Verödung des oberen und des unteren Sprunggelenks zur Sicherung
des Erfolges nöthig ist. Seine Methode aber weicht von derjenigen Samter’s
wesentlich ab: nach supramalleolärer Osteotomie der Fibula umschneidet er den
Malleolus internus und pronirt den Fuss extrem unter Durchtrennung der span¬
nenden Ligamente. Dann werden die freigelegten Knorpelflächen bis auf den
Knochen abgetragen und schliesslich ein Elfenbeinstift durch den Talus in den
Calcaneus hineingetrieben.
15 Operationen bei paralytischem Klump-, Platt- und Spitzfuss, deren Ver¬
lauf beigegebenen Krankenberichten zu entnehmen ist, haben Kirmisson seine
Methode als empfehlenswerth erkennen lassen. Vulpius-Heidelberg.
Schwartz, Arthrodese tibio-tarsienne. Revue d’orthopedie 189.6, Nr. 3.
Bei einem 14jährigen Mädchen wurde hochgradiger Spitzhohlfuss ge¬
funden, der seit dem 2. Lebensjahre sich durch Paralyse entwickelt hatte. Die
Extensoren waren gelähmt, die Peronei ziemlich gut, der Fuss schlotterte. Es
wurde nach der Achillotenotomie mit äusserem Bogenschnitt das Sprunggelenk
freigelegt und die Gelenkflächen mit der Curette angefurcht. Nach zwei Ver¬
bänden war noch minimale Beweglichkeit vorhanden, die Stellung die ge¬
wünschte.
Die Möglichkeit einer Sehnenüberpflanzung wird nicht in Betracht ge¬
zogen. Vulpius-Heidelberg.
Watjoff, E., Ein Fall von intrauterinen Fracturen an den Unterarm- und
Unterschenkelknochen. Deutsche med. Woehenschr. 1896, Nr. 52 S. 842.
Watjoff berichtet über angeborene symmetrische Anomalien an den
Extremitäten eines 6 Tage alten, ziemlich gut entwickelten Mädchens, die neben
Muskelcontracturen am Hals und den Extremitäten bestanden und in Anbetracht
einer Reihe von Aborten der Mutter, des Vorhandenseins einer vergrösserten
Leber, von Icterus und einer Verdickung der Epiphysen möglicherweise auf eine
durch Syphilis hereditaria bedingte Alteration und leichte Zerbrechlichkeit der
Knochen zu beziehen sind.
Die Oberarme sind wulstig verdickt und nach innen verkrümmt; am
Unterarm stösst man unter einem dunkelpigmentirten, mehr einem Nävus als
einer Narbe ähnelnden Fleck, im unteren Drittel auf einen scharfrandigen Theil,
der sich als das distale Ende der gebrochenen Ulna erweist, während das
proximale Ende mit dem verbogenen Radius nach innen ab weicht. In analoger
Weise ist das Femur verbogen und verdickt; an der äusseren Seite des Unter¬
schenkels besteht ein dem am Vorderarm vorhandenen analoger Pigmentfleck
und darunter wiederum eine Fibulafractur mit Abweichung des oberen Endes
nach innen. Joachimsthal-Berlin.
Burmeister, Th., Ein Fall von sogen, intrauteriner Unterschenkelfractur, ver¬
bunden mit verschiedenen Knochendefecten. Arbeiten aus dem Gebiete
Digitized by CjOOQle
Referate.
87
der Geburtshilfe und Gynäkologie. Festschrift Carl Rüge gewidmet.
Berlin 1896.
Burmeister gibt unter Beifügung von Röntgenbildern der deformen
Gliedmassen die Beschreibung eines neugeborenen Mädchens, das an beiden
Unterextremitäten und der linken Hand allerhand Abnormitäten zeigt.
An der linken Hand fehlt ein Finger. Die Unterschenkel sind beide an
der Grenze des unteren und mittleren Drittels ganz symmetrisch nach hinten
and aussen um etwa 60° geknickt. Die Füsse stehen in mässiger Spitzfuss-
stellung und haben beide nur vier Zehen und vier Metatarsi. Am linken
Unterschenkel fehlt die Fibula völlig, am rechten ist sie rudimentär vorhanden.
Die Bilder, besonders das des rechten Beines, erwecken den Eindruck, als wäre
die intaete Tibia um ihre Längsachse gedreht und nach hinten und aussen
verbogen. Joachimsthal-Berlin.
Lagarde, C., De Thydarthrose du genou avec atrophie consäcutive du triceps
crurae et de son traitement. These de Paris 1896.
Angeregt durch die guten Erfolge der ambulanten Fracturbehandlung
schlägt Verfasser vor, diejenigen Fälle von Hydarthros genu, traumatischen oder
entzündlichen Ursprungs, welche eine Tendenz zum Chronischwerden und zur
consecutiven Quadricepsatrophie zeigen, auf ambulantem Wege zu behandeln.
Er verfährt nach üblicher Behandlung des acuten Stadiums folgendermassen:
1 . Punction des Gelenks. 2. Energische locale Ableitung durch Ignipunctur (bis
zu 40 Points!). 3. Anlegung eines fixirenden, abnehmbaren Guttaperchaverbandes,
der nach dem erkrankten Glied geformt ist. Er besteht aus einer inneren und
einer äusseren Hohlschiene, die von der Mitte des Oberschenkels bis zur Mitte
der Wade reichen. Der Patient muss im Verband fleissig umhergehen. 41 Täg¬
liches Elektrisiren des Quadriceps, um einer Atrophie vorzubeugen, resp. eine
bereits entstandene Atrophie zu heilen. Nach 4—6 Wochen kann der Apparat
fortgelassen werden. Es folgt eine Nachbehandlung mit activen und passiven
Bewegungen, Massage und Elektricität. Alsberg-Würzburg.
Abaut, Michel Louis Marie, Contribution ä l’etude de la Resection dans
Tankylose angulaire du genou. These 1896.
Nachdem Verfasser zunächst über Aetiologie und Beschaffenheit alter
Kniegelenksankylosen gesprochen, wie deren Entstehung sich vermeiden lässt,
führt er die verschiedenen Operationsverfahren an, bespricht ihren Werth und
kommt an der Hand von 10 Beobachtungen zu dem Resultat, dass die Re¬
section sowohl der diaphysären Osteotomie, wie der Osteoklasie vorzuziehen sei.
Sie beseitigte immer die Gelenkdifformität und die Flexion des Kniees, sie lieferte
immer gute Resultate in Bezug auf die Mortalität. Sie könne in jedem Alter
angewendet werden; das Wachsthum bliebe in den normalen Grenzen, wenn
man die Verbindungsknorpel stehen lasse; allerdings erfordere sie auch eine
genügend lange dauernde Nachbehandlung, nach des Verfassers Ansicht sogar
5—6 Monate. Blencke-Würzburg.
Phocas und Potel, Sur l'absence congenitale de la rotule. Revue d’orthopedie
1896, Nr. 5.
Als Grundlage ihrer Monographie benutzten Phocas und Potel eine Samm¬
lung von 29 Fällen aus der Literatur, denen sie eine eigene Beobachtung hinzufügen.
Digitized by CjOOQle
‘88
Referate.
Es lassen sich drei Gruppen trennen:
1 . Fehlen der Kniescheibe bei gleichzeitigen vielfachen Skeletdcfecten.
2. Hochgradige Atrophie der Patella bei angeborener Luxation derselben.
3. Einfacher Defect der Kniescheibe.
Bei Besprechung der Aetiologie stellen die Autoren die Hypothese auf,
dass es sich um eine primäre Quadricepsparese handle, infolge deren die nun
functionell unnöthige Patella eine Entwickelungshemmung erleide.
Von begleitenden Symptomen ist interessant der anscheinend regelmässig
vorhandene Klumpfuss, ferner bestehen gewöhnlich verschiedenartige Deformi-
rungen und Contracturen des Kniegelenks mit entsprechenden Bewegungs¬
störungen.
Es ist darum geboten, bei Klumpfüssigen stets auch die Kniegelenke zu
untersuchen.
Die Behandlung sorgt vor allem für Kräftigung des Quadriceps, mit
dessen Entwickelung diejenige der Kniescheibe gleichen Schritt hält.
Die Stellungsanomalien des Kniegelenks erfordern entsprechende Eingriffe,
Redressement, Resection, resp. Arthrodese etc. Vulpius-Heidelberg.
Scheyer, Alfred, Ueber die Spätresultate der Osteotomie bei Genu valgunu
Diss. Berlin 1896.
Nachdem Verfasser am Anfang seiner Arbeit die Aetiologie und Patho¬
logie des Genu valgum behandelt, wobei er seinen Ausführungen hauptsächlich
die diesbezüglichen Arbeiten von Mikulicz und Macewen zu Grunde gelegt
hat, kommt er auf die Therapie zu sprechen und unterscheidet hier drei grosse
Gruppen. Zunächst erwähnt er die orthopädischen Methoden; als zweite führt
er das Redressement force an und endlich als dritte die blutig-operativen Me¬
thoden. Das Ergebniss seiner Beobachtungen hat Verfasser sodann in einer
Tabelle zusammengestellt. Bei 31 in der Königl. chirurgischen Klinik zu Berlin
ausgeführten Osteotomien war das functioneile Resultat in 24 Fällen ein ab¬
solut gutes, in 7 Fällen ein zufriedenstellendes. Die operirte Extremität unter¬
schied sich in 19 Fällen in nichts von der gesunden, in 8 Fällen bestand eine
geringe Verkrümmung und nur 4mal wurde wiederum eine etwas stärkere De¬
formität constatirt. Bl encke-Würzburg.
Ghillini, Ginocchio valgo destro e macrosomia. Bullet, delle scienze med. di
Bologna. Vol. VII, Marzo 1896.
Das gigantisch verdickte und 11 cm verlängerte Bein eines 11jährigen
Knaben gab wegen Genu valgum von 145° Anlass zu einer Operation. Dieselbe
bestand aus einer Keilexcision der Tibia, lineärer Durchmeisselung der Fibula,
schräger Osteotomie des Femur mit möglichster Verschiebung der Fragmente.
Ausser der Geradestellung des Knies wurde eine Verkürzung des Beines um
9 cm erreicht. V ulpius-Heidelberg.
Lange, J., Ueber den angeborenen Defect der Oberschenkeldiaphyse. Zeitschr.
f. Chir. Bd. 43, Heft 3 u. 4, S. 528.
Lange gibt aus Lorenz’s Beobachtung die Mittheilung von 2 Fällen
von angeborenem Defect der Oberschenkeldiaphyse. Zunächst schien bei beiden
Digitized by CjOOQle
Referate.
89
Kindern die Diaphyse vollständig zu fehlen, während, sich bei einer Unter¬
suchung im 3. Jahre der Patienten Knochen von 12 und 13 cm Länge vorfanden.
Es muss also die Anlage zu einer Diaphyse von vornherein vorhanden, und nur
das Wachsthum aus unbekannten Gründen verzögert oder zeitweise vollständig
unterbrochen gewesen sein.
Die Behandlung solcher Fälle muss demnach danach streben, die schlum¬
mernde Wachsthumsenergie zu wecken und anzuregen. Dieser Aufgabe kommt
man am besten durch fleissige Benutzung des verkümmerten Beines nach. Das¬
selbe soll nicht wie ein Amputationsstumpf in einer Entlastungsprothese auf¬
gehängt werden, sondern der Stützapparat darf nur die bestehende Verkürzung
ausgleichen, um dem Patienten das Gehen auf der Extremität zu ermöglichen.
Joachimsthal-Berlin.
Joachimsthal, Ueber angeborene Defecte langer Röhrenknochen. Deutsche
med. Wochenschr. 1895, Nr. 52.
In einem in der freien Vereinigung der Chirurgen Berlins am 10. Juni
1895 gehaltenen Vortrag berichtet Joachimsthal über einen Fall von ange¬
borenem totalem Fibuladefect, über 2 Fälle von totalem und einem von par¬
tiellem Radiusdefect und demonstrirt einen Knaben mit totalem Fehlen des
rechten Oberarms und partiellem Mangel des dazu gehörigen Vorderarms bei
vollständiger Ausbildung der Hand.
Für letzteren Fall sind Analogien bis jetzt in der Literatur nicht vor¬
handen. Wir geben deshalb den Befund kurz wieder.
Der hereditär nicht belastete 10jährige Knabe ist geistig und bis auf die
rechte obere Extremität körperlich gut entwickelt. Rechterseits ist die Scapula
wesentlich verkleinert; ihr unterer Winkel steht 7 cm höher als der linke. Das
akromiale Ende der Clavicula ragt abnorm stark in die Höhe; die Clavicula ist
3 7* cm kürzer als die linke. 8 cm unter dem Akromion beginnt ein nur aus
der gegenüber der anderen Seite wesentlich verschmälerten Hand bestehendes
Gebilde. Centralwärts setzt sich die rechte Hand, deren einzelne Theile nor¬
male Form aufweisen, in einen mit zwei deutlich fühlbaren Knochen versehenen
Theil fort, der die Richtung nach der Cavitas glenoidalis einschlägt, aber nur
auf wenige Centimeter palpabel ist.
Der Knabe ist im Stande, mit den Fingern und auch mit der ganzen
Hand geringe Flexions- und Extensionsbewegungen auszuführen, sowie die Hand
in toto um etwa 2 cm gegen die Schulter zu heben, ja auch den Daumen in
geringem Grade zu opponiren. Passiv kann die Hand ihrer lockeren Verbindung
mit dem Rumpf wegen vollkommen um ihre Wurzel gedreht werden. Die Wirbel¬
säule zeigt eine geringe linksseitige Lumbalskoliose in Verbindung mit einer
Dorsocervicalkyphose und einer Abweichung im Bereich des unteren Hals- und
oberen Brusttheiles nach der rechten Seite. Der oberste Halstheil ist dann
wieder nach links convex gekrümmt. Der Kopf ist nach rechts geneigt, der
Thorax rechts stark abgeplattet.
Verfasser hält auch für diesen Fall die Entstehung der Deformität unter
der Einwirkung amniotischer Stränge für wahrscheinlich.
A. Schanz-Sodenthal.
Digitized by CjOOQle
90
Referate.
Lehmann, Ein seltener Fall von Anpassung. Monatsschr. für Unfallheilkunde
1896, Nr. 6.
Ein 45jähriger Ziegeleiarbeiter hatte im 13. Lebensjahre einen schweren
complicirten Bruch des linken Schienbeins dicht unterhalb des Kniegelenks er¬
litten. Eine knöcherne Consolidation der Fractur trat nicht ein, die Dislocation
— die für diese Brüche charakteristische Bajonettstellung — blieb bestehen.
Trotzdem lernte Patient das Bein ohne jede Stütze gebrauchen und sogar alle
schweren Arbeiten eines Ziegeleiarbeiters zu verrichten.
Beim Gehact benutzt er den unteren Theil des deformen Unterschenkels
gewissermassen wie ein Stelzbein, welches an einem im Kniegelenk rechtwinkelig
gebeugten Unterschenkelstumpf angeschnallt ist. Nur liegen die statischen Ver¬
hältnisse hier insofern noch ungünstiger, als der obere, horizontal stehende
Theil des Unterschenkels nicht wie beim Stelzbein im vorderen Ende, also
direct unterhalb des Oberschenkels, unterstützt wird, sondern am hinteren
Ende. Daher rutscht beim Auftreten der Unterschenkel in dem falschen Gelenk
hinter dem oberen Bruchstück etwas nach aufwärts. Dies Aufwärtsgleiten wird
durch das unversehrte Wadenbein und dessen feste Verbindungen mit dem
Schienbein gehemmt. Die Patella liegt ziemlich fest gelöthet unter dem unteren
Gelenkrande des Oberschenkels. Die Beweglichkeit des Kniegelenks ist im Sinne
der Streckung ausserordentlich beschränkt, im Sinne der Beugung ziemlich aus¬
giebig vorhanden. Die Verkürzung des Beines (5 cm) wird durch Beckensenkung
ausgeglichen, so dass beim Gehen nur ein massiges Einsinken der linken Körper¬
hälfte erfolgt. A. Schanz-Sodenthal.
Müller, Georg, Ein interessanter Fall von Anpassung. Monatsschr, für Un¬
fallheilkunde 1896, Nr. 3.
Die Müller’sche Patientin war in der Kindheit wegen einer rechtsseitigen
Kniegelenksentzündung operirt worden, und hatte danach eine spitzwinkelige
Ankylose des Knies zurückbehalten. Im 32. Lebensjahre kam dazu noch eine
Contractur des rechten Hüftgelenkes, welches sich in starke Flexion, in Ad-
duction und Innenrotation stellte. Trotzdem arbeitete die zur Zeit der Beob¬
achtung 54jährige Patientin als Spulerin in einer Posamentenfabrik und ver¬
diente dabei fast den vollen Durchschnittslohn einer Fabrikarbeiterin. Beim
Gehen benutzt sie entweder eine Krücke, oder sie bringt das linke Bein in eine
dem rechten analoge Beugung und geht so in zusammengehockter Stellung.
A. Schanz-Sodenthal.
Jaeschke, Georg, Zur Behandlung der Kniescheibenbrüche mittelst Naht.
Inaug.-Diss. Breslau 1896.
Nach einem ausführlichen geschichtlichen Ueberblick über die Behand¬
lung der Kniescheibenbrüche theilt Verfasser 9 in der Breslauer chirurgischen
Klinik von Mikulicz mittelst Knochennaht behandelte Fälle mit. Es handelt
sich um 4 frische und 5 veraltete Fracturen. 7 heilten primär und gaben ein
günstiges Resultat, 2 vereiterten. Bei sehr grosser Diastase der Fragmente, bei
starkem Bluterguss und vermuthlicher Zerreissung des seitlichen Bandapparates
räth Verfasser unbedingt zur Knochennaht. Bei geringerer Diastase will er
die Knochennaht nur angewendet wissen, wenn es sich um einen Patienten der
Digitized by CjOOQle
Referate.
91
schwer arbeitenden Classe handelt, der vor allem ein tragfähiges Bein braucht,
bei Patienten der besseren Stände erst später, wenn dieselben im Gehen merkbar
behindert sind und den speciellen Wunsch äussem. Simon-Würzburg.
Aron, M., Du traitement des fractures de la rotule par le proc6d4 de cerclage.
These de Paris 1896.
Bei sehr kleinem unterem Fragment der Patella, bei sehr brüchigem
Knochen und beim Vorhandensein von mehreren Fragmenten empfiehlt Ver¬
fasser die Vereinigung der Fragmente durch einen um die Peripherie der Pa¬
tella ausserhalb des Gelenks verlaufenden Silberdraht zu bewerkstelligen. Ueber
7 nach dieser Methode von Berger mit gutem Erfolg operirte Fälle wird be¬
richtet. Simon - Würzburg.
Subercaze, A., Contribution ä Fetude du traitement des fractures anciennes
de la rotule. These de Paris 1896.
Verfasser bespricht die pathologische Anatomie der veralteten Patellar-
fracturen, die Functionsstörungen, welche sich an die verschiedenen Arten der
Heilung anschliessen, und die Technik der vorkommenden operativen Eingriffe.
Die günstigste Zeit für die Operation ist vom 8. Monat nach der erlittenen
Verletzung an. Ist die Flexion behindert, so erfolgt bei fibröser Vereinigung
die Exstirpation des oberen Fragmentes, bei knöcherner Vereinigung die Ex¬
stirpation der ganzen Patella. Bei behinderter Extension ist die Knochennaht
auszuführen. Ist die Annäherung der Fragmente hierbei unmöglich, so kann
man entweder die Tuberositas tibiae abmeisseln und proximal verschieben, oder
das Lig. patellae durchschneiden. Sorgfältigste Nachbehandlung mit frühzeitigen
Bewegungen, Massage und Elektricität sichern eine gute Gelenkfunction.
A1 s b e r g-Würzburg.
Braun, Heinrich, Ueber Verkrümmungen des Oberschenkels bei Flexions-
contracturen im Kniegelenk. Verhandl. der deutschen Gesellsch. f. Chir.
1896, S. 899.
In den beiden von Braun im Anschluss an die analogen von König
mitgetheilten Beobachtungen bekannt gegebenen Fällen handelt es sich um
Verkrümmungen des Oberschenkels, die bei Kindern im 12.—14. Lebensjahre
sich entwickelten. Beide Kinder litten seit vielen Jahren an einer tuberculösen
Gonitis, nachher an schweren Contracturen im Kniegelenk und hatten das er¬
krankte Bein seit 6 bezw. 10 Jahren nur in sehr unvollkommener Weise be¬
lastet. Dann erst hatte sich die Verbiegung im unteren Drittel in einer sagit-
talen Ebene mit der Convexität nach vorn, in dem einen Fall in einer Zeit von
10—20 Monaten, ausgebildet, in dem anderen Fall konnte mit Sicherheit nach¬
gewiesen werden, dass ein osteomalacischer Process, eine abnorme Weichheit die
Ursache dieser Verbiegung war. In beiden Fällen war zur Zeit als die Ver¬
biegungen entstanden, die Gelenkerkrankung längst ausgeheilt. Von Wichtig¬
keit ist, dass der Scheitel der Krümmung in der nächsten Nähe der das Längen¬
wachsthum hauptsächlich vermittelnden unteren Epiphysenlinie gelegen ist, so
dass man wohl nicht fehl geht, in einer Störung der Thätigkeit derselben, in
einer Production nicht genügend verkalkenden Knochens den Grund der Knochen-
Digitized by CjOOQle
92
Referate.
Weichheit zu suchen, nicht etwa in Resorptionsprocessen am bereits verkalkten
Knochen.
Diese Deformitäten sind wohl unmittelbar an die Seite zu stellen jenen
ätiologisch zweifellos ganz gleichartigen, mit dem Scheitel nach hinten gerich¬
teten Abknickungen der Tibia in der Nachbarschaft ihrer oberen Epiphyse, welche
von Humphry, Sonnenburg, Kirmisson und Jalaguier gleichfalls bei
Kindern mit Ankylosen und Contracturen im Kniegelenk nach abgeheilter Go-
nitis beobachtet und beschrieben worden sind. G. Joachimsthal-Berlin.
Monezy, Alexandre, Du traitement de la luxation de la hauche en avant.
These de Paris 1896.
Verfasser bespricht den Mechanismus, die Pathologie und Therapie der
Luxation des Femur nach vorn. Als Therapie empfiehlt er Flexion, Adduction
und Rotation, durch die man selbst noch bei alten Luxationen zum Ziele kommt.
Ueber 4 veraltete Fälle wird berichtet. Simon-Würzburg.
Whitman, The treatment of congenital dislocation of the hip. Medical Re¬
cord 1896, Sept. 12.
Whitman hat bei einem 4jährigen Mädchen die blutige Reposition
nach Hoffa-Lorenz bei einseitiger Hüftverrenkung ausgeführt mit vollem Er¬
folg, obwohl eine Nachbehandlung nicht exact durchgeführt werden konnte.
Die unblutige Methode nach Paci hält er in den weitaus meisten Fällen
für unzulänglich. V u 1 p i u s - Heidelberg.
Bradford, Lorenz’s Operation in congenital dislocation of the hip. Boston
med. and surg. Journal 1896, Nr. 9.
Die früher an gewendete Extensionsbehandlung bei angeborener Hüft¬
verrenkung konnte höchstens Besserung erzielen, nie Heilung, wie Bradford
an mehreren Patienten selbst erfahren.
Von operativen Methoden verspricht die von Paci angegebene nur
selten Erfolg. ,
Die Hoffa’sche Operation hält Bradford für zu eingreifend, namentlich
wird die Muskelschädigung angeführt. 11 Fälle, die Bradford nach Hoffa
operirte, gaben schlechtes Resultat. Die von Lorenz angegebene blutige Me¬
thode wird von Bradford bevorzugt als weniger verstümmelnd und sicherer
bezüglich des Erfolges, 3 Fälle verliefen nach Wunsch.
Die neue unblutige Methode von Lorenz wird zum Schluss kurz erwähnt.
V u 1 p i u 8 - Heidelberg.
Müller, Ernst, Angeborene Missbildung der unteren Extremität. S.-A. aus
der Festschrift des Stuttgarter ärztl. Vereins 1897.
Verfasser hatte Gelegenheit, diese angeborene Missbildung der unteren
Extremität bei einem 372 jährigen Knaben anatomisch zu untersuchen. Zwischen
Becken und Unterschenkel lagen nur zwei kleine Knorpel und ein von Knorpel
überzogener, kaum hühnereigrosser Knochen. Letzterer war schon bei Lebzeiten
als rudimentärer Oberschenkelknochen zu fühlen. Die beiden kleineren Knorpel
entsprachen den beiden Trochanteren. Das Hüftgelenk fehlte. An Stelle der
Pfanne fand sich eine Knorpelverdickung. Die Mm. peronei zeigten hochgradige
Digitized by CjOOQle
i
Referate.
93
Verfettung, der M. glutaeus maxrmus bedeutende Fetteinlagerungen. Der Ti-
bialis ant., Extensor comm. long. und Flexor comm. long. schickten keine Sehnen
zu den Zehen, obwohl drei von letzteren gut ausgebildet waren. Der N. cruralis
fehlt, der N. saphenus major mündet in den Ischiadicus ein. Der Fall spricht
nicht gegen exogene Entstehung der Missbildung. Der Knabe war seinem Alter
entsprechend entwickelt und zeigte nur noch Ptosis des rechten Augenlides,
leichte Atrophie der rechten Gesichtshälfte und Nabelbruch. In der Ascendenz
hatten Tuberculose, Potatorium und psychische Belastung Vorgelegen. Die Geburt
war ohne Besonderheit verlaufen; der Tod war durch tuberculose Meningitis
herbeigeführt nach einem tuberculösen Process in der rechten und linken Fuss-
wurzeL Müller-Würzburg.
Nobele, Traitement de la luxation congenitale de la hanche. La Belgique
mödical 1896, Nr. 41.
Nobele berichtet über die gelungene unblutige Reposition einer doppel¬
seitigen congenitalen Hüftluxation bei einem 5jährigen Mädchen mit Hochstand
der Troehanteren von 4 cm. Die forcirte Extension wurde perhorrescirt, statt
dessen die Paci’sche extreme Beugung als erstes Tempo angewendet. In starker
Abduction wurde ein Gipsverband angelegt, nach 2 Monaten war Geradestellung
des Beins möglich, die Reposition schien gesichert
Interessant war der Nachweis gelungener Einrenkung mittelst Durch¬
leuchtung, wobei sich auch die Existenz des Y-knorpels erkennen liess, eine
Thatsache, die für die bekannte G i a r i t z’sche Theorie bezüglich der Aetiologie
des Leidens spricht. Vulpius-Heidelberg.
Paci, Sur le traitement non sanglant de la luxation congenitale du femur.
Revue d’orthop^die 1896, Nr. 6.
Dankenswerth ist es wahrhaftig, dass Kirmisson nur die zweite Hälfte
des Manuscriptes zum Abdruck bringt, in welchem Paci — wer weiss zum
wie vielten Mal — seine Stimme erhebt in Sachen des Prioritätsstreites. Neue
Thatsachen bringt er nicht, und mit theoretischem Bekritteln lassen sich die
offenkundigen Repositionen nach Lorenz nicht aus der Welt schaffen.
„Lassen Sie Paci die Priorität und rejjoniren Sie nach meiner Methode“,
mit diesen Worten von Lorenz könnte und sollte der unangenehme und zweck¬
lose Hader erledigt sein. Vulpius-Heidelberg.
Brodhurst: Luxation congenitale de la hanche. Revue d'orthopedie 1896,Nr.4.
Brodhurst will mehrere Arten der Hüftluxation bei Neugeborenen
unterscheiden:
1. Ursache ist ein spastischer Zustand der Hüftmusculatur in utero,
hervorgebracht durch eine äussere Gewalteinwirkung oder durch psychischen
Einfluss.
2. Traumatische Luxation, während der Geburt entstanden.
3. Entzündliche Luxation im frühesten Kindesalter.
4. Missbildung bei Anencephalus, Hydrocephalus etc.
V u 1 p i u s - Heidelberg.
Digitized by CjOOQle
94
Referate.
Redard et Hennequin, De l’ost^otomie oblique dans les ankyloses vicieuses
de la banche. Revue d’orthopedie 1896, Nr. 2.
Die Verfasser empfehlen eine schiefe Osteotomie des Femurschaftes, die
von der Spitze des grossen Trochanter nach innen und unten verlauft und
unter dem kleinen Rollhügel endet.
Ein in dieser Weise operirter Fall wird ausführlich mitgetheilt, bei
welchem durch Dislocation ad longitudinem eine reelle Verlängerung von 2 cm
erzielt wurde.
Der Einwand, dass die spitzen Fragmente eine Interposition von Muskeln
begünstigen, oder dass eine ungenügende Berührung der Bruchenden durch die
Stellungscorrectur veranlasst wird, ist nach Ansicht und Erfahrung der Ver¬
fasser hinfällig. V u 1 p i u s - Heidelberg.
Chaudefroy, Paul, Essai sur la coxalgie fistuleuse de Penfant. Inaug.-
DisB. Paris 1896.
Als eine Hauptaufgabe der Behandlung der Coxitis mit Abscess sieht
Verfasser die Venneidung der Fistelbildung an, da durch letztere die Prognose
wesentlich verschlechtert wird. Bei Coxitis mit Fistelbildung findet sich sehr
häufig neben den gewöhnlichen Veränderungen der eitrigen Coxitis noch secun-
däre rareficirende Ostitis des Os ilium, die durch Infection mit Staphylococcus
pyogenes aureus bedingt ist.
Bei bestehender Fistel ist zunächst während 6—8 Monaten absolute
Ruhigstellung des Gelenks nothwendig, eventuell ist Auskratzung der Fistel und
Injection von Kamphernaphthol zu versuchen. Nach dieser Zeit ist zur Re-
section zu schreiten, die dann günstige Resultate erwarten lässt. Bei jüngeren
Kindern, bei denen ausgesprochenere Neigung zur Spontanheilung besteht, kann
man länger zuwarten.
Bestehen nach der Resection die Fisteln weiter, ist der Oberschenkel von
Osteomyelitis ergriffen, ist der Allgemeinzustand schlecht und besteht Albu¬
minurie, so ist die Exarticulation die einzige Operation, die das Leben des
Patienten retten kann. Die Eiterung wird geringer, der Allgemeinzustand kann
sich heben und die Albuminurie verschwinden. Simon-Würzburg.
D e 1 b e t, Hallux valgus bilateral. Revue d'orthopedie 1896, Nr. 3.
Bei einer Frau mit hochgradiger Deformität wurde zunächst ein kleiner
Theil des Metatarsusköpfchens resecirt, im wesentlichen nur Knorpel enthaltend.
Da die Sehne des Extensor hallucis longus der Geraderichtung der Zehe ein
Hinderniss darbot, wurde sie verlagert und ihr eine künstliche Scheide an der
Innenseite des 1. Metatarsophalangealgelenks gebildet aus einem abgehebelten
Periostlappen. Der Erfolg war nach glatter Heilung sehr gut; am einen Fusr
trat fast normale Beweglichkeit ein, am anderen war dieselbe allerdings recht
beschränkt, was aber keine Störung machte. Vulpius-Heidelberg.
Jeannin, Georges, Pathogenie et traitement du doigt ä ressort. Inaug.-
Diss. Paris 1895.
Als Ursache des schnellenden Fingers sieht Verfasser, gemäss den bei
Operationen gemachten Erfahrungen, die Verengerung irgend eines Punktes der
Digitized by VjOOQle
Referate.
95
Sehnenscheide der Beugesehnen an. Allerdings kann eine Anschwellung der
Synovialis oder der Sehne der Beuger dasselbe Phänomen hervorrufen; doch
ist die Affection meistens eine Folge von Erkrankung der Sehnenscheiden der
Finger.
Die Behandlung soll zunächst symptomatisch sein, da die Affection oft
von selbst heilt. In zweiter Linie kommt die operative Behandlung in Betracht,
die sich entweder auf Erweiterung der Sehnenscheide oder Entfernung des
Hindernisses beschränkt. Simon-Würzburg.
Heilborn, Karl, Ueber den schnellenden Finger. Inaug.-Diss. Erlangen 1895.
H e i 1 b o r n war in der Lage, an seiner eigenen Person die Erkrankung,
die die Bezeichnung des schnellenden Fingers trägt, zu beobachten. Das Phä¬
nomen stellte sich während der militärischen Dienstzeit an dem linken Mittel¬
und bald darauf an dem linken kleinen Finger ein. Schon zuvor hatten sich
in der ganzen linken Hand leichte ziehende Schmerzen und ein gewisses Er¬
müdungsgefühl bemerkbar gemacht, Erscheinungen, die Heilborn auf die
Gewehrübungen und auf den Druck der Reckstange bei den sogen. Klimm¬
zügen zurückführte. Vor dem Metacarpophalangealgelenke des Mittelfingers
war ein erbsengrosser harter Knoten zu fühlen, welcher die Bewegung der
Beugesehne mitmachte. Auch am kleinen Finger war an derselben Stelle dieser
Knoten, nur von etwas kleinerer Dimension wahrnehmbar. Bei beiden Fingern
erfolgte das Schnellen bei der Beugung mit dumpferem, bei der Streckung mit
scharfem, knackendem Geräusche. Während die Erscheinungen am kleinen
Finger im Laufe eines Jahres rückgängig wurden, waren die Beschwerden am
Mittelfinger so hochgradig, dass sich Heilborn zu einer Operation entschloss,
die von v. Heineke vorgenommen wurde und zur vollen, 2 Jahre später, zur
Zeit der Publication noch anhaltenden Heilung führte.
Sowohl bei passiven Bewegungen als auch bei galvanischer Reizung der
Beuge- und Streckmuskeln trat in der Narkose Schnellen ein und zwar jedes¬
mal, sobald das zweite Fingerglied von der rechtwinkeligen in die spitzwinkelige
Stellung überging und umgekehrt. Ein Muskelspasmus konnte dem Entstehen
des Phänomens also nicht zu Grunde liegen. An der Fascia palmaris wurde
keine Veränderung wahrgenommen. Nach der lncision bis auf die Sehnen¬
scheide war das Phänomen noch das Gleiche; die letztere zeigte normales Ver¬
halten. Nachdem auch sie durchschnitten war, hörte das Schnellen auf. An
der genau inspicirten Sehne liess sich weder ein Knoten noch irgend eine
sonstige pathologische Veränderung bemerken; offenbar hatte eine Verengerung
der fibrösen Scheide das Phänomen hervorgerufen. Später entwickelte sich bei
dem Autor an dem linken Ringfinger ebenfalls die Erscheinung des Schnellens
und zwar hier ziemlich plötzlich, wie Heilborn vermuthete, durch directen
Druck auf den vordersten Abschnitt der Hohlhand.
Joachimsthal - Berlin.
Thiel, Osteoplastischer Ersatz einer Phalanx nach Exarticulation derselben
wegen Spina ventosa. Centralblatt für Chirurgie 1896, Nr. 35.
Thiel beschreibt eine von Bardenheuer ausgeführte Operation, durch
welche es demselben gelang, nicht nur die Amputation des erkrankten Gliedes
Digitized by CjOOQle
Referate;
96
zu umgehen, sondern auch der Patientin einen brauchbaren Finger zu schaffen.
Es handelte sich um eine Spina ventosa der Mittelphalanx des rechten Zeige¬
fingers bei einem 12jährigen Mädchen. Die Erkrankung war soweit vorge¬
schritten, dass die Absetzung des Fingers in der Mitte der Grundphalanx in-
dicirt erschien. Diese vermied Bardenheuer durch die nachstehend beschrie¬
bene Operation:
Unter Esmarch’scher Blutleere Längsschnitt auf der radialen Seite des
Zeigefingers von der Mitte der Endphalanx bis 1 cm oberhalb des Metacarpo-
phalangealgelenks. Circumcision und Excision der von tuberculösen Fisteln
durchsetzten Hautpartien. Totalresection der ganzen zweiten Phalanx nach
sorgfältigem Ablösen der Weichtheile, besonders der Sehnen und Sehnenscheiden
an der volaren und dorsalen Seite. Den Ersatz für die entfernte Phalanx liefert
die Grundphalanx. Zu diesem Zweck wird unter möglichster Schonung der
Sehnen das Köpfchen der Grundphalanx circular freigelegt. Ebenso wird der
übrige periphere Theil derselben in der Ausdehnung des Hautschnittes auf der
dorsalen, radialen und volaren Seite frei präparirt. Hierauf wird das Köpfchen
von seiner radialen Seite zur ulnaren quer durchbohrt und durch das Bohrloch
ein Silberdraht gezogen, welcher später die Drehungsachse für das Ersatzstück
abgeben soll. Weiterhin wird das Periost volar und dorsal in der Mitte der
Phalanx, soweit diese frei präparirt ist, durchtrennt; die proximalen Enden
dieser Schnitte werden durch einen ebenfalls das Periost durchtrennenden radial
um die Phalanx verlaufenden Schnitt verbunden. Nun wird das durch diese
Schnitte markirte Knochenstück vorsichtig abgetrennt, jedoch so, dass am
Köpfchen noch eine kleine Brücke aus Periost und Kapselresten stehen bleibt.
Um diese Brücke und um den oben erwähnten Silberdraht wird das mobilisirte
Knochenstück um 180° gedreht, wodurch es an den Platz der entfernten Phalanx
kommt. Die Verbindung mit der dritten Phalanx wird durch eine Katgut-
knochennaht hergestellt. Wundversorgung.
Das erreichte Resultat war ausgezeichnet. Das translocirte Knochenstück
erhielt sich. An der Stelle des ersten Interphalangealgelenks kam es zu
knöcherner Ankylose. Das zweite Interphalangealgelenk wurde beweglich. Die
Configuration des operirten Fingers war fast normal.
A. Schanz- Sodenthal.
Leboucq, De la brachydactylie et de l’hyperphalangie chez Fhomme. Bull, de
FAcad&nie royale de medecine de Belgique. Seance du 30 mai, S. 544.
Leboucq gibt die anatomischen Details von 3 Fallen von Finger¬
anomalien , von denen namentlich der erste wegen seiner Seltenheit Interesse
beansprucht.
Es handelt sich um eine, von einem 46jälirigen Patienten stammende,
der der anderen Seite symmetrisch gebildete Hand, an der eine beträchtliche
Verkürzung des Zeige- und Mittelfingers den Eindruck hervorrief, als wären
beide Finger nur mit zwei Phalangen ausgestattet, ln der That ergaben sich
indess die Finger als aus vier Phalangen zusammengesetzt. Am Zeige¬
finger waren die erste und dritte Phalanx kurz und breit, die zweite und vierte
von der normalen Grösse; am Zeigefinger nahm die Länge der Glieder bis zum
dritten progressiv ab, es schloss sich daran eine Nagelphalanx mit den gewöhn-
Digitized by CjOOQle
Referate.
97
liehen Dimensionen. Die Knochen zeigten eine deutliche Gliederung in Epi-
und Diaphysen. Zwischen Metacarpus und erster Phalanx bestand die übliche
Gelenkverbindung. Die beiden distalwärts folgenden Articulationsflächen waren
fast eben, mit einer kleinen Vorwölbung an dem proximalen Th eil der zweiten
Phalanx und einer entsprechenden Vertiefung an der dorsalen Partie des gegen¬
überliegenden Abschnitts. Der distale Abschnitt der zweiten Phalanx war in
transversaler Richtung concav, beide Gelenkflächen der dritten Phalanx waren
convex, die obere der Nagelphalanx endlich wieder concav gestaltet. Der ober¬
flächliche Fingerbeuger inserirte an der dritten, der tiefe an der vierten, die
Interossei an der ersten Phalanx. Der lange Fingerstrecker setzte sich mit
seinem mittleren Theil an die dritte, mit seinen seitlichen Zügen an die vierte
Phalanx. Hiernach entsprechen das erste und zweite vorhandene Glied zu¬
sammengenommen dem normalen ersten Fingerglied, das dritte dem normalen
zweiten, das vierte dem normalen Nagelgliede.
In 2 weiteren Fällen handelte es sich um Längenreductionen von Finger¬
phalangen. G. Jo ach imsthal-Berlin.
Bilhaut, M., Absence congenitale du premier metacarpien gauche, presence
de deux phalanges du pouce. — Intervention chirurgicale. — Suture de
la premi^re phalange du pouce avec le second metacarpien. Annales de
Chirurgie et d’orthop4die 1896, septembre, S. 257.
In dem von Bilhaut operirten Falle fehlte bei einem 2jährigen Kinde
der ganze linke Metacarpus pollicis, ohne dass wunderbarerweise die beiden
durch einen Stiel an der normalen Stelle lose mit der Hand zusammenhängen¬
den Daumenglieder bis dahin in der Entwickelung zurückgeblieben wären.
Bilhaut führte über die dorsale Fläche des ersten Daumengliedes einen Längs¬
schnitt, den er durch die Mitte des erwähnten Stieles bis zum zweiten Meta¬
carpus verlängerte; über letzteren wurde rechtwinkelig zum ersten Schnitt ein
zweiter geführt. Nach Trennung und Abhebung des Periosts war es möglich,
die angefrischte und zurechtgeschnittene erste Daumenphalanx durch Vernähung
des beiderseitigen Periosts so mit dem Metacarpus zu vereinigen, dass der Daumen
in opponirter Stellung fixirt stand. Bilhaut erhofft nach Abschluss der Heilung
ein normales Weiterwachsen des Daumens. G. Jo ach imsthal-Berlin.
Riedinger, J., Ein Fall von Spalthand. Intern, photogr. Monatsschrift für
Medicin und Naturw. 1896, S. 327.
Riedinger berichtet unter Beifügung eines Röntgenbildes über einen
65jährigen Patienten mit einer über die Metacarpophalangealgelenke hinaus¬
reichenden Spaltbildung der rechten Hand an der Stelle des Mittelfingers. Der
rudimentäre Mittelfinger selbst ist kurze Zeit nach der Geburt entfernt worden.
Der Daumen kann vom Zeigefinger weder activ noch passiv abgezogen werden.
Es bestand zwischen beiden Fingern eine früher operativ beseitigte Syndaktylie.
Der Zeigefinger ist um seine Längsachse gedreht, so dass die Beugeseite des¬
selben radialwärts gerichtet ist. Der Ringfinger ist der kräftigste Finger der
rechten Hand; er ist ebenfalls etwas um seine Längsachse radialwärts rotirt.
Die Hand ist zur Ausübung grober Arbeit befähigt.
Joachimsthal - Berlin.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 7
Digitized by Vjooole
98
Referate.
Goguel, G. F. E., De l’intervention chirurgicale dans les ankyloses du coude
consecutives ä des traumatismes. Th£se de Paris 1896.
Verfasser bespricht unter Zugrundelegung von 20 aus der Literatur ge¬
sammelten Fällen die Indication und Technik der blutigen Eingriffe bei trau¬
matischer Ankylose des Ellbogengelenks und kommt zu dem Resultat, dass nach
erfolgloser Anwendung der unblutigen Methoden nur die Arthrotomie oder die
Resection in Frage kommen. Gegenindicationen sind früheste Kindheit, hohe»
Alter, grosse allgemeine Schwäche, häufige Recidive von Gelenkrheumatismus
und starke Muskelatrophie bei sehr lange bestehenden Ankylosen. Directe In-
dicationen sind Ankylosen in schlechter Stellung und doppelseitige Ankylosen.
Günstigstes Alter zur Operation zwischen 15 und 25 Jahren. Die Resection ist-
indicirt bei allen denjenigen Fällen, bei denen die ursprünglichen Gelenkflächen
nicht mehr nutzbar gemacht werden können. Sonst beginnt man mit einer
einfachen Arthrotomie, aber mit einer Schnittführung, die man auch nötigen¬
falls zur Resection benutzen kann. Die Nachbehandlung muss zur Erzielung*
einer grösstmöglichen Beweglichkeit, sehr sorgfältig gehandhabt werden. Eine
besonders ausführliche Besprechung widmet Goguel einem bereits von D e-
fontaine in der Revue de Chirurgie (September 1887) veröffentlichten Falle,
bei welchem Defontaine die „osteotomie trochleiforme“ machte. Er gab
dem unteren Humerusende annähernd seine normale Form wieder und erzielte
ein völlig brauchbares Gelenk. Alsberg-Würzburg.
Drewitz, Ueber einen Fall von Oberarmbruch mit Einklemmung des Nervu»
radialis in die Knochenneubildungs- und Narbenmasse. Geheilt durch
Operation. Monatsschr. für Unfallheilkunde 1896, Nr. 1.
Der Inhalt der Drewitz’schen Veröffentlichung ist durch den Titel fast
vollständig wiedergegeben.
Es handelte sich um eine Fractur des Humerus an der Grenze zwischen
unterem und mittlerem Drittel. Durch zwei sich gegenüberliegende, aus dem
Callus hervorragende Exostosen wurde ein Druck auf den N. radialis ausgeübt,
wodurch im Gebiet dieses Nerven eine Parese und neuralgische Schmerzen
hervorgerufen wurden. Durch die operative Beseitigung dieser Exostosen wurde
3 V* Jahre nach dem Unfall rasche Heilung erzielt. A. Schanz-Sodenthal.
Winkler, Ringförmiger Defect der Oberarmmusculatur nach einem Trauma.
Monatsschr. für Unfallheilkunde 1896, Nr. 4.
Der 25jährige Patient war mit dem linken Oberarm zwischen zwei Kamni-
räder gerathen. Dabei waren die Weichtheile des Oberarms in grosser Aus¬
dehnung bis auf den Knochen zerrissen und vom Knochen selbst einige ober¬
flächliche Stücke abgesprengt worden. Die zermalmten Weichtheile wurden
abgetragen und stiessen sich ab bis auf einen Strang an der Innenseite des
Armes, wo das die Gefässe und Nerven enthaltende Bündel erhalten wurde.
Nach der Ueberhäutung der Wunde, welche theilweise durch Thiersch’sche Trans¬
plantationen herbeigeführt wurde, verblieb am Oberarm eine ringförmige 5 bis
6 cm breite Einschnürung, deren oberer Rand 11 cm vom Akromion entfernt
war. Im Bereich dieser Einschnürung fehlte die Musculatur vollständig. Die
Sensibilität des Vorderarms und der Hand war völlig ungestört, ebenso die
Digitized by CjOOQle
Referate.
99
Beweglichkeit der Vorderarm- und Handmuskeln. Die Gebrauchsfähigkeit des
ganzen Armes war eine relativ sehr gute. Die Beweglichkeit der Schulter war
ungefähr auf die Hälfte vermindert und zwar durch Narben, welche von der
Einschnürung nach der Schulter und der Brust hinzogen. Durch einen nach
dem Vorderarm verlaufenden Narbenstrang war die Streckfähigkeit des Ellen¬
bogens vermindert, gebeugt konnte derselbe bis zum rechten Winkel werden.
Die Vorderarmmusculatur war etwas atrophisch.
Winkler konnte in der Literatur nur einen ähnlichen Fall finden.
* A. Schanz -Sodenthal.
✓de Quervain, F., Le traitement chirurgical du torticolis spasmodique d’apres
la methode de Kocher. Semaine mäd. 1896, Nr. 51.
In den 12 von de Quervain zusammengestellten, durch Kocher ope¬
rativ behandelten Fällen bestand niemals ein auf den Stemocleidomastoideus
allein beschränkter Krampfzustand, vielmehr waren stets gleichzeitig die Nacken¬
muskeln betheiligt. So war 8mal der Kopfnicker mit den Nackenmuskeln auf
der entgegengesetzten Seite zusammen ergriffen, 3mal combinirte sich ein
Krampf der beiderseitigen Cervicalmuskeln mit einem solchen des einen Sterno-
cleidomastoideus, was zu Rotation und starker Rückneigung des Kopfes Ver¬
anlassung gab. Endlich war in einem Falle eine starke Contraction des linken
Kopfnickers und der linken Nackenmusculatur combinirt mit einem mässigen
Krampfzustand des rechten Kopfnickers, wodurch eine leichte Neigung des
Kopfes nach links eine Ueberstreckung desselben, verbunden mit Rotations- und
Streckbewegungen, herbeigeführt wird. Krämpfe der Hals- und Nackenmus¬
culatur auf derselben Seite kamen unter Kocher’s Fällen nicht vor. 2mal hatten
angeblich geistige Ueberanstrengung, lmal die Menopause, lmal ein Furunkel
am Nacken und 2mal Erkältungen die Veranlassung zur Entstehung des Krampf¬
zustandes gegeben, den de Quervain auf functioneile Störungen im Bereich
des für die Rotation des Kopfes bestimmten Rindencentrums zurückführt.
Kocher’s Operationsverfahren macht sich zur Aufgabe, alle an dem
Krampf betheiligten Muskeln vollkommen zu durchtrennen. Der erste Act be¬
steht in der Durchschneidung des Sternocleidomastoideus resp. der Resection
eines 2—3 cm langen Stückes aus dem Muskel, 3—4 cm unterhalb seines oberen
Ansatzes. Behufs Ausführung des in der Durchtrennung der Nackenmuskeln
bestehenden zweiten Actes der Operation wird ein Hautschnitt von dem Proc.
mastoides bis zur Mittellinie geführt. Nach der oberflächlichen Fascie werden
dann nacheinander der Cucullaris, der Splenius, in der Tiefe der Complexus
major und minor durchschnitten, wobei man die Verletzung des Nervus occi-
pitalis magnus zu vermeiden hat. Man gelangt dann an dem Zwischenraum
zwischen Atlas und Epistropheus auf den an seinen schief von innen unten nach
aussen oben verlaufenden Fasern leicht kenntlichen Obliquus capitis inferior,
nach dessen Durchtrennung die Blutstillung und Naht der Wunde folgt. Beide
eben geschilderte Operationsacte werden nun je nach der Eigenart des vor¬
liegenden Falles mit einander combinirt und eventuell, falls der Erfolg kein
dauernder gewesen, weil entweder die Durchschneidung keine vollkommene war,
oder die Stümpfe zu schnell mit einander verwuchsen, wiederholt, ln den
typischen Fällen wird der Kopfnicker auf der einen, die Nackenmusculatur auf
Digitized by CjOOQle
100
Referate.
der anderen Seite in Angriff genommen. Wo die Seitenneigung vorherrscht,
macht man beide Operationen auf derselben Seite, bei vorwiegender Rück¬
neigung wird beiderseitig die Nackenmusculatur durchschnitten. Kocher sah
selbst bei ausgedehnter und wiederholter Operation niemals Schädigungen resp.
Störungen in der Kopfhaltung.
Der Krampfzustand schwand nach den Eingriffen 7mal ganz; von den
betreffenden Kranken sind 4 länger als 1 Jahr, 2 sogar 10—12 Jahre nach der
Operation geheilt geblieben. 3 Patienten wurden gebessert, 2 blieben bisher
ungeheilt, nach Kochers Ansicht deshalb, weil nicht genügend ausgedehnte
Durchschneidungen vorgenommen wurden. Die Durchschneidung oder Dehnung
des Nervus accessorius hat Kocher 7mal ohne Erfolg vollführt und verwirft
sie neuerdings vollkommen, weil sie nur eine Berechtigung in den Fällen aus¬
schliesslicher Betheiligung des Sternocleidomastoideus und Cucullaris haben
würde, die indess nach der Ansicht dieses Autors niemals zur Beobachtung
kommt. Joachimsthal.
Oberst, M., Ein Beitrag zur Frage der Verwendung der Röntgen’schen Strahlen
in der Chirurgie. Münch, med. Wochenschr. 1896, Nr. 46.
Oberst hebt an der Hand einer Reihe von Röntgenbildern die hohe Be¬
deutung dieser Aufnahmen für die Beurtheilung frischer und veralteter Knochen¬
brüche hervor. Joachimsthal.
Reiner, Max, Bemerkungen zum modellirenden Redressement der Halswirbel¬
säule. Wien. klin. Wochenschr. 1896, Nr. 43.
Bei einem 16jährigen Patienten mit einem rechtsseitigen, seit der Geburt
bestehenden musculären Schief hals wurde nach vorausgeschickter offener Durch¬
schneidung des contracten Muse, sternocleidomastoideus in Narkose mit reinem
Chloroform das modellirende Redressement nach den Vorschriften von Lorenz
ausgeführt. Man war schon fast am Ziele, als der Patient plötzlich zu athmen
auf hörte, nachdem er schon mehrere Minuten kein Chloroform mehr erhalten
und bereits Brech- und Abwehrbewegungen gemacht hatte. Nach erfolgreicher
künstlicher Respiration ging man an die Vollendung des Redressements und
hatte bereits einige Bindetouren zur Fixirung der übercorrigirten Stellung an¬
gelegt, als die Athmung neuerdings sistirte, trotzdem der Patient seit dem
ersten asphyktischen Anfalle nicht mehr chloroformirt worden war. Der Patient
ging trotz künstlicher Athmung, Herzmassage u. s. w. zu Grunde. Die Ob-
ductionsdiagnose lautete auf Status thymicus. Es erschien möglich, dass die
grossen Halsgefasse durch die seit der Geburt bestehende erhebliche Difformit&t
des Halses solche Verkürzungen oder Dislocationen erlitten hatten, dass die Cor-
rectur an falscher Stellung direct zu einer Kreislaufstörung in diesen Gefässen
führen konnte, sei es durch Compression oder durch Abknickung oder durch
Elongation resp. einen anderen Modus des Gefässverschlusses.
Es gelang nun in der That, den experimentellen Nachweis für die sup-
ponirte Kreislaufsunterbrechung in den grossen Halsgefassen zu erbringen. In
die Brustaorta der Leiche wurde zu diesem Behufe eine entsprechend weite
Canüle eingebunden und nun durch dieselbe centralwärts in die Aorta ein
Strom von 0,6°oiger Kochsalzlösung unter dem (nahezu) constanten Injections-
Digitized by CjOOQle
Referate.
101
druck von 120 mm Hg eingeleitet, nachdem vorher alle Nebenwege abgesperrt
worden waren. Nur durch die Carotiden und Vertebrales konnte sich der
Flüssigkeitsstrom ergiessen. Die Leiche war weiterhin noch derart vorbereitet,
dass nach Abnahme des Schädeldaches und Entfernung des Gehirns die Stümpfe
der Carotiden und Vertebrales möglichst weit hervorstanden. Aus diesen Stüm¬
pfen spritzte die Flüssigkeit in mächtigem Bogen, so lange der Schädel, sich
selbst überlassen, in seiner ursprünglichen Lage verharren konnte. Als man
aber die Halswirbelsäule in derselben Weise umkrümmte, wie es in vivo ge¬
schehen war, sistirte plötzlich der Strahl, der aus der Arteria carotis der rechten
Seite abgeflossen war, und ebenso sistirte, als in cadavere auch die Rechts¬
drehung corrigirt wurde, auch das Abströmen aus der Carotis der gesunden
(linken) Seite; der Strahl aus der Vertebralarterie der gleichnamigen (linken)
Seite wurde so sehr abgeschwächt, dass die Flüssigkeit langsam und in sehr
verminderter Weise abtropfte. Damit war der Beweis für die Annahme erbracht,
dass in dem vorliegenden Falle die Correctur der falschen Stellung des Kopfes
zu^fner bedeutenden Störung des Hirnkreislaufes geführt hatte.
/ Reiner empfiehlt demnach, bei Erwachsenen das modellirende Redresse¬
ment nicht auf einmal, sondern etappenweise zu Ende zu führen.
Joachimsthal.
Coville, De la scoliose congenitale. Revue d’orthopedie 1896, Nr. 4.
Coville hat 1015 Neugeborene und Kinder bis zum 3. Monat auf Thorax¬
asymmetrie untersucht, um sich von einem etwaigen Vorkommen unzweifelhaft
angeborener Skoliose zu überzeugen. Er nahm als Masspunkte Schwertfortsatz
des Brustbeines und 10. Brustwirbel. Verschiedene Ein wände gegen die Zu¬
verlässigkeit und Beweiskraft dieser Untersuchungsmethode werden zurück¬
gewiesen, aber keineswegs alle widerlegt.
Coville fand nur in 1 Fall eine sichere Umfangsdifferenz von 1 cm
und rechtsconvexe Skoliose, und zwar bei einem im übrigen gesunden und
wohlgebildeten Kind. Vulpius-Heidelberg.
Miralli6, Des d4viations du rachis en neuropathologie. Revue d’orthopedie
1896, Nr. 5 u. 6.
Wer der neuropathischen Skoliose seine Aufmerksamkeit einmal zuge¬
wendet hat, weiss, wie viel Interessantes bei diesem Studium zu gewinnen ist,
weiss aber auch, wie schwierig es ist, das ungemein zerstreute Beobachtungs¬
material zu einem einheitlichen Bild zusammenzufassen. Die vorliegende Arbeit
ist der Versuch einer solchen Darstellung, die zunächst nicht den Anspruch auf
eine abschliessende und erschöpfende Monographie machen kann, der aber ge¬
wiss mancher die Anregung zu eingehenderem Studium entnehmen wird.
Die Menge von cerebralen, spinalen und peripheren Nervenleiden, bei
denen Skoliosen und Kyphosen beobachtet sind, beweist schon die wissenschaft¬
liche wie praktische Wichtigkeit dieser Untersuchungen.
V u 1 p i u s - Heidelberg.
Kirmisson, Des difformit4s de la colonne vertebrale survenant ä la suite de
fractures m^connues. Revue d’orthopedie 1896, Nr. 6.
Kirmisson berichtet über eine Beobachtung ähnlich den von Klimm eil,
Henle u. a. beschriebenen Fällen, betreffend eine nach Trauma der Wirbel-
Digitized by CjOOQle
102
Referate.
säule allmählich eintretende Deformirung derselben. Es handelt sich um einen
18jährigen jungen Mann, bei dem sich nach Fall auf den Rücken aus einer
Höhe von 15 m langsam eine enorme Kyphose entwickelte.
Bei einem zweiten weit zweifelhafteren Fall ist das Bild einer Pott’schen
Kyphose vorhanden, die wie so häufig von den Eltern auf ein Trauma zurück¬
geführt wurde.
Kirmisson nimmt an, dass wohl immer eine nicht erkannte Fractur der
Wirbelsäule solchen Deformirungen vorausgegangen sei, dass man also von einer
Heilung nach Wirbelsäulenverletzung nicht ohne weiteres dann reden dürfe,
wenn die ersten Erscheinungen verschwunden sind und die Patienten wieder zu
gehen angefangen haben. Vulpius-Heidelberg.
Schmidt, Heinrich, Ueber Ischias scoliotica. Deutsche med. Wochenschr.
1896, Nr. 52 S. 837.
Schmidt beschreibt einen Fall von linksseitiger Ischias mit Skoliose des
Lenden- und unteren Brustteiles nach links. Rechts vom Kreuzbein besteht eine
prallelastische Vorwölbung, die Schmidt als einen stark contrahirten Theil des
Glutaeus maximus, soweit derselbe von der Fascia lumbodorsalis entspringt, auf¬
fasst. Eine ähnliche Vorwölbung sieht und fühlt man links von der Wirbel¬
säule an der Convexität der Skoliose. In einem zweiten Falle handelt es sich
bei einem Kranken mit linksseitiger Ischias und bogenförmiger Totalskoliose
mit der Convexität nach rechts bei Berücksichtigung der Verlängerung der
linken unteren Extremität um reichlich 2 1 /* cm, nach deren Ausgleich die Sko¬
liose schwindet, offenbar um eine statische Skoliose — nach Ansicht des Re¬
ferenten ohne jede Beziehung zur Ischias. Joachimsthal.
Mayer, Ueber einen Fall von Ischias scoliotica alternans. Inaug.-Diss. Frei¬
burg i. Br., Poppen & Sohn. 1895.
Mayer gibt zunächst einen kurzen geschichtlichen Abriss über die Ent¬
stehung des Krankheitsbegriffes der Ischias scoliotica und über die Erklärungs¬
versuche der Pathogenese dieser Krankheit, und berichtet alsdann über einen
einschlägigen Fall, der sich in mancher Beziehung von den bisher beschrie¬
benen abhebt.
Der Mayer’sche Fall betrifft einen 26jährigen Fatienten, der im Alter
von ungefähr 21 Jahren an einer linksseitigen Ischias erkrankt war. Zur Zeit
der Beobachtung bestand eine linksconvexe Lumbalskoliose mit einer compen-
satorischen rechtsconvexen Dorsalskoliose. Die physiologische Lendenlordose
war fast vollständig verstrichen, die Gegend links von den unteren Lenden¬
wirbeln war leicht vorgewölbt. Druckschmerzhaftigkeit fand sich ,im mässigen
Grade an der hinteren Seite der Adductoren.
Durch Suspension im Flaschenzug gelingt es leicht, die Wirbelsäule zu
strecken und die Deformität auszugleichen. Beim Nachlassen des Zuges geht
Patient nicht in die beschriebene Stellung zurück, sondern in die heterologe
Skoliosenstellung über. Versucht nun Patient den Körper auch nur leicht nach
links zu legen, so schnappt die Wirbelsäule förmlich in die ursprüngliche links¬
geneigte Skoliosenstellung zurück. Eine genügende Erklärung dieses Falles
durch die bis jetzt aufgestellten Theorien findet Verfasser nicht, ist aber auch
nicht im Stande, eine neue, bessere aufzustellen. A. Schanz-Sodenthal.
Digitized by CjOOQle
Referate.
103
Dollinger, J., Die Behandlung der tuberculösen Wirbelentzündung, nebst patho¬
logischen Erfahrungen auf Grund von 700 Fällen. Stuttgart 1896.
Verfasser gibt in der vorliegenden Schrift die Erfahrungen wieder, die
«r bei der Beobachtung und Behandlung von 700 Fällen gemacht hat. Seine
Beobachtungen sind, abgesehen von der grossen Anzahl, noch deshalb von be¬
sonderem Werth, weil sie sich zu ungefähr gleichen Theilen aus der Hospital-
nnd der Privatpraxis recrutiren, und Verfasser zumal die letzteren Über viele
Jahre hinaus hat verfolgen können. Im allgemeinen Theil bespricht Do 11 inger
zunächst den Sitz des tuberculösen Processes. Unter 538 Fällen, in denen der
primär erkrankte Wirbel festgestellt werden konnte, fand sich derselbe im
oberen Drittel der Wirbelsäule 69mal, im mittleren 170mal und im unteren
299mal. Am häufigsten erkrankten primär der 12. Brust- und 1. Lendenwirbel
{zusammen 123mal). Bezüglich der Behandlung stellt Dollinger absolute Im¬
mobilisation voran, als bestes Mittel gegen den Schmerz und das Fortschreiten
der Entzündung. Tagsüber verordnet er ein Stützcorset, nachts einen Lage¬
rungsapparat, die beide nach demselben Gipsmodell gefertigt sein müssen. Die
Extension verwirft er als ein ungenügendes Fixationsmittel und wendet sie nur
interimistisch an, bis die immobilisirenden Apparate angefertigt sind. Durch
dieselbe immobilisirende Behandlung wird die Ausbildung der Verkrümmung
resp. die Vergrösserung eines bereits vorhandenen Gibbus verhütet. Die Einzel¬
heiten der Behandlung müssen im Original nachgelesen werden.
Im speciellen Theil bespricht Dollinger die Behandlung der Spondylitis
«cervicalis zusammen mit der Entzündung der oberen sechs Brustwirbel, da die
Stützpunkte für die Apparate in beiden Fällen dieselben sein müssen. Alle
Apparate, die sich nicht auf die Hüften einerseits und das Hinterhaupt anderer¬
seits stützen, können nicht sicher fixiren. Die von Dollinger mit bestem Er¬
folg seit mehreren Jahren angewandten Stützcorsets und Lagerungsapparate
werden genau beschrieben und durch Abbildungen erläutert, ebenso wird die
Technik der Anfertigung eines Gipsmodells und der Apparate selbst eingehend
geschildert. Dollinger warnt bei dieser Gelegenheit nochmals eindringlich
-vor allen Versuchen, einen bereits vorhandenen Gibbus zu redressiren, im Gegen¬
satz zu der neuerdings von Calot empfohlenen Therapie. Bei der Behandlung
der Spondylitis der unteren Hälfte fordert er, dass der vordere Theil des Cor-
sets einen festen Panzer bilde, da nur so die Schwankungen und Beugungen
nach vom verhindert werden können. Auch an dieser Stelle lässt Dollinger
die durch Abbildungen erläuterte Beschreibung und Anfertigungstechnik folgen.
Bemerkenswerth ist noch, dass er die Schulterstützen in ihrer bisherigen Krücken¬
form als gänzlich nutzlos und eher schädlich verwirft und an deren Stelle eine
andere Art von Schulterhaltern setzt, deren Beschreibung am besten im Ori¬
ginal nachgelesen wird. Abscesse beobachtete Dollinger bei Erkrankungen
des Halstheils in 20,6%, des Brusttheils in 11,6 °/o, des Lendentheils in 40,1%
der Fälle. Die Retropharyngealabscesse eröffnet er von aussen nur, wenn sie die
«eitliche Halspartie vorgewölbt haben, da er von der Eröffnung im Rachen nie¬
mals einen Nachtheil gesehen hat. Die Senkungsabscesse der unteren Segmente
behandelt er mit Jodoforminjectionen, und wenn dann nach einigen Injectionen
keine Resorption eintritt, durch breite Eröffnung, Auswischen der pyogenen
Membran und nachfolgende Naht. Unter 20 auf diese letztere Weise behandelten
Digitized by
Google
104
Referate.
Fällen heilten 15 in kürzester Frist. In 3 Fällen beobachtete er Psoascontrac-
turen ohne Abscessbildung. Unter 41 beobachteten Lähmungen fallen auf die
Entzündung des 3.—7. Brustwirbels 26. Auf das weibliche Geschlecht fallen
7« der Lähmungen. In 4 Fällen war die Parese das erste Symptom der Spon¬
dylitis. Nur lmal bestand complete Lähmung bei Spondylitis cervicalis (Exitus
letalis). Bezüglich der Aetiologie schliesst er sich Kraske und Schmaus an,
die den directen Druck oder die Circulationsbehinderung durch das tuberculöse
Exsudat für die Lähmungsursache halten. Als Behandlung genügt die Fixation
der Wirbelsäule und Massage der Extremitäten. Die Prognose der Lähmungen
ist ziemlich günstig. Alsberg-Würzburg.
Acdonin, Spina bifida latent. Revue d’orthopödie 1896, Nr. 6.
Bei einem 27* Jahre alten Mädchen fand sich eine Spalte der Wirbel¬
säule im Bereich^ des 11. und 12. Brustwirbels und des 1. Lendenwirbels mit
eben sichtbarer Vorwölbung. Als Symptome dieser Spina bifida, die übrigens
auch nicht durch Hypertrichosis kenntlich gemacht wurde, ergaben sich ins¬
besondere Mutilationen der Zehen. Vulpius-Heidelberg.
Reverdin, De Tincision des abces tuberculeux retropharyngieux par la region
antörolatörale du cou; procedö de Burckhardt. Revue medical de la
Suisse romande 1895, Fevrier.
Reverdin hat das von Burckhardt im Centralblatt für Chirurgie 1888
für die Eröffnung der retropharyngealen Abscesse angegebene Verfahren mehr¬
fach geübt und rühmt als Vorth eile dieser Operation: ihre leichte Ausführbar¬
keit, die Möglichkeit aseptisch bezw. antiseptisch zu verfahren, die Möglichkeit
einer localen Behandlung des Krankheitsherdes (Jodoform), die Möglichkeit in
Narkose zu operiren, die Ermöglichung einer directen Exploration, Sequester¬
extraction, Ausräumung. A. Schanz-Sodenthal.
Drobnik, T., Ueber die Behandlung der Kinderlähmung mit Functionstheilung
und Functionsübertragung der Muskeln. Zeitschr. f. Chir. Bd. 43 Heft 3
u. 4 S. 473.
Drobnik schildert an der Hand von 16 eigenen Operationen das von
ihm bei der Kinderlähmung geübte Verfahren der Functionstheilung und Functions¬
übertragung der Muskeln.
Es ist bei vielen Kindern sehr schwer, durch elektrische Untersuchung
festzustellen, welche Muskeln total functionsunfähig sind, und welche noch
functionstüchtig werden können. Eine klare Uebersicht über diese Verhältnisse
kann man nach Drobnik nur mit dem Auge gewinnen. Dazu ist vor allem
ein genügender Schnitt nöthig, der die Bäuche der in Frage kommenden Mus¬
keln aufdeckt; man sieht dann in jedem Falle schon an der Farbe, ob die
Muskeln normal, ganz gelähmt oder nur durch Inactivität atrophisch sind. Die
Farbe der ersteren ist dunkelroth, der zweiten wachsgelb, der dritten rosaroth.
Zur Functionstheilung können selbstverständlich nur die vollständig normalen
Muskeln verwandt werden. Drobnik konnte sich in einigen Fällen davon über¬
zeugen, dass atrophische Muskeln, die nur Spuren von elektrischer Erregbarkeit
sehr undeutlich zeigten, nach gelungener Functionstheilung oder Functions-
Digitized by CjOOQle
Referate.
105
Übertragung wieder in Action traten und ihrerseits sehr viel zur Erzielung eines
guten Resultates beitrugen. Bei der Trennung des Muskelbauches muss man
mit der grössten Vorsicht stumpf vorgehen und sich genau an die natürliche
Gruppirüng der Muskelfasern halten, um die Muskelnerven, die öfters
unter das Messer kommen, zu schonen. Hat man die Trennung des
Muskelbauches vollzogen, so beobachtet man noch den Verlauf der Muskelfasern
der einzelnen Portionen, um die passendste zur Uebertragung zu wählen. Man
wird z. B., um einen Peroneus mit einem Theile des M. extensor hallucis long.
zu versehen, dazu die medial liegende Portion wählen, während die laterale im
Zusammenhänge mit ihrem Ansätze gelassen wird. Die Trennung der Sehne
geschieht von dem Muskel bauche aus. Die Länge des abzut ragenden Sehnen¬
segmentes bestimmt man nach dem Augenmasse oder mit einem Seidenfaden.
Das zu überpflanzende Muskelsehnenstück zieht Drobnik in der Höhe des
Ueberganges der Muskelbäuche in die Sehnen unterhalb derselben zu seinem
Bestimmungsorte. Dies Vorgehen complicirt zwar ein wenig die Operation,
sichert aber nach Drobnik’s Ansicht die Ernährung des Muskelsehnenstückes.
Die Befestigung des Muskelsehnenstückes geschieht in der Weise, dass Drobnik
die Sehne des gelähmten Muskels stark vorzieht und damit die Extremität in
hypercorrigirte Stellung bringt. Das zu überpflanzende Muskelsehnenstück wird
gleichmässig stark gedehnt, damit es dem Zustande der Erschlaf¬
fung des Muskels entspreche. Dann wird die Sehne des gelähmten Muskels
an einem Rande angefrischt oder aufgeschlitzt und die zu überpflanzende mit
mehreren feinen Seidennähten in genügender Ausdehnung in den Schlitz ein¬
genäht oder an den angefrischten Rand angeheftet. Die erste Naht wird an
der Stelle des Ueberganges des Muskelbauches in die Sehne gemacht. Nachdem
dies geschehen, zieht Drobnik die Fascie mit mehreren Seidennähten lose zu¬
sammen und lässt eine einfache Hautnaht folgen. Lässt man nach beendeter
Operation das Glied frei, so sieht man, dass die hypercorrigirte Stellung be¬
deutend nachlässt.
Die in der Anwendung von Elektricität, Massage, activen und passiven
Bewegungen bestehende Nachbehandlung erfordert viel Sorgfalt. Als eine für
alle Falle anfangs anwendbare äussere Stütze der neu geschaffenen, noch
schwachen Gleichgewichtsmuskeln gegenüber ihren meistens hypertrophischen Geg¬
nern benutzt Drobnik weiterhin einen elastischen Heftpflasterverband. Dieser
besteht aus einem 4 cm langen Stück gewirkter Gummiborde und aus daran¬
genähten Heftpflasterstreifen. Ein Heftpflasterstück wird um den Fuss gewickelt,
während man das andere unter entsprechendem Anziehen des elastischen Bandes
nach Bedarf an der inneren oder äusseren Seite des Unterschenkels anheftet.
Später können leicht und genau gearbeitete Apparate zur Anwendung kommen.
G. Joachimsthal-Berlin.
Kohn, Ueber cerebrale Kinderlähmungen. Inaug.-Diss. Berlin, G. Vogt. 1895.
Kohn bringt nach einem kurzen historischen Ueberblick die Beschreibung
von 21 Fällen von cerebraler Kinderlähmung, welche an der Poliklinik des Pro¬
fessor Mendel zur Beobachtung kamen, und bespricht im Anschluss daran die
Symptomatologie, den Verlauf und die Aetiologie der Erkrankungen. Darnach
sind die charakteristischsten Theile dieses Krankheitsbildes: Entwickelung einer
Digitized by VjOOQle
106
Referate.
meist halbseitigen Lähmung mit Rigidität der Musculatur, Contracturen, Er¬
höhung der Sehnenreflexe. Die Lähmungen entstehen theils plötzlich, theils
nach einem fieberhaften Initialstadium. Bei dem vollentwickelten Krankheits-
bild findet man häufig Mitbewegungen der gelähmten oberen Extremität, welche
den von ihnen begleiteten Bewegungen des gesunden Armes an Exkursionsbreite
nachstehen. Athetose resp. Hemiathetose gehört fast zu den constanten Sym¬
ptomen, zu denen weiterhin die in späteren Stadien stets erscheinende Atrophie
der Muskeln und Knochen der gelähmten Extremitäten zählt. Dabei bleibt die
elektrische Erregbarkeit der Muskeln, wenn auch quantitativ herabgesetzt, für
beide Ströme stets erhalten. Die sehr häufige ( 2 /* der Fälle) zur Entwickelung
gelangende Epilepsie ist von dem Grade der Lähmung ebenso unabhängig wie
die Intelligenzstörungen, welche in jeder Höhe, von leichter geistiger Schwäche
bis zu vollständiger Idiotie, eintreten können. Ueber die Aetiologie ist be¬
deutend weniger bekannt als über die Symptomatologie. Traumen, schwere,
allgemeine und uterine Erkrankungen der graviden Mutter, Geburtstraumen,
Infectionskrankheiten, physische und psychische Traumen, hereditäre neurotische
Disposition werden in den einzelnen Fällen als Ursache angeschuldigt, meist
ohne dass ein stricter Beweis erbracht werden kann. Auf die Erforschung der
Aetiologie ist daher weiterhin das Hauptgewicht zu legen.
A. Schanz-SodenthaL
Wolff, J., Die Lehre von der functionellen Pathogenese der Deformitäten.
In dieser bedeutungsvollen Arbeit fasst Julius Wolff einerseits noch¬
mals alles das zusammen, was er bereits in seinen früheren Schriften über das
Transformationsgesetz mitgetheilt hat. Andererseits bringt er werthvolle neue
Thatsachen bei, welche diesem Fundamentalgesetz der Orthopädie eine wo¬
möglich noch sicherere Grundlage zu geben vermögen, als es bisher schon hatte.
Aus dem Transformationsgesetz heraus entwickelt J. Wolff dann die Lehre von
der functionellen Pathogenese der Deformitäten.
Es ist unmöglich, in einem Referat den reichen Inhalt der Arbeit wieder¬
zugeben. Jeder einzelne Satz muss gründlich studirt werden und empfehlen
wir daher dringend jedem, der sich mit Orthopädie beschäftigt, das eingehende
Studium des Originales. Als Einleitung zum Studium der Arbeit bitte ich die
Herren Collegen zunächst das grosse Werk von Julius Wolff über das Trans¬
formationsgesetz der Knochen durchzunehmen. Erst wenn man dieses Werk
gründlich in sich aufgenommen hat, wird man wirklichen Genuss von der neuen
Arbeit des geehrten Verfassers haben.
Es gibt ja noch viele Gegner des Transformationsgesetzes von J. Wolff
und namentlich haben die Kapitel, welche über die .Drucktheorie* handeln,
vielfache Anfeindungen erfahren. Gerade den Gegnern empfehle ich aber das
ganz energische Studium der Wolff sehen Arbeiten; ich bitte sie, bei diesem
Studium das Präparat eines Genu valgum oder einer Skoliose in die Hand zu
nehmen und an der Hand solcher Präparate den Ausführungen des Verfassers
zu folgen. Referent muss gestehen, dass er durch das vergleichende Studium
derartiger Präparate vollständig von der Richtigkeit der Drucktheorie überzeugt
worden ist. Kann'man auch in Einzelheiten anderer Meinung sein als J. Wolff,
so viel steht absolut sicher fest, und an dieser von J. Wolff zuerst erhobenen
Digitized by
Google
Referate.
107
Thatsache ist nichts zu drehen und zu deuteln, dass sich dort neuer Knochen
bildet, wo der Knochen durch Druck oder Zug vorherrschend beansprucht wird,
während dort Resorption der Knochenbälkchen statthat, wo der Knochen vom
Zug oder Druck entlastet ist.
Im einzelnen ist die vorliegende Arbeit so gehalten, dass zunächst die
Drucktheorie einer erneuten Betrachtung unterzogen wird, dass dann nach einem
kurzen Ueberblick über die allgemeine Lehre von der functioneilen Knochen¬
gestalt den älteren Begründungen der Lehre von der functioneilen Pathogenese
der Deformitäten eine Reihe neuer Beweisgründe hinzugefügt waren; zum Schluss
erörtert der Verfasser dann die bisher gegen seine Lehre erhobenen Einwen¬
dungen, sowie die in der Literatur seitens anderer Autoren vorliegenden Be¬
stätigungen derselben.
Wollte man ein wirklich ausführliches Referat der grossen Arbeit geben,
so müsste man wiederum eine ganze Arbeit schreiben. Ich beschränke mich
daher darauf, nochmals das Studium der Arbeit auf das angelegentlichste zu
empfehlen und will nur erwähnen, dass ich in einem Punkte nicht mit dem
Verfasser einig bin.
Zur Bekämpfung der Drucktheorie beruft sich der Verfasser nämlich auch
auf die pathologischen Veränderungen, welche die Proc. transversi der sko-
liotischen Keilwirbel erleiden. Diese Proc. transversi erleiden bekanntlich auf
der concaven Seite des Keilwirbels eine beträchtliche Höhenreduction. „Da nun
die von einander abstehenden und durch Weichgebilde von einander getrennten
Proc. transversi der concaven Seite überhaupt keinem Druck ausgesetzt sind, so
ist jede Herbeiziehung der Drucktheorie für die Erklärung der Höhenverhält¬
nisse der Querfortsätze unmöglich.“ J. Wolff fasst vielmehr die Höhenreduction
der Proc. transversi als eine Anpassung an die veränderten Raumver¬
hältnisse auf, da das Maass der Reductionen und der Zunahmen der Höhen
der einzelnen Proc. transversi lediglich durch den Grad der Krümmung des¬
jenigen Segmentes der Wirbelsäule, welcher der betreffende Wirbel angehört,
und durch die von diesem Krümmungsgrad abhängigen Veränderungen der
Raumverhältnisse des Thorax an der convexen und concaven Seite der Krüm¬
mung bestimmt wird. Dieser Auffassung kann ich nicht zustimmen, denn ich
besitze Präparate, die imzweideutig erkennen lassen, dass die veränderten
Raumverhältnisse sicher nicht allein die Ursache der Atrophie der Querfortsätze
sind. Es trifft auch nicht überall zu, dass die concavseitigen Querfortsätze
niedriger, dafür aber länger werden. Man kann sich oft an derselben Wirbel¬
säule von dem Gegentheil überzeugen. Genauer auf diese Verhältnisse hier
einzugehen, ist natürlich unmöglich und muss einer eigenen Arbeit über diesen
Gegenstand Vorbehalten bleiben. Hoffa.
Digitized by CjOOQle
Digitized by
X.
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
Vortrag, gehalten in der Sitzung der Gesellschaft für Natur- und
Heilkunde zu Dresden am 29. Februar 1896.
Von
Prof. Dr. Sprengel,
Oberarzt der chirurgischen Abtheilung des Herzoglichen Krankenhauses
zu Braunschweig.
Mit 21 in den Text gedruckten Abbildungen.
In dem Zeiträume von mehr als 13 Jahren, über welchen sich
meine Thätigkeit am Dresdner Kinderhospital erstreckt, sind natur-
gem'äss unter der grossen Zahl der verschiedensten congenitalen
Missbildungen auch eine ansehnliche Reihe angeborener Klumpfüsse
durch meine Hände gegangen. Obwohl ich mir das Zeugniss geben
konnte, seit Beginn meiner Thätigkeit auf diese in vieler Hinsicht
interessanten und in jedem Falle bedeutungsvollen Deformitäten
reichlich Zeit und Mühe verwendet zu haben, so war ich doch bis
vor wenigen Jahren mit dem Erreichten nicht zufrieden. Es fehlte
mir nicht an einzelnen guten, ja nahezu vollkommenen Resultaten;
aber wenn mir Jemand die Frage vorgelegt hätte: „Wie behandeln
Sie den angeborenen Klumpfuss?“ so wäre ich ihm, wie ich heute
glaube, zum mindesten eine klare und erschöpfende Antwort schuldig
geblieben. Es war also nicht die Erfolglosigkeit meiner Behandlung,
die mich unzufrieden machte, sondern die Systemlosigkeit derselben.
Wenn ich auf das zurückblicke, was ich auf dem schwierigen Ge¬
biete der Klumpfussbehandlung bei anderen gesehen oder in ihren
Arbeiten gelesen habe, so glaube ich bei manchen ähnliche Em¬
pfindungen voraussetzen zu dürfen. Auch die Lehrbücher befriedigen
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 3
Digitized by CjOooLe
110
Sprengel.
keineswegs vollständig. Nicht dass es in ihnen an einer correcten
Aufzählung der bekannten Behandlungsarten fehlte. Im Gegentheil,
sie enthalten mehr als genug davon. Aber auch die besten würden,
wie ich glaube, denjenigen im Stich lassen, der bei noch mangelnder
eigener Erfahrung aus ihnen eine feste Methode herauslesen wollte.
Als ich vor ungefähr 3 Jahren — Anfang 1893 — zu dem
für mich betrübenden Schluss gelangte, dass es fast unmöglich sei,
nach so vieler aufgewandten Mühe ein Facit meiner eigenen Arbeit
zu ziehen, machte ich mir klar, dass dies in Zukunft nur dann eine
Aenderung erfahren könne, wenn ich über die mir zugeführten
Klumpfussfälle eine genauere und dauerndere Controlle ausübte als
bisher. Ich beschloss, in Zukunft über jeden der meist ambulant
behandelten Fälle besonders Buch zu führen und nach Ablauf einiger
Jahre mir selbst Rechenschaft über meine eigenen Erfolge, über die
Vorzüge und Mängel meiner Behandlung abzulegen. Wenn ich in
nachstehendem das Resultat meiner Beobachtungen auch weiteren
Kreisen zugänglich mache, so halte ich mich dazu berechtigt,
einerseits im Hinblick auf die Thatsache, dass die Frage der Klump-
fussbehandlung auch heute noch nicht als abgeschlossen gelten
kann, andererseits in der Hoffnung, durch diese Mittheilungen diesem
oder jenem Fachgenossen einen willkommenen Anhalt in der Klump-
fussbehandlung zu gewähren.
Der Ausspruch von Bergmann, dass „die Klumpfussfrage noch
nicht spruchreif sei“, mit dem er auf dem 19. Congress für Chirurgie
eine allgemeine Discussion über diesen Gegenstand ablehnte, besteht
auch heute noch zu Recht, wenn auch im Laufe der letzten Jahre
insofern ein Wechsel sich vollzogen hat, als der Gegensatz zwischen
den Vertretern der operativen und der mechanischen Behandlungs¬
methode nicht mehr in der früheren Schärfe besteht. Im einzelnen
ist man noch weit von einer völligen Einigung entfernt.
Eine Durchsicht der Literatur der letzten Jahre mit besonderer
Berücksichtigung dessen, was auf dem deutschen Chirurgencongress
über unseren Gegenstand veröffentlicht und verhandelt wurde, wird
am besten ein Urtheil über den gegenwärtigen Stand der Klump¬
fussfrage gewinnen lassen.
Gegenüber der Operationsfreudigkeit, die in den 70er Jahren,
wohl unter dem frischen Einfluss der beginnenden antiseptischeu
Epoche, auch in der Behandlung des angeborenen Klumpfusses
herrschte, machte sich eine starke Gegenströmung in den 80er Jahren
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
111
geltend, die die Wichtigkeit des unblutigen, manuellen, mehr oder
weniger gewaltsamen Redressements betonte. Die Namen von
Heineke (dessen Standpunkt später von Graser vertreten wurde),
Julius Wolff und König sind hier in erster Linie zu nennen.
Volk mann hat anscheinend bis zuletzt den operativen Ein¬
griffen in der Behandlung des angeborenen Klumpfusses einen ziem¬
lich weiten Spielraum gelassen, wenn auch nicht zu verkennen ist,
dass er die Grösse derselben successive einzuschränken suchte. Aus
der bekannten Arbeit von Büngners (C. f. Ch. 1889 S. 409 ff.)
geht hervor, dass Volkmann die Durchschneidung des Tib. posticus
und die Keilosteotoraie aus den Fusswurzelknochen seit dem Jahre
1882 verlassen hat, die erstere als an sich unzuverlässig, die zweite
weil das * definitive Resultat durch excessives Nachwachsen der
resecirten Knochen nur zu bald vereitelt wurde“. Von 1884—1888
wurde in der Hallenser Klinik die Talusexstirpation mit wechseln¬
dem, aber nur in etwa dem dritten Theil der Fälle befriedigendem
Resultat geübt; seitdem gab Volkmann in allen schwereren Fällen
der Phelpsuchen Operation den Vorzug, die anscheinend meist im
2. Lebensjahre zur Ausführung gelangte. Volkraann war ein ent¬
schiedener Anhänger dieser Operation, die seiner energischen Em¬
pfehlung sicherlich zum guten Th eile ihre weite Verbreitung zu
verdanken hat.
Auf dem deutschen Chirurgencongress kamen die verschiedenen
Richtungen der Klumpfussbehandlung im Jahre 1885 ziemlich ent¬
schieden zum Ausdruck, als im Anschluss an einen Vortrag von
Bessel-Hagen, der für leichtere Formen das Redressement, für
renitente Fälle die Talusexstirpation sehr warm empfohlen hatte,
Hirschberg, indem er die von Bessel-Hagen vorgeführten Resul¬
tate bemängelte, sich energisch der (modificirten) Keilexcision aus
der Fusswurzel annahm, während Julius Wolff Fälle vorstellte,
die nach der von ihm bei verschiedenen Gelegenheiten empfohlenen
Methode des gewaltsamen Redressements mit nachfolgendem por¬
tativem Gips- resp. Gips-Wasserglasverband behandelt waren. Ans
der nachfolgenden, allerdings nicht sehr ausgedehnten Discussion
(dieselbe wurde damals auf den Vorschlag von König wegen
mangelnder Zeit abgebrochen) gewinnt man den Eindruck, als hätte
damals eine erhebliche Zahl angesehener deutscher Chirurgen in der
Klumpfussbehandlung den operativen Standpunkt vertreten,
Auf dem 15. Congress (1886) trat Krauss sen.-Darmstadt
Digitized by CjOOQle
112
Sprengel.
für die nicht operative Behandlung des congenitalen Klumpfusses
ein. Er verwirft jede Operation am Skelet des Fusses, hält auch
das gewaltsame Redressement höchstens in leichteren Fällen für
ausreichend und empfiehlt eine rein orthopädische, langsam wirkende,
möglichst frühzeitig beginnende Behandlung. Er selbst bedient sich
seit langen Jahren des sogen. Maschinengipsverbandes, d. h. eines
Fussbrettes, gegen welches der deforme Fuss mittelst Gipsverbänden
fixirt wird, und hebelartig wirkender seitlicher Schiene.
Eine Discussion schloss sich an den Vortrag von Krauss
nicht an.
Der 17. Chirurgencongress (1888) brachte die wichtige Mit¬
theilung Graser’s-Erlangen „Ueber Klumpfussbehandlung*. Graser
ist ausschliesslich für manuelles Redressement und Gipsverband, den
er mit Hilfe von redressirenden, mit in den Gipsverband einzu-
schliessenden Flanellbinden anlegt. Die Tenotomie zu Beginn der
Behandlung, die sonst auch manche Anhänger der rein mechanischen
Therapie zulassen, verwirft er, weil man durch dieselbe „sich des
Widerstandes für die Correction der Abductions- und Supinations¬
stellung beraubt*. Die Verbände bleiben 3—4 Wochen liegen.
Man sieht gewöhnlich, auch in hochgradigen Fällen, dass Weich-
theile und Skelet bei den folgenden Verbänden nachgiebiger ge¬
worden sind. Graser hat selbst in schwierigen Fällen sehr gute
Resultate gesehen und ist nach Versuchen mit anderen Behandlungs¬
methoden, auch mit der Phelps’schen, immer wieder zu seinem,
von Heineke seit langer Zeit ausgebildeten Verfahren zurückgekehrt
Die Behandlung ist dann als beendet anzusehen, „wenn der Fuss
in stärkster Pronation, Abduction und Dorsalflexion steht und nach
Abnahme des Verbandes stehen bleibt“. Der letzte Verband (event.
Wasserglas) bleibt etwa 3 Monate liegen. Graser ist für früh¬
zeitige Behandlung, verschiebt aber die Immobilisirung bis nach
Beginn des 2. Lebensjahres. Die Methode von Julius Wolff hält
Graser für principiell nicht verschieden von der seinigen; im übrigen
kann er sich „nicht vorstellen“, dass man hochgradige Fälle in so
kurzer Zeit, wie Wolff will, corrigiren kann. Zu dem Gras er¬
sehen Vortrage, sowie zu der auf denselben folgenden Beely’schen
Demonstration äusserten sich namentlich Julius Wolff und Gustav
Hahn. Des ersteren Anschauungen gipfelten in folgender Bemer¬
kung: „Ich glaube bewiesen zu haben, dass es vollkommen unmög¬
lich ist, eine directe Einwirkung auf die Form der Fussknochen und
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
113
des ganzen Fusses auszuüben. Unsere Aufgabe besteht einzig
und allein darin, die Herstellung einer richtigen Function durch
Wiedererzeugung der richtigen statischen Verhältnisse zu bewirken.
Ist dies gelungen, so besorgt die Natur lediglich ganz von selbst
die Herstellung der richtigen Form, indem sie nach dem von mir
aufgestellten Transformationsgesetz die functioneile Anpassung der
Form an die wieder hergestellten richtigen statischen Verhältnisse
zu Wege bringt.“ Obwohl die vorstehende Arbeit nicht in erster
Linie eine kritische sein soll, so kann ich doch nicht umhin, zu
dieser Anschauung Wolff’s Stellung zu nehmen. Dass die ver¬
besserten statischen Verhältnisse, namentlich wenn sie voll aus¬
genutzt werden, einen günstigen Einfluss auf die Form des Fusses
ausüben, wird meines Erachtens von keiner Seite bestritten. Daraus
aber den Schluss ziehen zu wollen, dass wir nur auf diesem Wege
oder Umwege die Form verbessern können, ist unzulässig. Bietet
doch gerade die Behandlung des angeborenen Klumpfusses den besten
Beweis für das Gegentheil, denn weitaus die vollkommensten Resul¬
tate erzielen wir im 1. Lebensjahre, d. h. bevor der Patient gehen
und stehen kann, bevor er also überhaupt in der Lage ist, von den
verbesserten statischen Verhältnissen Gebrauch zu machen.
Auf das, was Gustav Hahn bei dieser Gelegenheit über die
von ihm geübte Behandlung des angeborenen Klumpfusses mittheilt,
habe ich Gelegenheit, weiter unten einzugehen.
Auf einen principiell ähnlichen Standpunkt wie Graser stellte
sich König mit seinem bekannten auf dem 19. Congress (1890)
gehaltenen Vortrag „Ueber die unblutige, gewaltsame Beseitigung
des Klumpfusses“. Er empfiehlt das Verfahren des gewaltsamen,
manuellen Redressements, wobei der Klumpfuss über eine feste
Leiste als Stützpunkt umgebrochen und erst die Varus-, dann die
Equinusstellung beseitigt werden soll. Nach Bedarf wird die Durch¬
schneidung der Achillessehne oder der Plantarfascie voraufgeschickt.
König hält sein Verfahren namentlich in späteren Jahren, etwa
dem Pubertätsalter, für empfehlenswert!}. Bei kleinen Kindern, deren
zum grossen Theil knorplige Knochen einen starken elastischen
Widerstand bieten, ist das Redressement am schwierigsten. Das
Redressement soll mit grosser Gewalt, wenn auch nicht auf einmal,
geschehen; es müssen „Bänder zerrissen, Knochen eingedrückt
werden, wenn etwas dabei herauskommen soll“. Nach dem Re¬
dressement wird ein gut gepolsterter Gipsverband angelegt, der das
Digitized by CjOOQle
114 Sprengel.
Erreichte fixiren soll. Das Verfahren wird in Pausen von ca.
14 Tagen wiederholt.
Im Anschlüsse an den König'schen Vortrag und an die Mit¬
theilung von Meusel, der bei einem 2jährigen Kinde statt der Ex-
stirpatio Tali die Entfernung des Knochenkerns aus demselben mit
gutem Erfolge ausführte — eine Operation, die übrigens wohl mit
Unrecht als neu bezeichnet wurde, da sie bereits bei Lorenz
(Wiener Klinik 1884, XVI) als von Verebäly ausgeführt besprochen
wird — erklärte der damalige Vorsitzende die Klumpfussfrage für
»noch nicht spruchreif“. Eine Discussion fand auf seinen Vorschlag
nicht statt.
In den Jahren 1891 — 1895 incl. ist die Klumpfussfrage, ab¬
gesehen von einer kurzen Mittheilung Lauenstein's (1894), der
einen Apparat zur Behandlung der Innenrotation bei Pes equino-
varus cong. vorstellte, auf dem Chirurgencongress nicht zur Be¬
sprechung gelaugt.
Man kann sicherlich behaupten, dass die Verhandlungen des
Chirurgencongresses die wichtigsten Erscheinungen in der deutschen
Chirurgie getreu widerspiegeln, und deshalb ist der vorstehende
kurze Abriss aus den Verhandlungen des Congresses wichtig und
bezeichnend.
Von den Lehrbüchern will ich nur die orthopädische Chirurgie
von Hoffa und das Handbuch der Kinderchirurgie von Karewski
erwähnen. Es entspricht dem Charakter der Lehrbücher, dass sie
nicht bloss eine bestimmte Behandlungsmethode empfehlen, sondern
sich zugleich referirend verhalten. Indessen dürften wir in der An¬
nahme nicht fehlgehen, dass beide Autoren im allgemeinen mit der
mechanisch-orthopädischen Behandlung auszukommen glauben, aus¬
nahmsweise indessen, namentlich in veralteten Fällen, operative Ein¬
griffe zulassen. Karewski stellt ausdrücklich fest, dass »eine ge¬
wisse, glücklicherweise geringe Anzahl von Fällen sich refractär
gegen die rein orthopädische Behandlung erweist“. Er betrachtet
für diese, auch im kindlichen Alter, nicht bloss die Weichtheil-
operationen, sondern auch gewisse Knochenoperationen als zulässig.
Dass er der ersteren principiell den Vorzug vor der letzteren gibt,
geht zur Genüge aus der Erwähnung von 28 mit bestem Erfolge
nach Phelps operirten Fällen hervor. Nähere Angaben über diese
Fälle fehlen; doch bemerkt Karewski ausdrücklich, dass unter
diesen Fällen sich solche befanden, „in denen vorher von berufenster
Digitized by VjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
115
Seite jahrelang methodisches Redressement forcö oder in Etappen
▼ergeblich versucht worden war“.
Den vorstehend skizzirten, anscheinend weit verbreiteten An¬
schauungen gegenüber, nach denen als das Normalverfahren in der
Klumpfussbehandlung das allmähliche oder brüske manuelle Redresse¬
ment zu betrachten ist, während die operative Behandlung höchstens
für Ausnahmefälle reservirt bleibt, muss es auffallen, 1. dass die
Zahl der Statistiken über die Resultate der Klumpfussbehandlung
relativ klein, 2. dass die in diesen Statistiken aufgeführten Resultate
der rein orthopädischen Klumpfussbehandlung keineswegs glänzend
erscheinen.
Möglicherweise erklärt sich die erste Thatsache wenigstens
zum Theil durch die zweite, insofern mit ziemlicher Sicherheit an¬
genommen werden darf, dass eine grössere Zahl von Autoren sich
mit der Darlegung ihrer Resultate beschäftigt haben würde, wenn
sie durchaus Günstiges zu berichten hätten. Dazu kommt, dass die
Statistik über Behandlung und Heilung des Klumpfusses aus mehr¬
fachen Gründen eine besonders schwierige sein muss. Die lange
Dauer der Behandlung, die Schwierigkeit, den thatsächlichen Ab¬
schluss derselben festzustellen, die Gepflogenheit grösserer Kliniken,
die Behandlung der Klumpfussfälle als mühsam, zeitraubend und
nicht unmittelbar dankbar den wechselnden Assistenten zu über¬
lassen, die mangelhafte Bestimmung des Grades der Erkrankung,
die eigentlich nur durch sorgfältig angefertigte Gipsmodelle erzielt
werden kann, und die hiermit zusammenhängenden ungenauen An¬
gaben über das thatsächlich Erreichte, endlich, in begreiflichem
Zusammenhang mit diesen Momenten, die Neigung des zumeist den
unteren Klassen der Bevölkerung angehörenden Publicums, die
Kinder vorzeitig der Behandlung zu entziehen und bei eintretender
Verschlimmerung aus nahe liegenden Gründen nicht wieder zu er¬
scheinen — alle diese Umstände erklären die Schwierigkeit und
Mangelhaftigkeit der Statistik auf diesem Gebiete.
Aber selbst wenn wir alle diese Bedenken zugeben, bleibt die
statistische Ausbeute merkwürdig gering.
Sehen wir, was die einschlägige Literatur bietet.
Mit in erster Linie müssen hier zwei umfängliche Arbeiten
von Krauss jun. in Darmstadt (Deutsche Z. f. Chir. Bd. 27 S. 185
und Bd. 28 S. 317, 1888) genannt werden, die auf den von
Dr. Krauss sen. in der orthopädischen Klumpfussbehandlung ge-
Digitized by VjOOQle
116
Sprengel.
wonnenen Erfahrungen basiren und zu dem Resultat kommen, dass
von 64 behandelten und genau verfolgten Fällen 7,8 °/o die Behand¬
lung aufgaben, 76,6 °/o definitive Heilung fanden und 15,6 °/o, in den
verschiedensten Stadien der Heilung befindlich, noch in Behandlung
standen. Nehmen wir an, dass von diesen letzteren auch noch ca.
75°/o definitive Heilung fanden, so würde Krauss eine Heilungs¬
ziffer von etwa 86°/o unter seinen rein orthopädisch behandelten
Klumpfusskranken zu verzeichnen haben, ein gewiss sehr günstiges
Resultat, das indessen eine allgemein massgebende Bedeutung des¬
halb nicht beanspruchen darf, weil es sich im wesentlichen auf
Privatpatienten bezieht.
Der eben erwähnten Ziffer stehen gegenüber einmal die Resul¬
tate, die derselbe Autor bei fünf von einem nicht genannten »be¬
deutenden auswärtigen Chirurgen“ mit Talusexstirpation behandelten
und von Krauss jun. nach untersuchten Patienten fand, die nach
Krauss' Ansicht sämmtlich einen unbefriedigenden Erfolg, namentlich
starke Adduction und bedeutende Supination aufwiesen; dann aber
die mit der sicherlich generösen Erlaubniss Czerny*s von Krauss
angestellten Nachuntersuchungen der an der Heidelberger Klinik
behandelten Klumpfussfälle.
Krauss hat mit anerkennenswerther Mühe die zerstreut woh¬
nenden Fälle verfolgt und zum grossen Theile persönlich untersucht.
Er konnte in 126 rein orthopädisch behandelten Fällen nur 25mal
(also in etwa 20°/o) wirkliche Heilungen, 4 unvollkommene Hei¬
lungen und 35 „Besserungen“ feststellen.
Unter 13 operirten Fällen (5mal Talusexstirpation, sonst Keil¬
osteotomie) wurde nach Krauss nur einmal wirkliche Heilung,
mehrmals gar kein Erfolg, in den meisten Fällen Besserung erzielt.
Es war nur in den schwersten Fällen operirt worden. Czerny
selbst hebt in einer Anmerkung zu der Krauss’schen Arbeit her¬
vor, dass Krauss die Resultate der operativen Behandlung wohl
etwas zu gering geschätzt hat. Im übrigen nennt er selbst die
Resultate „unerfreulich“ und kommt auf Grund derselben zu der
Forderung, „womöglich alle Klumpfusskinder unentgeltlich aufzu¬
nehmen, mit Maschinen zu versorgen und zu behandeln“, — eine
Forderung, der wohl nur an besonders reich dotirten Anstalten ent¬
sprochen werden könnte. Wir werden auf beide Arbeiten noch zu¬
rückkommen.
An dritter Stelle möchte ich eine Arbeit von Hensel er-
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
117
wähnen (»Die Resultate der Klumpfussbehandlung in der chirurg.
Klinik zu Jena 1888—1893“, v. Langenb. Archiv Bd. 47 S. 358).
Indessen ist zu betonen, dass die Arbeit mehrere der oben bereits
erwähnten Schwierigkeiten keineswegs vermeidet. Aber auch wenn
man von zahlreichen statistischen Unzulänglichkeiten absieht und
alle diejenigen Fälle als günstige Ausgänge resp. als Heilungen be¬
trachtet, in denen functionell ein völlig befriedigendes Resultat erzielt
worden ist, selbst dann sind die Resultate der rein orthopädischen
Behandlung, wie sie nach Hensel’s Angaben an der Jenenser Klinik
erreicht wurden, weit entfernt, völlig zu befriedigen. Wir finden
unter 31 Fällen von angeborenem Klumpfuss 17 rein orthopädisch
resp. mit nebensächlichen Voroperationen, 4 nach Phelps, 11 mit
Osteotomien verschiedener Art behandelt. Unter den ersten 17 kann
man nur 5 als wirklich geheilt betrachten; von den letzten 11 würden
bei der gleichen Art der Beurtheilung 2 unter die Rubrik der völlig
Geheilten fallen. Von den 3 nach Phelps Operirten ist einer völlig
geheilt, 2 zeigen noch Adductionsstellung. Die vorstehende Be¬
urtheilung der Hensel'schen Fälle ist aus der der Arbeit beigefügten
Tabelle gewonnen. Das Urtheil, welches Hensel selbst im Texte
seiner Arbeit ausspricht, lautet etwas günstiger, insofern er von den
mit Tenotomie und Massage behandelten Kranken angibt, dass, ab¬
gesehen von einzelnen, namentlich angeführten Fällen, bei den übrigen
der Erfolg »theils leidlich, so dass vielleicht eine neue Operation
erforderlich sein wird, theils gut, theils sehr gut war“. Ebenso
gibt er von 4 nach Phelps operirten Patienten (darunter ein von
mir nicht mitgerechneter paralytischer) an, dass sie, abgesehen von
einem später osteotomirten Fall, ein »sehr gutes“ Resultat ergeben
hätten; die Operation wurde trotzdem nur kurze Zeit geübt.
Aus demselben Jahre 1894 stammt eine Arbeit von Schultze-
Duisburg, »Beitrag zur Behandlung des Klumpfusses“ (Zeitschrift
für orthopädische Chirurgie Bd. 3 S. 30G). Er bespricht 18 im
Verlaufe von 2 Jahren von ihm behandelte Fälle, in denen fast
ausschliesslich das König'sche Verfahren in Anwendung kam. Ver¬
fasser tritt, ebenso wie Graser, für Unterlassung der frühzeitigen
Tenotomie und für Verwendung des kreuzförmigen, mit in den Ver¬
band einzufügenden Fussbrettes ein. Die Arbeit ist deshalb be-
merkenswerth, weil sie eine grosse Zahl instructiver Abbildungen
enthält, aus denen man die erzielten Resultate ablesen kann. Manche
sind sehr befriedigend, bei mehreren würde ich die Heilung noch
Digitized by CjOOQle
118
Sprengel.
nicht als vollkommen, mindestens nicht als definitiv ansehen. Es
wird aus der Arbeit leider nicht ganz ersichtlich, ob die Patienten
dauernd oder für längere Zeit stationär behandelt wurden.
Mehrere Arbeiten, die nicht im eigentlichen Sinne als statistische
aufzufassen sind, können wir von eingehenderer Besprechung aus-
schliessen. Ich nenne die in der D. Z. f. Ch. Bd. 13 S. 114 ff.
und Bd. 23 S. 530 ff. erschienenen Arbeiten von Ried jun., »Bei¬
träge zur operativen Behandlung des Klumpfusses“, Schede
v. Langenb. Archiv Bd. 34 S. 263, Dumont, »Ueber die Total¬
exstirpation der einzelnen Fusswurzelknochen und ihre Endresultate 6 ,
D. Z. f. Ch. Bd. 17 S. 1 (1882) und könnte noch mehrere anführen.
Die in ihnen enthaltenen Aufzählungen sind meist nicht vom ortho¬
pädischen, sondern vom rein operativen Gesichtspunkt aus angestellt.
Wenn man will, kann man auch die Arbeit von v. Büngner hier
nochmals erwähnen. Die in derselben enthaltene Angabe, dass
»alle 21 Fälle, die in der Volkmann'schen Klinik nach Phelps
operirt wurden, auch quoad functionem den schönsten Erfolg auf¬
zuweisen hatten“, kann ohne genauere Unterlagen und ohne die
näheren Angaben, ob und nach welcher Zeit die erreichten Resultate
controllirt worden sind, keinen statistischen Werth beanspruchen.
Die Bedeutung der Arbeit, die ich als letzte Kundgebung Volk-
mann's in der Klumpfussfrage besonders hoch anschlagen möchte,
liegt nicht auf dem statistischen Gebiete.
Ebenso haben die in der Arbeit von Guide »Ueber die Talus¬
exstirpation beim Klumpfuss und ihre Erfolge“, Bruns* Beiträge
Bd. 10 S. 369 ff. citirten Angaben von Levy, Motta, Nozon-
Tilanus, die sich ebenfalls auf die Phelps’sche Operation beziehen,
nur einen beschränkten Werth, weil Mittheilungen über die erzielten
definitiven Resultate fehlen.
Bessel-Hagen, »Ueber die Pathologie des Klumpfusses und
Über die Behandlung hochgradiger veralteter Fälle mittelst der Talus¬
exstirpation“, 14. Congress für Chirurgie 1885 S. 76 ff., hat eine
kurze statistische Zusammenstellung der ihm bekannt gewordenen
Tarsotomien — 122 Fälle mit 5 Todesfällen, 45 schlechten Resultaten
und 20 Ilecidiven — sowie von 64 Talusexstirpationen — 1 Todesfall,
6 unvollkommene oder schlechte, 57 gute Resultate, unter welcher
Zahl freilich auch diejenigen Operirten inbegriffen sind, bei denen
die Abduction der Fussspitze noch zu tadeln war — gegeben, die
ebenfalls meines Erachtens keinen besonderen Werth beanspruchen
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
119
können, da sie schwerlich genau controllirt sind. Wenn Bessel-
Hagen anführt: „Wirkliche Recidive nach einer Talusexstirpation sind
mir gar nicht bekannt“, so ist das eine Aeusserung, die bei einem
Autor, der sich anscheinend so ernstlich mit der Klumpfussbehandlung
beschäftigt hat, wie Besse 1-Hagen, völlig unverständlich ist. Schon
die wenigen vorhandenen Statistiken widerlegen diese Anschauung
gründlich; überdies dürfte jeder Chirurg über genügende entgegen¬
stehende Erfahrungen verfügen.
Eine werthvolle Arbeit, freilich auch nur bezüglich der Resultate
der Talusexstirpation, verdanken wir der Bruns'schen Klinik, die
oben citirte Arbeit von Guide. Verfasser hat 19 Fälle von Talus¬
exstirpation (15 Individuen) nach einem Zeitraum von 9 Monaten
bis zu 5 Jahren nachuntersucht. Er unterscheidet die functionellen
Resultate von den kosmetischen und betont, dass die ersteren keines¬
wegs im directen Abhängigkeitsverhältniss zu den letzteren stehen,
namentlich konnte er beobachten, dass mehrere Kranke, bei denen
der Adductionswinkel (worunter der Winkel zu verstehen ist, den
die Richtungslinie des Fersenbeins mit der des Metatarsus III bildet,
resp. der zugehörige Supplementärwinkel) relativ gross ist, recht gut
gehen und umgekehrt. Als functioneil geheilt (Auftreten mit voller
Sohle, Möglichkeit weitere Wegstrecken zurückzulegen) kann man
von 15 Operirten 7 betrachten; die übrigen treten mehr oder weniger
mit dem äusseren Fussrande auf und haben zum grossen Theil eine
beschränkte Function. Die Adduction ist anscheinend in keinem
Falle völlig ausgeglichen; das kosmetische Resultat also in keinem
Falle ganz befriedigend. Die Resultate wurden im wesentlichen ohne
alle orthopädische Nachbehandlung erzielt, ein Vorgehen, das nach
meiner Ansicht auf einem allzugrossen Vertrauen in die Erfolge der
Talusexstirpation basirt und deshalb nicht nachahmenswerth erscheint.
Ueber rein orthopädisch erzielte Resultate gibt die Arbeit keinen
Aufschluss.
Wenn ich auf die bekannte verdienstvolle Arbeit von Lorenz,
„Ueber die operative Orthopädie des Klumpfusses (Wiener Klinik
1884, V und VI) hier nicht ausführlich eingehe, so geschieht es,
um Wiederholungen zu vermeiden. Die Arbeit beschäftigt sich, so¬
weit die Statistik in Frage kommt, mit der Abwägung der ver¬
schiedenen in der Klumpfussbehandlung empfohlenen Knochen¬
operationen. Wir werden weiter unten auf dieselbe zurückkommen.
Fasst man das statistische Ergebniss aus den vorstehend
Digitized by CjOOQle
120
Sprengel.
erwähnten deutschen Arbeiten zusammen — von der fremdländischen,
gerade auf diesem Gebiete sehr zersplitterten Literatur sehe ich ab —
so sagt man, glaube ich, nicht zu viel, wenn man dasselbe als auf¬
fallend spärlich bezeichnet. Will man aus demselben bestimmte
Schlüsse ziehen, was gewissen Bedenken unterliegen könnte, so dürften
es meines Erachtens nach nur die folgenden sein:
1. Es ist sicher, dass man, frühzeitigen Beginn
der Behandlung vorausgesetzt, in der besseren
Praxis bei ausreichender Unterstützung durch
intelligente Mütter oder Pflegerinnen, bei der
Behandlung des angeborenen Klumpfusses durch
blosse orthopädische Massnahmen in einer relativ
grossen Zahl von Fällen vollkommene Heilungen
erzielen kann.
2. Für die Behandlung des angeborenen Klump¬
fusses in den ärmeren und weniger intelligenten
Volksclassen hat die rein orthopädische Be¬
handlung, wie sie gegenwärtig von den meisten
Autoren geübt und empfohlen wird, zu be¬
friedigenden Resultaten bisher nicht geführt.
Aus diesen beiden Sätzen, die mit dem, was ich in meiner
eigenen Praxis und bei anderen, soweit sich mir Gelegenheit dazu
bot, gesehen habe, gut übereinstimmen, habe ich für mich den Schluss
gezogen, dass es wünschenswerth ist, die Klumpfussbehandlung in
der besseren Praxis und der poliklinischen resp. Hospitalpraxis schärfer
aus einander zu halten, als es gemeinhin geschieht. Diese Ein-
theilung ist im wissenschaftlichen Sinne anfechtbar und in praxi
überhaupt nur dann durchzuführen, wenn man mit dem Begriff den
Patienten aus den besseren Ständen zugleich die Voraussetzung grösserer
Intelligenz und günstigerer äusserer Lebensbedingungen verbindet und
andererseits zugibt, dass bei dem Publicum der Polikliniken und
Hospitäler diese Vorbedingungen im allgemeinen nicht vorhanden
sind. Unter dieser Vorbedingung, wobei ich beliebig viele Aus¬
nahmen zugebe und auch den Satz bereitwillig unterschreibe, dass
äussere Mittel, Intelligenz und Aufopferungsfähigkeit keineswegs
immer in geradem Verhältnisse zu einander stehen, halte ich jenen
Eintheilungsgrund, sobald er sich als praktisch erweist, für berechtigt,
und möchte an der Hand desselben die Regeln kurz besprechen,
deren Befolgung sich mir nach langjähriger Erfahrung und manchem
Digitized by VjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
121
Wechsel am besten bewährt hat. Ich ziehe hier natürlich nur den
gewöhnlichen Verlauf der Behandlung in Betracht; dass Ausnahmen
Vorkommen, ist selbstverständlich,
A. Klumpfussbehandlung in den gebildeten und besser
situirten Klassen.
Ich beginne die Klumpfussbehandlung — über den zweck-
massigsten Zeitpunkt dieses Beginns denke ich am Schlüsse kurz zu
sprechen — womöglich mit der Anfertigung eines genauen Gipsmodells.
Ein solches Modell, obwohl es nicht im engeren Sinne zur Therapie
gehört, wirkt doch insofern auf die Behandlung ein, als es einerseits
unser eigenes Urtheil über das, was wir erreicht haben, unterstützt,
andererseits den Eltern der behandelten Kinder in jedem Augenblicke
eine Controlle gestattet, die ihr Vertrauen in die ärztlichen Leistungen
steigert und ihren Eifer, dieselben zu unterstützen, immer von neuem
anfeuert. Für die technische Herstellung derartiger Modelle finden
sich in mehreren orthopädischen Lehrbüchern (cf. z. B. das vortreff¬
liche Hoffa’sche Lehrbuch) genügende Unterlagen. Selbstverständ¬
lich kann man auf verschiedenem Wege zum Ziele gelangen, und es
kommt in erster Linie darauf an, sich und sein Personal auf ein
bestimmtes Verfahren einzuüben.
Wichtiger ist die Frage, welche Stellung man dem abzugiessenden
Fusse geben soll. Die ungezwungenste Stellung wird die geeignetste
für die plastische Darstellung sein. Dabei ist namentlich bei ganz
jungen Kindern erforderlich, den Unterschenkel in gestreckter Stellung
leicht festzuhalten. In vielen dieser letzteren Fälle ist dies mit Sicher¬
heit nur in Narkose auszuführen, die man bisweilen auch zu etwelchen
schmerzhaften Manipulationen gleichzeitig verwerthen kann. Aber
selbst wenn sie lediglich für den Gipsabguss eingeleitet werden sollte,
halte ich es für besser, diesen Nachtheil mit in Kauf zu nehmen,
als auf diese beste und sicherste Art der Darstellung zu verzichten.
Die Photographie ist für die Beurtheilung eines Falles weit weniger
sicher und noch ungenauere Resultate ergeben die Versuche, die Ab¬
weichungen von der normalen Fussform durch Winkelmessung fest¬
zustellen, wie sie von verschiedenen Autoren gemacht worden sind.
Krauss (D. Z. f. Ch. S. 196 ff.), der sich am meisten für diese Me¬
thode erwärmt, empfiehlt den Winkel der Dorsalflexion, Supination
und Adduction zu messen. Die Beispiele, die er anführt, beziehen
Digitized by
Google
122
Sprengel.
sich übrigens auch nicht auf kleine Kinder, bei denen das Verfahren
wohl kaum einen Anspruch auf Zuverlässigkeit haben würde, sondern
auf mehr oder weniger veraltete Klumpfussformen. Einfacher und
zugleich zuverlässiger ist Messung des Winkels, den beim Klurapfuss
die Achse des Calcaneus mit dem Metatarsus III bildet, resp. des
zugehörigen Supplementärwinkels, auf dessen Bestimmung Guide
in seiner mehrfach citirten Arbeit Gewicht legt. Aber auch diese
Messung kann höchstens bei grösseren Kindern oder Erwachsenen
Gipsmodell oder Photographie ersetzen.
In der eigentlichen Behandlung, falls dieselbe frühzeitig, sagen
wir in den ersten Lebenswochen, beginnen kann, darf es als wichtigste
Aufgabe betrachtet werden, den Müttern der Kinder oder intelligenten
Pflegerinnen einen Begriff von der Massage des deformirten Fusses
und der allmählichen und beständig zu wiederholenden Geradrichtung
desselben (allmähliches Redressement) beizubringen. Diese Aufgabe
ist, selbst wenn man es mit verständigen und leidlich anstelligen
Personen zu thun hat, keineswegs ganz leicht. Mir ist der von
Gustav Hahn gemachte Vorschlag (17. Congress 1888, S. 155, 156),
wonach man den Eltern der Klumpfusskinder, ohne die letzteren ge¬
sehen zu haben, die häufige Geradrichtung des deformen Fusses an-
rathen soll, einfach unverständlich und gleichbedeutend mit dem Ver¬
zicht auf die Behandlung. Hält man letzteres thatsächlich für die
ersten Lebensmonate für zweckmässig oder zulässig, worüber sich
streiten lässt, so thut man besser, den Müttern der Kinder dies offen
zu sagen und wird, wie bei jeder Methode des laisser-aller, nur zu
leicht Gehorsam finden Will man aber durch das allmähliche Re¬
dressement, wie es zweifellos gerade in den ersten Lebensmonaten
möglich ist, thatsächlich etwas erreichen, so muss man sich die Mühe
geben, die Mütter wiederholt und sorgfältig anzuleiten und sich
wiederholt selbst überzeugen, ob sie das Redressement richtig aus¬
führen. Namentlich ist der häufig anzutreffenden Neigung zu begegnen,
die Kraft der Hände auf den Unterschenkel oder auf die Gegend
des oberen Sprunggelenkes wirken zu lassen. Ersteres ist nicht un¬
gefährlich, weil es bei den zarten kindlichen Knochen zu Verbie¬
gungen oder Infractionen des Unterschenkels dicht über dem Fuss-
gelenk führen kann, und letzteres ist zwecklos. Alle redressirenden
Manipulationen bei kleinen Kindern müssen in erster Linie auf die
Beseitigung der Adductionsstellung gerichtet sein, also in der Gegend
des Ch op art’schen Gelenkes resp. noch weiter peripher angreifen.
Digitized by ejOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses. 123
Ist die Adduction mit Erfolg bekämpft, so geben die Abweichungen
im Sinne der Supination und Plantarflexion meist relativ leicht nach;
eventuell sind sie durch spätere Massnahmen gut zu beeinflussen.
Massage und manuelles Redressement sind täglich mehrmals
vorzunehmen; in der Zwischenzeit ist der Fuss, um störende Oedeme
zu verhüten, mit dünnen Flanellbinden sorgfältig zu wickeln und
letztere durch aufgelegte, nicht entfettete Polsterwatte gegen Durch-
nässung zu schützen.
Ist die Deformität überhaupt für diese einfachste Form der
Behandlung geeignet, so findet man sehr bald — meist schon nach
wenigen Wochen — deutliche Besserung und damit bei den Müttern
die beste Unterstützung und Förderung der ärztlichen Rathschläge.
Ein so schneller Erfolg ist indessen nur bei den leichtesten
Formen des Klumpfusses zu erwarten und deshalb ist es auch nur
bei diesen möglich, die Behandlung auf Massage und manuelles
Redressement zu beschränken.
In weitaus den meisten Fällen wird bei den Müttern und auch
bei den behandelnden Orthopäden sehr bald der Wunsch rege, das,
was durch die methodische Geradrichtung erzielt- !
ist, dauernd zu fixiren. Aus naheliegenden Gründen
können in diesem Stadium der Behandlung alle
complicirteren Apparate, zu deren Herstellung und
Application der Bandagist herangezogen werden
muss, nicht in Frage kommen. Dagegen wird man
einfache, leicht anzulegende und den Pflegerinnen
der Kinder zu überlassende Schienen, wie sie von
den verschiedensten Autoren, aus den verschieden¬
sten Materialien construirt, empfohlen worden sind,
nicht entbehren können. Die Aufzählung derselben
gehört nicht hierher. Ich selbst benutze seit langer
Zeit den nebenstehenden, von jedem Klempner leicht anzufertigenden
Apparat 1 ). Derselbe wird aus nicht zu starkem, mit einiger Kraft zu
biegendem Blech hergestellt und besteht aus einem Fussbrett und
einer mit demselben verbundenen, an der äusseren Seite des Unter¬
schenkels entlang verlaufenden, etwas hohl geformten Blechschiene.
Der ebenfalls aus Blech hergestellte Fusstheil hat an der Innenseite
der Ferse einen nach oben vorspringenden Rand, um das Abgleiten
*) Die Abbildung ist leider missglückt. Namentlich müsste die Blech¬
zunge wesentlich weiter nach vorne gerückt erscheinen.
Digitized by VjOOQle
124
Sprengel.
der Ferse nach einwärts zu verhüten, und ebenso befindet sich vorn
und einwärts eine Blechzunge, die ungefähr der Höhe des Köpfchens
vom Metatarsus I entspricht und so biegsam sein muss, dass sie bei
Anlegung der Schiene abgebogen und nach richtiger Lagerung des
möglichst redressirten Fusses wieder über den Metatarsus weg ge¬
bogen werden kann. Der dem Fusse zugekehrte Theil des Fuss-
brettes wird, damit der Fuss einen besseren Halt findet, mit einem
entsprechend dem Fussbrette zugeschnittenen Stück poroplastischen
Filzes bedeckt. Den Fuss selbst umwickelt man, um jeden Druck zu
vermeiden, mit einer dünnen Flanellbinde. Ausserdem wird er an
der Innenseite der Ferse und vorn, wo die innere Blechzunge an¬
greift, durch ein kleines Wattepolster gut geschützt. Einigermassen
intelligente Mütter und Pflegerinnen üben sich schnell auf den Ge¬
brauch der Schiene ein, die in dem früheren Stadium fast immer
brauchbar, manchmal auch für die weitere Behandlung ausreichend
ist. Noch sicherer wirkt der kleine Apparat, wenn man sich zur
Fixirung des Fusses an demselben einiger Heftpflasterstreifen bedient.
Kommt man mit diesem einfachsten Hilfsmittel nicht zum Ziel,
so kann man mit Erfolg einen Apparat verwenden lassen, der sich
mir in einer Reihe von Fällen gut bewährt hat. Derselbe ist m der
nachstehenden Abbildung dargestellt. Ich brauche kaum zu bemerken,
Fig. 2.
dass ich mich bei der Construction desselben an verschiedene be¬
kannte Muster angelehnt, wenn man will, eine Combination mehrerer
derselben vorgenommen habe. Bekanntlich hat Lauenstein auf
dem 23. Congress der deutschen Gesellschaft für Chirurgie (1894)
einen Apparat demonstrirt, dazu bestimmt, die Innenrotation des
Fusses und Beines bei angeborenem Klumpfuss, oder auch die blosse
Digitized by ejOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
125
»fehlerhafte Einwärtsrichtung der Fussspitzen, wie man sie gelegent¬
lich ohne Klumpfuss sieht“, zu bekämpfen. Der obenstehende Apparat
kann zu demselben Zwecke gebraucht werden, mit grösserem Vor¬
theil aber beim directen Redressement der Klumpfussstellung selbst
seine Anwendung finden. Man sieht aus einer einfachen, viereckig
geschnittenen Holzleiste (a), deren Länge zweckmässigerweise der
Breite eines Kinderbettes entspricht, zwei runde Stäbe (£, b) hervor¬
ragen, die mit ihrem unteren Ende in die Querleiste so eingelassen
sind, dass sie in jeder Neigung durch eine Schraube (c) fixirt werden
können. An diesen runden Stäben lassen sich, ungefähr entsprechend
der Fusssohlenform zugeschnittene, Brettchen (d) bewegen und in
jeder Höhe feststellen, die, mit seitlichen Hebelarmen versehen, den
von Eugen Hahn empfohlenen Fussbrettchen nachgebildet sind und
an dem Ende der seitlichen Hebelarme kleine Ringe (e) zur Be¬
festigung einer elastischen Schlinge tragen. Diese Schlinge soll dazu
dienen, die Enden der Hebelarme gegen einen senkrecht gestellten
Stab if) anzuziehen, der an beliebiger Stelle einer horizontal von der
Holzleiste entspringenden, feststellbaren und in seitlicher Richtung
beweglichen Schiene (p) eingesetzt wird. Hat man die zuvor massirten
und durch methodisches Redressement nachgiebig gemachten defor-
mirton Füsse an dem Fussbrett (d) mittelst Binden oder Heftpflaster¬
streifen gut und sicher befestigt (oder richtiger gesagt, die abnehm¬
baren Fussbrettchen an die Fusssohlen angelegt und dann wieder an
dem senkrechten Stab fixirt), so kann man mit Hilfe der an den
langen seitlichen Hebelarmen wirkenden elastischen Schlingen einen
ausserordentlich kräftigen Zug ausüben und dadurch namentlich im
Sinne der Abduction sehr energisch redressirend wirken. Wegen
dieser sehr energischen und deshalb meist nicht schmerzlosen Wirkung
pflege ich den Apparat täglich nur für kürzere Zeit, höchstens für
einige Stunden zu verwenden, während welcher Zeit die Kinder im
Bett liegen müssen. Später werden die Füsse wieder auf den zuerst
beschriebenen Blechschienen fixirt.
Es darf nicht verschwiegen werden, dass die Verwendung dieses
Apparates nicht ganz leicht zu erlernen und nicht schmerzlos ist und
daher an die Intelligenz und die Energie der Pflegerinnen gewisse
Ansprüche macht. Sind diese Eigenschaften vorhanden, so wird
man mit dem Apparat, dessen Zweckmässigkeit, wie ich
glaube, auf der Hand liegt, günstige Erfahrungen machen,
entgegengesetzten Falles sieht man besser von vornherein davon ab,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 9
Digitized by CjOooLe
126
Sprengel.
ihn zu versuchen,. um nicht das Vertrauen seiner Clienten unnöthig
auf die Probe zu stellen.
Man wird sich in zweifelhaften Fällen um so eher dazu ent¬
schlossen, als es eine Art der Fixation gibt, welche ebenso wie der
zuletzt beschriebene Apparat die Verwendung des Princips des
elastischen Zuges gestattet, nur mit dem Unterschiede, dass diese
Verwendung in die Hände des Orthopäden und nicht in die der An¬
gehörigen des Kranken gelegt ist. Dieser „elastische Verband*
hat sich bei mir allmählich aus den Heftpflasterverbänden heraus
entwickelt, wie sie wohl zuerst von Sayre (cf. Hoffa, Lehrbuch
der orthop. Chirurgie, 2. Aufl. S. 680 Fig. 512) empfohlen wurden,
und wie ich sie zuerst von Phelps bei seinem Besuch in meinem
Hospital habe anwenden sehen. Phelps hatte wohl am consequentesten
das Princip durchgeführt, sich in der Orthopädie, namentlich der
poliklinischen Ausübung derselben, völlig unabhängig vom Bandagisten
zu machen, und wandte es auch auf seine Heftpflasterklumpfuss-
verbände an. Er stellte dieselben dadurch her, dass er einen Heft¬
pflasterstreifen, der um den vorderen Theil des Fusses herumlief, an
der Aussenseite mit einem selbstgebogenen Drahthaken armirte und
eine zweite ebenfalls mit einem Haken armirte Heftpflasterplatte
durch Pflasterstreifen auf der Aussenseite des Oberschenkels befestigte.
Beide Haken wurden durch ein einfaches (nicht elastisches) Band bei
möglichst abducirter Stellung des Fusses verbunden. Dem Verband
lag ein richtiges Princip zu Grunde; die Durchführung desselben war
aber unvollkommen, weil der Stützpunkt des Verbandes lediglich die
Innenseite des ersten Metatarsus war und der Fersentheil des Fuss-
skelets und damit die supinirte Stellung des Klumpfusses nicht hin¬
länglich beeinflusst wurde. Ich habe deshalb den Verband in mehr¬
facher Hinsicht modificirt. Zunächst in der Weise, dass ich in
denselben ein aus Blech geschnittenes Fussbrett einschaltete und dem¬
selben— genau wie bei dem Fussbrett der Klumpfuss-
schiene (Fig. 1), nur dass vorn aussen, gegenüber der Blechzunge,
ein Haken eingelassen ist — einen vorderen (am Metatarsus) und
hinteren (an der Innenseite des Fusses) Stützpunkt gab. Gegen diese
Fussplatte wird der nach Möglichkeit corrigirte Fuss fixirt, was in
sehr sicherer Weise durch Heftpflasterstreifen geschieht, von denen
der eine über die Sohle des Fussbrettes und Wade verläuft und so
die Ferse fest gegen das Fussbrett anzieht, der zweite quer über
den Metatarsaltheil, also in der Höhe der vorderen Blechzunge und
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses. 127
über dieselbe hinweg geht, um den vorderen Theil des Fusses fest¬
zuhalten, und der dritte und vierte, von dem Fersentheil des Fuss-
brettes innen und aussen beginnend, sich auf der Vorderseite des
Unterschenkels kreuzen. Befestigt man, um den Reibungswiderstand
zu erhöhen, auf dem Fussbrett eine entsprechend geschnittene Platte
von poroplastischem Filz und polstert die beiden Blechbügel gut mit
Watte aus, so kann man den Fuss absolut fest fixiren (worauf alles
ankommt) und nun einen ener¬
gischen Zug auf denselben wir¬
ken lassen. Dieser Zug wird
durch eine elastische, mittelst
eines undurchlöcherten Drain¬
rohrs leicht herzustellende
Schlinge ausgeübt, welche den
an der Aussenseite des Fuss-
brettes in der Höhe des Meta¬
tarsusköpfchens angebrachten
Haken mit einem Ring verbin¬
det, der, in eine Heftpflaster¬
platte eingelassen, an der Aussen¬
seite des Oberschenkels befestigt
wird.
Umwickelt man die eben
beschriebenen Theile des Ver¬
bandes fest und sorgfältig mit
einer Binde und legt nun die
elastische Schlinge an, so kann
man sich überzeugen, wie stark
und zweckmässig der ausgeübte elastische Zug wirkt. Um den Ver¬
band selbst zu verstärken und damit seine Dauerhaftigkeit zu erhöhen,
pflege ich die oberste, mit einer angefeuchteten Binde hergestellte
Schicht reichlich mit Wasserglas, durch energisches Bepinseln, zu
tränken, wobei ich die Gegend des Fussgelenks freilasse, um die Wir¬
kung des elastischen Zuges nicht zu hemmen. Wird nachträglich, d. h.
im Verlaufe der ersten 24 Stunden, auch diese Stelle allmählich mit
Wasserglas imbibirt und nachträglich etwas fester, so macht das
wenig aus; es kommt hauptsächlich darauf an, den elastischen Zug
zu Anfang, d. h. in den ersten 24 Stunden wirken zu lassen.
Ein solcher Verband kann unter den mehrfach erwähnten Vor-
Fig. 3.
Digitized by VjOOQle
128
Sprengel.
sichtsmassregeln, selbst bei unsauberen Kindern, 8—10 Tage liegen
bleiben. Eine länger dauernde Anwendung, wenigstens in einem
Zuge, verbietet sich meist schon wegen der immerhin reizenden Ein¬
wickelung mit Heftpflasterstreifen, ist ausserdem überflüssig, weil die
Wirkung eines einzigen, gut angelegten Verbandes auf längere Zeit
hinaus bemerkbar bleibt. In Pausen von einigen Wochen werden
die elastischen Verbände, wenn nöthig, wiederholt. In der Zwischen¬
zeit thut man gut, um nicht durch das leicht auftretende Oedem den
Erfolg zu stören, durch Gipsverbände oder durch Massage und straffe
Einwickelungen auf die Deformität einzuwirken.
Es ist erforderlich, dass man sich eine grössere Zahl der Fuss-
platten, die vom Klempner sehr billig hergestellt werden, vorräthig
hält, um sofort die richtige Auswahl treffen zu können. Vor allem
aber kommt es auch bei diesem scheinbar einfachen Verband darauf
an, sich die Technik seiner Anlegung vollständig anzueignen. Hat
man Assistenten und Schwestern gut geübt, so kann man den
„elastischen Verband“ in etwa 3—4 Minuten exact anlegen. Man
wird anfangs gelegentlich erleben, dass der Verband nachgibt oder
umgekehrt, dass er Druckstellen macht oder im ganzen zu fest ist,
und ich gebrauche deshalb noch heute die Vorsicht und möchte sie
auch anderen empfehlen, die Mütter der Kinder in derselben Weise
zu instruiren, wie bei einem poliklinisch angelegten Gipsverband. Es
empfiehlt sich der Einfachheit und Sicherheit wegen, gleich gedruckte
Zettel mit den entsprechenden Vorschriften mitzugeben, damit für
die Kranken und den behandelnden Arzt keinerlei Unannehmlich¬
keiten entstehen.
Um Zusammengehöriges nicht zu trennen, habe ich den elastischen
Verband schon hier angereiht. Genau genommen, d. h. wenn wir
die uns zu Gebote stehenden Hilfsmittel nach der ihnen innewohnenden
Wirkung besprechen wollen, hätte er eigentlich erst etwas später
erwähnt werden müssen, da ich in den meisten Fällen den elastischen
Verband erst nach dem jetzt zu besprechenden Gipsverbande, oder
abwechselnd mit demselben in Gebrauch zu ziehen pflege.
Der Gipsverband gehört zu den unentbehrlichsten ortho¬
pädischen Hilfsmitteln in der Behandlung des angeborenen Klump-
fusses. Seine Leistungsfähigkeit ist unbestritten; ja, sie ist zu neuer
Anerkennung gekommen, seit Ileineke die Technik der redres-
sirenden Gipsverbände verbessert, Julius Wolff in wiederholten
Schriften den von ihm in enger Anlehnung an die Heineke’sche
Digitized by
Google
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
129
Methode construirten sogen. Etappen verband empfohlen, König sich
für das unblutige gewaltsame Redressement mit nachfolgendem Gips-
verbande ausgesprochen und Graser (Langenb. Archiv Bd. 37 S. 824
und Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1888)
aus der Erlanger Klinik seine bemerkenswerthen, wesentlich dem
Redressement und dem Gipsverbande zu dankenden Resultate ver¬
öffentlicht hat. Worüber man indessen auch heute noch streitet, ist
der Zeitpunkt, wann die Gipsverbandbehandlung einzuleiten ist. Die
meisten Autoren, auch Graser z. B„ sind der Ansicht, dass die Be¬
handlung zwar möglichst frühzeitig begonnen, die Immobilisirung
aber (meist) bis nach Vollendung des ersten Lebensjahres verschoben
werden soll, unter der Begründung, dass im ersten Jahre die zarte
Haut der Kinder, das beständige Durchnässen etc. den Werth der
Gipsverbände illusorisch resp. ihre Anwendung gefährlich mache.
Ich kann nach meinen Erfahrungen dieser Anschauung nicht
beitreten und möchte den Gipsverband auch im ersten Lebensjahre
der Kinder nicht entbehren. Wenn man die Gipsverbände mit nicht
entfetteter, für Feuchtigkeit undurchlässiger Watte gut umwickelt
und ausserdem die Windeln sorgfältig anlegen und häufig wechseln
lässt, so ist das Durchnässen des Verbandes mit seinen bekannten
unangenehmen Folgeerscheinungen absolut nicht zu fürchten. Ich
habe Wochen und Monate lang in Fällen, bei denen aus äusseren
Gründen keine andere Behandlung zulässig war, auch von Kindern
im ersten Lebensjahre Gipsverbände tragen lassen und fast immer
gefunden, dass selbst wenig intelligente Mütter die kleinen Schutz¬
vorrichtungen schnell und sicher anwenden lernten. Das vorstehende
Verfahren ist vielleicht noch einfacher als das von K. Roser: „Bei¬
träge zur Lehre vom Klumpfusse und vom Plattfusse“ S. 43 an¬
gegebene. Ich möchte aber auch das, was Roser über die An¬
legung des Gipsverbandes bei kleinen Kindern sagt, hierhersetzen.
Roser sagt: „Als einen Hauptübelstand bei der Gipsverbandbehand¬
lung hebt Vogt hervor, dass der Verband bei den Neugeborenen
immer mit Urin durchtränkt werde. Diese Urindurchtränkung ist
aber sehr leicht zu vermeiden, wenn man entweder die oberen Grenzen
des Verbandes mit breiten Heftpflasterstreifen umwickelt, oder wenn
man über den ganzen Verband eine Art von Gummihose, die über
dem Knie elastisch an die Haut anschliesst, hinzieht, oder wenn man
— und das ist das Allereinfachste und Sicherste — das verbundene
Beinchen hochlagert. Wenn das Beinchen so auf eine Rolle auf-
Digitized by VjOOQle
130
Sprengel.
gebunden wird, dass bei Rückenlage des Kindes Hüft- und Knie¬
gelenk rechtwinklig gebeugt sind, dann kann der Verband nicht
mit Urin durchnässt werden. Die Hochlagerung hat ausserdem noch
den Vortheil, dass sie die Circulation in dem redressirten Füsschen
erleichtert.“
Bezüglich der Technik, die für den Klümpfussverband besonders
wichtig ist, enthalten die neueren orthopädischen Lehrbücher hin¬
längliche Vorschriften. Ich möchte nur folgende Punkte hervorheben:
1. Die Gipsbinden müssen mit grosser Sorgfalt präparirt
werden. Ich benutze relativ kurze (2 m lange, 6—7 cm
breite) Binden von ziemlich engmaschiger, nicht stark
appretirter Gaze, in welche der Gips sorgfältig und energisch
mit der Hand eingerieben werden muss. Der Gips
soll in den trockenen Binden festhaften, die Maschen der¬
selben ausfüllen. Nur so kann man mit wenigen Binden
auskommen und erzielt nicht bloss einen äusserlich schöneren,
sondern auch insofern einen zweckmässigeren Verband,
weil man auch nach Anlegung desselben die Form des
Fusses erkennen und beurtheilen kann, wie weit das Re¬
dressement gelingt. Dicke und plumpe Gipsverbände
cachiren die Form vollkommen.
2. Die eigentliche Fixation des Fusses in der bestmöglichen
Stellung (ich meine hier nicht das gewaltsame Redresse¬
ment, auf das ich später zu sprechen komme) ist erst in
dem Momente vorzunehmen, wo der Gips erstarrt. Be¬
kanntlich hat auf diesen Punkt namentlich Heineke
hingewiesen, dessen Vorschriften von neuem in der mehr¬
fach citirten Arbeit von Graser niedergelegt sind.
Heineke legt ausserdem Gewicht darauf, dass der Fuss
während der Anlegung des Gipsverbandes durch Flanell-
bindcnzügel in Pronationsstellung gedrängt wird. Wenn
man den Verband nicht zu stark unterpolstert, so ist es
nach meiner Erfahrung, namentlich bei kleineren Kindern,
bei denen die Bindenzügel die Anlegung des Verbandes
compliciren würden, erlaubt, ganz von der Verwendung
der Zügel abzusehen. Es genügt, — vorausgesetzt, dass
nicht die Correctur selbst, sondern nur die Fixation des
Fusses in einer bestimmten, schon vor Anlegung des Ver¬
bandes erreichbaren Stellung durch den Gipsverband an-
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
131
gestrebt wird — erst im Moment, wo der Gips nahezu
fest erstarrt ist, durch einen kurzen und kräftigen Ruck
den Fuss in der bestmöglichen Stellung festzuhalten.
3. Bei fetten Füssen kleiner Kinder ist es zweckmässig, auf
die Wattepolsterung zu verzichten und nur eine Flanell¬
binde unterzulegen, weil es selbst bei ganz exact an¬
gelegten Verbänden Vorkommen kann, dass die Kinder
nach einiger Zeit die Verbände abstreifen. Ebenso ist
die Flanellunterlage rathsam in den Fällen, wo eine voll¬
kommene Correctur erreicht ist und wo es sich nur um
Anlegung eines „Gipsgehverbandes“ handelt.
4. Es kann nothwendig sein, zwischen je zwei Gipsverbänden
die Füsse für einige Tage ohne Verband zu lassen. In
diesen Fällen muss man neben regelmässigen Bädern,
Massage etc. ganz besonders Gewicht legen auf sorg¬
fältiges und festes Einwickeln der Unterschenkel mit
Flanellbinden, um störende Oedeme zu verhüten. In
schwierigeren Fällen thut man gut, die Pausen zwischen
denVerbänden auf eine möglichst geringe Dauer ein¬
zuschränken. Die so oft berufene Atrophie der Musculatur
ist weit weniger zu fürchten, als die schnelle Wiederkehr
einer ungünstigen Fussstellung. Man gebe dem Fusse
möglichst rasch eine für den Gebrauch günstige Form
und man wird die Function und Kraft der Muskeln schnell
zurückkehren sehen.
Die Indication für den Gipsverband lässt sich sehr kurz fassen.
Er soll das durch langsames oder forcirtes Redressement
Erreichte fest halten. Daraus folgt, dass er in jedem Stadium
der Behandlung zur Anwendung kommen kann, sobald ein gewisser
Grad der Correctur erreicht ist. In den Fällen aus den besser
situirten Klassen, die ich bis jetzt besprochen habe, w T ird es relativ
häufig Vorkommen, dass man in den ersten Lebensmonaten von der
Anwendung des Gipsverbandes absieht, weil man die Behandlung
ganz frühzeitig beginnen kann, während derselben sorgfältige und
intelligente Unterstützung findet und deshalb mit den oben erwähnten
einfacheren Mitteln zum Ziele kommt. Principiell sehe ich aber über¬
haupt keinen Grund, den Gipsverband auf eine spätere Zeit zu ver¬
schieben; ja, ich halte es für einen ganz besonderen Vortheil, die
Klumpfüsse womöglich schon vor Ablauf des ersten Jahres voll-
Digitized by
Google
132
Sprengel.
ständig zu corrigiren und im Gipsverband zu fixiren, damit die Kinder
ihre ersten Gehversuche mit normal- oder doch möglichst wohl¬
geformten Füssen unternehmen. Ich mache deshalb auch bei Kindern
aus der besseren Praxis im Laufe des ersten Lebensjahres, meist vom
2. bis 3. Monate an, oft genug vom Gipsverbande Gebrauch. Ein
Unterschied in der Anwendung des Gipsverbandes gegenüber der
poliklinischen Praxis besteht nur insofern, als ich denselben hier
relativ häufig dem später zu besprechenden forcirten Redressement
folgen lasse, während er dort gewöhnlich zur Fixation des durch
langsames und methodisches Redressement corrigirten Klumpfusses
dient. Freilich durchaus nicht immer, ln den wirklich schweren
Fällen — ich rechne darunter, abgesehen von den veralteten Klump¬
füssen, die in der besseren Praxis wohl äusserst selten Vorkommen,
diejenigen Formen, bei denen eine ungewöhnlich starke und feste
Adduction durch starre Sehnen- und Fasciencontractur oder eine sehr
beträchtliche, dem Redressement unüberwindlichen Widerstand bietende
Prominenz des Talus und des Proc. anterior Calcanei besteht —
werden wir selbstverständlich in der besseren, wie in der poliklinischen
Praxis zu entsprechend eingreifenderen Massnahmen schreiten müssen.
Namentlich wird das forcirte unblutige Redressement keineswegs zu
entbehren sein. Da es indessen ungleich häufiger in der poliklinischen
Praxis zur Verwendung gelangt, so gedenke ich weiter unten darauf
zurückzukommen, wie ich auch meinen Standpunkt gegenüber den
blutigen operativen Eingriffen bei den Fällen der nunmehr zu be¬
sprechenden Rubrik präcisiren werde.
B. Klumpfussbehandlung in der poliklinischen Praxis.
Bezüglich der vorbereitenden Massnahmen: Gipsmodell, photo¬
graphische Aufnahme des deformirten Gliedes, Messung etc. gelten
für die Fälle der poliklinischen Thätigkeit selbstverständlich die ein¬
gangs gegebenen Regeln, höchstens mit der Verschärfung, dass sie
im Interesse der weiteren genauen Verfolgung der Fälle und der von
ihnen zu erhoffenden moralischen Einwirkung mit womöglich noch
grösserer Consequenz durchzuführen sind.
Für die Behandlung ist als oberster Grundsatz voranzustellen,
dass mit allen Mitteln eine möglichst schnell sichtbar
werdende Besserung der Deformität anzustreben ist.
Nur wenn dies gelingt, kann man hoffen, die Geduld und Opfer-
Digitized by VjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
133
Willigkeit der Angehörigen, die bei einem Klumpfussfall ohnehin auf
eine harte Probe gestellt werden, bis zur Erzielung eines befriedigenden
Resultates zu erhalten. Demnach kommen die oben erwähnten
Hilfsmittel natürlich auch für die Fälle der poliklinischen
Praxis sehr ernsthaft in Betracht, aber man wird gut
thun, sie im allgemeinen in etwas schnellerer Folge zu
verwenden, und falls es sich herausstellt, dass die
Besserung zu lange ausbleibt, auch vor eingreifenderen
Mitteln nicht zurückzuschrecken.
Für die einzelnen Etappen der Behandlung möchte ich folgendes
erwähnen.
Das methodische manuelle Redressement, mit dem
man auch bei jedem poliklinisch behandelten frühzeitig zur Beob¬
achtung kommenden Klumpfusskinde die Behandlung beginnen muss,
kann den betreffenden Müttern nicht durch blosse Unterweisung in
der poliklinischen Sprechstunde beigebracht werden. Sollen sie es
wirklich mit Erfolg verwenden lernen, so müssen sie mit den Kindern
ftir einige Zeit ins Hospital aufgenommen werden, wie Schönborn
und Czerny empfohlen haben. Ich halte es für zweckmässig, auch
in diesem Punkte nicht zu hohe Anforderungen zu stellen und ziehe
deshalb vor, die Mütter lieber mehrfach, wenn es sich um eine
Aenderung des Regimes, um die Erlernung einer weiteren Behand¬
lungsmethode handelt, von neuem aufzunehmen, als sie gleich an¬
fangs zu lange im Hospitale zurückzubehalten. Für den Beginn
genügen meist 8—10 Tage. In dieser Zeit werden aber die Mütter
förmlich dressirt und an gehalten, mir womöglich jeden Tag die ge¬
machten Fortschritte zu produciren. Sie werden dann zunächst ent¬
lassen und zu regelmässiger Controlle in Pausen von 10—14 Tagen
wieder bestellt. Erweisen sich die Fortschritte als unerheblich, oder
bleiben sie ganz aus, oder stellen sich die Mütter zu ungeschickt an,
was in keineswegs seltenen Fällen derartige Kuren zur völligen Un¬
möglichkeit macht, so setze ich das Verfahren des methodischen
Redressements nicht allzulange fort. Man würde nur riskiren, die
Kinder aus der Behandlung zu verlieren.
In solchen Fällen, namentlich wenn Nachlässigkeit oder grosses
manuelles Ungeschick der betreffenden Mutter vorliegt, hat auch der
Versuch mit der Schienenbehandlung keinen rechten Sinn und die
Anwendung des von mir beschriebenen Hebelapparates (cf. Fig. 2)
ist, abgesehen von den wenn auch geringfügigen Unkosten, meist
Digitized by CjOOQle
134
Sprengel.
schon deshalb undurchführbar, weil sie das Zusammenwirken von
mindestens zwei Personen erfordert, die in ärmlichen Verhältnissen
nicht immer zur Verfügung stehen.
Man thut unter diesen Umständen gut, relativ frühzeitig solche
orthopädische Hilfsmittel zu wählen, deren Anwendung nicht von
der Geschicklichkeit und Willfährigkeit der Angehörigen unserer
Patienten abhängig ist, sondern ausschliesslich in unseren eigenen
Händen ruht.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich an dieser Stelle
ausdrücklich bemerken, dass man auch in der poliklinischen Praxis
keineswegs generell auf die Anwendung der langsam wirkenden Be¬
handlungsmethoden (Redressement, Schienen etc.) verzichten soll.
Ich bin sehr häufig Frauen begegnet, die mit geradezu bewunderns-
werther Ausdauer und Energie unsere Anordnungen befolgten und
auch in der Anwendung complicirter Apparate, Ausübung der
Massage etc. in kurzer Zeit eine höchst erfreuliche Fertigkeit er¬
langten.
Fig. 9 der Abbildungen stellt einen solchen Fall dar, der in
Wirklichkeit einen noch wesentlich günstigeren Eindruck machte,
als die Photographie, deren Herstellung bei dem kleinen und natur-
gemäss widerstrebenden Kinde auf erhebliche Schwierigkeiten stiess,
wiederzugeben vermag. Krankengeschichte siehe unter Nr. 19.
Solche Fälle sind durchaus nicht selten; aber jeder, der sich
mit der Klumpfussbehandlung abgegeben hat, weiss, dass es auch
an den entgegengesetzten Beobachtungen nicht fehlt, in denen die
moralische Kraft der Frau nicht ausreicht, um unter den zahllosen
Widerwärtigkeiten, mit denen die Frauen aus den niedrigeren Volks¬
klassen so oft zu kämpfen haben, auch noch den an sich schweren
Anforderungen zu genügen, welche die allmählich redressirende Be¬
handlung des Klumpfusses an dieselben stellt.
Liegen solche Verhältnisse vor, so empfehle ich, wie gesagt,
ein schnelleres Vorgehen, das nur in der frühzeitigen Anwendung
redressirender Verbände bestehen kann.
Der Gipsverband ist in der poliklinischen Klump¬
fussbehandlung geradezu unentbehrlich.
Es soll auch hier das festhalten, was durch das vorangegangene
Redressement erreicht ist; das Redressement selbst aber kann unter
den gegebenen Bedingungen kein langsam und allmählich wirkendes,
muss vielmehr ein mehr oder weniger gewaltsames sein.
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
135
Man kann mit dem gewaltsamen Redressement der Klumpfüsse,
von dem König, der es mit so grossem Nachdruck empfohlen hat,
betont, dass es „am meisten bei den Klumpfüssen der im Pubertäts¬
alter stehenden Kranken verspreche“, auch bei den Klumpfüssen
kleiner Kinder oft mit dem besten Erfolg Gebrauch machen, sei es,
dass man sich der von König empfohlenen keilförmigen Schiene
bedient oder ohne dieselbe operirt. Wenn es die Form des Fusses
irgend zulässt, ziehe ich den ersteren Modus entschieden vor, weil
er die Einwirkung der angewandten Gewalt ausschliesslich auf den
Fuss selbst am sichersten garantirt und somit vor unbeabsichtigten
Infractionen des oft sehr wenig widerstandsfähigen Unterschenkels
schützt. Ich habe diese Infractionen in den seltenen Fällen, in denen
sie mir passirt sind, immer als sehr unangenehme Störungen der
weiteren Behandlung empfunden, weil sie gewöhnlich schwer con-
solidiren und leicht dauernd eine hässliche, auch in späterer Zeit ein
normales Auftreten verhindernde Ausbiegung des Unterschenkels zu¬
rücklassen, und möchte dies im Gegensatz zu der Anschauung Königs,
der „irgend einen Schaden nach einem solchen Einknicken des Unter¬
schenkels dicht am Sprunggelenk nicht gesehen haben will“, aus¬
drücklich betonen. Die untere Extremität bekommt eine Form, wie
sie sich auf der Abbildung zu Krankengeschichte Mrosk Nr. 13
präsentirt. Dieselbe betrifft ein Kind, das in den Jahren 1893 bis
1894 wegen doppelseitigen Klumpfusses in poliklinischer Be¬
handlung war, die vorwiegend in der Anlegung von Gipsverbänden
bestand. Dieselbe hatte links ein absolut vollkommenes, rechts ein
nicht ganz befriedigendes Resultat, obwohl sich das Kind ausgezeichnet
mit dem Bein bewegt und mit voller Sohle auftritt. Ich kann nicht
sagen, ob in diesem Falle eine Fractur im Laufe der Behandlung
entstand, in der kurzen Krankengeschichte finde ich keine Notiz
darüber; aus der Form, die das Bein gegenwärtig hat, möchte ich
es nach Analogie sonstiger Erfahrungen mit Sicherheit schliessen.
Der Zeitpunkt, wann zu dem gewaltsamen Redressement über¬
zugehen ist, lässt sich nicht schematisch festsetzen und hängt von
den oben besprochenen äusseren Gründen ab. Er hat auch in meinen
Fällen in ziemlich weiten Grenzen geschwankt. Wenn man sieht,
wie leicht die Füsse in den ersten Wochen nach der Geburt modellirt
werden können, so ist es sehr verlockend, die dazu nöthige Gewalt
anzuwenden und die Füsschen sofort im Gipsverband corrigirt zu
erhalten. Einige Male Nun ich so verfahren. Meist warte ich in-
*
Digitized by CjOOQle
136
Sprengel.
dessen, bis die Kinder etwas älter geworden sind — etwa bis zum
4. Monat —, um die Fixirung der Füsse und Unterschenkel nicht
zu lange fortsetzen zu müssen. Indessen möchte ich daraus keine
Principienfrage machen, sondern von Fall zu Fall entscheiden. Das
Wichtigste bleibt in der poliklinischen Praxis immer, dass die
Besserung der Deformität möglichst bald erkennbar wird.
Wenn man das Redressement force nach König’scher Vor¬
schrift ausführt und die Vorsicht braucht, dasselbe lieber öfter zu
wiederholen, als sich darauf zu versteifen, in einer Sitzung zum Ziele
zu kommen, was schon wegen der Constriction, die der Gipsverband
dann nothwendig ausüben muss, unmöglich gleichgiltig sein kann,
so wird man in einer grossen Zahl von Fällen, vielleicht in der Mehr¬
zahl befriedigende oder vollkommene Erfolge erzielen.
Doch bleibt auch in Fällen, die frühzeitig — sagen wir im
ersten Halbjahre oder selbst in den ersten Monaten — zur Behandlung
kommen, trotz der Anwendung des gewaltsamen Redressements bis¬
weilen das gewünschte Resultat aus. Manchen Klumpfüssen kleiner
Kinder kann man es gleich ansehen, dass ihre Correctur grosse
Schwierigkeiten machen wird. Wenn die Adduction sehr ausgesprochen
ist, der Talus und Proc. ant. des Calcaneus eigentümlich spitz nach
aussen und oben prominiren, so kann man sich von vornherein auf
lange und mühsame Arbeit gefasst machen. Ausser diesen gibt es
aber Fälle, die anscheinend recht gut nachgeben, bei denen aber
immer ein leicht federnder Widerstand zurückbleibt, der offenbar auf
der Contraction der Sehnen und Fascien beruht, aber den üblichen
subcutanen Fascio- und Tenotomien nicht zugänglich ist.
Namentlich bei der letzteren, weniger bei der ersteren Form
leistet oft der oben (S. 126) beschriebene elastische Verband geradezu
erstaunliche Dienste. Ich bin überrascht gewesen, wie Füsse, die
ich nur mit Mühe so weit hatte redressiren können, um sie in den
elastischen Verband zu zwängen, in der kurzen Zeit von 10 bis
12 Tagen verändert und nachgiebig geworden waren. Es kann diese
Art des Verbandes nicht genug empfohlen werden. Nur muss man
sich Mühe geben, die Technik desselben genau zu erlernen und darf
nicht erwarten, gleich anfangs gute Resultate mit demselben zu er¬
zielen. Er ist ungleich schwieriger correct anzulegen als der Gips¬
verband, mit dessen Anwendung er alterniren soll, leistet aber auch,
in geeigneten Fällen angewandt, ungleich mehr.
Das gewaltsame Geradrichten der Klumpfüsse mit nachfolgen-
Digitized by
Google
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses. 137
dem Gips- oder elastischen Verband darf als das letzte Mittel in der
unblutigen Behandlung des angeborenen Klumpfusses betrachtet
werden und wird von vielen überhaupt als das letzte Hilfsmittel
angesehen.
Auch ich bin der Ansicht, dass das functionelle und kosmetische
Resultat in der Klumpfussbehandlung um so günstiger zu sein pflegt,
je weniger gewaltsam die angewandten Mittel sind, aber ich bekenne
zugleich, dass ich nach einer ziemlich reichen Erfahrung mich nicht
ohne weiteres auf den Standpunkt stellen kann, das unblutige ge¬
waltsame Redressement als äusserstes Mittel anzusehen, dass ich
vielmehr in einer etwas grösseren Breite, als neuerdings
üblich ist, die operative Behandlung des angeborenen
Klumpfusses auch bei kleinen Kindern zulasse.
Da ich mich mit diesem Ausspruch in einen gewissen Gegen¬
satz zu dem Urtheil allgemein geschätzter Autoren stelle, so habe
ich die Pflicht, meinen Standpunkt zu motiviren. Ich möchte dies
durch folgende Sätze thun:
1. Der Vorwurf, dass in der Behandlung des Klumpfusses
jeder blutige operative Eingriff in mehr oder minder
hohem Grade eine Verstümmelung des Skelets und der
Weichtheile darstellt, lässt sich einerseits durch die Wahl
und gewisse Modificationen der Operationen sehr ab¬
schwächen, andererseits trifft der gleiche Vorwurf auch
die unblutigen Behandlungsmethoden, soweit sie wenig¬
stens auf Anwendung von Gewalt beruhen. Wenn König
verlangt, dass die deformirten Knochen so aneinander
gepresst werden sollen, „dass es kracht“, oder Wolff
einen hochgradigen veralteten Klumpfuss durch einen
einzigen Etappen-Gipsverband im Verlauf kurzer Zeit
redressiren will, so setzt das eine Gewaltwirkung voraus,
deren Folgen nicht ganz gleichgültig sein können. Es
ist durchaus erlaubt, die Nachtheile einer genau be¬
messenen und zu berechnenden blutigen Operation min¬
destens nicht höher anzuschlagen.
2. Es gibt Fälle, von denen man im voraus, d. h. kurz
nach Beginn der frühzeitigen Behandlung sagen kann,
dass die Beseitigung der Deformität auf ungewöhnlichen
Widerstand stossen wird. Die unblutige Behandlungs¬
methode erfordert in diesen Fällen die Anwendung grosser
Digitized by ejOOQle
138
Sprengel.
Gewalt und muthet den betreffenden Kindern sehr er¬
hebliche, sich eventuell mehrfach wiederholende qualvolle
Beschwerden zu, die man leicht zu gering anschlägt,
während das blutige Verfahren keine grösseren Anfor¬
derungen an die Widerstandskraft der Kinder stellt, als
jede andere in Narkose unternommene Knochen- oder
Weich theiloperation.
3. Es ist zwar möglich, durch das Verfahren des brüsken
Redressements auch grosse Widerstände zu überwinden.
Indessen kann man nicht selten die Erfahrung machen,
dass die Ueberwindung dieser Widerstände keine dauernde
ist. Die Recidive sind nach meiner, allerdings vorläufig
auch nicht statistisch zu erweisenden Erfahrung bei dem
Verfahren des unblutigen Redressements häufiger, als
wenn man den Widerstand nicht vorübergehend über¬
windet, sondern dauernd eliminirt.
4. In manchen Fällen muss nicht bloss die Schwere der
Deformität an sich, sondern die Rücksicht auf gewisse
äussere Verhältnisse für die Behandlung massgebend sein.
Kann man auf Grund dieser Verhältnisse — grosse Ent¬
fernung von dem Orte der Behandlung, mangelnde
Intelligenz der Eltern u. s. w. mit Wahrscheinlichkeit
voraussetzen, dass eine langwierige Kur schwerlich bis
zu Ende durchgeführt werden wird, so hat man selbst
in mittelschweren Fällen das Recht resp. die Pflicht, ein
schneller zum Ziel führendes Verfahren dem langsameren
vorzuziehen.
Auf Grund dieser Ueberlegungen möchte ich die Indicationen
zu einem operativen Vorgehen folgendermassen präcisiren.
Ich halte die Operation für angezeigt:
In besonders schwierigen Fällen von Klumpfuss, bei denen
das allmähliche oder brüske Redressement, längere Zeit gewissen¬
haft durchgeführt, kein befriedigendes Resultat erzielt.
Dahin gehören a) veraltete Fälle (bei spät zur Behandlung ge¬
kommenen Individuen), b) die oben angeführten renitenten Formen,
falls alle uns zu Gebote stehenden Mittel fehlschlagen (also auch
bei kleineren Kindern).
Ich halte die Operation für erlaubt:
Digitized by
Google
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
139
Aus äusseren Gründen, wenn man Anlass hat, eine schnelle
Beendigung der Kur für unbedingt erforderlich zu halten.
Wenn ich hiernach der operativen Behandlung einen etwas
weiteren Spielraum, der freilich durch die Gewissenhaftigkeit des
Chirurgen seine Begrenzung erfahren muss, einräume, so habe ich
vs andererseits für meine Pflicht gehalten, den operativen Ein¬
griff selbst auf das denkbar geringste Maass einzu¬
schränken und namentlich die Operation am Knochen
so zu gestalten, dass dieselbe für die Form und das
Wachsthum des Fusses einen minimalen Nachtheil in-
volvirt.
Nachdem ich eine grosse Zahl der vorgeschlagenen Eingriffe
zum grössten Theile persönlich geprüft habe, habe ich im Verlaufe
der letzten Jahre eigentlich nur drei Operationen ausgeübt, nämlich
1. die sogen, grosse Phelps'sche Operation, 2. die offene Durch¬
schneidung der Plantarfascie, 3. die Entfernung des Proc. ant.
calcanei.
Ich bemerke, dass ich die Achillotenotomie' nicht zu den
eigentlichen operativen Eingriffen rechnen, sie wenigstens nicht als
solche in Gegensatz zu den unblutigen Methoden stellen möchte.
Ich wende sie, häufig nicht zu Anfang, sondern erst im Verlauf
der Kur, als Erleichterung der redressirenden Manipulationen, und
zwar in neuester Zeit gern als offene Tenotomie an.
Die Phelps’sche Operation schien zu einer Zeit, wo man sie
als willkommene Reaction gegen die allzu bereitwillig und ausgiebig
angewandte Tarsektomie mit grosser Befriedigung aufnahm, die
ganze Klumpfusstherapie beherrschen zu sollen. Schon Lorenz in
seiner mehrfach citirten Arbeit (1884) erwähnt die von Phelps
im Jahre 1881 vorgeschlagene Operation — wenn auch nur neben¬
bei — und betont, indem er die subcutane oder offene Durch¬
schneidung der Plantar-Aponeurose als vorbereitende Operation em¬
pfiehlt, dass durch „verhältnissmässig rücksichtslose Trennung der
Weichtheile ein streng conservatives Vorgehen gegenüber dem
Knochengerüst des Fusses ermöglicht werden müsse“. Später wurde
der Phelpsuchen Operation, namentlich durch die gewichtige Em¬
pfehlung v. Volkmann’s, grosse Verbreitung verschafft. Inzwischen
hat die unblutige Behandlungsmethode — soweit man wenigstens aus
den nicht eben zahlreichen Publicationen schliessen darf — sie an
vielen Stellen völlig oder nahezu verdrängt. Wie ich glaube, mit
Digitized by
Google
140
Sprengel.
Unrecht. Die offene Durchschneidung der Fusssohle hat in geeig¬
neten Fällen geradezu erstaunlich günstige, schnelle und für Kranke
und Arzt leicht erreichbare Resultate aufzuweisen und darf daher
nicht ohne weiteres, indem man sie als „roh und gänzlich verwerf¬
lich 11 bezeichnet, wie Julius Wolff (cf. 14. Congress S. 425) das
gelegentlich thut, zurückgewiesen werden. Man darf nicht vergessen,
dass auch bei dem gewaltsamen Redressement, wie Julius Wolff
es empfiehlt, nicht eben zart verfahren wird. Macht man es sich
bei der Phelps’schen Operation, entsprechend den Vorschriften des
Autors, zur Aufgabe, jedesmal erst den Plantaris internus prae-
parando freizulegen und die ebenfalls anatomisch gut präparirten
Muskeln nur nach Bedarf, d. h. soweit sie der Correctur ein un¬
überwindliches Hinderniss bereiten, zu durch trennen, so ist die
Operation sogar als eine subtile anatomische Aufgabe zu bezeichnen.
Ueberdies ist die allerdings ausgiebige Weichtheildurchschneidung,
wie speciell die sogen, grosse Phelps’sche Operation sie verlangt,
deshalb als weniger rücksichtslos und verletzend zu betrachten, weil
es sich um krankhaft veränderte, d. h. nutritiv verkürzte und zum
Theil mangelhaft ausgebildete oder in der Entwickelung zurück¬
gebliebene Gewebe handelt. Ich will deshalb nicht der unterschieds¬
losen Anwendung der Phelp s’schen Operation das Wort reden,
habe vielmehr schon oben betont, dass ich sie nur in gewissen
Fällen für empfehlenswerth halte. Als solche betrachte ich die¬
jenigen Klumpfussformen, bei denen die Verkürzung der Weich-
theile mehr in den Vordergrund tritt, als die Deformirung oder
Verlagerung der Knochen. Fälle mit starker Adductionsstellung
des vorderen Fussabschnittes, mit besonders ausgeprägter rinnen¬
förmiger Einziehung der Fusssohle und mehr rundlicher Formirung
des Fussrückens ohne ausgesprochene Prominenz einzelner Knochen-
theile sind der Phelp s’schen Operation dann zu unterwerfen, wenn
die langsamer wirkenden Behandlungsmethoden nicht oder, wie in
manchen Fällen der Poliklinik, nicht schnell genug zum Ziele führen.
Gewöhnlich wird etwa der Beginn des 2. Lebensjahres für die
Operation in Frage kommen. Als einen Nachtheil der Operation
möchte ich meinerseits nur den Umstand betrachten, dass sie in
ihrer Wirkung nicht ganz sicher ist, manchmal mehr, manchmal
weniger leistet als beabsichtigt wird. Es ist das vielleicht weniger
ein Vorwurf gegen die Methode als gegen die Ausführung derselben;
aber die Thatsache ist nicht zu leugnen, dass man nach ergiebiger
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
141
Ausführung des Phelps’schen Schnittes bisweilen die Entstehung
von sehr ausgesprochenen Plattfüssen erleben kann. Von diesem
Gesichtspunkte aus habe ich in den letzten Jahren häufiger da, wo
ich früher wohl von vornherein den Phelps'schen Schnitt gemacht
hätte, zunächst mit der oben an zweiter Stelle aufgezählten offenen
Durchschneidung der Plantarfascie auszukommen gesucht. Ich möchte
die offene Durchschneidung betonen. Die Plantarfascie ist, wie
man sich durch Freilegen derselben leicht überzeugt, keineswegs ein
so einfaches Gebilde, dass man die Sicherheit hätte, es bei der sub-
cutanen Operation vollständig zu durchtrennen. Die stehenbleibenden,
oft zwischen die Muskeln sich erstreckenden und mit ihnen ver¬
wachsenen Fasern genügen aber, um ein Recidiv zu begünstigen.
Die offene Freilegung ist hier also aus den gleichen Gründen wie
bei der Durchschneidung der Achillessehne, des M. sternocleido-mast.,
der gespannten Fascia lata, der subcutanen Operation vorzuziehen.
Sie geschieht zweckmässig von einem an der Innenseite der Fuss-
sohle verlaufenden Längsschnitt mit jL-förmig darauf gesetztem Quer¬
schnitt gegen die Mitte der Fusssohle. Wenn man die so um¬
grenzten Hautlappen abpräparirt, so kann man die Plantarfascie
frei übersehen und jede Faser derselben durchschneiden.
Man wird nach dieser hinlänglich ausgiebig gemachten Operation
oft überrascht sein, zu sehen, dass sie völlig ausreicht, um eine Ent¬
spannung der Fusssohle herbeizuführen. Bleibt dieselbe aus, so kann
man von demselben Schnitt aus die Muskeldurchschneidung nach
Phelps hinzufügen.
Nun gibt es aber Fälle, bei denen zwar ebenfalls starke Re-
traction der Weichtheile an der Fusssohle die Correctur hemmt, bei
denen aber im Vordergrund der Erscheinungen die Verlagerung der
Knochen steht und in starker Prominenz derselben am Fussrücken
zum Ausdruck kommt.
Auch bei so geformten Klumpfüssen kann die sehr weit¬
gehende, eventuell die articulatio talo-navicularis von unten her
breit eröffnende Phelps’sche Operation zum Ziel führen, wie ich
mich mehrfach selbst überzeugt habe. Es wird hierbei nach Durch¬
trennung der Weichtheile der Vordertheil des Fusses gewissermaßen
über die prominenten Knochen hinweggehebelt. Indessen ist der
Erfolg einerseits nicht absolut sicher; andererseits scheint es mir
in diesen Fällen der geringere und zugleich der mehr der Situation
entsprechende Eingriff zu sein, direct die prominenten Knochen und
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 10
Digitized by VjOOQie
142
Sprengel.
zwar von oben und aussen her anzugreifen. Phelps selbst gibt
für ähnliche Fälle (cf. Philippson, Die Phelps’sche Methode der
Klumpfussbehandlung, D. Z. f. Ch. Bd. 25 S. 287 ff.) die Noth-
wendigkeit der Knochenoperation zu, indem er die lineare Durch¬
trennung des Talushalses vorschlägt.
Ich habe in solchen Fällen, wie ich glaube, mit Vortheil, eine
Combination von Weichtheilschnitt und Knochenoperation ge¬
wählt; nämlich die offene Durchschneidung der Plantar-
fascie (eventuell mit benachbarten besonders straff
gespannten Muskelbündeln) im Verein mit der Entfernung
des Proc. ant. calcanei.
Die Operation, in dieser Combination ausgeführt, hat weder
die unangenehme Folge einer sehr ausgiebigen Phelps’schen Opera¬
tion, Plattfussbildung zu begünstigen, noch kann man sie als eigent¬
liche Verstümmelung des Fussskelets bezeichnen. Dagegen gewährt
sie den doppelten Vortheil, dass sie die Flächenkrümmung des
Fusses durch Entspannung der verkürzten Fusssohlenbänder und
die Kantenkrümmung durch Entfernung des stark prominenten,
vielleicht auch abnorm stark entwickelten Proc. ant. calcanei be¬
seitigen hilft.
Selbstverständlich wird durch diesen Eingriff die Function des
Chopart’schen Gelenkes eingeschränkt, wenn nicht aufgehoben
werden, da die Gelenkfläche des Calcaneus mit weggenommen wird;
doch ist das eine relativ, d. h. im Verhältniss zu der Bedeutung
eines schweren Klurapfusses, leicht zu verschmerzende Einbusse,
die um so geringer anzuschlagen ist, da die Verödung des Gelenkes
zwischen Calcaneus und Cuboideum möglicherweise das Eintreten
eines Recidivs verhüten hilft.
Ueber die Technik der Knochenoperation braucht kaum etwas
gesagt zu werden, zumal an sich die Entfernung des Proc. ant.
calcanei auch in der Behandlung des Klumpfusses bekanntlich keine
neue Operation ist. Ich lege mir den Knochen durch einen Schnitt
parallel der Peronealsehnen frei, gewöhnlich indem ich die letzteren
auseinander ziehen lasse, und nehme von dem Proc. ant. calcanei
ein keilförmiges Stück mit nach aussen liegender Basis weg. Die
Operation ist in einfachen Fällen in Zeit von wenigen Minuten aus¬
geführt. In ganz schweren veralteten Fällen reicht die Entfernung
des Proc. ant. calcanei nicht aus. Ich war bei ihnen (Fall 30 und 31)
einige Male gezwungen, auch den stark prominenten Taluskopf mit
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
143
zu entfernen, also eine Operation auszuführen, die der von Rydygier
(Berl. kl. Wochenschrift 1883 S. 79) und Kocher (Operationslehre)
empfohlenen sehr nahe steht.
Auf die Wundnaht verzichtet man am besten. Nach Com-
pression von 3—4 Minuten Dauer zur Stillung der parenchymatösen
Blutung und Unterbindung etwa spritzender Gefässe legt man die
Wundränder aneinander, bedeckt sie mit Protectiv und einem kleinen
Verbandkissen und legt nach Correctur der Fussstellung sofort den
Gipsverband an. Hat man gleichzeitig den Phelps’schen Schnitt
resp. die offene Durchschneidung der Plantarfascie gemacht, so wird
die betreffende Wunde an der Innenseite des Fusses ganz ebenso
versorgt. Die Heilung erfolgt unter dem feuchten Blutschorf in
geradezu idealer Weise, v. Büngner (1. c.) empfiehlt nach der
Phelps'schen Operation von einer sofortigen Correctur abzusehen
und den Fuss zunächst auf der Schiene zu fixiren, während Schede
(cf. Langenb. Archiv Bd. 263—64: „Ueber die Heilung von Wunden
unter dem feuchten Blutschorf“) auch die sofortige Anlegung des
geschlossenen Gipsverbandes vorzieht. Ich möchte mich entschieden
für das letztere Vorgehen aussprechen, da die Correctur an dem
frisch operirten Fusse ungleich leichter gelingt, als wenn man erst
die Granulationsbildung abwartet, und habe keinerlei Nachtheile von
diesem Verfahren gesehen, gleichgültig, ob ich bloss die Phelps’sche
Operation oder diese in Combination mit der Knochenoperation vor-
genoramen hatte.
Ich halte es nicht für überflüssig, der Darlegung der von mir
geübten operativen Eingriffe die Bemerkung nochmals hinzuzufügen,
dass ich die Operation principiell als ultimum refugium in solchen
Fällen betrachten möchte, in denen ein gewaltsam und energisch
durchgeführtes, allmählich wirkendes, oder das unblutige forcirte
Redressement nicht zum Ziele geführt hat, und ferner in ganz spät
(d. h. etwa erst im 6. Lebensjahre oder später) zur Behandlung
kommenden Fällen.
Wenn aus den der Arbeit beigefügten Krankengeschichten er¬
sichtlich wird, dass ich die Operation, im Verhältniss zu der Zahl
der behandelten Fälle, häufig ausgeführt habe, so gebe ich zu, dass
ich einige Male selbst von dem vorstehenden Princip abgewichen
bin, um in kürzerer Zeit und an einer grösseren Zahl von Fällen
mein Urtheil über den Werth der von mir empfohlenen Combination
zu befestigen. Es geschah in der Ueberzeugung, dass durch den
Digitized by CjOOQle
144
Sprengel.
kleinen Eingriff am Knochen kein grösserer Nachtheil erwüchse,
als, vergleichsweise gesprochen, etwa durch eine Keilosteotomie an
einem verkrümmten Unterschenkel, die man auch wohl gelegentlich
aus socialen Gründen machen darf. In Zukunft wird die obige
Indication für mich wegfallen. Die Zahl der im eigentlichen Sinne
veralteten Fälle ist unter meinen Beobachtungen eine verschwindend
kleine gewesen, und es steht mir deshalb nicht zu, meine Ansicht
dem auf einem weit grösseren Material fussenden Urtheil anderer
Autoren gegenüberzustellen. Ich kann nur sagen, dass mich frühere
Versuche, das schnelle und gewaltsame unblutige Redressement bei
wirklich veralteten Klumpfüssen vorzunehmen, nicht recht befriedigt
haben. Ich behielt meist deutliche Deformitäten zurück, wie ich
sie übrigens auch auf fast allen denjenigen Abbildungen mit be-
merkenswerther Deutlichkeit vertreten finde, die den neueren Ar¬
beiten über Klumpfussbehandlung beigefügt sind. Resultate, wie sie
z. B. Schultze-Duisburg (1. c.) abbildet, oder wie sie Julius
Wolff (Berl. kl. W. 1885 Nr. 11) wiedergibt, können uns immer¬
hin mit Erstaunen erfüllen, dass es möglich war, so hochgradig
deformirte Glieder durch blosse Kraft der Hände in eine der nor¬
malen ähnliche Form zu bringen; aber ich kann nicht leugnen, dass
ich bei keinem der abgebildeten Klumpfüsse die Befürchtung los¬
geworden bin, sie möchten, sich selbst überlassen, sehr bald wieder
rückfällig werden.
Ein Resultat, wie das in Fig. 17abc dargelegte, auf blu¬
tigem Wege in Zeit von 10 Wochen erzielte, findet sich unter den
erwähnten bildlichen Darstellungen nicht. (Cf. Krankengeschichte
Nr. 31.)
Von der Tarsektomia cuneiformis oder wie Lorenz sie nennt,
der Exstirpation eines conglomerirten Knochenstückes wurde in den
Jahren, über welche sich mein Bericht erstreckt, kein Gebrauch
gemacht. Sensu strictiori könnte man natürlich auch die von mir
geübte Knochenoperation unter die erstere Bezeichnung subsumiren.
Nach meiner Ansicht mit Unrecht, sobald man mit dem Namen
und dem Begriff der Tarsektomie die Absicht verbindet, durch die
Knochenoperation allein den hochgradigen Klumpfuss zu corrigiren.
Schränkt man die Tarsektomie zu Gunsten einer gleichzeitigen oder
vorangeschickten Weichtheiloperation ein — wie es Lorenz 1. c.
S. 149 vorschlägt — so kommt eine derartige Operation der von
mir vorgeschlagenen Combination im Princip sehr nahe, nur dass
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
145
ich der Weichtheiloperation einen noch grösseren Einfluss einräumen
und die Knochenoperation (in unschädlicher Ausdehnung vorgenom¬
men) gewissermassen als ein Mittel, die Nachtheile eines zu weit
getriebenen Weichtheilschnittes zu eliminiren, betrachten möchte.
Weichtheilschnitt und Knochenoperation sollen sich ergänzen und
in ihren Nachtheilen gegenseitig ausgleichen. Die Tarsektomie wurde
von Lorenz in seiner kritischen Abwägung der verschiedenen zur
Behandlung veralteter Klumpfüsse empfohlenen Knochenoperationen
als diejenige bezeichnet, die „allen Anforderungen relativ am besten
entspricht“. Er verkannte die Mängel und Bedenken der Operation,
namentlich bezüglich der Function des Fusses, keineswegs, hielt
aber die Operation doch in hochgradigen veralteten Fällen, nament¬
lich bei Individuen jenseits der Wachsthumsjahre, für das ultimum
refugium. Roser (1885) kommt nach der Beobachtung an vier
tarsektomirten Fällen zu dem Schluss, „dass das functionelle Resultat
bei allen vier Füssen ein so gutes war, dass man trotz Lorenz von
einer Abwickelung des Fusses beim Gehen sprechen konnte“. Heute
steht die Operation im allgemeinen Urtheil weniger gut angeschrieben.
Es ist bei der Spärlichkeit der Veröffentlichungen der letzteren Zeit
schwer, ein Urtheil zu gewinnen, wie weit ihre Verbreitung noch
reicht, oder ob sie, wie es nach manchen Zeichen scheinen könnte,
gänzlich aufgegeben ist. So sicher es ist, dass sie ihre erheblichen
Mängel hat und bei der Correctur der Klumpfüsse kleiner Kinder
verderblich oder zum mindesten überflüssig ist, so möchte ich doch
annehmen, dass sie bei den hochgradigsten Fällen des veralteten
Klumpfusses — wobei ich es als ziemlich gleichgültig betrachten
möchte, ob derselbe 8 oder 17 Jahre zum Auftreten benutzt worden
ist — nicht unter allen Umständen entbehrt werden kann.
Mit der Talusexstirpation habe ich selbst im Beginn meiner
Thätigkeit am Dresdner Kinderhospital mehrfach Versuche gemacht,
die namentlich durch die Empfehlung, welche die Operation durch
meinen Vorgänger Rupprecht erfuhr (Rupprecht, Zur Tarsotomie
veralteter Klumpfüsse C. f. Ch. 1882 Nr. 31 etc.), veranlasst
wurden. Dieselben Empfehlungen sind der genannten Operation be¬
kanntlich von verschiedenen Autoren auch in neuerer Zeit zu Theil
geworden. Cf. Vogt (Mittheilungen aus der Chirurg. Klinik zu
Greifswald 1884), Ried (D. Z. f. Chir. Bd. 13 S. 114), Wagner
(D. Z. f. Chir. Bd. 17 S. 580), Bes sei-Hagen 1. c., Guide 1. c.,
während Lorenz (1. c. S. 134 ff.) fast alle die Vortheile, welche der
Digitized by CjOOQle
146
Sprengel.
Operation von Rupprecht zugeschrieben wurden, bestreitet und
der Operation gegenüber der Keilosteotomie eigentlich nur den
Vorzug einräumt, das Wachthum des Fusses nicht zu beeinflussen.
Vom rein functionellen Standpunkte darf die Talusexstirpation
auch nach meinen Erfahrungen als leistungsfähig angesehen werden,
und namentlich ist die Bemerkung Rupprecht’s, dass sich nach
derselben eine Syndesmose zwischen Unterschenkel und Calcaneus
entwickele, die zur Abwickelung des Fusses in sagittaler Richtung
ausreichend sei, gewiss zutreffend. Zum mindesten braucht die
zwischen Unterschenkel und Calcaneus vorhandene Beweglichkeit
nicht, wie Lorenz meint, eine Gefahr für Recidive zu bedeuten,
sobald nur für zwanglosen Sohlengang gesorgt ist. Wenn ich
trotzdem allmählich mehr und mehr die Talusexstirpation in der
Behandlung des angeborenen Klumpfusses aufgegeben habe, so ge¬
schah es in erster Linie, weil nach meinen persönlichen Erfahrungen
die functionellen Resultate keineswegs durchgehend so günstige waren,
wie es von manchen Autoren gerühmt wird. Die von Bessel-Hagen
empfohlene Durchschneidung des Lig. calcaneo-fibulare habe ich aller-
dings‘nicht geübt.
Andererseits habe ich fast ausnahmslos beobachtet, dass zwar
die Operirten leidlich mit der Sohle auftreten, dass aber die Ad-
ductiou nicht beseitigt wird, und dass deshalb das kosmetische
Resultat, was ich doch nicht gering anschlagen möchte, sehr viel
zu wünschen übrig lässt. Damit stimmen sowohl die theoretischen
Bedenken von Lorenz, welcher der Talusexstirpation für die
„Kantenkrümmung (Adduction) des Fusses nicht nur keinen redres-
sirenden, sondern im Gegentheil einen ungünstigen Einfluss“ zu¬
spricht, gut überein, als auch spricht dafür, was ich in der mehr¬
fach citirten Arbeit von Guide und in der v. B ü n g n e r’schen
Publication erwähnt finde. Bei Gulde’s Operirten blieb fast aus¬
nahmslos eine starke Adduetionsstellung des Fusses zurück und
v. Büngner erwähnt ausdrücklich, dass „nur in einem Drittel
seiner Beobachtungen nach der Exstirpatio tali mittelst langdauernder
orthopädischer Nachbehandlung (auf welche Guide, was mir nicht
verständlich ist, völlig verzichtet) eine so wesentliche Besserung er¬
zielt wurde, dass sich fast normale FussVerhältnisse herstellten. Im
zweiten Drittel war die Besserung kaum in die Augen fallend und
im letzten Drittel blieb der Zustand nach und trotz der Operation
unverändert.“ Das beste Resultat wurde in Halle durch die Exstir-
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Elumpfusses.
147
patio tali bei einem sehr hochgradigen Pes yalgus erzielt, welcher
in der Folge der Operation völlig geheilt wurde. Eine ähnliche
Beobachtung wird von Roser (1. c.) berichtet. Guide war in
einzelnen Fällen gezwungen, »um die nach gemachter Talusexstir- *
pation noch bestehende Adductionsstellung des Fusses auszugleichen,
den sich entgegensetzenden Proc. ant. calcanei keilförmig abzutragen,
ebenso vom Os cuboideum die Gelenkfläche für den Calcaneus, wo¬
nach die vollständige Geradestellung des Fusses möglich war“.
Andere Male wurde die Exstirpatio tali mit Durchschneidung der
Fusssohle verbunden. Auch Bessel-Hagen lässt in schweren
Fällen neben der Talusexstirpation die (subcutane) Durchtrennung
der Achillessehne und Plantarfascie zu. Ich kann mir vorstellen,
dass diese Verbindung der Talusexstirpation mit Weichtheilschnitten
ungleich günstigere Resultate aufzuweisen hat, als erstere für sich
allein. Sie ist mir um so mehr sympathisch, als dadurch die von
jenen Autoren geübten Operationen der von mir empfohlenen Com-
bination im Princip sehr nahe kommen.
Auf andere mehr oder weniger verlassene Operationen einzu¬
gehen, verlohnt sich um so weniger, als mir über den Werth der¬
selben persönliche Erfahrungen in nennenswerther Zahl nicht zu
Gebote stehen.
Es erübrigt zum Schluss noch zwei Fragen zu erörtern:
1. Wann soll die Behandlung des Klumpfusses beginnen?
2. Wann darf sie aufhören?
Die erste Frage ist sehr verschieden beantwortet worden.
Kr au ss in seiner mehrfach citirten Arbeit (erschienen 1888) hat
sich die Mühe genommen, die Ansichten verschiedener Autoren zu¬
sammenzustellen. Es geht aus seinen Mittheilungen hervor, dass
entgegen früheren Anschauungen fast alle neueren Autoren für einen
möglichst frühzeitigen Beginn, 2—3 Wochen nach der Geburt,
plaidiren und übereinstimmend die auffallende Nachgiebigkeit selbst
hochgradiger Klumpftisse in dieser frühen Zeit betonen. Dass ich
mich diesen Anschauungen vollkommen anschliesse, brauche ich
nach den vorangegangenen Erörterungen kaum zu betonen. In der
poliklinischen Praxis hat dieser frühzeitige Beginn den einen nicht
zu leugnenden Nachtheil, dass die Kur sich über eine sehr lange
Zeit erstreckt. Bei verständigen Müttern hat das nicht viel auf
sich, unverständige verlieren nicht selten die Geduld und es kann
der Fall eintreten, dass das, was man im ersten Lebensjahr erreicht
Digitized by
Google
148
Sprengel.
hat, in den folgenden Monaten durch Unregelmässigkeiten oder
Unterbrechungen der Behandlung wieder verloren geht. Bei der
Sicherheit, welche die uns heute zu Gebote stehenden Mittel ge¬
währen, halte ich es deshalb in der poliklinischen Praxis für kein
Unglück, wenn die Behandlung erst etwas später einsetzt. Es kann
sogar aus äusseren Gründen klüger sein, den Anfangstermin
der Behandlung einige Monate hinauszuschieben. Ein späterer An¬
fang braucht nicht nothwendig zu spät zu sein.
Die zweite Frage möchte ich durch folgenden Satz beantworten:
Der angeborene Klumpfuss ist dann als dauernd geheilt
zu betrachten, wenn sich bei längere Zeit — d. h. min¬
destens ein halbes Jahr lang — fortgesetzter sorgfältiger
Controlle keine Neigung zum Rückfalle und keine An¬
deutung eines solchen zeigt.
Es sind bekanntlich von verschiedenen Autoren gewisse
Normen aufgestellt worden, nach denen man die definitive Heilung
eines Klumpfusses beurtheilen soll. Czerny (cf. Krauss 1. c.) ver¬
langt von geheilten Klumpfusskranken, dass sie sich 1. auf die
Fussspitzen stellen, 2. bei vollständig auf dem Boden aufstehender
Planta pedis niederkauern können.
Hoffa (Lehrbuch, S. 675) erwähnt diese Forderung und fügt
hinzu, dass der Patient im Stande sein muss, seinen Fuss activ bis
über den rechten Winkel hinaus dorsalwärts zu flectiren. Ausser¬
dem soll die normale Form des Fusses wieder hergestellt und der
Patient in dem Gebrauche desselben gar nicht behindert sein.
König (1. c.): „Wir erklären den Kranken erst für gesund,
wenn er ohne Anstrengung mit abducirtem Fusse geht.“
Graser (1. c.) sagt: Die Behandlung darf erst dann auf¬
gegeben werden, wenn der Fuss in stärkster Pronation, Abduction
und Dorsalflexion steht und nach der Abnahme des Verbandes stehen
bleibt.
Ich betrachte diese Aussprüche als durchaus zutreffend für die
Frage, wann man die Behandlung aufgeben, resp. vorläufig auf¬
geben kann. Sie haben namentlich für die Beurtheilung älterer
Kinder, die bereits laufen und bestimmte Forderungen auf Com-
mando erfüllen können, entschiedenen Werth. Für kleinere Kinder,
bei denen diese Voraussetzung noch nicht zutrifft, ist mir immer
ein anderes Symptom massgebend gewesen. Lässt man die Kinder
eine im übrigen möglichst ungezwungene Rückenlage bei leichter
Digitized by VjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
149
Fixation des Unterschenkels einnehmen und übt auf die nackte
Fusssohle einen empfindlichen Reiz aus, am besten durch ober¬
flächliche Nadelstiche, so suchen die Kinder selbstverständlich mit
dem Fusse auszuweichen. Geschieht dies vorwiegend oder aus¬
nahmslos durch eine Adductionsbewegung, so ist die Neigung zu
letzterer vorherrschend, der Klumpfuss also nicht corrigirt, wird
der Fuss regelmässig oder gleich häufig in Abduction gestellt, so
ist die letztere dem Kinde geläufig und man kann den Fuss ohne
Bedenken freigeben.
So wichtig, wie gesagt, diese Zeichen sind, — für die Frage,
ob ein Klumpfuss definitiv geheilt ist, kann nur eine länger
dauernde Controlle entscheidend sein. Ich habe mich leider
oft genug überzeugt, dass manche als anscheinend völlig geheilt
entlassene Fälle, bei denen auch die oben erwähnten Forderungen
durchaus erfüllt waren, schon nach kurzer Zeit mit ausgesprochenem
Recidiv zurückkehrten.
Es ist nicht ausreichend, jene Aufsicht den Eltern der Kinder
zu überlassen; man muss vielmehr mindestens ein halbes Jahr lang
die Kinder in regelmässigen Zwischenräumen Wiedersehen.
Noch unzureichender als die elterliche Aufsicht ist die durch
einen Bandagisten. Sie ist nach meiner Ansicht geradezu gefähr¬
lich. Ich habe es mir, je länger ich Klumpfüsse behandelt habe,
um so mehr zum Princip gemacht, die Behandlung vollständig
zu Ende zu führen. Eine Klumpfussmaschine, wenigstens wie sie
von den landläufigen Bandagisten angelegt wird, ist überhaupt nicht
im Stande, eine noch bestehende Neigung zum Recidiv zu über¬
winden, geschweige eine wirkliche Abweichung zu redressiren. Be¬
steht eins von beiden, so ist die Maschine nicht ausreichend, be¬
stehen beide nicht, so ist sie überflüssig.
Das einzige Unterstützungsmittel, von dem ich in den letzten
Jahren gelegentlich in der Nachbehandlungsperiode Gebrauch ge¬
macht habe, ist der von K. Roser (1. c.) angegebene, inzwischen
auch von anderen Autoren, u. a. von König, empfohlene Bügel¬
schuh. Man thut aber gut, den von Roser selbst gegebenen Rath
genau zu befolgen, d. h. „den Schuh über die Hälfte des Unter¬
schenkels hinaufragen und ihn über einen dünnen baumwollenen
Strumpf recht fest geschnürt“ tragen zu lassen, wenn man nicht
zum Nachtheile des Kranken erfahren will, dass der Fuss sich im
Stiefel von neuem supinirt.
Digitized by CjOOQle
150
Sprengel.
Den trotz vielfacher Bemühung keineswegs vollkommenen
Krankengeschichten, die ich mit so vielen Photographien, wie ich
erhalten konnte, meiner Arbeit anschliesse, will ich keinen Com-
mentar vorausschicken. Demjenigen, der sich über die häufige An¬
wendung operativer Eingriffe verwundern sollte, möchte ich unter
Hinweis auf das in dem betreffenden Abschnitte meiner Arbeit Ge¬
sagte bemerken, dass das Beobachtungsmaterial im wesentlichen
den untersten Bevölkerungsschichten entstammt. Ich bin der An¬
sicht, dass man bei den Kluinpfusskindern aus diesen Klassen nur
dann ein wirklich befriedigendes Resultat erreichen kann, wenn
mau es schnell erreicht, und habe mich auf Grund dieser Ueber-
zeugung ohne grosses Bedenken darein gefunden, wenn in Um¬
kehrung des bekannten Satzes gelegentlich das Gute der Feind des
Besseren war.
Nachtrag:
Erst nach Abschluss der vorstehenden Arbeit kam mir die
neueste Publication von Lorenz „Heilung des Klumpfusses durch
das modellirende Redressement“, Wiener Klinik, 1895, 11 u. 12,
zu Gesicht. Obwohl ich auch nach dem Studium derselben die An¬
schauung nicht ohne weiteres aufgeben kann, dass die Combination
des operativen Verfahrens, wie ich sie beschrieben, auf gleich un¬
gefährlichem Wege die Heilung auch des veralteten Klumpfusses
herbeizuführen vermag, so kann ich mich doch der überzeugenden
Wucht der Lorenz’schen Darlegungen nicht verschliessen. Es wird
die Aufgabe der nächsten Jahre sein, unbefangen das nachzuprüfen,
was Lorenz vorgeschlagen hat. Dann aber dürfte die Klumpfuss-
frage thatsächlich „spruchreif“ sein.
Krankengeschichten.
1. Winkler, Kurt, 1 Jahr, Deuben. Einseitiger Klumpfuss.
Pol. aufg. 6. März 1893, entl. 18. September geheilt. Wurde
mit Gipsverbäuden (10) und elastischen Verbänden (5) behandelt.
22. October 1895 zur Nachuntersuchung bestellt. Brief kam als
unbestellbar zurück.
2. Stein, Willy, 5 Wochen, Cotta; Vater Arbeiter. Doppels.
Klumpfuss. Pol. aufg. 8. September 1893.
Digitized by CjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
151
13. Januar 1894. Tenotomie der Achillessehne. Ungünstige
häusliche Verhältnisse; sehr elendes rhachitisches, auch geistig zurück¬
gebliebenes Kind. Mit Gipsverbänden und elastischen Verbänden
behandelt. Sobald die Füsse freigelassen werden, ßecidive.
2. Januar 1895. Offene Durchschneidung der Plantarfascie und
Entfernung des Proc. ant. calcanei am rechten, schlimmeren Fuss.
2. März 1895 ins Hospital aufgenommen zur Behandlung mit
der Klumpfussmaschine. Vom Mai 1895 mit Gipsverbänden behandelt.
Resultat: Unvollkommen. Adduction nicht völlig beseitigt. Die mangel¬
hafte geistige und körperliche Entwickelung des Kindes macht es
unmöglich, das Kind zum Gehen zu bringen.
3 . Zimmermann, Ewald, 7 Monate, Dresden; Vater Tischler.
Pol. aufg. 17. Januar 1894. Linkss. Klumpfuss. Hochgradig. War
schon vorher von anderer Seite behandelt worden; ohne Erfolg. Be¬
handlung mit Gipsverbänden, Redressement force und elastische
Verbände. Neigung zu Recidiven.
16. November 1894. Offene
Durchschneidung der Plantarfascie
und Entfernung des Proc. ant. cal¬
canei. Poliklinisch nachbehandelt.
1. December 1894. Erster
Verband. Geheilt. Mit Gipsgeh¬
verbänden eine Zeitlang nachbe¬
handelt.
26. October 1895. AufWunsch
vorgestellt. Sehr gutes Resultat.
(cf. Abbildung 1 ). Tritt voll auf, kann alle Bewegungen activ vor¬
nehmen, auf der Fusspitze stehen etc. Wadenmusculatur gut ent¬
wickelt. Vorderer Theil des Fusses zeigt noch minimale Adduction.
4 . Liebscher, Alfred, 1 l j* Jahr, Löbtau; Vater Bremser.
Rechtss. Klumpfuss. Hochgradig. Pol. aufg. 23. Januar 1894.
6. Februar. Tenotomie der Achillessehne; subcutan. Mit Gips¬
verbänden und elastischen Verbänden behandelt. Da sich auf diese
*) Die photographischen Abbildungen wurden theils von meinem je¬
weiligen Assistenten, theils von Herrn Dr. C ahn heim, Dresden, hergestellt.
Letzterem, wie auch den Herren Dr. Schmidt, Lottermoser, Denecke
bin ich dafür zu besonderem Dank verpflichtet.
Fig. 4: Zimmermann.
Digitized by
Google
152
Sprengel.
Weise ein befriedigendes Resultat nicht erzielen lässt, wird am
22. October 1894 die offene Durchschneidung der Plantarfascie und
Resection des Proc. ant. calcanei vorgenommen.
5. November. Fester Verband. Alles verheilt. Mit Gips¬
gehverbänden nachbehandelt.
24. Mai 1895. Mit sehr gutem Resultate entlassen.
Fig. 5b: Liebseber.
Fig. 5 a.
28. October 1895. Auf Wunsch vorgestellt. Leichtes Recidiv.
Fest in leicht adducirter Stellung, mehr mit dem äusseren Fussrand
auftretend. Achillessehne etwas retrahirt. Offene Durchschneidung
der letzteren. Einige Gipsgehverbände.
5. März 1896. Photographirt. (cf. Abbildung.) Vollkommenes
Resultat.
5. Hammer, Hugo, 3 Jahre, Wegefarth bei Freiberg; Vater
Schuhmacher. Doppels. Klumpfuss. Pol. aufg. 24. Januar 1894.
Anfangs mit Gipsverbänden nach voraufgegangenem Redressement
forcä behandelt; ohne befriedigendes Resultat.
Digitized by VjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
153
März 1894. Beiderseits Phelps'sche Operation. Mit Gips¬
verbänden und elastischen Verbänden nachbehandelt.
Juni 1894. Ohne Verband gelassen.
28. October 1895. Auf Wunsch vorgestellt. Links tadelloses
Resultat. Fuss von einem gesunden, ausser durch die Operations¬
narbe, nicht zu unterscheiden. Alle Bewegungen activ voll aus¬
führbar. Rechts Adduction mittleren Grades, beginnt mit dem äusseren
Fussrande aufzutreten. Fusssohle etwas ausgehöhlt. Ins Hospital
aufgenommen. 30. October 1895 Entfernung des prominenten Proc.
ank calcanei rechts und ein Stück aus dem Talus. Glatte Heilung.
Nach einigen Wochen mit wesentlicher Verbesserung der Stellung
entlassen.
Konnte zur photographischen Aufnahme wegen der weiten Ent¬
fernung nicht wiederkommen.
6. Lochmann, Helene, 7 x /2 Jahr, Kötzschenbroda; Vater Obst¬
händler. Linkss. Klumpfuss. Wird am 15. Februar 1894 aufgenommen
wegen Contractur mehrerer Zehen
nach der Fusssohle an dem früher
behandelten linksseitigen Klump¬
fuss. Die Behandlung bestand (vor
Jahren) in Anlegung von Gips-
und elastischen Verbänden. Die
Sehnencontractur wurde durch
Tenotomie und Verbände be¬
seitigt.
26. October 1895. Auf
Wunsch vorgestellt. Sehr gutes
Resultat. Tritt voll auf, kann
sich niederkauern und auf die
Spitze des linken Fusses allein
stellen. Muskeln des Unterschen¬
kels etwas atrophisch. Gang tadel¬
los. (cf. Abbildung.)
7 . Schulze, Karl, 7 Wochen,
Dresden; Vater Bahnarbeiter. Aufgenommen in die Poliklinik
am 8. März 1894. Rechtsseitiger Klumpfuss.
12. März. Subcutane Tenotomie der Achillessehne. Von da
Fi*?. 6: Lochmann.
Digitized by
Google
154
Sprengel.
an längere Zeit mit Redressement und Gipsverbänden behandelt.
Patient wurde der Behandlung vor Abschluss derselben entzogen.
Ein Brief (October 1895) mit der Bitte, das Kind vorzustellen, kam,
wie so häufig bei der Arbeiterbevölkerung grösserer Städte, als un¬
bestellbar zurück.
8. Behrend, Otto, 9 Wochen, Dresden; Vater Arbeiter. Doppels.
Klumpfuss. Pol. aufg. 5. Juli 1893.
11. Juli 1893. Subcutane Tenotomie der Achillessehne. Be¬
handlung im wesentlichen mit Gipsverbänden.
Bis 22. Juni 1894 beobachtet; dann entlassen mit der Erlaubniss
frei zu laufen. Adresse konnte nicht mehr ermittelt werden.
9. Rosenberger, Otto, 1 Jahr, Dresden; Vater Klempnergehilfe.
Pol. aufg. 10. Februar 1894. Doppels. Klumpfuss. Mit Redressement
force und Gipsverbänden behandelt. Nach 2 Monaten sehr be¬
friedigendes Resultat notirt. Weitere Angaben fehlen; konnte nicht
ermittelt werden.
10 , Raschke, Richard, 3 Jahre, Dresden; Vater Schneider. Pol.
aufg. 1. Mai 1894. Das Kind wurde seit dem 3. Monat seines Lebens
Fig. 7: Raschke.
Digitized by VjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
155
wegen hochgradigsten doppelseitigen Klumpfusses in der Poliklinik
des Kinderhospitals behandelt. Die Füsse waren thatsächlich zu
formlosen Klumpen zusammengequetscht, ausserdem, wahrscheinlich
durch amniotische Verklebungen und Abschnürungen, mehrfach ver¬
stümmelt. Trotz unendlicher Geduld und Arbeit, zahllosen Redresse¬
ments und Gipsverbänden, Phelps'scher Operation etc., gelang es
nicht ein befriedigendes Resultat zu erzielen.
4. Mai 1894. Combination tiefer Durchschneidung der Fuss-
sohle mit Knochenoperation (Exstirpation des am meisten hemmenden
Os cuboideum). Nachbehandlung mit Gipsverbänden und unter starkem
Druck angelegten elastischen Verbänden.
25. October 1895. Auf Wunsch vorgestellt. Rechter Fuss tritt
mit voller Sohle auf, linker Fuss etwas auf den äusseren Rand ge¬
stellt und adducirt. Trotz der namentlich links unvollkommenen
Form ist die Function eine befriedigende.
März 1896. Die Füsse haben sich, obwohl jede weitere Be¬
handlung, auch mittelst Schienen, unterblieb, nicht verändert. Photo¬
graphie entspricht dem letzten Datum; die schlecht gelungene Ab¬
bildung der Gipsmodelle dem Zeitpunkt vor der letzten Knochen¬
operation.
11 . Kinnwerk, Martha, 2 1 / 4 Jahr, Rathewalde; Vater Bauer.
Pol. aufg. 19. März 1894. Rechtss. Klumpfuss. Schon im Alter
von einem halben Jahre eine Zeitlang in der Poliklinik des Hospitales
behandelt; damals subcutane Tenotomie der Achillessehne. Behand¬
lung mit Redressement forc6 und Gips- resp. elastischen Verbänden.
Nach 4 Monaten sehr befriedigendes Resultat. Auf kurze Zeit aus
der Behandlung entlassen; kommt mit ausgesprochenem Recidiv wieder.
12. November 1894. Offene Durchschneidung der Fascia plan¬
taris und Resect. des Proc. ant. calcanei.
23. Februar 1895. Vollkommenes Resultat; bleibt ohne Verband.
29. October 1895. Auf Wunsch vorgestellt. Resultat wieder
etwas verschlechtert, leichte Adduction und Supination. Wurde durch
einige Gipsgehverbände relativ leicht beseitigt.
12 . Haubitz, Willy, 4 Wochen, Höhendorf; Vater Schneider.
Pol. aufg. 29. August 1893. Doppelseit. Klumpfuss. Im wesent¬
lichen mit Redressement und Gipsverbänden behandelt. Endresultat
konnte nicht ermittelt werden.
Digitized by
Google
156
Sprengel.
13 . Mrosk, Gertrud, cf. S. 135 bereits erwähnt. Kam 4 Wochen
alt wegen doppelseitigen hochgradigen Klumpfusses in Behandlung.
Dieselbe bestand in Anlegung
von Gips- und elastischen Ver¬
bänden.
5. März 1896. Linker Fuss
völlig »normal, rechts leichte
Prominenz des Fussrückens, eine
Spur Adduction. Function voll¬
kommen normal, (cf. Abbil-
düng).
14. Diez, Earl, 1 Jahr
2 Monate, Löbtau; Vater Glas¬
macher. Pol. aufg. 29. März
1894. Linkss. Klumpfuss.
25. Mai 1894. Subcutane
Tenotomie der Achillessehne. Mit
Gipsverbänden und elastischen
Verbänden behandelt. Ohne be¬
friedigendes resp. dauerndes Re¬
sultat.
17. October 1894. Offene Durchschneidung der Achillessehne
und Resection des Proc. ant. calcanei.
26. Februar 1895. Bis jetzt mit Gipsgeh verbänden nachbehandelt
Heute ‘ohne Verband.
29. März 1895. Vollkommenes Resultat. Später noch mehr¬
fach constatirt.
Konnte zum Photographiren nicht ermittelt werden.
15 . Knauthe, Liddy, 20 Wochen, Copitz; Vater Fabrikarbeiter.
Pol. aufg. 9. Mai 1894. Linkss. Klumpfuss.
21. Mai 1894. Subcutane Tenotomie der Achillessehne. Im
wesentlichen mit Gipsverbänden behandelt. Ohne befriedigendes
Resultat.
12. October 1894. Operation nach Phelps.
17. Januar 1895. Resection des Proc. ant. calcanei. Behand¬
lung nicht bis zur Erreichung eines befriedigenden Resultates durch¬
geführt.
Fig. 8: Mrosk.
Digitized by
Google
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
157
16 . Hummel, Max, 6 Monate. Pol. aufg. 18. Februar 1893.
Doppels. Elumpfuss.
26. Februar. Subcutane Tenotomie der Achillessehne. Beider¬
seits Redressement forcd. Mit Gipsverbänden weiter behandelt.
25. Juni 1894. Geheilt entlassen. Die Ftlsse befinden sich in
etwas übercorrigirter Stellung.
17 . Katsch, Marie, 2 Jahre, Cotta; Vater Hausdiener. Pol. aufg.
1. August 1894. Rechtss. Elumpfuss.
8. August. Subcutane Tenotomie der Achillessehne.
17. August. Redressement forcä; Nachbehandlung mit Gips¬
verbänden. Resultat mangelhaft.
10. October. Offene Durchschneidung der Plantarfascie.
4. Januar 1895. Resection des Proc. ant. calcanei.
Juni 1895. Fuss ziemlich gut corrigirt. Versuch, das Resultat
durch Massage und Anlegung der Klumpfussmaschine durch die
Angehörigen zu erhalten.
30. September. Deutlicher Rückschritt. Behandlung mit elasti¬
schen Verbänden.
14. März 1896. Behandlung auch jetzt noch nicht abgeschlossen.
Fortwährende Neigung zu Recidiven.
18 . Geldner, Else, aus Löbtau; Vater Zimmermann. Pol. aufg.
8. August 1894. Eins. Elumpfuss.
24. September. Subcutane Tenotomie der Achillessehne. Re¬
dressement forcä. Gipsverband.
19. October. Offene Durchschneidung der Fascia plantaris,
Resection des Proc. ant. calcanei.
3. Januar 1895. Bis jetzt mit Gipsverbänden und elastischen
Verbänden behandelt; zuletzt mit Gipsgeh verband. Von jetzt ab ohne
Verband gelassen. Vollkommenes Resultat.
9. Februar 1896. Ist auf Bestellung nicht erschienen. End¬
resultat nicht festzustellen.
19 . Lukas, Marie, 4 Wochen, Dresden; Vater Müller. Pol. aufg.
"25. Januar 1895. Doppels. Elumpfuss. Starke Adduction und Supi¬
nation, relativ geringe Spitzfussstellung.
3. März. Bis jetzt mit Massage und Reductionsbewegungen
behandelt. Bekommt eine Klumpfussmaschine, in die jeden Tag 2mal
die Ftisse eingelegt werden.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band H
Digitized by Cjooole
158
Sprengel.
Januar 1896. Füsse vollkommen corrigirt. Das Kind kann
noch nicht selbständig auftreten; lässt sich aber mit Unterstützung
aufstellen. Photographirt.
20 . Philipp, Heinr., 1 l jt Jahr,
Schaneln bei Dittersbach. Pol.
aufg. 25. März 1895.
27. März. Offene Durch¬
schneidung der Fusssohle (Ph e 1 p s)
und Resection des Proc. ant. calcanei.
8. April. Gipsverband ge-
wechselt. In poliklinische Behand¬
lung entlassen.
Bis 7. Januar 1896 mit Gips-
und elastischen Verbänden behan¬
delt. Vollkommenes Resultat
Photographirt.
Fig. 10: Philipp.
Digitized by VjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
159
21. Stöber, Erich, 9 Monate, Wehlen; Vater Schuhmacher. Pol.
aufg. 12. Mai 1895. Linkss. Elumpfuss.
15. Mai. Wegen der Schwierigkeit der Behandlung des aus
ziemlicher Entfernung kommenden Kindes wird, zumal es bereits
Fig. 11: Stöber.
9 Monate alt, gleich die offene Durchschneidung der Plantarfascie
und die Resection des Proc. ant. calcanei vorgenommen, mit sub-
cutaner Tenotomie der Achillessehne.
18. October. Mit Gips verbänden nachbehandelt. Der Fuss
steht in vollkommen guter Stellung.
27. November. Vorläufig aus der Behandlung entlassen.
17. Februar 1896. Zur Controlle wiederbestellt, wegen leichten
Recidivs.
5. März. Photographie lässt eine leichte Adduction und die
noch bestehende Innenrotation des Unterschenkels erkennen, obwohl
beides beim Gehen kaum noch erkennbar ist.
22. Schöne, Walter, 10 Wochen, Radeberg, Ziehkind. Pol.
aufg. 1. Mai 1895. Doppels. Klumpfuss; auf der rechten Seite starke
Prominenz der Gegend des Proc. ant. calcanei.
31. Mai. Offene Durchschneidung der Plantarfascie und Re-
Digitized by VjOOQle
1Ö0
Sprengel.
section des Proc. ant. mit dem ebenfalls sehr prominenten und die
Correctur hindernden Os cuboideum.
10. October. Beiderseits völlig befriedigende Stellung; an¬
scheinend tibercorrigirt. Ohne Verband gelassen.
Fig. 12: Schöne.
5. März 1896. Photographirt. Kann passiv (läuft noch nicht)
mit voller Sohle niedergesetzt werden. Minimale Prominenz des Fuss-
rtickens.
23. Fröde, Albert, 3 Monate, Löbtau; Vater Restaurateur. Pol.
aufg. 15. Juni 1895. Doppels. Klumpfuss. Ausgesprochene Prominenz
der Knochen. 5 Monate lang mit Massage, Redressement forc6,
Klumpfussmaschine behandelt. Kein nennenswerther Erfolg.
19. August. Offene Durchschneidung der Fascia plantaris und
Resection des Proc. ant. calcanei und eines kleinen Keils aus dem Talus.
10. October. Vollkommenes Resultat; Gipsverbände erneuert.
14. November. Verbände können weggelassen werden. Massage.
Klumpfussmaschine.
Februar 1896. Zur Controlle wiederbestellt. Ganz geringe
Adduction. Schiene empfohlen. Konnte zum Photographiren trotz
mehrfacher Aufforderung nicht wieder erlangt werden.
Digitized by VjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
161
24. Bittner, Edwin, 4 Monate alt, Uttewalde; Vater Arbeiter.
Pol. aufg. 29. Juni 1895. Linkss. Klurnpfuss.
3. Juli. Wegen der Hochgradigkeit der Difformität und der
Schwierigkeit, das aus ziemlich grosser Entfernung gebrachte Kind
Fig. 13: Bittner.
regelmässig zu behandeln, wird gleich die offene Durchschneidung
der Plantarfascie und Resection des Proc. ant. calcanei vorgenommen.
5. März 1896. Ist abwechselnd mit Gips- und elastischen Ver¬
bänden behandelt worden. Heute photographirt. Vollkommenes Re¬
sultat. Da das Kind noch nicht auftreten kann, ist weitere
Behandlung mit Massage und Blechschiene, sowie fortdauernde Con-
trolle nöthig.
25. Zschieche, Arno, 7 Monate alt, Kleinnaundorf; Vater Berg¬
arbeiter. Pol. aufg. 17. August 1895. Doppels. Klurnpfuss. Der
rechte Klurnpfuss ist der mehr deformirte. Es wird beschlossen, um
später vergleichen zu können, auf dieser Seite die offene Durch¬
schneidung der Fascia plantaris und Resection des Proc. ant. calcanei,
links dagegen das Redressement force vorzunehmen.
25. October. Behandlung mit elastischen und Gipsverbänden.
Rechter Fuss steht zweifellos wesentlich besser, als der linke, obwohl
bei letzterem weit grössere Gewalt bei der Geradrichtung angewandt
worden ist. Die ungünstige Stellung des linken Unterschenkels ist
vielleicht zum Theil auf eine bei dem gewaltsamen Redressement ein¬
getretene Infraction zurückzuführen.
Digitized by VjOOQle
162
Sprengel.
5. März 1896. Photographie. Das Verhältnis zwischen beiden
Füssen ist das gleiche. Rechts sehr günstiges Resultat, links wenig
befriedigend; obwohl mit allen
Mitteln — feste Verbände,
elastische Verbände, Klump-
fussmaschine, Massage und
Blechschienen — eine Besse¬
rung der Stellung angestrebt
wurde.
19. März 1896. Phelps-
sche Operation links. Be¬
handlung noch nicht abge¬
schlossen.
26. Scheinpflug, Earl,
6 Monate, Gittersee. Unehe¬
liches Kind. Pol. aufg. 1. Oc-
tober 1895. Rechtss. Klump-
fuss. Wird mit Redresse¬
ment forcö, Gips- und ela¬
stischen Verbänden behandelt.
20. Januar 1896. Stellung so weit gebessert, dass von An¬
legung fester Verbände vorläufig abgesehen werden soll.
2. März. Von neuem elastischer Verband nothwendig; Fuss
steht gut, muss aber noch weiter controllirt werden.
27. Müller, Karl, 6 Monate, Pirna; Vater Kutscher. Aufg.
21. October 1895. Linkss. Klumpfuss.
25. October. Offene Durchschneidung der Plantarfascie und
Resection des Proc. ant. calcanei und eines kleinen Stückes vom Talus.
30. October. In poliklinische Behandlung entlassen.
4. Januar 1896. Stellung noch nicht befriedigend; verschlechtert
sich, sobald der feste Verband für eine Zeitlang weggelassen wird.
Behandlung noch nicht abgeschlossen.
28. Föhr, Käthe, einige Wochen alt, Dresden; Vater Brauer.
In Behandlung genommen 14. März 1892. Doppels, hochgradiger
Klumpfuss.
16. März. Subcutane Tenotomie der Achillessehne. Mit Re-
Fig. 14: Zscliieche.
Digitized by VjOOQle
In ruhiger Sohlenitellung.
Auf den Zehen stehend.
29. Pachtmann, Fritz, einige Wochen alt, Dresden; Vater Kauf¬
mann. In Behandlung genommen 16. October 1894. Rechts. Klump-
fuss. Mit Massage und Blechschienen, vom 24. November ab mit
Gipsverbänden behandelt. Entlassen in guter Stellung im Sep¬
tember 1895.
Anfang 1896 controllirt. Sehr befriedigendes Resultat. Der
deform gewesene Fuss noch an einer minimalen Prominenz des Fuss-
rückens zu erkennen.
30. Hille, Else, 6 Jahre, Bodenbach; Vater Bahnwärter. Aufg.
10. Juni 1895. Linkss. hochgradiger Klumpfuss. Patient läuft völlig
auf dem äusseren Fussrande, resp. Fussrücken, wo sich starke
Schwielenbildung findet. Fuss vollkommen starr.
12. Juni. Offene Durchschneidung der Plantarfascie. Frei-
Digitized by
Google
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses. 163
dressement forcö und Gipsverbänden, später abwechselnd mit elasti-
sehen Verbänden behandelt; etwa 1 Jahr lang. Photographirt An¬
fang 1896. Vollkommenes Resultat.
Fig. 15a: Föhr. Fig. 15b: Föhr.
»'
164
Sprengel.
legung und Resection des Proc. ant. calcanei, nebst eines kleinen
Theils vom Taluskopf. Als auch jetzt an dem enorm veränderten
Fu8s die Correctur nicht völlig gelingt, wird die Muskeldurchschneidung
nach Phelps hinzugefügt. Gipsverband in corrigirter Stellung.
Bis Ende des Jahres
mit corrigirenden Verbän¬
den, von September ab mit
Gehverbänden behandelt.
Es wurde ein ausge¬
zeichnetes Resultat erzielt.
Das Kind ging ohne Schutz¬
vorrichtung tadellos. Photo¬
graphie etwa ein halbes
Jahr nach dem letzten
Besuch.
31. Schneppe, Louis,
13 Jahre; Vater Arbeiter.
Befand sich bei meiner
Uebersiedelung nach Braunschweig im Herzoglichen Kranken¬
hause und wurde ganz stationär behandelt.
Fig. 17 a: Schneppe.
Fig. 16: Hille.
Patient tritt mit dem Fussrücken auf. An der Rückseite, etwa
dem Os cuboideum und dem vorderen Ende des Calcaneus entsprechend,
starke Schwielen. Unterschenkel atrophisch und etwa 2 cm kürzer
als der rechte. Starke Adduction und Prominenz des Talus und
Proc. ant. calcanei.
11. April. Phelps’sche Operation mit Schonung des Plantaris
internus. Entfernung des Proc. anterior calcanei und eines Stückes
Digitized by VjOOQle
Zur Behandlung des angeborenen Klumpfusses.
Fig. 17 b: Schneppe.
165
vom Taluskopf. Endlich offene Durchschneidung des stark contra-
hirten M. tibialis anticus. Gips verband. Glatter Verlauf.
Juli. Photographie. 3 Monate nach der Operation Fussgelenk
activ und passiv fast frei beweglich. Patient kann gut niederkauern.
Vollkommenes Resultat.
Digitized by VjOOQle
XI.
Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von
Dr. A. Lüning und Dr. W. Schulthess, Privat-
docenten in Zürich.
vn.
Aerztlicher Bericht Ober den Zeitraum vom 31. December 1890
bis zum 31. December 1894.
Erstattet von den Anstaltsärzten.
Mit 23 in den Text gedruckten Abbildungen.
Erster Theil.
Rüekgratsverkrümnnmgen. 482 Fälle.
A. Die Skoliose. 424 Fälle.
Die Untersuchungsmethode.
In unserem ersten Anstaltsberichte*) wurde schon erwähnt,
dass wir den Messungen mit unserem Messapparate 1 2 ) stets noch
diejenigen mit dem Nivellirzirkel und Nivellirtrapez beifügen. Wir
sind dieser Methode durchaus treu geblieben, nur haben wir sie noch
in etwas festere Form gebracht, wie das aus dem unten beigedruckten
Formular ersichtlich ist.
Bevor wir jedoch dasselbe besprechen, können wir nicht um¬
hin, auf unsere Mess- und Zeichnungsmethode nochmals etwas ein¬
zugehen. Wir sagen nochmals, weil wir uns bereits früher einmal
1 ) Siehe Zeitschrift für orthop. Chirurgie 1892, Bd. 1 Heft 4.
2 ) Siehe Centralblatt für orthop. Chirurgie Nr. 4 9. Jahrgang, April 1887.
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
167
veranlasst sahen, unser Messungsverfahren zu vertheidigen 1 ). Es
könnte sich ja fragen, ob man heute nicht Veranlassung hätte, ein
noch vollkommeneres Verfahren anzuwenden. Es sind schon
mehrfach die grossen Vorzüge des Zand ergehen Messapparates
hervorgehoben worden.
Wenn wir nun auch durchaus anerkennen, dass der Zander’sche
Apparat die Aufnahme sämmtlicher an der Körperoberfläche ge¬
legener Punkte und die Bestimmung ihrer Lage im Raume, bezw.
ihrer gegenseitigen Lage gestattet, und das9 er das, soweit die
mechanischen Leistungen des Apparates in Frage kommen, in sehr
vollkommener Weise thut, so liefert die Messung nach ihrer Voll¬
endung eben doch kein Bild, sondern dasselbe muss erst aus den
aufgenommenen und durch Zahlen bestimmten Punkten hergestellt
werden. Unser Apparat liefert aber in derselben Zeit ein
brauchbares, demonstrationsfähiges Bild, an dem even¬
tuell noch Messungen vorgenommen werden können. Wir würden
einen Nachtheil und einen Rückschritt darin erblicken, wollten wir
das Bild nun auf einmal durch Zahlen ausdrücken, was ja mit
unserem Apparate ein Leichtes wäre. Wir schätzen diesen Vortheil
so sehr, dass wir dagegen die Möglichkeit der exacten Lagebestimmung
einer grösseren Anzahl von Punkten an der Vorderfläche des
Rumpfes nicht eintauschen wollten. (Eine kleinere Zahl können wir
ja auch mit unserem Apparat aufnehmen.) Was speciell die Lage
und Richtung der Dornfortsatzlinie anbetrifft, so erhält man von
derselben mit der ersten Bewegung zwei Bilder, d. h. eines projicirt
auf die Frontal-, eines auf die Sagittalebene. Diese Möglichkeit
bietet bis jetzt kein anderer Skoliosenmessapparat, auch der Hein-
leth'sche nicht 2 ). Die viel besprochene Wünschbarkeit der Aufnahme
von Horizontalcontouren gestehen wir durchaus zu. Wenn wir aber
bei der jetzigen Einrichtung unseres Apparates Halbcontouren machen
können, so wiegt das gewiss den Mangel der vollständigen Hori¬
zontalcontouren schon zu einem guten Theile auf.
Der Heinleth’sche Apparat ist allerdings technisch ein recht
vollkommener, er gestattet offenbar 3 ) die Anlegung von horizontalen
*) Siehe diese Zeitschrift Bd. 2 Heft 3 : Einige Bemerkungen über Messung
und Messungsverfahren S. 229.
*) Wir haben selbst den Heinleth’schen Apparat noch nicht gesehen.
*) Siehe Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1893.
Bd. 1 S. 40 und Bd. 2 S. 134.
Digitized by ejOOQle
168 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
und verticalen Contouren in derselben Ebene sehr rasch und sehr
schön, aber trotz dieser grossen technischen Vollkommenheit geht
auch diesem Apparate die Fähigkeit ab, dem Gang der
Linie im Baum folgend diesen Gang in zwei Projectionen
graphisch aufzutragen. Sobald die Linie von der horizontalen,
eventuell verticalen Ebene abweicht, muss die Messung vicariirend
eintreten. Nicht zu vergessen ist natürlich auch, dass der Hein-
1 eth’sche Apparat ca. 3mal mehr kostet als der unsrige.
Aehnliches wie der Heinleth’sche Apparat liefert der vor
Kurzem von Hübscher in Basel erfundene 1 ). Er gestattet aber
nur die Aufnahme einzelner Horizontalcontouren auf einmal, und
gibt diese auch nur in verkleinertem Massstabe wieder, aber er ist
ausserordentlich handlich, im Local transportabel und sehr billig.
Niemals kann aber ein Apparat, der nur zur Aufnahme von hori¬
zontalen Contouren construirt ist, als alleiniger Messapparat für ein
orthopädisches Institut ausreichen. Direct fehlerhaft halten wir an
diesem Apparat die Fixation des Patienten vermittelst der Kopf¬
gabel.
Ein weiterer bei den Messungen zu berücksichtigender Punkt
ist die Beziehung der Zeichnung auf die Ebene der Spinae. Während
wir im Ganzen dahin trachten, die Stellung des Skoliotischen nicht
zu beeinflussen, sind wir durch die Construction des Apparates ge-
nöthigt, den Patienten mit der Verticalebene der Spinae parallel
zur Messebene einzustellen. Dadurch erreichen wir den grossen
Vortheil, dass wir auch unsere Messungen und Zeichnungen stets
auf die Ebene der Spinae beziehen können, während man uns
den Vorwurf machen kann, wir beeinflussen dadurch die Stellung
des Patienten. Diejenigen Apparate, welche den Patienten zu
einer centrirten Einstellung nöthigen, wie z. B. der Hübscher-
sche, beeinflussen diese Stellung aber jedenfalls in weit höherem
Grade.
Da selbstverständlich mit der Zeichnung noch lange nicht alles
Wissenswerthe gewonnen ist, so haben wir, um unsere Beobachtungen
vollständiger und für eine Statistik leichter verwerthbar zu machen,
seit Ende 1892 das beigedruckte Schema für die Aufnahmen und
Controllmessungen verwerthet:
*) Siehe Beiträge zur klinischen Chirurgie. Mittheilungen aus den chirur¬
gischen Kliniken von Tübingen, Basel etc. Bd. 13 Heft 1.
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
169
Laufende Nr.- Journal-Nummer_
Orthopädisches Institut
von
Dr. A. Lüning und Dr. W. Schulthess in Zürich.
Name: --■-Alter:-Diagnose: -
Adresse:____
Datum: den-189_
Anamnese. Vater lebt - ist gestorben an
Deformitäten: --
Mutter lebt-ist gestorben an-
Deformitäten: ___
Geschwister leben:-gestorben an_
skoliotisch:-tuberculös : _
Deformitäten:-
Frühere Krankheiten: a) Infectionskrankbeiten: _
b) Andere Krankheiten:
Ernährung im Säuglingsalter:
Rhachitis durchgemacht:
Lernte gehen im Alter von:
Litt an Deformitäten der Extremitäten:
An Verkrümmung der Wirbelsäule in den ersten Jahren des Lebens:
Verkrümmung beobachtet seit:
Schlechte Haltung beobachtet seit:
Als Ursache wird beschuldigt:
Zusätze:
Digitized by VjOOQle
170 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Status.
Datum der Untersuchung:
1. Constitution: -
2. BlutfUlle : —_
8. Mnsknlatnr:-
4. Pannlcnlns: -
5. Haltungstypus: -
6. Haltung: a) sicher; b) unsicher -
7. Spina vorgeschoben: -
8. Körpergewicht: -
9. Körperlfinge: -
10* Thorax : symmetrisch; asymmetrisch; Deformitäten :
14. Beim tiefen Böcken : a) Domf.s.lin. wird gerade: —
b) Domf.s.lin. behält einen Bogen n.-m.Kuppe
in Höhe d. Proc. spin.: -
c) „ erscheint über d. Becken abgelenkt n.:
d) Sulcus paraspin. verstrichen in Höhe des -
e) Rippenwölbung stärker-
I f) Neigungsgrad d. Spin. post. sup. oss. il. n.:-
g) L.wirb.s. Einst. Höhe d. Proc. spin. Torsion: —
B B B B B -
B B B B B -
1» B B B » -
B * B B B -
B B B B J» -
15. B.Seitwärtsbg. n. 1. liegt d.Krümmungsscheit. a.Pr.sp.d.:
» B B BBBB
17. Deutl. Steifigk. b. Seitwärtsbeug, n_i. Höhe d.Pr.sp.
18. Distanz von Spina z. Malleol. extern.:_
19. Deformitäten (Plattfuss, Genu valg.):_
20. Innere Organe; -_
21. Behandlungsresultat:-
22. Zusätze:__
> h) B.wirb.s.
8
u ^ ( 11. Neigung der linken Crista-
^ | 12. , , rechten , ---
g S | 18. „ „ Verbind.-Lin. der Spin, anter. sup.: -
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
171
Behandlung.
Datum
von bis
Datum
von bis
Schaldispensation ^
■)
Gymnastik einfach.
in der Anstalt |
i
i
privatim . . J
i
i
i
i
Rot ationsa pparat |
i
i
(
i
i
\
Petorsion nach f
i
i
(
i
i
\
Beladung (Reely-Fischer) f
i
i
tugpriiDg nach ^
i
i
Suspension f
i
i
Lagerungsapparat für die Nacht-
i
i
i
\
in der Anstalt j
i
i
privatim . . j
i
i
Portativapparate und Corscts (
i
i
Hohe Sohle f
!
i
Zusätze:
*) Anm. Diese Rubrik ist jeweilen zur speciellen Bezeichnung des in
Anwendung gezogenen Verfahrens bestimmt.
Digitized by
Google
172 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Hierzu seien uns einige erläuternde Bemerkungen gestattet.
In der Anamnese, welche zwar stets lückenhaft bleiben wird, haben
wir einen besonderen Werth auf die Constatirung früherer Rhachitds
gelegt. Unsere bisherigen Erfahrungen machten uns doch den be¬
stimmten Eindruck, dass der Grosstheil der schweren, besonders der
mittelschweren Skoliosen auf rhachitischer Grundlage entstanden sei,
eine früher besonders von Rupprecht verfochtene Ansicht, welche
jedenfalls nicht genügend gewürdigt wurde.
Im Status haben wir die Bezeichnung »Haltungstypus* der
Staffel’schen Arbeit entlehnt, und haben uns bis jetzt auch an die
vonStaffelangegebenenBezeichnungen: »Normal*, »runderRücken*,
»flacher Rücken* gehalten. (Vergl. hierüber unsere: Klinische Studien
über das Verhalten der physiologischen Krümmungen bei Skoliose *).
Das genauere Verhalten der physiologischen Krümmungen er¬
gibt sich natürlich aus den Zeichnungen. Oft ist es allerdings be¬
sonders bei vorgeschrittenen Skoliosen recht schwer oder unmöglich,
den ursprünglichen Haltungstypus zu erkennen, so sehr haben die
secundären Veränderungen der Wirbelsäulenform den Krümmungs¬
typus derselben verwischt.
Fortgesetzte Beobachtungen sollten eben auch darüber Auf¬
klärung bringen, in welcher Weise eine am runden Rücken, in
welcher Weise eine am flachen Rücken auftretende Skoliose sich
entwickelt, denn mit dem Satze, oder vielmehr dem Glauben, dass
die flachrückigen Skoliosen schlimmer seien als die rundrückigen,
können wir uns nicht ohne weiteres zufrieden geben. (S. hierüber
weiter unten die Besprechung der einzelnen Skoliosenformen.)
Im ferneren verdienen die Punkte 11, 12 und 13 noch eine
Erläuterung: Neigungsgrad der Verbindungslinie der Spin. post, super,
zur Spin. ant. super, im Formular der Kürze halber mit »Neigung
der linken und rechten Crista“ bezeichnet, und »Verbindungslinie
der Spin. ant. super, beider Seiten“, werden mit dem Nivellirzirkel
gemessen. Die Messung wird an dem mit annähernd parallel ge~
stellten, aber nicht an einander gelegten Füssen frei dastehenden
Patienten vorgenommen. In dieser Stellung werden die Zirkelspitzen
an die genannten Punkte angelegt und der Neigungsgrad abgelesen.
Wie schon in der früheren Publication erwähnt, erreicht man durqb
die Messung der Punkte 11 und 12 nicht eine für die Beckenneigung
*) Siehe Centralblatt für orthop. Chirurgie Nr. 9 u. 10, 11. Jahrgang 1889.
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
173
gültige Zahl, da ja die Linie seitwärts der Medianebene und der¬
selben nicht einmal parallel verläuft. Trotzdem bietet aber die ge¬
fundene Zahl in mehrfacher Beziehung Gelegenheit, um uns über
die Beckenstellung zu orientiren. So bedeutet eine hohe Zahl, 15 bis
30°, eine starke Beckenneigung, eine kleine, 0—5°, eine geringe.
Bei den geringsten Graden der Beckenneigung endlich findet man,
dass die genannte Linie nach hinten geneigt ist. Diese Messung
gibt uns aber nicht nur Zahlen zur Vergleichung des einen Indi¬
viduums mit dem anderen in die Hand, sondern sagt uns auch vieles
über Form und Stellung des Beckens am einzelnen Individuum.
Wenn z. B. an demselben Individuum die bezeichnete Linie links
und rechts nicht dieselbe Neigung hat, so deutet dieses Verhalten
bereits schon entweder auf eine Senkung der einen Beckenhälfte,
bezw. Rotation des Beckens in den Hüftgelenken, oder Asymmetrie
des Beckens. Wenn wir ferner zu verschiedenen Zeiten verschiedene
aber symmetrische Neigungsgrade finden, so können wir daraus
Schlüsse ziehen auf die Energie der Rückenmusculatur und anderes
mehr. Aehnliches gilt von der Bestimmung der relativen Höhe der
Spin. ant. super. Leider konnten wir bis jetzt die Resultate dieser
Messungen noch nie zusammenstellen. Die Anhänger der Zander-
schen Messungsmethode werden uns vielleicht einwerfen, dass diese
Bestimmungen durch die Messungen mit dem Zander’schen Mess¬
apparat überflüssig wären, und gewiss wären wir auch, wenn wir
einen Zander’schen Messapparat besässen, nicht auf die Construction
des Nivellirzirkels verfallen, dagegen müssen wir doch betonen, dass
diese Nivellirzirkelmessungen in der denkbar freiesten Stellung, ohne
irgend welche Fixation des Patienten vorgenommen und in äusserst
bequemer Weise mit Unterlagen von Brettchen unter den einen
Fuss und mit Stellungsänderungen modificirt werden können, und
endlich, dass je zwei Punkte zu gleicher Zeit fixirt werden, während
die Z an d e r-Messung nur einen Punkt nach dem anderen zu bestimmen
im Stande ist. Die Bestimmung „ Spina vorgeschoben“ ist nur eine
Schätzung gegenüber der Fussstellung, die aber, wenn sie bei an¬
gesetzten Zirkelspitzen vorgenommen wird, ziemlich zuverlässig ist.
Die nun folgenden Punkte beschreiben die Form des Rückens
beim tiefen Vornüberbeugen, in der Turnsprache „Vorbeugehaltung“.
Mit Recht wird von erfahrenen Orthopäden die Inspection des Pa¬
tienten in dieser Haltung gefordert. Sämmtliche Niveaudifferenzen
treten dabei schärfer hervor, sowohl die asymmetrische Stellung der
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 12
Digitized by VjOOQie
174 Aerzti. Ber. üb. (L Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Wirbel als auch der Rippen. In dieser Stellung lassen sich im
Beginn der Deformität diese Asymmetrien zuerst entdecken; der
Sitz mancher Skoliose, der uns bei Besichtigung des aufrechtstehenden
Patienten unklar war, entpuppt sich deutlich, und umgekehrt ver¬
schwinden sie bei einer Besserung des Leidens zuletzt. Sehr rasch
und leicht erkennt man ja auch in dieser Haltung an dem ab¬
gedeckten Thorax die Gründe für die jeweilige Stellung des Schulter¬
blattes, welche ja meistens in der Configuration des hinteren Um¬
fanges der Rippen zu suchen sind.
Dem Vorgänge früherer Autoren gemäss haben wir versucht,
durch Einführung der Punkte: »Dornfortsatzlinie gleicht sich aus*
oder »behält einen Bogen nach“, »Sulcus paraspin. verstrichen“ und
»RippenWölbung stärker“ das Verhalten der Rückenfläche so gut wie
möglich für jeden Fall zu charakterisiren. Eine wichtige Ergänzung
erfährt diese Beschreibung durch Hinzufügung der Messungen mit
dem Nivellirtrapez. Exacter wäre freilich eine Contourzeichnung in
dieser Stellung in bestimmter Höhe vorgenommen, jedoch wollten
wir die Messung und Aufnahme des Status, die ohnehin ein ziem¬
liches Opfer an Zeit erfordert, nicht allzusehr compliciren. Wie sehr
wichtig es jedoch ist, irgend eine solche Messung, sei es mit dem
Lorenz’schen Nivellirinstrument, sei es mit dem Beely’schen
Apparate oder mit unserem Nivellirtrapez, vorzunehmen, lehrt die
tägliche Erfahrung. Besonders ist es die Einführung der Detorsions-
behandlung, welche von uns kategorisch auch ein strenges Maass
zur Beurtheilung der Torsionsverhältnisse verlangt, und zwar eben
in dieser Haltung.
Inwiefern die Nivellirtrapezmessung der Spinae poster. eine
Bedeutung für die Bestimmung der relativen Länge der Beine hat,
ist schon im ersten Bericht unseres Institutes gesagt worden.
Wenn wir im ferneren dem Verhalten des Rückgrates bei
Seitwärtsbeugung einen Platz einräumten, so geschah dies eben¬
falls im Hinblick auf längst bekannte Thatsachen. U. a. hat be¬
sonders Lorenz darauf aufmerksam gemacht, dass wohl eine Be¬
wegungsbehinderung nach einer Seite das erste Zeichen einer Skoliose
sein müsste. Ferner hat Hübscher 1 ) in seinen Bewegungsfelder-
') Siehe Beiträge zur klinischen Chirurgie. Mittheilungen aus den chirur¬
gischen Kliniken zu Tübingen, Heidelberg, Freiburg, Zürich, Basel, Bonn. XXVI.
Ueber Bewegungsfelder am menschlichen Körper S. 554—556.
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
187
der Angriffspunkte der Schnüre. Wir lassen die Kinder 10 bis
25 Minuten im Apparate stehen. Man beobachtet während dieser
Zeit, dass die meisten nach und nach dem Drucke nachgeben, und
sich mehr oder weniger redressiren, in einzelnen Fällen sogar um¬
krümmen. Um mit dem passiven Redressement im Apparate unter
Umständen zugleich eine active Uebung zu verbinden, kann auf
dem oberen Ring ein Stützhebel (s. Fig. 4 m) befestigt werden, an
welchen eine Rolle angehängt wird, über die wiederum eine mit
Gewicht beschwerte Schnur geführt wird.
Die Vortheile des Apparates bestehen in der genauen Anpassungs¬
fähigkeit an alle Grössenverhältnisse, der Möglichkeit, jede Stellung
bei Wiederholung derUebung wieder genau nach dembeigedruckten
Formular (S. 188) herzustellen, und den Druck aufs äusserste, ge¬
nau dem Falle entsprechend in Richtung und Kraft zu modificiren.
Seit der Construction dieses Apparates 1 ) hat Hübscher zu
ähnlichem Zweck seinen sogen. Redresseur construirt *). Unserer
Ansicht nach fehlt aber diesem Instrument eben gerade die Fähig¬
keit, den Druck fortlaufend auf bestimmte Stellen und in beliebiger
Richtung zu appliciren. Die Druckrichtung richtet sich nach der
Stelle des Ringes, an den der Druckhebel befestigt wird, und ist
nach Einstellung ein für alle Mal gegeben. Es fehlt ferner an der
genauen Fixirung der Stellung durch Zahlen und endlich an der
soliden Fixirung der Schultern.
Da unser Apparat, wie jeder redressirende Apparat mit
ruhender Belastung, eine lange Expositionszeit für die Zöglinge
bedarf, so Hessen wir für rechtsconvexe Fälle einen zweiten, ein¬
facheren Redressementsapparat herstellen, der nur Druckwirkung vom
Rücken her gestattet (s. Fig. 6).
Er besteht aus einem eisernen Galgen (a), welcher mit Becken¬
stütze (6), Schulterstütze (c) und einem Druckhebel (ci) mit Pelote (e)
versehen ist, sämmtliche verstellbar, um die Stellungen vermittelst
Scala zu fixiren. Zudem gestattet der Druckhebel durch Verstel¬
lung seines Drehpunktes bei f auf einer concav gegen den Kranken
gebogenen Doppelschiene (g) die Aenderung der Druckrichtung von
0 Er wurde im Mai 1893 in der Ges. der Aerzte in Zürich demonstrirt
und ist seit 1893 im Gebrauche. Er ist von Herrn Prof. Hoffa für seine
Privatklinik ebenfalls angekauft.
*) Siehe Beiträge zur klinischen Chirurgie. Mittheilungen aus den chirur¬
gischen Kliniken zu Basel. Freiburg etc. Bd. 13 Heft 1.
Digitized by
Google
188 AerztL Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Detorsionsapparat Nr. 1.
Journal-Nr. _
Name: _
Datum •
Schemel *
Hüfthalter, Höhe;
Schulterhalter, Höhe '
Breite *
„ Tiefe *
Stellung de« Hebelträgers bei*
Hebel Nr.
Pelote Nr.
Wnhp-
AnfTplf»rft •
Stellung der Rollenträger bei *
Schnüre *
Gewicht *
Armübung *
Stellung des Rollenträgers bei *
rjpy.ü p lit *
Zußätze *
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
189
Fall zu Fall bis zu einem gewissen Grade. Er wird durch eine
belastete Schnur, die an seinem äusseren Ende angebracht wird,
Fig. 6.
Detorsioaj&pparat Nr. 2 nach Dr. W. Schaltheas.
gegen den Rücken angepresst. Da aber ähnlich wie bei dem
Bübscher’schen Redresseur die Druckrichtung sich während der
Sitzung nicht ändert, so können stark nachgebende Verkrümmungen
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 13
Digitized by tjOOQle
190 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
mit diesem Apparat nicht behandelt werden. Demgemäss pflegen
wir ihn nur bei schweren Formen anzuwenden. Selbstverständlich
ist eine Vorrichtung (i) zur Verticalextension des Skoliotischen an¬
gebracht. Das beistehende Formular (S. 191) gibt über die
Anzahl der möglichen Verstellungen Auskunft.
Auch den Zander’schen Brustkorbdreher 1 ) wendeten wir in
unserem Institute an, seine Construction wurde von uns nur in sofern
abgeändert, als wir den beiden Seiten eine unabhängige Drehung
verschafften. Hierdurch ist es möglich, auf jeder Seite das passende
Gewicht anzuwenden, während man bei Verwendung des Zander-
schen Originals mit demselben Gewicht beide Seiten redressirt.
Die Modification in der angedeuteten Weise schien uns nothwendig,
weil der hintere Rippenbuckel dem Druck jeweilen mehr Wider¬
stand entgegensetzt als der vordere und man somit mit dem
Zander’schen Originalapparat auf dem vorderen Rippenbuckel zu
viel, auf dem hinteren zu wenig Druck ausübt. Für die Einstellung
siehe das beigedruckte Formular (S. 192).
Die Frage nun, ob wir durch die Anwendung dieser Apparate
eine wesentliche Aenderung, d. h. eine bedeutende Verbesserung
unserer Resultate beobachtet hätten, müssen wir dahin beantworten,
dass die Hoffnungen, die wir daran knüpften, nur zum Theil in
Erfüllung gingen. Allerdings zeigten die Messungsbilder öfters
eine messbare Abnahme der Torsion, was wir bei Dorsalskoliosen
früher nur sehr selten beobachtet hatten, Lendenskoliosen liessen
sich leichter umkrümmen, jedoch können wir von einem Umschwünge
der Resultate oder auch nur einzelner Resultate nicht reden. Trotz¬
dem glaubten wir doch, diese Apparate beibehalten zu müssen, da
immerhin ein gewisser, wenn auch geringer Fortschritt der Resul¬
tate zu constatiren war. Die später angeführte Statistik beweist,
dass wir in der nunmehrigen, letzten Berichtszeit 5—6°/o mehr
Besserungen erzielten wie früher.
Dass die bescheidenen Resultate, welche auch consequente und
lange Behandlung Skoliotischer zu Tage fördert, uns zur Ver¬
besserung unserer Behandlungsmethoden tagtäglich aufforderten, ist
selbstverständlich. Wir konnten deshalb bei der Anwendung der
beschriebenen Apparate keineswegs stehen bleiben, sondern versuchten,
unsere technischen Mittel weiter zu ergänzen und zu verbessern.
Obwohl das erst in den letzten Jahren geschehen ist und die nun-
') Siehe dessen Beschreibung in der Zeitschrift für orthop. Chirurgie 1893.
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
191
Orthopädisches Institut Zürich.
Detorsionsapparat Nr. 2.
Journal-Nr. -
Name: -
Dfttum:
Hxt.eTisuon;
Hüftstütze;
Hebel Höhe:
TVeh punkt:
Pilote Länge:
j
Schulterhalter Höhe •
Breite rechts *
Breite links:
ßei^nVbt •
Zusätze *
•
Digitized by
Google
192 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Zander’sches Detorsionsbrett Nr.
Journal-Nr.
Name: _
Datum ;
Stellung des Fnsshrettps •
Gewicht der Fxtension am Kopfe •
Pelote rechts Nr.
Länge *
Breite;
i
1
Ansatzstück:
Pplotp links Nr
|
Länge*
Brpit p *
Hnhp.
AnQ^t7 r gtÜ p k ’
G^^rj^tit ans Parallel rechts *
links ’
Armhalter*
Zusätze *
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
193
mehr zu beschreibenden Apparate, ebenso wie der Detorsionsapparat
Nr. 2, erst nach der Berichtszeit, mit den Jahren 1895 und 1896
in Function getreten sind, so schieben wir dennoch ihre Beschrei¬
bung, einem späteren Bericht vorgreifend, hier ein.
Schon längst war es unsere Absicht gewesen, eine Art Be¬
handlung einzuführen, welche durch vom Kranken selbst-
thätig ausgeführte Bewegungen das Redressement her¬
beiführen sollte. Die in den letzten Jahren erschienenen Ab¬
handlungen von Jul. Wolff und E. Zschokke, wodurch neuer¬
dings die Lehre von dem Einflüsse der Gelenksfunction auf die
Knochenbildung discutirt wurde, haben uns von neuem in unserem
Vorhaben bestärkt und uns den Weg genauer vorgezeichnet, den
man in der Behandlungstechnik der Deformitäten zu gehen hat.
Alle diese Beobachtungen, ganz besonders aber diejenigen
Zschokke’s, legen klar, dass in der Function eines Gelenks oder
Knochensystems das mächtigste Mittel zur Umbildung der Knochen
liegt. In der Abhandlung von Jul. Wolff allerdings ist dieser
Grundsatz nicht mit Klarheit ausgesprochen. Wolff steht viel zu
viel unter dem Eindrücke, dass die Belastung der Knochen das
Hauptmoment in der Function der Knochen sei, vermengt auch im
Verlaufe seiner Abhandlung Belastung und Function in unklarer
Weise, um schliesslich doch damit zu enden, dass man gemäss dem
Ausdrucke von Roux eine functionelle Orthopädie schaffen müsse.
Der Begriff der functioneilen Orthopädie freilich ist verschiedener
Auslegung fähig. Er ist, wie man mir zugeben wird, nicht
so neu wie sein Name. Streng genommen würde ich dar¬
unter ein Verfahren verstehen, bei welchem durch Aende-
rung der Function, d. h. der Bewegungsform eines Ge¬
lenks oder eines Knochensystems, eine Einwirkung auf
die Formentwickelung versucht würde.
Nun muss man sich von vornherein sagen, dass eine solche Func¬
tionsänderung bei einem Gelenke z. B. nur in der Form stattfinden
kann, dass man unter Benutzung der Elasticität desselben leichte Stel¬
lungsveränderungen durch einen mechanischen Apparat herbeiführt,
und so das Gelenk arbeiten lässt; dass man dann allmählich zu grösse¬
ren und grösseren Stellungsveränderungen schreitet, und damit nach
und nach eine möglichst normale oder übercorrigirte Stellung, und ver¬
mittelst Arbeit des Gelenks in dieser Stellung eine normale Form der
Knochen und der bei der Gelenksarbeit betheiligten Weichtheile erzielt.
Digitized by CjOOQle
194 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
In ebendemselben Grade verdient aber auch den Namen
der functioneilen Orthopädie ein Verfahren, bei welchem
das Gelenk sich während der Bewegung in die corrigirte
Stellung hineinarbeitet, somit also nicht die ganze Func¬
tion, sondern nur einzelne Phasen derselben in corri-
girten Stellungen stattfinden. Die Veranlassung hätte in
diesem Falle auch der mechanische Hilfsapparat zu geben, der dem¬
nach „zwangläufig“ sein müsste.
In beiden Fällen ist es die Kraft der eigenen Muskeln, welche
am Gelenke arbeitet, somit unzweifelhaft die wirksamste Kraft, die
wir zur Correctur einer Stellung verwenden können. Die Mit¬
wirkung derselben ist uns von ganz besonderem Werthe bei Deformi¬
täten der Wirbelsäule, welche nicht gestatten, dass wir gerade die
am meisten deformirten Gelenke und Knochen direct beeinflussen,
und wo wir uns vom Maximum der Deformität ganz entfernter
Punkte, der Schultern, des Beckens und der Rippen, oft zum grossen
Schaden der letzteren, als Angriffspunkte für unsere vermeintlich
corrigirenden Kräfte bedienen müssen.
Als die wirksamere Methode möchten wir daher be¬
sonders für die Skoliose die zweite Art der functionellen
Orthopädie halten.
Diese Methode besteht ja auch schon längst für die leichteren
Formen der Skoliose, die durch freie Gymnastik allein schon redressirt
und bei langer Behandlungsdauer auch bedeutend gebessert, sogar
geheilt werden können.
Sie besteht ferner in allen denjenigen Methoden, bei denen der
Kranke entweder mit Unterstützung oder unter der redressirenden
Hand des Arztes oder Gymnasten seine Uebungen ausführt. Sie ist
in einzelnen Zander’schen Apparaten ausgesprochen, unter deren
Führung der Kranke zu einer symmetrischen Bewegung mehr oder
weniger energisch, mehr oder weniger exact veranlasst wird. Je¬
doch sind diese Apparate sämmtlich so eingerichtet, dass sie bei
schwereren Formen, welche der Bewegung nach einer gewissen Seite
an einzelnen Punkten grossen Widerstand entgegensetzen, diese
Theile nicht speciell in Angriff nehmen, sondern eben nicht mehr
auf sie wirken, als auf die gesunden Theile der Wirbelsäule. Hierzu
fehlt ihnen allen noch die kräftige Fixation und die genaue Ver¬
stellbarkeit. Die Zander’schen Apparate eignen sich deshalb mit
Ausnahme einiger weniger Lagerungsapparate (s. oben) für die Gym-
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
195
nastik mit Normalgebauten, nicht aber für die Behandlung von aus¬
gesprochenen Skoliosen.
Obwohl wir also die Zander’schen Apparate im ganzen für
manche Fälle (Circulations-, Allgemeinstörungen, Gicht, Nachbehand¬
lung von Verletzungen etc.) hochschätzen, und vor allem einem so
erfinderischen Kopfe wie Zander alle Hochachtung zollen, so konnten
wir dieselben im Hinblick auf unsere oben gegebene Auseinander¬
setzung doch nicht als die Verkörperung der Grundsätze der func¬
tioneilen Orthopädie für Skoliose acceptiren.
Nachdem wir schon im Jahre 1893 nach den entwickelten
Principien einen Uebungsapparat für Fussdeformitäten und Erkran¬
kungen der Gelenke der unteren Extremität construirt hatten (die
Beschreibung derselben erfolgt an geeigneter Stelle), gingen wir an
die Construction des ersten Skoliosenübungsapparates. Den drei
typischen Bewegungen der Wirbelsäule, Seitenbeugung,
Rotation, Ante- und Retroflexion, folgend, wurde der
erste Apparat für Seitwärtsrumpfbeugen eingerichtet.
In dem kräftigen Fuss (s. Fig. 7 a) von starkem Tiefendurch¬
messer liegt ein Standbrett ( 6 ), das sich vermittelst eines Zahnrad¬
getriebes auch mit Belastung leicht heben lässt. An der hinteren
Seite des Apparates liegt eine starke, sehr leicht bewegliche Welle (c),
in welche zwei Hebel (d und e) nach oben gerichtet eingelassen sind,
und ein solcher nach unten gerichteter (/*). Letzterer trägt ein
verschiebbares Gewicht (g ) und eine Scala und kann zudem auf dem
Scheibensegment (h) in einen mehr oder weniger stumpfen Winkel
zu den nach oben ragenden Stäben gestellt werden.
Die beiden oben verbundenen Stäbe tragen an der Verlängerung
des Verbindungsstückes (!) eine Rolle (A*) zur Aufnahme einer Schnur
für die Suspensionsvorrichtung, ferner eine Doppelhülse (/) zur Auf¬
nahme der Stützvorrichtung für die Schultern und endlich eine Doppel¬
hülse (m) mit horizontal drehbarem Träger (w) für eine Druck-
pelote (o). Alle diese Einrichtungen sind vertical verstellbar. Die
Scala an dem einen Stabe sorgt für die Möglichkeit der Notirung
der Stellung. Die Schulterhalter ( 7 )) sind zudem noch rechts und
links und in der Tiefe verstellbar. Eine kräftige Vorrichtung dient
ferner der Fixirung des Beckens ( 7 ). Die seitwärts fassenden Halter (r)
stehen in jeder Stellung je gleich weit von der Mitte.
In diesem Apparate können die Kinder seitwärts Rumpfbeugen
in vorgeschriebener Ebene ausführen mit fest gefasstem Becken und
Digitized by VjOOQle
196 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
beliebig gefassten Schultern (s. Fig. 7) und zwar mit folgenden Modi-
ficationen.
Figr- 7.
Rumpfbeugeapparat (bei gerader Stellung) nach Dr. W. 8ohultheaa •).
1. Der hinter der Wirbelsäule liegende Drehpunkt kann in
beliebige Höhe verlegt werden (durch Verschiebung des Fussbretts).
*) Der Apparat ist von Herrn Prof. H o f f a für seine Privatklinik angekauft.
Digitized by
Google
Erstattet von den Anstaltsärzten.
197
Hierdurch gewinnt man einen Einfluss auf die Lage des Krümmungs-
scheitels bei den auszuführenden Bewegungen.
Fig. 8.
Kumpfbeugeapparat (bei gebeugter Stellung).
2. Die Schultern können
a) vollständig symmetrisch gefasst werden und dabei
b) beide vorgeschoben oder
c) beide zurückgezogen werden. Diese Verstellungen kommen
in Frage bei zu starker Krümmung nach vorn oder nach
hinten, bei Tendenz nach vorn oder hinten überzuhängen;
Digitized by tjOOQle
198 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
d) die eine Schulter kann vorgeschoben, die andere zurück¬
gezogen werden. Hieraus resultirt eine stärkere Rück¬
wärtsbeugung der einen Schulter während der Seiten¬
beugung;
e) die Schultern können in der Frontalebene verschoben
werden, was ebenfalls zu einer asymmetrischen Bewegung
führt, dadurch, dass der Bogen auf Seite der kürzer ge¬
stellten Schulter ebenfalls kürzer wird.
Selbstverständlich können vermittelst dieser Verstellungen
mannigfache Combinationen in der Stellung des Uebenden geschaffen
werden.
3. Die angegebene Pelote, welche in eine um den vorderen,
senkrechten Längsstab drehbare Hülse eingeschoben ist, lässt sich
ebenfalls in beliebiger Höhe und durch Einschieben in der Hülse in
beliebiger Breite appliciren. Da sie an dem selbst pendelnden Stabe
angebracht ist, so schwingt sie mit dem sich seitwärts beugenden
Körper hin und her, ihn immer begleitend und je nach der Spannung
der an ihrem hinteren Ende angebrachten Feder ihren Druck aus¬
übend. Wir bedienen uns dieser Pelote, um eine redressirende
Wirkung auf den Thorax auszuüben, so dass die bei der Uebung
thätigen Muskeln an dem mehr oder weniger redressirten Skelet
angreifen.
4, Eine weitere, sehr wichtige Einrichtung liegt in der Ver¬
stellbarkeit des mit dem Laufgewicht versehenen grossen Pendels,
welches den ganzen oberen beweglichen Theil balancirt. Durch Ver¬
schieben des Gewichtes nach unten erzielt man eine schwere Be¬
weglichkeit des Systems überhaupt, damit aber auch, wenn die Be¬
wegung einmal angehoben ist, grössere Schwungkraft.
Durch Verstellung des Pendels auf der mit der Drehachse fest
verbundenen Scheibe dagegen erzielt man einen schweren Gang des
oberen Theils nach einer bestimmten Seite und in bestimmter Kraft.
Der Apparat hängt nach einer Seite. (In Fig. 8 ist das Pendel
leicht seitwärts links gestellt, bildet also mit der über der Achse
gelegenen Stange einen nach links offenen stumpfen Winkel.)
Der Apparat ermöglicht also dem Uebenden unter Fixirung
des Beckens, in Verticalextension eventuell mit Hinzu¬
fügung eines redressirenden Pelotendruckes, unter be¬
liebiger Verstellung der Schultern und unter Anwen¬
dung eines auf den Schulterhalter wirkenden Wider-
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
199
Standes nach einer Seite, Seitenbeugungen des Rumpfes
auszuführen.
Die Uebungen sind so leicht auszuführen und Dank dem glatten
Gange des Apparates so mühelos, dass sie ohne Beschwerde von
Kindern 8—10—15 Minuten hinter einander mit Leichtigkeit ertragen
werden, so lange wie kaum eine andere Uebung ertragen wird.
Nicht zum wenigsten aus diesem Grunde haben wir in diesem Appa¬
rate ein mächtiges Mittel zur Correctur der skoliotischen Wirbel¬
säule gewonnen.
Bei der Anwendung pflegen wir folgendermassen zu
verfahren: Setzen wir den Fall, es handle sich um eine links¬
convexe Totalskoliose.
Das Kind, welches zuvor im Messapparat gezeichnet und in der
Eingangs erwähnten Weise untersucht ist, wird mit entblösstem
Oberkörper auf den Apparat gestellt. Das Standbrett wird so hoch
hinaufgewunden, bis die unteren Lendenwirbel in der Höhe der
Drehachse des Apparates liegen. Sodann wird das Kind vermittelst
der Kopfschlinge leicht extendirt. Die Extension bewirkt, dass das
Kind dem Apparate in seiner nachherigen Bewegung besser folgt.
Die Beckenhalter werden zusammengeschoben durch Drehung
der entsprechenden Kurbel, nachdem sie in der Höhe etwas unter¬
halb der Spinae anter. super, eingestellt sind. Es werden die beiden
Schulterhalter symmetrisch angeschoben, so dass der Thorax nicht
beengt ist. Nun zieht man den das System in der senkrechten
Stellung haltenden Bolzen aus und fordert das Kind auf, sich links
und rechts seitwärts zu beugen.
Haben wir es mit einer ganz leichten Form von Totalskoliose
zu thun, so genügt der gleich massige, die Bewegung des Uebenden
in eine frontale Ebene zwingende Gang des Apparates oft schon
allein, die Bewegung,"* die frei ausgeführt asymmetrisch ist, zu einer
symmetrischen zu machen, und damit sind wir fürs erste befriedigt
und lassen die Uebung 1—2mal pro Tag 5—10 Minuten ausführen.
Spätere Controllmessung lehrt dann, ob wir richtig eingestellt haben
oder nicht.
Beobachten wir nun bei diesem Einstellungsversuche, dass die
einfache, symmetrische Stellung nicht genügt, dass z. B. die linke
convexe Seite bei der Linksbeugung sich nicht genügend einbiegt,
so versuchen wir den linken Schulterhalter der Mitte zu nähern,
so dass der mit der linken Schulter zu beschreibende Weg kürzer
Digitized by CjOOQle
200 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum v. 31. Dec. 1890 bis zum 31. Dec. 1894.
wird als der rechtsseitige. Sollte ferner bei diesem Experimente sich
zeigen, dass nun die linke Seite weniger arbeitet, d. h. infolge der
ungünstigeren Hebelverhältnisse den Schulterhalter weniger weit nach
unten führt als rechts, so helfen wir uns wiederum durch Verstellung
des Gewichtshebels auf der Verstellungsscheibe nach links, wodurch
der Widerstand beider Seiten des Apparates wieder ausgeglichen
wird. Es kann auch Vorkommen, dass die vorhandene Ungleichheit
in der Form der Seitenbiegung verschwindet, sobald wir auf Seite
der Convexität einen stärkeren Widerstand geben.
Haben wir endlich beobachtet, dass ein gewisser Grad von
Torsion vorhanden ist, so wenden wir überdies die Pelote an.
Wiederum wird diese dort angelegt, wo wir die günstigste Wirkung
beobachten, und je nach dem Widerstande der betreffenden Partie
wird auch der Druck bezw. die Spannung der Feder modificirt.
Das einfache Beispiel einer Totalskoliose lehrt, wie sehr hier
individualisirt werden muss, und wie wenig sich bis jetzt stricte Ge¬
setze über die Anwendung des Apparates aufstellen lassen.
Im allgemeinen haben wir uns davon überzeugt, dass ungefähr
folgende Grundsätze massgebend sind:
1. Die Stellung der Schulterhalter muss, nach der Tendenz des
Falles rechts oder links zu fallen, gerichtet werden.
2. Die vorstehende Schulter ist etwas zurückzuziehen.
3. Die Pelote ist auf der Seite aufzusetzen, an welcher die
stärkste Torsion bemerkbar ist.
4. Der grössere Widerstand ist auf der Seite anzuwenden, auf
welcher die Pelote liegt, diese Regel ist aber sehr mit Reserve an¬
zuwenden, denn öfters ist man dadurch, dass die Kinder sich nach
der Seite des grösseren Widerstandes schieben und nicht nur
beugen, zu einer Umkehrung der Regel gezwungen.
Jeder Fall muss demnach vom behandelnden Arzte sorgfältig
eingestellt und während der Uebung controllirt werden, bis er eine
Einstellung gefunden hat, welche eine möglichst günstige Correctur
herbeiführt. (Die Uebungen finden in einem leichten Turncostüm statt.)
Wir benutzen öfters auch zwei Einstellungen beim gleichen
Falle und lassen die Uebungen unmittelbar einander folgen. Die
Einstellung, welche stets auf den hierzu erstellten Formularen
(S. 201) für jeden einzelnen Fall genau notirt wird, ist sehr rasch
bewerkstelligt und erfordert auch bei den complicirteren Formen
höchstens 1—1 ^ Minuten.
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
201
Orthopädisches Institut Zürich.
Rumpfbeugeapparat.
Journal-Nr. _
Name: _
Dalum:
Fussbrett •
!
Extpnsmn :
ßp£rpn£rpwir*Vil •
Hüfthalter t
Schulterbalter Höhe:
Breite ‘
links
1
rechts
| links
rechts
Tiefe:
Ansftnh1si.gr •
;
Hemmung:
j
Pelote Nr.
Stellung*
l
i
i
j
Ti&71 CTA •
i
Höhe:
i
Fpdor Nr •
Spannung *
1
Znsäfzp •
1
i
1
Digitized by VjOOQle
202 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Nachdem der Apparat, den wir seit Anfang des Jahres 1895
brauchen, eine Zeitlang in Function stand, konnten wir an den
Messungen den günstigen Einfluss, den derselbe auf unsere Resultate
hatte, unschwer erkennen. Wir sahen Reductionen von leichten
Skoliosen in so kurzer Zeit wie früher nie. Mehrere solcher Fälle,
die bisher unserer Behandlung einen bedeutenden Widerstand ent¬
gegengesetzt hatten, wurden bedeutend gebessert und konnten ent¬
lassen werden. Sehr günstig sahen wir auch die Seitenverschiebungen
des Rumpfes beeinflusst, sowie die Stellung der Schultern, und die
mittelschweren und schweren Rippenbuckel zeigten weit mehr als
bei der Anwendung der Detorsionsapparate mit ruhender Belastung,
eine bessere Nachgiebigkeit gegen manuelle Redressementsversuche.
Aus diesem Grunde pflegen wir nun auch den Apparat bei fast allen
Skoliosen anzuwenden. Fast immer gelingt es nach einigen Ver¬
suchen, eine Einstellung herauszufinden, welche die Bewegung günstig
beeinflusst. Wir haben demnach die Genugthuung, dass unsere
Resultate durch Anwendung dieses Apparates eine wesentliche Ver¬
besserung erfahren haben, was ja auch unsere Statistik nachweist;
die später zu erwähnenden Zahlen ergeben vom Jahre 1895 an 10 °/o
mehr Besserungen als bis zu diesem Zeitpunkt (s. auch Fig. 10).
Es folgte nunmehr die Construction des Rotationsapparates
(s. Fig. 9). Ein starke, eiserne Säule (a) trägt zwei gusseiserne
Arme oder Träger, von denen der untere (b) als Träger für die
Beckenfixationsvorrichtung (c), der obere (d) als Träger für die der
Hauptsache nach an den Schultern angreifende Rotationsvorrichtung
dient. Die beiden Träger werden vermittelst der Schrauben s und t
durch Umdrehung der entsprechenden kleinen Kurbel auf- und ab¬
wärts bewegt.
Die Rotationsvorrichtung besteht aus einem Bügel (e), der in
die über dem Kopfe des Uebenden in den Träger eingesenkte Ro¬
tationsachse (f) gefügt ist.
Der Bügel trägt an seinem horizontalen Theile die Rolle (g)
für die Suspensionsvorrichtung, an ihrem verticalen Theile dagegen
eine ähnliche Vorrichtung zur Fixation der Schulter ( h) wie der
vorige Apparat, mit derselben Verstellbarkeit, ferner ebenfalls in
Analogie mit dem vorigen Apparate eine verstellbare Druckpelote (i).
Nur die Construction ihrer Fassung ist etwas anders gewählt, so
dass der Stab, welcher die Drehachse des Pelotenhebels trägt, bei
Application auf die rechte Seite links von der senkrechten Stange (e)
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
203
steht, und umgekehrt. Durch diese Construction ist es möglich ge¬
macht, die Pelote bis hart an die Dornfortsatzlinie heranzuschieben.
Fig. 9.
Rotationeapparat (Seitenansicht) nach Dr. W. Schu Ithess >).
Während nun die an der eben besprochenen Stelle einschalt-
bare Pelote mit den Schultern des Uebenden, d. h. mit dem diese
l ) Der Apparat ist von Herrn Prof. H o f f a für seine Privatklinik angekauft.
Digitized by VjOOQle
204 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum v. 31. Dec. 1890 bis zum 31. Dec. 1894 .
fixirenden Apparatentheil mitläuft, somit also eine Rotationsbewegung
unter beständigem Redressement ermöglicht, dient eine zweite auf
Fi*. 10.
Rotationsapparat bei Linksrotation des Lebenden unter Application einer Druckpelote.
dem unteren Träger fixirte Pelote (/ 2 ) (s. den Träger der Pelote
bei fr) dazu, den Uebenden eine Bewegung gegen einen federnden
Digitized by tjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
205
Widerstand ausführen zu lassen. Diese Art der Anwendung des
Kotationsapparates gleicht also auf ein Haar dem von Benno
Fig. 11.
Botationsapparat bei Bechtsdrehung des Hebenden unter Application der Druckpelote.
Schmidt angegebenen Verfahren, der die Skoliotischen eine kräftige
Rotationsbewegung mit einem gewissen Schwung ausführen liess,
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 14
Digitized by VjOOQle
206 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
während seine Hand sich gegen die fixirten oder torquirten Theile presste.
Diese Bewegung kann sehr gut zur Mobilisirung verwendet werden.
Die Abbildungen Fig. 10 u. 11 zeigen den Gebrauch des Appa¬
rates und dessen Wirkungsweise am entblössten Körper. Die regel¬
mässigen Uebungen finden selbstverständlich in der bei uns üblichen
leichten Turnkleidung statt.
Aus der eben gegebenen Beschreibung geht hervor, dass der
Apparat für die Rotationsbewegung des Rumpfes ähnliche Ver¬
stellungen gestattet wie der Rumpfbeugeapparat für die Seiten¬
beugung. Die Bewegung des Apparates um die senkrechte Achse
kann nun nach Belieben durch eine Hemmungsvorrichtung erschwert
werden. Ueber eine auf der Drehachse (s. Fig. 9 f) des Apparates
liegende Rolle (/) wird eine Schnur geführt, durch eine ebenfalls
horizontal liegende Rolle (m) weiter geleitet und auf einer vertical
gestellten Doppelrolle (w) aufgewickelt. Diese wiederum wird in ihrem
Gange durch eine zweite, an einem Hebel (o) mit Laufgewicht (p)
befestigte Kette (r) beeinflusst. Die Drehachse ist so gestellt, dass
sie ungefähr in derselben Ebene liegt, in welche die beiden Tro-
chanteren im Beckenfixationsstück sich einstellen. Die Wirkungsweise
des Apparates kann nun auf folgende Weise modificirt werden:
1. Wählt man für die Schultern eine mittlere Stellung, so
wird die Drehung vom Uebenden demnach in dieser Achse ausgeführt.
2. Schiebt man die Schulterhalter vor, so wird mit der Drehung
zugleich eine stärkere Seiteuverschiebung des Rumpfes zu Stande
gebracht, und zwar beiderseits gleich.
3. Schiebt man die Schulterhalter zurück, so resultirt daraus
bei der Rotation nach rechts eine gleichzeitige Verschiebung des
Oberkörpers nach links, und umgekehrt.
4. Schiebt man die eine Schulter vor, die andere zurück, so
entstehen bei der Rotation daraus die entsprechenden Combinations-
formen der Verschiebung bezw. die Reduction der Drehung um den
der Differenz in der Schulterhalterstellung entsprechenden Grad.
5. Schiebt man die Schultern beide nach rechts oder beide
nach links, so ergibt sich daraus eine Drehung der Wirbelsäule in
einem tiefer liegenden Theile, wohl am stärksten in demjenigen, in
welchem die stärkste Abknickung stattfindet.
6. Fügt man hierzu den Druck der am beweglichen Theile
verschiebbar angebrachten Pelote, so lässt sich dadurch ebenfalls der
Ort der stärksten Drehung genauer localisiren, oder es lässt sich
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
207
ein Abschnitt des Rumpfes, welcher bei der Drehung eine abnorm
starke Drehungstendenz zeigt, in dieser Richtung reduciren.
7. Bringt man die feste Pelote in Anwendung, so entsteht die
bereits oben skizzirte Wirkung. Der oberhalb der Pelote liegende
Rumpfabschnitt wird über die Pelote gleichsam rückwärts geworfen.
8. Fügt man zu den beschriebenen Vorrichtungen noch die
Spannungsvorrichtung für die Drehungen, so gewinnt man ein neues
Moment, das für das Redressement in äusserst wirksamer Weise zu
verwerthen ist. Erst wenn der Bewegung ein gewisser Widerstand
entgegengesetzt wird, so treten die verschiedenen Verschiebungen
des Rumpfes deutlich hervor.
Wenn auch die Einstellung, insbesondere auch die Auswahl
und Anwendung der Grösse des Widerstandes in jedem einzelnen
Falle durch sorgfältige Beobachtungen der Wirkung am entblössten
Oberkörper studirt werden muss, so gilt doch gesetzmässig von
vornherein für jeden Fall, dass bei der Rotation nach
rechts insbesondere die linksseitige schräge Bauchmus-
cuiatur und der rechtsseitige Sacrospinalis in Contrac-
tionszustand versetzt werden. Hieraus lässt sich für jeden
Fall ein Theil der Wirkung vorausbestimraen. Selbstverständlich
werden die Stellungen des Apparates, welche an allen Theilen
mittelst Scalen abzulesen sind, auf den beigedruckten Formu¬
laren (S. 208) für jeden einzelnen Fall notirt, damit in den Uebungs-
stunden der Apparat rasch und sicher (1—2 Minuten Verstellungs¬
zeit) verstellt werden kann. Er dient uns hauptsächlich zur Behandlung
der complicirten Formen der Skoliose, welche durch seine Anwen¬
dung nächst derjenigen des Rumpfbeugeapparates von allen uns bis
jetzt bekannten Apparaten die günstigste Beeinflussung erfahren 1 ).
Bevor wir auf die Statistik der in der Berichtszeit (1891—94)
in unserem Institute behandelten Skoliotischen eingehen, werfen wir
noch einen Blick auf die Behandlung, wie sie sich heute mit Hilfe
der beschriebenen Apparate in unserem Institute durchführen lässt.
Die Kinder werden meistens von der Schule anfänglich ganz, später
theilweise, leichtere Formen der Skoliose überhaupt nur theil weise
dispensirt. Sie verbringen täglich 1—2—4 Stunden im Institute
zur Absolvirung ihrer Uebungen; fast durchweg pflegen wir mit den
l ) Die beschriebenen Apparate werden von der Maschinenfabrik von
A. Schmid a. d. Sihl, Zürich, geliefert.
Digitized by
Google
208 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Orthopädisches Institut Zürich.
Rotationsapparat.
Journal-Nr.
Name: -
Datum:
Fussbret
Extensio
t •
n:
Widerstand
Schnurstellung:
links
rechts
links
rechts
(rewicht *
Uebergewicht:
Hemmung •
1
Oberer r
Träger Höhe:
,
1
; i’
bewegliche Pelote Schulterhalter
Höhe *
Rrpite •
Tipfp.
Vordere Stütze *
HnViP •
! l
Tiefe •
Lange•
Pplote Nr
t
Stellung •
Ferler Nr
!
1
II
Unterer
H
1
feste Pelote
Höhe- 1
Tiefe • 1
Länge * 1
Pelote Nr 1
FeHer Nr
1_
Zusätze
|i
i
Digitized by
Google
Erstattet von den Anstaltsärzten.
209
Kindern eine Anzahl gymnastischer Geräth- und Freiübungen zu
machen; wir sehen streng darauf, dass sie sich zwischen den
Uebungen regelmässig ausruhen; daneben werden Uebungen in den
verschiedenen Redressementsapparaten ausgeführt. Für die leichteren
Formen, Totalskoliosen, Lendenskoliosen, benutzen wir den Loren z-
schen Detorsionsrahmen und den Rumpfbeugeapparat, für die Lenden¬
skoliose daneben den Rotationsapparat. Für die complicirteren Formen,
welche mit starker Torsion verlaufen, benutzen wir meistens den Ro¬
tation sapparat und daneben die Detorsionsapparate eigener Construc-
tion. Auf diese Art ergibt sich eine verhältnissmässig grosse Ab¬
wechslung in der Anwendung der mechanischen Hilfsmittel und die
Möglichkeit einer strengen Individualisirung. Immer bildet die Messung
und Zeichnung die Grundlage für die Anwendung der einzelnen Appa¬
rate und ganz besonders für die Umänderungen der Einstellungen.
Statistik der einzelnen Formen und der Behandlnngsresnltate.
Im Institute wurden in der Berichtszeit 1891—94 424 Sko¬
liosen beobachtet; nämlich 65 männliche und 358 weibliche, davon
sind auf 1895 übertragen 63 Fälle.
Unter den 424 Skoliotischen befinden sich
15 rhachitische Skoliosen, ferner
23 unbestimmte Formen (Mangel an Notizen etc.)
9 mit schwankender Haltung
Summa 47 Fälle.
Ueber den Rest von 377 Fällen gibt die beistehende Tabelle I
in Bezug auf die verschiedenen Formen, ihre Yertheilung auf die
Geschlechter und die Richtung der Abweichung Aufschluss.
Tabelle I.
Gruppe
Total
Links¬
seitig
Rechts¬
seitig
' Männ¬
lich
^ Weiblich
Totalskoliosen ....
9b
79
IG
18
78
Lumbalskoliosen . . .
17
14
3
2
15
Einfache Lumbodorsal- u.
Dorsalskoliosen . . .
112
49
60
15
97
Complicirte Dorsalskoliosen
152
29
123
16
136
377
171 | 202
4 unbestimmte
377
51
3'
| 326
17
Digitized by
Google
210 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Wir haben zur Beurtheilung der Resultate folgendes Ver-
. fahren eingeschlagen. Auf eine Tabelle wurden sämmtliche Skoliosen
eingestellt und zwar nach folgenden Gesichtspunkten:
1. Alter.
2. Geschlecht.
3. Anamnese und Heredität.
4. Ernährungszustand.
5. Musculatur.
6. Form der Deformität:
a) Totalskoliose.
b) Lumbalskoliose.
c) Dorsalskoliose.
d) Andere Deformitäten.
7. Haltungstypus.
8. Behandlung mit:
a) Schuldispensation.
b) Gymnastik.
c) Maschinelle Behandlung in den verschiedenen Apparaten.
d) Lagerungsapparate.
e) Massage.
f) Portativapparate.
g) Hohe Sohle.
9. Behandlungsdauer.
10. Ganzer Beobachtungszeitraum.
11. Behandlungsresultat.
12. Endresultat am Schluss der Beobachtung.
Sowohl Resultat 11 als 12 zerfällt in drei Rubriken, nämlich:
a) Allgemeinzustand.
b) Deviation.
c) Torsion.
Für den Grad der Veränderungen wurden jeweilen 7 Bezeich¬
nungen eingeführt:
1. Bedeutend gebessert.
2. Gebessert.
3. Wenig gebessert.
4. Unverändert.
5. Wenig verschlimmert.
6. Verschlimmert.
7. Bedeutend verschlimmert.
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
211
Die Bezeichnung „geheilt“ haben wir nie angewendet, obwohl
wir hierzu in einzelnen Fällen wohl berechtigt gewesen wären; im
allgemeinen lassen sich eben kleinere Reste, auch bei den besten
Resultaten, immer noch herausfinden. Bei den anamnestischen
Daten haben wir hauptsächlich unser Augenmerk auf das Vorhanden¬
sein von Rhachitis gerichtet, allerdings sind die Angaben hierüber
oft recht unsichere. In Bezug auf die Formen unterschieden wir
die Total-, Lumbal- und Dorsalskoliose, wobei die hochgelegenen
Lumbalformen unter der Bezeichnung „lumbodorsal“ mit den dor¬
salen Formen zusammengenommen wurden. Neu ist gegenüber
unserem ersten Bericht die Registrirung des Haltungstypus, ent¬
sprechend derselben Rubrik in den Untersuchungsformularen (s. oben).
Die Behandlung haben wir in der angegebenen Weise detaillirt und
registrirt, um im einzelnen Falle die Ursache allfälliger Veränderungen
nachweisen zu können. Wenn wir ferner neben der Behandlungs¬
zeit die ganze Beobachtungszeit notirten, so geschah dies einerseits
deshalb, weil wir in einer Reihe von Fällen unsere Beobachtungen
während mehrerer Jahre fortsetzen konnten, und andererseits eben
durch diese Beobachtungen in den Stand gesetzt waren, die Ver¬
änderungen der durch die Behandlung gewonnenen Resultate in der
darauf folgenden Zeit zu verfolgen und zu registriren. In Bezug
auf die Resultate wollten wir dieses Mal noch genauer vorgehen als
im ersten Bericht, wie aus der gegebenen Aufzählung hervorgeht.
Nachdem je weilen für jeden einzelnen Fall sowohl das Resultat am
Schluss der Behandlung als das Endresultat mit einer der sieben
Bezeichnungen charakterisirt war, wurde aus dem Zustande der
Deviation, Torsion und des Allgemeinbefindens jedem einzelnen Fall
eine Note ertheilt, und diese aus den drei Punkten combinirte Re¬
sultatnote diente alsdann zur Ausführung der Statistik. Die Torsion
wurde hierbei jeweilen nicht nur nach den Horizontalschnitten des
Messungsbildes beurtheilt, sondern es wurden hierzu auch die Re¬
sultate der Nivellirtrapezmessung beigezogen; besonders die letzteren
geben ja ein ganz sicheres Resultat für die Beurtheilung des ein¬
zelnen Falles. Wir haben dann in einzelnen Gruppen einerseits die
gebesserten Fälle unter der Bezeichnung günstige Resultate und
andererseits die unveränderten und verschlimmerten gemeinsam unter
der Bezeichnung ungünstige Resultate zusammengefasst. Darnach
ist die Beurtheilung der Resultate eine sehr scharfe; wir sind, wie
die obige Tabelle ergibt, auch im Stande, Angaben über den Einfluss
Digitized by
Google
212 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
der Behandlung auf die Deviation oder auf die Torsion für sich
allein zu machen.
I. Die Totalskoliose. 96 Fälle.
Unter Totalskoliose verstehen wir eine Form der Rückgrats¬
verkrümmung, bei welcher die Dornfortsatzlinie in einem einzigen,
grossen, seitwärts gerichteten Bogen verläuft (s. Fig. 10). Die Tor¬
sion, d. h. die Drehung des ganzen Rumpfes oder einzelner Abschnitte
desselben um die verticale Achse, ist dabei im ganzen öfters eine
nicht nach der Convexität, sondern nach der Seite der Concavität
gerichtete; allerdings kommt es auch vor, dass Torsion auf der Seite
der Convexität beobachtet wird, oder man findet im aufrechten Stehen
eine Torsion nach der Seite der Concavität, bei tiefem Bücken eine
nach der Seite der Convexität, mit dem Nivellirtrapez zu bestimmende.
Es wird Aufgabe einer speciellen Bearbeitung sein, diese Verhältnisse
genau zii eruiren. Bei den 96 Fällen finden wir:
männliche . . . 18 = 18,7 °/o
weibliche ... 78 = 81,3 „
und zwar
linksconvexe . . 79 = 82,3 °/o
rechtscouvexe . . 16 = 17,7 „
Das Durchschnittsalter betrug 11,5 Jahre, und zwar bei den
männlichen 10,5, bei den weiblichen 11,1 Jahre; das jüngste Indi¬
viduum stand im 5., das älteste im 21. Lebensjahre. Die meisten
Fälle weist das 12. und 13. Jahr auf, nämlich 14 und 17.
Unter den ätiologischen Momenten ist bemerkenswerth, dass
bei 13 von den 96 anderweitige Erkrankung an Skoliose in der
Familie beobachtet ist; 4 stammen aus tuberculösen Familien, es
besteht aber kein Zweifel darüber, dass genauere Nachforschungen
diese Zahl erhöht hätten. 15 zeigten von jeher eine schlechte
Haltung, waren also offenbar sehr frühzeitig an Skoliose
erkrankt. Vereinzelt wurde als Ursache der Totalskoliose gefunden:
bei einem Kinde Ankylose im linken Schultergelenk, bei einem
Ischias (Ischias scoliotica) bei einem rechte Körperhälfte stärker
entwickelt. Iihachitis ist bei 6 Fällen schon anamnestisch ange¬
geben. Der Ernährungszustand war nur bei 13 sehr gut, bei 45
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
213
ziemlich gut oder gut, bei 27 gering, und 17 leiden an Anämie. Die
Musculatur war sogar nur bei 7 sehr gut, bei 44 gut oder ziemlich
gut und bei 34 gering. Man kann also jedenfalls behaupten, dass
Ernährungszustand und Musculatur bei ungefähr der Hälfte unter
einem normalen Maass standen. Der Haltungstypus, den wir leicht
Fig. 12.
Totalskoliose (Journal*Nr. 1373) beim Eintritt am 13. Juni 1894.
aus unseren Zeichnungen ersehen, falls er nicht schon bei der ersten
Beobachtung des Patienten notirt wurde, ist bei der Totalskoliose
bei mehr wie der Hälfte der Fälle, 55mal, der runde Rücken;
über die einzelnen Formen des runden Rückens wird anderweitig be¬
richtet werden; 11 mal ist flacher Rücken, 8mal normaler Haltungs¬
typus, 12mal normaler mit Neigung entweder zu rundem oder zu
flachem Rücken constatirt. In 5 Fällen findet sich die auffallende
Notiz: flach, Neigung zu rund. Wir weisen hier darauf hin, dass
schon Staffel (s. Haltungstypen) den Ausspruch gethan hat: „Vom
flachen Rücken zum runden nur ein Schritt.“ Es gibt wirklich Fälle,
welche sich als flache Rücken präsentiren und dabei bei nächster Ge¬
legenheit den Typus des runden Rückens angenommen haben. Nur in
Digitized by CjOOQle
214 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 81. Dec. 1894.
einem Falle ist eine secundäre Kyphose notirt, d. h. es wäre hier die
Kuppe des Krümmungsscheitels der anteroposterioren Krümmung an
die Stelle der Kuppe des Krümmungsscheitels der Seitwärtsbiegung
gewandert. (Ueber die Entstehung der secundären Kyphose siehe die
Arbeit von Dr. W. Schulthess im Centralblatt der orthopädischen
Chirurgie und Mechanik 1889: Klinische Studien überdas Verhalten der
Fig. 13.
i
Dieselbe Totalakolioae nach Behandlung J ahr mit kleinen Unterbrechungen am 15. Dec. 18S4.
physiologischen Krümmungen der Wirbelsäule bei Skoliose.) Von
weiteren Deformitäten sind 2mal ßeinverkürzung rechts, 2mal links,
2mal Atrophie des linken Beines, lmal Schädel- und Gesichtsasym¬
metrie, 2mal Thoraxasymmetrie, lmal Genu valgum und 5mal Platt-
fuss beobachtet, d. h. bei einer verhältnissmässig geringen Zahl.
Die Behandlung bestand neben der Anwendung von Gymnastik
in Application von Lagerungsapparaten (Beely, BarwelFsche
Schlinge). Ferner wurden die Detorsionsapparate nach Lorenz,
Schulthess, Zander, besonders aber der Lorenz’sche Detorsions-
rahmen häufig gebraucht. In der Berichtszeit war der letztere der
Hauptapparat, der zum Redressement der Totalskoliose verwendet
wurde; seit Anfang 1895 ist dagegen der Rumpfbeugeapparat Schult-
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
215
hess der Hauptübungsapparat für diese Fälle geworden. In wenigen
Fällen kam Stoff- oder Gipscorset zur Anwendung; das Stoffcorset
wurde jeweilen, wie schon in unserem ersten Berichte erwähnt, in
ähnlicher Weise wie das Beely’sche construirt, nur wurden meistens
die Achselkrücken weggelassen. In einigen Fällen, hei denen die
Beinverkürzung eine Rolle spielte, wurde hoher Absatz verordnet,
Fig. 14.
Dieselbe Totalskoliose bei Wiedereintritt wegen Recidiv am 17. September 1895.
so auch bei dem in Fig. 12—15 als Beispiel aufgeführten Fall. Massage
wurde hei solchen Kindern ausgeübt, deren Musculatur einer be¬
sonderen Nachhilfe bedurfte. Nur ausnahmsweise diente Massage
allein zur Behandlung. Bei der Gymnastik werden nebst den früher
beschriebenen Uebungen (s. erster Bericht) noch unter Commando
Athmungstibungen und Rumpfbeugeübungen ausgeführt, die letzteren
derart, dass in Schrittstellung eine Rumpfbeugung so tief wie mög¬
lich ausgeführt wird; im zweiten Tempo wird der Kopf und Ober¬
rumpf aufwärts gehoben, während das Becken noch in der tiefen
Beugestellung bleibt; in der dritten Zeit wird der so unter kräftigster
Anspannung der Rückenmusculatur redressirte Rumpf aufgerichtet.
Auf diese Art erzielt man eine ausserordentlich energische Auf-
Digitized by CjOOQle
216 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec* 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
richtung und Streckung des Rückens, aber selbstverständlich nur
unter beständiger, scharfer Controlle.
Von diesen 96 Totalskoliosen sind consultativ behandelt worden 9:
aus der Behandlung vorzeitig entlassen 13 und in Behandlung ge¬
blieben 55. Die Behandlungsdauer betrug bei 30 1—3 Monate, bei
16 über 3 Monate, bei 10 über v t 2 Jahr, bei 6 über 3i 4 Jahre und
Fig. 15.
I
Dieselbe Totalskoliose nach Behandlung, 4 Monate, hauptsächlich mit Rumpfbeuge*
apparat, am 22. Januar 1S96.
bei 5 über 1 Jahr. In 2 vereinzelten Fällen war Behandlung mit
Unterbrechungen während mehr wie 2 Jahren bezw. mehr wie
4 Jahren nothwendig.
Die Resultate waren nun folgende:
Erstens bei den 9 consultativ Behandelten:
bedeutend gebessert .... 2
gebessert.2
wenig gebessert.2
unverändert.1
wenig verschlimmert.... 2
demnach wurde Omal ein günstiges, 3mal ein ungünstiges Resultat
erzielt. In Anbetracht der geringen Zahl consultativ Behandelter
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzt-en.
217
übergehen wir eine noch weiter gehende Analyse dieser Re¬
sultate.
Zweitens bei den 55 im Institut Behandelten (intern oder
extern) ergaben:
bedeutend gebessert ... 14
gebessert.24
wenig gebessert.10
unverändert.4
wenig verschlimmert ... 3
demnach 48mal oder 87,2 °/o günstiges Resultat und 7mal ungünstiges.
In Fig. 12—15 ist ein Beispiel einer durch die Behandlung bedeutend
gebesserten Skoliose aufgestellt. Es geben die vier Figuren
ferner eine Illustration dazu, dass wir mit unseren neueren
Apparaten in kürzerer Zeit Besseres zu leisten im Stande
sind, wie mit unserer früheren Behandlungsmethode. In
beiden Behandlungsperioden wurde ein hoher Absatz, zuerst 1 cm,
dann 5 mm, angewendet.
Zerlegen wir das Resultat in Bezug auf Deviation und
Torsion, so ergibt sich:
Deviation Torsion
bedeutend gebessert . . .
. 22
10
gebessert .......
. 18
19
wenig gebessert ....
. 5
8
unverändert ......
. 7
13
wenig verschlimmert . .
2
3
verschlimmert .....
1
1
günstiges Resultat ....
45
37
ungünstiges Resultat . . .
. 10
17
Es ergibt sich aus dieser Zusammenstellung, dass durch unsere
Behandlung allerdings die Deviation im allgemeinen mehr zurück¬
ging als die Torsion, aber ebenso wird schon durch diese Zahlen
der häufig gelesene Satz, dass bei der Skoliose die Torsion sich
nicht beeinflussen lasse, widerlegt.
Die Endresultate waren den eben genannten Resultaten sehr
ähnlich, und da die Beobachtungszeiten öfters sehr lange sind, so
besitzen sie doch einen gewissen Werth. Wir hatten Gelegenheit,
während folgender Zeiträume unsere Patienten zu controlliren, von
denen wir mehr als eine Messung aufgenommen haben.
Digitized by CjOOQle
218 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
3 Fälle . . 6—7 Jahre
1 Fall. . . 5—6 „
6 Fälle . . 4—5 *
5 . . 3— 4 *
5 * . . 2-2 ,
15 , • • 1-2 ,
44 weniger als 1 Jahr
Die Endresultate waren nun folgende bei den 55 im Institut
Behandelten:
bedeutend gebessert ... 16
gebessert.23
wenig gebessert.8
unverändert.3
wenig verschlimmert ... 5
also 47mal günstiges Resultat = 85,4 °/o und 8mal ungünstiges.
Nach diesen Zahlen waren also die Rückfälle unbedeutende.
Interessant ist noch das Yerhältniss der Resultate in Beziehung auf
Deviation und Torsion gegenüber den Behandlungsresultaten.
Deviation Torsion
bedeutend gebessert . . .
. 24
11
gebessert.
. 14
19
wenig gebessert ....
4
10
unverändert.
. 8
11
wenig verschlimmert .
. 2
3
verschlimmert.
. 3
—
günstiges Resultat ....
. 42
40
ungünstiges Resultat . . .
. 13
14
Die Torsion weist darnach am Schlüsse der Behand¬
lung eine geringere Anzahl Besserungen auf als am
Schlüsse der Beobachtung, während es sich bei der Devia¬
tion umgekehrt verhält. Es muss also, wenn die Zahlen einen
Schluss gestatten, die Torsion, welche während der Behandlung
nicht so sehr gebessert wurde wie die Deviation, sich im Laufe
der folgenden Zeit auf Kosten der Deviation bezw. unter Vermehrung
derselben wieder etwas zurückgebildet haben.
II. Die Lumbalskoliose. 17 Fälle.
Die auffallend kleine Zahl von 17 Fällen ist dadurch entstanden,
dass wir hier nur diejenigen Formen aufgezählt haben, welche ohne
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
219
Gegenkrümmung verlaufen; die anderen, zahlreichen Fälle finden sich
unter der Rubrik „lumbodorsal“ und * dorsal complicirt“. Die Lenden¬
skoliose zeigt wie bekannt eine Seitenabweichung des Rückgrates in
der Lendenhöhe (s. Fig. 16), die Dornfortsatzlinie weist daselbst die
Höhe ihres Krümmungsscheitels auf, die der convexen Seite ent-
Fig. 16.
Lnmbalskoliose (Journal-Nr. 754) beim Eintritt am 16. Mai 1891.
sprechende Taille ist verstrichen, die entgegengesetzte stärker ein¬
gezogen, in vorgeschritteneren Fällen mit leichter Faltenbildung, die
unteren Rippen der convexen Seite sind etwas vorgewölbt und meistens,
ebenso wie die zunächst der Dornfortsatzlinie gelegenen Theile der
Lendengegend, ziemlich stark nach hinten vorgerückt. Gerade diese
Torsionserscheinungen sind bei den meisten Lendenskoliosen ziem¬
lich stark ausgesprochen. Daneben kommt aber auch öfters eine
deutliche Verdrehung des Schultergürtels nach der entgegengesetzten,
concaven Seite zur Beobachtung.
Digitized by VjOOQle
220 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dee. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Recht schwer ist es hie und da, zu entscheiden, ob die primäre
Veränderung bezw. der primär deformirte Wirbel in der beob¬
achteten Krümmung selbst oder mit entgegengesetzter Keilform
unterhalb der sichtbaren Krümmung direct auf dem Kreuzbein liege.
Wir zweifeln nicht daran, dass wir Fälle als linksseitige Lenden-
skoliose rubricirt haben, zu denen ein tiefliegender, nach links
abgeschrägter Keilwirbel die Veranlassung gegeben hat.
Fi g. 17.
Unter den 17 Fällen befinden sich:
linksseitige . . . . 14
rechtsseitige .... 3
männliche.2
weibliche.15
Das Durchschnittsalter beträgt 13 Jahre, das jüngste Individuum
ist 8, das älteste 19 Jahre alt.
Bei den ätiologischen Momenten haben wir 2mal Rhachitis con-
statirt, 3mal war schlechte Haltung von jeher angegeben, 2mal
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
221
Skoliose in der Familie, 2mal langdauernde Anämie und lmal wurde
das Tragen eines sehr engen Corsets (?) constatirt.
Der Ernährungszustand war im ganzen besser als bei den
Totalskoliosen, d. h. llmal ziemlich gut und gut, lmal sehr gut,
3mal gering, Anämie bei 6 Individuen. Die Musculatur war 14mal
ziemlich gut und gut, und nur lmal gering, ein Hinweis darauf, dass
die Lendenskoliose viel eher als die Folge einer an bestimmter Stelle
aufgetretenen Enochendeformität angesehen werden muss und nicht
als eine infolge von Erhiüdungshaltungen bei schwachen Individuen
aufgetretene Belastungsdeformität.
Bei der Revision des Haltungstypus fällt vor allem gegenüber
der Totalskoliose das Vor wiegen des flachen Rückens auf. Es wurde
beobachtet: 9mal flacher Rücken, 3mal runder Rücken, 4mal nor¬
maler Haltungstypus, bei einem der letzteren Fälle mit starker Lordose.
Andere Deformitäten sind wenige notirt, 2mal Beinver¬
kürzung links, lmal Neigung zu Plattfuss.
Die Behandlung bediente sich derselben Mittel wie für die
Totalskoliosen, allerdings mit der Modification, dass unter den De-
torsionsapparaten mehr die stärker wirkenden nach Schulthess
und Zander zur Anwendung kamen, ebenso verhältnissmässig
häufiger das Stoffcorset.
Die Behandlung dauerte in den meisten Fällen zwischen
3 und 12 Monaten, wurde in 3 Fällen über 1 Jahr, in einem 2
und in einem 4 Jahre mit Unterbrechungen durchgeführt. Die
Beobachtungszeit betrug dementsprechend 3 Monate bis 5 Jahre,
6 Fälle konnten über 3 Jahre bezw. bis zu 5 Jahren in ihrem Ver¬
laufe verfolgt werden.
Von den 17 Fällen traten 13 in Behandlung, nur äiner
consultativ, mit dem Resultat wenig gebessert, die übrigen er¬
gaben am Schluss der Behandlung:
bedeutend gebessert .... 2
gebessert.5
wenig gebessert.1
unverändert.1
wenig verschlimmert ... 1
verschlimmert.1
Resultat fehlend ..... 1
also 8 günstige und 3 ungünstige Resultate.
Die Endresultate gestalten sich ähnlich:
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 15
Digitized by VjOooLe
222 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
bedeutend gebessert .... 4
gebessert.3
wenig gebessert.2
unverändert.1
wenig verschlimmert . . . 1
verschlimmert.1
also 9 günstige und 3 ungünstige Resultate. Analysiren wir
auch diese Resultate nach der Veränderung der Deviation und der
Torsion, so ergibt sich am Schlüsse der Behandlung:
Deviation Torsion
bedeutend gebessert .... 4 2
gebessert.3 3
wenig gebessert.1 2
unverändert.1 3
wenig verschlimmert .... 1 —
verschlimmert.1 1
demnach wurde für die Deviation bei 8 Fällen ein günstiges
und bei 3 Fällen ein ungünstiges, für die Torsion in 7 Fällen
ein günstiges und in 4 Fällen ein ungünstiges Resultat
erzielt.
Für die letzte Beobachtung ergeben sich noch günstigere
Zahlen: bei der Deviation wurde in 9 Fällen ein günstiges*
in 3 Fällen ein ungünstiges Resultat erzielt, und für die
Torsion in 8 Fällen ein günstiges und in 4 Fällen ein un¬
günstiges.
Die beiden Hauptsymptome der Skoliose sind dem¬
nach in der der Behandlung folgenden Zeit nicht etwa
wieder schlimmer geworden, sondern sogar noch zurück¬
gegangen. (Siehe hierzu die Fig. 16 u. 17, welche das End¬
resultat wiedergibt nach einer Beobachtung von 4 Jahren.) Die
Torsionsverhältnisse sind, im aufrechten Stehen beurtheilt, deutlich
gebessert, wie die Figur sagt, dagegen hat die Nivellirzirkelmessung
bei Vorbeugen des Rumpfes fast dieselben Resultate ergeben wie
bei der ersten Messung.
III. Dorsal- und Lumbodorsalskoliosen.
Wir haben hier die einfachen von den mit Gegenkrümmung
verlaufenden getrennt.
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
223
a) Einfache Dorsal- und Lumbodorsalskoliosen. 112 Fälle.
Hier sind diejenigen Formen rubricirt, deren Krümmungsscheitel
in der Dorsalwirbelsäule liegt. Es handelt sich hier einerseits bei
den leichteren Formen meistens um einfache Abknickungen der Dorn¬
fortsatzlinie (s. Fig. 18), welche alsdann den übrigen Theil der Wirbel¬
säule mehr oder weniger beeinflusst; andererseits um ganz schwere
Formen, welche zum Theil immerhin einfache Krümmungen gewesen
Fig. 18.
Einfache Dorsalakoliose (Jonrnal-Nr. 395) beim Eintritt am 20. September 1888.
sein können, zum Theil aber, wie schon anderweitig ausgeführt, aus
doppelsinnigen Skoliosen entstanden sind dadurch, dass die Verkrüm¬
mung des dorsalen Abschnittes sich immer mehr auf Kosten der
übrigen Abschnitte ausbildete (s. Fig. 20 u. 21). Während es eine
allgemein bekannte Thatsache ist, dass eine vorhandene Krümmung,
gleichgültig in welchem Abschnitt sie liegt, zu Gegenkrümmungen
in den benachbarten Wirbelsäulenabschnitten führt, so scheint uns
weniger bekannt zu sein, dass umgekehrt die eine Krümmung sich
wieder unter Vermehrung der anstossenden vermindern kann. Wir
haben solche Beobachtungen sowohl bei behandelten als bei nicht-
behandelten Skoliosen gemacht (s. Fig. 20 u. 21). Hierin ist offenbar
Digitized by CjOOQle
224 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
der Grund dafür zu suchen, dass wir gerade bei den ganz schweren
und schwersten Formen der Dorsalskoliose öfters keine Spur einer
Lendenskoliose am Lebenden nachzuweisen vermögen.
Bei diesen 112 Fällen finden wir 15 männliche und 97 weib¬
liche Individuen, eine Verhältnisszahl, wie sie sich ähnlich bei den
anderen Formen nicht findet.
Die Krümmung war in 49 Fällen eine linksconvexe, in
Fig. 19.
Einfache Dorsalskoliose nach 8monatlicher Behandlung am 29. Mal 1889.
60 Fällen eine rechtsconvexe, bei 3 nicht bestimmt. Hierbei
ist auffallend, dass die Zahlen trotz der bekannten Häufigkeit der
rechtsconvexen Dorsalskoliose sich so nahe rücken. Wir werden
später sehen, dass diese Erscheinung sich dadurch erklärt, dass die
linksconvexe Dorsalskoliose viel häufiger einfach bleibt
als die rechtsconvexe. Dasselbe constatirten wir schon in
unserem ersten Bericht.
Das Durchschnittsalter betrug für die männlichen
15,3 Jahre, wenn man einen Fall von 43 Jahren abrechnet. Für
Digitized by Cjooole
Erstattet von den Anstaltsärzten.
225
die weiblichen 14,4 Jahre, wenn man ein 37- und ein 57jähriges
Individuum abrechnet, nur 13,7 Jahre. Die grösste Zahl fällt bei
den weiblichen Individuen auf das 12. und 13. Altersjahr, bei den
männlichen ist eine auf die verschiedenen Altersperioden gleich-
massige Vertheilung vom 6.—20. Jahre nachzuweisen.
Unter den ätiologischen Momenten zeigt sich wiederum
die hereditäre Belastung mit Skoliose in 9 Fällen, Tuber-
Fig. 20.
Umwandlung einer complicirten Dorsalskoliose in eine einfache (Journal-Nr. 888) am
81. Januar 1892.
culose der Familie in 5 Fällen, überstandene Rhachitis
ist bei 10 Fällen verzeichnet. Bei 40 Kindern war schlechte
Haltung seit längerer Zeit beobachtet, bei 5 war Herzfehler
vorhanden. Der Ernährungszustand war bei 32 gering, bei
49 ziemlich gut und gut, bei 14 sehr gut, 21 zeigten zudem
ausgesprochene Anämie. Die Musculatur wurde im ganzen
nicht schlecht entwickelt gefunden, d. h. bei 29 gering, bei 59 ziem¬
lich gut und gut und bei 8 sehr gut. Der Haltungstypus zeigt
in einem ziemlich grossen Procentsatz den runden Rücken, bei einer
etwas geringeren Zahl kommt der flache Rücken vor, bei einer
Digitized by CjOOQle
226 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
weiteren Anzahl wurde secundäre Kyphose constatirt. Die Zahlen
stellen sich wie folgt:
runder Rücken ... 38
flacher Rücken ... 32
normal.15
hohlrund.1
flachhohl, hohe Lordose 1
Fig. 21.
i
Umwandlung einer complieirten Doraalskollose in eine einfache (Journal*Nr. 883) am
2. April 1334.
Dabei beherrschte die secundäre Kyphose in 10 Fällen den
Haltungstypus, war aber zudem 7mal beim flachen, lmal beim runden
Rücken und lmal bei im übrigen normalem Haltungstypus vor¬
handen.
In Beziehung auf andere Deformitäten ist in erster Linie
ein Fall bemerkenswert!!, welcher eine deutliche Spaltung der Proc.
spin. vom 10. Brustwirbel bis zum 2. Lendenwirbel aufwies; die
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
227
rudimentär entwickelten Fortsätze umgrenzten einen Raum, der
eine ovale Form hatte und mit einer weichen Haut überkleidet war.
Es handelte sich hier offenbar um eine angeborene Anomalie, bei
welcher wir allerdings klinisch nur die Spaltung der Proc. spinosi
{bezw. die Nichtvereinigung der hinteren Bogentheile) nachweisen
konnten.
Von weiteren Deformitäten nennen wir einen Fall von an¬
geborenem, partiellem Radiusdefect. 4mal ist Pectus
carinatum, 4mal Plattfuss und 2mal Beinverkürzung
notirt.
In der Behandlung kam ausser Gymnastik und den schon
genannten Apparaten noch die Schede’sche Heftpflasterdetorsion
und ein Reclinationslagerungsapparat, bestehend aus einer über
einer schiefen Ebene ausgespannten Tuchschlinge, zur Anwendung.
In einem äusserst schweren Falle bei einem geistig und körperlich
zurückgebliebenen Kinde konnte dem fortwährenden Zusammensinken
der Wirbelsäule nur durch ein Stützcorset, das der Sicherheit wegen
mit Oberschenkelhülsen versehen werden musste, entgegengearbeitet
werden; das Resultat war aber trotzdem ein unbefriedigendes.
Die Behandlungsdauer betrug im Mittel 6 Monate, überstieg
aber selbstverständlich in einer Reihe von Fällen diesen Zeitraum,
es war zuweilen 1 Jahr und mehr, in 3 Fällen sogar 3—4 Jahre
nöthig, die Behandlung mit Unterbrechungen durchzuführen.
Von den 112 Fällen sind:
nur lmal vorgestellt ... 32
vorzeitig entlassen . . . . 11
im Institut behandelt ... 62
consultativ behandelt ... 8
Die Zusammenstellung der Resultate ergab für die letzteren:
gebessert.4
unverändert.1
wenig verschlimmert ... 2
verschlimmert.1
demnach in 4 Fällen günstiges, in 4 Fällen ungünstiges Resultat.
Von den 62 im Institut Behandelten sind:
bedeutend gebessert ... 8
gebessert.17
Digitized by CjOOQle
228 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
wenig gebessert . .
. . ii
unverändert . . .
. . 12
wenig verschlimmert
. . 8
verschlimmert . .
. . 3
demnach 36mal oder 61 °/o günstiges und 23mal ungünstiges Resultat.
Betrachten wir auch hier wieder
die Resultate
in Bezug auf
Deviation und Torsion gesondert, so er
gibt sich:
Deviation
Torsion
bedeutend gebessert . . . .
. . 10
8
gebessert.
. . 14
10
wenig gebessert.
. . 11
14
unverändert.
. . 10
12
wenig verschlimmert ....
. . 8
12
verschlimmert.
. . 5
2
bedeutend verschlimmert . .
. . 1
1
günstiges Resultat ....
. . 35
32
ungünstiges „ ....
. . 24
27
hier bleibt also die Besserung der Torsion nur wenig hinter
derjenigen der Deviation zurück.
In Bezug auf die Beobachtungsdauer können wir folgende
Zahlen anführen: 46 standen bis zu 1 Jahr in Beobachtung, von
weiteren 35 liegen Notizen über einen Zeitraum von 1—7 Jahren
vor. Die Endresultate, nach der letzten Beobachtung rubricirt,
ergeben hier etwas ungünstigere Verhältnisse:
bedeutend gebessert ... 6
gebessert.14
wenig gebessert.12
unverändert.14
wenig verschlimmert ... 9
verschlimmert.4
bedeutend verschlimmert . . 2
also 32 günstige und 29 ungünstige Resultate. Der Procentsatz der
günstigen stellt sich demnach um mehr wie 8 °/o (52,4 °/o) ungünstiger
als am Schluss der Behandlung.
Die Veränderungen der Deviation und Torsion verhalten
sich dementsprechend wie folgt:
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
229
bedeutend gebessert . . .
Deviation
. . 7
Torsion
7
gebessert.
. . 15
7
wenig gebessert ....
. . 10
14
unverändert.
. . 10
11
wenig verschlimmert . . .
. . 9
13
verschlimmert.
. . 9
6
bedeutend verschlimmert
. . 1
3
günstiges Resultat . . .
. . 32
28
ungünstiges Resultat ...
. . 29
33
Daraus geht hervor, dass die Torsion sich an dem Rückgang
während der der Behandlung unmittelbar folgenden Zeit
noch mehr betheiligt hat als die Deviation, es zeigt sich
hier also das umgekehrte Verhalten wie bei der Total¬
skoliose.
Die im ganzen verhältnissmässig ungünstigen Resultate erklären
sich ungezwungen aus der schon erwähnten Thatsache, dass in dieser
Gruppe gerade sehr schwere Formen häufig vertreten sind.
b) Complicirte Dorsalskoliosen. 152 Fälle.
Die von uns als complicirte Dorsalskoliosen rubricirten Ver¬
krümmungen betreffen diejenigen Fälle, welche im Rückentheil der
Wirbelsäule eine Seitenabweichung und ausserdem eine oder mehrere
Gegenkrümmungen aufweisen (s. Fig. 22). Wir finden also hier so¬
wohl solche Fälle, die primär in der Brustwirbelsäule, aber
auch solche, welche im Cervicaltheil derselben begonnen,
oder endlich primäre Lendenskoliosen, welche zu einer erheb¬
lichen Gegenkrümmung im Brusttheil geführt haben. Die ganze
Gruppe erscheint uns demnach keineswegs unter demselben klini¬
schen Bilde, vielmehr ist sie aus den verschiedensten Formen zu¬
sammengetragen und hat nur deshalb eine Berechtigung auf Aus¬
scheidung von den anderen Gruppen, weil sie unter allen Umständen
ein vorgeschritteneres Stadium der Skoliose darstellt oder auf von
Anbeginn vorhandene schwerere anatomische Veränderungen hin¬
deutet. Aber auch in Beziehung auf Behandlung und Heilung nehmen
die complicirten Dorsalskoliosen eine eigene Stellung ein; die Ein-
theilung nach der primären Krümmung dagegen wäre wohl für viele
Digitized by VjOOQle
230 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Fälle undurchführbar gewesen. Bei diesem Verfahren ist selbst¬
verständlich diese Gruppe zu der verhältnissmässig höchsten Zahl
angewachsen.
Die Durchsicht der Fälle ergibt, dass sich unter den 152 Fällen
16 männliche und 136 weibliche befinden, mithin weist diese
Gruppe die kleinste Ziffer an männlichen Individuen auf mit 10,5°o, was
Fig. 22.
Complicirte Dorsalßkoliose (Journal-Nr. 1514) beim Eintritt am 19. März 1S94.
immerhin gegenüber der Verhältnisszahl der Totalskoliosen (18.7 ‘
männliche) auffallend ist. Ein bestimmter Grund hierfür lässt sich'
nicht angeben, man darf aber wohl in Anbetracht dieser Differenzen
von einer grösseren Compensationsfähigkeit der weiblichen
Wirbelsäule sprechen, mit anderen Worten, die weibliche Wirbel¬
säule hat mehr die Neigung und die Fähigkeit, die vorhandenen
Krümmungen durch Umkrümmung benachbarter Theile auszugleichen.
Das Alter bewegt sich vom 4. bis zum 30. Jahre. Für die
männlichen Individuen beträgt das Durchschnittsalter 12,8 Jahre,
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
231
für die weiblichen 13,9, für beide Gruppen zusammen 13,8, dem¬
gemäss finden wir wenigstens bei den weiblichen Individuen vom
10.—16. Lebensjahre die grösste Frequenzzahl; am stärksten ist das
14. Altersjahr mit 22 Fällen vertreten, bei den männlichen Indi¬
viduen dagegen finden wir wiederum eine auffallend gleichmässige
Vertheilung der Fälle vom 7.—22. Lebensjahre.
Fig. 23.
i
I
Dieselbe compliclrte Dorsalskoliose (Journal-Nr. 1511) nach Behandlung am 25. Februar 1806.
Die genauere Analyse der Formen ergab nun folgendes
Resultat: Die Dorsalkrümmung war in 29 Füllen nach links gerichtet,
in 123 Fällen nach rechts; eine Gegenkrümmung wiesen auf 137,
zw e i Gegenkrümmungen 15. Es ist bemerkenswert!!, dass sich bei
den letzteren 15 Fällen 14 mit rechtsconvexer Dorsalkrümmung
befanden. In folgendem stellen wir die Gegenkrümmungen mit der
jeweiligen Dorsalkrümmung zusammen:
Digitized by CjOooLe
232 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
dorsal links mit lumbal rechts.20 Fälle
„ * mit cervicodorsal rechts.5 ,
* „ mit lumbodorsal rechts.1 ,
* w mit lumbal rechts und cervicodorsal rechts 1 »
lumbodorsal links mit cervicodorsal rechts. 2 ,
total 29 Fälle
dorsal rechts mit lumbal links.89 t
* * mit cervicodorsal links.11 „
* * mit lumbodorsal links.7 „
„ „ mit lumbal links und cervicodorsal links 9 „
* * mit lumbodorsal links und cervical links 1 ,
„ „ mitlumbodorsal links u. cervicodorsal links 3 „
„ „ mit lumbodorsal links und lumbal rechts 1 „
lumbodorsal rechts mit cervicodorsal links.2 ,
123 Fälle
Wir können aus dieser Tabelle wiederum die allbekannte
Häufigkeit der Combination der rechtsconvexen Dorsalkrümmung mit
linksconvexer Lumbalkrümmung herauslesen. Unter den 123 Fällen
von rechtsconvexer Dorsalkrümmung finden sich 109 mit gleich¬
zeitiger linksseitiger Lumbalkrümmung bezw. unter der Gesammtzahl
von 152 der ganzen Gruppe entsprechen mehr wie zwei Drittel dem
genannten Typus.
Wenn früher die Ursache für diese Erscheinung in der Rechts¬
händigkeit, sodann in dem Vorhandensein einer rechtsconvexen
physiologischen Dorsalskoliose gesucht wurde, so ist das durchaus
begreiflich, denn ein solches Ueberwiegen einer bestimmten Form
muss einen ebenso allgemein verbreiteten Grund haben. Wenn
wir nun auch keineswegs den genannten Gründen in der bisher
üblichen Auffassung beipflichten können, jedenfalls nicht in dem
Sinne, dass durch die Rechtshändigkeit die Rippen der rechten Seite
herausgehoben würden, so möchten wir doch der Rechtshändigkeit
einen Antheil am Bestehen dieser merkwürdigen Erscheinung zu¬
schreiben. Wir dürfen dieselbe aber nicht ohne die übrigen Gruppen
betrachten. Bei Total- und Lumbalskoliosen haben wir das un¬
geheuere Ueberwiegen der linksconvexen Form gesehen, während
bei der einfachen Dorsalskoliose die rechtsconvexe, aber in weit ge¬
ringerem Verhältniss als bei der complicirten, vor wiegt. Wir haben
es also bei den einfachen Krümmungen zusammengenommen meistens
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
233
mit linksconvexen, mit Ausnahme der einfachen Dorsalskoliose, bei
complicirten Krümmungen und bei dieser letztgenannten meistens
mit einer im Dorsaltheile nach rechts verbogenen Krümmung zu
thun. Die Rechtshändigkeit wird sich nun in erster Linie dadurch
äussern, dass sie eine leichtere Beweglichkeit der Wirbelsäule zur
Abbiegung nach rechts schafft; mit dieser Abbiegung ist eine leichte
Rotation des Beckens nach links bezw. Vorschieben der rechten
Beckenhälfte verbunden, wie das Jedermann an sich selbst jeden
Augenblick experimentell nach weisen kann. Dieses Vorschieben und
zugleich Tieferstehen der rechten Spina äussert sich auch in der
Construction des Beckens, wie das von Hasse (Spolia anatomica.
Archiv für Anatomie und Physiologie S. 390—392) nachgewiesen
ist. Es ist dem aufmerksamen Beobachter auch unschwer zu con-
statiren, dass diese Leichterbeweglichkeit der Wirbelsäule nach rechts,
welche besonders in der Abbiegung im Lumbaltheile ihren Ausdruck
findet, wirklich vorhanden ist, man beobachte nur z. B. die Be¬
wegungen auf dem Eisfelde. Ist nun diese Leichtbeweglichkeit im
Lumbaltheile nach rechts geschaffen, so resultirt daraus selbstver¬
ständlich eine entsprechende Drehung und Umkrümmung des Dorsal-
theiles nach rechts. In dieser Weise betrachten wir die Disposition
zu linksconvexer Lumbal- und rechtsconvexer Dorsalskoliose ge¬
schaffen, möchten aber keineswegs damit gesagt haben, dass wir
uns die Entstehung der Skoliosen einfach auf diesem Wege vor¬
stellen, im Gegentheil sind wir der Ansicht, dass bei der Entstehung
der Skoliose neben der Rhachitis, der wir eine grosse Rolle zu¬
schreiben, die verschiedensten ätiologischen Momente in Betracht
kommen.
Bemerkenswerth ist nun noch, dass wir bei 78 linkscon¬
vexen Dorsalkrümmungen 29 mit compensirenden Krümmungen
finden, bei 183 rechtsconvexen Dorsalkrümmungen 123 mit
compensirenden Krümmungen; demnach scheint die linksconvexe
Dorsalkrümmung weitaus weniger Neigung zur Heranbildung cora-
pensirender Krümmungen zu haben wie die rechtsconvexe. (Wir
constatiren hier dieselbe Erscheinung, wie wir sie bereits in unserem
ersten Berichte hervorgehoben haben.) Wir stehen nicht an, diese
Beobachtung mit der Rechtshändigkeit in Zusammenhang zu bringen,
eben in dem Sinne, dass linksseitige Krümmungen, wenn ihr
Scheitel annähernd in der Mitte der Wirbelsäule liegt,
durch die Rechtshändigkeit einfach eine Vermehrung der
Digitized by CjOOQle
234 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Krümmung erfahren, während tiefliegende Krümmungen
weitaus mehr in der Gefahr stehen, compensirenden Krüm¬
mungen anheimzufallen.
Damit glauben wir der Rechtshändigkeit ihren angemessenen
Platz angewiesen zu haben. Bei einer genauen Untersuchung dieser
Verhältnisse müsste selbstverständlich noch der Einfluss der Rechts¬
händigkeit auf die Verlagerung des Schwerpunktes in Berücksichti¬
gung gezogen werden.
Unter den Antecedentien haben wir wiederum ähnliche
Beobachtungen gemacht wie bei den anderen Gruppen. In 11 Fällen
wurde das Vorhandensein von früherer Rhachitis angegeben, in
4 Fällen Tuberculose in der Familie, 7mal Skoliose in der
Familie, 3mal war Pleuritis, lmal Empyem vorausgegangen.
In 10 Fällen wurden die Kinder als von jeher schwächlich
bezeichnet und in 49, d. h. beinahe einem Drittel der Fälle,
klagten die Eltern über eine schlechte Haltung des
Kindes schon sehr lange Zeit. Bestimmtere Daten über Be¬
ginn der Skoliose in den einzelnen Fällen sind uns nicht in ge¬
nügender Sicherheit und Zahl gemacht worden.
Der Ernährungszustand ist bei 33 als gering, bei 91 als
ziemlich gut und gut und bei 14 als sehr gut bezeichnet; Anämie
wurde 26mal beobachtet.
Die Musculatur war 28mal gering, 102mal ziemlich gut und
gut, und 5mal sehr gut. Ernährungszustand und Musculatur erhalten
sich also bei dieser Gruppe auf einem ordentlichen Mittelmaass.
Die Haltungstypen zeigen in dieser Gruppe eine ziemlich
gleichmässige Vertheilung über die drei Haupttypen normal, flach
und rund, immerhin mit dem deutlichen Vorwiegen des flachen
Rückens. Die secundäre Kyphose ist in 20 Fällen notirt, sie
ist demnach hier in einem geringeren Procentsatz zu finden als bei
den einfachen Dorsalkrümmungen. Der normale Haltungstypus
ist bei 48 Fällen notirt, der flache Rücken 57mal, runder
Rücken 3ömal, ausgesprochener hohlrunder Rücken 4mal,
flachhohler lmal. Nur in einem Falle beherrschten die secun-
dären Veränderungen den Haltungstypus derart, dass nur von einer
secundären Kyphose mit entsprechender Lordose gesprochen wurde,
bei den übrigen bereits erwähnten secundären Kyphosen konnte der
Haltungstypus doch noch mehr oder weniger deutlich erkannt werden.
Es erhebt sich hier wieder die Frage, ob die hier notirten 57 flachen
Digitized by VjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
235
Rücken alle primär als flach vorhanden gewesen seien, oder ob auch
hier secundäre Veränderungen mitsprechen, wie wir das in einer
früheren Arbeit aus einander gesetzt haben. Da wir jedoch unser
Material auf diese Frage hin noch nicht durchmustert haben, so
möchten wir die Entscheidung hierüber noch offen lassen. Aus der
Thatsache, dass annähernd ein Viertel der sämmtlichen Fälle den
Haltungstypus des runden Rückens zeigen, lässt sich dagegen der
Schluss ziehen, dass das Auftreten von complicirten Sko¬
liosen keineswegs an die Vorherexistenz eines flachen
Rückens gebunden sei.
' Von anderen Deformitäten sind keinerlei in hervorragender Weise
vertreten. Be in Verkürzung ist 5mal verzeichnet, davon lmal
infolge Oberschenkelbruchs, rhachitische Veränderungen
4mal, davon 3mal am Thorax, lmal am ganzen Skelet, 4mal Platt-
fuss vorhanden, lmal angeborene Hüftgelenkluxation,
lmal Kinderlähmung am rechten Arm, lmal Schwäche im
linken Arm und Bein (?), lmal war über dem rechten Schlüssel¬
bein eine Halsrippe nachweisbar, lmal Hemiatrophia facialis
rechts.
Die Behandlungsmethode bediente sich bei dieser Gruppe
derselben mechanischen Mittel wie bei den früheren. In neuerer
Zeit jedoch ist es hauptsächlich der Rotationsapparat, der in
ausgiebiger Weise hierbei in Anwendung kommt. Es ist allerdings
oft recht schwer, eine Combination in der Stellung des Schulter¬
gürtels und der angewendeten Widerstandskräfte zu finden, welche
eine genügende Correctur herbeiführt.
Die Behandlungszeit ist ungefähr dieselbe wie bei den anderen
Gruppen: 40 Fälle haben 1—3 Monate, 51 bis zu 1 Jahr und die
übrigen 23 über 1 Jahr in Behandlung gestanden. Von den 152 Fällen
dieser Gruppe sind:
nur lmal vorgestellt.26
vorzeitig entlassen oder nicht mehr controllirt 17
consultativ behandelt. ..16
im Institut behandelt.93
Mit den consultativ Behandelten wurde folgendes Resultat
erzielt:
gebessert.4
wenig gebessert ... 6
Digitized by VjOOQle
236 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
unverändert.3
wenig verschlimmert. . 2
verschlimmert .... 1
demnach lOmal günstiges, 6mal ungünstiges Resultat.
Mit den 93 im Institut Behandelten wurden folgende
Resultate erzielt:
bedeutend gebessert ... 5
gebessert.38
wenig gebessert.29
unverändert.15
wenig verschlimmert ... 2
verschlimmert.3
demnach 72 günstige oder 78,2 °/o und 20 ungünstige Resultate 1 ).
Die Resultate sind hier also erheblich günstiger als bei den
einfachen Dorsalskoliosen, wohl aus dem schon erwähnten Grunde,
dass bei den einfachen Dorsalskoliosen sehr viel schwere Fälle zur
Beobachtung kamen.
Die Auflösung der Resultate in Bezug auf Beeinflussung der
Deviation und Torsion ergab:
Deviation Toreion
bedeutend gebessert . . .
. 12
11
gebessert.
. 31
21
wenig.
. 27
32
unverändert.
. 11
17
wenig.
. 3
4
verschlimmert.
. 8
4
günstiges Resultat ....
. 70
64
ungünstiges Resultat . . .
. 22
25
Also auch hier wieder ist die Deviation durch die Behandlung
günstiger beeinflusst worden als die Torsion. Immerhin ist bemerkens-
werth, dass in mehr wie zwei Drittel der Fälle auch die Torsion
günstig beeinflusst worden ist.
In Bezug auf Beobachtungszeit sei nur erwähnt, dass wir
28 Fälle über einen Zeitraum von über 2 Jahren, und zwar bis zu
’) Ein Resultat fehlt, der Fall wurde aber dennoch in Rechnung ge¬
zogen, weil darüber ein Endresultat vorliegt.
Digitized by Google
Erstattet von den Anstaltsärzten.
237
8 Jahren, zu verfolgen Gelegenheit hatten. Die Endresultate
am Schlüsse dieser Beobachtungszeit sind nun nicht so
günstig wie diejenigen am Schlüsse der Behandlung:
bedeutend gebessert
... 4
gebessert.
... 32
wenig gebessert ....
... 25
unverändert.
... 19
wenig verschlimmert . .
... 5
verschlimmert . . . .
... 6
bedeutend verschlimmert .
... 4
also 61 oder 66,3 °/o günstige und 31 ungünstige Resultate; es ist
also ein Rückgang der Resultate von 12 °/o zu constatiren. Die Re¬
sultate der Deviation und Torsion gesondert ergaben:
bedeutend gebessert . .
Deviation
. . 9
Torsion
8
gebessert.
. . 25
21
wenig gebessert . . .
. . 23
29
unverändert.
. . 10
15
wenig verschlimmert . .
. . 10
9
verschlimmert ....
. . 15
9
also günstiges Resultat .
. . 57
58
ungünstiges Resultat . .
35
33
Es wiederholt sich hier eine ähnliche Erscheinung wie bei den
Totalskoliosen, nämlich die, dass in der der Behandlung folgenden
Zeit die Deviation sich wieder in erheblichem Maasse verschlimmerte,
die Torsion dagegen bei einer weit geringeren Zahl; immerhin bleibt
bemerkenswerth, dass auch die aufgestellten Endresultate am Schlüsse
der Beobachtung bei mehr als der Hälfte noch eine Besserung der
Torsion sowohl als der Deviation nachgewiesen haben.
Um eine Uebersicht über die Resultate zu erhalten, fügen wir
noch einige Tabellen bei:
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band.
16
Digitized by CjOooLe
238 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
Total
TotalskolioRen .
Lumbalskoliosen . . .
Einfache Dorsal* und
Lumbodorsalskol iosen
Compli eilte Dorsal Sko¬
liosen .
Gruppe
CO
•4
er <— •— 4 o
CO CO —1 cs
Totalzahl
5°
c*
cs
64
13
70
109
Zahl der
Behandelten
Consultative Be¬
handlung ... 34
Institutsbehand- j Behandlungsresultat
lung . 222 *
( Endresultat .
Consultative Be¬
handlung ... 9
Institutsbehand- | Behandlungsresultat
lung.55 !
\ Endresultat.
Consultative Be¬
handlung ... 1
Institutsbehand- j Behandlungsresultat
lung.12 ! h
\ Endresultat .
Consultative Be¬
handlung ... 8
Institutsbehand* / Behandlungsresultat
lung . 62 ! , ®
\ Endresultat.
Consultative Be¬
handlung ... 16
Institutsbehand- | Behandlungsresultat
\ Endresultat.
CO CO
O 50 tO
2
14
16
2
4
8
6
5
4
Bedeutend 1
gebessert
10
84
72
co co *— *— 1 1 to co
CO 00 4*. 4*- -I 4^ CO CT I CO 4^ CO
Gebessert
9
51
47
CO tO M M | •-*
CT co CS CO *-* < CO »— 1 •— 1 oooco
Wenig
gebessert
CO CO
—1 CO Cr»
S S M 4^ CO •— 1 CO 4^ — ‘
Unverändert
CO ■—»
O 0*. CS
Ct CO CO CO QC CO «— 1 1 Ot CO CO
Wenig
verschlimmert
2
7
11
CS CO 1—‘ 4>- CO H- I
Verschlimmert
CO 1 1
-II M 1 1 III III
Bedeutend
verschlimmert
t—‘ *
4^ CS CO
50 4* •—
CS ►— CO CO 4». 4k.
—>10 0 to CS 4*. 50 00 •— 00 CS
Günstige
Resultate
-O Cr* *—•
i- 4 CO CO
CO CO to CO 1
— OC. O M 4k COCOl 00 -4 Cö
Ungünstige
Resultate
CO er» 1
- - 1 - co 1 1 - 1 III
Fehlende
Resultate
Digitized by VjOOQle
Tabelle II. 1891—1894.
Erstattet von den Anstaltsärzten.
239
Aus dieser Tabelle geht hervor, dass auf eine Zahl von 256 Be¬
handelten am Schlüsse der Behandlung bei 185 günstiges und bei
66 ungünstiges Resultat erzielt worden ist, demnach 73,7 °/o günstiges
und 26,6 °/o ungünstiges Resultat. Zum Vergleiche fügen wir je¬
weilen auch das Resultat am Schlüsse der Beobachtung bei. Aller¬
dings haben die letzteren Zahlen nicht den Werth von solchen,
welche ein eigentliches Endresultat angeben, weil bei einer Anzahl
von Fällen der Zeitpunkt der letzten Beobachtung so wie so an den
Schluss der Behandlung fallt. Die auf das Jahr 1895 übertragenen
Fälle sind meistens, mit Ausnahme weniger vor Schluss des Jahres 1894
in Behandlung getretener, bei der Registrirung der Resultate auch
berücksichtigt. Im ferneren gibt die folgende Tabelle Auskunft
über die Resultate der Deviation und der Torsion, sowohl am Schluss
der Behandlung als am Schluss der Beobachtung.
Tabelle III. 1891—1894.
222 im Institut behandelte
Procentsatz der günstigen Resultate in
Bezug auf Deviation und Torsion getrennt
Skoliosen.
Gruppe
am Schluss der
Behandlung
am Schluss der
Beobachtung
Deviation
Torsion
Deviation
Torsion
7»
°/o
7«
7«
Totalskoliosen.j
81,8
68,5
76,3
74,0
Lumbalskoliosen.•
72,7
63,6
75,0
66,6
Einfache Dorsal- und Dorsolumbal-
skoliosen.
59,3
54,2
52,4
45,9
Complicirte Dorsalskoliosen . . .
76,0
71,9
61,9
63,7
Durchschnitt der vier Gruppen . .
72,4
64,5
66,4
62,5
Die einzelnen Zahlen sind schon im obigen Text einer Be¬
sprechung unterzogen worden, wir unterlassen es deshalb, hier weiter
darauf einzugehen.
Da wir mit dem Jahre 1895 den oben beschriebenen Rumpf¬
beugeapparat und mit dem Jahre 1896 den Rotationsapparat in
die Behandlung der Skoliosen eingeführt haben, so wurden die Resul¬
tate der Behandlung dieses Zeitraums des Vergleiches halber eben¬
falls vorläufig zusammengestellt, und zwar erstens diejenigen vom
Digitized by VjOOQle
240 Aerzfcl. Ber. tib. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
1. Januar 1895 bis 30. September 1896, zweitens diejenigen vom
1. Mai bis 30. September 1896 gesondert, d. h. die Resultate seit
dem Bestehen der neuen Anstalt. Diese Zusammenstellung hat er¬
geben für den ersten Zeitraum Januar 1895 bis September 1896:
Besserung in 83,5 °/o der Fälle, und für den zweiten Zeitraum seit
dem Bestehen der neuen Anstalt: Besserung in 88,4 °/o der Fälle.
Es ist demnach in den Resultaten seit dem Bestehen der An¬
stalt bis jetzt ein stetiger Fortschritt zu verzeichnen, und zwar in
folgender Scala:
Günstiges Resultat
1883—1890 (s. erster Bericht) .... 68,6 °/o
1891—1894 . 73,7 „
1. Januar 1895 bis 30. September 1896 . 83,5 „
1. Mai bis 30. September 1896 .... 88,4 „
Selbstverständlich kann auf diese letzte Zahl von 88,4 °/o kein
so grosser Werth gelegt werden, weil der Zeitraum etwas zu kurz
ist, immerhin kommt aber dabei in Betracht, dass die Methode der
Registrirung und Beurtheilung der Resultate schärfer geworden ist.
Die Zahlen beweisen also, dass die Verbesserung der Behandlungs¬
methode, insbesondere die Einführung der redressirenden Bewegungs¬
apparate, einen deutlichen Erfolg gehabt hat.
B. Rhachitische Rückgratsverkrümmungen.
Wir erwähnen hier 15 rhachitische Skoliosen und 8 Kyphosen,
und zwar haben wir hier nur diejenigen Fälle aufgezählt, welche
in so jugendlichem Alter standen, dass secundäre Veränderungen volL
ständig auszuschliessen waren, oder solche Fälle, welche den Typus
der rhachitischen Verkrümmung auch im späteren Kindesalter rein
bewahrt hatten. Das Alter bewegt sich denn auch bei den Skoliosen
zwischen dem 2. und 9. Lebensjahre, bei den Kyphosen zwischen
dem 1. und 14. Die Behandlung der kleinen Rhachitischen bestand
neben einer antirhachitischen Kur (Salzbäder, Phosphor) in der An¬
wendung von redressirender Massage bezw. täglichem manuellem
Redressement und von Lagerungsapparaten in der Form von Roll¬
kissen oder zweckentsprechend gepolsterten Matratzen. Die Resultate
konnten in den meisten Fällen deshalb nicht genauer verfolgt werden,
weil die Patienten nicht regelmässig wieder vorgestellt wurden und
Digitized by CjOOQle
Erstattet von den Anstaltsärzten.
241
eine Anstaltsbehandlung sich nicht durchführen liess. Immerhin sahen
wir bei einzelnen Fällen, die wir von dem 1. Lebensjahr bis zur
beginnenden Schulzeit zu verfolgen und zu behandeln Gelegenheit
hatten, ganz erhebliche Besserung der Krümmung eintreten.
C. Kyphosen. 49 Fälle.
(Runde Rücken.)
Unter dem Bilde des runden Rückens verstehen wir diejenige
Form der Rückgratsverkrümmung, bei welcher eine deutliche Ueber-
treibung der antero-posterioren Krümmung im Sinne einer Kyphose
vorhanden ist.
Sie ist in Form und Grad mannigfacher Variationen fähig, vor
allem lassen sich zwei Formen unterscheiden, je nach dem Verhalten
der Lendenlordose, d. h. diejenige, welche combinirt ist mit einer
schwachen oder mässig entwickelten Lendenlordose, und
diejenige, bei welcher eine auffallend starke Lordose nach¬
weisbar ist. Die letzteren Fälle würden demnach mit dem Staffel-
schen Haltungstypus „hohlrund“ zusammen fallen, während die ersteren
nach Staffel als runder Rücken zu bezeichnen wären. Endlich zeigt
sich bei einer dritten Form eine auffallende Abknickung des
Kreuzbeines gegen den überliegenden Theil der Wirbelsäule, wobei
dann die Lendenlordose gewöhnlich schlecht entwickelt ist. Natürlich
erschwert der verschiedene Grad in der Verkrümmung der einzelnen
Abschnitte der Wirbelsäule die Beurtheilung des einzelnen Falles ganz
ausserordentlich und schafft viele Zwischenformen, deren Registrirung
recht schwer ist. Hand in Hand mit der Vermehrung der Kyphose
gehen noch andere Eigentümlichkeiten des Skelets. Die Rippen zeigen
einen scharfen Uebergang der Rückenfläche in die Seitenfläche, sind
also dort stark umgebogen. Der Thorax ist im allgemeinen tief,
die Schulterblätter sind nach aussen geschoben und stehen mit ihren
Spitzen stark vom Körper ab. Der Kopf wird bei allen genannten
Formen stark vorgeschoben getragen, und eben gerade diese Eigen¬
schaft veranlasst die Eltern häufig, ärztliche Hilfe aufzusuchen.
Die genannten drei Formen sind in folgender Zahl registrirt:
1. Kyphose mit schwacher oder massiger Lordose 20
2. Kyphose mit starker Lordose.11
3. Kyphose mit Abknickung über dem Kreuzbein 3
Summa 34.
Digitized by VjOOQle
242 Aerztl. Ber. üb. d. Zeitraum vom 31. Dec. 1890 bis z. 31. Dec. 1894.
In 14 Fällen war die Form nicht genügend registrirt. Das
Verhalten der Beckenneigung war bei den verschiedenen Formen
nicht ein gesetzmässiges; wir unterlassen es deshalb, hier näher
darauf einzugehen. Auffallend ist es, dass unter den 49 Individuen
27 männliche und 22 weibliche figuriren; man müsste demnach an¬
nehmen, dass die Neigung zu Buckelbildung bei den Knaben grösser
sei als bei den Mädchen, richtiger wohl, dass die Neigung zur
Skoliosenbildung bei den Mädchen gegenüber der Nei¬
gung zu Kyphosenbildung bedeutend überwiegt. In Be¬
zug auf das Alter zeigte sich vom 5.—18. Jahre eine annähernd
gleichmässige Vertheilung der Fälle; am meisten beobachteten wir
im 7. und 8. und im 11. und 12. Lebensjahre. Ernährungszustand
und Musculatur musste im ganzen als gut bezeichnet werden, wie
denn überhaupt die Kinder, die mit rundem Rücken zu uns gebracht
wurden, meistens kräftige Constitutionen zeigten. Unter den ätio¬
logischen Momenten spielt jedenfalls die hereditäre Belastung eine
bedeutende Rolle, und wir möchten sie, obwohl nur in 6 Fällen
Kyphose in der Familie notirt ist, dennoch viel höher anschlagen.
Die Behandlung konnte nur in 17 Fällen consequent durchgeführt
werden und bestand neben Gymnastik in der Anwendung des
Zander’schen Apparates zum sogen. Nackenspannen, in Redresse¬
ment auf einem Reclinationslagerungsbrett und im Lorenz’schen
Detorsionsrahmen, dessen Gummizüge in diesen Fällen doppelt und
symmetrisch angelegt wurden. Bei jüngeren Kindern wurde auch
mehrmals der Nyrop’sche, federnde Geradehalter angewendet, je¬
doch waren die Resultate desselben ohne gleichzeitige Anwendung
von geeigneter Gymnastik nicht befriedigend. Bei den 17 behandelten
Fällen wurde mit Ausnahme von zweien durchweg eine Besserung
erzielt, welche, wenn auch selten sehr erheblich (2 Fälle), doch
immer deutlich durch Messung nachzuvveisen war.
Digitized by CjOOQle
XII,
Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von
Dr. A. Lüning und Dr. W. Schnlthess, Privat-
docenten in Zürich.
VIII.
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis).
Von
Dr. Heinrich Schmid.
Mit 5 in den Text gedruckten Abbildungen.
Vom Director der Züricher cantonalen Frauenklinik, Herrn
Professor Dr. Th. Wyder, wurde mir das hier zu beschreibende
Präparat übergeben. Dasselbe stammt, wie ich aus der mir zur
Verfügung stehenden Krankengeschichte entnehme, von einer
33jährigen, Vl-paren Frau, die am 28. September 1896 in die
Frauenklinik aufgenommen wurde. Sie hatte ausser den sechs Ge¬
burten drei Aborte durchgemacht. Sie will sich immer guter Ge¬
sundheit erfreut haben, und auch die in der Klinik vorgenommene
Allgemeinuntersuchung ergab, dass sämmtliche Organe normal waren.
Die ersten fünf Kinder leben und sind vollständig gesund. — Die
Geburt hatte am 26. September Nachmittags 2 Uhr begonnen. Es
lag eine vollkommene Fusslage vor. Ein vom behandelnden Arzt
vorgenommener Extractionsversuch misslang, weshalb derselbe die
Frau an die Frauenklinik schickte, wo heftig einsetzende Wehen
die Frucht rasch, ohne Kunsthilfe, zu Tage forderten. Als Ge-
burtshinderniss fand man dann post partum eine eigenthümliche
Haltung des Kopfes, vereinigt mit hydrocephalischer Vergrösserung
Digitized by CjOOQle
244
Heinrich Schmid.
des letzteren. — Die todtgeborene Frucht wurde in Spiritus auf¬
bewahrt.
Das nach einer Photographie hergestellte Bild (Fig. 1) gibt
einen Begriff von der äusseren Form unseres Objectes.
Ein sehr grosser Kopf ist, mit dem Hinterhaupt auf den
Rücken gedrückt, der unförmlichen Gestalt aufgesetzt. Das Hinter*
haupt ist von solcher Ausdehnung und in einer Art und Weise mit
der Haut des Rückens in Verbindung, dass der Kopf gleichsam vom
Fig. 1.
Gesäss, wenigstens dicht oberhalb der Kreuzbeingegend, aufsteigt.
Es macht also die Missbildung den Eindruck, als ob eine Wirbel¬
säule nur äusserst verkümmert vorhanden sei oder gar theil-
weise fehle.
Noch besser als durch das Bild (Fig. 1) werden die Verhält¬
nisse durch die Fig. 2, eine mit dem Schulthess’schen anatomi¬
schen Zeichnungsapparat hergestellte und mit einem guten Panto-
graphen verkleinerte Figur, illustrirt. — Die Behaarung des Kopfes
ist eine ausserordentlich reichliche. Aus dem halbgeöffneten Munde
hängt die abnorm grosse Zunge heraus. Harter und weicher Gaumen
sind gespalten. Der Kinnhalswinkel ist von Weichtheilen fast ganz
ausgefüllt, so dass die Körperbedeckung direct von der Brust auf
das Kinn übergeht (siehe Fig. 2). Das rechte äussere Ohr zeigt
Digitized by VjOOQle
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). 245
in der Gegend des Ohrläppchens und des Tragus vier kleine,
Fibrömchen ähnelnde Prominenzen (siehe Fig. 1). Arme und Beine
sind grösstentheils normal gebildet, jedoch ist der rechte Fuss ein
Klumpfuss und am linken Fuss ist die grosse Zehe in Valgusstel-
lung unter die zweite, die fünfte Zehe in Varusstellung über die
vierte geschlagen. Ausserdem
bietet aber der Rumpf noch
zwei wesentliche Abnormi¬
täten:
1. die äusseren Sym¬
ptome einer Spina bifida,
2. eine Spaltung der
vorderen Leibeswand, die sich
bei der späteren Untersuchung
als Ectopia vesicae heraus¬
stellte.
Als der Spina bifida
zugehörig findet sich dicht
hinter dem Kopf ein franken¬
stückgrosser Hautdefect, der
von einem behaarten Haut¬
wall umgeben ist. Der Grund
des Defectes sieht wie mit
einer Borke bedeckt aus.
An einer ungefähr dem Centrum entsprechenden Stelle findet sich
eine kleine Oeffnung, durch die sich eine Knopfsonde weit nach
oben führen lässt. Circa 3 cm hinter dem Hautdefect befindet sich
der After, der direct dorsalwärts sieht.
Ein circa 1 cm breiter Damm trennt den After von den
äusseren Gesclilechtstheilen. Dieselben sind weiblich. Die grossen
Schamlippen divergiren nach vorn und umfassen den hinteren Theil
der durch die Blasenectopie hervorgerufenen Vorstülpung der Leibes¬
wand. An derselben lassen sich mit Leichtigkeit das Trigonum
Lieutaudii und die beiden Ureterenmündungen finden. Der vor¬
handenen Symphysenspalte entsprechend fühlt man zu beiden Seiten
der ectopirten Blase die medialen Enden der Schambeine. Die
Nymphen und die Clitoris sind vorhanden, hingegen lässt sich eine
äussere Geschlechtsöffnung nicht ausfindig machen. Bei der Vorder-
und Seitenansicht fällt noch auf, dass der Bauch des Kindes sich
Digitized by CjOOQle
246
Heinrich Schmid.
sehr tief zwischen die Beine herab erstreckt, derart, dass der Nabel
tief unterhalb der Verbindungslinie der beiden Spinae iliac. anter.
sup. zu stehen kommt.
Um für die Präparation des Kindes einen Wegweiser zu er¬
halten, liess ich von Herrn Rector C. Wüest in Aarau zwei
Röntgen’sche Photographien anfertigen, die eine in dorsoventraler
Richtung, die andere in der Richtung von links nach rechts. Die
Röntgen’schen Bilder ergaben in erster Linie, dass eine Wirbelsäule
in kaum reducirter Länge vorhanden sei; doch zog sich dieselbe unter
dem sehr stark reclinirten Kopf durch und schien geradezu gegen
das Kinn zu verlaufen. In der Ansicht in sagittaler Richtung lag
demnach die Wirbelsäule mit gut 8 /i ihrer Länge unter dem recli¬
nirten Kopf. Durch diese Aufnahmen wurde also schon zur Genüge
klargestellt, dass ganz besonders die Stellung des Kopfes und die
Abbiegung der Wirbelsäule, nicht aber ihre Ausbildung, den er¬
wähnten Verdacht auf einen grösseren Defect derselben erweckte.
Die Photographie gab somit eine Wegleitung zur Präparation des
Objectes, die unter diesen Verhältnissen mit grosser Vorsicht ge¬
schehen musste, da sie Anomalien im Ursprung und in der Insertion
der Muskeln erwarten liess.
Die Präparation wurde von mir im anatomischen Institut unter
der Leitung der Herren Dr. W. Schulthess und Prof. Dr.W. Felix
vorgenommen. Sie umfasste:
1. die Blosslegung der Muskeln,
2. die Untersuchung der Eingeweide,
3. die Untersuchung der Wirbelsäule, soweit dieselbe ohne
Anlegung von Schnitten getrieben werden konnte.
Es wurde zuerst ein Hautschnitt gemacht, der von der Gla-
bella aus der Sagittalnaht entlang über die ungefähre Mittellinie
des Rumpfes ging, den Hautdefect kreisförmig umgehend und 1 cm
oberhalb des Afters endigend. Das Unterhautfettgewebe war ziem¬
lich reichlich entwickelt, in der Gegend des Hinterhauptes sugillirt
(so dass also die Frucht intra partum erst abgestorben sein musste).
Die Präparation der Muskeln
begann in der Gegend der Glutäen. Die Musculi glutaei maximi
et medii zeigten normale Verhältnisse in Bezug auf Ursprung und
Insertion und waren beiderseits kräftig entwickelt. Man traf als-
Digitized by CjOOQle
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). 247
bald auf die Cristae, die höchstens 1 cm vom Hinterhauptsbein ab¬
standen. Weiter seitwärts stiess man linkerseits auf Muskelfasern,
die von der Crista ilei zu den untersten Rippen zogen und dem¬
nach dem Muse, obliquus externus zuzusprechen waren. Rechter-
seits fehlten analoge Faserzüge (vielleicht infolge des unten zu be¬
schreibenden Mangels der untersten Rippen dieser Seite). Als
Muse, obliquus abdominis internus sprach ich Fasern an, die
rechterseits von der Crista ilei nach oben und etwas ventralwärts
zogen, einen 2 1 /* cm breiten,
aber nur 1 cm langen Muskel¬
bauch bildend, der sich an einem
quer verlaufenden Sehnenstrei¬
fen ansetzte. Von diesem Seh¬
nenstreifen aus zogen Muskel¬
fasern, die ihrer Insertion ge¬
mäss dem Muse, latissimus
dorsi entsprachen. Dieses Ver¬
halten vom Muse, obliquus int.
und latissimus dorsi ist schema¬
tisch auf nebenstehender Fig. 3
wiedergegeben. Linkerseits geht
der Muse, latissimus dorsi von
den untersten Rippen, sowie
einem starken Fascienblatt ab,
dessen Deutung als Fascia lumbo-
dorsalis naheliegt. Die Insertion dieser Fasern am Arm ist die
normale. Als dem Cucullaris angehörig finden sich auf beiden
Seiten Fasern, die von den beiden Hinterhauptsbeinen ausgehen und
zur Spina scapulae, sowie zum Akromion hinziehen. Der Serratus
anticus major ist auf beiden Seiten mit je nur wenigen Fasern
vertreten, die aber normalen Verlauf innehalten. Die Rhomboi-
deusfasern ziehen vom inneren Schulterblattrand zum Hinter¬
hauptsbein, die Insertion reicht bis dicht an die Processus mastoidei.
Es folgt nun die tiefere Muskelschichte, zunächst kommen
die Fasern des Muse, transversus abdominis; dieselben sind
spärlich. Ebenso waren die Mm. recti abdominis gering ent¬
wickelt. Sie divergirten nach unten gemäss der vorhandenen Sym¬
physenspalte und endigten an den medialen Enden der Schambeine.
Die Schulterblatt-Armmuskeln, die Muskeln der oberen
Fig. 8.
Digitized by VjOOQle
248
Heinrich Schmid.
Extremitäten, die vorderen Halsmuskeln, die Becken-Bein-
muskeln, sowie die Muskeln der unteren Extremitäten zeigen,
soweit sie sich auspräpariren lassen, das normale Verhalten.
Die vorderen Thoraxmuskeln sind ziemlich stark ent¬
wickelt, die Mm. pectorales minores allerdings nur von zwei
Rippenknorpeln her ihre Fasern empfangend. Die Wirbelsäulen¬
muskeln lassen ihr genaueres Verhalten, selbst bei grösster Sorg¬
falt bei der Präparation, nicht genau erkennen, was zum Theil ihrer
Feinheit und ihrem complicirten Verlauf, zum grossen Theil aber
der mangelhaften Conservirungstüchtigkeit des Alkohols zuzu¬
schreiben ist.
Die nun mit Schonung des Brustkorbes vorgenommene
Untersuchung der Eingeweide
ergibt:
Bei Eröffnung der Bauchhöhle sehen wir, dass das Netz die
Därme nur in geringer Ausdehnung bedeckt. Es liegen vor: Magen,
Dünndarmschlingen und Colon transversum. Dünndarmschlingen
füllen die durch die Blasenectopie bedingte Vorstülpung der Leibes¬
wand aus.
Die Milz hatte die Dimensionen 1,5:1:0,7 cm; sie war von
ziemlich weicher Consistenz und zeigte auf dem Durchschnitt keine
Besonderheiten.
Die Nebennieren lassen nichts Deutliches mehr erkennen. Die
Nieren sind ungefähr an normaler Stelle befestigt, ihre fibröse
Kapsel lässt sich leicht ablösen. Die beiden Organe sind von ent¬
sprechender Grösse und zeigen gelappten Bau. Der Durchschnitt
zeigt keine Besonderheiten. Die Nierenbecken sind von entsprechen¬
der Weite und haben eine glatte Schleimhaut. Die Leber ist von
entsprechender Grösse und glatter Oberfläche und zeigt auch auf
der Schnittfläche normale Verhältnisse.
Nun wird der Magen an der Cardia doppelt unterbunden und
zwischen den Ligaturen durchtrennt, dann der ganze Magendarm-
tractus von seinem peritonealen Ansatz losgetrennt; die Flexura
sigmoidea wird ebenfalls doppelt unterbunden und zwischen den
Ligaturen durchschnitten, endlich der ganze Verdauungstractus der
Länge nach eröffnet. Er ist überall durchgängig, enthält Schleim
und Meconium, zeigt nirgends Entwickelungsanomalien.
Digitized by VjOOQle
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). 249
Schliesslich werden noch das Rectum und das Urogenitalsystem
(ohne die Nieren) in toto aus dem Becken entfernt. Hinter der
ectopirten hinteren Blasenwand findet sich der grosse Uterus mit
seinen Anhängen. Der Uterus ist so gedreht, dass seine rechte
Kante mehr nach hinten liegt als die linke. Die linke Tube, sowie
das Ovariura der gleichen Seite sind kräftig entwickelt, während
ton diesen Adnexen auf der rechten Seite nur Andeutungen zu ent¬
decken sind. Ich eröffnete den Uterus von der vorderen Wand
aus und gelangte in die sehr weite Uterinhöhle mit ihren prägnant
ausgesprochenen Plicae palmatae. Die Sonde fand keinen Weg
nach der Vagina, die Portio war somit atresisch. Die linksseitige
Tube ist für die Knopfsonde durchgängig, während letztere nach
rechts keinen Weg fand. Durch Fortsetzung des Uteruslängs¬
schnittes nach unten gelangte ich in die Scheide; dieselbe war eng
und in ihrem untersten Theile atresisch, es fehlte eine äussere Ge¬
schlechtsöffnung.
Im Rectum befand sich Meconium und Schleim, die durch
Druck aus dem After sich entleeren Hessen.
Es folgte nun die Entfernung der Brust- und Halseingeweide
von der unteren und oberen Thoraxapertur aus. Der linke Lappen
der Thyreoidea ergab sich als stark hyperplastisch, der rechte
weniger, war aber doch immerhin vergrössert. Die Thymus war
in entsprechender Grösse vorhanden. Iin Oesophagus und in der
Trachea fanden sich normale Verhältnisse, wie auch im Mund,
Schlund und Kehlkopf.
Auch der Herzbeutel weist keine Besonderheiten auf.
Im Herzen sind sämmtliche Räume von entsprechender Weite
und haben entsprechend dicke Wandungen. Die Klappen sind
sämmthch glatt und zart. Das Foramen ovale ist in gewöhnlicher
Weise offenstehend, es finden sich nirgends am Herzen Entwicke¬
lungsstörungen.
Nach der Präparation der Eingeweide wurden noch die Mm.
üiopsoas auspräparirt. Der Psoas major dexter entspringt vom
Kreuzbeinflügel, von der Umgebung der Foramina sacralia I et II
und von den Rudimenten der Bogen der drei ersten Wirbel über
dem Kreuzbein (der abnormen Verhältnisse in der Wirbelsäule wegen
sei vorsichtshalber diese Bezeichnung der Wirbel gewählt). Der
Psoas minor dexter entspringt zur Seite des dritten Wirbels ober¬
halb des Sacrums. Psoas major et minor sinister verhalten sich
Digitized by CjOOQle
250
Heinrich Schmid.
wie auf der rechten Seite, nur dass der letztere noch Fasern be¬
kommt von der Seite des vierten Wirbels oberhalb des Kreuzbeins.
Um nun
die Wirbelsäule
ganz frei zu präpariren, wurden zunächst die Muskeln von den
Knochen losgetrennt, die Extremitäten exarticulirt und das Präparat
für 8 Tage in Regenwasser gebracht, also einem kurzen Macerations-
process ausgesetzt. Es Hessen sich jetzt die noch restirenden Weich-
theile mit Messer und Pincette leicht entfernen. Die Knochentheile
wurden des Periostes entblösst, ebenso die knorpeHgen Theile vom
Perichondrium befreit, damit der Unterschied zwischen Knochen
und Knorpel deutlich zum Vorschein komme. Es wurde auch der
Schädel längs der Pfeilnaht eröffnet und von dem breiig zerfallenen
Gehirn gesäubert, schliesslich die Dura mater von der Innenseite
der Schädelknochen entfernt.
Das nun derartig freigelegte Skelet zeigt folgende Verhält¬
nisse, zu deren besserem Verständniss ich hier ein einer Photographie
entnommenes Bild (Fig. 4) beigebe. Das Bild entspricht der dor¬
salen Seite des Präparates. Die beiden Scheitelbeine, sowie die
beiden Hinterhauptsschuppen des gespaltenen Hinterhauptsbeins
sind nach links und rechts aufgeklappt.
Infolge von Streckung durch das eigene Gewicht sind die
starken Krümmungen der Wirbelsäule grossentheils aufgehoben;
immerhin ist die Stelle der stärksten Seitenabweichung, die mit
derjenigen der stärksten Lordose zusammenfällt, deutlich wahrzu¬
nehmen; sie befindet sich an der Grenze von Brust- und Lenden¬
wirbelsäule. Man wird deutlich sehen, wie die Achse des Kreuz¬
beins, nach vorn verlängert, die Gegend des linken Processus
mastoideus trifft. Die Wirbelsäule ist in ihren oberen Partien derart
um ihre Längsachse gedreht, dass die linksseitigen Bogenrudimente
weiter ventral stehen als auf der rechten Seite (Rechtsdrehung),
während sie gegen die Stelle der stärksten Lordose hin mehr und
mehr Hnks gedreht erscheint; diese Linksdrehung erhält sich von
da an bis an das untere Ende der Columna vertebraHs.
Aus Fig. 4 ist ersichtlich, dass die Bogenreihe von unten bis
oben völlig gespalten ist, so dass ein knöcherner Wirbelkanal fehlt
(Rhachischisis totalis, Holorhachischisis). Die weiteren Details sind
Digitized by VjOOQle
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). 251
besser aus Fig. 5 zu entnehmen, welche nach einer grösseren
Photographie hergestellt ist. Die Aufnahme wurde ebenfalls nach
der erwähnten Maceration gemacht und überdies ein Bromsilber¬
abzug mittelst Zeichnung da und dort ergänzt« Die Wirbelbogen
Fig. 4.
sind in Enochenstücken vertreten, die, mit einem schmalen,
köpfchenförmigen Wurzelstück am Körper entspringend, eine gelenk¬
artige Verbindung mit diesem eingeben. An das Köpfchen scbliesst
sich peripherwärts ein Halsstück an. Der weiter lateralwärts sich
erstreckende Theil sondert sich in ein ventrales und ein dorsales
Endstück, die beide schaufelartig gestaltet sind und die wohl den
Processus obliqui und transversi der Wirbelbogen entsprechen.
Stellenweise verschmelzen mehrere dieser Knochenstücke zu
Digitized by VjOOQle
252
Heinrich Schmid.
Fig. 5.
plattenartigen Gebilden (wie z. B. auf Fig. 5 an den Stücken 91,
101, 111 zu ersehen ist). Die Wirbelkörper sind noch zum grössten
Theil knorpelig, lassen aber deutlich den knöchernen Kern erkennen.
Die Knochenkerne sind auch zum Theil mit einander verschmolzen.
Digitized by VjOOQle
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). 253
Aus der Wirbelkörperreihe sieht man an der Grenze von
Brust- und Lendenwirbelsäule einen knorpeligen Vorsprung hervor¬
treten, dem sich ein Knochenstück (Fig. 5-4) von länglicher Form
anschliesst. Dasselbe ist mit seiner Längsachse nach rechts und
caudalwärts eingestellt. An das hintere Ende dieses Knochenstückes
schliessen sich zwei weitere Knochenstücke B und C an, die ketten¬
förmig an einander gereiht sind. Die Kette zieht sich nach links
und caudalwärts zur Spina post. sup. des Darmbeins.
An die Wirbelsäule schliesst sich oben der Schädel an. Das
Hinterhauptsbein lässt fünf Knochenstücke erkennen; in der Mitte
ein plattförmiges, unpaariges, das Occipitale basilare (siehe Fig. 5 Ob)
zu beiden Seiten desselben die Partes laterales (OZ), die mit dem
Occipitale basilare die Foramina condyloidea bilden. Der Schuppen-
theil des Hinterhauptes ist gespalten, deshalb ebenfalls paarig vor¬
handen ( Osq ).
Gehen wir nun auf die Details ein, von unten nach oben
schreitend, so finden wir an der Wirbelsäule folgende Verhältnisse.
Die Beckenknochen sind knöchern vorhanden, die Cristae ilei
mit einem 3 mm dicken Knorpelüberzug bepolstert. Die Symphyse
ist gespalten, die Beckenhälften in der Synchondrosis sacro-iliaca
sehr frei beweglich, rechterseits das Ligamentum sacro-iliacum
anterius sehr stark ausgebildet.
Das Steissbein (s£) lässt keinen knöchernen Kern erkennen;
es scheint aus drei bis vier knorpeligen Wirbeln zusammengesetzt
zu sein.
Das Kreuzbein zählt fünf Wirbel; jeder derselben lässt einen
gut ausgebildeten Knochenkern erkennen (Fig. 5 I, II, III, IV, V).
Die Knochenkerne nehmen von unten nach oben an Grösse zu. Die
Knorpelsubstanz zwischen denselben scheidet sich in drei Partien;
die dem Knochenkern zunächst liegenden Knorpelmassen erscheinen
dunkelblau und sind sehr weich; von ihnen hebt sich deutlich der
hellere, gelbe, den Intervertebralscheiben zukommende Knorpel ab.
Die Querfortsätze des zweiten und dritten Sacralwirbels haben sich
linkerseits zu einer longitudinalen Knochenleiste vereinigt (IIIII l),
die von einem Foramen sacrale durchbohrt ist. Die übrigen links¬
seitigen Bogen sind durch Knochenkerne dargestellt, die von einander
und von den Wirbelkörpern durch Knorpel isolirt sind. Rechter¬
seits ist der unterste Processus transversus des Sacrum ein ein¬
zelnes, gegen das Sacrum mit einer Gelenkfläche versehenes
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 17
Digitized by tjOOQle
254
Heinrich Schmid.
Knöchelchen; ebenso verhält es sich mit dem vierten Sacralwirbel.
Der zweite und dritte Sacralwirbel hat neben den Wirbelkörpern
je ein halblinsengrosses Knochenstückchen, neben denen lateral noch
ein längliches, longitudinal gestelltes Knochenleistchen sich findet.
Der erste Sacralwirbel trägt zur Seite des Wirbelkörpers zwei
linsengrosse Knochenkerne. Dieses Verhalten entspricht ganz dem
normalen Verhalten einer früheren Fötalperiode: es legt sich der
Bogentheil der Sacralwirbel in zwei Punkten an.
Weiter nach oben in der Reihe der Wirbel (ich vermeide es,
dieselben mit Bestimmtheit als Lenden-, Brust- oder Halswirbel zu
bezeichnen, da ihre diesbezügliche Natur strittig ist) folgt zunächst
ein hoher und breiter Wirbelkörper mit grossem knöchernem Kern
(Fig. bl). Zu dessen beiden Seiten finden sich zwei kräftig aus¬
gebildete Bogenrudimente (11 und Ir). Dann folgt in der Wirbel¬
körperreihe ein grosser, namentlich sehr hoher knöcherner Kern (2),
mit der Andeutung einer queren Einschnürung; er ist offenbar durch
die Verschmelzung zweier Knochenkerne entstanden, denn es ent¬
sprechen demselben zwei Paare von Bogenrudimenten; namentlich
die beiden linksseitigen (21 und 31) sind stark und beide von
einander getrennt. Diejenigen der rechten Seite (2r und 3r) sind
etwas schwächer ausgebildet. Das untere derselben ( 2r) schmiegt
sich gabelförmig dem Bogen lr an. Dem oberen Theile des dop¬
pelten Kernes entspricht ein nur mässig entwickeltes Bogenrudi¬
ment 3r.
Es fangen hier, wo die Seitenabweichung der Wirbelsäule be¬
ginnt, die Bogen an, rechterseits sich dichter an einander zu lagern
und einen mehr senkrecht zur Wirbelsäule stehenden Verlauf zu
nehmen, gegenüber dem zugleich etwas caudalwärts gerichteten
Verlaufe der unteren Bogenrudimente, und die bisherige Unzwei¬
deutigkeit in der Anordnung der Wirbelkörper und der dazu ge¬
hörigen Wirbelbogenstücke nimmt nach oben stetig ab. Wir finden
zunächst an der Stelle der stärksten Lordose und der stärksten
Seitenabweichung einen Knochenkern (3) in der Wirbelkörperreihe,
der offenbar ein Product der Verschmelzung mehrerer Kerne ist.
Es laufen auf denselben linkerseits vier wohlausgebildete Wirbel¬
bogen (41, 51, 61, 81) zu, die drei unteren mit ihren freien Enden
etwas caudalwärts strebend, der vierte im Gegentheil etwas kopf-
wärts. Zwischen den lateralen Enden des dritten und vierten Bogens
ist ein linsengrosses, wohl auch einem Bogen entsprechendes
Digitized by
Google
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). 255
Knöchelchen (71), das aber keinen Fortsatz nach der Wirbelkörper¬
reihe absendet. Rechterseits sind nur drei Bogenstücke in der
Reihe der übrigen Bogen auf diesen Knochenkern eingestellt: zwei
ziemlich wohlausgebildete, von einander getrennte ( 4r und 5r) und
eine Wurzel (6>) eines folgenden, zweiwurzeligen Knochenstückes.
Die nun nach oben noch folgenden Wirbelkörper und Wirbel¬
bogen sind so atypisch angeordnet, dass ihre gegenseitige Zusammen¬
gehörigkeit sich nicht mehr mit Sicherheit erkennen lässt, darum
seien sie in einer etwas anderen Reihenfolge, als bisher, beschrieben.
Ich thue zuerst der zweiten Wurzel (7 r) eines aus zwei Bogen¬
rudimenten hervorgegangenen Knochenstücks Erwähnung. Dasselbe
ist von einem wurzellosen Rudiment eines Wirbelbogens gefolgt,
von einem amorphen Knochenstückchen (Sr), in der Reihe der
distalen Bogentheile gelegen. Dann folgt eine Knochenplatte, die
mit vier Wurzeln (9 r, lOr, llr, 12r) aus der Wirbelsäule ent¬
springt. Oberhalb derselben befinden sich zwei mittelgrosse Bogen¬
rudimente (13 r und 14 r), die sich mit ihren lateralen Theilen eng
an einander schliessen, nur durch eine dünne Knorpelschicht von
einander getrennt, und zuletzt noch eine Knochenleiste, welche die
übrigen sechs Bogenwurzeln (15 r — 20r) in sich fasst. Die Bogen
sind zum Theil so rudimentär, dass nur noch ganz feine Leistchen
als Wurzeln derselben die Foramina intervertebralia begrenzen.
In der linken Bogenreihe ist zuerst einer Knochenplatte zu
gedenken, die mit drei Wurzeln (91, 101, 111 ) medial anhebt. Die
oberste dieser drei Wurzeln (Hl) ist nur andeutungsweise vor¬
handen. In den höheren Partien der Wirbelsäule verhält es sich
ähnlich wie rechterseits: die Bogentheile sind nur sehr schwach an¬
gelegt und vielfach nur noch an den von ihnen umschlossenen
Foramina intervertebralia als solche zu erkennen; sie fliessen distal
in eine fünfwurzelige (121 — 161) und in eine sechswurzelige (161
bis 221) Knochenleiste zusammen.
Von Kernen von Wirbelkörpern haben wir noch folgende zu
erwähnen: Ein Kern (4) liegt in der Höhe von 91 und 8r ; dieser
Knochenkern liegt ziemlich in der Mittellinie der Wirbelkörperreihe,
während die Wurzeln 9r und 10 r auf einen ganz rechts gelegenen,
halblinsengrossen Knochenkern (o) zulaufen. 101 , 111 und llr
liegen in der Höhe eines erbsengrossen, medial gelegenen Knochen¬
kernes (£), der zackig umgrenzt ist.
Von 121 und 12r an entfernen sich die Intervertebrallöcher
Digitized by
Google
256
Heinrich Schmid.
der beiden Seiten von einander; sie sind in Halbkreisen angeordnet,
die einander ihre Concavitäten zukehren. Zugleich tritt eine Spal¬
tung der Wirbelkörper ein. Dies spricht sich am ersten der nun
folgenden Wirbelkörper (7) dadurch aus, dass der allem Anschein
nach wiederum mehrwerthige Knochenkern, der zackig umgrenzt ist,
nach vorne links und rechts Fortsätze absendet. Der nach rechts
abgehende Fortsatz ist der grössere. Ihm folgt rechterseits nur
noch ein einziger, fast erbsengrosser Knochenkern (8). Der linke
Fortsatz des Kernes (7) wird nach oben noch von zwei Knochen¬
kernen gefolgt; der eine derselben (9) ist etwa linsengross, der
andere (10) erbsengross. Wir haben also für die elf letzten links¬
seitigen und acht letzten rechtsseitigen Wirbel nur noch vier
Knochenkerne von Wirbelkörpern zu verzeichnen, und weil wir es
mit einer vorderen Wirbelspalte zu thun haben, wo wir für jeden
Wirbel linkerseits und rechterseits je einen halben Knochenkern zu
erwarten hätten, wird der anscheinende Defect noch grösser. Vom
Kern 7 haben wir allerdings schon hervorgehoben, dass er als
Verschmelzungsproduct mehrerer Kerne anzusehen ist. Wie weit
nun der scheinbare Defect gedeckt ist durch die Verschmelzung
auch der übrigen, höher gelegenen Kerne, lässt sich meines Er¬
achtens nicht sicher entscheiden.
Ich komme noch einmal auf die oben schon kurz erwähnten |
drei Knochenstücke A } B, C zu sprechen, die frei beweglich in der
von den Wirbeln gebildeten Halbrinne liegen. Das Stück das
aus einer dorsalen Protuberanz jenes mehrwerthigen Wirbelkörpers 3 I
zu entspringen scheint, hat so sehr die Form der Bogenrudi¬
mente, dass es beinahe gezwungen wäre, nicht an diesen Vergleich
zu denken. Es müsste sich, falls unsere Vermuthung die richtige
wäre, um zwei Wirbelbogen handeln, denn der Ursprung desselben 1
und sein distales Ende sind gespalten. Ferner würde es sich wahr¬
scheinlich um zwei Bogen handeln, die zum Kerne 3 gehören,
denn dafür spricht sowohl ihre Localisation, als auch der Umstand, ;
dass wir oben fünf zu diesem Kern auf der linken Seite gehörige
Bogen, dagegen nur drei rechterseits constatiren konnten. Es sind
ferner auch die Bogenrudimente der rechten Seite gerade in dieser
Höhe, der Stelle der grössten Lordose und zugleich der stärksten i
Seitenabweichung der Wirbelsäule, sehr dicht gedrängt, was eine
\ersprengung von Bogen als leicht möglich erscheinen lässt.
Es liegt auf der Hand, dass man die anderen zwei Knochen-
Digitized by
Google
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). 257
stücke B und C, die auch aus dem Verband der übrigen Wirbel¬
elemente ausgeschaltet sind, als Producte eines ähnlichen Processes
anzusehen geneigt ist. Eine derartige Genese durch Versprengung
ist natürlich nur dann erlaubt anzunehmen, wenn ohne diese ver¬
sprengten Stücke die Zahl der Wirbelbogen nicht die vollständige
ist. In Wirklichkeit ist, wie wir schon gesehen haben, die Zahl
der Wirbelbogen über dem Kreuzbein rechts auf zwanzig, links auf
zweiundzwanzig reducirt, so dass wenigstens unser Schluss nicht
a priori verboten ist.
Wenn wir aus der äusseren Form der Stücke B und C einen
Schluss ziehen dürfen, so müssen wir wieder in jedem Stück zwei
Bogen vertreten sehen. Es frägt sich nun, von wo diese Theile
ausgesprengt sind; sie können beide von der gleichen Seite, oder
das eine von der linken, das andere von der rechten Seite stammen.
Die Wahrscheinlichkeit spricht zu Gunsten der letzteren Even¬
tualität, denn, wenn B und C derselben Seite angehörten, so müsste,
da es sich um vier versprengte Bogen handelt, eine viel grössere
Asymmetrie der Wirbelsäule vorhanden sein, als wirklich vorhan¬
den ist. Zudem erreichen die Bogen der beiden Seiten ihre volle
Zahl, wenn wir den Fall in diesem Sinne auslegen. Links haben
wir zweiundzwanzig Bogen constatirt; fügen wir zwei versprengte
Bogen hinzu, so haben wir die volle Zahl vierundzwanzig; rechts
fanden wir zwanzig Bogen; fügen wir hier vier hinzu (hier ist
noch Stück A beizuzählen), so kommen wir ebenfalls auf die voll¬
ständige Zahl vierundzwanzig. Unsere Berechnung lehrt uns also,
dass die Zahl der Wirbelbogen bei unserem Präparate keine ver¬
minderte ist, dass aber die Elemente der Wirbelsäule so sich auf
einander gedrängt haben, dass es zu Versprengung von Wirbel¬
bogen kommen musste. Dieses Aufeinanderdrängen der Wirbel¬
elemente spricht sich bei den Wirbelkörpern durch die vielfachen
Verschmelzungen der Knochenkerne aus.
Die Verbindung der Wirbelsäule mit dem Hinterhaupt ist
derart, dass das unpaarige Stück Ob des Occipitale in die V-förmige
Spalte der Wirbelkörper sich einfügt und den aus einander weichen¬
den Hälften der Wirbelkörperreihe sich mittelst knorpeliger Zwischen¬
lagen beiderseits ein Occipitale laterale sich anschmiegt.
Bei der Betrachtung unseres Präparates von der Bauchseite
her finden wir nichts Neues, wir können nur schon beschriebene
Verhältnisse wieder constatiren. Die Kerne der Wirbelkörper sind
Digitized by CjOOQle
258
Heinrich Schmid.
noch weniger deutlich zu sehen, als auf der dorsalen Seite; bloss
die Spaltung der Wirbelkörper ist schöner zu ersehen. Man sieht
die Wirbelkörperreihe zuerst von unten nach oben an Breite zu¬
nehmen, dann in ihrer Mittellinie eine dreieckige Spalte auftreten,
in welche sich das unpaarige Hinterhauptsstück einlegt.
Von Interesse für uns ist noch das Verhalten der Rippen.
Die erste Rippe steht jederseits zu Seiten des achtobersten Wirbel¬
bogens (151 und 13r). Auf keiner Seite ist die Zahl der Rippen
vollständig, links finde ich elf, rechts nur neun Rippen. Im Ein¬
zelnen sind die Verhältnisse folgende: Rechts setzt sich die erste
Rippe wohl ausgebildet am Bogen 13 r an. Sie ist durch einen
ziemlich breiten Intercostalraum von der zweiten Rippe getrennt
und diese ebenso von der dritten, während diese dritte sich an
die vierte Rippe innig anlegt, ohne aber irgendwie eine Verwach¬
sung mit ihr einzugehen. Hingegen verschmelzen die vierte bis
neunte Rippe bald nach ihrem Ursprung . aus der Wirbelsäule
zu einem Knochenstück, das aber bis zur siebenten Rippe deut¬
lich die Composition aus mehreren Rippen an entsprechenden
Furchen erkennen lässt, während die achte und die neunte Rippe
so innig mit einander verbunden sind, dass sie zu einem hübschen
cylindrischen Gebilde zusammenfliessen. Die Ansätze der neun
rechtsseitigen Rippen vertheilen sich auf neun Wirbelbogen, so dass
demnach zwischen Kreuzbein und letzter Rippe noch vier resp. acht
Wirbel sich befinden.
Linkerseits entspringt die erste Rippe am Bogen 15 Z, zugleich
mit der zweiten Rippe; beide Rippen haben nur eine Wurzel, die
aber sehr kräftig ist; weiter peripherwärts sind die beiden Rippen
wieder getrennt. Auf diese zwei Rippen folgen drei Rippen, die
bald nach ihrem Ursprung zu einem Gebilde sich vereinigen. Dann
folgen weitere fünf Rippen, die w r ohl ausgebildet sind und breite
Intercostalräume zwischen sich lassen. Die elfte Rippe ist eine
Costa fluctuans und ist knorpelig. Die Ansätze der elf Rippen ver¬
theilen sich nur auf zehn Wirbel, was sich aus der Unabhängig¬
keit der Entwickelung von Rippen und Wirbeln wohl erklären lässt.
Links finden sich also zwischen letzter Rippe und dem Kreuz¬
bein noch fünf resp. sieben Wirbel.
Das Brustbein ist knorpelig und lässt einen einzigen Knochen¬
kern erkennen und zwar im Manubrium.
Kurz zusammengefasst haben wir es in unserem Falle mit
Digitized by
Google
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). 259
vielfachen Missbildungen zu thun, von denen uns namentlich die¬
jenigen der Cer ebrospinalhöhle interessiren, also
1. die Spaltung der Wirbelbogen und des Hinterhauptsbeins:
Craniorhachischisis;
2. die Verkrümmung der Wirbelsäule: Lordoskoliose im lumbo-
dorsalen Theil, Rechtsdrehung oben, Linksdrehung in den unteren
Partien;
3. die Spaltung der Wirbelkörper im cerviealen und oberen
dorsalen Theil der Columna vertebralis;
4. die Versprengung von Wirbelbogen im lumbodorsalen Theil
der Wirbelsäule.
Die übrigen Missbildungen, die unser Präparat noch trägt,
sollen hier, als nebensächlicher Natur, nicht eingehender besprochen
werden.
Fragen wir uns zunächst nach dem Zusammenhang dieser
sämmtlichen Entwickelungsstörungen, so müssen wir zunächst hervor¬
heben, dass wohl das Ausbleiben der Verwachsung der Wirbelbogen
als die primäre Missbildung anzusehen ist, und dass die anderen
Störungen von derselben abhängig sind. Ueber die Ursachen dieser
primären Missbildung uns näher auszulassen, gehört nicht in den
Rahmen dieser Arbeit; sie sind zudem so wenig bekannt, und es
sind so viele Erklärungsversuche von den Autoren angegeben
worden, dass man es kaum wagen wird, für einen bestimmten Fall
einem derselben mit Sicherheit das Wort zu sprechen. Hingegen
ist noch über die oben 2—4 angeführten Punkte eingehender zu
berichten, zunächst über die Verkrümmung der Wirbelsäule. Diese
bei Fällen von Spina bifida beobachtete Complication ist eine sehr
häufige, wenigstens in geringerem Grade als in unserem Fall und
namentlich da, wo die Wirbelspalte eine sehr beträchtliche ist oder
gar eine Craniorhachischisis besteht. In unserem Fall hat die
Wirbelsäulenverkrümmung zu einer ganz auffallenden Haltung des
Kopfes geführt, so dass der Verdacht erweckt wurde, es handle
sich vielleicht um einen bedeutenden Defect derselben, da das Hinter¬
haupt dicht dem Kreuzbein aufsass. Ueber einen ähnlichen Fall
berichtete v. Kölliker 1 ); es handelte sich „um einen Fötus des
4. Monats mit verkümmertem Rumpf, so dass die Gesässgegend
*) v. Kölliker, Demonstration einer menschl. Missbildung. Sitzungs¬
berichte der physical.-medic. Gesellschaft zu Würzburg 1886, S. 32.
Digitized by CjOOQle
260
Heinrich Schmid.
dicht am Hinterkopf liegt*. Daneben bestanden noch andere Ano¬
malien: Rechter Arm dicht am Kiefer ansitzend, gut ausgebildet,
ziemlich weit vom Gesäss abstehend. Linker Arm verkümmert,
dicht an die breite Hüfte anstossend. Ob diesem Fall eine ähn¬
liche Ursache zu Grunde lag, wie dem unserigen, weiss ich nicht,
denn leider konnte ich die von v. Kölliker versprochene Beschrei¬
bung des Skeletes nirgends ausfindig machen.
Dann erwähne ich noch einen Fall von Stevenson 1 ): es
handelte sich um eine Frucht, die nach der Geburt nur 3—4 Mi¬
nuten lang lebte. Die Wirbelsäule war verdreht, die Analöffnung
in der Mittellinie war aber bloss 2 Zoll vom Hinterhaupt entfernt.
Die Beine schienen vom Rücken zu entspringen. Der Kinn-Hals-
winkel war wie in unserem Falle mit Weichtheilen bis auf das
Niveau des Kinnes aufgefüllt. Leider fehlt auch hier eine Be¬
schreibung des Skeletes.
Eine Erklärung dieser Verkrümmungen der Wirbelsäule, wie
sie bei Spina bifida Vorkommen, ist in den Lehrbüchern der patho¬
logischen Anatomie nicht gegeben. Zweifelsohne spielt aber dabei
wohl der Umstand eine Rolle, dass die Wirbelsäule durch das Fehlen
des Schlusses der Wirbelbogen einer bedeutenden Stütze verlustig
gegangen und zu Rückwärtsbiegung geneigt ist. Die Kuppe der
Verkrümmung liegt an der Grenze von Brust- und Lendenwirbel¬
säule, einem auch an einer normalen Wirbelsäule durch grössere
Beweglichkeit ausgezeichneten Punkte. Auch in einem von Pro¬
fessor 0. Wyss beschriebenen Falle von Wirbelmissbildung (Ueber
eine Wirbelmissbildung und ihre Folgen, Skoliose und Hernia ven-
tralis congenita lateralis) liegen die Anomalien ebenfalls an dieser
Stelle.
Viel seltener als die Abbiegungen der Wirbelsäule sind bei
Spina bifida Spaltungen der Wirbelkörper. Diese „vordere Wirbel¬
spalte* wird von den meisten Autoren als höchster Grad der Spina
bifida angesehen; so z. B. von Meckel 2 ). Dieser unterscheidet drei
Grade von Spina bifida:
1. Spaltung des ganzen Wirbels, selbst des Körpers;
2. mehr oder weniger bedeutender Mangel der Bogenhälften;
3. blosse Nichtberührung der vollständig gebildeten Bogen¬
hälften in der Mittellinie.
b Stevenson, Curious foetal deformity. The Lancet 1894, Vol. II p. 910.
*) Meckel, Handbuch der pathol. Anatom. Bd. 1. Leipzig 1812.
Digitized by CjOOQle
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhacbischisis).
261
Auch Rokitansky 1 ), Virchow 2 ), Kroner und Marchand 3 )
theilen diese Ansicht. Marchand sagt aber, dass in selteneren
Fällen die Spaltung der Wirbelkörper auch eine primäre Störung
sein könne, indem er eine Beobachtung von Dareste über spontane
Spaltung der ganzen Embryonalanlage in zwei Hälften bei Hühner¬
embryonen anführt; er verwirft aber die Annahme dieser Ent¬
stehungsart bei Fällen von sackförmiger Ausbuchtung der Rücken¬
markshäute an circumscripter Stelle.
Marchand führt die Entstehung der vorderen Wirbelspalte
auf eine frühe fötale Periode zurück, während es später höchstens
zu Spaltbildungen der Wirbelbogen kommen könne. ,
Recht schwierig zu entscheiden ist die Frage, wie die Spaltung
der Wirbelkörper zu Stande komme. Relativ leicht wäre die Be¬
antwortung, wenn die Wirbelkörper paarig sich anlegen würden,
wie man früher glaubte. Meckel 4 ) sagt z. B.: „Man findet im
oberen und unteren Rand des Wirbelkörpers bei Fötusskeleten
immer eine Furche, die eine ursprüngliche Zusammensetzung aus
zwei seitlich neben einander liegenden Knochenkernen vermuthen
lässt, oder, falls nur ein Knochenkern sich findet, so würde er sich
doch so bilden, als wäre er aus zweien zusammengeflossen, wie die
Masse, in der er entsteht, ursprünglich aus zwei Seitenhälften be¬
stand, die erst später in der Mitte zusammenschmolzen.“
v. Kölliker hat aber gezeigt, dass dem Wirbelkörper nur
ein Knochenkern zukommt, der hinter der Chorda gelegen ist.
Marchand vermuthet deshalb, dass die Spaltung müsse ein¬
getreten sein, bevor der Knochenkern in den knorpeligen Wirbel¬
körpern aufgetreten ist, und dass dann jede Körperhälfte einen
eigenen Knochenkern erhalten habe.
Rosenberg 5 ) gibt der Vermuthung Raum, dass die knorpelige
Anlage der Wirbelkörper paarig sei, während nur der Knochenkern
unpaarig ist, und dass dann eben die vordere Wirbelspalte sich in
der Zeit des knorpeligen Zustandes der Wirbelkörper bilde.
Die Casuistik der vorderen Wirbelspalte weist folgende Fälle auf.
*) Rokitansky, Lehrbuch der path. Anat. I. Wien 1855.
*) Virchow, Die krankh. Geschwülste 1863, I.
3 ) Kroner und Marchand, Meningocele sacralis anterior. Archiv für
Gynäkol. Bd. 17 S. 460 ff.
4 ) Meckel, Handbuch der pathol. Anatomie.
5 ) Rosenberg, Morpholog. Jahrbuch Bd. 1 S. 122.
Digitized by CjOOQle
202
Heinrich SchmicL
Tulp 1 ): Hydrorhachis in der Lendenwirbelsäule, die Spalte
lässt das Peritoneum erblicken.
Im Wepfer’schen Falle 2 ) soll man alle Eingeweide, selbst
die Nieren durch den Spalt gesehen haben.
Budgen 3 ) fand zwischen der Höhle der Wirbelsäule und des
Unterleibes einen Zusammenhang durch eine in der Lendenwirbel¬
säule befindliche Oeffnung.
In dem Falle von Salzmann 4 ) war eine ansehnliche Lücke
im Körper des dritten Lendenwirbels.
Camerarius 5 ) konnte den Daumen durch die Wirbelspalte
bis in den Unterleib bringen.
Fleischmann beschrieb einen Fall von Spina bifida mit An-
encephalie, in welchem die Körper des letzten Brust- und ersten
Lendenwirbels nur eine biegsame Knorpelplatte bildeten.
Cruveilhier 8 ) erzählt von einem neuntägigen Kind mit Spina
bifida dorsolumbalis; neben der Spaltung der Wirbelbogen fand sich
noch eine Spaltung der Wirbelkörper des letzten Brust- und der
zwei ersten Lendenwirbel.
Ferner beschrieb Rindfleisch 2 Fälle vorderer Wirbelspalte
bei anencephalen Kindern; Spaltung der Wirbelkörper sämmtlicher
Brustwirbel im einen Falle 7 ); im anderen Falle 8 ) bestand eine
Hernia vertebralis; Hals- und Rückenwirbel fehlten scheinbar, waren
aber nach Rindfleische Ansicht in den Bogentheilen mitenthalten.
Rindfleisch gelangt in der ersteren Abhandlung zu der Ansicht,
dass die vordere Wirbelspalte eine besondere Entwickelungsstörung
sei, die sich nun zufällig mit dem Process der Rückenspaltung durch
Hydrorhachis complicirt.
Dann gedenkt Marchand weiterer 3 Fälle von Spina bifida
mit Anencephalie, in denen es zu herniösen Ausstülpungen der
Baucheingeweide durch die Wirbelspalte kam. Im ersten dieser
*) Tulp, Observ. med., Amstel 1652, p. 230.
*) Wepfer, De puelia sine cerebro, Eph. n. c. dec. Ia III obs. 129 p. 222.
*) ßudgen (Ph. tr. Nr. 410).
4 ) Salzmann, Orth, de quib. tumor tun. rec. in Hallen coli. diss. chir.
T. V p. 411 § 3.
5 ) Ebenda § 4.
6 ) Cruveilhier, Anat. patholog. Livr. VI pl. III f. 4.
7 ) Rindfleisch, Die angeborene Spaltung der Wirbelkörper. Virchow’s
Archiv Bd. 27 S. 137 ff.
8 ) Rindfleisch, Virchow’s Archiv Bd. 19 S. 546.
Digitized by
Google
Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis). 263
Fälle, dem von Svitzer 1 ) beobachteten, fand sich eine längliche
Oeffnung zwischen Schädelbasis und Rückgrat, durch welche ein
seröser Sack mit einer Dünndarmschlinge drang. Es bestand hier
zugleich eine rechtsseitige Zwerchfellhernie, von welcher aus die
Dünndarmschlinge zu jener Oeffnung gelangen konnte. Es waren
die Wirbelkörper bis zum neunten Brustwirbel gespalten.
In einem von Levy 2 ) beschriebenen Falle ging die Spaltung
nach oben bis zum Clivus, nach unten bis zum zehnten Brustwirbel.
Endlich haben noch Morel und Gross einen Fall von vor¬
derer Wirbelspalte beschrieben. Es waren sämmtliche Wirbelkörper
gespalten. In der Mitte der Wirbelsäule war eine Oeffnung, die
durch den ectopirten Magen verschlossen war.
Als nächster Fall würde nun der m einige anzuftihren sein
wegen der auch hier vorhandenen Wirbelkörperspalte.
Schliesslich haben wir noch der Versprengung von Wirbel-
theilen Erwähnung zu thun.
Verursacht ist wohl dieser Process durch die Knickung der Wirbel¬
säule. Dieselbe bewirkt, dass an ihrer Concavität die Wirbelele¬
mente so dicht zu stehen kommen, dass sie gezwungen werden,
ausser Reih’ und Glied zu treten, um sich weiter entwickeln zu können.
Das Vorkommniss ist in den Lehrbüchern der Pathologie
meines Wissens nicht erwähnt und auch in der übrigen Literatur
finde ich nur die Fälle von Humphry 3 ); doch handelt diese Ar¬
beit von Humphry über versprengte Wirbelkörper, während in
unserem Falle Wirbelbogen versprengt sind.
Im ersten der Humphry’schen Fälle waren zwei knöcherne
Vorsprünge hinter den Körpern des dritten und vierten Lumbalwirbels;
es waren am Kreuzbein nur zwei Wirbel vorhanden. Humphry
lässt es unentschieden, ob es sich wirklich um Versprengung von
Wirbelkörpern oder um überzählige Wirbelkörper handelt.
Im zweiten Fall waren letzter Brust- und erster Lendenwirbel
verwachsen. Dritter Lendenwirbel nur zur Hälfte vorhanden; ein
knöcherner Vorsprung ging zwischen erstem und zweitem Lenden¬
wirbel ab.
*) Archiv für Anatomie u. Pliysiol. von J. Müller 1839, S. 35 Taf. II.
*) Archiv für Anatomie u. Pbysiol. von J. M ü 11 e r 1845, S. 22 Taf. V u. VI.
8 ) Six specimens of spina bifida with bong projections from the bodies
of the vertebrae in to the vertebral canal. By Prof. Humphry. Journal of
Anatomy 1886, p. 585. London.
Digitized by
Google
264 H. Schmid. Ein Fall von Wirbelsäulenmissbildung (Craniorhachischisis).
Im dritten Fall ging ein knöcherner Fortsatz ab zwischen dem
elften und zwölften Halswirbel und erstreckte sich zu den Bogen
des zehnten und elften Brustwirbels.
Vierter Fall: Medianer Fortsatz in der Lumbalgegend, von
vorne nach hinten durch den Wirbelkanal gehend und das Rücken¬
mark unmittelbar über der Spina bifida durchbohrend.
Fünfter Fall: Der Knochenfortsatz geht von vorn nach hinten,
kreuzt den Wirbelkanal ein wenig oberhalb der Cyste der Spina bifida;
Wirbelkörper vom fünften bis neunten Brustwirbel schmal, hinter ihnen
eine zweite Reihe von Wirbelkörpern, mit der ersteren Reihein inniger
Berührung mittelst Intervertebralsubstanz. Zu hinterst noch drei
schmalere Knochenstücke, die ebenfalls Wirbelkörpern glichen.
Sechster Fall: Sacrale Spina bifida; die Wirbelbogen der
Lumbalwirbel unvollständig, haben aber die normale Richtung.
Die Bogen der Sacralwirbel lateral war ts deflectirt, Wirbelkanal da¬
durch sehr breit. Das Kreuzbein schien mit dem zweiten Wirbel
aufzuhören, aber eine Knochenplatte, die wahrscheinlich die Fort¬
setzung desselben ist, geht horizontal vor demselben zwischen den
Hüftbeinen durch; vom Steissbein war keine Spur vorhanden. —
Ausserdem erhob sich ein medianer Knochenfortsatz zwischen
drittem und vierten Lendenwirbel; er verlief T-förmig in einer
transversalen Ebene und traf auf beiden Seiten zusammen mit den
Wurzeln des dritten Lendenwirbels und vervollständigte dessen
Bogen. Aehnliche Fortsätze befanden sich hinten an den Körpern
des ersten und zweiten Sacralwirbels.
Diese kurze Uebersicht über die in der Literatur beschriebenen
Fälle lehrt, dass ein mit dem unserigen völlig übereinstimmender
Fall nicht beobachtet ist.
Puncto vorderer Wirbelspalte entspricht unserem Fall am
ehesten der von Levy, puncto Versprengung von Wirbeltheilen
am ehesten die Hu mph ry’schen Fälle; doch sind in diesen Wirbel¬
körper, im unserigen Wirbelbogen versprengt.
Am Schlüsse meiner Arbeit angelangt, erfülle ich die ange¬
nehme Pflicht, meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Th. Wyder,
sowie den Herren Dr. W. Schulthess und Prof. Dr. W. Felix
meinen verbindlichsten Dank auszusprechen für die Veranlassung zu
dieser Arbeit und für die bereitwillige Unterstützung während derselben.
Digitized by
Google
XIII.
Angeborene Knickung des Femurs beiderseits.
Von
Dr. S. B. Rauneft,
Privatdocent für Orthopädie an der Reichsuniversität zu Groningen.
Mit 1 in den Text gedruckten Abbildung.
Im August 1896 wurde mir ein Gmonatliches Kind männ¬
lichen Geschlechts vorgestellt, welches eine sehr eigentümliche
Missbildung der unteren Extremitäten zeigte.
Bei dem sonst wohlgebildeten Kinde waren die Oberschenkel
gegenüber den Unterschenkeln und der übrigen Körper¬
länge viel zu kurz. Es bewegte die unteren Extremitäten ganz
normal, nur standen diese in Ruhe auswärts rotirt, eine Stellung,
die bei Kindern von diesem Alter oft vorkommt.
An beiden Oberschenkeln sah man, etwa 3 cm unterhalb des
Troch. maj. aussen hinten, ein Grübchen in der Haut, eine Ver¬
wachsung der Haut mit dem Periost des Femur. Diese kleine
Narbe correspondirte mit dem Gipfel eines Knickes der Diaphyse
des Femur, als ob daselbst eine Infraction stattgefunden hatte. Der
Gipfel des Knickes war nach hinten und aussen gerichtet.
Der Knochen war ganz fest, es bestand keine Spur abnormer
Beweglichkeit, keine Verdünnung, keine Schmerzen; das Kind zap¬
pelte, wie schon gesagt, mit den Schenkeln wie andere Kinder.
Das Kind war mit der Anomalie geboren.
Die Länge des Kindes betrug 61 cm, der Abstand von der
Sp. ant. sup. zum Kniegelenkspalt: rechts 8 cm, links 10 cm; vom
Kniegelenkspalt zum Malleol. int.: rechts 9 cm, links 10 cm. Der
Oberschenkel war hier also rechts um 1 cm kürzer, links gleich
lang wie der Unterschenkel. Bei normalen Kindern von diesem
Digitized by
Google
266
S. B. Ranneft.
Alter aber findet man den Oberschenkel regelmässig 1,5—2 cm
länger wie den Unterschenkel.
Herr Haga, Professor der Physik an der hiesigen Universität,
war auf meine Bitte so freundlich, eine Radiographie anzufertigen,
wofür ich ihm hier nochmals meinen besten Dank abstatte.
Die Radiographie
wurde in Chloroform¬
narkose genommen. Sie
zeigt rechts sehr deut¬
lich den Knick im
Femur, während dieser
links, durch fehlerhafte
Stellung während der
Aufnahme, nicht zu
sehen ist. Die relative
Kürze des Femur ist
auf beiden Seiten so¬
fort zu constatiren.
Das Kind hat
ausserdem eine partielle
Spaltung im Gaumen,
die ungefähr in der
Mitte des harten Gau¬
mens beginnt und dessen
hinteren Theil, sowie
den weichen Gaumen
durchtrennt, und zwei
Leistenbrüche.
Aus der Anamnese
ergibt sich folgendes:
Die Eltern sind ge¬
sund ; weder in der
Familie des Vaters noch
der Mutter sind jemals
Missbildungen vorgekommen. Es ist das dritte Kind; die beiden
vorigen Kinder sind wohlgebildet. Die Geburt war normal, die
Fruchtwassermenge nicht auffallend gering. Es hat während der
Schwangerschaft kein Trauma welcher Art auch auf die Mutter
eingewirkt. Die Mutter war während der Schwangerschaft stets
Digitized by VjOOQle
Angeborene Knickung des Femura beiderseits.
267
gesund und die Schwangerschaft kennzeichnete sich durch keine
Abnormitäten. Die Kindesbewegungen bemerkte sie im 5. Schwanger¬
schaftsmonate ; dieselben waren nicht schmerzhaft.
Das Kind wurde in Kopflage geboren.
Ein zweites Beispiel der hier beschriebenen Missbildung wurde
von mir vergebens in der Literatur gesucht.
Zu den öfters wahrgenommenen partiellen oder totalen an¬
geborenen Defecten des Femur (Phocomelie etc.) gehört dieser Fall
nicht. Ein Defect ist nicht da, es besteht bloss ein Knick im
Femur an der Grenze seines oberen und mittleren Drittels. Auf
ersten Anblick würde man geneigt sein, an geheilte Infractionen zu
denken. Die sonst bei Fracturen des Oberschenkels abnorme Aus¬
biegung nach hinten aussen würde man sich aus der Lage der
Oberschenkel in utero, nämlich gegen den Bauch, wohl erklären
können.
Aber diese Fracturen würde man sich doch nur entstanden
denken können durch ein Trauma, und dieses Trauma würde sehr
bedeutend gewesen sein müssen, wenn man bedenkt, dass Sper¬
ling bei einem 8monatlichen Fötus zur Herbeiführung von Frac¬
turen von beiden Unterschenkelkochen ein Gewicht von mindestens
10,3 und von der Tibia allein von 9,5 kg brauchte. Zum Zer¬
brechen des Femur würde jedenfalls eine nicht geringere Gewalt
nothwendig sein, und bedenkt man dabei, dass diese Gewalt bei
Einwirkung durch Bauchwand, Uterus und Eihäute, noch viel grösser
gewesen sein müsste, so ist es undenkbar, dass sie von der Mutter
unerwähnt geblieben wäre und bei ihr keine Folgen, wie Ver¬
letzung des Uterus oder Abortus gehabt hätte. Ausserdem würde
eine Fractur beider Oberschenkel an ungefähr genau derselben
Stelle doch wohl ein unerhörter Zufall gewesen sein.
Eine Einwirkung einer geringeren Gewalt in früherer Periode
des fötalen Lebens, angenommen, dass sie bei der mehr geschützten
Lage des Uterus denkbar war, würde die noch nicht verknöcherten,
also weichen Oberschenkel aber eher gebogen als geknickt haben.
Sehr eigenthümlich und von grosser Bedeutung für die Aetio-
logie der hier beschriebenen Deformitäten sind die mit dem Gipfel
des Knickes zusammenhängende Hautnarben.
Diese Narben jedoch, die sehr oft, ja fast constant bei den
verschiedenen congenitalen Deformitäten gefunden werden, so bei
Radius-, Fibuladefecten u. s. w., und die früher als zufällige Neben-
Digitized by CjOOQle
268
S. B. Ranneft.
erscheinungen, z. B. als Hautperforationen bei der die Fibuladefecte
begleitende Fractur der Tibia, angesehen wurden, erregen in letzter
Zeit mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Autoren und werden
mit der Aetiologie dieser Anomalien in Zusammenhang gebracht.
Max Haudek 1 ) untersuchte eine derartige sogen. Narbe bei
einem congenitalen Defect der Fibula mikroskopisch und kommt
zu dem Schluss, dass hier nicht an eine Perforation von innen nach
aussen gedacht werden kann, sondern dass die pathologische Ver¬
änderung der Haut auf einen von aussen her auf ihn eingewirkt
habenden Reiz hinweist.
Er meint, dass die eingezogene Hautstelle entstanden ist durch
Verwachsung des Fötus mit dem Amnion, welche Verwachsung
später zerriss und die atrophische Hautstelle hinterlassen hat.
Auf Grund dieser Wahrnehmung und anderer Erwägungen,
welche man im Original finden kann, und welche mir durchaus als
richtig erscheinen, kommt er zu dem Schluss, dass die Fibuladefecte
der Verwachsung des Fötus mit dem Amnion ihren Ursprung ver¬
danken.
Auch Joachimsthal 2 ) und Hlowacek 3 ) sprechen in ihren
betreffenden Arbeiten die Ansicht aus, dass die angeborenen
Extremitätenmissbildungen durch ein räumliches Missverhältniss
zwischen Fötus und Amnionhöhle resp. Verwachsungen zwischen
Fötus und Amnion entstehen. Ein neuerdings von mir beobachteter
Fall von beiderseitigem totalen Radiusdefect, wo auf beiden Seiten
an der Spitze der Ulna eine deutliche Hautnarbe gefunden wurde,
bestätigt wieder diese Annahme. Aber nicht nur für die Extremi¬
tätenmissbildungen gilt diese Theorie. Tronhöfer 4 ) liefert an
der Hand von 4 Fällen, beobachtet in der Klinik des Herrn Ge¬
heimrath v. Bergmann, den Beweis, dass Lippen-, Kiefer- und
Gaumenspalten auf diese Weise entstehen können.
Auch die so oft wahrgenommene Thatsache, dass mehrere
Missbildungen an verschiedenen Körpertheilen bei demselben Kinde
Vorkommen, lässt sich nicht durch ein local wirkendes Trauma,
wohl aber durch ein allgemein wirkendes Agens, wie Druck durch
b Zeitschrift für orthop. Chir. Bd. 4 Heft 2—3.
2 ) Archiv für klin. Chir. Bd. 50 Heft 3 und Zeitschrift für orthop. Chir.
Bd. 3 Heft 2.
8 Deutsche Zeitschrift für Chir. Bd. 43 Heft 1 und 2.
4 ) Archiv für klin. Chir. Bd. 52 Heft 4.
Digitized by
Google
Angeborene Knickung des Femurs beiderseits.
269
ein zu enges Amnion resp. Verwachsungen von Amnion mit dem
Fötus, erklären. Auch in meinem oben beschriebenen Falle kam
neben den Knickungen der Oberschenkel ein gespaltener Gaumen vor.
Es ist sehr gut denkbar, dass eine Krankheit des Amnion,
z. B. eine Entzündung, eine geringere Production von Fruchtwasser,
also Amnionenge und Verwachsung des Fötus in Anlage mit dem
Amnion zur Folge hat. Dass diese Verwachsung am leichtesten
an den vorspringenden Theilen des Fötus zu Stande kommt, liegt
auf der Hand.
Durch welchen Zufall nun in meinem Falle die Verwachsung
an sonst nicht vorspringenden Stellen des Körpers entstanden ist,
lässt sich nicht erklären, wohl aber erklärt sich daraus, dass hier
eben ein Zufall im Spiel ist und die Wahrnehmung bis jetzt ver¬
einzelt dasteht.
Und dass gerade bei diesem Unicum die auf Verwachsung
deutenden Hautstellen nicht fehlen, macht den Fall um so inter¬
essanter.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Baud.
18
Digitized by CjOooLe
XIV.
Ein fernerer Beitrag znr Casuistik des (renn
recurvatnin.
Von
Dr. F. Staffel,
Besitzer und Leiter des medico-mechanischen und orthopädischen Institutes
in Wiesbaden.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Nachdem ich in dieser Zeitschrift Bd. IV (S. 34 und Nach¬
trag S. 184) einen bemerkenswerthen Fall von Genu recurvatum
beschrieben, will es der Zufall (Duplicität der Fälle!), dass ich
kürzlich einen zweiten Fall dieser immerhin seltenen Deformität
beobachten konnte, der trotz sehr verschiedener Entstehungsarfc mit
dem ersten eine auffallende Aehnlichkeit hat.
In dem zweiten Falle handelt es sich um eine schief geheilte
Unterschenkelfractur, und ich bemerke hier gleich vorweg, dass es
richtiger wäre, von Crus recurvatum zu sprechen. Wie aber das
Crus varum und Crus valgum fast allgemein noch unter der Flagge
des Genu varum und Genu valgum segelt, so möge mir obiger Titel
gestattet sein.
Der jetzt 43 Jahre alte Landmann H. S. von M. hat im
Jahre 1888, also vor 9 Jahren, durch Verschüttung eine complicirte
Splitterfractur des rechten Unterschenkels erlitten. 13 cm unter¬
halb der Kniegelenklinie fühlt man vorn das untere Bruchstück der
Tibia mit scharfer Nase vorstehen (Fig. 1), und ausserdem über¬
zeugt man sich, dass das längere untere mit dem kürzeren oberen
Bruchstück — bei guter knöcherner Verheilung — einen nach vom
offenen Winkel von etwa 160° bildet, das untere Bruchstück von
der Richtung des oberen also im Winkel von etwa 20° nach vom
Digitized by CjOOQle
Völlige Kniestreckung, Eindruck
de« Genn recuryatum.
Habituelle Beugestellung des
Knies.
Im Liegen fällt es auf, dass die rechte Kniekehle nicht auf¬
liegt. Drückt man das Knie nieder, so erhebt sich das abgeknickte
längere untere Stück des Unterschenkels mit dem Fusse von der
Digitized by VjOOQle
272
F. Staffel.
Unterlage in einem Elevationswinkel der oben genannten 20° (ge¬
nau so wie im Falle I, bei dem der Winkel 30° betrug). Das
Knie wurde also in etwa 20 0 Beugung gehalten. Das letztere be¬
obachtet man auch sowohl im Stehen wie im Gehen: der Verletzte
drückt das Knie nicht durch, sondern benutzt es immer nur derart,
dass an der völligen Streckung des Gelenks etwa 20° fehlen, so
viel, als der Knick im Unterschenkel beträgt (Fig. 2).
Der Grund dieser Erscheinung kann nur der sein, dass das
Bein auf jenem verminderten Grade der Streckung am längsten
ist. Wollte der Verletzte das Knie „durchdrücken“, so würde das
Bein einen grossen (geknickten) Bogen nach hinten bilden (Fig. 1)
und dadurch noch kürzer werden, als es an und für sich schon ist.
Es würde dann nothwendig stärkeres Hinken entstehen, und dieses
vermeidet der Verletzte durch unvollständige Streckung des Knies.
(Das durch die reale Verkürzung bedingte Hinken wird durch
einen entsprechend erhöhten Stiefelabsatz und Sohle auf ein geringes
Maass beschränkt.)
So wichtig also auch die feste Arretirung des Kniegelenks
auf dem Punkte der grössten Streckung für das normale Gehen
und Stehen ist, so ist es doch augenscheinlich für unseren Defor-
mirten zweckmässiger, auf die völlige Kniestreckung beim Stehen
und Gehen zu verzichten; ihr Vortheil wird aufgehoben durch den
Nachtheil, dass bei ihm das Bein bei völlig gestrecktem Knie eine
kürzere Stütze ist als bei etwas gebeugtem Knie, dass die im
Knie fest arretirte, aber kürzere Stütze vermehrtes Hinken bedingt.
Da das Gehen mit etwas gebeugtem Knie hier eine Anpassung
an die Unterschenkeldeformität ist, so liegt es auf der Hand, dass
man von einem echten Genu recurvatum nicht reden kann. Von
einem wahren Genu recurvatum kann man nur sprechen bei Ueber-
streckung des Knies. Hier findet aber nicht nur keine Ueber-
streckung, sondern nicht einmal eine völlige Streckung des Knies
statt. Auch bei völliger Streckung im Knie, die gewohnheitsmässig
vermieden wird, liegt nur ein scheinbares Genu recurvatum vor.
Die Aehnlichkeit dieses Falles H mit dem Falle I ist in die
Augen springend. Dort handelte es sich um einen (wahrscheinlich
rhachitischen) Knick in der Tibia derart, dass die ganze Diaphyse
mit der oberen Epiphyse einen nach vorn offenen Winkel von 150 0
bildete. Als Folge dieser Deformität bestand dort genau dieselbe
Anpassung, dass das Knie beim Stehen und Gehen gewohnheits-
Digitized by VjOOQle
Ein fernerer Beitrag zur Casuistik des Genu recurvatum.
273
massig nicht völlig gestreckt wurde, sondern nur gelegentlich, bei
unvorsichtigem Gebrauch, in gänzliche Streckung gerieth, um dann
das Bild eines hochgradigen Genu recurvatum darzubieten. Diese
Anpassung geschah augenscheinlich aus dem gleichen Grunde, dass
bei völliger Kniestreckung das Bein eine kürzere Stütze wurde
als bei einem Beugungsgrade, der dem Knick in der Tibia an
Winkelgrösse entspricht.
In beiden Fällen wäre es also richtiger, nicht von Genu
recurvatum zu sprechen, sondern von Crus recurvatum mit habi¬
tueller Beugestellung des Kniegelenks; in beiden Fällen entsteht erst
bei der — gewohnheitsraässig vermiedenen — völligen Streckung
(nicht Ueb er Streckung) des Kniegelenks das Bild eines Genu
recurvatum.
Die Leistungsfähigkeit eines so deformirten Beines ist eine
stark verminderte; der Verletzte S. ist als Landwirth zu schwererer
Arbeit unfähig und bezieht, wie ich glaube mit Recht, eine dauernde
Rente von 60°/o.
Es ist klar, dass diese Deformität durch die Osteotomie be¬
seitigt werden kann, so dass dann auch bezüglich der Function des
Kniegelenks wieder normale Verhältnisse zu erwarten wären. Ich
habe diese Operation dem Verletzten vorgeschlagen, er war aber
nicht zu bewegen, auf diesen Vorschlag einzugehen.
Digitized by CjOOQle
XV.
Untersuchungen über den Einfluss der Nerven¬
verletzung auf das Knochenwachsthum.
Von
Dr. Cesare Ghillini,
Oberarzt der Krankenhäuser, Director der Abtheilung der orthopädischen
Chirurgie an der Poliambulanza felsina.
Kassowitz fand bei seinen Untersuchungen über die Rha-
chitis auch bei denen von kurzer Dauer, nachdem er bei verschie¬
denen jungen Kaninchen den Nervus ischiadicus durchschnitten,
dass das gelähmte Bein mehr an Länge zugenommen hatte, als
das gesunde.
Dieses Längenwachsthum erklärte Kassowitz durch die
vasomotorische Lähmung infolge Durchschneidens des Nervus.
Indem ich mir vornahm, eine Reihe von Untersuchungen über
den Einfluss des Nervensystems auf die Entwickelung und das
Wachsthum der Knochen vorzunehmen, wollte ich vor Allem fest¬
stellen, ob der von Kassowitz beobachtete und von Nasse be¬
stätigte Fall wirklich nur eine dauernde Wirkung des Nerven-
schnittes war, oder ob derselbe hingegen von irgend einer äusseren
Bedingung abhänge.
Zu diesem Zwecke führte ich dann an Kaninchen von 2 Mo¬
naten verschiedene Schnitte und Resectionen des Nervus ischiadicus
aus. Einige der auf diese Art operirten Thiere hielt ich während
der ganzen Dauer der Untersuchung in kleinen Käfigen einge¬
schlossen, in welchen sie sich nicht bewegen konnten, eine gleiche
Anzahl hingegen waren frei, und wurden ein- oder zweimal des
Tages für kurze Zeit angetrieben zu springen.
6 Wochen nach der Operation tödtete ich die Thiere, konnte
Digitized by CjOOQle
Untersuchungen über den Einfluss der Nervenverletzung etc. 275
jedoch bei denen, die in Freiheit gelassen worden waren, keinen
bemerkenswerthen Unterschied in der Länge der Hinterbeine finden,
oder aber ich fand das gelähmte Bein kürzer als das gesunde.
Die in Käfigen gehaltenen Kaninchen hingegen zeigten alle
eine mehr oder weniger bemerkenswerthe Verlängerung des ge¬
lähmten Beines.
Gleiche Resultate erzielte ich bei zwei jungen Kaninchen mit
Lähmung eines Hinterbeines infolge von Verletzung des Rücken¬
markes.
Ich fand in der That bei dem in Freiheit gelassenen Kanin¬
chen, welches 2 Monate nach der Operation starb, das gelähmte
Bein bemerkenswerth kürzer als das gesunde. Bei dem anderen
hingegen, welches immer in dem Käfig eingesperrt war, und das
ich 2 Monate nach der Operation tödtete, fand ich das gelähmte
Bein länger als das gesunde.
Ueber einige interessante Einzelheiten, die ich während der
Untersuchungen beobachtete, werde ich in einer späteren Arbeit
sprechen.
Für jetzt möchte ich hervorheben, dass, wenn auch meine
Untersuchungen die Möglichkeit vermehrten Längenwachsthums der
Knochen bei einem gelähmten Beine bestätigen, dieselben jedoch
im Einklang mit den Resultaten der klinischen Beobachtungen
zeigen, dass dieses nicht nur von der Verletzung des Nervus allein
abhängt, sondern dass dieselbe bei gegebenen äusseren Verhältnissen
eine entgegengesetzte Wirkung hervorbringt.
Diese entgegengesetzten Resultate erzielte ich bei meinen
Untersuchungen durch die verschiedenen statischen Bedingungen,
denen das gelähmte Bein des in Ruhe und des in Bewegung gehal¬
tenen Thieres unterworfen worden war. Das vermehrte Längenwaclis-
thum, welches man an dem gelähmten Bein des in Ruhe gehaltenen
Thieres beobachtete, entspricht meiner Ansicht nach einer Ver¬
längerung des Beines, die nach Verneuil, Reclus und Karewski
festgestellt wurde in Fällen von Hüftgelenksverrenkung, die infolge
von Kinderlähmung entstanden — nämlich einer Verlängerung durch
verminderten Druck.
Digitized by CjOOQle
XVI.
Ueber Ursachen, Geschichte und Behandlung der
angeborenen Hnftluxation.
Vortrag, gehalten in der Frühjahrs Versammlung des Vereins der Aerzte
des Regierungsbezirks Düsseldorf 10. Mai 1897.
Von
Dr. L. Heusner.
Mit 5 in den Text gedruckten Abbildungen.
Von den vielen Theorien über die Ursachen der angeborenen
Hüftluxation müssen alle diejenigen als unhaltbar bezeichnet werden*
welche die Erblichkeit und das bedeutende Vor wiegen der Erkran¬
kung beim weiblichen Geschlechte ausser Acht lassen. So die
älteste von Hippokrates, welcher Stoss oder Druck im Mutterleibe
annimmt, die von Malgaigne, welcher frühzeitigen Hydrops des
Gelenks glaubt supponiren zu können, die von Dupuytren und
Roser, welche die starke Beugestellung der Oberschenkel für das
Schädliche halten, die von Grawitz und Dollinger, welche Fehler
bei der Ausbildung und Verknöcherung der Epiphysenknorpel ver¬
antwortlich machen wollen, endlich jene von Verneuil, welcher
Lähmung gewisser Muskelgruppen nach der Geburt beschuldigt und
einen Preis von 3000 Franken auf den unzweifelhaften Nachweis
eines bereits intrauterin entstandenen Falles setzte.
Es hat aber bereits Paris bei der Obduction von 330 Leichen
Neugeborener 4mal angeborene Hüftluxation gefunden, und Pa-
letta, Cruveilhier und Sainton beschrieben Fälle, wo das Ge¬
lenk bei kurz nach der Geburt verstorbenen Kindern schon ähnliche
Veränderungen erkennen liess, wie man sie bei älteren Kindern mit
angeborener Luxation zu finden pflegt. Wir müssen daher mit
Digitized by VjOOQle
Ueber Ursachen, Geschichte u. Behandlg. d. angeborenen Hüftluxation. 277
Paletta in dem Fehler ein Vitium primae formationis erblicken und
den Anfang in die Zeit setzen, wo die grossen Gelenke sich bilden,
d. h. in den Beginn des 3. Fötalmonates. Das fötale Skelet besteht
in der frühesten Zeit aus ungegliederten Gerüststäben, welche an
den Stellen, wo sich später die Gelenke bilden, durch eine zellen¬
reiche bindegewebige Zwischenmasse unterbrochen sind. Unter Ver¬
zehrung dieser Masse wachsen die Knorpelenden langsam bis zur
gegenseitigen Berührung gegen einander vor und nehmen schon um
diese Zeit ihre definitive Form an. Die Ausbildung der Gelenke
geschieht also im wesentlichen, ehe die Muskeln in Thätigkeit treten,
und kann daher nicht von deren Wirkung abhängig gemacht werden.
Dagegen ist es wohl verständlich, dass bei mangelhaftem Bildungs¬
triebe das Gelenk zu flach und zu schwach ausfallen kann. Wir
müssen nun annehmen, dass die Differenzirung der Geschlechter,
welche äusserlich ebenfalls im 3. Monat erkennbar wird, in
Wirklichkeit aber schon im Ei vorherbestimmt ist, wie der Um¬
stand, dass die aus einem Ei stammenden Zwillinge stets einerlei
Geschlechtes sind, beweist, einen noch unaufgeklärten Einfluss auf
die Ausbildung des Hüftgelenkes ausübt, und dass dieser Einfluss
bei den weiblichen Föten ein hemmender ist, wie wir ja beim
schwächeren Geschlechte auch die Gesichtszüge kindlicher, den Kehl¬
kopf kleiner und das Knochengerüst graciler sich gestalten sehen.
Ich habe von diesem Gesichtspunkte ausgehend eine Reihe von
26 Föten (14 männliche, 12 weibliche) verschiedenen Alters untersucht
und gefunden, dass die Festigkeit der Hüftgelenke, hergestellt durch
die Tiefe der Pfannen und die Straffheit des Bandapparates, bei
verschiedenen Föten eine ziemlich verschiedene ist, dass aber bei
den weiblichen Föten das Gelenk durchgehends schlaffer und ver¬
schieblicher ist als bei den männlichen. In manchen Fällen kann
man bei ersteren durch Flectiren und Nach-hinten-drängen des
Schenkels den Kopf unter der Kapsel über die Hälfte aus der
Pfanne hervortreten machen. Beim Anziehen des Beines bildet sich
eine tiefe Rinne um den Kopf, indem der Luftdruck die schlaffe
Kapsel nach der vom Kopf nicht mehr ausgefüllten Pfanne hintreibt.
Es ist verständlich, dass ein erheblich zu flach und schlaff angelegtes
Gelenk bei der ersten Gelegenheit, sei es durch Druck im Uterus,
durch Trauma bei der Geburt, oder, was das Häufigste ist, bei den
ersten Gehversuchen vollständig luxirt wird.
Es erklärt das die Fälle, wo unter den Augen der Eltern und
Digitized by CjOOQle
278
L. Heusner.
des Arztes, der anfangs nichts Sicheres findet, der Fehler sich heraus¬
bildet. Ein kleines Mädchen von V Jahren, das wegen eines im
Bekanntenkreise vorgekommenen Luxationsfalles von den Eltern auf
das Aengstlichste beobachtet wurde, zeigte eine kaum bemerkbare
Unsicherheit und eine Neigung zu leichter Spitzfussstellung linker¬
seits beim Gehenlernen. Die sorgfältigste Untersuchung liess keine
messbare Verkürzung, keine abnorme Stellung des Schenkels, keine
deutliche Verschieblichkeit der Hüfte erkennen, nur dass sich das
linke Bein weiter auswärts rotiren liess als das rechte. Daraufhin
wurde eine angeborene Lockerheit des Gelenkes angenommen und
das Tragen eines Schienenhülsenapparates empfohlen. Dennoch
bildete sich allmählich eine Verkürzung aus und als nach Jahren
von anderer Seite — ich selbst hatte damals den Apparat noch
nicht zur Verfügung — eine Röntgenphotographie angefertigt
wurde, liess sich bereits eine erhebliche Verschiebung des Kopfes
und als Grund derselben eine angeborene totale Abflachung der
Pfanne constatiren. Das Vertrauen der Eltern war erschüttert und
so wandten sie sich an einen anderen Arzt, der eine energische Ein¬
renkung in Narkose und Gipsverbände bei stärkster Abductions-
stellung in Anwendung zog, was aber nach Lage der Sache kaum
mehr Erfolg haben dürfte. Es führt uns dies die Schwierigkeiten
vor Augen, welche die Diagnose der angeborenen Hüftluxation bieten
kann. Vor dem Laufenlernen wird der Fehler in der Regel ganz
übersehen, und in den späteren Monaten ist oft nur ein ganz leichtes
Hinken bemerkbar. Die bei älteren Kindern durch das seitliche
Ausweichen und Hinauf wandern der Köpfe hervorgebrachte Ab¬
flachung der Gesässgegend, das Hinaufragen des Trochanters über
die Roser-Nelaton’sche Linie, sind im ersten und zweiten Lebens¬
jahre wegen Kleinheit und Rundung der Formen oft wenig in die
Augen fallend. Die Verschieblichkeit des Kopfes, welche man in
der Weise prüft, dass man mit der einen Hand gleichzeitig Spina
anterior und den Trochanter anfasst und mit der anderen das Bein
auf- und abschiebt, ist wegen des Sträubens und des oft sehr starken
Fettpolsters der kleinen Patienten nicht immer deutlich erkennbar.
Aehnlich verhält es sich mit dem Nachweis, ob der Kopf an seiner
richtigen Stelle unter dem Schambein in der Mitte zwischen Spina
anterior vorhanden ist, oder nicht. Drückt man den Daumen an
der erwähnten Stelle etwas auswärts von der Arterie in die Weich-
theile, während man die Finger auf den Trochanter setzt und mit
Digitized by CjOOQle
Ueber Ursachen, Geschichte u. Behandlg. d. angeborenen Hüftluxation. 279
der andern Hand Drehbewegungen am Beine ausführt, so fühlt man
den Kopf unter normalen Verhältnissen deutlich in der Pfanne ro-
tiren; bei bestehender Luxation ist die Stelle leer. Bleibt man im
Zweifel, so empfiehlt sich Wiederholung der Untersuchung in Nar¬
kose. Während bei der traumatischen wie auch der spontan ent¬
standenen Luxatio iliaca der Schenkel durch das angespannte Liga¬
mentum ileoferaorale in flectirter und adducirter Stellung festgehalten
wird, pflegt die Beweglichkeit bei der angeborenen Luxation infolge
Verflachung der Pfanne, Verkleinerung von Kopf und Hals und Aus¬
weitung der Kapsel nach allen Richtungen vermehrt zu sein, mit
Ausnahme der Abduction, welche immer vermindert ist. Schon
Pravaz erwähnt, dass man den Fuss bei gestrecktem Knie oft bis
an das Gesicht heranbringen kann und räth in zweifelhaften Fällen,
den Schenkel in die gegenüber liegende Leistenbeuge zu drängen,
wobei der luxirte Kopf unter der Haut deutlich fühlbar werde. Sehr
nützlich hat sich neuerdings die Anfertigung von Röntgenphoto¬
graphien erwiesen, mit deren Hilfe man sich von vornherein über
die Tiefe der Pfanne informiren und auf jeder Stufe der Behandlung
über die richtige Einstellung des Kopfes Klarheit verschaffen kann.
Kümmell, welcher auf dem letzten Chirurgencongress vortreffliche,
zum Theil durch den Gipsverband hindurch gewonnene Photographien
vorzeigte, konnte so in einem Falle nachweisen, dass der Kopf statt
in die Pfanne auf die Incisura ischiadica „eingerenkt“ worden war.
Immerhin ist bei Beurtheilung der Photographien einige Uebung er¬
forderlich, und wenn die Veränderungen unerheblich sind, können
Irrthümer infolge stereoskopischer Bildverschiebungen Vorkommen.
Sehr werthvoll sind auch die Beobachtungen aufmerksamer Eltern
über das Verhalten der kleinen Patienten.
Einer Mutter fiel es auf, dass ihr 2 Monate altes Töchter-
chen das linke Beinchen stets etwas gebeugt hielt und weniger
bewegte als das rechte. Zwei sehr tüchtige hinzugezogene Aerzte
glaubten, dass es sich um eine unbedeutende und vorübergehende
Abnormität handle. Ich fand bei der Untersuchung im 6. Monat
eine messbare Verkürzung und beim Anziehen und Abduciren des
Beines gelang es mir, den Kopf mit einem leichten Ruck in die Pfanne
zu bringen, die er freilich beim Flectiren und Adduciren sofort
wieder verliess. Ich habe für dieses Kind einen portativen Lage¬
rungsapparat aus gepolsterten flachen Stahlstäben construirt, die
das Bein nach der Einrenkung in Abductionsstellung fixirten und
Digitized by CjOOQle
280
L. Heusner.
eine permanente Extension mittelst öamasche und Gummizügel ge¬
statteten (vergl. Fig. 1). Die Patientin hat darin s /4 Jahre zu¬
gebracht und trug dann ebensolange einen Schienenhülsenapparat
mit Abductionsvorrichtung für das Bein, worin sie das Laufen lernte.
Seit über */* Jahr hat sie auch diesen Apparat abgelegt und ist
seitdem geheilt mit völlig normaler Function des Gelenkes.
Bei älteren Kindern, die schon
längere Zeit gelaufen sind, pflegt sich
der Fehler schon bei oberflächlicher Be¬
trachtung durch das eigenthümliche
Hinken und die Einbiegung der Lenden¬
wirbelsäule zu verrathen; allein diese
indirecten Merkmale sind vieldeutig und
wer zu viel Werth darauf legt, ist
Täuschungen ausgesetzt. Hinkender
Gang, einseitig oder auch doppelseitig,
kommt bei gewissen rhachitischen De¬
formitäten vor, insbesondere bei der
auch in unserer Gegend nicht seltenen
Verbiegung des Schenkelhalses nach ab¬
wärts, welcher von Hofmeister neuer¬
dings der Namen Coxa vara beigelegt
wurde. Schon der geniale Mailänder
Arzt Paletta hat die Erkrankung be¬
schrieben und erwähnt, dass sie zu Ver¬
wechselung mit angeborener Hüftluxa-
tion Veranlassung geben kann, be¬
sonders weil auch der grosse Trochanter nach oben verschoben er¬
scheint. Paletta’s Beobachtung gerieth jedoch wieder in Ver¬
gessenheit, bis die Erkrankung von Ed. Meyer anatomisch (vergl.
dessen 1873 erschienenes Buch über Statik und Mechanik des menschL
Körpers) und von Müller in Tübingen und Kocher in Bern klinisch
wieder entdeckt wurde. Letztere Autoren fanden auch, dass zu der
Abwärtsbiegung des Halses gewöhnlich eine Rückwärtsknickung
desselben hinzu tritt, und dass das Bein hierdurch eine auswärts
rotirte Stellung annimmt, was — allerdings aus anderen Gründen —
oftmals auch bei der angeborenen Luxation der Fall ist. Dass die
Abwärtsbiegung des Schenkelhalses auch bei der angeborenen Luxation
nicht selten ist, war den älteren Schriftstellern ebenfalls bekannt,
Fig. 1.
Digitized by VjOOQle
Ueber Ursachen, Geschichte u. Behandlg. d. angeborenen Hüftluxation. 281
und schon Malgaigne führt die Entstehung auf den Umstand zu¬
rück, dass die Körperlast bei der angeborenen Luxation vermittelst der
ausgespannten Kapsel an der äussersten Spitze des Kopfes hängt,
also an einem längeren Hebelarm angreift, als wenn der Kopf in
der Pfanne steht. Zu der umgekehrten Bein- und Fussstellung wie
die Goxa vara, nämlich zu Einwärtsrotation, gibt das rhachitiscli ab¬
geplattete Becken Veranlassung, indem hierbei die Hüftpfannen aus
ihrer seitlichen Lage nach vorne gekehrt werden, was ebenfalls zu
einem schwerfälligen, watschelnden Gange Veranlassung gibt. Auch
bei der angeborenen Luxation entstehen charakteristische Verbie¬
gungen der Beckenknochen, die natürlich um so stärker werden
müssen, wenn zu der natürlichen Weichheit des kindlichen Skelets
Rhachitis hinzutritt. Ist der Fehler doppelseitig, so wächst das
kleine Becken wegen des fehlenden, resp. nach aufwärts verlagerten
Seitendruckes der Schenkelköpfe gewöhnlich breiter als normal; die
Sitzknochen werden von den aufwärts gespannten Weichtheilen aus
einander gezogen? der Schambogen wird flacher; das grosse Becken
dagegen wird durch Zusammenrücken der Darmbeinschaufeln ver¬
schmälert. Bei einseitiger Luxation wird nur die kranke Becken¬
hälfte. weiter; die gesunde, auf welcher die Körperlast hauptsächlich
ruht, und das Kreuzbein rücken einander näher, und es entsteht
eine schräge Beckenverengung, die später zu geburtshilflichen
Schwierigkeiten Veranlassung geben kann. Mit dem Kreuz neigt
sich auch die Lendenwirbelsäule dem stärker belasteten Unter¬
stützungspunkt entgegen, und so entsteht bei vorhandener Dis¬
position eine Skoliose, welche aber nicht, wie man gewöhnlich an¬
gegeben findet, nach der kranken, sondern nach der gesunden
Beckenseite gerichtet ist.
Die Ursache des durch ein eigenthümliches Balanciren und
Schwanken ausgezeichneten Hinkens, die man seit Dupuytren in
dem „Glissement vertical“, der Köpfe zu suchen pflegte, ist neuer¬
dings von Trendelenburg dahin präcisirt worden, dass die vordere
Partie der Glutäalmusculatur, welche beim Auftreten auf das luxirte
Bein das Becken fixiren sollte, wegen mangelhafter Festigkeit im
Gelenk ihre Aufgabe nicht erfüllen kann. Treten die Kinder auf das
rechte Bein, so fällt das Becken nach links herunter und umgekehrt,
wobei jedesmal Kopf und Oberkörper corapensatorisch nach der
entgegengesetzten Richtung (also jener des „Standbeines“) hingeworfen
werden. Ausser diesem von Trendelenburg angeführten Grunde
Digitized by CjOOQle
282
L. Heusner.
trägt die schief nach einwärts gehende Richtung der Oberschenkel
und das Bestreben, ein Collidiren der Kniee zu vermeiden, dazu bei,
den Gang schwerfällig und watschelnd zu machen. Beim Laufen wird
der Fehler wegen der dabei stattfindenden stärkeren Muskelanspannung
weniger bemerkt. Der Sprung auf dem luxirten Bein misslingt, weil
die zum Emporschnellen nöthige Festigkeit im Hüftgelenke fehlt.
Die vermehrte Beckenneigung, welche den meisten Kindern
mit angeborener Hüffcluxation eigentümlich ist, wird gewöhnlich in
etwas unklarer Weise darauf zurückgeführt, dass infolge Rtick-
verlagerung der Schenkelköpfe das Becken gleichsam nach vorne
übersinken müsse. Die vermehrte Beckenneigung hat jedoch an
und für sich mit dem Schwerpunkt nichts zu thun, sondern wird
ebenso wie bei der traumatischen Luxatio iliaca lediglich bedingt
durch die stärkere Anspannung des Ligamentum ileofemorale (nebst
den vom Schambein und Sitzbein zum oberen Schenkelende ziehen¬
den Muskel- und Fasciensträngen). Bei der traumatischen Luxation
wird das Band straff gezogen durch die Verschiebung des Kopfes
nach hinten und unten in der Richtung des Kapselrisses; bei der
angeborenen Luxation wird die Anspannung und die vermehrte
Beugehaltung des Beckens gegen die Oberschenkel bewirkt durch
die Körperschwere. Secundär sind die Patienten alsdann genöthigt
den Oberkörper zurückzuneigen, wodurch die Einbiegung der Lenden¬
wirbel zu Stande kommt. Bei jüngeren Kindern, deren Körper
noch leicht ist, kann unter besonderen, nicht völlig geklärten Be¬
dingungen die vermehrte Beckenneigung ganz ausbleiben, was zu
diagnostischen Irrthümern Veranlassung geben , kann. Sie sehen hier
die Photographie eines 3^2jährigen Mädchens, welches mir mit der
Diagnose doppelseitige Hüftluxation vorgestellt wurde (vergl. Fig. 2).
Ich liess mich durch das Fehlen vermehrter Einbiegung im Kreuz,
die nach den meisten Lehrbüchern ein nothwendiges Desiderat der
angeborenen Luxation sein soll, zu der Annahme verleiten, dass unmög¬
lich eine solche vorhanden sein könne, dass es sich vielmehr um
eine rhachitische Deformität handeln müsse. Die Rectificirung liess
nicht lange auf sich warten; ich musste zugeben, dass ich mich ge¬
irrt hatte, und eine Röntgenaufnahme wies nach, dass eine Ver¬
schiebung der Köpfe von 2 *2 cm bestand. Das Ligamentum ileo¬
femorale, dessen Grösse schon beim Fötus dem aufrechten Gange
des Menschen angepasst wird, bestimmt auch beim normalen Hüft¬
gelenke die Beckenneigung und übt dadurch grossen Einfluss auf
Digitized by VjOOQle
Ueber Ursachen, (Jeschichte u. Behandlg. d. angeborenen Hüftluxation. 283
die ganze Körperhaltung aus. Als Gegenstück zu dem vorigen
Falle kann ich Ihnen hier die Photographie eines 12jährigen
Mädchens mit völlig normalen Hüftgelenken zeigen, welches eine
so starke Einbiegung der Lendenwirbelsäule hat, dass man beim
ersten Anblick an doppelseitige Hüftluxation denken muss (vergl.
Fig. 2.
Fig. 3). Eine jüngere Schwester hat ebenfalls verstärkte Becken¬
neigung, und ein Bruder zeigt Einwärtsstellung der Füsse, was
wahrscheinlich auf Verkürzung des inneren Abschnittes des Sclienkel-
bandes (Lig. pubofemorale) beruht.
Es bleibt noch der zuweilen vorkommenden Pseudarthrose zu
erwähnen, welche ebenfalls diagnostische Schwierigkeiten bereiten
kann. Bei einem 11jährigen Mädchen mit linksseitiger angeborenen
Digitized by VjOOQle
284
L. Heusner.
Hüftluxation und beträchtlicher Verschiebung des Kopfes, dessen Eltern
den lebhaften Wunsch hegten, den Fehler geheilt zu sehen, erzielten
wir trotz mehrmonatlicher kräftiger Gewichtsextension und viermaliger
energischer Einrenkungsversuche keinen anderen Erfolg, als dass
eine Abreissung der oberen Epiphyse des Oberschenkels eintrat,
glücklicherweise ohne schlimmere Folgen! Dass es zur Ausbildung
eines falschen Gelenkes kommen kann, wenn durch die Oscillationen
des Kopfes das Lig. rotundum und die hintere Kapselwand zerriebeu
wird, der Kopf also direct mit dem Darmbein in Berührung kommt,
erwähnt schon Pravaz; dass aber die bandförmigen Verlöthungen,
die sich zwischen dem Kopfe und dem Darmbein bilden, eine solche
Festigkeit erlangen können, war mir nicht bekannt, und ich zog aus
diesem Falle die ernste Lehre, bei vermutheter Fixation mit den
Einrenkungsbemühungen Maass zu halten.
Was nun die Prognose der unblutigen Einrenkung betrifft, so
sind zur Zeit noch keine ausreichenden Erfahrungen gesammelt,
um ein abschliessendes Urtheil über den Werth der Methode und
die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit abzugeben. Das Hauptinter¬
esse beansprucht die Frage von der mehr oder weniger fortgeschrit¬
tenen Verflachung und der Regenerationsfähigkeit der Pfanne. Wer
dabei zu sehr von pathologisch-anatomischem Gesichtspunkte ausgeht,
kommt leicht zu so pessimistischen Anschauungen wie Dupuytren,
der seiner vortrefflichen Nekroskopie eines mit der Krankheit be¬
hafteten Kindes sogleich die Warnung hinzufügte, ebenso grausame
als unnütze Kurversuche zu unterlassen, oder garVerduc, der in
seiner Pathologie chirurgicale bei Erwähnung eines von Kerkring
obducirten Falles mit kleinem Kopf und weiter flacher Pfanne be¬
merkt: die Aerzte, welche durch Traction die Einrenkung vollziehen
wollten, bewiesen dadurch nur ihre Unwissenheit. Die Beobachtung,
dass sich bei den resecirten Gelenken nur eine sehr geringe Neigung
zur Bildung von Gruben und überknorpelten Schliffflächen zeigt,
beweist noch nichts gegen die unblutige Einrenkung unbeschädigter
Gelenke. Es sitzt eben in den Gelenktheilen jugendlicher Personen
ein natürlicher Bildungstrieb, der zwar durch längere Ausserberüh¬
rungsetzung der Gelenkflächen geschädigt und aufgehoben, durch
Herstellung des Contactes aber neu belebt wird. Thatsächlich ist
denn auch schon bei einer nicht geringen Anzahl von Fällen ein
dauerndes Resultat erzielt worden. Noch viel mehr sind in fort¬
schreitender Ausheilung begriffen; wir sehen, wie die anfangs vor-
Digitized by CjOOQle
Ueber Ursachen, Geschichte u. Behandlg. d. angeborenen Hüftluxation. 285
liandene Neigung zur Wiederausrenkung mehr und mehif schwindet,
die Festigkeit und Tragfähigkeit des Gelenkes zunimmt. Nicht weniger
schädlich haben freilich die optimistischen Uebertreibungen gewirkt,
die im ersten Enthusiasmus so siegesgewiss in die 0 Öffentlichkeit
traten. Die Angehörigen dieser Patienten kommen infolge dessen
öfters mit erstaunlichen Detailkenntnissen zum Arzte, unterziehen ihn
einer Art Examen hinsichtlich seines Programmes und wenden sich
sofort an eine andere Adresse, wenn man ihnen nicht Heilung in
kurzer Frist garantirt. Wer an die Behandlung herangeht, muss sich
klar machen, dass mit der vollzogenen Einrenkung die Hauptsache
noch nicht gethan ist; sondern dass eine langwierige, mühevolle und
sachkundige Nachbehandlung folgen muss. Oft gelingt die Ein¬
renkung nicht sogleich, sondern erst in mehreren Etappen; manch¬
mal schlüpft unter dem Verbände der Kopf aus seinem Lager wieder
heraus, und zuweilen verlieren die Eltern über den wiederholt nöthigen
Narkosen die Geduld. Wie wir früher bei der operativen Ein¬
renkung erlebt haben, so müssen schon jetzt die Hoffnungen, die
eich an die unblutige Einrenkung knüpften, bedeutend herabge¬
stimmt werden. Nur höchstens 10°/o der Fälle besitzen eine so
ausgebildete Pfanne, dass sie nach mehrmonatlicher bis einjähriger
Behandlung sich selbst überlassen werden können; weitere 30 bis
50°/o bieten bei einer durch mehrere Jahre fortgesetzten Behand¬
lung die Aussicht, dass sich allmählich durch Verkürzung der Ge¬
lenkbänder, Straffwerden der Musculatur, Auswachsen der Pfanne
ein genügender Halt entwickelt. Bei dem Rest lässt sich meiner
Erfahrung nach höchstens eine Stellungsverbesserung erzielen, die
mit den Opfern, welche die Behandlung erfordert, in keinem Ver-
hältniss steht und deren Dauerhaftigkeit überdies eine zweifelhafte
ist. Völlig normale Verhältnisse kann man auch nach der Heilung
nicht erwarten; es bleibt, wie Hoffa auf dem letzten Chirurgen-
congress hervorhob, oft eine Höherstellung des Kopfes unter der
Spina anterior s. und eine Neigung zu Auswärtsstellung des Fusses
zurück, und die oft vorhandene Abwärtsbiegung des Schenkel¬
halses, sowie die Verkleinerung des Kopfes bedingen ein Höher¬
stehen des Trochanters und eine bleibende Beinverkürzung. Natür¬
lich ist die Prognose um so besser, je früher die Kinder in Behand¬
lung kommen, da die Degeneration der Gelenktheile mit der Dauer
der Verrenkung zuzunehmen pflegt; doch findet man zuweilen selbst
bei Erwachsenen noch günstige Verhältnisse, während andererseits
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 19
Digitized by tjOOQie
286
L. Heusner.
schon bei Neugeborenen die Pfanne flach und von Bindegewebsmassen
ausgefüllt sein kann. Die Gefahren sind bei der unblutigen Einrenkung
im Gegensätze zur operativen, die niemals als ein unbedeutender
Eingriff bezeichnet werden kann, gering; doch sind, abgesehen von
den bereits erwähnten Epiphysentrennungen, Ischiadicuslähmungen*
meist allerdings vorübergehender Art, durch die starke Dehnung vor¬
gekommen. Durch harte Contraextensionsgurte können Quetschungen
und Zerreissungen an der Vulva entstehen, die zu Abscessen und
Wundrose Veranlassung bieten können. Nach der Einrenkung treten
oft heftige, bis zu einer Woche dauernde Schmerzen in der Hüft¬
gelenksgegend ein, und die festen, stark abducirten Verbände haben
leicht Schwellung, Blau werden und Vertaubung der Füsse zur Folge*
weshalb sorgfältige Ueberwachung geboten ist.
Die Geschichte der angeborenen Hüftluxation ist eine so inter¬
essante und lehrreiche, dass es sich verlohnt, einen Augenblick dabei
zu verweilen. Aus grauem Alterthum leuchten zu uns herüber die
Aufzeichnungen desHippokrates, welcher die einseitige und doppel¬
seitige Form der angeborenen Hüftluxation mit den Gestaltverände-
rungen der Gesässgegend und dem charakteristischen Hinken be¬
schrieb und erwähnt, dass wenn die Einrenkung nicht frühzeitig
gemacht wird, die Beinknochen im Wachsthum Zurückbleiben und
die Weichtlieile sich verschmächtigen. Wie bezüglich der Aetio-
logie so stellt Hippokrates auch hinsichtlich der Therapie die
angeborene Luxation mit der traumatischen auf ganz gleiche Stufe
und betrachtet ihre Heilbarkeit als eine selbstverständliche Sache*
ohne über die besonderen Schwierigkeiten ein Wort zu verlieren.
Dann ruhte die Angelegenheit, abgesehen von einer wohl aus Hippo¬
krates’ Schriften entnommenen Bemerkung Parö’s, bis zum Anfänge
unseres Jahrhunderts, wo zuerst Paletta, dessen ich schon bei der
Coxa vara Erwähnung that, in seinem 1820 erschienenen Werke
Exercitationes pathologicae den Obductionsbefund eines 14 Tage
nach der Geburt verstorbenen Knaben mit doppelseitiger Hüftluxation
in ausgezeichneter Weise beschrieben hat. Dupuytren, Saudi¬
fort, Guerin, Parise und manche andere, meist französische
Aerzte lieferten werthvolle Beiträge, namentlich hinsichtlich der
anatomischen Verhältnisse der Erkrankung. Den wissenschaftlich-
theoretischen Erörterungen folgten die praktisch-therapeutischen Be¬
strebungen etwas zögernd nach. Nach einem anerkennenswerthen*
aber erfolglosen Versuche Lafond’s und Duval’s, einen Kranken
Digitized by VjOOQle
Ueber Ursachen, Geschichte u. Behandlg. d. angeborenen Hilft!uxation. 287
mittelst permanenter Extension zu heilen, erschien 1835 eine Auf¬
sehen erregende Veröffentlichung von Humbert und Jacquier,
welche intelligente maschinelle Vorrichtungen zur Redression in
Anwendung brachten und eine Reihe von Erfolgen erzielt zu haben
glaubten, die aber vor einer strengeren Kritik nicht standhielten.
Dagegen konnte Ch. G. Pravaz in Lyon in seinem vortrefflichen,
1847 erschienenen Werke (Traite theoretique et pratique des
luxations congenitales du femur) über 15 unzweifelhafte Heilungen
berichten, die er nach 12jährigem rastlosem Bemühen erzielt hatte,
und die auch von hervorragenden medicinischen Zeitgenossen an¬
erkannt wurden. Pravaz unterzog das luxirte Bein zunächst einer
4—6 Monate dauernden permanenten Gewichtsextension mit Hilfe
einer Ledergamasche, vollzog dann die Einrenkung mittelst des
Flaschenzuges bei starker Abductionshaltung des Beines unter
manueller Nachhilfe am Trochanter, wiederholte dies Manöver, wenn
die Einrenkung nicht vollkommen gelang oder nicht standhielt, so
oft als nöthig war und benutzte zur Nachbehandlung einen Lage¬
rungsapparat, der Bewegung der Beine bei ausgeschaltetem Körper¬
gewichte gestattete. Es war dies ein auf Schienen laufender, in
Form einer schiefen Ebene gebauter Fahrstuhl, welcher von den
darauf liegenden Kranken nach Art eines Velocipedes mittelst Tret¬
vorrichtung fortbewegt wurde, während gleichzeitig Hiiftpelotten
mit Schraubenkraft gegen die Trochanteren gepresst wurden und
die Lage der Köpfe sicherten. Bei hinreichender Fixation durften
die Kranken aufstehen und zunächst mit Räderkrücken umhergehen;
die ganze Behandlung dauerte gegen 2 Jahre. Auch die Patho¬
logie und besonders die pathologische Anatomie sind in dem Buche
Pravaz’ mit solcher Gründlichkeit abgehandelt, dass der neueren
Forschung kaum irgend eine Thatsache von Belang hinzuzufügen
blieb. Hätte Pravaz das Chloroform und den Gipsverband bereits
zur Verfügung gehabt, so wäre er sicherlich zu einer allgemein
adoptirten Methode durchgedrungen; so aber gerieth sein Verfahren
nach seinem frühen Tode bald wieder in Vergessenheit, zumal die
Academie fran 9 aise und besonders Bouvier, welcher damals in
orthopädischen Dingen massgebend war, die Erfolge Pravaz’ nicht
anerkannten. Viele Jahre haben diese therapeutischen Bestrebungen
alsdann geruht bis anfangs des vorigen Jahrzehnts von verschiedenen
Seiten auf anderem Wege,’ nämlich durch Resection des Gelenkes
die Lösung des Problems versucht wurde. Margary und ich selbst
Digitized by CjOOQle
288
L. Heusner.
waren die ersten, welche die künstliche Aushöhlung der Gelenk¬
pfanne hinzufügten. Poggi in Bologna unternahm 1888 mit Glück
die Reposition des nicht resecirten Kopfes in die künstlich vertiefte
Pfanne. Nach diesen vereinzelten Versuchen hat Hoffa die blutige
Reposition zu einer wohldurchdachten, allgemein gültigen Methode
ausgebildet, der Lorenz eine verbesserte Schnittführung und mög¬
lichste Schonung der Muskeln hinzufügte. Die Bestrebungen der
unblutigen Einrenkung wurden zuerst von Brodhurst wieder auf¬
gegriffen, der 1865 über einige gelungene Fälle bei Kindern unter
2 Jahren berichtete, 1887 hat sodann Paci in Pisa sein neues Heil¬
verfahren veröffentlicht. Paci beginnt mit manueller Einrenkung
der Luxation ähnlich wie bei der traumatischen Verrenkung (Flexion
mit Aufwärtsschieben, dann Abduction und Aussenrotation, schliess¬
lich Streckung des Schenkels) und lässt eine ca. 2 Jahre dauernde
Nachbehandlung mit Gipsverbänden, Gewichtsextension, Massage,
Krücken und Stützcorset folgen. Die allgemeine Aufmerksamkeit wurde
jedoch der unblutigen Repositionsmethode erst zugewandt durch die
vor l 1 /* Jahren erfolgten Publicationen von Lorenz in Wien, welcher
ebenfalls manuell reponirt, nachdem er vorher mit Hilfe einer Ex¬
tensionsschraube den Kopf gelockert und gegen die Pfanne herab¬
gezogen hat. Der Zug wirkt am flectirten Knie der kranken Seite,
der Gegenzug am Damme, wobei die luxirte Hüfte sich herabneigt
und der Oberschenkel in Abductionsstellung kommt. Auch bei der
Einrenkung wird forcirte Abduction und Aussenrotation angewendet,
um den Widerstand der Adductoren zu brechen und den verengten
Kapselschlauch durch Dehnung der vorderen Wand zu erweitern.
Das Einschnappen des Kopfes soll sich unter laut hörbarem Schall
vollziehen wie bei der traumatischen Luxation. Zur Nachbehandlung
dienen Gipsverbände, welche zuerst in fast rechtwinkliger Abduc¬
tion angelegt, von Zeit zu Zeit unter thunlichster Herabminderung
der Abductionshaltung erneuert werden. Lorenz nimmt für sich
das Verdienst, wirkliche Reposition des Kopfes in die Pfanne zu er¬
zielen, in Anspruch, während Paci nur von einer Stellungsverbes¬
serung gesprochen hatte. Auf König’s Einwand, es sei unwahr¬
scheinlich, wo nicht gar unmöglich, dass die unblutig eingerenkten
Gelenke standhielten, erwiderte Lorenz (Berliner klinische Wochen¬
schrift Nr. 68, Februar 1897), er habe bereits in 6 Fällen das
unmöglich Geglaubte erreicht. Bei verbesserter Methode dürfte
man wohl nicht länger als l l k —2 Jahre auf zufriedenstellenden
Digitized by CjOOQle
Ueber Ursachen, Geschichte u. Behandlg. d. angeborenen Hüftluxation. 289
Erfolg zu warten haben. Auf der Naturforscherversammlung zu
Frankfurt a. M. erwähnte Kümmell, dass er anfangs genau nach
Lorenz verfahren habe, dass er aber neuerdings nur manuell, ohne
Anwendung der Schraube reponire; also eine Wiederannäherung an
Paci’s Methode, deren Werth von Lorenz doch wohl unterschätzt
wurde. Schede, welcher schon zu einer Zeit, wo die angeborene
Hüftverrenkung als ein jeder Therapie unzugängliches Leiden be¬
trachtet wurde, mit Hilfe systematischer Gewichtsextension und einer
sinnreichen Abductionsschiene einzelne Erfolge erzielte, benutzt zur
Reposition neuerdings einen Extensionsapparat, auf welchem das
luxirte wie das gesunde Bein mit Hilfe zweier endloser Schrauben
gleichmässig angezogen werden, während der Gegenzug am Damme
durch einen drei Finger breiten, am Apparate angebrachten Leder¬
riemen ausgeübt wird. Bei stark gespreizter Haltung der Beine wird
der Kopf in das Pfannenniveau herabgezogen, und pflegt dann unter
langsamem Aus- und Einwärtsdrehen des Schenkels und kräftigem,
von rückwärts gegen den Trochanter ausgeübtem manuellem Drucke
mit einem knirschenden Geräusche an seine Stelle zu rücken. Um
keinen übermässigen Zug auszuüben, hat Schede zwischen die
Extensionsschrauben und die ausgespannten Beine Kraftmesser ein¬
geschaltet, und pflegt bei jüngeren Kindern den Zug nicht über 50,
bei älteren nicht über 75 kg auszudehnen. Zur Nachbehandlung
dienen Gipsverbände, die sich auf dem Einrenkungsapparate bequem
anlegen lassen, in späteren Stadien die erwähnte Abductionsschiene
und bei doppelseitiger Luxation Lederkapseln, die nach Art einer
Schwimmhose Becken und Oberschenkel umschliessen und mit
Schraubenvorrichtung zur Ausübung eines Druckes auf die Trochan-
teren versehen sind. Schede ist kein Gegner der Operation, hält
aber dafür, dass eine dauernde auf unblutigem Wege erzielte Ver¬
besserung der Stellung ein besserer Erfolg sei als eine operative
Einrenkung, die, abgesehen von der Gefahr, öfters zu schiefer Stel¬
lung und Steifigkeit führe. Dagegen bevorzugt Hoffa, nachdem
er längere Zeit ausgedehnte Versuche mit der Lorenz’schen Methode
gemacht hat, neuerdings wieder sein operatives Verfahren, weil er
die Resultate für solidere hält, namentlich die erwähnte Dislocation
des Kopfes nach vorn und oben nicht eintrete. In der That zeigte
die Mehrzahl der vielen operirten Kinder, welche Hoffa auf der
Frankfurter Naturforscherversammlung vorstellte, ein sehr schönes
Resultat.
Digitized by VjOOQle
290
L. Heusner.
Ich gestatte mir jetzt, Ihnen mein eigenes Verfahren zu de-
monstriren und Ihnen zunächst den von mir benutzten Einrenkungs¬
apparat vorzuzeigen (vergl. Fig. 4). Es ist ein 1 1 /a m langer und
stark ] /2 m breiter Holztisch, dessen Platte gegen das vordere Ende
hin durch einen 55 cm breiten Ausschnitt unterbrochen ist, in welchem
ein zur Aufnahme des Patienten bestimmter, mit verstellbarem Kopf¬
träger ausgerüsteter Schlitten auf zwei Führungsstäben hin- und
Fig. 4.
hergeschoben werden kann. Zur Extension dienen zwei runde Eisen¬
stäbe aus 3 /4Zölligem Gasrohr, welche um die vorderen Tischstempel
drehbar befestigt sind, so dass sie beim Gebrauche beliebig nach
vorn oder seitwärts gedreht und in der Ruhe nach hinten unter
die Tischplatte zurückgeschoben werden können. Auch nach oben
können dieselben vermöge eines am hinteren Ende angebrachten
Charniers nebst Stellvorrichtung emporgehoben und somit in jeder
beliebigen Richtung festgehalten werden. Am Kopfe trägt jede
Stange eine kurze Welle mit Zugschnur, Kurbel und Sperrhaken.
Ich bevorzuge die Welle vor der Schraube, weil die Hand an der
Kurbel ein besseres Gefühl hat für den ausgeübten Zug, und weil
durch die Sperrvorrichtung jedes Anziehen auch dem Ohre ver¬
nehmbar wird. Es sind ausserdem noch zwei Reservestangen von
Digitized by VjOOQle
Ueber Ursachen, Geschichte u. Behandlg. d. angeborenen Hüftluxation. 291
ganz ähnlicher Einrichtung vorhanden, welche am vorderen Ende
<Ler Tischplatte im Drehpunkt der Hüftgelenke eingesetzt werden
können. Man kann mit Hilfe des doppelten Stangenpaares auch
'Complicirtere Zugwirkungen erzielen, z. B. ein Bein nach oben
und aussen anspannen und gleichzeitig das obere Schenkelende mittelst
'darumgelegten Filzriemens quer nach abwärts ziehen, wie es die
Fig. 5 zeigt. Auch kann man sich den mühsamsten Theil des
Fig. 5.
Schede’schen Einrenkungsmanövers, nämlich das manuelle Vorwärts¬
drücken des Trochanters mit Hilfe eines ähnlichen Doppelzuges, wobei
der quere Riemen aufwärts wirkt, sehr erleichtern. Als Gegenhalt
benutze ich statt des Schede’schen Perinealriemens, durch welchen
leicht starke Quetschungen zu Stande kommen, einen etwas ver¬
schmälerten Velocipedsattel, der sich mir als schmerzloseste und
mildeste Dammstütze bewährt hat. Der vertical gestellte Sattel
trägt nahe seinem verbreiterten hinteren Ende eine horizontale
Stützplatte für die Steissgegend von der Grösse und Gestalt eines
kleinen Handtellers. Soll eine Einrenkung ausgeführt werden, so
wird der Schlitten dicht an die Steissplatte des Sattels heran¬
gefahren; zum Anlegen des Verbandes nach vollzogener Einrenkung
wird er möglichst weit zurückgeschoben, so dass jetzt nur Kopf und
Digitized by VjOOQle
292
L. Heuaner.
Schultern aufruhen, der Unterkörper aber frei zugänglich ist. Nach
vollendeter Arbeit lässt sich der Apparat vollständig abrüsten und
in einen gewöhnlichen Operationstisch umwandeln, indem man den
Schlitten auf den Gleitstangen nach unten kehrt, den Sattel und die
Reservestangen heraushebt, die Hauptextensionsstangen nach hinten
unter die Tischplatte schiebt, und in den Ausschnitt der letzteren
das fehlende Stück einfügt.
Ist die Verschiebung der Köpfe eine bedeutende und sehr
renitente, so pflege ich eine mehrwöchentliche Extension mit Ge¬
wichten bis zu 50 Pfund vorherzuschicken, wodurch die Schwierigkeiten
und Gefahren der Einrenkung vermindert werden. Um nicht zu¬
gleich auch das Kniegelenk einer so starken Belastung auszusetzen*
vertheile ich letztere auf zwei getrennte Extensionsschiingen, von
denen eine bloss am Unterschenkel befestigt wird, während die
andere, nur am Oberschenkel angreifende, frei über den Unter¬
schenkel herunterläuft und erst unter dem Fusse mit der ersteren
zusammentrifft. Heftpflasterstreifen eignen sich jedoch zum Tragen
so schwerer Gewichte nicht; man muss sich der von mir (auf der
Naturforscherversammlung zu Lübeck und in der Deutschen medi-
cinischen Wochenschrift 1895, Nr. 52) beschriebenen Methode mit
Harzspray und breiten Filzstreifen bedienen; nur gebrauche ich
statt des Filzes neuerdings ein dünneres wolliges Zeug (Englisch
Leder, Bukskin).
Ich stelle Ihnen nunmehr zwei in Behandlung befindliche
Kinder vor, an welchen Sie die Art unseres Verbandes und die
eigentkümliche Beinstellung mit einem Blick übersehen können.
Bei diesem 4jährigen Mädchen ist vor einiger Zeit die Einrenkung
in zwei Etappen vollzogen worden, und es hat noch die charakte¬
ristische horizontal aus einander gespreizte Haltung der Oberschenkel,
welche nothwendig ist, um den Kopf in der Pfanne zu halten, sowie
die stark auswärts rotirte Stellung der Füsse, eine Folge der starken
Ausspannung des Muse, glutaeus maximus. Die Fussspitzen und
Kniescheiben sind hier wieder nach aussen gerichtet wie in früher
Fötalzeit, und man kommt beim Betrachten dieser froschähnlichen
Stellung unwillkürlich auf die Idee, ob nicht die im 2.—6. Fötal¬
monat erfolgende Einwärtsdrehung der Füsse, die gewöhnlich auf
eine Torsion der Beinknochen bezogen wird, und die irrtümlicher¬
weise zur Erklärung des angeborenen Klumpfusses herangezogen
wurde, einfach durch Drehung in den Hüftgelenken zu Stande kommt.
Digitized by VjOOQle
Ueber Ursachen, Geschichte u. Behandlg. d. angeborenen Hüftluxation. 293
Alle paar Wochen wird der Verband erneuert und die Abductions-
stellung herabgemindert, und in demselben Maasse pflegt die Aussen-
rotation der Füsse abzunehmen, obgleich, wie früher erwähnt, ein
unliebsamer Rest derselben öfters zurückbleibt. Leider ist das
Gehen bei so starker Spreizstellung nur für sehr kräftige und
muthige Rinder mit Hilfe des Laufstuhles einigermassen möglich;
dagegen können die kleinen Patienten wenigstens auf einem zwischen
die Beine geschobenen Schemel sitzen und die Unterschenkel be¬
wegen. In den späteren Stadien der Behandlung macht das Gehen
weniger Schwierigkeiten. Um der Auswärtsrotation entgegen zu
wirken, kann man, bei hinreichend herabgeminderter Abductions-
stellung, das ganze Bein in den Verband nehmen und dabei den Fuss
als Hebel zur Einwärtsstellung benutzen, wie Sie es an diesem Knaben
sehen, der mit seinem noch ziemlich weit abgestellten linken Beine
ganz gut umhergeht. Bleibt dennoch eine bedeutende Auswärts¬
stellung zurück, so wird man nach dem Vorgänge Schede’s kein
Bedenken tragen, den Oberschenkel unter dem Trochanter zu durch-
meisseln und in einwärts gekehrter Stellung anheilen zu lassen.
Besondere Schwierigkeiten bereiten die Fälle mit starker Ante-
versionsstellung des Schenkelhalses, bei welchen der Kopf nur mit
der hinteren — ohnehin meist abgeflachten — Partie gegen die
Pfanne zu liegen kommt, und die nach Lorenz selbst bei der
blutigen Reposition eine verhängnisvolle Neigung zum Wieder¬
ausgleiten zeigen. Soll der Kopf richtig der Pfanne zugekehrt werden,
so muss man die Fussspitze fast rechtwinkelig einwärts drehen,
welche Stellung aber Schmerzen verursacht und sich nach Weg¬
nahme des Verbandes nicht festhalten lässt. Schede erwähnte auf
der Naturforscherversammlung zu Frankfurt, dass in einigen seiner
Fälle, trotzdem das Bein die einwärts gedrehte Stellung nicht bei¬
behielt, der Kopf sich an seinem richtigen Platze behauptete; doch
scheint mir diese Frage noch nicht hinreichend geklärt zu sein.
Zum Verbände benutze ich nur ausnahmsweise Gips, wenn
eine bedeutende Neigung zur Verschiebung rasches Erhärten nöthig
macht. Für gewöhnlich begnüge ich mich mit Stärkebinden, die
durch eingeschaltete Lagen von Rohrstuhlgeflecht verstärkt werden;
als Unterlage dient mir ein weicher Filz, der mittelst Harzspray un¬
verrückbar auf der Haut befestigt wird. Ich mache Sie besonders auf¬
merksam auf die Solidität und Haltbarkeit dieser Verbände, die bei
sorgfältiger Ausführung mehrere Monate liegen können, im Gegen-
Digitized by CjOOQle
294 B. Heusper. Ueb. Ursachen, Geschichte u. Behdlg. d. angeb. Hüftluxation.
satze zu den gebräuchlichen Gipsverbänden ausserordentlich dünn
und leicht sind und den besonderen Vorzug haben, dass sie etwas
federn und daher eine leichte Bewegung des Gelenkes gestatten.
Für später kann man dieselben auch abnehmbar machen, ähnlich
wie Lederkapseln, indem man sie aufschneidet, mit Schnürung ver¬
sieht und durch Ueberstreichen mit Celluloid, in Aceton gelöst, ihnen
die nöthige Widerstandsfähigkeit verleiht. Zur Nachbehandlung
halte ich die Schede’schen Apparate, aber auch Schienenhülsen¬
apparate mit Abductionsvorrichtung nebst Corsetten mit Stutze für
den Trochanter, wie ich solche auf dem Chirurgencongress 1894
vorgezeigt habe (vergl. die Verhandlungen), für zweckmässig. Die
Ansicht, man dürfe dem Gelenk nicht das Körpergewicht ganz oder
theilweise abnehmen, theile ich nicht, bin vielmehr mit Pravaz der
Meinung, dass es nur nützlich sein kann, wenn die ersten Be¬
wegungen unter Beihilfe entlastender Apparate ausgeführt werden.
Uebrigens sind Verbesserungen und Vereinfachungen auf diesem
Gebiete noch sehr erwünscht, und der Erfinder einer allgemein an¬
wendbaren Methode würde sich um die ganze Sache das grösste
Verdienst erwerben.
Digitized by VjOOQle
XVII.
Erwiderung an Julius Wolf.
Von
Ferdinand Bähr.
Mit 1 in den Text gedruckten Abbildung.
d ytyoay,a, yeypaqa.
Für Wolff sind meine Ausführungen zum Theil „unverständ¬
lich*, trotzdem ist er mit seinem Urtheil über dieselben fertig.
Als ich den Correcturabzug erhielt, war in demselben die
Wolff’sche Erwiderung bereits enthalten, ich habe deshalb meine
Ausführungen unverändert stehen lassen. „Bei einer solchen An¬
ordnung (S. 59) ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Diaphyse
des Oberschenkelknochens beim Stehen unter normalen Verhältnissen
überhaupt auf Biegung beansprucht wird.“ Diese Fassung ist dahin
umzuändern: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass unter diesen Um¬
ständen die Belastung des Caput auf die Diaphyse einen biegen¬
den (deformirenden*) Einfluss hat. Die Femurdiaphyse wird durch
die erwähnten Anordnungen steif gemacht. An der Berechtigung
meines Einwandes ändert dies nicht das Mindeste, weil sich eben
unter diesen Umständen die „mächtigen Wirkungen der Druck¬
abänderungen* nicht gerade in der Diaphysenmitte geltend machen.
Diese Versteifungsvorrichtungen sind von wesentlichem Ein¬
fluss auf die Lage des gefährlichen Querschnittes, der Stelle,
wo sich die Deformation vor allem geltend machen muss, in ähn¬
licher Weise wie die Einraauerungsstelle beim Krahn. Wird doch
auch beim eingemauerten Krahn die Lage des gefährlichen Quer¬
schnittes schon durch die Kettenspannung wesentlich alterirt.
*) Physiologisch innerhalb der Elasticitätsgrenzen.
Digitized by CjOOQLe
296
Ferdinand Bähr.
Wolff hat gesagt, „dass da, wohin Hueter beim Genu yalgum
die gesammte Wirkung der Belastung gelegt hat, an den Facetten
der Femurcondylen und der Knorpeloberfläche der Tibia,
diese Druckwirkung nahezu gleich Null ist“. Ich habe nicht
„ordentlich“ gelesen, jedenfalls aber Hoffa, der von Wolff als ein
Anhänger seiner Lehre bezeichnet wird. Dieser schreibt in seinem
Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie: „J. Wolff verwirft die
letztere vollständig. Er hat hierzu zunächst ein Recht insofern, als
die Volkmann-Hueter’sche Theorie von der Annahme ausgeht, dass
bei Einwirkung eines Druckes auf den Körper die hauptsächlichste
Wirkung dieses Druckes sich da bemerkbar macht, wo der
gedrückte Knochen unmittelbar von der drückenden Last
berührt wird, oder in nächster Nähe der Berührungsflächen.
Diese Annahme ist nach mathematischen Gesetzen unrichtig 1 ). Wie
zuerst der Mathematiker Culmann für das obere Femur¬
ende feststellte, ist der Belastungsdruck an den Berüh¬
rungsflächen der Gelenke ein minimaler oder gleich Null.“
Wolff (S. 68): „Thatsächlich habe ich die mediale Femur¬
hälfte die Druckseite, die laterale Hälfte die Zugseite genannt. Ich
wies darauf hin, dass die Reduction der Druck- und Zugspannungen
auf 0, wie dies Culmann in seiner bekannten Krahnzeichnung,
unter Anführung der directen Zahlengrössen der Spannungen für
jeden einzelnen Querschnitt des Krahns gezeigt hat, sich an einem
einzigen idealen ,Punkte 4 dieser Zeichnung findet, keines¬
wegs aber an irgend einem Punkte des lebenden Organismus,
viel weniger an einer ganzen Gelenkoberfläche, oder gar auch
noch an den Gelenkenden einschliesslich der Condylen.“
Der Druck, den Tibiaoberfläche und die Femurcondylen aus-
zuhalten haben, ist mathematisch genau = 30 kg -f" dem Eigen¬
gewicht des Oberschenkels. Es war also gewiss nicht richtig,
wenn ich sagte, Wolff habe den Druck „überhaupt“ geleugnet, aber
zwischen minimal oder nahezu Null und 30 kg + dem Eigengewicht
des Oberschenkels deucht mir noch ein gewisser Unterschied zu
sein. Dass Wolff diesen Druck nahezu gleich Null erachtet, ist
*) Culmann hat nie gesagt, der Belastungsdruck am oberen Femur-
ende sei gleich Null, sondern der Werth der infolge der ezcentrischen
Belastung durch das Biegungsmoment hervorgerufenen Zug- und
Druckspannungen sei gleich Null.
Digitized by CjOOQle
Erwiderung an Julius Wolff.
297
die »absurde* Darlegung, welche ich ihm »zuzuschieben* suche.
Nebenbei bemerkt: Ist in der Mathematik ein Druck minimal
oder nahezu gleich Null, so gilt er gleich Null, d. h. un¬
endlich klein.
Die Behauptung, dass Wolff die Muskelwirkung ohne weiteres
ignorirt habe bei Betrachtung der statischen Verhältnisse, wird durch
den Hinweis (S. 61), dass er im Vorübergehen daran gedacht habe,
nicht widerlegt.
Historisch war Culmann todt, als Wolff seine Speculationen
auf dem Gebiete der Belastungsdeformitäten, die sogenannte Wider¬
legung der Drucktheorie zu Tage förderte. Diese Dinge sind also
Culmann nicht »aus der Seele gesprochen* (Missbrauch), da er
dazu sich nie äussern konnte. Culmann’s Bemerkung bezieht sich
auf die Krahntheorie im engsten Sinne. Diese ist vorläufig immer
noch eine Hypothese, mit deren Richtigkeit die Verdienste Cul-
mann’s nichts zu thun haben.
In seiner jüngst erschienenen Abhandlung (Langenbeck’s
Archiv III. Bd.) hat Wolff den früher so gern gebrauchten, so
schwerwiegenden Satz contra Hueter-Volkmann nicht gebracht.
Trotzdem er »eingehend“ die Einwendungen seiner Gegner be¬
sprochen hat, ist er gerade auf die Ausstellungen an dem minimalen
oder nahezu nicht vorhandenen Druck an den Gelenkflächen nicht
eingegangen. Dagegen macht er jetzt die Roux’sche Anschauung
zu der seinigen. »Bei reinen Druck- und Zugbeanspruchungen
könne die diesen Beanspruchungen entsprechende stärkste Umwand¬
lung der Knochen bei Abänderungen der Grösse und Oertlichkeit
der Belastung sehr wohl in der Nähe der Berührungspunkte des
belastenden und belasteten Knochens“ — also an den Gelenkenden
— »geschehen. (Ghillini!) Auch könne, wie Roux mit Recht
dargethan habe, selbst bei einer Biegungsbeanspruchung die Aen-
derung der Druck- und Zugvertheilung in der Nähe der geän¬
derten Druckaufnahmefläche (Gelenkfläche) am stärksten sein, wenn
auch der qualitative Werth der Spannungen 1 ) hier der schwächste sei.“
Wolff wollte früher seiner Stellungnahme zur Hueter-Volk-
mann’schen Drucktheorie zu liebe alle Druckwirkungen aus den
Gelenken möglichst fortbannen, resp. er erklärte ihre Wirkung für
*) Gemeint sind damit nur die durch Biegung bedingten Zug- und
Druckspannungen.
Digitized by CjOOQle
298
Ferdinand Bahr.
minimal im Vergleich zu den an den entfernteren Stellen wirksamen
Einwirkungen, in der Mitte der Diaphyse. Hier liegt denn doch
der Schluss zu nah, dass die Natur da, wo grössere Anforderungen
gestellt werden, entsprechende Vorkehrungen trifft, um diesen ge¬
wachsen zu sein, — es ist hier vorerst nur an physiologische Ver¬
hältnisse gedacht, für pathologische alle einzelnen mechanischen
Einwirkungen in ihrem Effect klar zu legen, dazu bedarf es mehr
denn eines Euklid, mehr denn einer * Anpassung an zusammen¬
gehockte Haltung“, — dass also da, wo eine Biegungsbeanspruchung
vorliegt, der Knochen so gebaut ist oder mit entsprechenden Hilfs¬
mitteln bedacht ist, welche nicht zwar die Biegungsbeanspruchung
eliminiren, wohl aber deren Effect mindern oder unwirksam ge¬
stalten, wie die entsprechende Construction des Widerlagers beim
Gewölbe die Schubwirkung aufhebt. Es ist schon aus diesem Grunde
eine gewagte Behauptung, beim Femur müsse sich die Belastung
vor allem in der Mitte der Diaphyse geltend machen, worauf ich
noch zurückkommen werde.
Wolff hat in seiner Abhandlung in Langenbeck’s Archiv
den Knochen mit einem leblosen Holzstab verglichen, ein schlechter
Vergleich von jemanden, der bestrebt war, uns die Wachsthums¬
vorgänge am Knochen zu beweisen. Gerade in der Zeit, wo die
Belastungsdeformitäten mit Vorliebe entstehen, haben wir den Knochen
nicht als ein einheitliches Material, ein Material von gleicher
Festigkeit anzusehen, sondern es bestehen in Epiphyse und Dia¬
physe, namentlich aber in der Epiphysenlinie so eigenartige, diffe¬
rente Verhältnisse, welche es verbieten, den Knochen mit einem
leblosen Holzstab von annähernd constanter Festigkeit zu ver¬
gleichen. Dass durch das Zwischenschieben einer mehr oder weniger
nachgiebigen Region die Wirkung der Beanspruchung wesentlich
alterirt wird, resp. die Einwirkung anders localisirt wird, ist sicher.
Es liegt deshalb auf der Hand, dass die ungünstige Belastung auch
an der Epiphysenlinie zur Wirkung kommen kann, dass sie ebenso
aber auch die concave Epiphyse selbst einmal zusammendrücken
kann. Mit anderen Worten, die Wirkung der Belastung kann sich
an jeder Stelle localisiren bei entsprechenden Bedingungen; es ist
durchaus absurd zu behaupten, dass sie sich gerade beim Femur in
der Mitte der Diaphyse vor allem geltend machen müsse.
Mit welchem Rechte nun hat Wolff gerade Letzteres be¬
hauptet? Wäre Wolff selbständig tiefer in die Mathematik ein-
Digitized by VjOOQle
Erwiderung an Julius Wolff.
299
gedrungen, so hätte er Korteweg gegenüber nicht behauptet: „Ich
hätte ebensogut den Querschnitt I als denjenigen bezeichnen können,
in welchem ein Zug von 163,3 kg (= der Druckspannung) wirkt,
weil einzig und allein in ihm es eine Stelle gibt, an welcher die
Zugspannung diese Höhe erreicht. 11 Beim Krahn und beim „krahn-
artigen* Oberschenkelknochen sind nämlich die Druckspannungen
an der inneren Seite grösser als die Zugspannungen an der äusseren.
Das ist auch in der Culmann’schen Zeichnung klar ausgedrückt
durch den grösseren Querschnitt der Druckseite. Mathematisch
könnte Wolff mit gleicher Berechtigung gegen Korteweg sagen
etwa: 27 sei gleich 33.
Auch wäre es möglich (nach den Hirsch’schen Untersuchungen
über die mechanische Bedeutung der Schienbeinform sogar wahr¬
scheinlich), dass durch entsprechende Anordnung des Materiales
(Veränderung des Querschnittes) die Biegungsbeanspruchung da oder
dort in ihrer Wirkung gemindert ist. Wolff hat das Gegentheil
noch nicht erwiesen.
Weiterhin existirt zwischen der Anatomie Wolffs und der
Zeichnung Culmann’s eine wesentliche Differenz. Die Cul-
mann’sche Zeichnung stützt sich auf das Meyer’sche Präparat.
Es sind die Curven gezeichnet bis zum Schnitt C D. In dem Krahn
kreuzen sich die Curven unterhalb der Einmauerungsstelle, resp.
des Halslagers. Wolff hat nun sogar „noch die merkwürdige Ueber-
einstimmung der Balkennetze bei R (vergl. S. 57 dieser Zeitschr.
im Diaphysenschnitt, worin die nach Wolff angefertigte Zeichnung
falsch ist) mit den Druck- und Zuglinien am eingemauerten Theil
des Blechkrahns zu erwähnen. Die Linien sind daselbst ebenso
nach unten ausgeschweift, wie wir sie hier am unteren Ende unseres
Präparates — und übrigens auch weiter unten am Oberschenkel
bis gegen das Kniegelenk hin — vorfinden.“ (Virchow’s Archiv,
50. Bd.) Wolff hat die Diaphysenwand — vergl. seine Abbildung
Tafel II, Fig. 8 — schräg angeschnitten, und weil die Knochenringe
(gleichsam Jahresringe v. Recklinghausen) nach dem Markraum
etwas weniger fest auf einander liegen, hat er ein Curvensystem mit
dem Scheitel nach unten auf dem Schnitt erhalten. Wer selbst
solche Schnitte anfertigt, wird sich überzeugen, dass hier von recht¬
winkeliger Kreuzung keine Rede sein kann, dass es sich hier
überhaupt nicht um Trajectorien handelt. Bemerkenswerth ist,
wie Wolff das Bild Tafel II, Fig. 8 gedeutet hat. Legt man den
Digitized by CjOOQle
300 Ferdinand Bähr.
Schnitt entsprechend, so erhält man mitten in der Diaphyse ein
Bogensystem, dessen Spitze nach oben liegt. Bemerkenswerth ist
ferner, dass dieses Wolffsche Forschungsresultat seiner Zeit Cul¬
mann anscheinend entgangen ist. Wäre nämlich Wolffs Behaup¬
tung richtig, so müsste man in Consequenz der Krahntheorie den
gefährlichen Querschnitt über diese Kreuzung, also dicht unter den
Trochanter legen, während er nach der Culmann’schen Zeichnung
viel tiefer liegt. In Wirklichkeit verlaufen die Curven nach dem
beigegebenen Schema, wozu ich bemerke, dass ich von eventuellen
Abänderungen für Torsionsbeanspruchungen ab¬
gesehen habe, ebenso wie Wolff. Die conver-
girenden Bälkchen in der Mitte der unteren Epi¬
physe hängen mit der Insertion der Kreuz¬
bänder zusammen. Wie kommt nun Wolff dazu
zu behaupten, der Einfluss der Belastung müsse
vor allem in der Mitte der Diaphyse des Femur
sich geltend machen?
„Dass, wenn selbst Zschokke Recht hätte,
gerade nach Ritter, dem zweiten Autor, auf
welchen Bähr sich berufen zu dürfen glaubt,
die Krahntheorie dadurch gar keine Einbusse
erleiden würde. Die Spongiosa, so sagt Ritter,
würde, wenn Zschokke Recht haben sollte,
immer noch wirkliche Spannungstrajectorien dar¬
stellen; nur würden diese, entgegen der früheren
Ansicht, keine Zug- und Druckcurven, sondern
ausschliesslich Druckcurven sein* (S. 64).
Wo Biegungsbeanspruchungen, wie beim
Krahn Vorkommen, treten auch Zug- und Druck¬
spannungen auf. Also nach Wolff gibt es jetzt
einen Krahn ohne Zugspannungen, einen Krahn,
der nicht auf Biegung beansprucht wird.
In dem nachträglich von Wolff beige¬
brachten Satz Ritter’s ist nur von zwei cha¬
rakteristischen Curvensysteraen die Rede,
welche, wie Ritter sagt, auch ausschliesslich Druckcurven
sein könnten. Daraus ergibt sich für Wolff aus dem Ritter’schen
Satz die Nichtigkeit meiner Einwendung gegen die Krahntheorie.
Ich kann, weil beim Krahn die Zugspannungen Naturnothwendig-
Digitized by VjOOQle
Erwiderung an Julius Wolff.
301
keit sind, das Urtheil über die Wolff sehe polemische Bemerkung,
ich hätte diesen Satz „einfach verschwiegen (!)“, dem Leser überlassen.
Ich kann ja mit Wolff über mechanische Dinge nicht dis-
cutiren, nachdem er jetzt hierin seine Adresse für ungeeignet er¬
klärt hat. Es ist aber auch dem mathematischen Laien sofort ver¬
ständlich, dass die Elasticitätslinie (d. h. die Deformationslinie) zweier
durch das Becken belasteten Beine schon unter Ausserachtlassung
der Muskelwirkung eine andere ist als die des Krahn. Die Krüm¬
mungslinien bei einer entsprechenden Beanspruchung sind in beiden
Fällen verschiedene. Riedinger 1 ) hat gewiss Berechtigung mit
dem Hinweis auf ein Gewölbe. Ein sich kreuzendes Curvensystem
beweist für die Richtigkeit der Krahntheorie rein gar nichts, sage
ich nochmals. Auch in den Gewölbepfeilern werden Biegungsbean¬
spruchungen hervorgerufen, freilich ist es noch nicht so lange her,
dass man diesen in der Baustatik Rechnung trägt. In der Praxis
bekümmert man sich heute noch kaum um diese Thatsache. Damit
könnte man die Existenz eines für Biegung sprechenden Curven-
systems erklären, ohne dass man absolut auf den Krahn hinaus¬
kommen muss. Vielleicht schafft uns Wolff eine in allen Theilen
einwandfreie Gewölbetheorie, und wir kommen dann dem wirklichen
Sachverhalt näher. Man mag sich erinnern, dass ich hier die
Ritter’sche Ausstellung, die in derselben enthaltene Zschokke’sche
Auffassung ohne jede kritische Bemerkung wiedergegeben habe, es
ist also nicht am Platze, mich hier in Gegensatz zu Tornier zu
bringen. Mit dem Ritter’schen Citate habe ich nur sagen wollen,
dass es allerhand Einwände gibt, welche von Wolff nicht wider¬
legt sind.
„In Wirklichkeit (S. 62) habe ich mich dahin geäussert und
durch viele Beweise, namentlich durch die Orthogonalität der
Bälkchenkreuzung und die neutrale Faserschicht des Femur dar-
gethan, dass der Oberschenkelknochen ein krahnartiger Balken sei.*
Es ist mir neu, dass mit dem Nachweis einer Biegungsbeanspruchung
dieser Beweis erbracht ist, dann wäre ja jeder horizontale, belastete
Balken ein Krahn.
Mit welchem Rechte nimmt übrigens Wolff in Anspruch,
diesen Beweis erbracht zu haben, besonders da aus seiner Darstel¬
lung der Unterschied zwischen einem nur auf Biegung beanspruchten
*) Centralbl. f. Chirurgie 1897, Nr. 10.
Zeitschrift lür orthopädische Chirurgie. V. Band. 20
Digitized by CjOOQle
302
Ferdinand Bähr.
und einem krahnartigen Balken nicht klar hervorgeht, sein ana¬
tomisches Forschungsresultat über die Architektur des Femur un¬
richtig ist, und Culmann vor ihm die Zeichnung über das Femur
geliefert hat.
Ich muss Wolff bitten, mich sachlich zu widerlegen, anderen¬
falls kann er sich die „unerquickliche Aufgabe“ ersparen, und halte
ich es für völlig ausreichend, wenn ich als weitere Erwiderung an
mich seine Entgegnungen gegen Korteweg nachlese. Nur um
Mathematik handelt es sich hier, nicht um anatomische und
klinische Forschungsresultate, wie etwa die Auffassung von
dem concavseitigen Processus transversus oder diejenige über den
aus der Transformation hervorgegangenen neuen Trochanter, auf
welchen schon Lorenz hin wies. Ich will aber hier meine Meinung
Herrn Wolff nicht vorenthalten.
Durch sein Transformationsgesetz wird die Drucktheorie nicht
im Geringsten in ihrer Existenz bedroht. Lediglich eine stellen¬
weise genauer modificirte Drucktheorie, ein Abschnitt derselben, ist
sein Transformationsgesetz, welches sich nur und nicht einmal
vollständig, mit den excentrischen Druckwirkungen und deren
Einfluss befasst. Dies Streben tritt bei Wolff so in den Vorder¬
grund, dass er dabei die directen Druckwirkungen ganz über¬
sieht, ja sogar ein für allemal mit denselben aufräumen zu dürfen
glaubte. Wolff vergisst, dass der Krahn neben Biegung und Schub
auch auf Druck beansprucht wird 1 ). Weil man in der Statik bei
todtem Material bei zusammengesetzten Beanspruchungen die
directen Pressungen aus hier nicht zu erörternden Gründen weniger
beachtet, glaubt Wolff mit dem lebendigen Knochen ebenso ver¬
fahren zu können.
Sehr wohl kann man Ghillini’s Ansicht beipflichten, die
etwa darin gipfelt: Die Deformation an den Gelenkenden entsteht
durch directe, die Deformation der Diaphyse mehr durch excen¬
trische Druckwirkung, was Letzteres ja der Inhalt der Wolff-
schen Transformation ist, soweit es sich um den Ersatz der Druck¬
theorie durch das Transformationsgesetz handelt.
In der Kenntniss der einzelnen Entstehungsbedingungen der
*) Um hier dem Einwand vorzubeugen, Wolff habe ja immer von der
Druckseite gesprochen, bemerke ich, dass es sich bei ihm nur um die durch
die Biegungsmomente hervorgerufenen Druckspannungen handelt.
Digitized by Google
Erwiderung an Julius Wolff.
303
Deformitäten sind wir durch Wolff keinen Schritt weiter gekommen,
es müsste denn sein, dass wir uns mit Ausdrücken, wie Anpassung
an veränderte Function, functionelle Pathogenese, Transformations¬
gesetz u. dergl. zufrieden stellen lassen wollen. „Die die fehler¬
hafte Inanspruchnahme bedingende fehlerhafte Haltung des ver¬
krümmten Körpergliedes ist bei diesen Deformitäten nicht, wie man
bisher meistens (?) angenommen hat, die Folge der Deformität.
Vielmehr ist die andauernd oder oft wiederholte fehlerhafte Haltung
und die durch sie bedingte fehlerhafte Beanspruchung und Function
der Knochen und Gelenke des deformen Körpertheiles als die bei
jeder beliebigen Deformität immer gleichartige unmittelbare Ursache
der perversen Form der Knochen und Gelenke des betreffenden
Körpertheiles anzusehen.* Also die Deformität ist die Folge
der fehlerhaften Haltung. Das ist nach der Lehre von der
functionellen Pathogenese das neue Evangelium, beispielsweise von
der Entstehung der habituellen Skoliose. Wir waren vor Wolff
schon weiter. Man hatte sich gesagt: Millionen von Menschen halten
sich ebenso fehlerhaft und werden nicht skoliotisch. Also muss bei
den Skoliotischen der Knochen sich leichter an die fehlerhafte
Haltung adaptiren, es muss noch ein anderer Factor mitwirken etc.
Ich halte es noch immer für das Zweckmässigste, der Knochen leistet
der Deformirung einigen Widerstand, als er stürzt sich kopflos in
das angeblich letzte Rettungsmittel, in die „zweckmässige Trans¬
formation.*
Und wenn wir in der Theorie den Wolffschen Standpunkt
nicht längst überholt hätten, was war denn seit Jahrzehnten, lange
vor Wolff, der Grundgedanke in der Skoliosentherapie?
Nur die Lehre von der excentrischen Druckwirkung hat
durch Wolfrs Arbeiten eine gewisse, leider nicht überall ein¬
wandfreie Grandlage erhalten. Ich behalte mir vor, an anderer
Stelle darauf einzugehen, inwiefern die Drucktheorie — eine ratio¬
nelle Theorie der Entstehung der Belastungsdeformitäten kann nur
eine Drucktheorie sein — durch die Wolffschen Ausführungen
in Einzelheiten modificirt wird.
Digitized by
Google
XVIII.
Zur Aetiologie der Skoliose.
Von
Christen Lange,
Vorsteher der Klinik der „Gesellschaft zur Fürsorge der Verkrüppelten*
in Kopenhagen.
Im Frühjahr 1897 wurden auf die Klinik der oben genannnten
Gesellschaft 4 Kinder aufgenommen, die an Skoliose und gleichzeitig
an Herzfehler mit bedeutender Vergrösserung des Herzens litten.
Meine Betrachtungen über die Aetiologie und die objectiven Sym¬
ptome dieser Fälle haben mich zu der Anschauung geführt, dass die
Herzhypertrophie auf mechanische Weise die Ursache der Skoliose
war. Nachher kamen noch zwei weitere Fälle zur Beobachtung,
die alle beide sehr genau von diesem Gesichtspunkte aus beobachtet
worden sind während ihres Aufenthaltes im hiesigen „ Kommunehospital*.
Der erste von diesen letztgenannten Fällen betrifft einen
10jährigen Knaben, Olaf P., der ins Hospital aufgenommen wurde
am 1. März 1897. 3 Jahre zuvor hatte er an Scharlach, com-
plicirt mit Gelenkaffectionen, gelitten. Früher war er völlig gesund
gewesen, aber nach dem Scharlach war er anhaltend kränklich und
wurde immer kurzathmig auf die kleinste Veranlassung. Die letzten
3 Wochen vom Februar 1897 war er bettlägerig wegen Kurz-
athmigkeit und bekam noch Gelenkschmerzen dazu. Bei der Auf¬
nahme am 1. März war er recht wohlgenährt, blass mit leichter
Cyanose, sehr leidend wegen Gelenkschmerzen und Dyspnoe. Resp. 44,
Puls 144, regelmässig, mit Andeutung von Dicrotie. Ictus kräftig,
im 4. Intercostalraum, 1 cm ausserhalb der Papillarlinie. Herz¬
dämpfung von hier bis ein wenig rechts vom rechten Sternalrande,
aufwärts bis zum 2. Intercostalraum. Die Herztöne kurz, klopfend,
mit intensivem systolischem Misslaut an der Herzspitze und längs des
linken Sternalrandes, besonders im linken 2. Intercostalranm. Ab
Digitized by VjOOQle
Zur Aetiologie der Skoliose.
305
und zu hört man in der Papillargegend Geräusche, die pleuroperi-
cardialen Reibungsgeräuschen ähnlich sind. Die Lungen normal.
Anschwellung und Schmerzhaftigkeit in mehreren Gelenken, nament¬
lich in den Kniegelenken. Tp. 39,8, Harn concentrirt, sonst normal.
Die Wirbelsäule wird bei genauer Untersuchung normal befunden.
Während des folgenden Hospital-Aufenthaltes ist der Zustand etwas
wechselnd, wird jedoch im ganzen nach und nach besser; die Grösse
der Herzdämpfung variirt ein wenig. Die Wirbelsäule wird mehr¬
mals untersucht mit negativem Resultat. Nachdem er ununterbrochen
das Bett gehütet hat, findet man am 18. Juni eine unzweifelhafte,
wenn auch nicht sehr bedeutende Skoliose mit rechtsseitiger Convexität
von der 1.—9. Vertebra thoracis; die compensirenden Krümmungen
kaum nachweisbar; die Rotation der Columna deutlich; eine schwache,
aber charakteristische, entsprechende Deformität des Brustkastens.
Der zweite Fall betraf einen 11jährigen Knaben, Valdemar A. t
aufgenommen am 18. April 1897, an Mitralfehler und möglicher¬
weise Pericarditis leidend. Herzdämpfung bis rechts vom rechten
Sternalrande. Ictus an der vorderen Axillarlinie. Etwas Voussure.
Er wurde bei der Aufnahme auf eventuelle Skoliose untersucht,
aber Columna wurde normal befunden. Nachdem er in der Zwischen¬
zeit ununterbrochen bettlägerig gewesen war, wurde am 18. Juni eine
Skoliose von ganz derselben Art wie im ersten Falle nachgewiesen.
Diese 6 Kinder litten also alle an einer Skoliose von etwas
eigenthümlicher Form. Die dextroconvexe Seitenkrüramung nahm
ungefähr die Strecke von der 1. bis 9. Vertebra thoracis ein und
war gewöhnlich durch eine verhältnissmässig flache sinistro-convexe
Krümmung des ganzen darunter liegenden Theiles der Wirbelsäule
compensirt. Der Brustkasten zeigte die der Herzerweiterung ent¬
sprechende Voussure, und, wie bei allen Skoliosen, Abflachung vorn
rechts und hinten links in dem Theil, wo die Skoliose dextroconvex
war; ausserdem war die Rotation der Wirbel sehr hervortretend.
In ätiologischer Beziehung wurde in den 4 ersten Fällen
ermittelt, dass die Skoliose sich aller Wahrscheinlichkeit nach nach
der Herzerweiterung entwickelt hatte; für die zwei letzten Fälle
wurde dies mit voller Sicherheit constatirt, und die Skoliose war
hier ausserdem, während die Kinder ununterbrochen zu Bette lagen,
entstanden. Die skoliotische Deformität war bei den 4 ersten viel
bedeutender, indem sie bei ihnen viel längere Zeit bestanden hatte;
bei den zwei letztgenannten war sie dagegen nicht sehr erheblich.
Digitized by
Google
306
Christen Lange. Zur Aetiologie der Skoliose.
EinVerständniss des mechanischen Zusammenhanges hierin wird
erreicht, wenn man sich vorstellt, dass das dilatirte Herz den Raum
zwischen vorderer Brustwand und Corpora vertebrarum ausfullt
Durch jede Systole wird dann ein Stoss geführt sowohl gegen die
Wirbelsäule als gegen die Brustwand, und zwar an einer Stelle
etwas links von der Medianlinie. Aber die mechanische Wirkung
des Stosses wird ohne Vergleich stärker auf die Brust wand wirken,
wo der Widerstand viel kleiner ist: es entwickelt sich hier eine
„Voussure*. Betrachtet man näher die Einwirkung auf einen ein¬
zelnen Brustring, aus Rückenwirbel, Rippenpaar und Sternum be¬
stehend, so ist es einleuchtend, dass der Stoss gegen die innere Seite
der linken Rippe als ein Zug nach vorn auf die zwei Querfortsätze, an
welchen die Rippen befestigt sind, wirken muss. Wenn der Brustring
vollständig steif und unelastisch wäre, würde ein Stoss, wie der be¬
sprochene, selbst wenn er links vom Sternum trifft, einen ungefähr
gleich starken Zug auf die zwei Querfortsätze ausüben; aber anders
verhält es sich, wenn der Ring weich, elastisch ist. Der Stoss wird
dann zum Theü abgelenkt durch die Elasticität der Rippen, der
Zug auf die Querfortsätze wird kleiner, aber nicht gleich gross auf
den rechten und linken Querfortsatz, indem der elastische Bogen
rechts von der Anschlagstelle viel grösser ist, weil der Stoss ungefähr
in der linken Papillarlinie trifft, und ausserdem ist der Bogen rechts
weicher, weil die beiden Rippenknorpel ihm gehören. Die Wirkung
wird so werden, als ob nur der linke Querfortsatz durch jede Systole
nach vorn gezogen würde. Es ist dann natürlich, dass die Gewebe
der Wirbelsäule nach und nach so transformirt werden, dass eine
constante Rotation der betreffenden Wirbel entsteht, und wegen der
eigenthümlichen Stellung der Gelenkflächen der Processus articulares
wird dies eine Seitenkrümmung der Wirbelsäule der Art, wie bei
unseren Patienten gefunden, hervorrufen.
Es scheint mir deshalb guter Grund zu der Annahme zu sein,
dass eine bedeutende Herzerweiterung, die genügend lange Zeit
besteht, beim Kinde eine Skoliose hervorzurufen im Stande ist.
Die grosse Zahl der Skoliosen hat ja ohne Zweifel ganz andere
Ursachen als einen Zug der Weichtheile auf die Rippen. Aber eben
deshalb, weil der Mechanismus hier so eigentümlich ist, könnte der
angenommene Vorgang möglicherweise ein Streiflicht auf die Aetio¬
logie der Skoliose werfen.
Digitized by VjOOQle
XIX.
Mittheilnngen aus dem orthopädischen Institute von
Dr. A. Lüning und Dr. W. Schnlthess, Privat-
docenten in Zürich.
ix.
Messung und Röntgen'sche Photographie in der Diagnostik
der Skoliose.
Von
Dr. Wilhelm Schalthess.
Mit 2 in den Text gedruckten Abbildungen.
Der diesjährige Chirurgencongress gab reichlich Gelegenheit,
die jetzigen Leistungen der Röntgenphotographie für die Dar¬
stellung der Deformitäten des Rückgrats zu beurtheilen. Besonders
enthielten das Material des Hamburger Krankenhauses und die von
der Privatklinik von Hoffa, ebenso diejenigen von der Leipziger
chirurgischen Klinik und Anderen ausgestellten Bilder eine grössere
Zahl von Photographien Skoliotischer. Ferner hat nun Joachims¬
thal unter dem Titel: „Ein neues Messverfahren für seitliche Rück¬
gratsverkrümmungen“, eine Methode der Röntgen’schen Aufnahme
besprochen, nach welcher auf das Röntgen’sche Bild ein Fadennetz
photographirt, bezw. auf das fertige Bild copirt wird, welches somit
eine messungsartige Abschätzung gewisser Grössenverhältnisse
gestattet. Er hat diese seine Methode bereits auch in diesen Blättern
beschrieben. Joachimsthal begründete die Nothwendigkeit der
Einführung eines solchen Verfahrens in erster Linie mit der langen
Zeitdauer der bisherigen Messungen bezw. Zeichnungen mit
den Apparaten von Zander, Heinleth und demjenigen des Ver¬
fassers. Er ist im Ferneren der Ansicht, dass die Messung im
aufrechten Stehen unsicher, und deshalb die Messung im Liegen,
bei erschlafften Muskeln vorzunehmen sei. Er glaubt, diese Stellung
Digitized by
Google
308
Wilhelm Schulthess.
gäbe eine bessere Garantie gegen Lageveränderungen, welche die
Zuverlässigkeit der Messungen in Frage stellen. Als Messungszeit
gibt Joacbimsthal für Zander 4—5 und für meinen Apparat
15 Minuten an. Letztere Angabe hat er dem Hoffa’schen Lehr¬
buche der orthopädischen Chirurgie entnommen, sie ist aber, wie
ich bereits in dieser Zeitschrift*) mitzutheilen mich veranlasst fand,
durchaus unrichtig. Die Messungszeit beträgt höchstens 3 1 /*
bis 4 Minuten« Da diese Differenz für die Praxis ein ausserordent¬
liches Gewicht hat, so komme ich nochmals darauf zurück. Schon
in der von Joachimsthal citirten ersten Beschreibung 2 ) meines
Messapparates ist die Zeit — es handelt sich immer um diejenige,
während welcher der Patient ruhig stehen soll — kürzer angegeben.
Man vergleiche nur die Angaben auf S. 19 des Separatabdruckes
in der angegebenen Beschreibung: „Nun (d. h. nach vollendeter
Messung!) tritt der Patient, nachdem er 5 bis höchstens 6 Mi¬
nuten auf dem Brett hat stehen müssen, aus dem Apparat
heraus“ etc., und weiter, auf derselben Seite: „nach vollendeter
Messung, welche bei einiger Uebung von A bis Z nicht mehr wie
15—20 Minuten in Anspruch nimmt, verfügt man“ etc. Aus dem
Zusammenhänge geht deutlich hervor, dass in dieser Zeit die sämmt-
lichen Vorbereitungen, das Ziehen der Hilfslinien u. s. w. inbegriffen
sind. Wenn nun heute die Messungszeit, d. h. die Zeit, während
welcher der Patient zur Vollendung der vollständigen Masszeicb-
nung im Apparate stehen muss, 3—4 Minuten beträgt, so ist diese
Reduction zum Theil wenigen technischen Verbesserungen des Appa¬
rates, zum Theil grösserer Uebung zu verdanken.
Der Einwurf, dass die Unruhe des Messungsobjectes die Mes¬
sung unsicher mache, der nicht nur von Joachimsthal in der ge¬
nannten Mittheilung, sondern auch von Julius Wolff bei Gelegen¬
heit der Demonstration meiner redressirenden Bewegungsapparate
für Skoliose 3 ) erhoben wurde, erweist sich durch die Erfahrung als
*) Zeitschrift für orthopädische Chirurgie Bd. 2: Mittheilungen aus dem
orthopädischen Institute von Dr. A. Lüning und Dr. W. Schulthess, Privat-
docenten in Zürich: Einige Bemerkungen über Messungsverfahren und Mess¬
apparate für Skoliose, von Dr. W. Schulthess.
2 ) Centralblatt für orthopädische Chirurgie 1887, Nr. 4: Ein neuer Mess-
und Zeichnungsapparat für Rückgratsverkrümmungen. Von Dr. W. Schult-
h e s 8 in Zürich.
3 ) Am Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, April 1S97;
die hier angezogene Discussion fand im Anschluss an den Vortrag und die
Digitized by CjOOQle
Messung und Röntgen’sche Photographie in der Diagnostik der Skoliose. 309
nicht zutreffend. Julius Wolff stellte dort das Erscheinen einer
Arbeit in Aussicht, in welcher nachgewiesen werden soll, dass die
Messungen an Skoliotischen unsichere Resultate gäben. Die Be¬
hauptung JoachimsthaPs: „Es erscheint demnach nicht wunder¬
bar, dass selbst der gewandteste Beobachter bei zwei direct nach
einander, oder an zwei verschiedenen Tagen vorgenommenen Unter¬
suchungen wesentlich verschiedene Messbilder erhält“, muss erst
noch durch .vorgelegtes Material bewiesen werden. Er nenne mir
einen solchen gewandten Beobachter! Wir können um so weniger
von Joachimsthal, dem Assistenten der Wolff’schen orthopädi¬
schen Universitätspoliklinik eine solche Behauptung acceptiren, als
der in diesem Institute stehende Zander’sche Messapparat nach¬
weisbar bis heute nur ausnahmsweise benutzt worden ist.
Dass die an verschiedenen Tagen aufgenommenen Messbilder
nicht wesentlich verschieden sind, im Gegentheil bei einer ganzen
Serie von zu verschiedenen Zeiten gemachten Aufnahmen sich ganz
frappant ähnlich sehen, dafür leisten die von mir schon mehrfach
und auch am Chirurgencongress wieder vorgelegten Messbilder¬
sammlungen den hundertfachen Beweis. Ich wiederhole hier, dass
ich seit Jahren alle Skoliosen selbst zeichne und regelmässig wieder¬
zeichne, und es ist mir Angesichts dieser Thatsache unerklärlich,
wie Dolega in seiner eben erschienenen Abhandlung über Skoliose
sich gegen die Messung erklärt, u. a. weil sie bei einem grossen Material
der Zeit wegen undurchführbar sei. Aus den angeführten Zahlen
geht hervor, dass wir mit noch grösseren Zahlen zu rechnen haben.
Um aber noch den Einwurf zu entkräften, es gäben zwei unmittel¬
bar nach einander aufgenommene Messbilder wesentlich verschiedene
Resultate, habe ich eine statische Skoliose unmittelbar hinter
einander zwei Mal gezeichnet, und füge hier die beiden Bilder,
Demonstration der vorstehend in dieser Zeitschrift beschriebenen redressi-
renden Bewegungsapparate statt. Da dieser Vortrag der räumlichen
Verhältnisse und schwerer Transportirbarkeit der Apparate wegen nicht im
Langenbeckhause, sondern in dem, dem Verfasser von Herrn Geheimrath
v. Bergmann gütigst zu Verfügung gestellten Operationssaale des Augusta-
pavillons seiner Klinik stattfand, so musste auch die Zeit ausserhalb der Tages¬
ordnung verlegt werden, und die Discussion, welche unter dem Vorsitze von
Herrn Schede-Bonn hier stattfand, wurde nicht in das Protokoll aufge¬
nommen; ich berufe mich dabei also auf das bei der Demonstration anwesende,
zahlreiche Auditorium.
Digitized by C.ooQLe
310
Wilhelm Schulthess.
die mit einem ganz genau arbeitenden Pantographen auf ein Fünftel*)
verkleinert sind, bei. Der Hauptunterschied der beiden Zeichnungen
liegt in der bei der zweiten Aufnahme in geringem Grade ver¬
änderten Haltung, in der Art, dass bei der zweiten Aufnahme der
Rumpf ganz wenig mehr nach vorn geneigt gehalten wird, als bei
der ersten. Trotzdem sind die Unterschiede in Beziehung auf
Fig. 1.
Torsion und Seitendeviation ganz geringfügige, und ist der Charakter
der Deformität bei beiden Aufnahmen derselbe geblieben. Das von
Joachimsthal und Wolff beigezogene Zusammensinken der
Wirbelsäule, welches in zwei nach einander folgenden Auf¬
nahmen am aller deutlichsten hervortreten müsste, darf also
jedenfalls in diesem Falle als unwesentlich bezeichnet werden.—
Zudem gibt ja gerade unsere Zeichnung dadurch, dass sie die Con-
l ) Bei der Drucklegung wurden die eingesandten Zeichnungen wiederum
auf 2 /s verkleinert.
Digitized by CjOOQle
Messung und Röntgen’sche Photographie in der Diagnostik der Skoliose. 311
touren in drei Projectionen wiedergibt, dem Beobachter die Gelegen¬
heit, festzustellen, ob die Zeichnung bei zusammengesunkener oder
bei gestreckter Wirbelsäule vorgenommen worden sei, um so mehr,
als die Zeichnung der Dornfortsatzlinie sozusagen in einem Ruck zu
Beginn der Messung in einigen Secunden vollendet ist und zwar in
ihren beiden Projectionen auf die sagittale und frontale Ebene.
Fig. 2.
In Bezug auf die Ansicht JoachimsthaTs, dass eine Messung
im Liegen derjenigen im Stehen vorzuziehen sei, möchten wir uns
ebenfalls einen Einspruch erlauben. Fürs erste würden bei dieser
Messung eine Reihe von Skoliosen ausser Betracht fallen, welche
nur im aufrechten Stehen seitliche Abweichung oder Torsion zeigen,
während im Liegen diese beiden Symptome verschwinden. Diese
klinisch mannigfach nachgewiesene Thatsache lässt sich gewiss für
eine Anzahl von Fällen anatomisch dahin deuten, dass ganz gering¬
fügige Veränderungen im Bänderapparat oder in einzelnen Knochen
Digitized by
Google
312
Wilhelm Schulthess.
t
sich erst bei der Belastung oder Spannung der Wirbelsäule, wie
sie im aufrechten Stehen vorhanden ist, geltend machen. Solche
Veränderungen können aber so geringfügig sein, dass sie sich sogar
in einer an der Leiche freigelegten Wirbelsäule schwer erkennen
liessen, geschweige denn bei einer Röntgenphotographie. Das auf¬
rechte Stehen ist also, ich möchte sagen das empfind¬
lichste Reagens auf geringfügige Veränderungen des
Knochen- und Bänderapparates der Wirbelsäule. Dagegen
könnte es sich um die Entscheidung der Frage handeln, ob auch
bei solchen, durch Liegen ausgleichbaren Verkrümmungen unter
Umständen nicht doch erhebliche seitliche Abweichungen der Wirbel¬
körper vorhanden wären. Was aber an Ausgleichung sowohl in Be¬
zug auf Seitendeviation, als ganz besonders auf Torsion durch das
Liegen geschaffen wird, müsste erst in jedem einzelnen Falle fest¬
gestellt werden. Das Maass dieses Ausgleiches dient uns ja geradezu
zur Beurtheilung gewisser Qualitäten der vorliegenden Skoliose. Der
Vorschlag endlich, vermittelst untergeschobener Watte unter die
flachen Partien die Niveaudifferenzen auszugleichen, bringt eine
Fehlerquelle mehr in die Messung. So wünschenswerth es also auch
scheint, die Skoliosen ausser im aufrechten Stehen auch im
Liegen zu untersuchen, so darf die Untersuchung im aufrechten
Stehen unter keinen Umständen verlassen werden, und soll immer
den Ausgangspunkt der sämmtlichen folgenden Untersuchungen bilden.
Der am Schlüsse der Beschreibung seines Verfahrens von
Joachimsthal angefügten Bemerkung, dass alle bisherigen Mess¬
vorrichtungen die Lage der Wirbelkörper nur aus der Stellung der
auf der verschiebbaren Haut nur schwer zu markirenden Dornfort¬
sätze vermuthen liessen, können wir ebenfalls keine volle Berechti¬
gung zuschreiben. Abgesehen davon, dass diese Bemerkung den
Gedanken zu erwecken geeignet ist, als gäben die erwähnten Mess¬
apparate nur den Verlauf der Dornfortsatzlinie an, so ist unseres
Wissens in vielen diesen Gegenstand betreffenden Abhandlungen
die verhältnissmässig geringe Bedeutung der Abweichungen der
Dornfortsatzlinie nach dieser Richtung hervorgehoben worden. Selbst¬
verständlich zeigt uns der Verlauf der Dornfortsatzlinie die hinteren
Enden der Wirbel mit absoluter Sicherheit au, aber über die Lage
der Wirbelkörper, mit anderen Worten die Torsion der Wirbel¬
säule belehren uns einzig und allein die am Körper des Lebenden
ersichtlichen Niveaudifferenzen der beiden Seiten, einschliesslich der
Digitized by CjOOQle
Messung und Röntgen’sche Photographie in der Diagnostik der Skoliose. 313
Stellungsveränderung des Schultergürtels gegen den Beckengürtel,
des Oberrumpfes gegen den Unterrumpf. Ueber die Ansicht aber,
dass trotz starker Lage Veränderung der Wirbelkörper nach der
convexen Seite hin die Proc. spin. häufig gar nicht aus der Mittel¬
linie heraus weichen, habe ich mich früher schon dahin geäussert*),
dass aus den Messungen geschlossen werden muss, dass niemals bei
ganz geradlinigem Verlauf der Dornfortsatzlinie in sagittaler Rich¬
tung eine Skoliose besteht, mit anderen Worten, wir haben beob¬
achtet, dass jede auch noch so geringe Torsion des Truncus sich
im Verlauf der Dornfortsatzlinie markirt. Mit anatomischen Präpa¬
raten lässt sich hiergegen der Gegenbeweis nicht führen, aus dem
einfachen Grunde, weil die Schrumpfungen der Bänder und Knorpel¬
scheiben, oder auch die Erschlaffung einzelner Theile, eine Ueber-
tragung der nunmehrigen Form auf den Zustand während des
Lebens nicht gestatten, dagegen wären eben Röntgen’sche Auf¬
nahmen neben Messungen zur Aufklärung dieser Frage geeignet.
Auf dem Röntgen’schen Bilde schien uns bis jetzt beides: Lage
der Wirbelkörper und der Proc. spin., nur ausnahmsweise deutlich
hervorzutreten.
In Bezug auf die Leistungen der Röntgen’schen Aufnahmen
der Wirbelsäule hatte man am letzten Chirurgencongress Gelegen¬
heit, sich zu überzeugen, dass wirklich einzelne Partien derselben
ausserordentlich schön und deutlich zu Tage treten können, dagegen
empfand man als Nachtheil, dass in den meisten Bildern eine Ueber-
sicht über die ganze Haltung wegen beschränkter Ausdehnung des
Bildes nicht möglich war. Wollen wir speciell von unseren Zwecken
sprechen, so könnte also die Beurtheilung einer Skoliose nach einem
Röntgenbild im Vergleich zu dem sich uns dar bietenden klinischen
Bilde doch keine ganz sichere sein, dagegen unter Umständen
ausserordentlich werthvolle Aufschlüsse ertheilen über die Lage und
das Vorhandensein asymmetrischer Wirbel oder abnormer Locke¬
rungen des Bandapparates an einzelnen Stellen mit entsprechenden,
localisirten Verschiebungen 2 ), welche der äusseren Untersuchung
nur schwer zugänglich sind, ferner über Lage und Stellung der
Rippen. Fortgesetzte Vergleichung Röntgen’scher Bilder mit ge-
') Ein neuer Mess- und Zeichnungsapparat für Rückgratsverkrümraungen.
Centralblatt für orthopädische Chirurgie, April 1887, Nr. 4.
*) Ich hatte kürzlich Gelegenheit, an der Leiche derartige Verschiebungen
zu beobachten.
Digitized by CjOOQle
314
Wilhelm Schulthess.
nauen Messbildern wird hier noch manche Aufklärung zu schaffen
im Stande sein, um so mehr, als der Orthopäde nur selten in der
Lage ist, die Beobachtungen, die er am Lebenden macht, durch
einen anatomischen Befund zu controlliren. Unerlässlich für eine
weitergehende Beurtheilung des einzelnen Falles ist aber die Aus¬
dehnung des Bildes über den ganzen Rumpf, und, wollten wir gar
vermittelst der Röntgen’schen Aufnahme die Niveaudifferenzen der
beiden Seiten zu bestimmen suchen, so bedürften wir jeweilen min¬
destens zweier rechtwinkelig auf einander hergestellten Aufnahmen.
Die Einfügung eines Fadennetzes in das photographische Bild, wie
sie Joachimsthal vorgeschlagen hat, ist ein in verschiedenen
Phasen der Diagnostik der Skoliose durchgeführtes Verfahren,
welches die Erleichterung der Bestimmung von Grössenverhältnissen
zum Zwecke hat, unterscheidet sich aber principiell in keiner Weise
von dem Vorschläge Oehler’s, der dasselbe in der gewöhnlichen
Photographie anwandte. Die Messung an einer nach der heutigen
Art der Röntgen’schen Aufnahme hergestellten Photographie kann
aber niemals eine sehr exacte sein, denn nur die Vorsichtsmass-
regel, die Leuchtröhre jeweilen in gleicher Distanz und verhältniss-
mässig jeweilen wieder an derselben Stelle über dem Körper anzu¬
bringen, gibt keine genügende Garantie für die Gleichartigkeit
der Herstellung eines so wie so perspectivischen Bildes zu ver¬
schiedener Zeit, da ja überdies die durchleuchtenden Strahlen durch
den grössten Theil des Körpers schief durchgehen, somit also die
Projectionen verschiedener Wirbeltheile in einander hineinphoto-
graphirt werden und zwar je weiter nach oben oder unten hin die
betreffende Stelle liegt, um so mehr. Uebrigens sind wir ja durch
die schon am Chirurgencongresse demonstrirte ausserordentliche
Abkürzung der Expositionszeit in den Stand gesetzt, Skoliotische
im aufrechten Stehen zu photographiren, und wären somit im Falle,
auch die von uns und Anderen angegebenen Vorsichtsmassregeln
zur Herstellung derselben Stellung bei verschiedenen Aufnahmen
auch hier anzuwenden. Wie sehr aber trotz alledem die genaue
Lagebestimmung im Organismus gelegener Theile durch Röntgen¬
photographie Schwierigkeiten verursacht, beweisen die zur Lage¬
bestimmung der Fremdkörper bis heute gemachten Versuche. An
die Exactheit einer Projectionszeichnung reicht die erwähnte Mes¬
sung also keineswegs heran. Wir möchten endlich eine Reihe von
Erscheinungen, welche die Röntgenphotographie nicht wiedergibt,
Digitized by VjOOQle
Messung und Röntgen’sche Photographie in der Diagnostik der Skoliose. 315
wie Haltung der Arme, Configuration der Schultern, Vortreten ein¬
zelner Muskelwülste u. 8. w., nur ungern entbehren. Wir sind also
mit Joachimsthal selbstverständlich der Ansicht, dass das
Röntgen’sche Verfahren für die Photographie und die
bisherigen Messungsverfahren eine äusserst willkommene
und werthvolle Ergänzung bildet, die den Fortschritten
der ganzen Methode gemäss weiter ausgebildet werden
soll, jedoch sind wir nicht geneigt, von der Berechtigung
der bisher von uns geübten Methode, speciell mit unserem
Messapparate, auch nur einen Schritt zurück zu weichen.
Der Arzt soll aus den äusseren Erscheinungen so viel wie
möglich sehen lernen, und Untersuchungsraethoden wie die Röntgen-
sche sind in hohem Maasse dazu angethan, ihn über den Zu¬
sammenhang der äusserlich sichtbaren und nachweisbaren Erschei¬
nungen mit den im Innern liegenden Veränderungen rasch bekannt
zu machen. Nochmals aber muss ich hier meinem Befremden dar¬
über Ausdruck verleihen, dass, wie oben schon erwähnt, Herr
Julius Wolff über die Messungen an Skoliotischen sich in der
Weise äussern konnte, wie er das in der angezogenen Discussion
am Chirurgencongresse *) gethan hat, und habe an ihn, da ich sehr
bezweifle, dass er von allen in Behandlung stehenden Skoliosen alle
4—6—8 Wochen eine Röntgen’sche Aufnahme macht, nur noch
die Frage zu stellen, wie er seine Krankengeschichten für Skolio-
tische ausstattet und bis jetzt ausgestattet hat, denn irgend ein
Maass oder ein Bild gehört dazu, wer sollte ohne ein solches Hilfs¬
mittel sich ein Urtheil über die im Laufe der Zeit bei demselben
Individuum eintretenden Veränderungen bilden können? Wer kann
auf diese Art die Verantwortung für seine Behandlung gegenüber
seinen Patienten übernehmen und welche Beiträge wird ein Institut,
welches sich fernhält von genauer Controlle dessen, was es in
therapeutischer Richtung leistet, zu den Fortschritten der Wissen¬
schaft liefern? Wir halten es für die Orthopädie in hohem Maasse
für gefährlich und für angehende Orthopäden demoralisirend, wenn
von einer Stelle aus, wie Herr Julius Wolff sie einnimmt, in
dieser Weise über Messung und Controlle der eigenen Arbeit ge¬
schrieben und gesprochen wird.
*) Siehe S. 309 Anmerkung.
Digitized by CjOOQle
Referate
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Lossen, Herrmann, Lehrbuch der allgemeinen und speciellen Chirurgie.
I. Bd. Allgemeine Chirurgie.
Aus dem im Jahre 1880 erschienenen allgemeinen Theil des Hueter-
Lossen’schen Grundrisses der Chirurgie hat sich im Laufe der Jahre ein voll¬
ständig neues Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie entwickelt, das unstreitig
mit zu den besten Erscheinungen auf diesem Gebiete gehört. Das ursprüng¬
liche Werk hat sowohl hinsichtlich seiner Form, als auch hinsichtlich der Be¬
handlung und Gruppirung des Stoffes einen neuen Charakter gewonnen, so
dass der Verfasser nunmehr sicher die Berechtigung hat, dasselbe als sein
geistiges Eigenthum zu erklären. Den modernen Forschungen und Ergebnissen
ist in weitgehender, zugleich aber auch knapper Weise, wie es ein Lehrbuch
erheischt, Rechnung getragen. Auf dem Gebiete der Aetiologie der Carcinome
und Sarkome neigt Lossen der Ansicht zu, dass dieselben durch kleinste
Lebewesen verursacht würden. Die Lehre von der Aseptik ist in klarer, über¬
sichtlicher Weise dargestellt, und besonders ist der thermischen Aseptik durch
eingehende Schilderung und durch zahlreiche Abbildungen eine bevorzugte
Stelle eingeräumt worden. Das Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie ist in
zwei Theilen erschienen. Im ersten Theile werden Verwundung, Entzündung,
Fieber, Wundbehandlung (erste Abtheilung), chirurgische Infectionskrankheiten,
acute und chronische (zweite Abtheilung), Geschwülste (dritte Abtheilung), und
Verletzungen und Erkrankungen der einzelnen Gewebe (vierte Abtheilung) be¬
handelt. Der zweite Theil beschäftigt sich mit der Darstellung der allgemeinen
Operations- und Instrumentenlehre und der allgemeinen Verband- und Apparaten-
lehre und ist besonders reichlich mit Abbildungen ausgestattet.
Deutschländer- Würzburg.
Kocher, Th., Chirurgische Operationslehre. 3. Aufl. 1897. Jena, Gustav
Fischer.
Von Kochers vortrefflicher Operationslehre ist eine neue, mehrfach
umgearbeitete Auflage erschienen. Wir glauben ohne Uebertreibung sagen zu
können, dass das Buch in seiner neuen Form die beste Operationslehre ist
welche wir in der deutschen Literatur besitzen. Der Text ist überall klar und
übersichtlich geordnet, die Abbildungen sind möglichst einfach und instructiv
gehalten. Dadurch, dass es zur Hauptsache nur diejenigen Operationsmethoden
Digitized by CjOOQle
Referate.
317
behandelt, welche sich in K o c h e r’s eigener Hand bewährt haben, verliert das
Buch nicht an Werth, wenn vielleicht auch der Eine oder Andere gelegentlich
eine ihm lieb gewordene Methode vermisst.
Weiteres zur Empfehlung des Buches, welches von der Verlagshandlung
in vortrefflicher Weise ausgestattet ist, an dieser Stelle zu sagen, dürfte über¬
flüssig sein. Alsberg-Würzburg.
Feldmann, Gustav, Ueber Wachsthumsanomalien der Knochen. Inaug.-Diss.
Freiburg 1896.
Gemäss einer von der medicinischen Facultät Freiburg gestellten Preis¬
aufgabe hat Verfasser die Wachsthumsanomalien der Knochen, deren Ursache
in einem den ganzen Körper betreffenden Leiden zu suchen ist, einem ein¬
gehenden Studium unterzogen. Da der Riesenwuchs und die Akromegalie durch
Langer und Mos ler des Genaueren abgehandelt wurden, zieht Verfasser nur
die Castration als disponirendes Moment des vermehrten Knochenwachsthums
in den Kreis der Betrachtung. Eingehend wird dagegen die Verminderung
des Knochenwachsthums bei Rachitis, sogen, fötaler Rachitis, angeborenem
und erworbenem Blödsinn und Schwachsinn, ausserdem bei Cretinismus, Zwerg¬
wuchs und Cachexia thyreopriva untersucht.
Behufs Beurtheilung der Regelwidrigkeiten des Knochenwachsthums nimmt
er gewisse Gesetze Langer’s über das normale Wachsthum als bindend an,
zur Beurtheilung seiner Maasse dagegen die von Quetelet aufgestellte Pro¬
portionslehre.
Aus dem Studium der Literatur und den eigenen Messungen lassen sich
folgende Schlüsse ziehen.
Die Wirkung der Castration besteht nur in vermehrter Körperlänge in¬
folge verstärkten Wachsthums der Röhrenknochen.
Bei jugendlichen Rachitikem ist die untere Extremität normal gross,
der Oberarm ist stark, der Unterarm am stärksten verkürzt; bei den Erwach¬
senen ist der Unterarm weniger, dagegen sind alle anderen Skelettheile mehr
verkürzt, am meisten ist es der Oberarm, dann die untere Extremität.
Die Wirbelsäule ist in ihrem Wachsthum viel weniger gehemmt als die
untere Extremität.
Die sogen. Rachitis foetalis (Osteogenesis imperfecta, Chondrodystrophia
foetalis und Mikromelie der Autoren) wirkt nur auf das Wachsthum der Dia-
physe hemmend ein; für diese Krankheit sind ausser der absoluten Verkürzung
aller Röhrenknochen hauptsächlich zwei Proportionsfehler kennzeichnend: die
untere Extremität ist kürzer als die obere und die Wirbelsäule ist länger als die
untere Extremität.
Männer und Weiber mit psychischen Schwächezuständen zeigen fast die
gleichen Störungen ihrer Proportion. Bei den Männern findet sich ein langer
Rumpf, normal lange untere und reichlich lange obere Extremitäten, der Unter¬
arm ist zu lang, desgleichen der Oberschenkel.
Die Weiber weisen einen recht langen Rumpf und lange Extremitäten
auf, der Unterarm ist zu lang, ebenso der Oberschenkel, der Unterschenkel
ist zu kurz.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 21
Digitized by tjOOQle
318
Referate.
Beim Zwergskelet ist das Verhältnis zwischen Humerus und Radius,
sowie zwischen Femur und Tibia normal; dagegen ist die untere Extremität
viel mehr in ihrem Wachsthum gehemmt als die obere. Die Wirbelsäule hat
im Gegensatz zu den Extremitäten gar keine oder nur ganz geringe Wachs¬
thumsstörung erfahren.
Die Cachexia strumipriva ist charakterisirt durch eine allgemeine Hem¬
mung des Knochenwachsthums.
Der sehr fleissigen Arbeit ist ein eingehendes Verzeichni68 der ein¬
schlägigen Literatur beigegeben. Simon-Würzburg.
Hirsch, Hugo Hieronymus, Die mechanische Bedeutung der Schienbein-
form. Mit besonderer Berücksichtigung der Platyknemie. Berlin, Julius
Springer 1895. 128 Seiten.
Ein Werk wie das vorliegende darf nicht unberührt durch die ortho¬
pädische Literatur gehen. Wären die Ausführungen zutreffend, so wären sie
von einschneidender, in manchem vielleicht noch nicht voll zu ermessender Be¬
deutung für die orthopädische Chirurgie; sind sie unrichtig, so muss um eo
mehr Stellung dazu genommen werden. Einfachere Dinge entziehen sich weniger
dem Urtheil der Allgemeinheit, wie z. B. der Einfluss schwachen Druckes auf
den Knochen (Aneurysma), andere aber erfordern eine gewisse Vorkenntniss, eine
Kenntniss der Mechanik und deren Unterabtheilung, der Statik. Mit der letz¬
teren Seite will ich mich hier befassen, muss aber von vornherein hervorheben,
dass es schwer sein wird, jeden Punkt voll und ganz zu berücksichtigen.
Gegen die mechanischen Ausführungen im engeren Sinne ist nichts einzuwenden —
sie sind ja auch von einem Techniker in einfachster graphischer Weise ge¬
macht —, wir werden vorwiegend die Voraussetzungen zu prüfen haben. Der
Mechaniker hat selbstverständlich nur mit der ihm zu Theil gewordenen In¬
struction gearbeitet. Wie wichtig die Abhandlung sein könnte, zeigt der Satz
aus dem Vi rch o w’schen Vorwort, dass die Frage nach der Formung der
Knochen durch functionelle Kräfte durch die Arbeit um ein gut Stück vor¬
wärts gebracht worden ist.
Das Ergebniss der Analyse der mechanischen Beanspruchung ist folgendes:
1. Das Schienbein wird auf zusammengesetzte Festigkeit beansprucht,
nämlich zugleich auf Druck- bezw. Strebefestigkeit, auf Torsionsfestigkeit, auf
Schub- und Biegungsfestigkeit.
2. Die das Schienbein auf Biegung beanspruchenden Kräfte wirken in
zwei sich kreuzenden Ebenen, in einer frontalen und in einer nahezu
sag i ttal en.
3. Die frontalen Biegungsbeanspruchungen, die schwächeren, erstreben
eine Ausbiegung des Schienbeins constant lateralwärts, ihr Moment ist etwa
in der Mitte des Schienbeins am grössten und wird nach den beiden Enden
desselben hin fortgesetzt kleiner.
4. Die sagittalen Biegungsbeanspruchungen, die stärkeren, erstreben
eine Ausbiegung des Schienbeins abwechselnd nach vorne und nach hinten;
ihr Moment wächst in jedem Falle von dem distalen Ende des Schienbeins bis
in den proximalen Theil desselben.
Hirsch wählt zunächst das Stehen auf einem, im Knie gestreckten
Digitized by CjOOQle
Referate.
319
Beine und geht von der als zwölfte Phase bezeichneten Stellung des Beines
nach Gebrüder Weber aus, d. h. wenn bei der Gehbewegung die Last auf
einem Beine ruht. .Das Oberschenkelbein wird in seiner Lage erhalten 1. durch
das im Schwerpunkt angreifende Körpergewicht *), 2. durch den vom Schienbein
ausgeübten Gegendruck, 3. durch die Resultirende der in Betracht kommenden
Zugkräfte. Die letzteren werden hervorgebracht durch die stark angespannten
hinteren Muskeln des Oberschenkels und durch einen Theil des Bandapparats
des Kniegelenks (des Lig. popliteum und des Lig. cruciatum post.); die vorderen
Muskeln des Oberschenkels entfalten keine nennenswerthe Zugwirkung, was an
der leichten Verschiebbarkeit der Kniescheibe zu erkennen ist.“ Sollen hier
die hinteren, stark gespannten Muskeln des Oberschenkels contrahirt sein?
Mir scheint mehr eine passive Dehnung vorzuliegen. Vielleicht gibt Hirsch
hierüber noch Aufschluss, denn er nimmt auch die Möglichkeit einer „Ueber-
streckung“ des Kniegelenks in dieser Stellung an, welche mir allerdings ohne
Wirkung der Streckmusculatur nicht gut denkbar ist. Weil die Patella ver¬
schieblich ist, deshalb die Wirkung der Streckmusculatur für bedeutungslos
zu halten, ist denn doch eine recht eigene Auffassung. Das Femur befindet
sich auf der Tibiaoberfläclie in einem derartig labilen Gleichgewichtszustand
(Weber vergleicht die Condylen mit den Rädern eines Wagens), dass noth-
wendigerweise auf der Streckseite eine ganz bedeutende Kraft in dieser Stellung
wirken muss, welche das Gleiten nach vorne verhindert. Man nehme noch dazu
die in diesem Momente nach vorne abfallende Tibiaoberfläche (schiefe Ebene)
und den Umstand, dass der ganze Körper über der Tibia, welche mit dem
Fuss am Boden durch Reibung festgehalten wird, nach vorne geschoben wird.
Ueberhaupt kommt beim gewöhnlichen Gehen ein Feststellen der Patella, sowie
beim Strammdurchdrücken des Knies, nicht vor, es würde aber noch Niemand
deshalb behaupten dürfen, die Streckmusculatur wirke beim Gehen nicht wie
z. B. gerade in der Streckstellung. Dass beim gebeugten Knie die Patella bei
der Dehnung fester anliegt, ist verständlich. Ist doch gerade bei der von
Weber angenommenen Mittellage des Knies, d. h. bei geringster Wirkung
von Beug- und Streckmuskeln, die Patella ebenso fest gestellt wie beim Stramm¬
durchdrücken.
Die Kraftrichtung der Wadenmusculatur ist keineswegs die von Hirsch
angenommene; sie ist ganz beliebig gewählt, nach der Physiologie „in der
Richtung der Sehne“; ich will hier nur so viel sagen, dass sie Hirsch viel
zu wenig steil angenommen hat Den gleichen Vorwurf muss ich für die
Wahl der Kraftrichtung der Beugemuskeln des Knies erheben.
Die zweite Berechnung bezieht sich auf die Beanspruchung des Schien¬
beins beim Stehen auf einem im Knie gebeugten Beine, der vierten Phase der
Gehbewegung. Ich bin auch hier nicht mit den von Hirsch gewählten Kraft¬
richtungen einverstanden. Erwägungen über antagonistische Wirkungen hat
Hirsch überhaupt nicht angestellt.
Die dritte Betrachtung befasst sich mit der Beanspruchung des Schien¬
beins beim Stehen auf beiden, im Knie gestreckten Beinen. Mit dieser will
ich mich noch etwas eingehender beschäftigen. Hirsch wählt hierzu die von
*) Ich muss dazu auf die Zeichnungen im Original hinweisen.
Digitized by CjOOQle
320
Referate.
Braune und Fischer so bezeichnete Normalstellung, welche sich auf Be¬
trachtungen über den Schwerpunkt des menschlichen Körpers mit Rücksicht
auf die Ausrüstung der Infanterie stützt. Hirsch macht hier einen für uns
werthvollen Schluss: „Der Schaft eines Oberschenkelbeins zeigt gewöhnlich in
Seitenansicht eine Ausbiegung nach vorne, dagegen in Vorderansicht einen ge¬
raden Verlauf. Wie nun die Ausbiegung nach vorne darauf hindeutet, dass in
sagittaler Ebene der Knochen auf Biegung nach vorne beansprucht wird, so geht
aus dem Fehlen einer seitlichen Ausbiegung hervor, dass in frontaler Ebene in
der Regel keine Biegungsbeanspruchung stattfindet.* Ungeschickterweise hat
nun die Tibia normalerweise eine Krümmung nach vorne und eine solche
medianwärts, welche der von Hirsch stipulirten Biegungsbeanspruchung lateral-
wärts mit derselben Logik keineswegs entsprechen würde.
Mit der Normalstellung ist es eine eigene Sache, sie ist ein merkwür¬
diges Product mechanischer Erwägungen, welche in ihren speciellen mathe¬
matischen Ausführungen in der Regel richtig sind, nur ist die Normalstellung
bald so, bald anders. Ich bin leider nicht in der Lage, hier die richtige Auf¬
fassung zu vertreten, würde mich aber dabei jedenfalls nicht von der mili¬
tärischen Zweckmässigkeit leiten lassen, welche selbst tüchtigen Autoren einen
bösen Streich gespielt hat. Kinder und Naturvölker, auf welche Hirsch exem-
plificirt, haben mit seiner betrachteten Normalste!lung nichts zu thun. Sie
richten naturgemäss ihre Fussspitzen nach vorne — auf Raceeigenthümlich-
keiten sei hier nicht eingegangen —, es thun dies auch erwachsene Menschen,
wenn man sie nicht aus grauer Theorie von der Zweckmässigkeit dieses Ge-
bahrens abgebracht hat. Warum sollten sie sich auch die Möglichkeit, beim
Gehen und Stehen den Hebelarm des Fusses in ganzer Länge zu benutzen,
unvernünftigerweise verkümmern lassen! Etwa aus mangelhaft begründeten
ästhetischen Rücksichten? Nicht für die Normalstellung, aber für die natür¬
liche Stellung fallen die in Betracht kommenden Kräfte mit der normal ge¬
stellten Tibiaachse in eine Ebene, die Sagittalebene. Nun hat uns Mikulicz
gezeigt, dass die Belastungslinie ungefähr mit der Tibiaachse (ich könnte das
„ungefähr“ auch streichen) zusammenfällt, und so fallen für mich alle Biegungs¬
beanspruchungen in frontaler Ebene. Selbst wenn man mit der in Richtung
des Oberschenkelbeins wirkenden Hirsch’schen Kraft G rechnet, kann man
zu diesem Resultat kommen, was uns aber zu weit führen würde. Die Tibia
wird in natürlicher Stellung physiologischerweise nur auf
Druck beansprucht.
So viel ist dem Leser wohl klar geworden, dass man mit einer passenden
Wahl der Kraftrichtungen hier allerhand mathematisch beweisen kann,
ebenso wie bei den Normalstellungen. Wolff hat nur die frontale Biegungs¬
beanspruchung des Femur in seinem Buche mathematisch bewiesen, Hirsch
nimmt eine solche gar nicht an.
Ueber das Entstehen rachitischer Unterschenkelkrümmungen — meist
nach aussen — will Hirsch folgende Erklärung geben: „Bezüglich der sel¬
teneren Fälle einer Ausbiegung des Schienbeins in sagittaler Richtung, nach
vorne, möchte ich annehmen, dass es sich dort in der Regel um Kinder handelt,
bei welchen die rachitische Erkrankung erst eingesetzt hat, nachdem dieselben
das Laufen schon ziemlich erlernt hatten, also in den letzten Monaten des zweiten
Digitized by
Google
Referate.
321
Lebensjahres oder noch später. Dass in der grossen Mehrzahl der Fälle eine
Ansbiegung in frontaler Richtung, nach der lateralen Seite, erfolgt, wäre dann
darauf zurückzuführen, dass in solchen Fällen die Erkrankung schon Vorgelegen
hat vor Beginn oder ganz im Anfang des Laufenlemens. Diese Annahmen
sind theoretisch insofern begründet, als bei den ersten Laufversuchen der
Kinder die Biegungsbeanspruchung der Schienbeine in sagittaler Ebene zurück¬
bleibt gegenüber derjenigen in der frontalen Richtung, während doch später
gerade das Umgekehrte stattfindet.“ Es wäre mir von Interesse gewesen, hier
eine mathematische Prophezeiung darüber zu hören, wohin die Krümmung bei
der Osteomalacie liegt, d. h. bei Individuen, welche das Gehen gelernt haben.
Uebrigens liegt das Maximum der rachitischen Verkrümmung keineswegs da,
wo Hirsch uns die grösste Biegungsbeanspruchung hindividirt hat, nämlich
in der Mitte.
Das Leitmotiv der Hirsch’schen Ausführung ist die Dreiecksform des
Schienbeins. Weil das Schienbein sagittal und frontal beansprucht wird, sucht
es den grössten Durchmesser in diesen Richtungen (auch hier würde der
Querschnitt mehr für eine medianwärts gerichtete Biegungsbeanspruchung in
frontaler Ebene sprechen), bezw. erstrebt das Schienbein die stärkste Material¬
anlegung an der entsprechenden Peripherie. Der auf Biegung beanspruchte
rechteckige Balken besitzt in Hochkant grössere Festigkeit. „Die das Schien¬
bein in frontaler Ebene auf Biegung beanspruchenden Kräfte rufen das
grösste Moment etwa in der Mitte des Knochens hervor. Dem gegenüber
hätte das Schienbein die zweckmässigste Form, wenn an der betreffenden
Stelle sein Querschnitt das grösste Widerstandsmoment, beziehentlich den
grösseren Umfang besässe und nach beiden Enden kleiner würde. Nun er¬
fährt, wie des Weiteren die Analyse seiner Beanspruchung ergeben hat (Hirsch
rechnet hier mit Thatsachen, nicht mit Hypothesen), das Schienbein auch, und
sogar stärkere sagittale Biegungsbeanspruchungen, deren Moment im distalen
Theile des Schienbeinschaftes am kleinsten ist und von hier stetig, über die
Mitte hinaus bis in das proximale Ende des Knochens hinein wächst. Diese
aagittalen Biegungsbeanspruchungen machen daher erforderlich, dass das Wider¬
standsmoment des Querschnitts für die sagittale Biegungsebene auch proximal¬
wärts von der Schaftmitte noch weiter wächst bis hinein in die proximale
Epiphyse. Dieser Forderung entspricht offenbar vollkommen die in Rede stehende
Formeigenthümlichkeit des Schienbeins, insbesondere stimmt ja die Begünsti¬
gung des Tiefendurchmessers bei der Umfangszunahme der Querschnitte damit
durchaus überein, dass auch gerade für die sagittale Biegungsebene das Wider¬
standsmoment der Querschnitte bis zum Ende des Knochens wachsen muss.
Durch das solcherweise bedingte unverhältnissmässige Wachsen des Tiefen-
durchmeßsers in dem proximalen Theile des Schaftes erklärt es sich eben, dass
hier das Schienbein die Dreiecksform seiner Querschnitte mehr und mehr ein-
büsst.“ Ich muss es mir auch hier versagen, auf allerlei statisch Unlogisches
einzugehen, als auffallend sei nur hervorgehoben, dass gerade an der von
Hirsch bezeichneten Stelle der Umfangszunahme die ersten Druckstreben an
die obere Gelenkfläche abgehen im Innern. Man begreift das Ausladen des
Knochens leicht mit der Absicht, die Druckstreben möglichst vertical zu halten,
die Zunahme des Tiefendurchmessers mit der Absicht, den sagittalen Durch-
Digitized by CjOOQle
322
Referate.
messer der beiden Gelenkfläcben der Tibia möglichst gross zu gestalten, wozu
noch andererseits der Ausbau der Tuberositas tibiae nach vorne, nach hinten
einer ansehnlichen Muskelleiste kommt. Es wäre gewiss ein interessante«
Problem, nach Hirsch’schem Vorgehen Knochen zu berechnen, bei welchen
die statische Beanspruchung gegenüber der dynamischen so gut wie gar nicht
in Betracht kommt.
Hirsch hat seine Ausführungen durch experimentelle Untersuchungen
über die Festigkeit in seinem Sinne zu stützen gesucht. Wer aber überhaupt
einen Einblick in die Festigkeitslehre hat, in die bezüglichen Versuche, welche
unter viel grünstigeren und einfacheren Bedingungen — wie constanter Quer¬
schnitt etc. — an anderen Materialien als Knochen ausgeführt sind, der wird
nicht geneigt sein, aus Versuchen am Schienbein allzu hoffnungsvolle Schlüsse
zu ziehen.
Hirsch hat mich von der von ihm aufgestellten Beanspruchung des
Schienbeins nicht überzeugen können, und wenn er bereits Schlüsse aus den
Schienbeinformen auf die Tragfähigkeit einzelner Völker zieht, so erscheint
mir das sehr gewagt. Es ist geradezu eine Manie geworden, an Händen der
Betrachtung eines Knochens weit ausschauende Probleme lösen zu wollen und
sich am Ende noch in philosophische Dinge zu vertiefen. Hierfür gilt es doch
erst einmal, festen Boden unter den Füssen zu haben. Die bisherigen Ver¬
suche , die functionelle äussere Gestalt des Knochens statisch zu erklären,
haben in ihren Voraussetzungen zu grosse Fehler. Der leitende Gedanke des
Technikers ist bei der Construction, Biegungsbeanspruchungen zu vermeiden,
er will alles in Druck- und Zugcurven auflösen, weil so das Material besser
ausgenutzt werden kann und dessen Eigengewicht am geringsten ist. Sollte
die Natur, deren Weisheit die Autoren auf diesem Gebiete immer bewundern,
weniger rationell arbeiten? Auch benutzt der Techniker für Zug und Druck
verschiedenes Material. Wer sollte da nicht auf den Gedanken kommen, dass
die Knochen nur Druckbalken darstellen, die Muskeln aber die Zugvorrich¬
tungen repräsentiren. Je mehr ich mir aus der Unsumme die Zusammen¬
stellung einzelner Kraftdreiecke vergegenwärtige, desto mehr bin ich geneigt,
anzunehmen, dass die Knochen durch die von aussen auf sie einwirkenden
Kräfte unter physiologischen Verhältnissen im Innern nur Druckbeanspruchungen
erfahren, und ich bin das um so mehr, als ich den einwandfreien Beweis für
eine Biegungsbeanspruchung noch nicht erbracht sehe. Allerdings gibt es eine
functionelle Knochengestalt, dieselbe zeigt aber in ihrem Aeussern, in ihrem
Relief, weit mehr eine Anpassung an die Zugkräfte, resp. sucht diese unter ge¬
ringstem Materialaufwand möglichst günstig zu gestalten. Mit anderen Worten,
die statische Beanspruchung tritt gegenüber der dynamischen in den Hinter¬
grund (Zs ch o k ke).
Es war hier nur möglich, Einzelheiten zu erörtern, eine eingehende
Kritik würde vielleicht umfangreicher ausfallen als das Original, aber ich will
nicht verfehlen, die Lectüre der Abhandlung sehr zu empfehlen. Sie bietet
dem denkenden Menschen eine Fülle von Anregung mannigfachster Art.
B ä h r - Hannover.
Digitized by tjOOQle
Referate.
323
Sulzer, Max, Anatomische Untersuchungen über Muskelatrophieen articulären
Ursprungs. Separatabdruck aus der Festschrift für Eduard Hagen-
buch-Burckhardt. Basel und Leipzig 1897.
Sulzer, ein Schüler Hanau’s in St. Gallen, verficht auf Grund der
anatomischen Untersuchung einer Anzahl von Ankylosen und Gelenkerkran¬
kungen gegenüber der Reflextheorie wieder die Anschauung, dass die lnactivi-
tät bei dem Zustandekommen der arthritischenMuskelatrophieen den
hauptsächlichsten Factor abgibt. Jeder zu dem betreffenden Gelenk in Be¬
ziehung stehende Muskel wurde einzeln freipräparirt, sein Aussehen und Ge¬
wicht notirt und, wenn möglich, mit dem entsprechenden Muskel der gesunden
Seite verglichen. Dann wurden am frischen Zupfpräparat die Fasern auf fettige
Degeneration und Querstreifung untersucht und darauf geachtet, dass immer
möglichst entsprechende Theile des Muskels von rechts und links zur Ver¬
gleichung kamen. Schliesslich wurden von jedem Muskel Stücke gehärtet, ein¬
gebettet und auf Längs- und Querschnitten mit Alauncarmin gefärbt, unter¬
sucht, verglichen und speciell auf die Breite der Fasern gemessen, wobei dann
das Mittel aus einer grossen Zahl von Längs- und Querschnittsmessungen ge¬
zogen wurde.
Beispielsweise verhielten sich bei einer knöchernen Hüftgelenks¬
ankylose eines 23jährigen, an Phthisis pulmonum gestorbenen Patienten die
Muskeln folgendermassen: So gut wie ganz durch Fettgewebe ersetzt waren
der Glutaeus minimus, die Gemelli, der Quadratus femoris; hochgradig fettig
degenerirt und fettdurchwachsen waren der Glutaeus raedius, der Pyriformis,
Obturator internus und extemus, Iliacus internus, Adductor longus et brevis;
in mässigem Grade, aber doch noch sehr merklich degenerirt und atrophisch
fanden sich der Adductor magnus und Glutaeus magnus. Im Gegensatz zu
diesen waren vollkommen normal der Sartorius, Quadriceps, Biceps,
Semitendinosus, Psoas, Muskeln, die ausser dem fixirten Hüftgelenk noch
das bewegliche Kniegelenk überspringen und somit Gelegenheit hatten, zu
functioniren. Dem Psoas ist auch bei festgestelltem Hüftgelenk ein gewisses
Maass von Thätigkeit dadurch garantirt, dass er sich an die bewegliche Lenden¬
wirbelsäule ansetzt.
Aehnlich verhielten sich die Muskeln bei einem 70jiihrigen Manne mit
einer infolge einer alten ulcerösen Coxitis sicca eingetretenen bindegewebigen
Hüftankylose, bei der nur an dem aufgesägten Präparat eine äusserst geringe
Beweglichkeit zu constatiren war.
In 2 Fällen von Sprunggelenksankylose war der aus jeglicher
Function ausgeschaltete So 1 eus atrophisch, der noch als Beuger des Knie¬
gelenks thätige Gastrocnemius dagegen wohl erhalten.
Bei einem frischen, das Kniegelenk selbst wenig betheiligenden tuber-
culösen Heerd im unteren Ende des Femur war der linke Rectus, der, das Hüft¬
gelenk überspringend, auch bei fixirtem Knie noch zum Heben des Beines in
toto verwendet werden konnte, umlg = 14,28° o weniger schwer als der rechte
und erwies sich mikroskopisch als intact. Die linksseitigen Vasti aber, die bei
ruhig gestelltem Knie keine Function mehr hatten, waren um 21 g 43,75°/o
weniger schwer als die rechtsseitigen und zeigten die Veränderungen ein¬
facher Atrophie. So verhielten sich also der Atrophie gegenüber die Köpfe
Digitized by
Google
324
Referate.
eines und desselben Muskels verschieden, je nachdem ihnen die Möglichkeit zu
functioniren genommen oder belassen war.
Was zunächst die Ankylosen anbetrifft, so ergibt sich aus Sulzer’s An¬
gaben in genauer Uebereinstimmung mit dem von Strasser schon 1883 bei
einer Ellenbogengelenksankylose Festgestellten mit Sicherheit, dass für die
Atrophie der in Frage kommenden Muskeln einzig und allein das Maass der
Inactivität, der sie anheim gefallen sind, in Betracht kommt. Die ganz ausser
Thätigkeit gesetzten, nur das ankylosirte Gelenk überspringenden, sind, wenn
die Ankylose alt genug war, überhaupt (oder so gut wie überhaupt) nicht mehr
als Muskeln vorhanden. Ihre Fasern sind eventuell räumlich durch Fett er¬
setzt; die in ihrer Thätigkeit nur reducirten, also die noch über ein zweites
Gelenk ziehenden, sind nur bis zu einem gewissen Grade atrophisch. Ist die
Ankylose jünger, so sind diese Processe allerdings erst weniger weit gediehen,
aber dennoch in genügender Deutlichkeit vorhanden.
Complicirter und weniger übersichtlich liegen die Verhältnisse bei Ge¬
lenkentzündungen mit wenigstens passiv beweglichem Gelenk, weil man
hier nicht mit so grosser Sicherheit von jedem einzelnen Muskel sagen kann,
wie viel Function er noch hatte, und weil Ruhigstellung der ganzen Extremität
durch Schienen und Verbände, ferner eventuelle Fixationen benachbarter Ge¬
lenke bei grosser Schmerzhaftigkeit u. dergl. mehr von wesentlichem Einflüsse
sind. Die Zahl der von Sulzer untersuchten diesbezüglichen Fälle ist auch
zu klein, als dass man Veitgehende Schlüsse mit völliger Sicherheit daraus
ziehen dürfte. Jedenfalls glaubt Sulzer so viel ersehen zu können, das3
auch hier die Inactivität eine ganz hervorragende Rolle gespielt hat, und
zwar nach demselben Gesetz, wie es sich für die ankylotische Atrophie als
richtig erwiesen hat. Joachimsthal -Berlin.
Hübscher, C., Die Perimetrie des Handgelenks. Zeitschrift für Chirurgie
Bd. 45, S. 24.
Bei der Behandlung der so häufigen Bewegungsstörungen im Gebiete
des Handgelenks sind wir oft in der Lage, die Excursionen des betreffenden
Gelenks zu messen und die Ergebnisse der Messung aufzuzeichnen. Hübscher
verwendet zu diesem Zweck das von den Ophthalmologen benutzte Perimeter,
in welchem sich Bewegungsexcursionen in jeder beliebigen Ebene messen lassen.
Auf einem länglichen Brett befindet sich bei Hübschers Anordnung
ein ca. 30 cm hohes schmales Bänkchen, welches dem Vorderarm als Unter¬
stützung dient. Der vor dem Bänkchen aufgestellte Perimeterbogen mit Grad-
eintheilung besitzt einen Radius von 20 cm. Mit dem Drehpunkt des Bogens
ist in gewohnter Weise ein Zeiger verbunden, welcher auf einer senkrechten
Scheibe den jeweiligen Stand des Bogens angibt, resp. den Meridian, in welchem
eben die Messung vorgenommen wird. Um die Bewegungen der Mittelhand¬
finger und der Fingergelenke auszuschalten, ist die Hand mittelst Riemen auf
einem kleinen Handbrettchen fixirt; die in sich geschlossenen Riemen laufen
durch Schlitze, so dass sie auf beiden Seiten vorgezogen werden können, um
den Gebrauch der Schienen für rechts und links zu ermöglichen. In gleicher
Weise, wie die Bewegungen der kleinen Gelenke ausgeschlossen werden müssen,
darf selbstverständlich auch keinerlei Drehbewegung des pronirten Vorderarms
Digitized by CjOOQle
Referate.
325
stattfinden können. Am sichersten erschien Hübscher das Festhalten des
Arms auf dem Bänkchen durch den Untersucher, wobei man sich beständig
von der Ruhigstellung des Arms überzeugen kann.
Zur Messung der Handgelenksbewegungen wird nun derjenige Winkelgrad
des Perimeterbogens, welchem die Kuppe des Mittelfingers am Schluss der Ex-
cursion gerade gegenübersteht, abgelesen und in das von den Ophthalmologen
zur Aufzeichnung benutzte Schema eingetragen. Die gleiche Messung wird unter
Einstellung des' Perimeterbogens in den jeweiligen Meridian wiederholt, bis
man eine genügende Anzahl von Aussenpunkten besitzt, deren Verbindungs¬
linie das gewünschte Bewegungsfeld liefert. Zur raschen Aufnahme genügt
eine 4malige Drehung des Bogens und Einstellung desselben in die Haupt¬
meridiane, den verticalen und den horizontalen, sowie in die beiden schrägen
dazwischenliegenden.
Man erhält dabei acht Messungen, die uns über die wichtigsten Excursionen
aufklären. Die Messung in den beiden Hauptmeridianen ergibt die Excursion
in radialer, ulnarer, dorsaler und volarer Richtung; die Aufnahme in den
beiden schrägen erfolgt in dorso-radialer und volar-ulnarer, sowie in dorso-
ulnarer und volar-radialer Richtung. Zur Veranschaulichung der Methode
sind eine Anzahl Bewegungsfelder normaler und pathologischer Handgelenke
beigefügt. J o a chi m sth al - Berlin.
Hofmann, Ein Fall von angeborenem Brustmuskeldefect mit Atrophie des
Arms und Schwimmhautbildung. Virchow’s Arch. Bd. 140, S. 165.
Bei dem 47jährigen Patienten besteht eine starke Abflachung der rechten
vorderen Thoraxwand bis zur sechstenfRippe. Die rechte Mammilla steht höher
und näher an der Medianlinie als die linke, ist kleiner, der Pigmenthof von
geringerem Durchmesser. Vom Oberarm sieht man einen Muskelwulst zum
Sternalende des unteren Clavicularrandes ziehen, der bei der Abduction des
Arms noch deutlicher hervortritt, die Clavicularportion des Muse, pectoralis
major. Der Pectoralis minor ist gut entwickelt.
Der rechte Oberarm ist um 5 cm, der Vorderarm um 2 cm, die Hand
um 5 cm gegen links verkürzt. Der Umfang des rechten Oberarms bleibt 3, 5,
der des Vorderarms 4 cm gegen den der anderen Extremität zurück. Der
Mittelfinger ist der kürzeste, der Daumen der längste Finger, doch erreicht
letzterer noch nicht die Grösse des linken Daumens. Sämmtliche Finger stehen
in Klauenhandstellung durch Volarflexion der dritten Phalangen. Der Daumen
ist zugleich etwas nach innen gebeugt. Am Zeigefinger ist die mittlere, sehr
kleine Phalanx mit der dritten ankylosirt, das Gelenk mit der ersten sehr
schlaff, so dass hier seitliche Bewegungen möglich sind. Das Gleiche gilt
vom Mittelfinger. Der Ringfinger zeigt eine grössere mittlere Phalanx und
geringe Beweglichkeit in den Interphalangealgelenkeu. Am kleinen Finger,
der am stärksten volarflectirt ist, ist eine mittlere Phalanx überhaupt nicht
zu fühlen. Zwischen Zeige- und Mittelfinger, sowie diesem und Ringfinger
spannt sich eine Hautbrücke bis zur Mitte der ersten Phalanx, zwischen Ring-
und kleinem Finger eine solche fast bis zum distalen Ende derselben. Die
Wirbelsäule ist im unteren Brusttheil leicht nach links skoliotisch.
Joachimsthal - Berlin.
Digitized by CjOOQle
326
Referate.
Machenhauer, Fall von angeborenem partiellem Riesenwuchs mit Berück¬
sichtigung der Aetiologie desselben und verwandter Wachsthumsabnormi¬
täten. Centralbl. f. innere Medicin 1896, Nr. 43.
Machenhauer hatte Gelegenheit, ein Kind mit angeborenem par¬
tiellem Riesenwuchs von seiner Geburt an 1 Jahr lang zu beobachten. Der
Kopf zeigte nichts Besonderes, ebenso die Wirbelsäule. Die rechte Brust trägt
einen faustgrossen, weichen, höckerigen Tumor, der, von normaler Haut über¬
zogen, median in die Brustdrüse überzieht und sich 2 cm von der Mitte des
Brustbeins bis in die hintere Axillarlinie, in die Achselhöhle und an den Rippen¬
bogen erstreckt und deutlich varicös erweiterte Blutgefässe durchschimmern
lässt. Die Arme sind bis zur Hand normal und gleich lang, dagegen erweisen
sich die Finger beträchtlich verlängert und verbreitert. Die Haut der linken
Hand und der Finger ist glatt, glänzend und lässt reichlich varicose Gefässe
durchschimmern. Die Fingernägel sind mehr lang als breit und glatt. Die
hypertrophirten Finger werden gespreizt gehalten. Der linke Fuss ist normal.
Der Umfang des rechten Ober- und Unterschenkels ist 1,5 cm stärker als links.
Die Knochen des rechten Unterschenkels, die beide deutlich durchfühlbar sind,
bilden etwas unter der Mitte einen nach hinten offenen stumpfen Winkel von 135°.
An dieser Stelle sieht man auf der äusseren Bedeckung mehrere halbbohnen-
groe8e, gefurchte Knöpfchen (Keloide), von denen vier in einer Querfurche deut¬
lich gereiht stehen. Der untere Theil des Unterschenkels ist auch etwas nach
innen abgebogen und die Knochen sind am Knickungswinkel etwas verdickt.
Am Fuss sind die 2.-5. Zehe verwachsen und ist nur der Hallux getrennt
entwickelt. In einer Querfurche nahe der Fussspitze deuten vier kleine Nagel¬
platten die vier verwachsenen Zehen an. Dabei ist die ganze rechte untere Ex¬
tremität bis zum Darmbeinkamm von einem Naevus vasculosus eingenommen.
Die Nabelschnur, die dem Kinde bei der Geburt 2mal um den Hals geschlungen
war, besass einen echten Knoten. Joachimsthal -Berlin.
Rasch, Heinrich, Ein Fall von congenitaler, completer Syndaktylie und
Polydaktylie. Beitr. z. klin. Chir. Bd. 18, S. 537.
Bei dem 22jährigen Patienten, über den Rasch berichtet, waren an
beiden Händen die Finger bis zum Nagelglied vollständig mit einander ver¬
wachsen. Zwischen Daumen und Zeigefinger war die Verwachsung eine häutige,
indem zwischen diesen beiden Fingern eine schwimmhautähnliche Hautbrücke
ausgespannt erschien. Die Grenzen zwischen den übrigen Fingern waren durch
oberflächliche Hautbrücken markirt, die Phalangen der Finger isolirt deutlich
durchzufühlen, jedoch nicht gegen einander zu verschieben. Die Nägel der
einzelnen Finger stiessen zwar an einander, waren jedoch durch Furchen von
einander getrennt.
Die Daumen besassen beiderseits je zwei Metacarpalknochen; auf jedem
derselben sass je eine erste Phalanx, auf diesen beiden Grundphalangen eine
zweite Phalanx, und auf den beiden zweiten Phalangen eine dritte, also über¬
zählige Phalanx, welche durch Längsspaltung in drei Theile geschieden war
und drei gesonderte Nägel trug. An der Ulnarseite der Hand fand sich beider¬
seits ein aus zwei Phalangen bestehender überzähliger kleiner Finger mit einem
gesonderten Nagel. Es bestanden demnach an beiden Händen Anlagen für
Digitized by CjOOQle
Referate.
327
16 Finger. Der rechte Fuss trug eine überzählige, aus zwei Phalangen be¬
stehende kleine Zehe, durch Syndaktylie mit der eigentlichen kleinen Zehe ver¬
schmolzen.
Zunächst wurde an der rechten Hand die Schwimmhaut zwischen Daumen
und Zeigefinger durchschnitten, worauf die Wundränder an beiden Fingern durch
directe Naht vereinigt wurden. Sodann wurde die Verbindung zwischen Zeige-
und Mittelfinger gespalten, der Defect am Zeigefinger durch einen aus der Haut
des Mittelfingers entnommenen dorsalen Lappen geschlossen, die Wundfläche
am Mittelfinger durch Transplantation gedeckt. Gleichzeitig entfernte man den
überzähligen kleinen Finger wie auch das am meisten radial gelegene Glied
der dritten Daumenphalanx. Nach ähnlichem Vorgehen auf der linken Seite
war das erreichte Resultat in jeder Beziehung ein zufriedenstellendes.
Joachimsthal - Berlin.
Laker, Die Anwendung der Massage bei den Erkrankungen der Athmungs-
organe. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1897.
Verfasser bespricht eingehend seine Methode der Massagebehandlung bei
Nasen-, Rachen- und Kehlkopferkrankungen, die im allgemeinen darin besteht,
dass eine vorne mit Watte armirte Sonde in das Naseninnere eingeführt wird
und dass nun bei contrabirter Armmusculatur regelmässige Vibrationen des
Vorderarms ausgelöst und vom Sondenknopf auf die Schleimhaut übertragen
werden.
Bei der hypertrophischen wie atrophischen Form des chronischen Nasen¬
katarrhs hat Verfasser gute Erfolge erzielt, die er durch Anführung von
Krankengeschichten belegt.
Auch bei allen Erkrankungen des Kehlkopfs, wo chronisch entzündliche
Vorgänge zu einer Functionsstörung der Schleimhaut und der tiefer gelegenen
Gebilde geführt haben, hat sich die Methode als nützlich erwiesen.
Die Einzelheiten dürften bloss für den Specialisten Interesse haben.
Simon- Würzburg.
Thure Brandt, Massage bei Frauenleiden. Berlin 1897. Fischer.
Das bekannte Werk des schwedischen Gymnasten, in dem derselbe seine
durch Erfahrung gewonnenen Ergebnisse bei der Behandlung von Frauenleiden
niederlegt, ist in der 3. Auflage erschienen. Im ersten, allgemeinen, Theil bespricht
Verfasser die Entstehung und Entwickelung seines Verfahrens, die Technik der
einzelnen Handgriffe und Bewegungen; im zweiten, speciellen, Theil beschreibt
er die Anwendung und Wirkung manueller und gymnastischer Behandlung bei
den verschiedensten Krankheiten und Anomalien der weiblichen Geschlechts¬
organe. Bezüglich des Specielleren muss auf das Werk verwiesen werden.
Deutschländer*W ürzburg.
Scholder, La mecanotherapie, sa definition et ses indications d’aprös le
systöme Zander. Lausanne 1897.
In dem vorliegenden kleinen Werkchen gibt Scholder einen guten
Ueberblick über den jetzigen Stand der Mechanotherapie mit besonderer Berück¬
sichtigung der Zander’schen Apparate. In einem eigenen Abschnitt bespricht
Digitized by VjOOQle
328
Referate.
er speciell die Indicationsstellung für die einzelnen Zanderapparate und fugt
zur Erläuterung einige gut gelungene Abbildungen bei, welche die Apparate
im Gebrauch dar9tellen. Das Büchlein ist für Jeden, der sich für Zandersche
Therapie interessirt, wegen seiner Uebersichtlichkeit recht zu empfehlen.
Alsberg - Würzburg.
Schott, Th., Ueber Veränderungen am Herzen durch Bad und Gymnastik,
nachgewiesen durch Röntgenstrahlen. Deutsche medicinische Wochen¬
schrift 1897, Nr. 14.
Um die Wirkung der Bäder und der Widerstandsgymnastik auf die
Musculatur des Herzens zu demonstriren, bedient sich Schott der Röntgen¬
photographie. Aus derselben ist deutlich ersichtlich, dass nach den gymnasti¬
schen üebungen und nach dem Bade der Herzschatten deutlich verkleinert ist
In dem einen Falle (8Vajähriger Knabe) mass vor der Gymnastik der Herz¬
schatten an der dritten Rippe 9,7 cm, an der vierten Rippe 12,3 cm. Nach
dieser Aufnahme wurde 15 Minuten Widerstandsgymnastik gemacht und gleich
darauf das Actinogramm aufgenommen. Die Breite des Herzschattens betrug
nunmehr an der dritten Rippe 8,8 cm, an der vierten Rippe 11,7 cm. Ein
ähnliches Ergebniss liess sich bei einem 14jährigen Mädchen nach einem 10 Mi¬
nuten währenden Sprudelbade von 31° feststellen. Vor dem Bade betrug der
grösste Durchmesser des Herzens 11,1 cm, nach demselben nur noch 10,3 cm.
Bei beiden Versuchen wurde auf möglichst gleichmässige Lagerung, gleich-
mässigen Abstand der Röntgenröhre geachtet, um etwaige, durch Projection
bedingte Fehler auszuschalten. Um sich bei der Aufnahme des Thorax besser
orientiren zu können, befestigte S cho tt auf beiden Mammillen mittelst Wachs
Bleiplättchen, die auf dem Actinogramm als schwarze Punkte sichtbar waren.
D eutsch lande r-Würzburg.
Auerbach, Ueber instrumentelle Bauchmassage. Therapeutische Monatshefte
März 1897.
Verfasser gibt die Beschreibung eines Instrumentes zur Ausübung der
Selbstmassage des Bauches. Dasselbe ist eine Modification der Oetkersehen
Kugel und hat vor dieser den Vorzug, dass es leicht und sicher gesteuert
werden kann, ein geringes Gewicht besitzt und wenig Kraftanstrengung er¬
fordert; eventuell kann mittelst eines Metallpfropfens Anschluss an einen elek¬
trischen Apparat bewirkt und somit auch die Selbstelektrisation ausgeübt werden.
Den Werth derartiger Instrumente schlägt im übrigen Au er b ach selbst nicht
sehr hoch an. Deutschländer -Würzburg.
Haudek, Was vermag die Hessing’sche Apparatotherapie zu leisten? Wiener
klin. Rundschau 1897, Nr. 14 u. 15.
Haudek wendet sich in seiner Arbeit wohl zur Hauptsache an die
Nichtspecialisten, denen er einerseits den Glauben an die Wunderkraft Hes¬
sin g’scher Apparate nehmen will, während er andererseits ihre grossen Vorzüge
ins rechte Licht setzt. Er bespricht kurz und treffend die Anwendungsweise
der Corsets und Schienenhülsenapparate bei einer grossen Anzahl der ver¬
schiedensten Erkrankungen und gibt auf diese Weise einen guten Ueberblick
Digitized by VjOOQle
Referate.
329
Über den jetzigen Stand der Apparatotherapie, ohne freilich für den Speciaiisten
wesentlich Neues zu bringen. Alsberg-Würzburg.
Potel, G., Etüde sur les malformations congenitales du genou. Lille 1897.
Potel hat in einer sehr fleissigen Arbeit fast 300 Fälle angeborener
Missbildungen des Kniegelenks aus der Literatur zusammengestellt, welche er,
nach verschiedenen Gesichtspunkten geordnet, referirt und zugleich kritisch
bespricht. Er schickt einen kurzen Ueberblick über die normale und ver¬
gleichende Anatomie, sowie die Entwickelungsgeschichte des Kniegelenks mit
guten Literaturangaben voraus. Der weitere Inhalt lässt sich am besten in
Gestalt nachfolgenden Schemas wiedergeben:
A. Missbildungen durch Abnormitäten der Knochen.
1. Proximaler Abschnitt:
a) Defect des Femur.
b) Bifurcation der unteren Femurepiphyse und Verbildungen der Con-
dylen.
2. Distaler Abschnitt.
a) Missbildung nur eines Knochens,
a) Defect der Tibia.
ß) Bifurcation der oberen Tibiaepiphyse,
f) Defect der Fibula.
b) Defect der Tibia und der Fibula.
Ursache dieser Abnormitäten ist entweder Abschnürung durch amniotische
Stränge oder in der Mehrzahl der Fälle fötale Entwickelungshemmung. Als
Ursache dieser letzteren vermuthet Potel seltsamerweise eine Infection.
B. Missbildungen durch Abnormitäten der Musculatur.
1. Extensorengruppe.
a) Defect und Atrophie der Kniescheibe. Genu recurvatum. Sämt¬
liche sind Folgezustände einer Entwickelungsstörung des Qua-
dricep8. Tritt diese Störung zu Beginn des 3. Monats auf, so
folgt Defect der Patella, nach dem 3. Monat Atrophie der
Patella oder Contractur des Quadriceps, d. h. Genu recurvatum.
b) Längsspaltung der Patella bei isolirter Sehne des M. vastus ex-
ternus.
2. Flexorengruppe.
Congenitale Contracturen, meist in Verbindung mit Contracturen
anderer Muskelgruppen. Ursache: Entwickelungsstörung des fötalen
Nervensystems.
C. Missbildungen durch Abnormitäten des Bandapparats.
1. Luxation der Patella in ihren verschiedenen Formen.
2. Genu valgum und Genu varum.
3. Luxation des Kniegelenks.
Wenn man sich auch mit manchen in der Arbeit vertretenen Anschau¬
ungen nicht einverstanden erklären kann, besonders mit der etwas künstlichen
Digitized by VjOOQle
330
Referate.
Trennung der letzten Hauptgruppe von den beiden vorhergehenden, so verdient
sie nicht zum wenigsten wegen der ausgezeichneten Wiedergabe der Casuistik
und der statistischen Angaben volle Beachtung. Alsberg-Würzburg.
Lange, F., Ueber den angeborenen Defect der Oberschenkeldiaphyse. Deutsche
Zeitschrift für Chirurgie Bd. XLIII.
Verfasser berichtet über 3 Fälle von angeborenem Defect der Ober¬
schenkeldiaphyse aus der Lorenz’schen Klinik. Die Aetiologie des Leidens ist
dunkel; die Anlage zu einer Diaphyse scheint von vornherein vorhanden zu
sein und nur das Wachsthum aus unbekannten Gründen verzögert oder zeit¬
weise völlig unterbrochen. Die Behandlung hat danach zu streben, die schlum¬
mernde Wachsthumsenergie zu wecken, weshalb das Bein nicht wie ein Ampu¬
tationsstumpf in einer Entlastungsprothese aufgehängt werden, sondern stets
als Stütze des Körpers verwandt werden muss. S i m o n - Würzburg.
Staffel, Bericht über die in dem Wiesbadener medico-mechanischen Institute
(System Zander) in der Zeit vom 1. August 1892 bis 31. December 1896
behandelten Unfallverletzungen.
In diesem Zeiträume wurden 200 Patienten (173 männliche und 27 weib¬
liche) behandelt. Die Zeit, welche zwischen dem Unfall und der Ueberweisung
in das Institut verstrich, betrug im Durchschnitt aller Fälle 8,7 Monate. In
17 Fällen betrug die dazwischen liegende Zeit 2 Jahre und mehr, in einem
sogar 6V2 Jahre. Die therapeutischen Mittel bestehen in der Anwendung der
Heilgymnastik, der activen und passiven Bewegungen vermittelst 56 Zander¬
apparaten, von denen 20 durch einen Gasmotor betrieben werden; in allen
Fällen, wo e6 angezeigt ist, in manueller Massage und Elektrisation, warmen
Bädern, Douchen etc. Die Dauer der Behandlung belief sich im Durchschnitt
auf 6,2 Wochen. Gänzlich oder fast gänzlich geheilt wurden 35°/o, erheblich
gebessert 36°/o, weniger gebessert 21° 0; 10 Personen, 5°/o, mussten ungebessert
entlassen werden. Unter den behandelten Fällen fanden sich 6,5°/o Simulanten.
Hinsichtlich der Art der behandelten Verletzungen standen obenan die Knochen¬
brüche, 93 Fälle (untere Extremität 58, obere 33, Stamm und Becken 1, Schädel 1).
Es folgen die Distorsionen und Quetschungen mit 65 Fällen (untere Extremität 24,
obere 30, Stamm 11), dann die Luxationen mit 13 Fällen (Schulter 12, Hüfte 1),
dann die infectiösen Hand- und Fingerverletzungen mit 8, Verbrennungen mit 1;
Verstümmelungen der Finger mit 11, Schnittverletzungen mit 5 und Verliebungen
mit 5 Fällen. Deutschlander-Würzburg.
Schanz, Zur Kenntniss der Wirbelsäulendeformitäten nach Unfällen. Monats¬
schrift für Unfallheilkunde 1896, Nr. 11.
Schanz berichtet über eine in der Hoffa’schen Klinik beobachtete
eigenthümliche Deformität der Wirbelsäule, die sich an ein Trauma anschloss.
Der betreffende Patient hatte eine schmerzhafte Zerrung der linksseitigen Lenden-
musculatur erlitten und durch Schonung der schmerzhaften Theile eine links¬
convexe Totalskoliose mit Verschiebung des Rumpfes nach links davon getragen.
Durch vorsichtige redressirende Manipulationen liess sich die Deformität völlig
ausgleichen. Patient war lange Zeit mit verschiedenen Diagnosen, zuletzt mehr-
Digitized by tjOOQle
Referat«.
331
fach als „gefährlicher Simulant* begutachtet worden. Eine gründliche Behand¬
lung mittelst Massage und Gymnastik stellte ihn in kürzester Zeit völlig wieder
her. A1 s b e r g - W ürzburg.
Ritschl, Ueber Behinderung des Faustschlusses und deren Behandlung.
Der ärztliche Praktiker 1896, Nr. 22.
Ritschl übt eine einfache und sehr zweckmässige Widerstandsgymnastik
bei behindertem Faustschluss dadurch, dass er an polirten Holzcylindern von
1 —5 cm Dicke mittelst eines Ringes Gewichte von verschiedener Schwere be¬
festigt. Man wählt denjenigen Cylinder aus, welchen der Patient gerade noch
festhalten kann, und beschwert ihn am unteren Ende fortschreitend stärker.
Dadurch lernt der Patient den nächst dünneren Cylinder festhalten, mit welchem
dann wieder in derselben Weise verfahren wird. Die Erfolge dieser einfachen
und billigen Methode sind ausgezeichnete. Alsberg-Würzburg.
Haudek, Zur ambulanten Fracturbehandlung. Wien. klin. Rundschau 1897»
Nr. 3.
Anschliessend an die Vorstellung eines ambulant behandelten Falles von
Fractura femoris bespricht Haudek die Vortheile der modernen Fracturbehand¬
lung. Zur Ausübung der ambulanten Behandlung zieht er die H e s s i n g’schen
Schienhülsenapparate allen übrigen Bandagen vor, da sie sehr leicht sind, die
Fractur in der richtigen Weise fixiren und jederzeit eine genaue Controlle der
Fracturstelle gestatten, ohne dass der ganze Apparat entfernt werden muss.
Der allgemeinen Anwendung steht nur der hohe Preis entgegen und die That-
sache, dass gut sitzende Apparate nur von geschickten und erfahrenen Banda¬
gisten angefertigt werden können. Alsberg-Würzburg.
Arr£at, Emile, fitude sur le traitement du Pied bot varus equin congenital.
Montpellier.
Auf Grund einer eingehenden Studie mit Zugrundelegung von 16 im
Kinderkrankenhaus in Marseille behandelten Fällen von angeborenem Klumpfuss
stellt Arreat folgenden Behandlungsplan auf:
Die Behandlung hat möglichst frühzeitig zu beginnen. Während der
ersten Monate kann man versuchen, durch Massage und gelinde Redressions¬
manöver mit nachfolgender leichter Fixation zum Ziele zu gelangen, eventuell
ist die Tenotomie der Achillessehne angezeigt.
Vom 5.—6. Monate bis zum 3. oder 4. Jahre gibt das modellirende Re¬
dressement nach Lorenz oder die Phelps’sche Operation gute Resultate, letztere
Operation schlägt Verfasser vor, subcutan auszuführen.
Nach dem 4. Jahre sollen obige Massnahmen nicht mehr zum Ziele führen
und man muss zu Resectionen des Kopfes, des Halses oder eines mehr oder
weniger grossen Stückes des Körpers des Astragalus seine Zuflucht nehmen,
verbunden mit Tenotomie der Achillessehne. Dann ist darauf zu achten, dass
der Fus8 übercorrigirt wird.
Auf eine längere sorgfältige Nachbehandlung mit Massage ist in allen
Fällen ein besonderer Werth zu legen. S i m on-Würzburg.
Digitized by CjOOQle
332
Referate.
Staffel, Franz, Ueber den Plattfussstiefel. Deutsche med. Wochenschr. 1897,
Nr. 32.
Staffel’s Plattfussstiefel ist ein nach Maass gearbeiteter, bis über die
Knöchel reichender Schnürstiefel aus nicht zu leichtem Leder, der nm den
Knöchel und den mittleren Fuss durchaus nicht zu weit sein darf, sondern
knapp, aber ohne lästigen Druck anschliessen muss. Vorn darf er, namentlich
für Kinder (wegen des Wachsthums), etwas zu lang sein; es ist gut, wenn den
Zehen, namentlich aber der grossen Zehe, hinreichender Platz gelassen wird.
Der Absatz von 2—3 cm Höhe reicht an der Aussenseite so weit nach vorn,
wie allgemein üblich, an der Innenseite, wo das unschöne Verhältniss übrigens
nicht auffällt, erheblich weiter, bis unter den Scheitel der Fusswölbung. Die
Plattfusseinlage ist eine durch den ganzen Stiefel verlaufende Korksohle, die
am inneren Fussrande 2—3 cm hoch, am mittleren Fuss aber noch besonders
aufgehöht ist; nach aussen hin läuft die Einlage keilförmig scharf aus. Sie
wird vom Schuhmacher mit einigen Stichen im Stiefel befestigt und, wie sonst
die Brandsohle, mit dünnem Leder überzogen. Am Aussenrande des Stiefels,
unterhalb des äusseren Knöchels, ist zwischen der hier nach vorn verlängerten
Fersenkappe und dem Oberleder ein Eisenblechwinkel eingearbeitet, der ein festes
Widerlager für den Fuss schafft und ihn verhindert, von seiner schiefen Ebene
herabzugleiten und das Oberleder über den Aussenrand der Sohle hinaus¬
zudrängen. J oachimsthal-Berlin.
Lange, Zur Behandlung des Plattfusses. Münch, med. Wochenschr. 1897,
Nr. 30.
Bei der Behandlung des Plattfusses sind zwei Gesichtspunkte zu berück¬
sichtigen; einmal muss die Stellung und Form des Fusses beseitigt werden,
das andere Mal müssen die gewonnenen Resultate fixirt und dauernd erhalten
werden. Zur Erfüllung der letzten Forderung dienen die Plattfusseinlagen.
Lange bedient sich zur Herstellung derselben eines Modells, das sowohl die
Form des redressirten als auch des belasteten Fusses wieder gibt. Er lässt
den Patienten auf eine aus drei Hölzern bestehende Vorrichtung treten, die
eine von innen nach aussen abfallende schiefe Ebene darstellt und den be¬
lasteten Fuss in Supinationsstellung zwingt. Derselbe wird alsdann eingegipst
Um auch während der Belastung die Wölbung des Fusses zu erhalten, wird
unter die Gipsbindenschicht am Sohlentheil des Fusses, etwa in der Gegend des
Os naviculare, ein fest zusammengedrehtes Wattepolster von Hühnereigrösse
gelegt.
Der auf diese Art gewonnene Gipsfuss gibt die Form des belasteten,
supinirten und gewölbten Fusses in genannter Weise wieder und dient dem
Bandagisten als Modell für die Einlagen, welche für die Kranken der klinischen
Praxis aus 0,8—1,0 mm starkem Stahlblech, für die wohlhabenderen Patienten
aus Nickelin gehämmert werden. Diese Einlagen werden mit Glacö- oder
Wildleder überzogen und im Hackentheil des Stiefels durch zwei Schrauben
befestigt.
War die Valgusstellung einigermassen erheblich, so wird zunächst auf
die ganze Innenseite der Schuhsohle ein von dem inneren nach dem äusseren
Digitized by CjOOQle
Referate.
333
Fussrand abfallender Korktheil gelegt und erst auf diesem die Metallsohle
befestigt.
Dem Uebelstande, dass die Patienten bei längerem Gebrauch der Ein¬
lagen von denselben heruntergleiten und der therapeutische Effect somit ver¬
loren geht, hilft Lange dadurch ab, dass er an der durchWeichtheile besser
geschützten Mitte des V. Metatarsus und an der Aussenseite des Processus an¬
terior calcanei, an welchen Stellen ein grösserer Druck ertragen werden kann,
zwei mit Filz gepolsterte und mit Leder überzogene Widerhaken von einer
Höhe von l 1 /* cm anbringt. Den ganzen Aussenrand der Sohle umzubiegen,
hält Lange nicht für rathsam, da der Druck namentlich in der Gegend der
Tuberositas metatarsi V. unerträglich ist.
Diese Hakensohlen bewähren sich auch unter ungünstigen Verhältnissen
vortrefflich, wie aus der dem Aufsatz beigefügten Krankengeschichte ersicht¬
lich ist. Deu tschländer-Würzburg.
Braatz, E., Ueber die falsche, gewöhnliche Schuhform und über die richtige
Form der Fussbekleidung. Königsberg 1897.
Es ist ein wichtiges Kapitel unserer Kleidungshygiene, welches Braatz
in populär-wissenschaftlicher Weise bespricht, ein Thema, das den Orthopäden
in ganz besondererWeise angeht. Braatz ist auf den glücklichen Gedanken
verfallen, dem Arzt und dem Laien in gleicher Weise durch Röntgenbilder die
absolute Unsinnigkeit und Schädlichkeit der gewöhnlichen „mittelspitzen“ Schuh¬
form vor Augen zu führen. Besonders dem Eindruck der Abbildungen, welche
einen kindlichen Fuss ohne Schuh und einen gleichen Fuss im mittelspitzen
Schuh zeigt, wird sich wohl Niemand entziehen können.
Ein rationeller Schuh muss seine grösste Länge in der Richtung des
Metatarsus der grossen Zehe und seine grösste Höhe nicht in der Mittellinie,
sondern am Innenrande haben. Die gebräuchlichen Leisten lassen sich diesen
Anforderungen entsprechend nicht umändern, sondern müssen durch neue er¬
setzt werden. Braatz fordert eine bessere Ausbildung unserer Schuhmacher,
am besten in Fachschulen, und verlangt besonders, dass die Aerzte immer und
immer wieder auf die Nothwendigkeit der Anfertigung rationellen Schuhwerks
aufmerksam machen sollen. Alsberg-Würzburg.
Kittel, Ueber Uratablagerungen in der Fusssohle, ihre Entstehung und Be¬
handlung (Irreguläre Gicht?). Berlin, klin. Wochenschr. 1897 Nr. 17.
Zwischen der Aponeurose des Fusses und dem Knochengerüste des Fusses
entstehen zuweilen Ablagerungen der verschiedenartigsten Consistenz, von sammet¬
artigen, kaum fühlbaren Sand- bis zu festen, steinartigen Gebilden, die beim
Druck dem Patienten derartige Schmerzen verursachen, dass schliesslich das
Gehen aufgegeben werden muss. Aetiologisch spielen bei diesem Krankheits¬
bilde Circulationsstörungen die Hauptrolle, die auf Erkältungen resp. lang an¬
dauernde Durchnässungen zurückzuführen sind. Durch diese Ernährungsstörung
werde ein allmählich fortschreitender Degenerationsprocess bedingt, der die
Nekrose des Gewebes zur Folge habe. In dieses nekrotische Gewebe scheiden
sich nun die Urate ab, auf welche Weise ist noch nicht aufgeklärt. Zu diesem
Krankheitsbilde können noch Steifigkeiten, Deformitäten und Auftreibungen der
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 22
Digitized by tjooole
334
Referate.
verschiedenen Gelenke, speciell der der Hände, in vielen Fällen auch Augen¬
entzündungen hinzutreten. Am Digestionsapparat und in der Function der
Nieren lassen sich keine Störungen nachweisen. Kittel ist geneigt, dieses
Krankheitsbild als irreguläre Gicht zu bezeichnen. Hinsichtlich der Therapie
verwirft er die gewöhnlichen Mittel zur Behandlung der Harnsäureconcremente;
sie seien nutzlos, da die nekrotischen Partieen die Harnsäure so fest bänden,
dass kein Lösungsmittel sie zu befreien vermöchte; wenn die Affinität zwischen
Nekrose und Harnsäure geringer wäre, dann vermöge das Blutserum selbst die
letztere aus dem Gewebe auszuspülen. Als Therapie empfiehlt Verfasser aufs
Angelegentlichste die mechanische Behandlung mit Massage, welche durch
Moorbäder unterstützt werden kann. Diese Therapie bewährte sich in 4 von
ihm behandelten Fällen, deren Krankengeschichten am Schluss der Arbeit an¬
gefügt sind, aufs beste. Deutschländer-Würzburg.
König, Zur Entstehungsgeschichte der Verletzungen des Streckapparates vom
Kniegelenk. Deutsche militärärztl. Zeitschr. 1897.
Für die Verletzungen des Streckapparates vom Kniegelenk ist das
feinere anatomische Verhalten des Quadriceps und insbesondere die Neben¬
verbindungen der einzelnen Muskelbäuche von grösster praktischer Wichtigkeit.
Was den Ursprung der mittleren Muskeln, Vastus medialis und medius, an¬
betrifft, so kommen diese lediglich vom Oberschenkel, ebenso der Vastus late¬
ralis, doch hat derselbe Verbindungen mit dem vom Becken entspringenden
Tensor fasciae latae und der Ansatzstelle der Glutaei; der Rectus dagegen
nimmt seinen Ursprung vom Becken, er überspringt das Hüftgelenk und über¬
trägt seine Wirkung durch die Patella auf das Knie resp. die Tibia. Dieses
Verhalten ist für einen Theil der Verletzungen von grosser Bedeutung. Ebenso
wichtig sowohl für die Entstehung als auch für die Reparation der Verletzungen
ist die untere Insertion des Streckapparates. Der Vastus lateralis entsendet
ausser Nebenverbindungen zu Rectus und Vastus medius einen sehnigen Strang
an die Seite der Kniescheibe bis zur Seite des Bandes derselben, ausserdem
hängt er durch die Oberschenkelaponeurose mit derben sehnigen Fascienver-
bindungen zusammen, welche in zwei Abtheilungen zur Fascie der Tibia und
des Unterschenkels verlaufen. Aehnlich ist das Verhalten des Vastus medialis.
der gleichfalls eine, wenn auch schwächer um die Sehnen der geraden Muskel¬
bäuche herumgehende Verbindung mit den unteren Seitentheilen der Kniescheibe
und den oberen Theilen der Tibia hat. Durch diese Tbatsache wird erklärt,
dass in gewissen Fällen die Streckung noch möglich ist, selbst wenn der
Sehnenansatz an die Scheibe, wenn die Scheibe selbst oder das Ligamentum
patellae zerrissen ist.
In klinischer Hinsicht lassen sich zwei Gruppen von Rissverletzungen
unterscheiden. Die eine entsteht, wenn der activ gespannte Muskel gewaltsam
überdehnt wird. Gewöhnlich ist der Mechanismus so, dass ein Mensch ins
Fallen geräth; um sich aufrecht zu erhalten, streckt er die Kniee und wirft
den Oberkörper zurück. In diesem Moment erfolgt die Zerreissung, er stürzt
hin, im Liegen ist ihm jedoch Streckung in gewissem Grade möglich, die
Streckung ist nicht aufgehoben, sondern nur geschwächt, da die Seitenver¬
bindungen intact geblieben sind. Je tiefer der Riss erfolgt, desto mehr werden
Digitized by CjOOQle
Referate.
335
diese mitbeschädigt, doch ist bei diesem Mechanismus ihre Wirkung selbst bei
einem Bruch der Patella noch nicht aufgehoben. Therapeutisch ist hier die
Massage und Gymnastik von gutem Erfolg begleitet, durch die eine starke
Hypertrophie der Seitenverbindungen bewirkt werden kann.
Die zweite Gruppe umfasst die Verletzungen, welche bei extremster
Beugestellung des Kniees, also bei überdehntem Quadriceps entstehen, der
sich im Augenblick der Verletzung contrahirt. Hierbei reissen in der Regel
auch alle Seitenverbindungen zum Unterschenkel hin ein, abgesehen davon, dass
durch die Gewalteinwirkung eine Zertrümmerung der Patella entsteht. In
diesem Falle ist auch im Liegen keine Streckung mehr möglich, der Ver¬
unglückte ist völlig strecklahm. Massage und Gymnastik sind hier erfolglos;
die einzige richtige Therapie besteht in der sofortigen Naht der zerrissenen
Gewebe. Deutschländer-Würzburg.
Wissenschaftliche Mittheilungen des Instituts zur Behandlung von Unfallver¬
letzten in Breslau. Erstes Heft. Breslau, Eduard Trewendt 1897.
Nach einer kurzen Statistik zu Beginn der Mittheilungen kamen im
Berichtsjahr 1066 zur Aufnahme, wovon 918 zur Behandlung und 148 zur Be¬
gutachtung überwiesen wurden.
Im weiteren zeigt Bogatsch durch Mittheilung von 6 Fällen, dass der
Mensch, wenn er will und muss, selbst nach schwerer Schädigung seines Körpers
es allmählich wieder lernt, Leistungen wie ein Gesunder zu vollführen. Er
betont, dass dem Moment der Gewöhnung in der Unfallsrechtsprechung die
Stelle eingeräumt werden müsse, die ihm gebührt.
Franz konnte in einem als ünterschenkelfractur diagnosticirten Falle
durch das Röntgenbild nachweisen, dass es sich überhaupt um keinen Knochen¬
bruch handelte, sondern um eine Quetschung, und dass die angebliche Callus-
masse nur eine Auflagerung von Knochenmasse auf die vordere Schienbein¬
fläche, infolge einer abgelaufenen Knochenentzündung war.
Messner ergeht sich über die exacte Bestimmung von Verkürzungen der
unteren Extremität und beschreibt einen zu diesem Zwecke eonstruirten Apparat.
Riegner theilt einen Fall mit, in dem sich im Anschluss an ein
Trauma eine tuberculöse Kniegelenksentzündung entwickelte.
Die übrigen Arbeiten dürften die Leser dieser Zeitschrift weniger inter-
essiren. S i m o n-Wiirzburg.
Oelze, Beiträge zur Entstehung der arthrogenen Ganglien. Inaug.-Diss. Würz¬
burg 1896.
Verfasser gibt eine kurze Uebersicht über die verschiedenen Hypothesen,
die zur Erklärung der Entstehung arthrogener Ganglien aufgestellt sind, und
gibt auf Grund von 5 von ihm mikroskopisch untersuchten Fällen der Ledder-
hose’schen Theorie den Vorzug, nach der dieselbe durch gallertige, colloide
Degeneration des paraarticulären Bindegewebes entstehen. Die Degeneration
tritt an verschiedenen Stellen des Bindegewebes auf; es bilden sich Höhlen
und Cysten, die dann Zusammenflüssen; verdicktes Bindegewebe bildet die
Wand. Der Inhalt der Cysten bestand in den von Ledderhose untersuchten
Fällen aus homogenen Massen mit nur vereinzelten kernigen Elementen, ln
Digitized by
Google
336
Referat«.
einzelnen Cysten war deutlich zu erkennen, wie der Inhalt durch Colliquation
von Zellen, die in das Lumen hineinragten, entstand. Auch Bindegewehs-
balken, die in das Lumen vorsprangen, sah man deutlich myxomatös entartet
und zerschmolzen. Endothel liess sich nirgends nachweisen. Prädilections-
stelle dieser Ganglien ist die Dorsalfläche der Hand, doch finden sie sich auch
auf der Volarfläche der Hand, am Knie- und Fussgelenk. Gegenüber den arthro-
genen Ganglien sind tendogene sehr selten, ihr Ursprung ist dunkel; Verfasser
neigt der Ansicht zu, dass sie analog den arthrogenen Ganglien im paratendi-
nösen Gewebe entstehen. Deutschi an der-Würzburg.
Seyberth, Ein Fall von Epiphysenabsprengung am oberen Radiusende mit
consecutiver Entwickelung eines Cubitus valgus. Diss. inaug. Wies¬
baden 1896, Bergmann.
Seyberth theilt nach vorausgehender Besprechung der einschlägigen
Literatur einen Fall von Cubitus valgus mit, der nach einer vor 18 Jahren
erfolgten Epiphysentrennung am oberen Radiusende allmählich infolge einer
Wachsthumsstörung entstanden ist. Die Hauptmomente des jetzigen Befundes
sind Möglichkeit starker Hyperextension bei intactem Olecranon und Humerus.
In dieser Stellung ist der Aussenwinkel zwischen Ober- und Vorderarm gegen
die Norm um 20° verkleinert, und zwar Fällt diese Verkleinerung auf den
Theil des Winkels, welcher zwischen dem Vorderarm und der Gelenkachse
liegt. Der Radius ist um etwa 2 cm verkürzt. In Flexionsstellung verschwindet
die Deformität. Subjective Beschwerden bestanden nicht.
Im Anschluss an diesen Fall bespricht Seyberth noch die Epiphysen¬
abtrennungen im allgemeinen und die Epiphysenabtrennungen und Fracturen
am oberen Radiusende im speciellen unter Berücksichtigung der Casuistik und
der vorliegenden experimentellen Arbeiten. A1 sberg-Würzburg.
Tilanus, Over Sprengel’s Difformiteit (Med. Tydschrift voor Geneeskunde
1897, Deel II, Nr. 5).
Nach einem kurzen Ueberblick über die bisher veröffentlichten Fälle von
angeborenem Hochstand der Scapula bereichert Tilanus die Casuistik um
4 von ihm beobachtete Fälle. Sie betrafen sämmtlich die linke Schulter. In
einem operativ behandelten Falle war eine subscapuläre Exostose zweifellos
die Ursache, da nach der Entfernung der Exostose normales Verhalten der
Scapula eintrat. In 2 weiteren Fällen glaubte Tilanus ebenfalls eine Ex¬
ostose zu fühlen, wagt aber nach den von anderen Chirurgen bei der Operation
gemachten Erfahrungen diese Diagnose nicht mit Sicherheit zu stellen. Tilanus
glaubt, dass man den durch Exostosen verursachten Hochstand der Scapula
von dem zweifellos angeborenen trennen müsse, und schlägt für die Fälle
der ersteren Kategorie den etwas seltsamen Namen „Pseudo-Sprengel’sche
DifFormität* vor. Alsberg -Würzburg.
Trapp, Ein Beitrag zur Chirurgie des Rückenmarks. Münch, med. Wochenscbr.
Nr. 27 S. 731. (Aus der chirurgischen Klinik der Universität Greifswaid.)
Trapp berichtet über die Heilung einer durch einen intraduralen kalten
Abscess bedingten Compressionslähmung durch Eröffnung des Durasackea nach
Laminectomie.
Digitized by
Google
Referate.
337
Der 20jährige Patient verspürte nach einem Fall von einer Leiter 8 m
hoch aufs Gesäss sofort heftigen Schmerz zwischen den Schulterblättern und
war ausser Stande, zu stehen und zu gehen. Er bemerkte dabei an der schmer¬
zenden Stelle zwischen den Schulterblättern einen knochenharten Höcker, der
im Laufe der Zeit noch stärker vorsprang. Während er nach einigen Tagen
Bettruhe wieder ziemlich gut gehen und leichte Arbeit verrichten konnte, trat
allmählich, zugleich mit Zunahme des Höckers, eine Schwäche der Beine auf.
Als der Kranke 10 Monate nach dem Unfall in die Greifswalder chirurgische
Klinik eintrat, zeigte die Brustwirbelsäule einen stark vorspringenden Gibbus
vom 6.—8. Brustwirbel, mit der stärksten Prominenz am 7. Dornfortsatz. Es
bestand eine bedeutende Herabsetzung der groben Kraft beider Beine, ver¬
bunden mit spastischer Rigidität und sehr erhöhten Sehnenreflexen. Die Sensi¬
bilität für alle Empfindungsarten war völlig erhalten. Während einer Extensions¬
behandlung trat zunächst eine nicht unbeträchtliche Besserung der Beweglich¬
keit der Beine unter Abnahme der spastischen Erscheinungen ein. Bald darauf
kam es indess wieder zu einer stetigen langsamen Abnahme der activen Beweg¬
lichkeit bei intacter Sensibilität. 3 Monate nach der Aufnahme konnten nur
noch geringe Beugebewegungen der Knie- und Zehengelenke ausgeführt werden.
Dazu gesellten sich leichte abendliche Temperatursteigerungen. In der Annahme,
dass ein tuberculöser Vorgang sich innerhalb der Wirbelsäule abspielte, wo¬
durch eine allmähliche Compression des Rückenmarks bedingt würde, schritt
Helfe rieh zur Eröffnung des Wirbelkanales.
In rechter Seitenlage wurde durch einen bogenförmigen Schnitt vom
5.—8. Brustwirbel dorn ein grosser Hautmuskellappen mit seitlicher (linksseitiger)
Basis gebildet. Die Dornfortsätze des 7. und 8. Brustwirbels wurden mit dem
Elevatorium von den Weichtheilen, auch dem Periost, befreit und sodann mit
der Luer'schen Zange abgezwickt. Die hinteren Wirbelbögen, die jetzt frei
zugänglich waren, wurden ebenfalls von Periost gesäubert und dann durch
Eingehen mit der Liston’schen schneidenden Knochenzange durchtrennt und
abgehoben. Bei ihrer Entfernung liess man schmale Spangen der hinteren
Bögen stehen. Sofort nach Eröffnung des Wirbelkanales drängte sich der ge-
sammte Inhalt stark in das Fenster vor. Durch allmähliches Zurtickpräpariren
des periduralen Gewebes liess sich in 5 cm Ausdehnung die prall gespannte
und ödematös durchtränkte Dura bloss legen. Nach Eröffnung des Durasacks
in einer Länge von 3 cm drang ca. ein Theelöffel dicken gelben Eiters, ver¬
mischt mit käsigen Bröckeln, mit einem plötzlichen Ruck hervor. In die Oeff-
nung wurde ein schmaler Jodoformmullstreifen eingeführt und zum unteren
Wundwinkel herausgeleitet. Bei den folgenden Verbandwechseln wurde dieser
Streifen allmählich gelockert und Jodoformglycerin in die Tiefe eingegossen.
Unter schneller Verkleinerung der Wunde erfolgte eine stetige Besserung der
Lähmungserscheinungen, so dass der Kranke schon nach einem Vierteljahr
allein und ohne Stütze Treppen zu steigen vermochte und 7 Wochen später
mit einem einfachen Stützapparat entlassen werden konnte. Die Narbe war
völlig fest, nur tiefer Druck empfindlich, die Brauchbarkeit der Beine wie die
eines Gesunden.
Joachimsthal - Berlin.
Digitized by VjOOQle
338
Referate.
Denuce, Le Mal de Pott. Paris, Rueff et Comp. 1896.
Denuce gibt in dieser Monographie eine übersichtliche, zusammen¬
fassende Schilderung der Pott’schen Erkrankung, bei der die in der jüngsten
Zeit auf diesem Gebiete erschienenen Arbeiten volle Berücksichtigung finden.
Sämmtliche Kapitel, die pathologische Anatomie, die Aetiologie, das klinische
Bild, die Diagnose, und speciell die Differentialdiagnose, die Therapie haben
eine sorgfältige und klare Darstellung erfahren; die cervicale Spondylitis ist
in gesonderten Kapiteln abgehandelt. Hinsichtlich der Therapie empfiehlt
Denuce, nachdem er auch die anderweitigen gebräuchlichen Behandlungs¬
methoden besprochen hat, während des floriden Stadiums das Lorenz'sche
Gipsbett und im Stadium der Reconvalescenz das Sayre’sche Gipscorset. Die
Redression des Buckels verwirft er (die Calot’sche Veröffentlichung war zur
Zeit des Erscheinens der vorliegenden Monographie noch nicht erfolgt, der Ref.);
die Abscesse behandelt er entweder mit Injectionen von Jodoformäther, Jodo¬
formglycerin oder Naphthol. camph., oder er eröffnet sie breit, entfernt die Ab-
scessmembran und spült mit heissem Wasser aus. Bei leichten Rückenmarks¬
erscheinungen hält er die orthopädische Behandlung für ausreichend; in schwereren
Fällen empfiehlt er chirurgische Eingriffe, die besonders bei der Tuberculosis
vertebralis posterior gute Erfolge zeitigen können; die Beschreibung der ver¬
schiedenen Methoden der Rückenmarkschirurgie von Chipault, Freres, Me-
nard, Vincent etc. bilden den Schluss der Monographie.
Deutschländer - Würzburg.
Monod, Ch., Sur trois memoires relatifs: Aux moyens de corriger la bosse
du mal de Pott, d'apres trente-sept operations, et sur les moyens de la
prevenir, parM.Calot (de Berek); au traitement des gibbositesde diverses
origines par les ligatures apophysaires, par M. A. Chipault (de Paris);
au redressement brusque de la gibbosite dans le mal de Pott, etude
physiologique et experimentale, par M. V. Menard (de Berck). Bull, de
l’Acad. de Med. 8 Juin 1897 p. 695.
Monod bespricht die der Pariser Akademie der Medicin von Calot,
Chipault und Menard gemachten Mittheilungen über das Redressement des
spondylitischen Gibbus.
Calot’s Verfahren gestaltet sich so, dass vier kräftige Gehilfen, je zwei
an Armen und Beinen, in entgegengesetzter Richtung ziehen, während der
Operateur selbst seine Hände auf den Buckel legt und mit seinem ganzen
Körpergewicht einen Druck auf den Buckel ausübt, bis die den Gibbus bildenden
Wirbel in das Niveau der benachbarten Wirbel, ja noch über dasselbe hinaus
gelangt sind. Ein stärkeres, gewöhnlich dabei vernehmbares Krachen rührt von
dem gewaltsamen Auseinanderreissen benachbarter Wirbeltheile her. Vor dieser
Procedur werden gewöhnlich die nach hinten prominenten Dornfortsätze, even¬
tuell auch die darüber verdickte Haut entfernt. Ist der Buckel sehr alt, so
kann eine keilförmige Resection der Wirbelsäule indicirt sein, sei es, weil die
beiden Abschnitte der Wirbelsäule oberhalb und unterhalb des Gibbus durch
einen so festen Callus verbunden sind, dass dieser allen Anstrengungen, ihn
zu zertrümmern, widersteht, sei es, weil man fürchten müsste, einen zu weiten
Zwischenraum zwischen den Wirbeln zu erhalten, als dass dieser sich von selbst
Digitized by CjOOQle
Referate.
339
ausfüllen könnte. C a 1 o t hat eine solche keilförmige Resection 2mal zur Aus¬
führung gebracht. Nach dem Redressement wird dem Kranken ein immobili-
sirender Gipsverband angelegt, dessen gute Ausführung Calot für besonders
wichtig hält. Derselbe wird 2—3mal in Zwischenräumen von 3—4 Monaten
erneuert, worauf es dem Kranken gestattet wird, im Corset zu gehen. Calot
hat bis December 1896 das Redressement bei 37 Kranken vollftihrt, von denen
er 6 der Akademie vorstellte, stets mit unmittelbar gutem Resultat. Weder
ein Todesfall noch überhaupt ein Unfall hat sich dabei ereignet. Speciell
traten niemals Schädigungen des Markes auf; in einem Falle kam es zu
Zeichen von Schwere und Schwäche in den unteren Extremitäten, die jedoch
schnell wieder vorübergingen. Dagegen schwand einmal eine vor der Operation
vorhandene Lähmung nach dieser. Nur bei 2 Kranken zeigten sich 4 und
6 Monate nach dem Redressement Senkungsabscesse; dagegen verloren sich
bei 3 Kranken Abscesse in der Fossa iliaca, die vor dem Redressement be¬
standen, nach demselben von selbst. Bei einem der Kranken Calot’s bestand
die Deformität, deren Beseitigung auf dem geschilderten Wege gelang, schon
seit 47a Jahren. Das erzielte Resultat konnte allerdings bisher nur 4 Monate
lang controlirt werden.
Chipault vollführt nach einem dem von Calot angewandten ähn¬
lichen Redressement eine Silberligatur der dem Gibbus entsprechenden Dorn¬
fortsätze in Form einer g, die er für das beste Mittel erachtet, das erzielte
Resultat zu erhalten und die Heilung in dem gewünschten Sinne zu Stande
kommen zu lassen. Die von Chipault in 5 allerdings frischen und leicht
redressirbaren Fällen erzielten Resultate sind ausgezeichnete. In dem 6. Falle
bestand ein alter und beträchtlicher Buckel; doch ist die seit der Operation
verflossene Zeit zu kurz, um ein abschliessendes Urtheil über den Erfolg zu
gewinnen. Die Immobilisation geschieht nicht wie bei Calot im Gipsverbande,
sondern auf einer Platte mit Befestigungsvorrichtungen für die Achseln, Hüft-
und Kniegelenke. Auch Chipault, der übrigens gegenüber Calot mit Recht
die Priorität für das brüske Redressement der Spondylitis für sich in Anspruch
nimmt, erlebte bei Ausführung seines Verfahrens keinerlei Unfall.
Menard dagegen warnt auf Grund anatomischer Betrachtungen und
Redressementsversucbe an Präparaten von tuberculöser Spondylitis vor den
von Calot und Chipault angegebenen Verfahren. Auch aus seinen Beob¬
achtungen geht allerdings hervor, dass durch das Redressement force das Mark
nicht geschädigt wird. Dagegen beobachtete er in einem Falle das Platzen
eines Senkungsabscesses im Bereich eines Gibbus, dessen Inhalt sich am Lebenden
in das Mediastinum hätte ergiessen müssen. Besonders aber weist Menard
darauf hin, dass nach dem Redressement ein weiter Zwischenraum zwischen
dem oberen und unteren Segment der Wirbelsäule entsteht, der nach seinen
Erfahrungen eine Höhe von 2, 4, 6, ja mehr Centimeter erreichen kann. Wenn
dieser Spalt sich nicht schliesst, was nach allem, was man über dasPott’sche
Uebel wei8s, anzunehmen ist — das Periost ist zerstört, weder an der Ober¬
fläche der afficirten Wirbel, noch zwischen denselben finden sich Spuren von
Hyperostose —, so muss die Deformität auch nach dem Redressement sich
später wieder herstellen.
Auch Monod schliesst sich den von Mönard geäusserten Bedenken
Digitized by CjOOQle
340
Referate.
an und meint, dass unter allen Umständen das Redressement dann zu unter¬
bleiben hat, wenn die Deformität schon Jahre lang besteht und eine grössere
Anzahl von Wirbeln betroffen hat, wenn also ein grosser Zwischenraum zwi¬
schen den beiden oberhalb und unterhalb des Buckels belegenen Wirbel¬
abschnitten entstehen müsste. Andere Gefahren des Eingriffs bestehen nach
Monod in der Möglichkeit des Eintritts von Rupturen an den adhärenten
Meningen mit Hämorrhagieen in den Wirbelkanal, Verletzungen der Gefässe des
Mediastinums und der in der Brusthöhle belegenen Organe, Eröffnung von Ab-
scessen und tuberculösen Heerden mit der Gefahr der allgemeinen Miliartuber-
culose. Für Fälle, die 5, 6, 7 und 9 Monate bestehen, hält Monod jedenfalls
den Versuch des Redressements nach den Resultaten von Calot und Chi-
pault für berechtigt, während die ganze Frage noch Gegenstand fleissigen
Studiums bleiben muss, ehe ein definitives Urtheil gewonnen werden kann.
In der Discussion berichtet Pean über gute Resultate mit dem Calot-
schen Verfahren; namentlich war der Erfolg eclatant bei einem 15jährigen
Mädchen mit einem enormen, seit 5 Jahren bestehenden Gibbus der oberen
Partie der Wirbelsäule und einer Lähmung der unteren Extremitäten. Schon
eine Woche nach Vornahme des Redressements und Anlegung eines immobili-
sirenden Gipsverbandes besserte sich bei der vorher 2 Jahre in Rückenlage
ohne Erfolg immobilisirten Kranken die Lähmung, um schliesslich ganz zu
verschwinden. P6an empfiehlt, nach Abnahme des Gipsverbands noch Monate,
ja Jahre hindurch Corsets zu benutzen. Joachimsthal-Berlin.
Ducroquet, Contribution ä l’etude de la consolidation du rachis apres
redressement de la gibbosit£. Communication ä la section de Chirurgie,
XII. congres international.
Um den Heilungsvorgang nach der Calot’schen Operation zu studiren,
wurde die Röntgenphotographie benutzt. Es wurden Fälle photographirt, die
bereits seit 3—6 Monaten umhergingen. Dabei zeigte sich, dass die Höhlen,
die durch den tuberculösen Process im Wirbelkörper verursacht waren, ver¬
schwunden waren und an ihrer Stelle ein derbes festes Knochengewebe sich
vorfand. Die Wirbelbögen lagerten dachziegelartig über einander, die Wirbel¬
körper waren theils durch ihre Schwere, theils durch Muskelzug auf einander
gesunken, und durch den Contact war die Consolidation und Neubildung von
Knochengewebe bedingt worden.
Das Rückenmark passte sich den veränderten Lageverhältnissen vor¬
züglich an. Einige bestehende Paraplegieen, sogar solche älteren Datums,
heilten nach dem Redressement völlig aus; nur in sehr wenigen Fällen traten
nach demselben leichte Störungen von Seiten des Marks auf, die jedoch in
kurzer Zeit verschwanden. D eut schiänder -Würzburg.
Calot, Die Behandlung des Malum Pottii. Vortrag, gehalten in der chirurgi¬
schen Abtheilung des XII. internationalen medicinischen Congresses zu
Moskau. Wien. med. Presse 1897, Nr. 35, S. 1091.
Calot legt in der vorliegenden Mittheilung im Gegensatz zu seiner
anfänglich angegebenen Technik den Nachdruck beim Redressement des spondy-
litischen Gibbus auf zartes und vorsichtiges Vorgehen. Die Correction geschieht
Digitized by VjOOQle
Referate.
341
gegenwärtig in wenigen Secunden; sie erfolgt mit ausserordentlicher Zartheit
und besteht in einer Dehnung der Wirbelsäule mit einer Kraft, die je nach
dem Alter des Kranken 20—60 kg entspricht. Unmittelbar nach Ausführung
der Dehnung setzt ein Assistent seine Daumen auf beide Seiten des Gibbus
auf und übt einen Druck von 15 — 30 kg aus. Damit ist das Redressement
beendet, worauf der Verband angelegt wird. Auf diese Weise glaubt Calot
die Technik des Redressements dahin modificirt zu haben, dass dasselbe eine
vollständig unbedeutende, weder sofort noch späterhin von Zwischenfallen ge¬
folgte Verletzung darstellt. In frischen Fällen wird man damit ein vollständiges
Redressement, in veralteten und hochgradigen die einzige Correction erreichen,
die man wenigstens in der ersten Sitzung verlangen darf. Tn den letztgenannten
Fällen soll man den Eingriff in Zwischenräumen von 3—4 Monaten gelegentlich
des Verbandwechsels wiederholen. J o ach i m sthal-Berlin.
Malherbe, M. A., Mal de Pott datant de 8 ä 10 ans. Redressement de la
gibbosite par la methode de Calot. Mort le neuvieme jour. Autopsie.
Annales de Chirurgie et d’Orthopedie, Juillet 1897, S. 218.
Mal herbe hat bei mehreren Patientinnen das Calot’sche Verfahren
ohne ernsten Zwischenfall vollführt; bei einem Mädchen mit einem schon lange
bestehenden Buckel drohte Synkope, die zur Entfernung des Gipsverbandes
nöthigte, wonach die bedrohlichen Erscheinungen schwanden. Weniger glück¬
lich war Mal herbe bei einem 12 V?jährigen Knaben mit einem seit 8 Jahren
bestehenden Gibbus. Der Zug am Kopf und an den Extremitäten schien ohne
wesentlichen Erfolg zu sein; dagegen war der Druck auf den Buckel selbst
so wirksam, dass ein fast vollkommenes Resultat erzielt wurde. Während
des Aufsetzens des Kranken zur Vollendung des Gipsverbandes wurde der
Knabe blauroth, weshalb die Immobilisation ganz in Horizontallage erfolgen
musste. In den nächsten Tagen empfand der Kranke lebhafte Schmerzen im
Bereich der Wirbelsäule, sowie Schmerzen, Schwäche, Zittern und Ameisen¬
kriechen in Armen und Beinen. Die vorher abnorm starken Kniereflexe ver¬
schwanden fast gänzlich. Am 9. Tage erfolgte in einem Anfalle von Atemnot
trotz schneller Entfernung des Gipsverbandes der Tod.
Die Section ergab neben einem 5— 6 cm breiten Decubitus Über dem
Gibbus, welch letzterer sich nach Entfernung des Gipsverbandes wieder her¬
gestellt hatte, ein linksseitiges pleuritisches Exsudat von etwa 1 Liter Inhalt,
Adhäsionen zwischen Lungen und Brustfellraum, sowie Zeichen allgemeiner
Miliartuberculose. Erkrankt waren der 9. und 10. Brustwirbel, zwischen denen
sich ein kleiner Hohlraura fand, der eine enorme Ausdehnung annahm, falls
man an der Leiche das Redressement wiederholte. Die Wirbelsäule zeigte an
dieser Stelle eine veritable Fractur. In dem M. psoas fanden sich beiderseits
Eiter und käsige Massen. Eine mikroskopische Untersuchung des Marks soll
später vorgenommen werden. Joachimsthal -Berlin.
Vincent, Eugene, Sur le redressement des gibbosites pottiques. Lyon med.
Nr. 27 S. 323.
Vincent spricht sich auf Grund seiner bisherigen Erfahrungen gegen
dag Calot’sche Verfahren aus. Seine bei Anwendung des Redressements ge-
Digitized by CjOOQle
342
Referate.
wonnenen Resultate sind fast vollkommen wieder unter dem Gipsverbande ge¬
schwunden, während gleichzeitig an den der Deformität entsprechenden Dorn-
fortsätzcn Decubitus auftrat. Unterhalb des Gibbus entsteht eine mehr oder
minder starke Lordose; schliesslich findet man denselben Zustand wie früher.
So erging es Vincent mit 5 von 7 Patienten, an denen das Verfahren zur
Anwendung kam. Bei einer 4jährigen Patientin, bei der das Redressement ein
fast vollkommenes Resultat ergab, hatte sich, als man nach einem Monat den
Verband entfernen musste, die alte Deformität wieder hergestellt; ausserdem
bestand eine Retentio urinae und eine vorher nicht constatirte Lungentuber-
culose. In einer Beobachtung wurde der Verband nicht vertragen, ein anderes
Mal war das Resultat gleich Null; 3mal war es unmöglich, ein Redressement
zu vollführen, weshalb auch die Anlegung eines Gipsverbandes unterblieb.
In der Discussion zu Vincent’s Vortrag in der medicinischen Gesell¬
schaft zu Lyon warnt auch Olli er vor dem Calot’schen Verfahren und
empfiehlt seine Modification der Bonnet'schen Schiene zur Behandlung der
Spondylitis. Joachimsthal - Berlin.
Redard, P., Traitement des deviations de la colonne vertebrale et princi*
palement du traitement de la gibbosite du mal de Pott. Communication
faite ä la section de Chirurgie du XIl e congres international de medeciue.
Moscou, 19—26 Aoüt 1897.
Redard hat das Redressement des spondylitischen Gibbus bisher in
32 Fällen erfolgreich versucht, während 12mal bei stärker ausgesprochenen
Buckeln die Anwendung einer massigen Kraft nicht zum Ziele führte. Redard
unterwirft dem Redressement nur leichtere Fälle frischen Datums, bei denen
die Correctur in Narkose unter Anwendung der Extension mittelst eines eigenen,
am Kopf und an den Beinen mit messbarer Kraft wirkenden Zuges geliugt.
Allenfalls wird noch ein leichter Druck mit den Daumen zu beiden Seiten des
Gibbus hinzugefügt. Falls es sich herausstellt, dass eine solche mässige Kraft'
entfaltung in Narkose nicht zum Ziel führt, so wird unter Verzicht auf gewalt¬
sames Vorgehen von jedem weiteren Versuch Abstand genommen. Grosse
Senkungsabscesse, Affectionen des Herzens und der Lunge bilden Contra-
indicationen gegen das Redressement. So erlebte Redard keinerlei Unglücks¬
fall und erzielte, soweit dies bis jetzt beurtheilt werden kann, gute Resultate.
Joachimsthal - Berlin.
Helferich, Lieber Calot’s Verfahren zur Correctur der kyphotischen Buckel.
Zeitschr. f. prakt. Aerzte 1897, Nr. 10. Frankfurt.
Helferich erörtert in kritischer Weise das Calo t’sche Verfahren, in¬
dem er seine Bedenken darüber äussert, ob ein redressirter Gibbus jemals
wieder die notliwendige Stütze für die Wirbelsäule abgeben kann. Er glaubt,
dass man nur mit äusserster Vorsicht Vorgehen und niemals bis zum voll¬
ständigen Verschwinden eines irgendwie grösseren Gibbus redressiren solle.
Er hat die Operation in 2 Fällen mit befriedigendem Erfolg und ohne Zwischen¬
fälle ausgeführt. Nach der Operation legt er die Patienten zunächst auf eine
Rau ch f u ss'sche Schwebe, um ihnen dann später in Suspension ein Gipscorset
anzulegen. (Der Schwerpunkt des Verfahrens liegt nach unseren Erfahrungen
Digitized by CjOOQle
Referate.
343
in dem Anlegen des typischen Calot’schen Verbandes, ohne welchen das ge¬
wonnene Resultat nicht sicher genug fixirt werden kann. Ref.).
Alsberg - W ürzburg.
Lorenz, Adolf, Ueber das Brisement de9 Buckels nach Calot. Deutsche
med. Wochenschr. Nr. 35, S. 556.
Lorenz hat bei einem 10jährigen Knaben, der seit 3 Jahren an Spon¬
dylitis dorsalis superior und seit etwa einem Jahre an Parese beider Beine
litt, das Calot’sche Verfahren zur Anwendung gebracht.
Der ziemlich circumscripte spitzwinklige Gibbus nahm die Gegend zwi¬
schen dem oberen Rande und der unteren Spitze der Scapula ein. Derselbe
war im Verlaufe von ca. 2 Jahren allmählich entstanden und seit 1 Jahre sta¬
tionär. Druckempfindlichkeit fehlte, überhaupt hatte Patient niemals über be¬
sondere Schmerzen geklagt. Eiterung war niemals vorhanden gewesen. Vor
Beginn seiner Wirbelsäulenerkrankung hatte Patient eine linksseitige Gonitis
fungosa durchgemacht, welche unter ambulatorischer Behandlung in guter
Stellung und ausreichender Beweglichkeit zur Heilung gelangt war. Ohne
Schmerzempfindung hatte sich im letzten Jahre eine langsam zunehmende
Schwäche der Beine herausgebildet. Der Patellarsehnenreflex war erhöht,
Fussklonus vorhanden, die Sensibilität vollkommen normal; Patient konnte,
auf dem Rücken liegend, die Beine anziehen und wieder ausstrecken, vermochte
sie aber nicht aufzuheben und konnte nicht stehen. Blase und Mastdarm
functionirten tadellos.
Das Redressement wurde streng nach der Calot'schen Vorschrift aus¬
geführt und bot durchaus keine Schwierigkeiten. Die Streckung des Gibbus
unter der lediglichen Einwirkung der forcirten Extension ging überraschend
gut von statten und die aufgelegten Hände drückten den Gibbus unschwierig
in das normale Niveau und selbst darunter. Trotz des mehrjährigen Bestehens
der Affection war in diesem Falle gewdss keine knöcherne Ankylosirung der
auf einander lastenden Wirbelkörper eingetreten, sonst hätte das Redressement
einen ganz anderen Widerstand bieten müssen. Die Bandagirung des Patienten
wurde bei verticaler Suspension und fortdauernder Narkose mit grösster Vor¬
sicht ausgeführt. Al9 Patient aus der Narkose erwachte, constatirte man eine
complete Paralyse beider Beine; die früher intacte Sensibilität war
auf ein Minimum herabgesetzt. Dazu gesellte sich am folgenden Tage Läh¬
mung der Blase und des Mastdarms. Der Verband w T urde sofort ent¬
fernt, der Kranke in ein schon vorher von ihm benutztes, mit Kopfschwebe
versehenes Gipsbett gelagert. Blasen- und Mastdarmlähmung besserten sich im
Verlaufe einiger Wochen, aber die Paraplegie besteht zur Zeit der Publication,
2 Monate nach der Operation, noch unverändert fort. Der Patient klagte
während der ersten 8 Tage nach dem Brisement über die heftigsten Schmerzen
im Rücken. Der Gibbus, auf dessen Höhe, trotz vorsichtiger Unterpolsterung,
ein tiefer Decubitus entstanden war, hat sich reproducirt, ist aber gegen
früher etwas abgeflacht.
Lorenz ist zwar weit davon entfernt, aus dieser einen schlimmen
Erfahrung irgend welche allgemeinen Schlüsse abzuleiten, doch geht aus der¬
selben wohl unzweifelhaft hervor, dass das Brisement, zum mindesten eines
Digitized by
Google
344
Referate.
dorsalen Gibbus, keineswegs ein so absolut harmloses Verfahren ist, wieCalot
dies proclamirt. Joachimsthal -Berlin.
Bilhaut, M., Mal de Pott. — Reflexions. — Etat de la question. — Desi¬
derates. — Conclusions. Annales de Chirurgie et d’orthopedie. Juillet 1S97,
S. 193.
Bilhaut empfiehlt auf Grund von Erfahrungen an 50 Patienten des
Höpital international für noch nicht vorgeschrittene Fälle von Spondylitis das
Calot’sche Verfahren, dem er dieselbe Berechtigung zuerkennt wie dem Re¬
dressement bei Gelenktuberculosen.
Die Entstehung von Decubitus unter dem Gipsverbande lasst sich durch
vorherige Resection der Dornfortsätze an der afficirten Stelle vermeiden.
Ausserdem empfiehlt Bilhaut aus hygienischen Rücksichten, den Verband
seitlich aufzuschneiden, so in eine vordere und hintere Hälfte zu zerlegen und
später wieder mit Hilfe von Gipsbinden zu schliessen. Sobald in der Narkose
durch Zug an dem Kranken und Druck auf den Buckel kein Ausgleich statt¬
findet, soll man, um Fracturen zu vermeiden, von weiteren Versuchen abstehen.
Ebenso sind ausgesprochene Lungentuberculosen, sowie amyloide Degenerationen
von Nieren, Leber u. dergl. mehr Contraindicationen. Beschränkt man sich auf
noch verhältnissmässig frische Fälle, so wird man bei Anwendung des Verfahrens
volle Befriedigung finden. J o ac hi in s t li al- Berlin.
Jonnesco, Thomas (de Bucarest), La reduction brusque des gibbosites
pottiques. Communicatioii faite ä la section de Chirurgie du Xll e congres
international de medecine. Moscou, 19—26 Acoüt 1897.
Jonnesco hat 13mal das Redressement des spondylitischen Gibbus
nach dem Vorgänge von Calot mit einigen eigenen Modificationen zur Aus¬
führung gebracht. Er verzichtet dabei stets auf die Resection der Processus
spinosi, die er für eine nutzlose Complication des Eingriffs erachtet, die in¬
sofern nicht ganz unbedenklich ist, als die spätere Consolidation der Wirbel¬
säule, die nach den Untersuchungen von Regnault theilweise durch Ver¬
schmelzung der Wirbelbögen und Fortsätze geschieht, auf diese Weise leiden
kann. Den manuellen Zug an den Armen und Beinen ersetzt Jonnesco
durch Flaschenzüge, die mittelst geeigneter Befestigungsvorrichtungen am
Kopf und an dem Becken angreifen. Man ist bei diesem Vorgehen auf weniger
Assistenz angewiesen, vermeidet die ruckweisen Tractionen und kann die Zug¬
wirkung auch während der Anlegung des Gipsverbandes, der ohne Watte¬
polsterung lediglich über einem Flanelljäckchen angelegt wird, andauern lassen.
Die Durchschnittskraft, die dabei zur Anwendung kam, betrug 40—50 kg,
80 kg wurden niemals überschritten.
Das Alter der von Jonnesco redressirten Kranken schwankte zwischen
27z—22 Jahren, das Bestehen des Buckels bei diesen zwischen 6 Monaten und
8 Jahren. Auch bei dem 22jährigen Patienten mit seit 8 Jahren bestehendem
Gibbus liess sich das Verfahren mit Erfolg zur Anwendung bringen. Wegen
einer intercurrenten Laryngitis mit Glottisödem wurde 25 Tage später die
Tracheotomie nöthig. Nach der zu dieser nöthigen Abnahme des Gipsver¬
bandes konnte sich Jonnesco davon überzeugen, dass das Resultat anhaltend
Digitized by Google
Referate.
345
geblieben war; ebenso war auch noch 8 Monate später die Haltung eine gute,
und der Kranke, der früher nur gebückt, die Hände auf die Oberschenkel ge¬
stützt, sich vorwärts bewegen konnte, im Stande, mit Leichtigkeit in gerader
Haltung zu gehen.
An üblen Zufällen erlebte Jonnesco einen Chloroformtodesfall, der
ihn veranlasst«, später nur bei dem eigentlichen Redressement Chloroform zu
geben, während der Anlegung des Gipsverbandes aber darauf zu verzichten;
einen Todesfall nach 48 Stunden, für den die Autopsie keinerlei Erklärung
zu geben vermochte, endlich einen Todesfall 8 Tage nach dem Redressement
an Bronchopneumonie. Eine in einem Falle nach dem Eingriff eingetretene
Lähmung schwand allmählich wieder.
Bei 3 Kranken, denen der Verband 3 Monate nach dem Redressement
abgenommen wurde, war der Gibbus wesentlich kleiner geworden als zuvor.
Diese Besserung blieb in einem Falle anhaltend, während bei den beiden an¬
deren Patienten noch eine Neigung zur Wiederausbildung des Gibbus bestand.
Nur einmal fand sich nach Abnahme des Verbandes ein leichter Decubitus.
Joachimsthal - Berlin.
Reiner, Max, Bemerkungen zum modellirenden Redressement der Halswirbel¬
säule. Wiener klin. Wochenschr. Jahrg. 1893, Nr. 43.
Mittheilung eines infolge des modellirenden Redressements der Hals¬
wirbelsäule bei Caput obstipum eingetretenen Exitus letalis. Der tödtliche
Ausgang wurde, wie sich an der Leiche experimentell nachweisen liess, durch
Verlegung des Blutkreislaufs in den Halsgefässen (Carotiden) hervorgerufen.
Verfasser räth deshalb, das Redressement bei Erwachsenen nur etappenweise
vorzunehmen. S i m o n - Wü rzburg.
Calot, Note sur la correction operatoire des scolioses graves. Paris. Masson
et Cie.
Zur Redression skoliotischer Verkrümmungen, die trotz sorgsamer Be¬
handlung keine Neigung zur Besserung zeigen und sich eher noch verschlim¬
mern, schlägt Calot ein Operationsverfahren vor, das dem bei der Redression
spondylitischer Buckel ausgeübten analog ist. Der Patient wird chloroformirt;
am Kopf wird um Hinterhaupt und Kinn eine Extensionsschlinge angebracht,
deren freie Enden zwecks besserer Handhabe an einen Stab geknüpft werden
können, und die später zum Theil mit in den Verband hineingenommen wird.
Dann wird stetig, allmählich immer stärker werdend, an Kopf, Armen, Becken
und Beinen extendirt, so lange, bis keine Veränderung in der Contiguration des
Rückens mehr eintritt. In dem beschriebenen Falle wandte Calot eine Extensions¬
stärke von 100—115 kg, dynamometrisch gemessen, an. Sobald das Maximum
der Extension erreicht ist, wird der skoliotische Buckel gut mit Wattelonguetten
gepolstert, darüber folgt um den ganzen Thorax herum ein circulärer Watte¬
verband, und nunmehr wird der Buckel durch allmählich ansteigenden Druck
redressirt. Während Druck und Extension andauern, wird um den Thorax ein
circulärer Gipsverband gelegt. Ist dieser erhärtet, so folgt der Verband von
Hals und Kopf. Man kann sich diesen dadurch erleichtern, dass man die hori¬
zontale Lagerung des Patienten aufgibt und denselben in eine Suspensions-
Digitized by CjOOQle
346
Referate.
schwinge bringt; die Extension wird jedoch auch in diesem Falle bis zur
völligen Erhärtung des ganzen Verbandes fortgesetzt. Sollte derselbe um den
Thorax zu fest liegen und die Respiration behindern, so schneidet man ihn in
der Medianlinie auf und legt einige neue Bindentouren darüber. Dieser Ver¬
band muss 4—6 Monate liegen bleiben. Ist eine vollständige Correction in
dieser Zeit noch nicht erreicht, so kann man bei der Abnahme des Verbandes
die Redression wiederholen.
Der Veröffentlichung sind 9 Abbildungen beigefügt, aus denen die ein¬
zelnen Phasen der Operation und die Stellungen der Assistenten ersichtlich
sind. In dem beschriebenen Falle handelt es sich um ein 14jähriges MädcheD.
bei dem die skoliotische Verkrümmung im 6. Jahre bemerkt wurde, die sich
aber trotz unausgesetzter Behandlung in hohem Grade verschlimmerte. Vor
der Redression mass die Patientin 1,14 cm, nach derselben 1,25 cm.
Deu tsc hl an der-Würzburg.
Hirsch, Die Entstehung der angeborenen Hüftverrenkung. Virchow’s Archiv
1897, Bd. 148.
Alsberg, Einige Bemerkungen zur neuesten Theorie der Entstehung ange¬
borener Hüftluxationen. Münchener medicinische Wochenschrift 1897,
Nr. 37.
Verfasser der erstgenannten Arbeit glaubt für die Entstehung angeborener
Hüftverrenkungen eine Theorie gefunden zu haben, die alle in Betracht kom¬
menden Umstände in einfacher und ungezwungener Weise erklärt und mit
keiner Thatsnche in Widerspruch steht. Wie Roser, Dupuytren etc. nimmt
er eine Raurubeengung im Uterus und eine Flexionsstellung des Oberschenkels
an; neu fügt er hinzu, dass das proximale Oberschenkelende durch die 9pe-
cifische Wachsthumsenergie des Femur über den Pfannenrand getrieben werde,
welcher die Stelle des geringsten Widerstandes bilde. Eine „primäre Keimes¬
variation“ könne nicht vorliegen, da diese Anschauung durch die Thatsache
widerlegt werde, dass die nach gelungener, unblutiger Reposition unter dem
Einfluss der functioneilen Belastung bis dahin verkümmerte Pfanne zu einer
normalen aus wächst.
Diese Theorie dürfte wohl als eine verfehlte theoretische Speculation zu
betrachten sein. Gegen sie wendet sich der Verfasser der zweiten Arbeit. Die
Thatsache, dass bei der congenitalen Hiiftluxation der Femurkopf stets über
den oberen bezw. oberen hinteren Pfannenrand luxirt ist, steht in directera
Widerspruch zu der Theorie, nach welcher der Kopf über den unteren bezw.
unteren hinteren Pfannenrand luxirt sein müsste. Die Bedeutung der Lorenz*
sehen Reposition ist überschätzt; das Prävaliren des weiblichen Geschlechtes
vor dem männlichen findet keine genügende Erklärung, ebenso wenig wie der
zweifellose Einfluss, den die Vererbung bei dieser Affection spielt.
Deutschi ander -Würzburg.
Staffel, Ein Fall von traumatischer Spondylitis. Monatsschrift für Unfall¬
heilkunde 1897, Nr. 7.
Staffel gibt die Krankengeschichte eines 26jährigen Mannes. der
vor 8 Jahren aus einer Höhe von 2 bis 2 l ji m zuerst auf die Füsse und dann
Digitized by CjOOQle
Referate.
347
hintenüber auf den Rücken gefallen war. Keine Bewusstlosigkeit. Nach 10 Mi¬
nuten vermochte er mühsam nach Hause zu gehen. Nach 2 Tagen konnte er
unter Schmerzen und mit Pausen einen 2stündigen Weg zum Arzt und zurück
gehen. Er blieb 1 Jahr lang wegen heftiger Schmerzen im Rücken arbeits¬
unfähig, ohne dabei bettlägerig zu sein; seither ist er im Stande, leichte häus*
Hohe Arbeit zu verrichten. Seit dem
Unfall sieht er blass und kränklich aus, Fig. 1.
wanrend seine Gestalt allmählich kleiner
wurde. Die zur Zeit bestehende De¬
formität wird durch 3 Abbildungen so
trefflich illustrirt, dass wir es für zweck¬
mässig halten, dieselben im Original
wieder zu geben. Fig. 2 ist nach den
mit dem Zand ersehen Rumpfmess-
apparat gewonnenen Messpunkten ge¬
zeichnet, Wirbelsäule und Becken nach
Construction eingetragen. Fig. 3 gibt
vergleichsweise die normalen Verhält¬
nisse wieder. Der Verletzte hat einen
Gibbus, der von den Lendenwirbeln und
dem Kreuzbeine gebildet wird, und dessen
Höhe der Dornfortsatz des fünften Len¬
denwirbels (V) darstellt. Staffel nimmt
an, dass es sich um das K ü m m e l’sche
Krankheitsbild einer traumatischen Spon¬
dylitis handelt, bei dem die Körper
eines oder mehrerer Lendenwirbel einen
Erweichungsprocess durchgemacht haben
und nach vorn zusammengesunken sind.
Dem Gibbus entspricht eine starke
compensatorische Rückenlordose, deren
Scheitelpunkt am zehnten Lendenwirbel
liegt, und welche wiederum ein flügel¬
förmiges Abstehen der Schulterblätter
zur Folge hat. Durch Herabsinken des
Brustkorbes hat sich äusserlich eine tiefe
Hautfalte gebildet, in Verlauf deren
/lor nViPrfl Rprlronpfln(1 flpiiptptnnfinHli/'li
ist. Ebenso ist der rechte Gelenkfort¬
satz des vierten Lendenwirbels druckempfindlich. Die Extremitäten der rechten
Körperseite sind muskelschwächer als links. Patient ist in der Ruhe ziemlich
schmerzfrei. Was die Diagnose betrifft, so schliesst Staffel eine Spondylitis-
tuberculosa wegen des Mangels aller übrigen Zeichen der Tuberculose und
wegen der seit 8 Jahren bestehenden Schmerzhaftigkeit aus. Gegen eine
Fractur spricht das Verhalten des Kranken in der Zeit direct uncl 2 Tage nach
der Verletzung. Zur Therapie schlägt Staffel einen zweckmässigen Stütz¬
apparat vor. Al sbe rg-Würzburg.
Digitized by
Google
346
Refm. •
schwinge bringt; die Extension wird g
völligen Erhärtung des ganzen Verband •-
Thorax zu fest liegen und die Respirme
der Medianlinie auf und legt einige re
band muss 4—6 Monate liegen blcihm
dieser Zeit noch nicht erreicht, so kmm
die Redression wiederholen.
Der Veröffentlichung sind 9 A 1 -
zelnen Phasen der Operation und <
sind. In dem beschriebenen Falle ln
bei dem die skoliotische Verkrümm ,
aber trotz unausgesetzter Behänd!
der Redression mass die Patientin 1
Hirsch, Die Entstehung der mm
1897, Bd. 148.
Alsberg, Einige Bemerkung>m
borener Hüftluxationen.
Nr. 37.
Verfasser der erstgenani/
Hüftverrenkungen eine Theori
menden Umstände in einfa<-i
keiner Thatsache in Widerspim
er eine Raumbeengung im F*
an; neu fügt er hinzu, d
cifische Wacbsthumsenergm
welcher die Stelle des gm:,
Variation“ könne nicht v<>
widerlegt werde, dass di<
Einfluss der functioneilen
normalen auswächst.
Diese Theorie dürft
betrachten sein. Gegen
Thatsache, dass bei d» r
den oberen bezw. obm
Widerspruch zu der T!
unteren hinteren Pfa Hin¬
sehen Reposition ist ü 1
vor dem männlichen tim
zweifellose Einfluss, dm.
Staffel. Ein Fall v-
heilkunde 1897,
Staffel gibt
vor 8 Jahren aus ein
Digitized by
Google
Referate.
349
beobachtungen kritisch gesichtet und zusammengestellt hat, die besonders im
letzten Jahrzehnt auf anatomischem und therapeutischem Gebiet gemacht wurden.
Dazu kommt die reiche eigene Erfahrung, welche Dolega sowohl auf dem
Gebiet der pathologischen Anatomie, als auch ganz besonders der Aetiologie
und Therapie bei dem grossen Material seiner Anstalt zu sammeln Gelegen¬
heit hatte, und welcher er allerorten Ausdruck gibt, und ausserdem eine aus-
giebigeBerücksichtigung der grundlegenden Forschungsergebnisse älterer Autoren.
Bei der grossen Reichhaltigkeit des Gebotenen ist es selbstverständlich nicht
möglich, auf alle Einzelheiten näher einzugehen. Im anatomischen Theile
möchte ich nur besonders hinweisen auf die genaue Beschreibung eines Prä¬
parates frühkindlicher Skoliose, ohne rachitische Grundlage, welches von einem
27 *jährigen Kinde stammt, und bei welchem bereits sehr auffallende Torsions¬
erscheinungen an den Wirbelkörpem bei geringen Inflexionssymptomen an den¬
selben und nur geringen Veränderungen an den Wirbelbögen bestanden. Im
Kapitel über die Aetiologie tritt er für eine Trennung derjenigen Fälle ein,
welche man bisher unter dem Begriff der habituellen Skoliose zusammenfasste.
Während er diejenigen Fälle, bei denen bestimmte charakteristische Verände¬
rungen am Knochensyetem im Vordergrund der klinischen Symptome stehen,
als „primär rachitisch-constitutioneile“ bezeichnet, trennt er unter dem Namen
der „secundär constitutioneilen Skoliose*, oder „constitutioneilen“ kurzweg, von
der habituellen Skoliose diejenigen Fälle ab, welche vorläufig nicht näher be¬
kannte und zu specificirende, allgemeine Störungen des Gesammtstoffwechsels
zu prädisponirenden Grundlagen haben. Den thatsächlichen Anhalt zur Dia¬
gnose der constitutionellen Skoliose bieten für Dolega sowohl Anamnese wie
objectiver Befund. In ersterer spielen häufige Gastrointestinalstörungen, Stö¬
rungen im Verlauf der Dentition, scrophulöse Erscheinungen, Chlorose, Heredi¬
tät und schwere Erkrankungen der Mutter während der Gravidität eine ent¬
scheidende Rolle, während beim objectiven Befund Scrophulose, allgemeine
Körperschwäche, Anämie, Abnormitäten der Zähne, Drüsenschwellungen und
Verdauungsstörungen ausschlaggebend sind. Die constitutionellen Formen sind
in der Regel die schwereren und führen früh zu bleibenden Veränderungen
der Knochenform. Auch die abnorme Fettleibigkeit junger Mädchen im Puber-
tatsalter rechnet er unter die Ursachen der constitutionellen Form. Der Häufig¬
keit nach rechnet Dolega unter die habituelle Form 38,7°/o, unter die con-
stitutionelle 46,1% sämmtlicher von ihm beobachteten Skoliosen.
Der therapeutische Theil der Arbeit enthält eine vortreffliche Schilde¬
rung der gymnastischen Behandlung und der Behandlung mittelst portativer
und stehender Apparate, wobei naturgemäss der Beschreibung der vom Ver¬
fasser erfundenen, resp. verbesserten Apparate ein grösserer Raum gewidmet
ist. Die Technik der Anfertigung einzelner Lagerungsapparate und Corsete
ist ausführlich geschildert. Sämmtliche Theile der Arbeit sind mit vortreff¬
lichen Abbildungen versehen» die zum grössten Theil Originalien sind. Frei¬
lich darf zum Schluss nicht verschwiegen werden, dass ein sehr wesentlicher
Theil der Skoliosenfrage, die Skoliosenmessung, so gut wie gar nicht in der
Monographie berührt wird.
A1 s b e r g-Wü rzburg.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 23
Digitized by
Google
350
Referate.
Tausch, F., Die moderne Behandlung der congenitalen Hüftluxationen mittelst
der unblutig mechanischen Behandlung nach Lorenz. Münchener
medicinische Wochenschrift Nr. 28 S. 765.
Tausch weist bei Besprechung des Lorenz’schen unblutigen Ver¬
fahrens der Behandlung der angeborenen Hüftluxation auf den Werth der
Röntgenaufnahmen für die Controlle der Behandlung und Heilung hin. Trotz
dieser modernen Hilfsmittel für das Studium und die Erkenntniss der Hüft¬
gelenksverhältnisse wird indess erst eine jahrelange Beobachtung über die
definitiven Resultate der L o r en z’schen Behandlungsmethode Aufklärung schaffen
können. Während das Verfahren selbst nur bei jüngeren Kindern in Anwen¬
dung zu ziehen ist, hat Tausch bei einer 17jährigen Patientin mit einseitiger
Luxation und hochgradiger Verschiebung des Kopfes nach oben den Kopf durch
forcirte Schraubenextension allmählich nach unten bis in das Pfannenniveau
herabgeholt und hier mittelst eines Schede’schen Abductionsschienenapparates
fixirt. Schon nach wenigen Monaten hatte sich der Kopf hier ein genügend
festes Lager gebildet, so dass beim Versuche, ohne Apparat zu gehen, keine
Verschiebung mehr erfolgt. Ob dieser Zustand ein bleibender sein wird, bleibt
abzuwarten.
In der sich an Tauscht Vortrag im Aerztlichen Verein München an¬
schliessenden Discussion (s. Münch, med. Wochenschr. Nr. 28 S. 791) äussert
Anger er Bedenken, ob die neue Methode viel erreichen wird. Seine Resul¬
tate mit der blutigen Reposition waren anfangs günstige, die Patienten be¬
fanden sich indess späterhin nicht besser, sondern schlechter als zuvor; ob die
unblutige Methode von Lorenz Besseres zu leisten vermag, muss zweifelhaft
erscheinen. Lange hat 12mal Gelegenheit gehabt, das Lorenz'sche Ver¬
fahren auszuüben. 9mal gelang es, den Kopf an den Ort der rudimentären
Pfanne zu verpflanzen und dort dauernd festzuhalten; bei 3 Fällen war eine
Reposition im idealen Sinne unmöglich. Einmal, bei einem 16jährigen Mäd¬
chen, musste man sich damit begnügen, die hintere Luxation in eine vordere
umzuwandeln; 2mal konnte Lange nur den Kopf an der hinteren Darmbein-
Schaufel um einige Centimeter herabziehen und an dieser Stelle durch einen
Verband fixiren. Trotzdem steht auch in diesen Fällen der Kopf — 9 resp.
10 Monate nach der Operation — genau an der Stelle, an die er verpflanzt
wurde, so dass man den Eindruck gewinnt, als ob auch bei diesen 8 Fällen sich
eine Art knöcherner Pfanne gebildet hat. Auch Lange glaubt, dass sich erst
nach Verlauf von Jahren die Endresultate der unblutigen Behandlungsmethode
werden feststellen lassen. Jo achimsthal-Berlin.
Knauer, Emil, Beitrag zu den congenitalen Luxationen im Kniegelenk.
Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie Bd. 5 Ergänzungsheft.
Bei dem von Knauer beobachteten neugeborenen Mädchen bestand eine
doppelseitige Luxation der Tibien nach vorne. Die Hüftgelenke des Kindes
befanden sich in leichter Flexions- und Adductionsstellung, die Unterschenkel
bildeten mit den Oberschenkeln im Knie einen nach vorn offenen Winkel, rechts
von 135°, links von 140°. Die Hyperextension liess sich rechts leicht bis zu
115°, links bis zu 120° steigern. Im Sinne der Beugung war die Bewegung
Digitized by VjOOQle
Referate.
351
der Unterschenkel unter leichtem Druck nur bis sur Geradstreckung der Beine
möglich, aus welcher Stellung dieselben nach Aufheben des Druckes in die
Hyperextensionsstellung zurückfederten. £s bestand gleichzeitig eine ziemlich
beträchtliche, seitliche Beweglichkeit in den Kniegelenken, sowohl im Sinne
der Adduction, als auch besonders in jenem der Abduction. Die beiden Füsse
waren ziemlich hochgradige Plattfüsse; als weitere Complication ist eine etwas
verringerte Beweglichkeit in den Hüftgelenken zu erwähnen, indem sowohl die
vollkommene Streckung, als auch die Abduction etwas eingeschränkt erschien.
Das Kind war im übrigen wohlgebildet, erwähnenswerth erschien nur die eigen¬
tümliche Form des Kopfes, welcher durch seine auffallende Breite, das starke
Vorspringen der Tubera parietalia und die ganz besonders starke Entwickelung
des Hinterhaupthöckers auffiel. Beigefügt ist der Arbeit auch eine mittelst
Röntgenstrahlen aufgenommene Abbildung des rechten Beines, die deutlich
den Grad der Verschiebung der Gelenkenden gegen einander, ferner das sichere
Vorhandensein der Patella erkennen lässt.
Eine angefügte Casuistik enthält 45 angeborene Luxationen im Knie¬
gelenk. Joachimsthal-Berlin.
May dl, Karl, Coxa vara und Arthritis deformans coxae. Wiener klinische
Rundschau 1897, Nr. 10—12.
May dl berichtet über 2 Fälle von mit Resection des Gelenkes behan¬
delter Arthritis deformans coxae bei jugendlichen Individuen (15- und 18jährigen
Kranken) und macht auf die Aehnlichkeit dieser Affection mit Coxa vara auf¬
merksam, indem er gleichzeitig zwei Beobachtungen von thatsächlicher vor
der Operation und durch das Präparat nachweisbarer Coxa vara mittheilt.
Es finden sich sowohl in der Anamnese als im Status zahlreiche Aehn-
lichkeiten, welche eine Verwechselung der einen Affection mit der anderen ver¬
schulden könnten. Der manchmal traumatische, ein anderes Mal spontane
Anfang des Leidens; der Beginn desselben zumeist in dem sogen, adolescenten
Alter; die auffallend grosse Statur und der etwas ungeschlachte Knochenbau
der Patienten; das Einsetzen mit einem Stadium, während welchem das Gelenk
schmerzhaft, die Gelenksfunction wesentlich, ja bis zum völligen Aufhören ge¬
hemmt ist; die sich in der überwiegenden Anzahl der bisher beobachteten
Fälle einstellende fehlerhafte Lage des Gelenks in massiger Flexion und ebenso
massiger Ab- und Adduction, aber stets in ausgesprochener Rotation nach
aussen; die fehlende, manchmal mässige, 1—1,5 cm, ein anderes Mal be¬
deutendere bis 4 cm und auch darüber betragende Verkürzung des Beines; der
damit einhergehende Trochanteren hoch stand; das winkelförmige Vorstehen des
Trochanters; die Atrophie der Hüfte und des Oberschenkels: alles dieses sind
Merkmale, welche beiden Affectionen zukommen.
In Bezug auf die Unterscheidung beider Affectionen macht May dl auf
einen Vergleich der beiden Hälften der Hüftenperipherie aufmerksam, der
insofern von Bedeutung ist, als in der ersten Phase der Entwickelung einer
Coxa vara, wo der schiefe Ansatz des Schenkelhalses an den Schaft sich in
einen rechtwinkligen umwandelt, sehr wohl an eine Verbreiterung der kranken
Hüftenhälfte, horizontal um den Trochanter gemessen, gedacht werden könnte.
Bei der fortschreitenden Consumption der Kopfepiphyse bei Arthritis deformans
Digitized by VjOOQle
352
Referate.
dürfte ein Stadium der Zunahme der kranken Hüftenhälfte kaum jemals Vor¬
kommen. Dieselbe dürfte also auch in den Anfangsstadien dieser Erkrankung
kaum je vergrössert sein, sondern wegen des erwähnten Umstandes und wegen
der offenbar nicht selten einhergehenden Pfannenwanderung nach innen und
oben, gleich von Anfang an vermindert sein. Dieses Merkmal der Unterschei¬
dung wird aber sofort unverwendbar, sobald ein Fall von Coxa vara bereite
in jenes Stadium hinübergetreten ist, wo sich wieder der rechte Winkel der
Halsimplantation in einen scharfen umzuwandeln beginnt oder wo sich der
Kopf dem Trochanter minor zu nähern anfängt. Auch der Nachweis der Zeichen
der Arthritis deformans an dem Gelenkkopf ist nicht absolut entscheidend, da
sich auch bei einem der von May dl beschriebenen Fälle von Coxa vara an
dem nach abwärts abgebogenen Kopfe unverkennbare Anfänge von Knochen¬
wucherungen bemerkbar machten, welche an dem herausgeschnittenen Präpa¬
rate, um so mehr daher an dem durch die Weichtheile durchgetasteten Kopfe,
sehr leicht den Eindruck von Arthritis deformans hervorbringen konnten und
thatsächlich auch hervorbrachten. Andererseits weist May dl darauf hin, dass
die Knickungsstelle des Halses einen sehr deutlichen Eindruck eines hervor¬
stehenden, mit allerlei Höckern besetzten Knochenrandes machen kann, be¬
sonders, wenn infolge Annäherung des Kopfes bis hart an den Trochanter minor
die Knickungsstelle sehr scharf ist, daher eine schon durch die Weichtheile
sichtbare Prominenz hervorbringt.
Es liegt daher in der geschilderten Aehnlichkeit beider Erkrankungs¬
formen der Hüfte die dringende Aufforderung, dass man bei einmal consta-
tirtem Symptomencomplex, wie er beiden Affectionen gemeinschaftlich ist, an
die Möglichkeit des Vorhandenseins beider Störungen denkt, um durch genaue
Untersuchung aller Verhältnisse zum Auseinanderhalten beider zu gelangen.
J o a c h i m 81 h a 1 • Berlin.
Brown, A case of unusual deformity of the tibia treated by Operation,
Lancet 1897.
Abbiegung der Tibia in der Gegend der oberen Epiphyse nach vorn in
einem Winkel von 140°. Die Deformität ist im Laufe von 5 Jahren allmählich
im Anschluss an ein Trauma entstanden. Der Fall, den Brown für ein
Unicum hält, ist das Pendant zu Staffel’s als „Genu recurvatum* in Bd. IV,
Heft 1 dieser Zeitschrift beschriebenen Patienten, dessen Deformität Staffel
später ebenfalls als Abknickung in der oberen Tibiaepiphyse erkannte. Beide
Autoren führen die Entstehung dieser seltenen Deformität auf ungleichmäßiges
Wachsthum im* vorderen und hinteren Abschnitt der Epiphyse zurück. Brown
osteotomirte seinen Patienten. Z e n k e r - Hamburg.
Küttner, H., Ueber Lupus der Finger und Zehen. Beiträge zur klin. Chi¬
rurgie Bd. XVIII, Heft 1.
Aus den Protokollen der letzten 40 Jahre der Tübinger Klinik Hessen
sich 11 Fälle mit tief greifenden Contracturen und Ulcerationen unter über¬
haupt 25 Lupusbeobachtungen an den Händen und Füssen eruiren.
Verfasser unterscheidet zwei Gruppen von schweren Lupusveränderungen
an den Extremitäten: erstens die VerstümmelungenoderMutilationen,
Digitized by CjOOQle
Referate.
353
bei denen der Process unaufhaltsam in die Tiefe greift, und zweitens die
lupösenVerkrüppelungen bei oberflächlichem Lupus durch Narben-
contracturen und Wachsthumshemmungen.
Bei den Mutilationen geht entweder von der Peripherie her eine
Phalanx nach der anderen zu Grunde, oder es wird eine Phalanx aus
der Continuität des Fingers ausgestossen, so dass der betreffende Finger
auf einen nageltragenden Stumpf reducirt werden kann, oder drittens greift
der Process an einer Stelle ringförmig in die Tiefe. Alle Fälle von Ver¬
stümmelungen haben die elephantiastische Verdickung der betroffenen Theile
gemeinsam.
Der verkrüppelnde Lupus führt, obwohl er oberflächlich und in den
weitaus meisten Fällen auf die Haut beschränkt bleibt, zu schweren Verände¬
rungen an den benachbarten Gelenken und Knochen, und zwar an den Ge¬
lenken zu Contracturen, Subluxationen und Luxationen, sowie zu Veränderungen
der Gelenkflächen; an den Knochen zu den verschiedenartigsten Störungen des
Knochenwachsthuma. Ein directes Uebergreifen des lupösen Processes auf die
Gelenkflächen ist bei der oberflächlichen Form nicht beobachtet worden.
Diese secundären Knochen- und Gelenksveränderungen, sowie die Weich-
theilnarben (Syndaktylie) machen das Leiden auch für die orthopädische The¬
rapie bemerkenswerth. Zenker-Hamburg.
Petersen, Ferd., Ueber schief geheilte Vorderarmbrüche. Münch, med.
Wochenschr. 1897, Nr. 4 S. 88.
Aus Petersen’s gemeinsam mit seinem Schüler Dr. Döring an einer
Anzahl von schief geheilten Vorderarmbrüchen aus der Kieler chirurgischen
Poliklinik gemachten Beobachtungen geht hervor, dass sich Knickungen nach
Vorderarmbrüchen ohne weiteres Zuthun von selbst im Laufe der Zeit
ausgleichen, solange das Individuum sich noch in der Wachs-
thumszeit befindet, und zwar um so leichter und rascher, je jünger das
Individuum, je stärker dementsprechend das Wachsthum ist.
Von 29 Patienten mit solchen zur Nachuntersuchung gelangten Brüchen
standen 20 im ersten, 6 im zweiten und 3 im vierten Jahrzehnt. Unter den
20 Patienten des ersten Jahrzehnts bestand nur bei einem, zur Zeit des Bruchs
5jährigen Knaben noch nach 3 Jahren eine geringe, nicht auffällige Knickung,
in den übrigen fehlte jede Spur einer solchen, obgleich dieselbe in einigen zu¬
nächst sehr erheblich gewesen war. Von den 6 Fällen des zweiten Jahrzehnts
batte sich ein im 11. Jahre stehender Knabe kurz hinter einander an zwei ver¬
schiedenen Stellen den Vorderarm gebrochen; nach 2 Jahren schon war der
Ausgleich nahezu vollkommen; bei einem 13jährigen Knaben war ein solcher
3 Jahre später „nicht ganz vollständig*; bei einem 16jährigen war nach
8 Jahren „nur eine geringe Difformität* vorhanden. In den 3 Fällen aus dem
vierten Jahrzehnt war bei der späteren Nachuntersuchung kein oder ein nur ge¬
ringer Ausgleich eingetreten.
Im allgemeinen war die Knickung nach drei Jahren verschwunden, in
mehreren Fällen bei Kindern im Alter von 2—8 Jahren bereits nach zwei
Jahren. In einem Falle bei einem 4jährigen Knaben war ein Vorderarmbruch
ohne Behandlung geblieben und mit sehr starker Knickung geheilt; die an-
Digitized by
Google
354
Referate.
gerathene Osteoklasie wurde verweigert. Bei der Untersuchung nach 12 Jahren
war die Knickung vollständig verschwunden.
J oachimsthal- Berlin.
Falk, Otto, Ueber einen Fall von spinaler Kinderlähmung bei einem 15 Tage
alten Kinde mit Ausgang in Genesung. Münch, med. Wochenschr. 1897,
Nr. 23.
Bei einem 15 Tage alten Kinde hatte sich im Verlaufe eines Tages eine
Parese der Finger und Zehen, eine Paralyse der Hand-, Unterarm-, Oberarm*,
Fus8* und Unterschenkelmuskeln entwickelt ohne Fieber, ohne jede Störung
des Allgemeinbefindens, sowie ohne alle Hirnerscheinungen.
Innerhalb der kurzen Zeit von 4 Wochen trat unter nur ab wartender
Behandlung vollkommene Heilung ein. Falk erscheint die Diagnose einer
Poliomyelitis ant. acut, die nächstliegende zu sein; es würde sich dann um
einen durch sein frühes Auftreten, sowie durch seinen leichten, in volle Ge¬
nesung übergehenden Verlauf recht seltenen Fall handeln.
Joachimsthal - Berlin.
Lorenz, Adolf, Ueber die chirurgische Behandlung der angeborenen spasti¬
schen Gliederstarre. Wien. klin. Rundschau 1897, Nr. 21—25 u. 27.
Lorenz hat im Laufe einer 12jährigen Thätigkeit sehr häufig Gelegen¬
heit gehabt, der Frage nach einer möglichst wirksamen Behandlung der spa¬
stischen Affection der Musculatur der unteren Extremitäten näher zu treten und
eine Methode auszuarbeiten, deren Resultate die chirurgische Behandlung der
Muskelstarre als ein sehr dankbares Feld der Thätigkeit erweisen.
Das Verfahren, das Lorenz zur Anwendung bringt, besteht zunächst in
der Tenotomie der spastischen Muskeln, deren durchtrennte Sehnen er möglichst
stark zu verlängern sucht. Hierdurch wird die Kraft jener Muskeln, welche
die Contracturstellung bestimmen, auf ein Maass reducirt, welches das anta¬
gonistische Zusammenarbeiten mit den an der Convexität der Verkrümmung
gelegenen Muskeln von geringerer spastischer Kraft möglich macht. Die Ver¬
längerung der durchschnittenen Sehnen geschieht durch möglichste Distanzirung
ihrer Enden auf dem Wege der Uebercorrectur der vorhandenen Contracturen
und durch möglichst lange Innehaltung dieser Uebercorrecturen. Der grösseren
Distanzirung der Sehnenstümpfe wird ausser durch dauernde Uebercorrectnr
der Contracturstellungen auch durch den Umstand Vorschub geleistet, da»
das centrale Ende der durchschnittenen Sehne unter dem Einflüsse des über
mässig gesteigerten Muskeltonus weit zurückschnellt. Der Effect der späteren
Muskelaction wird dann infolge der Einschränkung des Contractionsvermögeni
der Muskeln durch trophische Verkürzung und durch die Verlängerung der
Sehne mittelst des intercalirten Narbenstücks ganz wesentlich herabgesetzt.
Beim spastischen Spitz fuss wird der Fuss nach vollzogener Teno*
tomie der Achillessehne und gründlicher Uebercorrectur der Deformität in
prononcirter Dorsalflexion während 4—6 Wochen fixirt; dann halten die Prona¬
toren den Angriffen der Achillessehne stand, und der Fuss functionirt in planti-
grader Stellung.
Digitized by VjOOQle
Referate.
355
Viel schwieriger liegen die Verhältnisse am spastisch gebeugten
Kniegelenk. Nach der Tenotomie des Biceps, Semitendinosus, Semimera-
branosus und Gracilis, deren subcutane Ausführung mit einem haarscharfen
Tenotom durchaus ungefährlich ist, handelt es sich auch hier um eine
möglichst ausgiebige Verlängerung dieser Sehnen. Die zu diesem Zweck
wünschenswerte Ueberstreckung des Kniegelenks bis zum leicht markirten
Genu recurvatum erreicht Lorenz mit Hilfe seines Schraubenredresseurs.
Bei sehr hochgradig entwickelten Spasmen der Beuger des Kniegelenks
hat es Lorenz wiederholt für nöthig erachtet, die Tenotomie durch die
Tenektomie zu ersetzen, welche selbstverständlich in offener Wunde ge¬
schehen muss.
Was die operative Beseitigung des Adductor ensp asmus am Hüft¬
gelenk anlangt, so ist bemerkenswert, dass eine dauernde Verlängerung der
Adductoren auch auf unblutigem Wege zu erreichen ist. Führt man nämlich
in Narkose des Patienten mit allmählich steigender Kraft eine starke Abduction
des Hüftgelenks aus, so springen die verkürzten Adductoren wie straff gespannte
Seile vor, die den Winkel zwischen Symphyse und unterem Ende der Femur-
diaphyse wie ein hoher Steg tiberbrücken. Legt man die flache Hand auf die
Höhe dieses Steges und sucht nun denselben unter fortdauernder Abduction
des Oberschenkels ganz allmählich (nicht etwa im brüsken Angriff) tiefer zu
legen und herabzudrücken, so fühlt man bald ein Nachgeben der Coulisse,
deren geradliniger Verlauf sich zu einem concaven Bogen senkt. Offenbar handelt
es sich bei diesem Nachgeben nicht nur um eine Verlängerung der Muskeln
durch Ueberdehnung, sondern um eine Dehiscenz der am straffsten gespannten
Muskelbündel der ganzen Gruppe, ohne dass gerade ein bestimmter Muskel
gesondert einzureissen braucht. Es gelingt, auf diesem Wege Abductionen bis
zu 90° und darüber zu erreichen, ohne dass in dem ganzen Adductorensysteme
irgendwo eine Lücke nachweisbar würde.
Die offene Myotomie der Adductoren, die Lorenz früher vielfach
geübt hat, setzt eine ganz unnöthig grosse Verletzung. Man gelangt mit der
subcutanen Durchschneidung stets zum Ziel und verlegt den Einstich vor¬
teilhaft in die Inguinalfurche, um denselben besser vor Verunreinigung durch
Ham schützen zu können. Bei sehr hochgradigem Adductionsspasmus hat Lorenz
in mehreren Fällen den erfolgreichen Versuch gemacht, die Adductoren nicht
nur zu schwächen, sondern dieselben vollständig auszuschalten. Dies geschieht
durch Resection desNervus obturatorius. Ist bereits trophische Ver¬
kürzung der Musculatur eingetreten, so wird die Myotomie mit der Neurektomie
combinirt.
Die fixirenden Verbände, in denen die Kinder schon nach 2—3 Tagen
angehalten werden, mit Unterstützung die ersten Gehversuche zu machen, werden
nach 4—6 Wochen entfernt. Es erwächst dann die Aufgabe, neben der Fortsetzung
passiver Uebercorrecturen der behandelten Gelenke den Patienten zu kräftigen
und zu gleichmässigen willkürlichen, activen Gelenksbewegungen im
Sinne der Uebercorrection anzuleiten. Als das Ziel dieser Behandlung, die mit
Massage, Elektricität und vor allem durch active Gymnastik zu führen ist,
muss es gelten, dem Patienten die Locomotion ohne orthopädischen Apparat
zu ermöglichen. Joachimsthal-Berlin.
Digitized by VjOOQle
356
Referate.
Büttner, Oscar, und Müller, Curt, Technik und Verwerthung der
Röntgen’schen Strahlen im Dienste der ärztlichen Praxis und Wissen¬
schaft. Wilhelm Knapp, Halle a. S. 1897.
ln vorliegendem Werk, welches zunächst für den Arzt, dann für die
Vertreter der Behörden und Genossenschaften, die gebildeten Laien, Mechaniker
und Photographen bestimmt ist, geben die Verfasser zu Beginn eine zusammen¬
fassende ausführliche Darstellung der technischen und wissenschaftlichen Grund¬
lagen der Pyknoskopie. Hieran schliessen sich Winke für Wahl, Aufstellung
und Gebrauch der Apparate, sowie über die Expositionszeit und Entwickelung
der Platten, die demjenigen, der sich über das Verfahren orientiren will, ein
willkommener Leiter sein werden.
Im zweiten, klinischen Theil erfahren wir, was bisher mit Hilfe der
Röntgen’schen Strahlen geleistet wurde. Hier wird zunächst die Bedeutung
des Verfahrens zur Bestimmung von Fremdkörpern erwähnt, wobei zugleich
eine Anweisung zur genauen Lagebestimmung derselben ertheilt wird.
Nächst den Fremdkörpern sind es hauptsächlich die Erkrankungen der
Knochen und Gelenke, bei denen uns die Pyknoskopie als ein werthvolles Hilfs¬
mittel zur Verfügung steht. Nicht in gleicher Weise hat sich die innere Me-
dicin das Verfahren zu nutze gemacht; doch glauben die Verfasser, dass sich
mit der Zeit die Pyknoskopie gleich werthvoll für letztere wie für die Chirurgie
erweisen werde.
Eine grosse Rolle steht demselben sicher bei der Unfallgesetzgebung in
Aussicht, da es manche strittige Fälle sicher zu klären vermag.
S i m o n - Würzburg.
Stechow, Ueber Technik und Resultate der Röntgenphotographie mit Demon¬
strationen. Vortrag, gehalten in der militärärztlichen Section des VIU All-
männa Svenska Läkaermötet in Stockholm.
Beck, Carl, The Röntgen rays in Surgery. International Medical Magazine,
June 1897.
Willard, Forest, Röntgenray Skiagraphs-Transaction of the American Sur-
gical Association 1896.
Levereans, Utility des rayons X en Chirurgie. Communication faite au con-
gres international de medecine tenu ä Moscou. Bukarest 1897.
Die Verfasser beschäftigen sich mit der Technik und Anwendungsweise
der Röntgenstrahlen. Sie bringen einzelne recht gute Abbildungen, an der
Hand deren sie die vielfältige Verwendbarkeit und den grossen Nutzen de»
Röntgenverfahrens hauptsächlich für chirurgische Zwecke schildern.
Simon - Würzburg.
Thilo-Riga, Uebungen. Volkmann’sche Sammlung klinischer Vorträge. Neue
Folge. Nr. 176.
Thilo hat hier seine früheren Abhandlungen (Monatsschr. f. Unfallheil¬
kunde, Deutsche raed. Wochenschr.) zusammengefasst. Man kann dem Yer*
fasser nachsagen, dass er in durchaus origineller Weise mit den einfachsten
Mitteln gymnastische Apparate improvisirt hat. Namentlich ist seine Anleitung
Digitized by
Google
Referate.
357
dem Praktiker za empfehlen, denn was zur Installation erforderlich ist, kann
überall gefunden werden. Ob aber Thilo in der Werthschätzung seiner Appa¬
rate nicht zu weit geht? Das von ihm stipulirte Gesetz — ich muss es mir
hier versagen, ausführlich darauf einzugehen —, nämlich, dass sorgfältig an-
gepasste Widerstandsbewegungen weniger ermüdend wirken müssen, als Be¬
wegungen, die ohne äussere Widerstände ausgeführt werden, basirt auf der
Voraussetzung, dass bei Widerstandsbewegungen die Wirkung des Antagonisten
ausfalle. Weshalb? So wenig wir über Antagonismus wissen, kann ich doch
diese Voraussetzung einstweilen nicht als zulässig anerkennen. Thilo em¬
pfindet eine gewisse Genugthuung darüber, dass auch Zander das Schwann-
sehe Gesetz „durch praktische Versuche und das Gefühl“ berücksichtigt. „Auch
an meinen Vorrichtungen wird das Schwann’sche Gesetz durch das Gefühl
berücksichtigt. Man gibt der Rolle eine solche Stellung, dass das ,Maximum
▼on Widerstand' nicht dort zu Stande kommt, wo Hand und Finger einen
rechten Winkel bilden, sondern ,ca. 30° vor dieser Stellung*. Ob man die
Stellung richtig gewählt hat oder nicht, erkennt man am besten, wenn man
die Versuche an Muskeln anstellt, die sehr bedeutend geschwächt sind.“
Während also bei Zander der Apparat ein für allemal so gebaut ist, dass
er dem Schwann’schen Gesetze unter allen Umständen Rücksicht trägt, er¬
mittelt Thilo das in jedem Falle durch rohe Empirie. Man denke sich den
Werth solcher Ermittelungen auf Grund der Angaben des Patienten und einer
mangelhaften mechanischen Vorbildung des Arztes. Auch ist es a priori ein
Generalirrthum, anzunehmen, das „Maximum des Widerstandes“ liege nach
Zander immer 30° vor der rechtwinkeligen Stellung. Eine ganz einfache
Ueberlegung zeigt uns ja, dass die hierfür massgebenden Bedingungen bei den
Gelenken variiren. So leicht hat sich denn doch Zander die Construction
seiner Apparate „durch praktische Versuche und das Gefühl“ nicht werden
lassen.
Ich wünsche der Thilo’schen Apparatotherapie eine grosse Verbreitung,
sie wird die Werthschätzung der Gymnastik fordern; seine Apparate sind
nicht besser als andere, aber sie haben den Vorzug, dass sie fast gar nichts
kosten. Die Ansprüche aber, welche sich Zander bei Herstellung seiner
Apparate gestellt hat, dürfen an die Thilo’schen nicht gemacht werden.
B ähr- Hannover.
Wide, Handbuch der medicinischen Gymnastik für Aerzte, Studirende und
Gymnasten. Wiesbaden 1897.
Wide, einer der hervorragendsten Vertreter der schwedischen Heil¬
gymnastik, hat in dem vorliegenden Werk in ausführlicher und fesselnder
Weise den heutigen Standpunkt der medicinischen Gymnastik dargestellt und
ihre Anwendungsweise so beschrieben, wie sie in Schweden mustergültig aus¬
geübt wird. Nach einem einleitenden Kapitel über die Eintheilung der Gym¬
nastik folgt eine sehr eingehende Schilderung der gymnastischen Bewegungen,
die durch wohlgelungene Abbildungen erläutert werden. In den folgenden
Kapiteln wird die Anwendung der Gymnastik bei den einzelnen Krankheits¬
gruppen abgehandelt und theilweise durch Krankengeschichten illustrirt.
Das Studium des Buches, welches von der Verlagsbuchhandlung vor-
Digitized by
Google
358
Referate.
trefflich auagestattet ist, kann einem jeden, der sich für schwedische Heil¬
gymnastik interessirt, aufs Wärmste empfohlen werden. Hoffa.
Holferich, Atlas und Grundriss der traumatischen Fracturen und Luxa-
tionen. (Band VIII von Lehmann’s medicinischen Handatlanten)
3. Auflage. München 1897.
Von Helferich’s bekanntem Atlas ist die 3. Auflage erschienen. Schon
der Umstand, dass binnen 27* Jahren 3 Auflagen eines Werkes erscheinen,
gestattet auf die Güte des bisher Gebotenen einen Rückschluss. Zu alledem
ist die neue Auflage so gründlich umgearbeitet und vermehrt, dass das Buch,
wie Helferich in der Vorrede auch selbst schreibt, eigentlich ein ganz anderes
geworden ist. Die Zahl der Tafeln ist von 64 auf 68, die der Textabbildungen
von 40 auf 126 gestiegen. Die Tafeln selbst in ihrer neuen, kunstfertigen
Ausführung sind durchweg ausserordentlich verbessert, eine Thatsache, welche
sofort in die Augen fällt, wenn man die gleichen Tafeln der 2. Auflage mit
den neuesten vergleicht. Auch der Text ist in gleicher Weise umgearbeitet.
Der Atlas verdient in seiner neuen Form die weiteste Verbreitung. Hoffa.
Digitized by VjOOQle
XX.
Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung.
Von
Dr. A. Schanz-Dresden.
Seitdem durch Hoffa die Therapie der angeborenen Hüftver¬
renkung in Wege geleitet worden ist, welche zu bis dahin uner¬
reichten Erfolgen führten, hat sich unsere Kenntniss der angeborenen
Hüftverrenkung ausserordentlich vervollkommnet. Vor allem ist es
die pathologische Anatomie dieser Deformität, welche wir bei Ge¬
legenheit der blutigen Einrenkungen in einer Weise studiren konnten,
wie es früher keinem Forscher möglich gewesen ist.
Diese genaue Kenntniss der pathologischen Anatomie ist von
hervorragender Bedeutung geworden für den Ausbau der Therapie.
Dass dieselbe bis heute noch nicht verwendet wurde zu einem Ver¬
such, das Dunkel, welches über der Aetiologie schwebt, zu lösen, ist
eigentlich befremdlich und nur dadurch zu erklären, dass diese rein
theoretische Frage in letzter Zeit das Interesse der Forscher nicht
in so hervorragendem Maasse zu fesseln im Stande war, wie die
actuelle Frage der Therapie. In dem Streit über die Therapie
scheint ein längerer Waffenstillstand eingetreten zu sein. Bis dieser
Streit von neuem wieder beginnt, was wohl in einigen Jahren zu
erwarten ist, dürfte die Erörterung theoretischer Fragen Aussicht
haben, einiges Interesse zu erregen. In dieser Hoffnung lege ich
diese Arbeit — eine kritische Studie über die Theorien der Aetio¬
logie der angeborenen Hüftverrenkung — vor.
Die Zahl der bis jetzt aufgestellten Theorien ist geradezu
staunenerregend. Wohl alle Momente, welche wir als zur Erzeugung
angeborener Deformitäten wirksam kennen oder supponiren, sind
auch als Ursachen der angeborenen Hüftverrenkung erklärt worden.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. Band V. 24
Digitized by CjOOQle
360
A. Schanz.
Die übersichtlichste Zusammenstellung und Eintheilung der in Frage
kommenden Theorien stammt von Krönlein. Ich lege dieselbe,
wie dies auch Hoffa in seinem Lehrbuch der orthopädischen
Chirurgie gethan, meinen Ausführungen zu Grunde.
Die aufgestellten Theorien sind darnach folgende:
1. Die sogen, congenitale Luxation ist traumatischer Natur
und entsteht durch eine äussere Gewalt, welche den Leib der
Schwangeren trifft (Hippokrates, Cruveilhier) oder während der
Geburt durch gewaltsame Traction an den Füssen des Fötus (Capuron,
Chelius, d’Outrepont) einwirkt.
2. Die congenitale Hüftluxation ist eine pathologische Luxation
und ist als solche bedingt entweder durch eine Erweichung oder
Erschlaffung des ligamentösen Gelenkapparates (Södillot, Stro¬
me y e r) oder durch eine fötale Gelenkentzündung — Gelenkhydrops
(Parise), fungöse Synovitis mit Erguss (Verneuil, Broca), Ge-
lenkcaries und Zerstörung der Kapsel (Morel-Lavalläe, Albers,
v. Ammon).
3. Die congenitale Luxation des Hüftgelenkes entspringt aus
der eigenthümlichen Stellung der unteren Extremität des
Fötus im Uterus.
a) Es ist möglich, dass bei stark flectirter Stellung der Ober¬
schenkel der Druck, den die Schenkelköpfe gegen die hinteren oder
unteren Partien der Gelenkkapsel ausüben, bei gleichzeitiger krank¬
hafter Nachgiebigkeit der Gewebe gelegentlich zur Luxation führt
(Dupuytren).
b) Die angeborene Hüftluxation ist von einer krankhaften Ad-
düctionsstellung des kindlichen Schenkels im Mutterleibe, von einer
gepressten Lage des Fötus bei geringer Menge des Fruchtwassers
abhängig (Roser).
4. Die congenitale Hüftluxation ist das Product einer Muskel-
retraction, die selbst wieder die Folge einer Störung im Central¬
nervensystem ist (Guörin).
5. Die congenitale Hüftgelenksluxation ist die Folge einer fötalen
Paralyse der vom Becken zum Trochanter major ziehenden Muskeln.
Die fötale Muskelparalyse führt allmählich zu einer Erschlaffung des
Bandapparates und diese wiederum bringt oft erst spät und besonders
dann, wenn die Kinder gehen lernen, unter dem Einfluss der Schwere
des Rumpfes die Luxation hervor.
6. Die congenitale Httftgelenksluxation ist auf einen Bildungs-
Digitized by VjOOQle
Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung.
361
oder Entwickelungsfehler zurückzuführen, welcher die normale
Gestaltung der Gelenkenden verhindert (Schreger, v. Ammon,
Dollinger, Grawitz, Holtzmann).
Prüfen wir in der hier gegebenen Reihenfolge — nur die Nr. 3
möchte ich an den Schluss meiner Betrachtungen stellen — die
einzelnen Theorien.
1. Die Entstehung der Hüftverrenkung durch Trauma.
Die alte Hippokratische Auffassung spielt auch heute noch
eine gewisse Rolle. Und doch ist dieselbe auf Grund der patholo¬
gischen Anatomie ohne Schwierigkeit abzuweisen. Der Kapselriss,
der bei einer traumatischen Luxation unbedingt entstehen muss, ist
niemals nachgewiesen worden. Derselbe könnte aber auf keinen
Fall spurlos verschwinden, da der luxirte Kopf, der durch den Riss
aus der Kapseltasche herausgetreten ist, eine Wiedervereinigung der
Kapselwunde unmöglich machen würde. Auch wenn man sich vor¬
stellen wollte, dass sich über den ausgetretenen Kopf eine neue
Kapsel bilde, so müssten wir die ursprüngliche, die primäre Kapsel,
als eine vorspringende Falte in der neuen, der secundären Kapsel
finden, und die neue Kapsel dürfte ihren Ansatz am Becken, nicht
am Rand des Acetabulum haben, sondern sie müsste von der Darm¬
beinschaufel entspringen, da, wo der Kopf sich eingestellt hat.
Einen derartigen Befund erhebt man aber niemals.
In der Hoffa’schen Sammlung befindet sich ein Präparat,
welches bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht hierher gebracht
werden könnte. Das Präparat ist ein Schenkelkopf mit einem Stück
Kapsel und wurde bei einer Hoffa'schen Pseudarthrosenoperation
einer 15jährigen Patientin mit doppelseitiger Hüftverrenkung ge¬
wonnen. Von der Innenseite der Kapsel sieht man an diesem Prä¬
parat, welches auch von Paradies (Die operative Behandlung der
doppelseitigen angeborenen Hüftverrenkung älterer Patienten, Zeit¬
schrift für orthopädische Chirurgie Bd. IV S. 277) beschrieben ist,
eine Anzahl blätterartiger, verschieden langer Vorsprünge in den
Kapselraum hineinragen. Diese merkwürdigen Gebilde, welche ich
sonst nirgends gesehen habe und beschrieben finde, machen den Ein¬
druck, als hätten sich über der Höhe des Kopfes in der Kapselwand
(das Kapselstück gehört dieser Gegend an) Hohlräume gebildet ge¬
habt, deren nach dem Kopf zu gelegene Wand durchgescheuert
worden sei. Ein abnormer Kapselansatz wurde bei dieser Operation,
bei welcher ich assistirte, nicht constatirt. Der eigenthümliche Be-
Digitized by VjOOQle
362
A. Schanz.
fund an dem zufällig excidirten Stück Kapselwand wurde zu spät
entdeckt, so dass eine darauf gerichtete Untersuchung der übrigen
Kapsel nicht stattfinden konnte. Dass man es aber in diesen Falten
nicht mit dem Rest einer zerrissenen primären Kapsel zu thun
habe, geht schon daraus hervor, dass mehrere solche Blätter vor¬
handen sind.
Der Vollständigkeit halber muss ich noch anführen, dass ein
Trauma, welches den Leib der Schwangeren getroffen hätte, in der
Anamnese niemals zu finden ist, und dass forcirte Tractioneir
während der Geburt bei Kindern mit congenital luxirten Hüften
auch nicht Öfter stattgefunden haben, als bei gesunden Kindern.
Die zweite Reihe von Forschern sucht die Ursache der con¬
genitalen Hüftverrenkung in einer Erkrankung des Hüftgelenkes;
diese Autoren stellen also die angeborene Hüftverrenkung in eine
Analogie mit der Luxation, welche man z. B. im Verlauf einer Coxitis
beobachtet. Die Theorien, welche eine einfache Schlaffheit des Ge¬
lenkapparates — nicht als Folge eines Entzündungsprocesses oder
dergleichen — annehmen, möchte ich hier ausser Acht lassen, da ich
darauf später noch eingehender zu sprechen komme.
Für die Annahme, dass die angeborene Hüftverrenkung eine
pathologische Luxation infolge einer Gelenkerkrankung sei, findet
man in der pathologischen Anatomie keinerlei Bestätigung.
Dass es Gelenkerkrankungen gibt, die in frühester Jugend, ja
im Fötalleben einsetzend, zu einer Luxation des Hüftgelenkes führen
können, ist kein Zweifel. Aber die auf diesem Weg zu Stande
kommenden Krankheitsbilder sind ganz anders als das uns wohl be¬
kannte Bild der angeborenen Hüftverrenkung. Nie finden wir bei
diesem die Spuren einer voraufgegangenen Entzündung des Gelenkes.
Wohl verändern sich die Constituentien der luxirten Gelenke, aber
diese Veränderungen sind secundäre Erscheinungen und nicht entzünd¬
licher Natur, und je jünger das betreffende Individuum ist, desto
weniger finden wir Veränderungen am Gelenk: ein Verhältniss,
welches gerade umgekehrt sein müsste, wenn die Luxation Folge
eines pathologischen Processes im Gelenk wäre, nicht die Gelenk¬
veränderungen Folge der Luxation.
Ebenso wie diese eben besprochenen Theorien müssen wir die¬
jenigen zurückweisen, welche mit einer Muskelretraction oder
einer Muskelparalyse rechnen.
Wohl gibt es auch wieder Luxationen, welche aus dem frübe-
Digitized by VjOOQle
Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung.
363
sten Kind es alter, eventuell vielleicht aus dem Fötalleben stammen
und welche einer Muskelretraction oder einer Muskelparalyse ihre
Entstehung verdanken. Einen hierher gehörigen Fall beschrieb z. B.
Holtzmann 1 ). Der Patient, von welchem das Holtzmann'sche
Präparat stammte, hatte an congenitaler Porencephalie gelitten, er
war infolge dessen von frühester Jugend an gelähmt und es hatte
sich eine Contractur der Beine herausgebildet; die später beobachtete
Hüftluxation war durch die Muskelretraction entstanden. Ebenso
entstehen solche Luxationen oft genug im Anschluss an essentielle
Kinderlähmung; Karewsky hat z. B. solche analog der Hoffa’schen
Operation eingerenkt. Aber die auf solchem Wege entstehenden
Verrenkungen gehören wieder nicht zu dem wohl charakterisirten
Krankheitsbild der angeborenen Hüftverrenkung. In diesem Bild
gibt es weder eine primäre Retraction noch eine Paralyse der Hüft-
muskeln.
Konnten die bis jetzt besprochenen Theorien ohne grössere
Auseinandersetzungen abgewiesen werden, wie dies ja von den Autoren
der letzten Zeit fast ausnahmslos geschehen ist, so müssen wir etwas
eingehender auf die beiden noch erübrigenden Theorien (Bildungs¬
hemmung und intrauterine Raumbeschränkung) eingehen.
Die Theorien, welche mit einer Entwickelungshemmung
rechnen, kommen fast alle in dem einen Punkt zusammen, dass sie
annehmen, ein irgendwie entstandenes Missverhältniss in der Grösse
zwischen Kopf und Pfanne verhindert den Kopf, in die Pfanne ein¬
zutreten. Es beruhen diese Theorien alle auf der falschen An¬
nahme, dass die Bildung des Hüftgelenkes dadurch geschehe, dass der
ausserhalb der Pfanne gebildete Kopf in die Pfanne eintrete.
Dieser Vorstellung widerspricht die allgemeine entwickelungs¬
geschichtliche Thatsache, dass die Gelenke nicht dadurch entstehen,
dass zwei getrennte Theile an einander treten, sondern vielmehr da¬
durch, dass sich eine gemeinsame Anlage in zwei Theile trennt. Dass
diese Art der Entwickelung auch beim Hüftgelenk statt hat, ist ausser
von Anderen besonders von Petersen 2 ) nachgewiesen worden. Der
Wichtigkeit dieses Punktes halber sei hier der betreffende Abschnitt
der Petersen’schen Arbeit angeführt:
*) Holtzmann, Die Entstehung der congenitalen Luxationen der Hüfte
und des Knies und die Umbildung der luxirten Gelenktheile. Diss. Strassburg 1895.
*) Petersen, Untersuchungen zur Entwickelung des menschlichen
Beckens. Archiv für Anatomie und Physiologie 1893.
Digitized by
Google
364
A. Schau.
w —-Aus einem peripheren, im Extremitätenstummel ge¬
legenen Blastem entwickelt sich das Skelet der Extremität and
zwar zuerst die Diaphyse des Femur. Im Anschluss an dessen
mediales Ende, ohne jeden Zusammenhang mit dem Wirbelkörper,
finden wir die erste Andeutung einer Beckenanlage, die wir somit
als aus dem vorerwähnten Blastem mit hervorgegangen und als
peripherischen Ursprunges ansehen müssen. Das an dem medialen
Ende des Femur allmählich sich absondernde Blastem des Beckens
wächst in der Richtung des geringsten Widerstandes nach allen
Seiten über die Aussenfläche des compacten Organkernes des Rümpf¬
endes, der Darm- und Genitalanlage, Gefässe und Nerven in sich
begreift. In diesem flächenförmigen Wachsthum wird es an drei
Stellen eingedämmt durch die schon vorher vorhandenen, relativ un¬
geheuer mächtigen drei Nerven, den N. cruralis, obturatorius und
ischiadicus. Diese weisen somit der wachsenden Zellenmasse drei
Bahnen an und führen dadurch zur Bildung dreier Radien, der drei
Beckenbestandtheile in ihrer charakteristischen Lage zu diesen drei
Nerven, und zur Herstellung dreier Incisuren.
Die drei Stäbe sind durch ein nur dünnwandiges
Centrum (die Pfanne. Der Verf.) mit einander verbunden,
da hier ein grosser Theil des Blastems in die Bildung
des Femurkopfes aufgegangen ist.*
Aus diesen Petersen'schen Untersuchungen geht also hervor,
dass die Entwickelung des Hüftgelenkes auf einen Trennungsvorgang,
nicht auf einen Vereinigungsvorgang zurückzuführen ist. Es ist
also eine Entwickelungshemmung in der Weise, dass der
Kopf verhindert werde, in die Pfanne einzutreten, un¬
möglich; alle die Theorien, welche mit einem derartigen Vorgang
rechnen, sind deshalb falsch. Es können nur die Theorien bestehen
bleiben, welche ein Auseinanderdrängen von Kopf und Pfanne an-
n ehmen.
Hier müssen wir zuerst wieder die oben abgewiesenen Theorien
der primären Entwickelungshemmung ins Auge fassen. Man könnte
denselben dadurch Geltung zu verschaffen suchen, dass man sich
vorstellt, dieselben Verhältnisse, welche als den allerdings fälschlich
supponirten Vereinigungsprocess hemmend angenommen worden sind,
verursachen die Trennung des Gelenkes. A]?er auch in dieser Form
können sich die Theorien der primären Entwickelungshemmung nicht
halten, aus dem einfachen Grunde, weil ein Missverhältniss zwischen
Digitized by VjOOQle
Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung.
365
der Grösse des Kopfes und der Pfanne allein niemals zu einer
Luxation führen kann, wie dies von allen diesen Theorien an¬
genommen wird.
Möge die Pfanne noch so klein bleiben, ein Abschnitt des
Kopfes wird stets darin Raum behalten; ja, wenn es überhaupt nicht
zur Entwickelung einer Pfanne käme, so würde doch der Kopf so
lange dem Ort, wo sie sich bilden sollte, gegenüber stehen bleiben,
bis eine Kraft in Thätigkeit tritt, welche den Kopf an einen anderen
Punkt hintreibt. Solange diese Kraft nicht einsetzt, wird niemals
— auch durch keine irgend geartete Entwickelungsstörung — eine
Luxation zu Stande kommen. Diese Kraft ist zu suchen, und die
Theorie, welche diese Kraft in einfachster Weise erklärt, wird an¬
genommen werden können und müssen.
Eine Anzahl Theorien, welche versuchen, diese Kraft nachzu¬
weisen, haben wir eingangs schon abgewiesen. Von vornherein
recht plausibel und einfach klingt die Annahme, die in Frage
stehende Kraft sei die Last des Körpers, welche beim Gehen und
Stehen auf dem Hüftgelenk ruht. Man könnte sich vorstellen, diese
Last sei zu gross im Vergleich zu der Stütze, welche ein nicht ge¬
hörig ausgebildeter Acetabularrand dem Schenkelkopf bietet, und
dass also durch die Belastung beim Gehen und Stehen eine Luxation
erzeugt wird in einem besonders disponirten Gelenk. Es ist dies
eine ganz plausible Annahme, für welche noch spricht, dass man
auch bei speciell darauf gerichteten Untersuchungen von Neugeborenen
(Lorenz) eine Luxation nicht entdecken konnte. Zweierlei spricht
jedoch gegen diese Annahme: erstens hat man doch eine ganze
Reihe von Luxationen gefunden in Gelenken, welche niemals einem
Belastungsdrucke durch das Körpergewicht ausgesetzt waren (Föten)
und dann würde wohl bei dieser Entstehungsart die Luxation nach
vorn und oben die Norm darstellen müssen.
Diese Klippe vermeiden die Theorien, welche die wirksame
Kraft in dem Druck der Uterus wandung auf den Fötus bei Frucht¬
wassermangel sehen. In den Theorien von Dupuytren und Roser ist
dies das Punctum saliens. Zwar nehmen beide Autoren noch als
ätiologisch wichtig eine gewisse differente Haltung des Schenkels
an: Dupuytren eine Flefcion, Roser eine Adduotion. Durch die
Annahme einer differenten Stellung haben diesen Autoren der An¬
erkennung und Verbreitung ihrer Theorien entschieden geschadet,
da sie für die differente Stellung keine erzeugende Ursache mit
Digitized by VjOOQle
366
A. Schanz.
angeben konnten. In eben dieser Richtung musste der unglückliche
Versuch Roser’s, die Differenz in der Häufigkeit der Luxation bei
Knaben und Mädchen zu erklären, wirken.
So ist es wohl gekommen, dass die mechanische Theorie, die
doch so einfach und zusagend ist und welche sich analog für andere
Gelenke, z. B. das Knie, längst volle Anerkennung errungen hat,
bis heute noch nicht durchdringen konnte.
Hoffa will für die Hüftverrenkung höchstens ein Zusammen¬
wirken der intrauterinen Raumbeengung und einer Entwickelungs¬
hemmung gelten lassen; Lorenz, der früher nur eine Entwickelungs¬
hemmung annahm, scheint neuerdings mehr der mechanischen Theorie
zuzuneigen.
Wir wissen, dass bei der Erzeugung congenitaler Deformitäten
der Druck der Uteruswandung auf den Fötus, welcher bei Raum¬
beengung infolge von Fruchtwassermangel zu Stande kommt, mit
die erste Rolle spielt. Was ist da natürlicher, als eben diese Ur¬
sache auch für die Entstehung der Hüftverrenkung verantwortlich
zu machen! Sehen wir zu, ob dies mit genügender Wahrscheinlich¬
keit geschehen kann.
Der Schenkel des Fötus befindet sich während des intra¬
uterinen Lebens in Flexion, Adduction und Innenrotation. Tritt eine
allgemeine Raumbeschränkung ein, wie sie bei relativem Frucht¬
wassermangel statt hat, so wird diese Stellung forcirt. Es kommen
in diesem Sinne gewissermassen auch die differenten Stellungen zu
Stande, welche Roser und Dupuytren supponirten. Vergegen¬
wärtigt man sich nun, dass die forcirte Flexion, Adduction und
Innenrotation bei dem Zustandekommen derjenigen Form der trau¬
matischen Hüftverrenkung, welche der angeborenen Luxation ent¬
spricht, die erste Rolle spielt, so ist es doch äusserst naheliegend,
gerade darin auch für die angeborene Luxation die erste Ursache
zu suchen.
Versuchen wir uns den Vorgang unter diesem Gesichtspunkte
klar zu machen und folgen wir zunächst den Bewegungen des Kopfes,
wenn man den Schenkel in die bezeichnete forcirte Stellung bringt.
Zunächst die Flexion: sie stellt den oberen Kopfpol gegen den
hinteren unteren Theil der Kapsel, gegen die Stelle, an welcher bei
der entsprechenden traumatischen Luxation die Kapsel zerreisst.
Drückt man nun das Bein in Adduction, so bildet der Oberschenkel
einen zweiarmigen Hebel, der sein Hypomochlion in der Leisten-
Digitized by VjOOQle
Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung. 367
beuge findet. Wirkt die Kraft weiter, so muss sie den Htift-
kopf aus der Pfanne heraushebeln und gegen den hinteren unteren
Theil der Kapsel drängen. Während bei der Entstehung der trau¬
matischen Luxation das plötzliche Andringen des Kopfes zum Kapsel¬
riss führt, wird beim Fötus der danernda ftlaatiflchp. Dmr.k der Uterus¬
wandung eine Dehnung der Kapsel herbeiführen. Mit der Aus¬
bildung dieser Dehnung erlangt der Kopf die Möglichkeit die Pfanne
zu verlassen; er thut dies und die congenitale Hüftluxation ist fertig.
Von allen bis heute aufgestellten Theorien ist diese jedenfalls
die einfachste. Dire Einfachheit ist es gerade, welche von vorn¬
herein für dieselbe einnehmen muss. Lassen sich nun etwa noch
weitere Stützen für die Richtigkeit oder Wahrscheinlichkeit derselben
anführen ? Die directe Beobachtung und das Experiment werden
wohl für diesen Zweck niemals zur Anwendung gelangen können.
Lassen sich etwa aus der pathologischen Anatomie solche Stützen
finden? Ich glaube wohl.
Wir haben bis jetzt als directe Folge des durch die zu eng
anliegende Uteruswand bedingten, auf das Hüftgelenk fortgesetzten
Druckes nur die Ausweitung der Kapsel angesprochen. Wenn aber
in der That dieser Druck stattgefunden hat, so ist es wahrscheinlich,
dass sich die Spuren desselben nicht nur an der Kapsel nachweisen
lassen, sondern dass solche Spuren auch in dem gegen die Kapsel
angepressten Kopf zurückgeblieben sind. Denn derselbe Druck,
welcher von dem Kopf gegen die Kapsel ausgeübt wird, wirkt natür¬
lich auch rückwärts auf den Kopf. Als eine Folge dieses Druckes
lässt sich die typische Schenkelhalsverbiegung bei der congenitalen
Luxation erklären.
Diese typische Verbiegung des Schenkelhalses ist bekanntlich
eine Biegung desselben nach vorn und unten, eine Art Coxa vara,
wie unter Anderen H o f f a dieselbe genannt hat. Hunderte von Be¬
obachtungen haben gezeigt, dass diese Verbiegung in der That
typisch ist. So regelmässig dieselbe von den einzelnen Autoren
beobachtet und beschrieben wurde, so hat doch merkwürdigerweise
keiner einen rechten Versuch gemacht, die Entstehung derselben zu
erklären. Wenn man versuchen will, diese Erklärung zu finden, so
gibt die unbedingte Zusammengehörigkeit dieser Deformität mit der
angeborenen Hüftverrenkung drei Wege, die zu verfolgen sind:
erstens wäre es möglich, dass die angeborene Hüftverrenkung als
solche die Schenkelhalsverbiegung erzeugt, zweitens umgekehrt, dass
Digitized by VjOOQle
368
A. Schanz.
die Schenkelhalsverbiegung als solche die Hüftverrenkung hervorruft,
und drittens, dass Hüftverrenkung und Schenkelhalsverbiegung die¬
selbe Ursache haben.
Die erstgenannte Möglichkeit ist wohl zu erwägen, denn es ist
zweifellos, dass in einem luxirten Hüftgelenk Veränderungen der
Gelenkconstituentien eintreten werden. Als solche Verändern»gen
müssen wir das Zurückbleiben von Pfanne und Kopf hinter 4er
normalen Grösse auffassen. Diese Erscheinung ist eine Dystrophie
der betreffenden Theile infolge der Störung der normalen Functionen
des Gelenkes. Dem entspricht auch, dass wir im allgemeinen die
in Frage stehenden Theile um so näher der normalen Grösse finden,
je jünger das betreffende Individuum ist. Die falsche Richtung des
Schenkelhalses kann von diesem Gesichtspunkte aus wohl kaum er¬
klärt werden. Dieselbe verschlimmert sich nicht mit dem zunehmenden
Alter, und es ist wohl kaum ein stichhaltiger Grund anzugeben,
weshalb gerade diese Verbiegung in einem luxirten Gelenk zu
Stande kommen soll.
Wie die erstgenannte Möglichkeit müssen wir die zweite ab¬
weisen, zuerst schon aus den Gründen, welche oben zur Widerlegung
der Hemmungstheorien angeführt wurden, und sodann wissen wir im
speciellen jetzt durch Kr edel, dass es eine angeborene Coxa vara
gibt, ohne dass dieselbe zur Luxation führt.
Wohl aber ist es denkbar, dass die Luxation und die Schenkel¬
hals verbiegung eine und dieselbe Ursache haben, nämlich die intra¬
uterine Raumbeschränkung. Ja, ich halte gerade den Umstand, dass
eine solche Erklärung gefunden werden kann, für eine kräftige Stütze
der Auffassung der angeborenen Hüftverrenkung ak intrauterine
Belastungsdeformität.
Wir haben schon erwähnt, dass die fragliche Scheukelbalsver»
biegung nach vorn und unten gerichtet ist, dass also der Hüftkopf
eine Dislocation in der Richtung nach vorn und unten erfahren hai
Um diese Dislocation zu Stande zu bringen, muss eine Kraft
hinter dem oberen Kopfpol angreifend nach vorn und unten gedrückt
haben.
Wir haben gesehen, wie forcirte Flexion und Adduction den
oberen Kopfpol gegen den hinteren unteren Theil der Kapsel presst,
und haben uns klar gemacht, dass der so auf die Kapsel ausgeübte
Druck auch rückwärts auf den Kopf wirken muss. Die Richtung
dieses Druckes, welche vom oberen gegen den unteren Kopfpol ge-
Digitized by VjOOQle
Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung.
369
richtet ist, ändert sich, wenn zu der Adduction und Flexion die
Innenrotation, welche wir bis jetzt der Einfachheit halber ganz ans -
der Rechnung lassen konnten, hinzutritt. Und zwar wird dadurch
die Richtung dieses Druckes derart verlegt, dass dieselbe jetzt hinter
dem oberen Kopfpol angreift und nach vorn und unten zielt. Die
Wirkung eines derartigen Druckes muss sich in einer
Verbiegung des Schenkelhalses nach vorn und unten
geltend machen: es kommt die typische Schenkelhalsver¬
biegung zu Stande.
Dass man für die Entstehung dieser Verbiegung auf Grund
der mechanischen Theorie dieselben Kräfte verantwortlich machen
kann, wie für die Entstehung der Luxation an sich, halte ich für
eine grosse Stütze dieser Theorie. Jedenfalls versagen in diesem
Punkte alle übrigen.
Sehen wir zu, was die mechanische Theorie zur Erklärung der
übrigen dunklen Punkte und auffälligen Verhältnisse der angeborenen
Hüftverrenkung leistet.
Wie schon oben gesagt, muss das Zurückbleiben von Kopf und j
Pfanne hinter der normalen Grösse als eine Dystrophie infolge der j
Störung der normalen Function angesprochen werden. Dasselbe gilt
übrigens von der ganzen Extremität, welche ja auch nicht ihre normale
Grösse erreicht.
Als secundäre Veränderungen sind weiterhin ohne weiteres die
mit zunehmendem Alter fortschreitende Deformirung des Kopfes und
der Pfanne zu erklären.
Eine gewisse Rolle hat bei den ätiologischen Forschungen das
Ligamentum teres gespielt. Das häufige Fehlen dieses Gebildes hat
viel dazu beigetragen, die Theorien von der Bildungsbemmung zu
stützen. Um zu zeigen, dass die Befunde am Ligamentum teres
nicht zu einer Erklärung in anderer Richtung führen müssen, muss
ich kurz die Befunde desselben erwähnen.
In dreierlei Gestalt zeigt sich uns das Ligamentum teres: in
einem Theil der Fälle fehlt es; es ist alsdann nur ein kleiner Zipfel an
der Ansatzstelle des Bandes am Kopf vorhanden; im zweiten Theil
der Fälle ist das Band lang und dünn und zieht sich in Falten durch
den Kapselschlauch; im dritten Theil endlich finden wir ein breites,
festes Band, dessen Länge dem Stand des Kopfes über der Pfanneu-
gegend entspricht.
Wie erklären sich diese auffälligen Befunde? Dass hier ein
Digitized by VjOOQle
370
A. Schanz.
ätiologischer Zusammenhang bestehe zwischen dem Verhalten des
Ligamentum teres und der Luxation, ist von vornherein unwahr¬
scheinlich wegen der Inkonstanz dieses Verhaltens. Die einleuch¬
tendste Erklärung für diese Verhältnisse dürfte gegeben werden,
wenn wir annehmen, dass das Ligamentum teres primär in dem
luxirten Gelenk jedesmal wie im normalen angelegt war. Dreierlei
können dann die späteren Schicksale desselben sein: entweder es wird
zerrissen, es reibt sich auf dem Pfannenrand durch; in diesem Fall
finden wir später als einzigen Rest den erwähnten kleinen Zipfel.
Weiterhin kann sich das Band den neuen Verhältnissen anpassen,
dadurch dass es sich lang auszieht und so einer Reibung und Zerrung
über dem Pfannenrand entgeht; wir finden dann ein langes dünnes
Band. Oder endlich kann das Ligamentum teres die Function eines
Haltebandes übernehmen; wir finden dann ein festes, breites Band,
dessen Länge dem Stand des Kopfes über der Pfanne entspricht.
Dieser Erklärung entspricht auch die Thatsache, dass ein ge¬
wisses Verhältniss zwischen dem Ligamentum teres und dem Alter
des Patienten besteht derart, dass sich das Ligament bei jüngeren
Patienten häufiger findet als bei älteren.
Wenn die auffälligsten Erscheinungen an dem verrenkten Ge¬
lenk, wie ich glaube, unter dem Gesichtspunkt der mechanischen
Theorie ungezwungen erklärt werden können, so erübrigt nur noch,
diese Theorie in Beziehung auf die ausserhalb des Gelenkes liegen¬
den Erscheinungen zu prüfen.
In erster Beziehung kommt hier das Verhältniss der angeborenen
Hüftverrenkung zu den übrigen intrauterinen Belastungsdeformitäten
in Frage. Dass die angeborene Hüftverrenkung wohl die häufigste
aller derartiger Deformitäten ist, entspricht ganz der Thatsache, dass
kein zweiter Körpertheil sich im intrauterinen Leben in einer zu Er¬
zeugung der entsprechenden Deformität so günstigen Situation be¬
findet, wie das Hüftgelenk. Dementsprechend finden wir denn auch
bei Individuen mit multiplen intrauterinen Belastungsdeformitäten
fast regelmässig verrenkte Hüften; ich erinnere nur an die Föten,
welche von Holtzmann und anderen beschrieben worden sind. Auf
diese Föten möchte ich allerdings bei der Frage nach der Aetiologie
nicht besonderen Werth legen; dieselben stellen äusserst complicirte
Missbildungen dar; und es ist sehr schwer, aus einem so compli-
cirten Bild einen einzelnen Theil herauszunehmen und mit Sicherheit
zu sagen, was zu diesem Theil als charakteristisch gehört lind was
Digitized by CjOOQle
Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung.
371
zufälliges Beiwerk ist. Der Versuch, aus diesen Föten die Aetiologie
zu ergründen, ist daher auch denen, welche ihn gemacht haben,
z. B. Grawitz, Holtzmann, nicht gelungen.
Bei Individuen, welche nicht derart complicirte Deformitäten-
bilder zeigen, bei denen gewissennassen die Hüftverrenkung als Bild
für sich besteht — die Fälle, welche wir zur Behandlung bekommen,
finden sich Combinationen mit anderen Belastungsdeformitäten nicht
zu häufig.
Hin und wieder findet man Combinationen mit angeborenem
Klumpfuss. Vor kurzem habe ich einen Fall gesehen, bei dem neben
der einseitigen Hüftverrenkung eine Combination von angeborenem
Klumpfuss und Plattfuss bestand. Diese Fälle sind jedoch die Aus¬
nahmen. Warum sie nicht die Regel darstellen, warum Klumpftisse,
welche die deutlichsten Zeichen der allgemeinen intrauterinen Raum¬
beschränkung tragen, in der Regel bei ganz normalen Hüften beob¬
achtet werden, ist die mechanische Theorie ausser Stande zu erklären.
Sehr häufig, vielleicht fast regelmässig scheint sich bei der
angeborenen Hüftverrenkung eine Deformität der Brust zu finden.
Man sieht auf der Brust von der Schultergegend nach dem unteren
Ende des Sternum beiderseits eine seichte Rinne herablaufen. Die
Spitze des durch diese Rinnen gebildeten Winkels liegt meist neben
dem Sternum.
Ich wurde auf diese Deformität zuerst aufmerksam, als mich
die Mutter eines mit doppelseitiger Hüftverrenkung behafteten Bandes
wegen des auffälligen Heraustretens der Rippenbogen bei ihrem
Kinde befragte. Dieses Heraustreten der Rippenbogen ist weiter
nichts, als der Ausdruck jener Rinnen, und diese stellen nichts anderes
dar, als Eindrücke, welche die während des intrauterinen Lebens
gegen die Thoraxwand gepressten Arme darauf zurückgelassen haben.
Bringt man die Arme in jene Lage, so kann man sich davon sehr
leicht überzeugen, es liegt dann die Spitze des durch die Furchen
bezeichneten Winkels auf der Seite des unter dem anderen liegen¬
den Armes.
Wie schon gesagt, scheint diese Deformität bei angeborener
Hüftverrenkung sehr häufig zu sein, wenigstens habe ich diesen Ein¬
druck gewonnen, seitdem ich darauf achte. Allerdings ist das erst
seit einer Zeit, in der ich nicht mehr Gelegenheit hatte, das grosse
Material, welches ich an der Klinik meines Lehrers Hoffa beob¬
achten konnte, daraufhin zu prüfen. Es wäre aber jedenfalls inter-
Digitized by
Google
372
A. Schanz.
essant, wenn an Stellen mit grossem Material auf diesen Punkt ge¬
achtet würde.
An dieser Stelle muss ich eines anderen Befundes, den man
nicht selten bei Kindern mit angeborener Hüftverrenkung erheben
kann, gedenken. Es ist dies eine am ganzen Körper zu constah-
rende Schlaffheit der Gelenke. Die Gelenke dieser Kinder — es
handelt sich meist um doppelseitige Luxationen — sind über die
Norm beweglich, Finger und Kniee können z. B. oftmals ganz be¬
deutend überstreckt werden, ja zuweilen kann man ohne jede Mühe
Subluxationen der Gelenke erzeugen. Auch die Haut und die Muskeln
dieser Kinder, bei denen übrigens die Behandlung gewöhnlich kein
günstiges Resultat gibt, sind schlaff und welk, fast wie bei alten
Leuten.
Einen ganz besonders ausgeprägten Fall dieser Art hat Julius
Wolff beschrieben (Zeitschrift für orthopädische Chirurgie, 2. B<L,
1. Heft: Ueber einen Fall „willkürlicher“ angeborener präfemoraler
Kniegelenksluxation nebst anderweitigen angeborenen Anomalien fast
8ämmtlicher Gelenke des Körpers). Wolff glaubt in diesem Fall
die Schlaffheit der Kapsel allein als ursächliches Moment für die
Entstehung der Hüftverrenkung annehmen zu können. Diese An¬
nahme, die auch von anderen gemacht worden ist und deren Be¬
sprechung ich bis hierher verschoben habe, glaube ich nicht theilen
zu können. Eine solche Schlaffheit der Kapsel kann an und für
sich nicht zu Luxationen führen, es gehört dazu stets noch eine
luxirende Kraft, die allerdings sehr geringfügig sein kann. Man
kann also dieser Schlaffheit der Gelenke nur insofern eine Bedeutung
beilegen, als dieselbe ausserordentlich das Zustandekommen einer
Luxation erleichtert, also ausserordentlich prädisponirend wirkt. Als
wirklich auslösende Ursache muss auch in diesen Fällen die intra¬
uterine Raumbeschränkung angesehen werden.
Hat die mechanische Theorie bis hierher sich als gute Führern
erwiesen und für fast alle aufsteigenden Fragen mindestens annehm¬
bare Antworten gegeben, so kommen wir jetzt an einen Punkt, an
dem sie uns ebenso im Stich lässt als alle übrigen Theorien: es ist
das die unbestrittene Thatsache, dass die angeborene Hüftverrenkung
bei Knaben ganz auffällig weniger oft als bei Mädchen vorkommi
Es kommt ungefähr auf 7 Mädchen mit Luxation erst 1 Knabe.
Die Unhaltbarkeit der Roser’schen Erklärung ist längst dar-
gethan.
Digitized by VjOOQle
Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung.
373
Ob die Differenz zwischen dem männlichen und weiblichen
Becken hier eine Bedeutung haben kann, ist wohl fraglich. Wenn
aueh schon im frühen Fötalleben eine solche Differenz festgestellt
werden kann, so ist dieselbe doch kaum so bedeutend, dass man ihr,
ohne sich dem Vorwurf zu grosser Phantasie auszusetzen, eine so
grosse Bedeutung beilegen darf.
Merkwürdigerweise ist bei der häufigsten anderen intrauterinen
Belastungsdeformität — beim Klumpfuss — ein wenn auch nicht so
bedeutender Geschlechtsunterschied, aber in umgekehrtem Sinne zu
constatiren.
Wenn wir diesen Punkt als vorläufig unerklärt ansehen müssen,
so ist dies doch kein Grund, deshalb die mechanische Theorie ab¬
zulehnen, wenigstens nicht zu Gunsten einer anderen der bis jetzt
bestehenden, denn alle diese geben über den fraglichen Punkt eben
so wenig Aufschluss.
Ebenso glaube ich nicht, dass wegen der zuweilen vorkommen¬
den Vererbung der angeborenen Hüftverrenkung die mechanische
Theorie abgewiesen werden müsse. Auch beim Klumpfuss kommt
zuweilen eine Vererbung vor, ohne dass deshalb irgend Jemand den
Klumpfuss aus der Reihe der intrauterinen Belastungsdeformitäten
streichen will.
Wenn, wie ich glaube, meine Ausführungen im grossen und
ganzen beweisen, dass durch eine Forcirung der für den Fötus
normalen Flexion, Adduction und Innenrotation des Hüftgelenkes das
typische Bild der angeborenen Hüftverrenkung zu Stande kommen
kann — für die seltenen atypischen Fälle müssen natürlich andere
Erklärungen gesucht werden —, wenn es weiter zweifellos ist, dass
eine derartige Forcirung infolge einer relativ zu geringen Frucht¬
wassermenge zu Stande kommen kann, so erübrigt nun noch, dass
in der That dieser Fruchtwassermangel nachgewiesen werde.
Die Angabe, dass bei der Geburt des betreffenden Kindes die
geringe Fruchtwassermenge aufgefallen sei, erhält man bei der Er¬
hebung der Anamnese ziemlich häufig. Wenn dann andererseits oft
genug diese Angabe nicht gemacht wird, so ist dies doch kein Be¬
weis, dass nicht thatsächlich Fruchtwassermangel bestanden habe.
Denn in den seltensten Fällen wird bei einer normalen Geburt auf
eine zunächst so unwichtige Erscheinung, wie sie eine mässig ver¬
ringerte Fruchtwassermenge darstellt, geachtet werden. Und schliess¬
lich, wenn auch eine normale oder selbst besonders grosse Frucht-
Digitized by VjOOQle
374 A. Schanz. Die Aetiologie der angeborenen Hüftverrenkung.
wassermenge bei der Entbindung beobachtet wurde, so ist damit
nicht der Beweis erbracht, dass nicht zu irgend einer Zeit des intra¬
uterinen Lebens der Fötus doch unter Fruchtwassermangel gelitten
hat. Die hässlichen, nie ganz zu tilgenden Spuren seiner Thätigkeit
sind zu deutlich, als dass man leugnen kann, dass er existirt habe.
Nach Fertigstellung dieser Arbeit, deren Drucklegung sich
etwas verzögerte, wurde ich durch das Referat im Centralblatt fllr
Chirurgie auf die in Virchow's Archiv Bd. 148, Heft 3 neuerdings
erschienene Arbeit von Hirsch „Die Entstehung der angeborenen
Hüftverrenkung“ aufmerksam. Ich freue mich, dass Hirsch auf
etwas anderem Weg als ich im grossen und ganzen zu denselben
Schlüssen gekommen ist. Hirsch erkennt ebenso wie ich nur
die mechanische Theorie als richtig an. Doch genügt ihm nicht
der von der Uteruswand bei Fruchtwassermangel auf den Fötus
ausgeübte Druck. Er fügt diesem noch eine neue Kraft hinzu: die
eigene Wachsthumsenergie des fötalen Femurs. Er sagt: Die eigene
Wachsthumsenergie des fötalen Femurs ist diejenige Kraft, welche
bei einer gepressten Lage des Fötus den in physiologischer Beuge¬
stellung befindlichen fötalen Oberschenkel zu luxiren vermag.
Ich halte diesen von Hirsch neu eingesetzten Factor der
eigenen Wachsthumsenergie zu mindestens für überflüssig. Dass
ausserdem Hirsch seine Berechnungen zum Nachweis dieser neuen
Kraft auf falsche mechanische Grundlagen stützt, zeigt ein Blick
auf die von ihm gegebenen Skizzen.
Digitized by
Google
XXL
Aus der orthopädischen Heilanstalt DDr. Jilling
und Köhler, Aue (Erzgebirge).
Arbeitsklaue als Ersatz der oberen Gliedmassen.
Von
Dr. Köhler.
Mit 3 in den Text gedruckten Abbildungen.
Während wir den Patienten, welche ein Bein verloren haben,
doch wenigstens in den allermeisten Fällen einen brauchbaren Ersatz
verschaffen können, sind die Er¬
satzapparate für die fehlende
obere Gliedmasse, abgesehen
von einigen mechanischen Kunst¬
stückchen, nicht viel mehr als
kosmetische starre Anhängsel.
Jeder Versuch daher, einem Pa¬
tienten, der eine der oberen Glied¬
massen verloren hat, eine Pro¬
these zu verschaffen, die ihn auf
eine einfache Weise befähigt,
wenigstens einige der mannig¬
fachen Verrichtungen des kunst¬
vollen Werkzeuges, wie es die
menschliche Hand darstellt, leicht
auszuführen, muss willkommen
geheissen werden. So haben wir
die Idee des Dr. Bonne freudig
begrüsst, wie er sie in Nr. 46
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 25
Digitized by LjOOQle
376
Köhler.
des Jahrganges 1896 der Deutschen medicinischen Wochenschrift
veröffentlicht (Greifhand zum Ersatz der oberen Extremität mit
Fig. 2.
Fussbetrieb). Wir haben auf eine andere Weise versucht, dem
Patienten bei Verlust des Vorderarmes zu nützen, indem wir eine
Art von Arbeitsklaue in der Werkstätte unserer orthopädischen
Heilanstalt construirten, die ich mir im folgenden zu beschreiben
erlauben will.
Digitized by
Google
Arbeitsklaue als Ersatz der oberen Gliedmassen.
377
Dieselbe besteht aus einer Orangelederhülse a für den noch
erhaltenen Oberarm, nach Modell gewalkt. Durch eine Bandage ft,
welche über die Schulter und um die Brust herum geschnallt wird,
ist dieselbe sicher fixirt (Fig. 1). An der Hülse sind zwei seitliche
Schienen c angebracht, mit Charnier für das Ellenbogengelenk ver¬
sehen und bis zu der dem Handgelenk entsprechenden Länge reichend.
Hier fassen sie einen 5 cm langen Hohlcylinder d aus Stahlblech
zwischen sich; in diesem steckt die eigent¬
liche Arbeitsklaue. Diese besteht zunächst Fig. 3.
(Fig. 2) aus einem durchbohrten, in den
Cylinder d genau passenden Stahlbolzen e ,
der an dem hinteren Ende, da, wo er aus
seinem Mantel d herausragt, eine Ein¬
kerbung hat. Ein federnder Schieber f
hält ihn hier in seiner Lage fest, so dass
er nicht vorwärts und rückwärts weichen,
wohl aber im Sinne der Pronation und
Supination sich drehen kann. Am vorderen
Ende gehen von dem Bolzen e aus die
Klauen, von denen die eine, in zwei
Tasten g x und g 2 sich theilend, feststeht,
während die andere Greiftaste h mittelst
eines Charniers i den Tasten g genähert
und von ihnen entfernt werden kann. Das
Nähern erfolgt mit Federkraft durch die
straffe, auf den kurzen Hebelarm der Greif¬
taste h wirkende Feder k . Will nun der
Patient einen Gegenstand, z. B. Sense,
Besenstiel oder dergleichen, anfassen, so
zieht er die bewegliche Klaue mittelst eines
in eine Bohrung am vorderen Ende gesteckten Stiftes l genügend
bei Seite und lässt ihn dann wieder los. Da die Feder sehr straff
ist, die Innenflächen der Tasten gerieft sind, so lassen sich auch
schwere Gegenstände sehr fest halten. Wir haben mehrere Patienten,
die mit dieser Arbeitsklaue land- und hauswirthschaftliche Verrich¬
tungen allerverschiedenster Art gut fertig brachten (Fig. 3).
Es lässt sich auch leicht die Arbeitsklaue zum Auswechseln
machen, so zwar, dass der Patient bequem Arbeitsklauen ver¬
schiedener Grösse und Oeflfnung nach einander anwenden kann. Man
Digitized by VjOOQle
378
Köhler. Arbeitsklaue als Ersatz der oberen Gliedmassen.
braucht nur die Feder k ganz in dem Hohlraum der Kapsel e unter¬
zubringen, wie Fig. 3 zeigt. Der Patient drückt dann einfach auf
den Riegel /*, kann dann die eine Klaue herausnehmen und eine
andere dafür einführen.
Der Vordertheil der Prothese wird mit einer Hülse von der
Form des Vorderarmes überzogen (Fig. 3). Die verschiedenen Grade
der Beugung und Streckung der Ellenbogen werden in der gewöhn¬
lichen Weise durch Gummizug, Riegel oder Riemen vermittelt.
Digitized by VjOOQle
XXII.
Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von
Dr. A. Lüning und Dr. W. Schulthess, Privat-
docenten in Zürich.
x.
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
Von
A. Henggeler, med. pract. in Zürich.
Mit 1 in den Text gedruckten Abbildung.
Ueber Beckenstellung sind von jeher, wie noch über andere
anatomische Verhältnisse der Becken form, fast nur von Seite der
Geburtshelfer und Gynäkologen Beobachtungen gemacht worden. In
weitaus geringerem Grade betheiligten sich bisher die Orthopäden
an der Feststellung einschlägiger Thatsachen.
Um so mehr sehen wir uns veranlasst, eine Zusammenstellung
der Ergebnisse derartiger Messungen während einer Reihe von Jahren
aus dem Institute für Orthopädie der Herren Dr. Lüning und
Schulthess hier niederzulegen.
Seit dem Jahre 1887 wird von Dr. Schulthess der Unter¬
suchung der Skoliosen und Kyphosen nebst den anderen Messungs¬
ergebnissen stets noch die Messung zur Bestimmung der Becken¬
neigung mit dem „Nivellircirkel“ beigefügt.
Diesen Messungen lag vor allem das Princip zu Grunde, zur
Bestimmung der Stellungs- bezw. Neigungsverhältnisse des Beckens
zwei Punkte zu wählen, die besonders schnell und sicher aufgefunden
werden können, und deren Lage in Bezug auf Stellung und Form-
Digitized by CjOOQle
380
A. Henggeier.
Verhältnisse des Beckens eine gewisse Gesetzmässigkeit aufweisen,
deren im Interesse zuverlässiger Ergebnisse nicht entbehrt werden sollte.
Als solche Punkte müssen in erster Linie jene gelten, die durch
deutliche Prominenz sich auch dem weniger Geübten nicht entziehen
können, und traf man die Wahl der Spinae ossis ilei, und zwar die
Verbindungslinie der Spina anterior mit der Spina posterior superior,
welche Punkte leicht auffindbar sind und in ihrer gegenseitigen
Stellung gut fixirt werden können.
Zur Bestimmung des Neigungsverhältnisses der genannten Punkte
bedurfte es eines Instrumentes, das rasch und sicher den Neigungs¬
grad an einer Skala ablesen lässt.
Die bisherigen Methoden der Höhenbestimmung oder Bestim¬
mung von Niveaudifferenzen von zwei Punkten am Körper sind alle
umständlich und unsicher, so das Verfahren mit der Wasserwage.
Hierbei wird gefärbte Flüssigkeit durch einen mit zwei gläsernen
Endstücken versehenen Schlauch eingefüllt. Die gläsernen Endstücke
enthalten eine Centimetereintheilung, und so ist es möglich, unter
Anlegung der gläsernen Cylinder die Höhendifferenz zweier Punkte
mit ziemlicher Sicherheit abzulesen, vorausgesetzt, dass die Cylinder
an senkrechten Flächen angelegt werden können, w r as aber gerade
beim Becken nicht zutrifft.
Unbequem und unsicher ist auch die Methode, die benannten
Punkte durch das Bandmaass auf den Boden oder vermittelst eines
senkrechten Massstabes auf einen Tisch zu bestimmen.
Exacter macht sich eine solche Messung vermittelst des „Zan-
der'schen Messapparates“, nur ist es auch hier nicht möglich, die
beiden Punkte auf einmal zu fassen; es fehlte also bisher ein hand¬
liches Instrument, welches die erforderlichen raschen Neigungs¬
bestimmungen gestattete.
Zu diesem Zwecke wurde von Dr. Schulthess ein Instrument
hergestellt, das er selbst in der „Zeitschrift für orthopädische Chi¬
rurgie“, Bd. I 1892 folgenderinassen beschreibt:
„Die Schenkel eines Tastercirkels werden über den Drehpunkt
hinaus verlängert (siehe Fig. a und a x ). In die eine dieser Ver¬
längerungen wird in bestimmter Distanz vom Drehpunkte des Cirkels
ein Stahlstab b vermittelst einer kleinen Achse c eingelenkt. Die
Verlängerung des anderen Cirkelschenkels trägt in derselben Distanz
vom Drehpunkte eine ebenfalls um eine Achse c x drehbare Hülse,
durch welche der Stahlstab durchgeschoben wird.
Digitized by
Google
Beiträge zur Kenntniss der Beckensteliung.
381
* Dieser steht infolge dessen bei allen Stellungen des Cirkels
der Verbindungslinie der Cirkelspitzen parallel, insofern, was natür¬
lich auch erforderlich ist, der Stahlstab und die Cirkelspitzen in der¬
selben Ebene liegen. Auf dem so placirten Stahlstabe pendelt nun
ein Gradbogen d, der vermittelst einer in seiner Ebene liegenden
Hülse e über den Stahlstab geschoben wird. Der Gradbogen
wiederum, dessen Eintheilung vom Nullpunkte in der Mitte nach
links und rechts geht, trägt einen Zeiger f , der im Mittelpunkte h
des Gradbogens befestigt und mit einem Gegengewichte versehen ist,
so dass er in einer Ebene pendelt, welche im rechten Winkel zu
derjenigen steht, um die der Gradbogen vermittelst seiner Hülse
pendelt.
Digitized by VjOOQle
382
A. Henggeler.
„Das Gegengewicht des Zeigers sowohl als die an seinem Auf¬
hängepunkte angebrachte Metallmasse stellt den Gradbogen und den
Zeiger immer senkrecht. Der Neigungswinkel des Stahlstabes zur
Horizontalen kann also am Gradbogen einfach abgelesen werden,
damit ist aber auch der Neigungswinkel der zwischen die Cirkel-
spitzen gefassten Linie bestimmt.
„Um auch anatomische Messungen, z. B. in der Beckenhöhle,
vornehmen zu können, ist das Instrument mit einem zweiten Paare
nach auswärts gerichteter Cirkelspitzen versehen, welche statt der
einwärts gebogenen eingesetzt werden können.
„Will man also die relative Höhendifferenz zweier Punkte be¬
stimmen, so legt man die Cirkelspitzen einfach an die betreffenden
Punkte an und liest am Gradbogen den Neigungswinkel ihrer Ver¬
bindungslinie zur Horizontalen ab. Bestimmt man zugleich noch die
Distanz der beiden Punkte, so ist es auf trigonometrischem Wege
möglich, die absolute Höhendifferenz zu bestimmen. Man kann aber
auch vermittelst des Cirkels sehr bequem bestimmen, welcher zweite
Punkt einem bestimmten Punkte diametral und horizontal gegen¬
über liegt.“
Bei der Ansetzung der Tasterenden zur Bestimmung der Becken¬
neigung nach der Dr. Schult he ss’schen Methode sollen die am
meisten prominenten Punkte der Spinae gewählt werden; ferner ist
der Art der Neigung, bezw. deren Richtung nach vorne oder hinten,
jeweilen genaue Beachtung zu schenken.
Was die Ergebnisse dieser Messungsmethode anlangt, so ist
vor allem gegenüber den anderen gebräuchlichen der Umstand zu
betonen, dass bei der hier geübten doppelseitigen Bestimmung sich
Differenzen im Neigungsgrade der beiden Cristae nicht selten ergeben,
die aber keineswegs dazu angethan sind, den Werth der vorgenom¬
menen Messungen zu vermindern, sondern die im Gegentheile uns
werthvolle Auskunft über Anomalien der übrigen Beckenform zu
verschaffen bestimmt sind; so finden sich nicht gerade selten erheb¬
liche Unterschiede im Neigungsgrade der einzelnen Verbindungs¬
linien der Spinae ossis ilei, rechts gegenüber links, ohne dass hierbei
die Höhenlage der Spinae anteriores superiores in ihrer Gegenseitig¬
keit eine Differenz zeigt, umgekehrt aber finden sich auch bei gleichen
oder ähnlichen Neigungsverhältnissen der beiderseitigen Cristae wesent¬
liche, ja oft gerade umgekehrte Höhendifferenzen im Standpunkte
der beiden Spinae anteriores superiores; doch hiervon später.
Digitized by CjOOQle
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
383
Was die Vornahme unserer hier in Frage kommenden Mes¬
sungen anlangt, so wurden dieselben beim gewöhnlichen, aufrechten
Stehen des Individuums mit parallelen Füssen ohne besondere Zwangs¬
haltung vorgenommen. Die Stellung mit parallelen um ungefähr
um die Fussbreite von einander gestellten Füssen wurde gewählt,
weil bei jeder Stellung mit Divergenz der Füsse der Grad der Di¬
vergenz hätte angegeben werden müssen.
Wir betonen dies deshalb, weil die Zahl der bei den verschie¬
denen Messungsmethoden, wie solche in der später erwähnten Lite¬
ratur angegeben sind, benutzten Körperhaltungen fast so gross wie
jene der betreffenden Autoren selbst ist, mit anderen Worten, es
haben alle diese Messungen für den Kliniker nur einen relativen
und nach unserem Dafürhalten dann um so höheren Werth, wenn
solche bei möglichst normaler, zwangloser Haltung des zu messenden
Individuums, immerhin nach bestimmtem Modus, vorgenommen werden,
indem nur dann eine klinisch verwerthbare Durchschnittszahl be¬
rechnet werden kann, wenn wir auch gerne zugeben, dass Becken¬
neigungsbestimmungen bei gewissen Rotations-, Bewegungs-, Diver¬
genzzuständen der Unterschenkel etc. von hohem Interesse sein mögen.
Untersuchungsmaterial: Ueber das unseren Untersuchungen
zu Grunde liegende Material wurden Messungsangaben gemacht:
1. Ueber die wirkliche Neigung der beiderseitigen Verbindungs¬
linie der Spinae posteriores superiores mit den Spinae anteriores
superiores ossis ilei, je weilen von der linken und rechten Seite ge¬
sondert angegeben.
2. Des Neigungsgrades der beiden Spinae anteriores superiores
zu einander (der Neigungsgrad ist in Graden von 360° angegeben).
3. Diese Messungsresultate der beiderseitigen Cristae wurden
in Beziehung gebracht zur Neigung der Conjugata vera.
Zu solchen Messungen standen 611 verschiedene Individuen
zur Verfügung.
Wenn wir das unseren Messungen und Erörterungen zu Grunde
liegende Material einer eingehenden Kritik unterwerfen, so muss vor
allem betont werden, dass bei den Messungen in erster Linie
Skoliosen verschiedenen Grades zur Untersuchung gelangten, ferner
Kinder mit runden Rücken, in geringerer Zahl Fälle von Spondy¬
litis, Coxitis, congenitaler Luxation und andere mehr, infolge dessen
werden die Untersuchungsergebnisse nicht in der Art aufzufassen
sein, als ob sie an einem normalen Materiale von verschiedenen
Digitized by ejOOQle
384
A. Henggeier.
Lebensaltern gewonnen worden wären. Weitaus die grösste Zahl
der Gemessenen sind Kinder.
Wir versuchten den angeführten Uebelstand bei der tabellari¬
schen Verwerthung dadurch möglichst auszumerzen, dass wir alle
Neigungsdifferenzen höheren Grades zwischen den beiden Spinalinien,
schon von über 3°, bei der Verwerthung vollständig ausschlossen.
Wir werden in der später folgenden tabellarischen Uebersicht
Gelegenheit finden, auch die Neigungsdifferenzen über 3°, die dort
unter einer gemeinsamen Rubrik * pathologische Fälle“ Platz finden,
kennen zu lernen und uns dabei vor allem auch überzeugen, in
welchem Verhältnisse sich die Zahl dieser abnormen Fälle zu jener
der normalen verhielt.
Ein weiterer wichtiger Punkt, auf den jetzt schon hingewiesen
sein soll, besteht darin, dass von den bei unseren Messungen zur
Untersuchung Herangezogenen hauptsächlich das Entwickelungsalter
vom 8. bis 20. Lebensjahre vertreten und nur durch eine relativ
geringe Anzahl jüngerer und älterer Individuen die Durchschnitts¬
berechnung beeinflusst wird; wir glauben hierauf um so mehr auf¬
merksam machen zu sollen, da wohl mit Recht angenommen wird,
dass bei den meisten Menschen unter 20 Jahren meist noch keine nach¬
theilige Beeinflussung der bezw. Verhältnisse durch Beschäftigung
des Berufes etc. in Frage kommen können, sondern es sich hier um
eine wirklich physiologische Entwickelung, wenigstens in der Gross¬
zahl der Fälle, handelt, was gegenüber früheren Messungen an er¬
wachsenen Lebenden und Leichen zu beachten sein wird.
Sodann erscheint unser Untersuchungsmaterial gegenüber den
bisher meist in sehr geringen Zahlenverhältnissen vertretenen Ar¬
beiten durch seine grosse Zahl von besonderem Werthe zu sein.
Wo man sich bisher mit solchen Messungen abgab, glaubte
man meist schon nach kleinen Messungsreihen verwerthbare Durch¬
schnittszahlen zu berechnen berechtigt zu sein; wir müssen dieser
Ansicht entgegenhalten, dass wir bei der grossen Zahl der unseren
Erörterungen zu Grunde liegenden Messungen im Gegentheile zur
Einsicht gelangt sind, dass hierfür noch wesentlich grössere Zahlen
erwünscht wären, zumal wenn es sich um eine Berechnung für die
einzelnen Altersjahre handeln sollte, wenn wir auch vollständig der
Ansicht sind, dass die Beckenneigung keine absolute ist, sondern
dass dieselbe stabilen Veränderungen viel mehr ausgesetzt ist, als
bisher angenommen wurde.
Digitized by VjOOQle
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
385
Wir werden in der tabellarischen Uebersicht wahrnehmen, dass
wir in einzelnen Lebensaltern eine sehr erhebliche Anzahl von
Messungsresultaten finden, die vielleicht im Durchschnitt auf einen
bleibenden Werth Anspruch zu machen berechtigt sind, währenddem
andere Altersjahre nur kleine Reihen aufweisen.
Endlich aber hielten wir es bei der Ansicht von einer erhöhten
Beckenneigung beim weiblichen Geschlechte gegenüber dem männ¬
lichen auch nöthig, bezügliche Vergleichstabellen zu erstellen, wobei
es sich allerdings erwies, dass bei einer Gesammtzahl von 530 weib¬
lichen nur eine Anzahl von 108 männlichen zum Durchschnitts ver¬
gleiche herangezogen werden konnte, und zwar waren auch bei dieser
letzteren Zahl einige Altersjahre ohne Messungen, wofür wir auf
Tabelle III b zu verweisen uns gestatten möchten.
Anatomisches Vergleichsmaterial. Es liegt uns daran,
einen Vergleich zwischen der von uns gefundenen Neigung der Cristae
und der wirklichen Beckenneigung anzustellen, damit die gewonnenen
Resultate für die Kenntniss der Beckenneigung verwendet werden
können. Eine solche Verhältnisszahl kann nun auf zweierlei Arten
gewonnen werden:
1. Auf mathematisch empirischem Wege durch Umrechnung.
2. Auf rein empirischem Wege durch Bestimmung der Diffe¬
renz des Neigungsgrades der genannten Verbindungslinie (von der
Spina post. sup. zur Spina ant. sup.) zur wirklichen Beckenneigung,
(1. h. zur Neigung der Conjugata vera (Verbindungslinie vom oberen
Rande des Promontorium zur Symphyse).
Was nun den ersten Weg anbetrifft, so bedarf es hierzu der
Kenntniss:
1. Der Distanz der Verbindungslinie der Spina post. sup. zu
den Spinae ant. sup. beider Seiten.
2. Der Distanz der Spinae ant. sup. beiderseits.
3. Der Distanz der Spinae post. sup. beiderseits.
Ferner müsste dann der Neigungsgrad, der nun berechenbar ist,
eines Sagittalschnittes dieser durch die genannten Punkte bestimmten
Ebene verglichen werden mit der wirklichen Neigung der Con¬
jugata vera.
Dieser Vergleich könnte nicht anders als auf empirischem Wege
zu Stande gebracht werden.
Da die genannten Distanzen, besonders bei dem kindlichen
Digitized by
Google
386
A. Henggeier.
Becken, ausserordentlich wechseln und uns in grösserer Zahl nicht
zu Gebote standen, so wurden wir ohne weiteres auf den rein
empirischen Weg verwiesen an Hand von Messungen an todtem
Material.
Zu diesen Controllmessungen wurden uns von den Herren Di-
rectoren der Frauenklinik und der Anatomie, den Herren Professoren
Wyder und Stöhr, in zuvorkommenster Weise Skeletbecken zur
Verfügung gestellt, wofür den beiden Herren an dieser Stelle der
aufrichtigste Dank ausgesprochen sein soll.
Zu diesen Messungen wurden nur normale Becken verwendet
und diese durch Festschrauben in eine sichere, unverrückbare Stel¬
lung gebracht, sodann folgten der Reihe nach die Messung der
Neigung der Cristae links und rechts und hernach der Conjugata
vera, und wurden Gradzahl und Neigungsrichtung notirt, so ergab
sich Tabelle VI, aus der schliesslich die Verhältnissziffer zwischen
Cristaneigung und Neigung der Conjugata vera herausgerechnet
wurde, dadurch dass die Neigungsdifferenz beider Linien in eine
Colonne eingetragen wurde, aus welcher als Mittel aus sämmtlichen
Gemessenen eine „Constante“ hervorging, die nun auf den Lebenden
angewandt aus der Neigungssumme ihrer Grösse und derjenigen der
Cristaneigung einen Schluss auf die Neigung der Conjugata vera des
zu Messenden zu ziehen erlaubt.
Auch am skeletirten Becken wurden als Ansatzpunkt der beiden
Tastercirkel nicht etwa die tiefst gelegene Partie der Spina post,
sup. oder die höchste der Spina ant. sup., sondern wiederum die
prominentesten Punkte der beiden Spinae gewählt, um hierdurch
möglichst gleiche Verhältnisse wie bei Messung am Lebenden zu
erhalten.
Was die Anzahl der uns möglichen Controllmessungen anlangt,
so wiegt auch hierbei das weibliche Geschlecht wieder bedeutend
vor und stellt sich die Zahl der männlichen zu den weiblichen wie
8: 15. Eine Uebersicht der hier gewonnenen Messungsresultate
wurde dadurch gegeben, dass eine Tabelle angelegt wurde, die zu¬
erst mit fortlaufender Nummer versehene Messungsresultate von
8 männlichen und hernach solche von 15 weiblichen Becken enthält.
Schenken wir nun den Maassergebnissen dieses anatomischen
Vergleichsmateriales nähere Aufmerksamkeit, so ergibt sich, dass
die Kürzungsdifferenz der beiden gemessenen Linien bei diesen Becken
schwankt zwischen 28—35° in 15 Fällen, wovon 11 mal zwischen
Digitized by CjOOQle
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
387
30—33°, während der Rest bis zum Maximum von 47° und bis zum
Minimum von 24,5° sich bewegt. Sowohl das Maximum wie auch
das Minimum findet sich beim weiblichen Geschlecht©, während die
männlichen Becken sich zwischen 29—35° bewegen.
Bei einer Berechnung des durchschnittlichen Neigungsgrades
sämmtlicher zur Controlle gemessenen Becken zeigt sich, dass das
männliche Becken wesentlich, d. h. um 2,3° unter dieser Durch¬
schnittsneigung steht, mit anderen Worten die hohe Durchschnitts¬
neigungsdifferenz von 34,3° zwischen Cristae und Conjugata vera
ist bedingt durch die erhöhte Neigung des weiblichen Beckens, wes¬
halb es wohl angezeigt ist, auch beim Maass am Lebenden auf diese
Verhältnisszahlen entsprechende Rücksicht zu nehmen.
Obgleich die uns zur Verfügung stehende Zahl von Becken
gering ist, und Maximum und Minimum der Differenz um 23° aus¬
einanderliegt, so findet sich dabei doch eine auffallend grosse Zahl
constanterDifferenzen, die ca. 33° im Mittel beträgt; dementsprechend
werden wir später diese Zahl bei unseren Erwägungen mit der
nöthigen Vorsicht gebrauchen.
Hiermit sind wir am Punkte angelangt, unser statistisches Ma¬
terial vorzulegen, und wird uns zu dessen Beurtheilung die aus den
Vergleichsmessungen gewonnene Tabelle VI noch fernerhin bestim¬
mend leiten.
Statistik. Zur Einleitung der Arbeit wurde von uns eine
Grundtabelle angelegt, in der sich das klinische Untersuchungs¬
material in der Reihenfolge, wie uns selbes aus den betreffenden
Journalen zugänglich war, angeordnet findet, zugleich wurden auch so
weit wie möglich die Diagnosen der gemessenen Patienten eingetragen,
um den Beleg für unsere oben gemachte Mittheilung bezüglich
„Skoliotischer“ zu erbringen.
Aus dieser Grundtabelle I ging eine Alterst abeile, Tabelle Ila
und b, hervor, deren Registrirung das Alter der Gemessenen zu
Grunde gelegt wurde, ausserdem wurde schon in dieser Tabelle das
Geschlecht besonders angegeben, um hieraus Tabelle III, die unten
besprochen werden soll, herzustellen.
Auch die pathologischen Fälle sind auf Tabelle II angemerkt,
aber nicht weiter in Berechnung gezogen worden.
Tabelle II b enthält Messungen von Individuen, die früher schon
einmal gemessen worden waren, und zwar wurden auf dieser Tabelle
Digitized by VjOOQle
388
A. Henggeier.
nur jene Messungen aufgeführt, die von jener ersten Messung zeit¬
lich möglichst weit entfernt waren, und als zulässiges Minimum hier¬
bei 1 Jahr Zeitunterschied angenommen.
Tabelle I und Tabelle IIa und b bleiben behufs Uebersichtlich-
keit ausser Druck. Tabelle III, die als Grundlage Tabelle Ila und b
hat, sollte möglichst das Verhalten der Beckenneigungsverhältnisse bei
den beiden Geschlechtern getrennt und nach Altersjahren geordnet vor
Augen führen, und weist unten dann nebst einer Uebersicht der An¬
zahl Gemessener auch jene Durchschnittsergebnisse aller Altersjahre
auf, sowie in einer Colonne zusammengestellt die Neigungsdifferenz
zwischen beiden Cristae, wovon wir oben schon kurze Andeutung
machten. Auf den ersten Blick ist auch hier das Ueberwiegen
der weiblichen Patienten gegenüber den männlichen ersichtlich, und
zwar verhält sich die Anzahl der weiblichen Gemessenen zu jener
der männlichen wie 5:1, wobei zu bemerken ist, dass beim weib¬
lichen Geschlechte vom 5. bis incl. 20. Altersjahre alle Lebensjahre,
wenn auch mit sehr verschiedener Anzahl, vertreten sind, während
beim männlichen Geschlechte das 19. und 20. Jahr gar keine Ge¬
messenen aufweist.
Das Decennium von 20—30 wurde in zwei Abschnitte, vom
20.—25. und 25.—30. Jahre, getheilt, vom 30.—40. Jahre finden
alle Gemessenen in der gleichen Rubrik Raum, ebenso jene wenigen
über 40 Jahre in eigener Rubrik.
Aus dieser nach Geschlechtern getrennten Alterstabelle ergab
sich Tabelle IV nach folgenden Gesichtspunkten:
Diese Tabelle IV zeigt uns das Messungsdurchschnittsergebniss
der links- und rechtsseitigen Cristaneigungen ohne Rücksicht auf
das Geschlecht, jedoch ebenfalls nach Altersjahren wie die vorher¬
gehende geordnet; auch die Differenz der beiderseitigen Cristaneigung
ist in einer besonderen Colonne ersichtlich gemacht, und um eine
Gesammtübersicht zu ermöglichen, ist auch die Anzahl der auf die
einzelnen Altersjahre angegebenen * pathologischen Fälle“ hier sum¬
marisch zusammengestellt, sowie das Procentverhältniss zwischen
pathologischen und normalen Fällen nach oben angedeuteten Grund¬
sätzen veranschaulicht, wobei sich ergibt, dass bei einem Total von
710 Gemessenen 77 Fälle als pathologisch von der Verwerthung bei
unserer Arbeit ausgeschlossen wurden. Es verhält sich, wie ersicht¬
lich, im Durchschnitte aller Messungen die Zahl der Normalen zu
der der Pathologischen wie 89,16 °/o zu 10,84 °/o.
Digitized by
Google
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
389
Es folgt nun eine Special tabeile V, welche keinen directen
Bezug nimmt auf die BeckenneigungsVerhältnisse selbst, sondern
welche die gegenseitige Höhenlage der beiden Spinae ant. sup. be¬
handelt, d. h. das Höher- oder Tieferstehen der einen Seite gegen¬
über der anderen.
Wie schon oben angedeutet, finden wir einen Höher- oder
Tieferstand der einen Spina ant. sup. nicht nur, wenn die eine
Beckenhälfte gegenüber der anderen gesenkt ist, d. h. bei Stellungs¬
veränderungen, sondern auch bei Beckenasymmetrie. Handelt es sich
um Stellungsveränderung allein, so kann: 1. eine einfache Senkung
im Sinne einer Rotation um eine horizontale in der Sagittalebene ge¬
legene Achse vorhanden sein, 2. eine Senkung nach der einen Seite,
unter gleichzeitiger Drehung um eine vertikale Achse. Bei dieser
letzteren Stellungsveränderung erschiene also die eine Spina gegen¬
über der Verbindungslinie der Fussgelenke verschoben, bezw. vor¬
geschoben. Dieses letztere Verhalten ist das ungemein viel häufigere,
ja es wäre zu untersuchen, ob überhaupt Senkung des Beckens nach
einer Seite, ohne gleichzeitige Rotation, physiologisch vorkäme. Um
mehr physiologisches Material zu erhalten, wurden auch hier sämmt-
liche Neigungsdifferenzen von mehr wie 3° als pathologisch ausge¬
schaltet, ihre Zahl ist aus der letzten Rubrik der Tabelle V
ersichtlich. In dieser Tabelle V finden wir, ebenfalls wieder nach
Jahrgängen geordnet, die seitlichen NeigungsVerhältnisse der Verbin¬
dungslinie der beiden Spinae ant. sup. nach links und rechts im
Durchschnitte angegeben, sodann folgen zwei Rubriken, die uns über
die Anzahl -der* Gemessenen mit bestimmter Neigungsrichtung Aus¬
kunft ertheilen, endlich in einer dritten Colonne finden wir angegeben
die Zahl jener mit beiderseits gleich hoch stehenden Spinae ant, sup.
Nach Klarlegung der von uns hergestellten Statistik sei es er¬
laubt, auf deren Ergebniss nach oben angedeuteten Gesichtspunkten
einzugehen.
Ergebnisse der Statistik. Tabelle III. Wenn wir vor allem
die Neigungen der Cristae linkerseits und rechterseits getrennt be¬
trachten, so fällt schon bei der oberflächlichen Betrachtung bei der
Abtheilung a der Tabelle III (Weibliches Geschlecht) das rasche
Ansteigen der Cristaneigung links vom 5. zum (3. Altersjahre auf,
wo dieselbe mehr wie 6° beträgt, vom 6.—12. Jahre bleibt diese
Neigung ohne grossen Unterschied bestehen, und zwar so, dass sie
Digitized by
Google
390
A. Henggeier.
sich während dieser 6 Altersjahre um keinen ganzen Grad ändert,
vom 13. bis und mit dem 15. Jahre sinkt der Neigungsgrad um
volle 3° gegenüber den früheren; im 16. und 17. Jahre macht sich
wieder ein deutliches Steigen der Neigungszahl bemerkbar, welches
im 18. und 19. Jahre abermals zurückgeht, um dann beim 20. Jahre
beginnend bis zum 30. eine fortwährende Steigerung zu erfahren
und hernach wiederum zu sinken.
In ganz gleicher Weise verhält sich auch das Neigungsver-
hältniss der rechtsseitigen Crista, und nur im 5. Jahre zeigt sich
die rechtsseitige Crista um 1,25° weniger geneigt wie links und er¬
reicht im 19. Altersjahre eine abermalige Neigungsdifferenz im gleichen
und zwischen dem 30.—40. Jahre im entgegengesetzten Sinne von l ü .
Lassen wir kleine Differenzen weg, so bleibt jedenfalls die
Constanz der Beckenneigung vom 6.—12. Jahre eine auffallende Er¬
scheinung, ebenso die Lage der Minima im 5. und 19. Jahre.
Selbst beim Durchschnitt aller 530 hier in Betracht fallenden
Gemessenen zeigt sich zwischen links- und rechtsseitiger Cristaneigung
nur eine vollständig ausser Betracht fallende Differenz von 0,16°.
Beim zweiten Theile von Tabelle III (Männliches Geschlecht)
ist vor allem auffällig der hohe Neigungsgrad des einzigen gemes¬
senen 5jährigen Knaben, der wohl als zufällig gedeutet werden
muss. Das 6.—8. Altersjahr zeigen eine gleichmässige Zunahme
des Neigungsgrades, im 9. Jahre aber fällt die Zahl um 1,7°,
um im 10. und 11. Jahre wieder anzusteigen und im 12. Jahre fast
auf das Maass des 9. Jahres zurückzugehen, mit dem 13. Jahre be¬
ginnt ein abermaliges Ansteigen der Neigungsziffer, das bis und mit
dem 16. Jahre anhält, im 17. und 18. Jahre aber wieder zurückgeht,
vom 20. zum 40. Jahre wieder grösser ist.
Die geringe Zahl der in jedem Lebensjahre Gemessenen, die
17 nicht übersteigt und meist unter 10 bleibt, verbietet uns, aus
diesen Schwankungen für die einzelnen Lebensjahre ein Gesetz ab¬
zuleiten. Wenn wir bei Betrachtung dieser Tabelle lila und b einen
Vergleich zwischen den beiden Geschlechtern anstellen, so ergeben
sich in mehrfacher Hinsicht Differenzen.
In erster Linie ergibt sich auch hier eine Bestätigung der An¬
nahme einer erhöhten Beckenneigung der Cristae beim weiblichen
gegenüber dem männlichen Geschlechte, ferner finden wir den Höhe¬
punkt der Neigung beim weiblichen Geschlechte im 10., beim männ¬
lichen Geschlechte im 16. Altersjahre, die durchschnittliche Neigungs-
Digitized by VjOOQle
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
391
differenz in der Stellung der linken und rechten Crista ist beim
weiblichen Geschlechte grösser wie beim männlichen. Auffällig mag
erscheinen, dass bei unserer Vergleichung der geringste Grad von
Neigung der Cristae beim weiblichen Geschlechte, und zwar im
19. Jahre sich findet, leider finden wir im gleichen Alter keine An¬
gabe über das männliche Geschlecht wegen totalem Fehlen von
Messungen in diesem Altersjahre.
Wenn wir auf die höheren Altersjahre nicht vergleichend ein-
treten, so geschieht dies wegen Mangel an genügendem Material,
bezw. Messungen, die uns hier zum Vergleiche offen stünden, und weil
daher solchen Deductionen nur relativer Werth könnte zugestanden
werden; es sei hier nur kurz auf die grosse NeigungsdiflFerenz zwischen
den beiden Geschlechtern vom 30.—40. Jahre hingewiesen.
Im Auschluss an diese Vergleichung des Verhaltens bei beiden
Geschlechtern ist es von Interesse, auch ohne Rücksichtnahme auf
die Differenz nach den Geschlechtern einen allgemeinen Blick auf
die Summe unserer Messungsresultate zu werfen, wie Tabelle IV uns
dieselben bietet.
Wie aus dem oben Gesagten bereits ersichtlich ist, liegt die
Zahl der Gesammtneigungsdiflferenz der Cristalinien zwischen jener
beider Geschlechter näher jener des weiblichen, und wird der höchste
Neigungsgrad mit 11,02 im 10. Altersjahre erreicht, und zwar für
beide Cristae.
In diese Tabelle ist auch die Rubrik „pathologische Fälle“
aufgenommen, und soll hier bemerkt sein, dass im 7. Altersjahre und
vom 25.—30. Jahre gar keine solchen zur Beobachtung gelangten,
während deren Anzahl sich auf die übrigen Altersjahre in der Weise
vertheilt, dass sie im 19. Jahre mit 28 °/o ihre Höhe und vom 5. bis
45. Jahre mit 10,84 °/o ihren Durchschnitt erreichte, absolut genom¬
men wurden am meisten pathologische Fälle im 16. Altersjahre mit
14 von 61 der Gemessenen beobachtet.
Auch die Anzahl aller in den einzelnen Altersjahren zur Mes¬
sung Gelangten ist eine sehr variable; sie beginnt mit einer im
5. Jahre, mit Höhenerreichung bei 90 Gemessenen im 13. Jahre.
Bei einem Totale von 710 Gemessenen resultiren 77 pathologische
Fälle, bleibt an Normalen 89,16 °/o.
Tabelle V, welche lediglich das gegenseitige Verhalten der beiden
Spinae ant. sup. behandelt, erzeugt bei einem Totale von 477 Gemessenen
183 Gemessene mit Neigung der Verbindungslinie der beiden Spin.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 26
Digitized by VjOooLe
392
A. Henggeier.
ant. sup. nach links, 160 mit Neigung nach rechts und nur 134
mit gleich hochstehenden Spinae ant. sup., ferner 77 mit erhöhter,
demnach pathologischer Neigung, die alle nicht in Rechnung ge¬
bracht wurden.
Die Rubriken 3 und 4 sind durch Summirung der unter 3 &
sich haltenden Differenzen gewonnen, und es wäre die Frage zu ent¬
scheiden, ob eine Gewohnheitsstellung durchweg oder in einzelnen
Altersperioden sich erkennen lässt. Die Durchsicht ergibt, dass bis
und mit dem 12. Lebensjahre die rechte Crista etwas mehr Nei¬
gung zeigt wie die linke, im 13. Jahre finden wir das umgekehrte
Verhalten, ebenso im 15. und zwar hier sehr deutlich, während das
14. und 16. Jahr sich dem erstgenannten Typus wieder anschliesst.
Zweifelsohne ist es speciell das Verhalten des 13. und 15. Jahres,
welches das sonst vorherrschend geringere Tieferstehen der rechten
Crista für den Durchschnitt verändert und ein Vorwiegen der
Neigung nach links für die Gesammtzahl zu Stande bringt.
Welche Gründe hier dieses eigentümliche Verhalten des 13. und
15. Lebensjahres veranlassen, ist uns unbekannt, dagegen möchten
wir vermuten, dass hier doch das Vorhandensein vieler Skoliosen
einen Einfluss ausgeübt hat. Was die Neigungsgrade anlangt, so
erzeigt die Neigung nach links eine Durchschnittsgrösse von 0,77°,
jene nach rechts eine solche von 0,7°, in Worten ausgedrückt, die
Neigung der Spinae geht häufiger nach links als nach rechte und
übertrifft letztere auch um ein Weniges an Stärke. Gleicher Stand
der Spinae ist seltener als Neigung nach einer Seite hin.
Bei Betrachtung dieser Tabelle wird auch ersichtlich, wie durch
die Methode der Messungen mit dem „Nivellirzirkel“ weitere wich¬
tige Anhaltspunkte zur Untersuchung von Beckendifformitäten ge¬
wonnen werden können und durch Vergleich unserer Spinamessungen
mit den Messungen der Cristalinien gewonnen worden sind.
Hier möchten wir auf eine äusserst selten vorkommende Sym¬
metrie der gesammten Maasse hinweisen, nämlich jene, wo Spinae
ant. sup. und Spin. post. sup. vollkommen in einer horizontalen
Ebene liegen, d. h. keinerlei Neigung ihrer Verbindungslinien in
sagittaler und frontaler Richtung aufweisen.
Ein weiteres Vorkommniss besteht in einer Umdrehung und
Verschiebung der beiden Darmbeinschaufeln in der Frontalachse,
die oft durch Vergleich der Spinamessung mit jener der Cristae
sehr interessant veranschaulicht wird, wie z. B. Fälle zeigen, wo bei
Digitized by CjOOQle
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
393
vermehrter Neigung der Cristae der einen Seite die Neigung der
Spinae dennoch nach der anderen Seite geht.
Endlich verdienen hier noch jene Becken besondere Erwäh¬
nung, wo bei gleich oder fast gleich hochstehenden Spinae ant sup.
eine Neigung der Cristae nach hinten hin stattfindet, wodurch mit
Umrechnung auf die Neigung der Conjugata vera jene als bedeutend
vermindert angenommen werden muss.
Nachdem wir uns des Längeren über die Neigung der Cristae
und letztlich der Spinae ausgelassen haben, wünschen wir ein Bei¬
spiel der Art und Weise der Berechnung der Neigung der Con¬
jugata vera nach dem am skeletirten Becken Gefundenen zu geben.
Wir haben oben den Modus der Berechnung des Neigungs¬
verhältnisses der Cristae zu demjenigen der Conjugata vera kurz be¬
sprochen und wollen uns der Kürze halber auf jenes Gesagte berufen.
Die in unserer Tabelle VI angegebenen DiflFerenzzahlen be¬
deuten in Worten ausgedrückt den Unterschied, der besteht zwischen
der Neigung der Cristae und jener der Conjugata vera, anders ge¬
sagt, wenn wir von der Cristaeneigung ausgehend die wirkliche
Beckenneigung, d. h. jene der Conjugata vera zu bestimmen wün¬
schen, so haben wir zu der aus der anatomischen Vergleichstabelle
gewonnenen „Constante“ die gemessene Cristaeneigung einfach zu¬
zuzählen, z. B. wir haben linkerseits 12°, rechterseits ebenfalls 12°
Neigung der Cristae, so ergibt sich folgende einfache Berechnung:
Constante für männliche Becken 32 0
Neigung der Cristae . . . .12°
Neigung der Conjugata vera . 44°
Wo die Neigungen der Cristae verschieden sind, wird durch
Summirung derselben und nachfolgende Division die richtige Nei¬
gungszahl gewonnen, z. B.:
linke Crista 14°, rechte Crista 12°, Durchschnitt . 13°
Constante für weibliche Becken. 35,5°
Neigung der Conjugata vera.48,5°
Selbstverständlich dürfen wir diese Zahl der immerhin vor¬
kommenden grossen Differenz im Verhalten der Neigung der Cristae
zu der Neigung der Conjugata vera wegen nur mit grosser Vorsicht
und nur da gebrauchen, wo es sich um grössere Zahlen handelt,
um so mehr als die bei uns verwerteten Messungen an Lebenden,
Digitized by VjOOQle
394
A. Henggeier.
meist an Kindern, vorgenommen wurden, und das von uns verwendete
anatomische Material durchweg von Erwachsenen stammt.
Vergleich unserer Resultate mit den aus der Lite¬
ratur bekannten über Beckenneigung. Um unsere Zahlen zu
vergleichen mit den in der Literatur bekannt gegebenen Becken¬
neigungsbestimmungen, haben wir eine Tabelle VH hergestellt, die
für die beiden Geschlechter auf Grundlage der Tabelle lila und b
umgearbeitet wurde. Alle Messungen wurden, wie oben gesagt, bei
parallelen Füssen und Normalhaltung der zu Messenden vorge¬
nommen, denn zur Grundlage für den Kliniker, in unserem Falle
für den Orthopäden, kann in erster Linie nur die gewöhnliche, un¬
gezwungene Haltung des zu Messenden in Betracht fallen.
Wenn wir nun einen Blick auf Tabelle VTI werfen, die uns die
wirkliche Beckenneigung zeigt, so ergeben sich in Kürze nach¬
folgende Verhältnisse:
Durchschnitt der Conj. vera-Neig. beim weibl. Becken 44,0°,
r „ beim männl. Becken 40,1°,
„ * * beim Becken beider
Geschlechter . . . 42,2°.
An diese Auseinandersetzungen anschliessend, mag es von In¬
teresse sein, zu vernehmen, wie die vorliegende Frage der Becken¬
neigungsverhältnisse sich bis auf den heutigen Tag entwickelt hat
welche Resultate deren Untersuchungen jeweilen zeitigte und in
welchen Beziehungen sich dieselben zu den unserigen, wie solche
sich aus Tabelle VII erzeigen, verhalten.
Heinrich Deventer machte im Jahre 1701 als erster auf die
Wichtigkeit der Kenntniss der Beckenhöhlenform des Weibes im
allgemeinen aufmerksam, dagegen war Joh. Jak. Müller der erste
Arzt, der sich eingehend mit dem Studium dieser Frage, insbe¬
sondere der Beckenneigung in seiner 1745 erschienenen Inaugural¬
dissertation beschäftigte. Müller war geboren am 22. Februar 1720,
gestorben am 21. Januar 1757, lebte seinem Berufe als Arzt in
Wattwyl, Toggenburg, wo er den Ruf eines vorzüglichen Geburts¬
helfers genoss. Er berechnet, ohne Beschreibung der seinen Unter¬
suchungen zu Grunde gelegten Messungsmethode, die Neigung der
Conjugata vera zur Horizontalen für das weibliche Becken auf 45°.
Nach Müller beschäftigten sich eine Reihe von Aerzten mit
Digitized by CjOOQle
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
395
Beckenneigungsbestimmungen, worunter nach Angaben Nägele's
genannt sein mögen Roederer 1751, Smellie 1751, Levret 1753,
Peter Camper 1759, M. Saxtorph und J. Bang 1764, Stein,
ö. W. der ältere 1770, Bandelagne 1781, Sommer 1791,Creve 1794,
Stein, 6. W. der jüngere 1797, Osiander, Carns, Chonlant etc.,
bis 1825 Dr. Franz Carl Nägele in einer ausführlichen Arbeit
auf die Beckenneigungsverhältnisse eingeht. Er untersuchte, wie
seine Vorgänger, ausschliesslich weibliche Becken und zwar ver¬
mittelst des Fadensenkels die Entfernungen der Steissbeinspitze und
des unteren Symphysenrandes vom Boden; sodann hatte er bei meh¬
reren so Gemessenen Gelegenheit, nach deren Tode bei Herstellung
obiger Distanzverhältnisse auch die Conjugata vera zu messen und
hieraus seine Berechnungen abzuleiten, die ihn zur Annahme führten,
dass der Neigungswinkel der Conjugata vera bei Weibern im Durch¬
schnitte 60° betrage.
1836 befassten sich die Gebr. Weber zum erstenmale mit Nei¬
gungsbestimmungen an männlichen Becken, nach der gleichen Me¬
thode wie Nägele, nur legten sie beide Fadensenkel zugleich an
und nahmen nachher das Maass der Entfernung der beiden Faden;
nur 2mal hatten sie Gelegenheit, ihre Messungen an Lebenden durch
Nachmessungen an verstorbenen Gemessenen einer Controlle zu unter¬
werfen, was ihre hieraus gezogenen Schlüsse mit Recht gewagt er¬
scheinen lässt. Sie bestimmten den Neigungsgrad der Conjugata
vera beim männlichen Becken auf 65°.
1841 berechnete Krause die Neigung für beide Geschlechter
gleich, auf durchschnittlich 60°.
Die erste grössere Arbeit über Beckenneigungsbestimmung aus
neuerer Zeit veröffentlichte Prof. H. Meyer 1873, wo er auch auf
die bisher häufig vertretene falsche Ansicht „Die Constanz der Becken¬
neigung“ zu sprechen kommt, und deren Unrichtigkeit experimen¬
tell widerlegt; er berechnet die Neigung der Conjugata vera aus der
Neigungslinie der Normalconjugata, deren Differenz gegenüber der
ersteren 30° betragen soll.
Das Minimum der Neigung fand Meyer beim männlichen
Becken mit 40° bei 20° Divergenz und 0° Rotation der Beinachse,
beim weiblichen mit 45° bei 25° Divergenz und 10° Einwärtsrota*-
tion, jede andere Stellung bedingt nach Meyer Spannung des Lig.
ileofemorate und daherige Steigerung des Neigungswinkels der Con¬
jugata vera bis 100°. Nach seinen sehr eingehenden Untersuchungen,
Digitized by
Google
396 A - Henggeier.
die aber alle an Leichen vorgenomraen wurden, kommt Meyer zu
folgenden Schlusssätzen:
1. Die Beckenneigung ist keine absolute.
2. Sie ist abhängig von der Beinstellung.
3. Das weibliche Becken zeigt eine steilere Neigung wie das
männliche.
Für das gewöhnliche aufrechte Stehen ist der Neigungsgrad
der Conjugata vera:
1. Bei parallelen Beinachsen beim männlichen Becken 50°,
beim weiblichen 55°.
2. Beim militärischen Stehen mit Knieschluss beim männ¬
lichen Becken über 50°, beim weiblichen ungefähr 60°.
Meyer betont die grosse Schwankung des Neigungswinkels
bei verschiedenen Individuen, die er auf die verschiedene Normal¬
haltung zurückführt.
Meyer zieht seine Schlüsse von 9 männlichen und 7 weib¬
lichen Becken.
1882 erschien eine sehr beachtenswerthe, bisher die ein¬
gehendste Abhandlung über Beckenneigungsverbältnisse von Pro-
chovnik in Hamburg, der seine Messungen bei parallel stehenden
Füssen, aber anliegenden inneren Fussrändern vornahm, und zwar
wurde gemessen:
1. Die Distanz vom oberen Symphysenrand zum Fussboden.
2. Die Distanz vom Proc. spinös, des letzten Lendenwirbels
zum Fussboden.
3. Die Conjugata externa vermittelst Tasterzirkel.
Aus diesen Linien bestimmt Prochovnik durch trigonometrische
Umrechnung die Neigung der Conjugata vera sehr umständlich; er
hat zu diesem Zwecke sogar eine Reihe von Tabellen ausgerechnet,
an deren Hand er am Lebenden die Neigung für das männliche
Becken auf 51,72°, für das weibliche auf 54,17° bestimmt, für
beide Geschlechter nimmt er 50—60° als normal, 45—50° als sub-
und 60—65° als supernormal an.
Der Verfasser ist bei seiner Berechnung streng mathematisch
zu Werke gegangen, seine Abhandlung bietet entschieden den Ein¬
druck grosser Gründlichkeit. Fassen wir nun zu einer abschliessen¬
den Vergleichung die Neigungsverhältnisse früherer Messungsresultate
mit den unserigen zusammen, so ergibt sich folgende Zusammen¬
stellung :
Digitized by CjOOQle
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
397
Neigung der Conjugata vera nach
für das männl. Becken für das weibl. Becken
Müller.
45“
—
Nägele.
00°
—
Gebr. Weber ....
—
65°
Krause .
CT.
O
o
60°
H. Meyer.
55°
©
o
IO
Prochovnik ....
54,17°
51,72°
Unsere Messungsresultate
44°
41,1°
Wir haben nun allerdings schon oben auf die Eigenartigkeit
des unseren Erörterungen zu Grunde liegenden Untersuchungsmate¬
rials hingewiesen und können uns daher auf kurze Besprechung der
Ergebnisse beim Vergleiche beschränken. Am ähnlichsten, um nicht
zu sagen gleich ist unser Messungsresultat füs das weibliche Becken
mit 44,0° gegenüber demjenigen Müller’s, der hiefür 45° an¬
gegeben hat; bedeutend different ist es gegenüber den Angaben
Nägele's und Krause’s, die für das weibliche Becken eine Con-
jugataneigung von 60° angeben, gegenüber H. Meyer’s Angaben
für den Durchschnitt um 10,9°, bezw. es steht gleich dem von diesem
Autor berechneten Minimum für das weibliche Becken.
Von neueren Forschungen kommt sie am nächsten der Con¬
jugata vera, deren Neigung Pr och ovnik am weiblichen Becken auf
54,17° berechnete, mit einer Differenz von 10,07° gegen dieselbe.
Für das männliche Becken steht unsere Angabe am nächsten denen
Meyer's, gegen welche sie um 9° tiefer steht, sodann folgt
Prochovnik mit seiner Berechnung von 51,72°, gegen die unser
Mittel um 10,72° zurückbleibt.
Die Untersuchungen der Gebr. Weber und von Krause,
welche ersterer eine Durchschnittsneigung von 65° und letzterer eine
solche von 60° für das männliche Becken berechneten, weichen da¬
her von unseren Angaben um 24° bezw. 19° ab. Wir haben oben
schon auf die Kühnheit der Gebr. Weber’schen Bestimmungen auf¬
merksam gemacht, und bezweifeln auch die Richtigkeit der Unter¬
suchungen von Krause, welche die einzigen sind, welche entgegen
allen anderen beim weiblichen und männlichen Geschlechte keine
Differenz in der Beckenneigung annehmen.
Wenn wir nun noch mit einigen Worten auf die Differenz¬
zahlen im Neigungsgrade zwischen weiblichen und männlichen Becken
Digitized by
Google
398
A. Henggeier.
zu sprechen kommen, so sind hier nur die Ergebnisse Meyers
und Prochovnik’s mit den unseren zu vergleichen und ergeben
sich da folgende Differenzzahlen:
H. Meyer . . . 5°,
Prochovnik . . 2,40",
Unsere Messungen. 2,9°.
Unsere Differenzzahl steht demnach in der Mitte zwischen dem
Resultate Meyer’s und Prochovnik’s, immerhin näher letzterem.
Das Gesammtresultat unserer Untersuchungen fassen wir in folgende
Schlusssätze zusammen.
1. Der Neigungswinkel der Conjugata vera ist kein constanter,
er wechselt nach Geschlecht, Alter,. Individuum, Haltung und Stel¬
lung etc.
2. Das weibliche Becken zeigt im Durchschnitt im heran-
wachsenden und erwachsenen Alter höhere Neigung wie das
männliche.
3. Die Durchschnittsgrösse des Neigungswinkels der Con¬
jugata vera beim männlichen Becken beträgt 41,1°, beim weib¬
lichen 44,0°, im Durchschnitte beider Geschlechter 42,55 °.
Die Durchschnittsgrösse des Neigungswinkels der Conjugata
vera in den einzelnen Altersjahren bewegt sich beim männlichen
zwischen 47° und 37°, beim weiblichen in engeren Grenzen, näm¬
lich zwischen 46,5° und 38,5°.
4. Der Neigungsgrad der Conjugata vera bis zum 20. Jahre
ist bei beiden Geschlechtern auch im Durchschnitte wechselnd, vom
20.—30. Jahre zunehmend, immerhin ist die letztere Angabe mit
Rücksicht auf die geringe Zahl mit Vorsicht aufzunehmen.
5. Die Beckenneigung wurde von uns am grössten gefunden
im Alter von 10 Jahren beim weiblichen und von 16 Jahren beim
männlichen Geschlechte.
6. Die Neigung der Verbindungslinie der beiden Spinae ant.
sup. geht häufiger nach links wie nach rechts, die Zahl verhält sieh
wie 183 : 160; am seltensten ist die Höhenlage der beiden Spinae
gleich, nämlich 134 auf 477 Gemessene.
Beim Schluss dieser Abhandlung angelangt, sei es dem Ver¬
fasser gestattet, Herrn Dr. W. Schulthess den besten Dank auszu-
sprechen für die Anregung zu der vorliegenden Arbeit, sowie für
die gütige Ueberlassung des Materiales.
Digitized by VjOOQle
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
Tabelle lila.
399
Laufende II
Nummer |
Ge-
schlecht
Alters -
jahr
Linke
Crista
Rechte
Crista
Diffe¬
renz
Anzahl
der Ge¬
messenen
Bemerkungen
1
Weiblich
5.
5,25
4,00
1,25
4 Kinder
2
*
6.
11,33
11,16
0,17
6 ,,
5
n
7.
11,16
11,11
0,05
18 „
4
»
8.
10,23
10,13
0,10
29 „
Die pathologi-
:»
Jl
9.
11,08
10,62
0,46
24 ,
sehen Fälle sind
6
77
10.
11,68
11,14
0,29
41 „
nicht mit ein-
4
77
11.
11,38
11,16
0,22
36 ,
bezogen worden.
H
7»
12.
10,93
11,08
0,15
57 „
S)
91
13.
9,84
9,66
0,18
66
10
11
14.
8,83
8,69
0,14
66 „
11
T
15.
7,88
8,25
0,37
60 ,
12
*
16.
8,70
8,82
0,12
40 *
13
17.
9,00
8,86
0,14
23 „
14
H
18.
7,00
7,64
0,64
17 „
15
u
19.
3,40
2,40
1,00
5 „
IG
20.
8,50
8,50
0,00
10 *
17
„
20.-25.
8,69
8,76
0,07
13 ,
18
7»
25.-30.
9,10
9,10
0,00
10 „
19
30.—40.
4,25
5,25
1,00
4 „
20
»»
Ueber 40.
6,00
6,00
0,00
1 Kind
o
£
Weiblich
5.-45.
8,45 | 8,61 0,16
Tabelle Illb.
»530 Kinder
m ©
g s
«2 s
Ge-
Alters¬
Linke
Rechte
Diffe-
Anzahl
der Ge¬
Bemerkungen
a §
3*
schlecht
jahr
Crista
Crista
renz
messenen
1
Männlich
5.
15,00
1 Kind
2
6.
6,00
1 .
3
*
7.
6,22
6,55
0,33
9 Kinder
4
i*
8.
6,80
6,80
5 ,
Die pathologi¬
5
7*
9.
5,10
MN
10 „
schen Fälle sind
6
*
10.
8,25
MlAlIlü
8 .
nicht mit ein-
7
71
11.
9,11
9,44
9 .
bezogen worden.
8
7 »
12.
5,33
5,66
0,33
9 ,
9
*
13.
8,11
7,88
mwxm
17 ,
10
7 *
14.
8,80
Mmü
10 .
11
77
15.
9,50
6 .
12
77
16.
11,62
1,12
8
13
77
17.
8,33
9,33
3 .
14
77
18.
6,85
7,00
0,15
2 ,
15
77
19.
—
—
—
16
7 »
20.
—
—
—
—
17
77
20.—25.
7,20
5 .
18
25.-30.
—
-
-
19
77
30.—40.
10,75
■tMtli
4 .
20
7 »
Ueber 40.
6,00
m
1 Kind
Total: | Männlich
| 5.-45.
i 8,17
8,18
0,01
j 108 Kinder
i
Digitized by
Google
400
A. Henggeier.
Digitized by VjOOQle
Tabelle IV
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
, ® i bfl
2'S S §
s.a-g g)
£ g>8'3
3 .fl c
3.2 J d
STi O.S
3 * ® SL
3 -S'Sc»
i g-S
hfl« t»
fl fl g>,fl
» ’Qh § S
•2 1 'o.g)
g S.-S 2-§
5 ,® s s «s
Cc2 » g
fe § s ^J3
„ Ülg-ü
3 I«.SPja
3 S-* 3 2 °
fl © *fl fl cs
CO S s
jlj
f 9 l
•f Ö §
:§*«
A fl fl
•3 O
(M-^CO^r-OOCOC-^COiOOlGOCO
OHONOt>Oi^OU3MWCOiOH^^cOCO ^
*—• hNhhh CO
<OCCCOOO^^rHCO^^(Nt-^<NrHOOJcC ©
t—i hhOJhNHh I <^>
«COD-iOCD»-H^f<iO©COiO(M©iOC>3^C'-C'303 00
rHfHr-tOJOJO)*-'rH 00
o © © ooooeooocoooooo© ©
*■< © 0> CO iO »O 05 O © 00 03 t> 00 00 03 00 00 iO O
nhco<ncqnioo:hnh jj Cg
oooooooooocoooooooo ©
WiOOJrHfHOSiOOlCOXNOOOOJCOOlCOflCO 00
iHrHrHOJCJC^OOlOliH HH t>
CO
•5 K********:*»:***«;*«»,; .fl
»fl cä
^ »-s
iö co t> oö o> ö *+ oi eö ^ »o cc r> oo o> ö *o © ©
rtrHrHHiHiHrtrHiHpHOJOJCO^ ^
OlOO
03 (N CO I
'fl i §
'S o g
Si 03 «*< iO © <*< 03 CO © 03 03 03 CO 00 ■*< iO 05 CC C~ 00 C~
g vH 03 03 00 00 IO CO © lO 00 03 i-c r-
Digitized by
Google
Durchschnitt: 0,77
402
A. Henggeier.
Tabelle VI.
Lide.
Nr.
Ge-
schlecht
Linke
Crista
Rechte
Crista
Conjugata
vera
Differenz
per
Einzelfall
Ge-
schlechte.
differenz
Total.
differenz
1
Männlich
26° n. h.
29® n. h.
5» n. v.
32,5»
2
n
12° n. h.
16° n. h.
16® n. v.
30,0®
3
b
30° n. h.
21° n. h.
4® n. v.
29,0»
4
26° n. h.
20® n. h.
9° n. v.
32,0°
5
b
12° n. h.
33° n. h.
11® n. v.
33,5°
► 32,0°
6
b
5° n. v.
1° n. v.
34® n. v.
31,0°
7
m
5° n. v.
5® n. v.
40° n. v.
35,0°
8
B
5° n. v.
5® n. v.
38® n. v.
33,0°
9
Weiblich
28° n. h.
29° n. h.
1° n. v.
29,5®
10
»
18° n. h.
25® n. h.
11® n. v.
33,0®
11
B
20° n. h.
22® n. h.
10» n. v.
32,5®
► 34.3®
12
B
20° n. h.
21® n. h.
25® n. v.
45,5*
13
B
19° n. h.
9“ n. h.
24® n. v.
28,0®
14
B
5° n. h.
18® n. h.
21® n. v.
32,5®
15
B
12° n. h.
9® n. h.
27» n. v.
37,5®
16
B
12° n. h.
18» n. h.
32® n. v.
47,0®
► 85,5®
17
B
18° n. h.
27“ n. h.
2® n. v.
24,5®
l
18
B
14® n. v.
14® n. v.
47» n. v.
33,0®
i
19
B
30® n. h.
33» n. h.
1» n. v.
32,5»
20
B
30® n. h.
35® n. h.
6® n. v.
88,5®
21
35® n. h.
38® n. h.
4® n. v.
40,5®
22
B
33® n. h.
36® n. h.
6® n. v.
40,5»
23
B
36® n. h.
33® n. h.
4® n. v.
38,5»
>
Digitized by VjOOQle
Tabelle VII.
Beiträge zur Kenntniss der Beckenstellung.
403
»
. 3
a d
o fco
O a
i So
■“ m k ^ r ^
Q £ tc d P Ä ~ OC
's s ä } *s^'g s 2
“ ?c-° Sjs
ci.i gp
s a
f'i'Oocst^Or-r'OHHCooaj
-^COCOCOOO^^OO^^^’^’^CO
o o o
o »oo
Ci I oioo
CO ^ CO
o
03
c S
o §
o -2
oocococo
o e o © ©
© © OO©OOOOOOO©©
03 03 03 03 03 03 03 03 03 03 03 03 Ol 03 I
CO CO CO CO CO 00 CO CO CO CO CO CO CO CO 1
o © ©
oi I oi oT
cn 1 oo <aö
o
3 '
p^suQ *p 3un£]j
-iauswiuijo9
’ -qo-ina
© © © ©
© © c © ©
OOOOOOOiOOO*OOiOO
io*oot^iOodoioodcicT»-?odi>
©
o
00
00
<v
- 4 -»
<
'S ************** *oööö
»-5 03 CO ^
löcßt^oöddi-icicc^^ct^oöcid L L l
hhhhhhhh-ihNOiOO, 5 ;
_03 03 CO _)
i
= 2
l ‘ "
a * *. $. p.
* R * K R
a
.9
2
Hoico^icof-ajcJOHWco^otot^ajoso
HHHHHHHHriHOl
o
tc
£
o
33
3 g^> iJSÄ
Sc
a i’g-^
•g ““'3.23^
SgA°—§*
©©©©ccoooccocoococoo
O »O i-O i/J O iO 0 O O O O »-O i-O C O O iO O »O
o O CO »C C CO O 50 »C CO ’f '«f ci 00 ’t '«f O 1H
ä -3 i-s %
82**1
o
©
00
00
a>
B “S
6 I
©©©©©©CCCCC©©©C ©©©©0
iO *0 *0 O O iO iC iC iO »O iO o »c O O iO »O »O iC »o
iC io' WO »O »O iO iO tO io" iO iO »O *C *0 iO^*o iO io *cT »o*
cocococococococococococococococococococo
o
©
oo©cococcooo©oeco©oo
*•0 © © © IO © © © IO iO © »O © © © iO *o © *o ©
^^^oo^^-^cjododoocii^cdodoociTfo
»—« t-H y-H y-H y-H rH rH
^suQ *p Suns|
•xeu^iuqos
-qojn(X
o
o
o»
rÄ
d
»OCOt^OOCSCrHOlCOTfiCOt^OOOO
IO © © ©
03 CO ^ ^
I M i
hhhhhhhhhhOOOOOl?
_03 03 CO D
*-i
iO
I
1 Ö
j£
o
£
*3 Ä
i-i03CO'^iOOr-OOCiO»-'03CO'«tOCOC^OOCiO
HHHriHHHHHHO)
.3
o
E-«
Digitized by
Google
Durch8chnitt8neigung der Conjugata beider Geschlechter betragt 42,2°.
XXIII.
Mittheilungen aus dem orthopädischen Institute von
Dr. A. Lüning und Dr. W. Schnlthess, Privat-
docenten in Zürich.
XI.
Klinische Studien Uber die Totalskoliose und die dabei
beobachtete concavseitige Torsion.
Von
Jakob Steiner, med. pract.
Mit 5 in den Text gedruckten Abbildungen.
Unter Totalskoliose im allgemeinen verstand man bis jetzt solche
Skoliosen, bei welchen sich an der Seitenabweichung der Wirbel¬
säule gleichmässig sämmtliclie Abschnitte der Lenden- und Brust¬
wirbelsäule, eventuell das Kreuzbein betheiligen und die Kuppe des
Krümmungsscheitels ungefähr in der Mitte der Länge genannter
Wirbelsäulenabschnitte oder der ganzen Wirbelsäule zusammen-
gerechnet, liegt.
Ueber das Vorkommen derselben herrscht bei den verschiedenen
Autoren keineswegs Einmüthigkeit; meistens wird die Ausdehnung
der Krümmung auf die ganze Länge der Wirbelsäule als eine Eigen¬
schaft der rhachitischen Skoliosen bezeichnet. König erwähnt,
dass im frühen Kindesalter die Skoliosen meistens als Totalkrüm¬
mungen sich darstellen.
Vom pathologisch-anatomischen Standpunkte aus ist sie unseres
Wissens bis jetzt nicht beschrieben worden; ja in verschiedenen
Abhandlungen über Skoliose fehlt dies Krankheitsbild vollständig.
Digitized by CjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
405
Hoffa beschreibt dasselbe in seinem Lehrbuch der orthopädischen
Chirurgie und ist der Ansicht, dass eine klinisch nicht festzustellende
Gegenkrümmung in der Lendenwirbelsäule vorhanden sei, dadurch,
dass in dfer Regel der zweite Lendenwirbel sich keilförmig abschrägt;
auch bringt er die Totalskoliose mit dem runden Rücken in Zu¬
sammenhang.
Dr. W. Schulthess theilt die Totalskoiiose ein in wirkliche und
scheinbare und anerkennt als erstere diejenige, welche den beschrie¬
benen Krümmungstypus rein nach weisen lässt, und bei welcher keine
Gegenkrümmungen zu finden sind, als scheinbare dagegen diejenige,
bei welcher die Krümmung zwar ebenfalls dem genannten Typus
entspricht, dagegen bei StellungsVeränderung (Vorbeugehaltung) oder
im weiteren Verlauf oder durch streng localisirte Torsionserschei¬
nungen sich an irgend einer Stelle der Wirbelsäule das Vorhanden¬
sein eines asymmetrischen Wirbels nachweisen lässt. Die Erklärung
dafür, dass in diesen Fällen die Krümmung dennoch als eine totale
sich repräsentirt, wäre in den individuellen Eigenschaften der Knochen
(Weichheit, jugendliches Alter, grosse Elasticität), möglicherweise
auch im anteroposterioren Typus zu suchen.
Dass der runde Rücken sehr häufig mit einer Totalskoliose
verläuft, und dass überhaupt Totalskoliose selten mit guter Aus¬
bildung der anteroposterioren Krümmung zusammenfällt, ist von
W. Schulthess in den klinischen Studien über das Verhalten der
physiologischen Krümmung 1 ) nachgewiesen worden.
Um constatiren zu können, ob dieses Krankheitsbild sich wirk¬
lich rein vorfinde, und wie sich dabei die Torsion der Wirbelsäule,
des Thorax und des Schultergürtels gegen das Becken verhalte, haben
wir versucht, die klinischen Eigenschaften der Totalskoliose an Hand
des Materials des oben genannten Institutes festzustellen.
Der Weitschichtigkeit der Untersuchung wegen mussten wir
uns in diesen Mittheilungen hauptsächlich auf die Erörterung der
Torsions Verhältnisse beschränken. In zuvorkommendsterWeise wurde
uns von Dr. W. Schulthess das gesammte diesbezügliche Material
zur Verfügung gestellt, und die zur Sichtung desselben nöthige An¬
leitung gegeben.
Bei der Zusammenstellung der Totalskoliosen hielten wir uns
an die in den Institutsberichten als solche verzeichneten Fälle. Wir
*) Centralblatt für orthopäd. Chirurgie u. Mechanik 1889.
Digitized by VjOOQle
406
Jakob Steiner.
versuchten dabei aus diesem Material die Fälle von reiner Total¬
skoliose auszuscheiden und die anderen so gut als möglich zu charak-
terisiren, um dadurch eine Uebersicht über diese grosse Gruppe zu
bekommen.
Als Wegleitung diente uns bei dieser Untersuchung einerseits
die Form des Verlaufes der Dornfortsatzlinie, andererseits die Torsion.
Es ist bereits in dieser Zeitschrift Bd. I von G. Jach an der Hand des
Institutsmaterials über das Verhalten der Torsion bei Skoliosen be¬
richtet worden, und wir verweisen in Bezug auf die Auffassung der
Torsion als klinisches Symptom gegenüber der sogen. Rotation (der
physiologischen Drehung) auf die genannte Abhandlung 1 ). Ebenda¬
selbst ist das Verhalten der Torsion bei der Totalskoliose in einem
gesonderten Abschnitte besprochen worden. Während aber sämmt«
liche Fälle von Rückgrats Verkrümmungen, die im Projectionsbilde
eine gleichmässige und in einem Bogen verlaufende Seitenabweichung
aufweisen, als Totaiskoliose aufgefasst und registrirt wurden, werden
wir in der nun folgenden Abhandlung nur diejenigen Fälle näher
besprechen, welche, wie oben bemerkt, als Totalskoliosen aufgeführt
sind. Es bleiben somit eine grössere Zahl von Fällen, welche
G. Jach verwendet hat, weg, und zwar betrifft dies ganz besonders
die runden Rücken, welche ja sehr häufig mit Totalskoliose zu¬
sammenfallen.
G. Jach hat in jener Abhandlung schon darauf hingewiesen,
dass sich die Torsionssymptome häufig auf der concaven Seite der
Krümmung geltend machen (bei linksconvexen Skoliosen rechts und
bei rechtsconvexen links). Es wäre somit bei einer grösseren Zahl,
und zwar in über 30 °/o aller Fälle, eine Verdrehung des Schulter¬
gürtels nach rechts bei linksconvexen und eine solche nach linfo
bei rechtsconvexen Totalskoliosen zu erwarten. Es wird ferner dort
angegeben, dass auch auf der Höhe des Scheitels der seitlichen Ab¬
weichung Verdrehung nach der concaven Seite öfters vorkommt.
Im weiteren ergab sich aus jener Arbeit, dass bei Totalskoliose nur
leichte, selten mittelschwere und niemals hochgradige
Torsionserscheinungen auftreten, ebenso, dass mit der Ver-
grösserung des Bogens der Totalskoliose, d. h. mit der Zunahme
l ) Die klinische Auffassung von Dr. W. Schulthess deckt sich hier
mit der pathologisch-anatomischen von Albert (Theorie der Skoliose, Wien,
Alfred Hölder 1890).
Digitized by VjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
407
der Distanz des Krümmungsscheitels von der Sagittalebene keines¬
wegs immer auch die Torsionserscheinungen sich vermehrten, dass
vielmehr schwere Formen der Torsion sich da vorfanden,
wo die Dornfortsatzlinie einen unregelmässigen Verlauf
auf wies. Es zeigte sich also das Gesetz, dass die Torsions¬
erscheinungen eher mit der Form als mit dem Grade der
Seitenabweichung sich änderten.
Wenn wir heute nochmals eine ähnliche Prüfung des Institut¬
materials vornehmen, so geschieht das nicht nur im Hinblick darauf,
dass seit dem Erscheinen jener Arbeit eine grössere Zahl neuer
Fälle hinzukam, sondern auch weil seitdem durch die Einführung
der Nivellirtrapezmessung l ) eine genaue Beurtheilung der Torsions¬
verhältnisse möglich wurde. Da die Nivellirtrapezmessung beim
tiefen Bücken ausgeführt wird, werden die Niveaudifferenzen be¬
seitigt, die durch Vorspringen von sich spannenden Weichtheilen
verursacht werden, und es ist ja auch Aufgabe dieser Arbeit, solche
zufällige Abweichungen möglichst auszumerzen. Wir hofften da¬
durch in Bezug auf die Differenzialdiagnose der eingangs erwähnten
Formen der scheinbaren und wirklichen Totalskoliosen Aufschluss
zu erhalten.
Die im Institut vorhandenen Zeichnungen und Kranken¬
geschichten der von Dr. W. Schulthess als Totalskoliose bezeich-
neten Fälle wurden in einer Tabelle zusammengestellt 2 ). In dieser
Tabelle wurden folgende Punkte notirt:
1. Jouraalnummer mit Alter und Geschlecht.
2. Die Distanz des Krümmungsscheitels der Seitenabweichung
von der auf die Beckenmitte errichteten Verticalen und dessen
Localisation.
3. Der Schulterblattstand nach dem Stand der unteren
Scapulawinkel beurtheilt.
*) Beschreibung und Verwendung dieses Apparates im I. Bericht des
orthopäd. Institutes in dieser Zeitschrift.
*) Die Zeichnungen sind sämmtlich mit dem Messapparate des Dr. Wilh.
Schulthess von ihm persönlich angefertigt. Wir verweisen auf die mehr¬
fachen Beschreibungen derselben in dieser Zeitschrift Bd. I u. II, sowie Central¬
blatt für Orthopädie Beilage zur illustrirten Monatsschrift der ärztlichen Poly¬
technik Nr. 4 IX. J&hrg. 1887. Ebenso sind die nothwendigen Angaben über
die Art der ganzen Krankengeschichten im II. Bericht des orthopäd. Institutes
in Bd. V dieser Zeitschrift niedergelegt.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Baud. 27
Digitized by CjOooLe
408
Jakob Steiner.
4. Die Differenz der beidseitigen Scapuladistanz, so¬
wie die Differenz der Tiefe der beidseitigen Tailleneinziehung.
5. Die physiologische Krümmung.
Um uns aus den Zeichnungen ein genaues Bild hierüber za
machen, bestimmten wir die Tiefe auf folgende Weise: Für die
Kyphose wurde von der Höhe der Vertebra-
** prominenz eine Tangente an die grösste Vor¬
wölbung der Lendenlordose gezogen (Fig. 1 a — i),
von diesen eine Senkrechte an die grösste Höhe
der Rückenkyphose (Fig. lc). Zur Ermittelung
der Lendenlordose wurde eine Tangente von dem
untersten Ende der ganzen Linie an die grösste
Vor Wölbung der Rückenkyphose und von dieser
Tangente eine Senkrechte nach der grössten
Tiefe der Lendenlordose gezogen. Das Verhält-
niss der Höhe der Senkrechten zur Länge der
entsprechenden Tangente (Fig. \cd : ab u. bf: de)
galt als Maass für die Grösse der physiologi¬
schen Krümmung.
6. Das Maass der Torsion beim auf¬
rechten Stehen in allen drei Horizontal-
projectionscurven. Wir haben, wie G. Jach,
die Differenz des Abstandes der zwei am meisten
vorspringenden symmetrischen Punkte der Curven
von der punktirten Linie der Zeichnung ange¬
geben, die die Richtung einer durch die Spinae
ant. sup. gelegten Vertikalebene angibt (Fig. 2—5
unten). — Es wurde aber nicht nur die grössere
oder kleinere Distanz des prominentesten Punktes
von jener Linie berücksichtigt, sondern auch sorg¬
fältig auf die ganze Form der Curve geachtet
Denn wie G. Jach schon erwähnte, liegt die wirkliche Torsionsvor-
wölbung in der Regel aber nicht immer auf der Seite, auf
welcher der am meisten nach hinten prominirende Punkt
liegt. Es ist dies leicht zu verstehen, wenn man bedenkt, dass durch
blosses, starkes Abstehen des unteren Scapulawinkels local eine Vor¬
wölbung hervorgerufen werden kann, welche auf dem Querschnitts¬
bilde eine starke Prominenz des Thorax nach hinten vortäuscht,
während in Wirklichkeit die betreffende Seite des Thorax geradezu
Digitized by VjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
409
weniger stark nach hinten vorgewölbt, somit also Torsion in ent-
gegengesetztem Sinne vorhanden ist. Das Gleiche kann der Fall
sein, wenn in der Lendengegend ein localer Muskelwulst diese schein¬
bare Torsion macht, wenn nämlich dieser Muskelwulst nicht durch
Vordrängen seiner Unterlage, sondern durch Spannung des Muskels
selbst entstanden ist. Diese Erscheinung wird häufig bei Ueber-
hängen des Rumpfes nach der einen Seite beobachtet. Hier spannt
sich gewöhnlich ein Theil der sacrospinalen Muskeln der einen Seite
und bildet so eine scharfmarkirte Prominenz. Entscheidend war
daher für uns der Gesammtverlauf der Curven.
7. Die Maasse der Beckenneigung. Für diese diente uns
die Bestimmung der Höhendifferenz der Spinae ant. sup. und post,
sup. ossis Bei mit dem Nivellirzirkel gemessen 1 )? und in gleicher
Weise wurde die Notiz „Spina vorgeschoben“ verwerthet.
8. Die mit der Nivellirtrapezmessung gewonnenen
Torsionsmaasse, also das Höher- oder Tieferstehen der einen
Beckenhälfte in der Gegend der Spinae post. sup. gemessen und die
Niveaudifferenzen in der Lenden- und Thoraxgegend.
9. Der Verlauf der Dornfortsatzlinie und die Con-
figuration des Rückens bei der Vorbeugehaltung. Hier
wurde, wie das bei der Untersuchung dienende Formular sagt, be¬
rücksichtigt, ob die Dornfortsatzlinie in dieser Haltung gerade wird,
oder einen seitwärts gerichteten Bogen beibehält, und wo, ferner
das Verstrichensein des Sulcus paraspinosus und die in dieser Hal¬
tung besonders ausgeprägte Asymmetrie der Rippenwölbung.
Da von dem gleichen Krankheitsfalle meistens mehrere Zeich¬
nungen existiren, wurde womöglich das Eintrittsbild zur Analyse
benutzt, und nur, wenn dieses nicht vollständig war, oder überhaupt
nicht den Typus der Totalskoliose zeigte, wurde eine spätere Zeich¬
nung gewählt. Ebenso wurde jeweilen womöglich eine Zeichnung
genommen, die auf gleiches Datum die Angaben über Nivellirtrapez¬
messung enthielt 2 ), immerhin auch da nur, wenn diese Zeichnung
dem Bilde der Totalskoliose entsprach.
Nach einer in dieser Art ausgeführten Durchsicht kamen wir
unter Berücksichtigung der angeführten Punkte dazu, vier Haupt-
*) Siehe hierüber den I. Bericht des orthopäd. Institutes in dieser Zeit¬
schrift Bd. I.
*) Die Messung mit dem Nivellirtrapez wurde erst seit dem Jahre 1891
eingeführt.
Digitized by VjOOQle
410
Jakob Steiner.
typen aufzustellen, die sich übrigens auch ohne weiteres aus der
Combination der Torsionsform mit der Seitenabweichung ergaben.
Wir wollen diese Typen als Torsionstypen bezeichnen und finden
bei den Linksconvexen einen
I. Torsionstypus: Linksconvexe Totalskoliosen mit
Torsion nach rechts, d. h. nach der concaven Seite,
76 Fälle, s. Fig. 2.
Fig. 2.
- blau
II. Torsionstypus: Linksconvexe Totalskoliosen mit
Torsion nach links, d. h. nach der convexen Seite,
64 Fälle, Fig. 3.
Bei den Rechtsconvexen:
I. Torsionstypus: Rechtsconvexe Totalskoliosen mit
Torsion nach links, d. h. nach der concaven Seite,
22 Fälle, Fig. 4.
II. Torsionstypus : Rechtsconvexe Totalskoliosen mit
Digitized by VjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
411
Torsion nach rechts, d. h. nach der convexen Seite,
13 Fälle, Fig. 5.
Total 175 Fälle.
Dabei benannten wir vorläufig die Torsion nach der in der
Fig. 3.
Mehrheit der Curven vertretenen Richtung. Wenn z. B. die erste
und zweite Curve Torsion nach links, die dritte Curve Torsion nach
rechts zeigte, betrachteten wir den Fall als Drehung nach links.
Diese summarische Uebersicht machten wir erst nachdem wir
analog der Tabelle von Jach eine Zusammenstellung der Com-
binationen der verschiedenartigsten Torsionsmöglichkeiten in allen
drei Curven gemacht hatten. Denn wir mussten dabei einsehen,
Digitized by CjOOQle
412
Jakob Steiner.
dass wir zu viele Zwischenformen erhielten, so dass aus der Statistik
nicht viel geschlossen werden konnte.
Die zur Eintheilung nothwendige Durchmusterung sämmtlicher
Fälle zeigte uns aber immer deutlicher, dass, wie wir es erwartet
Fig. 4.
- blau
hatten, nur ein Theil der Fälle einer reinen typischen Totalskoliose
entsprach. Wir nahmen daher eine zweite und dritte Durchsicht
der Fälle vor und berücksichtigten hierbei ganz besonders die Form
der Seitenabweichung der Dornfortsatzlinie.
Sehr häufig deutete eine kleine Gegenbiegung in der Frontal-
projection der Spinallinie auf atypischen Charakter des Falles, den
Digitized by CjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
413
wir dann um so eher anzunehmen berechtigt waren, wenn in anderen
Zeichnungen des gleichen Falles diese Erscheinung noch deutlicher
war, oder die Gegenkrümmung sogar in eine typische Doppelkrüm-
mung oder in eine Krümmung in entgegengesetzter Richtung überging.
Fig. 5.
In anderen Fällen wiederum erstreckte sich die Seitenabweichung
nur auf einen beschränkten Theil der Wirbelsäule, oder der Krümmungs¬
scheitel lag sehr tief oder sehr hoch, so dass dadurch und in An¬
betracht der anderen Eigenschaften des Bildes dasselbe grosse Aehn-
lichkeit mit einer Dorsal- oder Lumbalskoliose gewann. Auch hier
war der Fall oft in früheren oder späteren Zeichnungen als solcher
deutlich charakterisirt, und wir hatten es daher mit einer scheinbaren
Totalskoliose zu thun. Auf diese Art gelangten wir schliesslich
ähnlich wie oben unter Berücksichtigung der Torsion, jetzt unter
Berücksichtigung der Seitenabweichung der Dornfortsatz¬
linie allein zur Aufstellung einiger Hauptformen oder
Typen, mit denen die oben angeführten sich zum Theil
decken.
Digitized by VjOOQle
414
Jakob Steiner.
Wir machten nun folgende Gruppen:
1. Typische Totalskoliosen: Der Verlauf der Dornfort¬
satzlinie entspricht der eingangs gegebenen Definition einer Total¬
skoliose in Form und Ausdehnung und in der Localisation des
Krümmungsscheitels.
2. Atypische Formen: Die Dornfortsatzlinie verläuft zwar
in einem seitwärts gerichteten Bogen, aber entweder liegt der
Krümmungsscheitel an abnormer Stelle, oder die Seitenabweichung
dehnt sich nur th eil weise über Brust- und Lendenwirbelsäule aus.
3. Atypische Fälle mit Gegenkrüramung der Dorn¬
fortsatzlinie.
4. Zudem fanden wir 19 Fälle als Totalskoliosen verzeichnet,
deren Seitenabweichungslinie in der Lende plötzlich abbiegt, um
nachher parallel oder sogar divergirend zur Verticalen zu verlaufen,
also stark überhängende Formen, geneigte Krümmungen (Lorenz).
Diese letzteren 19 Fälle lassen wir bei Analysirung des Materials
bei Seite. Der Einfachheit halber unterlassen wir es hier ebenfalls,
den Grad der Torsion anzugeben, um die Uebersicht nicht allzusehr
zu compliciren.
Folgende Tabelle (s. S. 415) war das Ergebniss dieser Zu¬
sammenstellung.
Als wirkliche Totalskoliosen können also nur die 34 in der
Tabelle I genannten typischen Formen aufgefasst werden, sämmt-
liche andere Formen sind entweder der Localisation des Krümmungs¬
scheitels und der Torsion entsprechend oder als Doppelkrümmung
zu registriren. Der Grund dafür, dass sie dennoch bis jetzt als
Totalskoliosen registrirt waren, ist entweder in dem Eindruck zu
suchen, den sie beim ersten Untersuchen hervorriefen oder in dem
Mangel einer deutlichen Localisation der Krümmung.
Trotzdem haben wir auch bei den atypischen Fällen Zusammen¬
stellungen und Tabellen über die Torsionsverhältnisse gemacht, weil
wir uns in einigen Punkten vergleichsweise darauf beziehen.
Bei Betrachtung dieser allgemeinen Uebersichtstabelle muss
vor allem auffallen, dass wir gar keine Fälle verzeichnet finden, bei
denen die Torsion im aufrechten Stehen vollständig fehlt, während
doch G. Jach in seiner Abhandlung von 120 Totalskoliosen 12,
d. h. 1 /i o solcher Fälle erwähnt hat. Zur Erklärung dieses schein¬
baren Widerspruches muss erwähnt werden, dass wir bei der erst¬
maligen Durchsicht der Zeichnungen, bei der nur die Differenz des
Digitized by CjOOQle
Totalskoliosen.
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
415
Digitized by VjOOQle
416
Jakob Steiner.
grössten Abstandes symmetrischer Punkte von der punktirten Mittel¬
linie gemessen wurde, wenn die Differenz nicht mindestens 3 mm
betrug, ebenfalls 15 von 175 Fällen mit fehlender Torsion
notirt hatten. Die zweite Durchsicht der Torsionscurven, wobei
neben dem Maass hauptsächlich der Gesammtverlauf der Curven in
Betracht gezogen wurde, liess uns auch diese Fälle als mit Torsion
behaftet ansehen, wenn auch oft nur in geringem Grade.
Es werden also die von Jach erwähnten Fälle in unserer
Tabelle wahrscheinlich ganz schwachen Torsionen entsprechen und
zwar vielleicht nur in zwei oder einer Curve. Zudem hat Jach in
seiner Arbeit, wie schon erwähnt, viele Fälle von rundem Rücken
verwendet, welche wir gar nicht registrirt haben.
Wir haben nun 140 linksconvexe und 35 rechtsconvexe Total¬
skoliosen, ein Verhältnis, wie es dem von G. Jach angegebenen
ungefähr entspricht. Dabei zeigt sich bei den linksconvexen ein
kleines Plus der Fälle mit concavseitiger Torsion, bei den rechts¬
convexen aber ein bedeutendes Ueberwiegen der concavseitigen Tor¬
sion im ungefähren Verhältnis von 2 : 1.
Bei der Gruppe der typischen Totalskoliosen und bei der
Gruppe der atypischen Formen zusammengenommen zeigt sich das
Ueberwiegen der concavseitigen Torsion noch viel deutlicher als bei
den Gesammtzahlen, und zwar ergibt sich für die linksconvexen in
46 Fällen concavseitige, in 19 Fällen convexseitige Torsion, also
ungefähr das Verhältniss wie 5 : 2.
Bei den rechtsconvexen haben wir in 9 Fällen concavseitige,
in 2 Fällen convexseitige Torsion, demnach ein Verhältniss wie 4 :1.
Es wären demnach in Beziehung auf die Torsion die rechtsconvexen
so ziemlich das Spiegelbild der linksconvexen, besonders, wenn wir
nur die typischen Fälle, ja sogar auch noch die II. Gruppe, die
atypischen Formen in Betracht ziehen.
Bei der nun folgenden Gruppe der atypischen Fälle mit Gegen¬
krümmungen wird dieses Verhältniss gestört. Bei den linksconvexen
wird es geradezu umgekehrt. Sie zeigen den ersten Torsionstypus
weniger häufig wie den zweiten (25:37). Bei den rechtsconvexen
herrscht der I. Torsionstypus noch vor, der zweite kommt ihm aber
sehr nahe (10 : 8).
Ein fernerer Unterschied ist der, dass sich bei den links¬
convexen überhaupt verhältnissmässig mehr typische Fälle der I. und
II. Gruppe finden (65 : 75) als bei den rechtsconvexen, bei denen
Digitized by CjOOQle
Klinische Studien Über die Totalskoliose etc.
417
nur die Hälfte aller Fälle einen annähernd typischen Verlauf der
Dornfortsatzlinie zeigt (11:1. und II. Gruppe, 24:111. und IV. Gruppe).
Die rechtsconvexen Totalskoliosen sind also nicht nur über¬
haupt viel seltener, wenn man typische und atypische Fälle zu-
sammenrechnet, sondern auch die typische reine Form der Total¬
skoliose mit nach der Seite der Concavität gerichteter Torsion ist
seltener.
Wir werden nun jede einzelne Gruppe für sich untersuchen,
und um dies klar thun zu können, führen wir sämmtliche Fälle auf,
fügen 1. die Beobachtungen an den Querschnittsfiguren bei, 2. das
Ergebniss der Nivellirtrapezmessung in der Vorbeugehaltung, wobei
wir den Grad der Torsion weglassen (r bedeutet Rechtstorsion,
1 Linkstorsion), 3. die von uns notirten Bemerkungen über den
Verlauf der Frontalprojection der Dornfortsatzlinie.
A. Typische Totalskoliosen.
I. Typische linksconvexe Totalskoliose.
In erster Linie lassen wir die tabellarische Zusammenstellung
folgen; wo keine Torsion vorhanden ist schreiben wir „0“, wo die
Angabe im Material fehlt, schreiben wir „fehlt“.
Das Frappirende und Wichtigste an dieser Tabelle ist die
ausserordentliche Uebereinstimmung der Nivellirtrapez-
maasse mit den im aufrechten Stehen beobachteten
Torsionsverhältnissen. Leider fehlt das erste Maass in einigen
Fällen, weil diese vor der Einführung jenes Instrumentes (1891)
in die Messungsmethoden des orthopädischen Institutes beobachtet
wurden.
Diese Uebereinstimmung ist ein neuer Beweis dafür, dass die
Messungen mit dem Schulthess’schen Messapparate verhältnissmässig
sehr zuverlässig sind, und dass der Körper des Kindes während der
Messung eine gewisse für das Individuum constante Mittelstellung
einnimmt, obwohl es sich gerade bei den Totalskoliosen um die
heikelsten Objecte handelt, bei denen die Krümmungen nicht so
steif und fixirt sind, wie bei anderen Formen der Skoliose.
Die Vollständigkeit dieser Uebereinstimmung wird in Aus¬
nahmefällen dadurch gestört, dass beim Fehlen von Torsions¬
erscheinungen im aufrechten Stehen solche mit dem Nivellirtrapez
Digitized by
Google
418
Jakob Steiner.
Tabelle II.
Typische linksconvexe Totalskoliose.
I. Torsionstypus.
Horizontalcurven
Nivellir-
trapezmaass
Bemerkungen über die Form
111.
1
1
I.
II.
III.
BrU8tr
wirb.
Len- ,
den-
wirb.
der Seitenabweichung
I. 279
r
r
r
fehlt
fehlt
Ganz typisches Bild.
» » »
III. 338
r
r
r
s
*
I. 368
r
r
r
9
9 I
» » »
III. 366
r
r
r
*
* :
* » *
III. 386
r
r
r
r
r
Dü»
III. 405
r
r
r
fehlt
fehlt j
III. 430
r
r
r
»
s
* * 9
VII. 439
r
r
r
9
9
71 71 9
III. 445
r
r
r
r
r j
9 » 9
II. 598
r
r
r
r
r
III. 717
r
r
r
r
r
m. 786
r
r
r
r
r
IV. 919
r
r
r
fehlt
fehlt
9 9 9
IV. 976
r
r
r
r
r ;
9 9 9
IV. 1033
r
r
l*
r
r
9 9 9
IV. 1116
r
r
r
r
r
V. 1193
r
r
r
r
r |
9 9 9
VI. 1770
r
r
r
r
r
9 9 9
V. 1185
r
r
r
r
r
9 9 9
V. 1302
r
0
fehlt
r
0 1
9 9 9
V. 1473
r
r
0
r
r 1
9 9 9
VII. 1400
r
0
0
II.
r
Torsi
r 4
onsty
9 9 9
P US.
358
1
1
1
0
0
Gegenkrümmung bei Eintritt,
lmal rechtsconvex.
429
1
1
1
r
0
Bei Eintritt Gegenkrümmung,
1417
1
1
1
r
1
jetzt typisch.
Ausgesprochener runder Rücken.
1037
1
1
1
1
1
Jetzt typisch, früher und später
Doppelkrümmung.
619
0
1
1
| 1
1
Typisch, existirt nur in einer
Zeichnung.
629
r
1
1
i
fehlt
fehlt
i
Typisches Bild, aber flacher
Rücken.
beobachtet werden. Immer aber hat bei den linksconyexen
Totalskoliosen mit concavseitiger Torsion beim Aufrecht¬
stehen auch die Nivellirtrapezmessung eine concavseitige
Torsion ergeben.
Digitized by
Google
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
419
Bei den linksconvexen mit convexseitiger Torsion, d. h. beim
II. Torsionstypus finden sich in zwei Fällen eine Torsion concav-
seitig (Nr. 1417 und 429) bei der Nivellirtrapezmessung, während die
Torsion beim aufrechten Stehen convexseitig ist.
Bei 22 Fällen entspricht also die Torsionsrichtung der concaven,
Seite der Krümmung der Dornfortsatzlinie, d. h. dem I. Torsions¬
typus und nur in 6 Fällen der convexen Seite, somit dem II. Torsions¬
typus.
Von diesen letzteren bieten 4 Fälle nur in der zur Analyse
benutzten Zeichnung ein typisches Bild, während der von denselben
Individuen zu anderen Zeiten erhobene Untersuchungsbefund in drei
Fällen mehrere Krümmungen aufweist. Ein Fall zeigt den Typus
eines runden und ein fünfter Fall den ausgesprochenen Typus eines
flachen Rückens. Ein einziger Fall ist eine einwandsfreie Total¬
skoliose, aber nur durch eine Zeichnung vertreten. Der II. Torsions¬
typus scheint also bei ganz reinen Fällen von Totalskoliose kaum
vorzukommen.
Dagegen findet sich fast ausnahmslos die Torsion,
wenn eine solche vorhanden ist, bei den ganz typischen
Fällen von linksconvexen Totalskoliosen auf der concaven,
d. h. auf der rechten Seite vor und zwar sowohl nach der
ersten Methode, durch Zeichnung der drei Horizontalcurven im auf¬
rechten Stehen, als auch durch Messung mit dem Nivellirtrapez in
der Brust- und Lendenwirbelsäule bei Vorbeugehaltung bestimmt.
Eine nur kleine Abweichung von der zuletzt gesagten Ueberein-
stimmung bieten Nr. 1302, 1473 und 1400.
Diese Gesetzmässigkeit der Tabelle ist eine derart auffallende,
dass wir nochmals ausdrücklich betonen zu müssen glauben, dass
wir bei dieser Gruppirung durchaus keine Rücksicht auf die Torsions¬
verhältnisse genommen haben, sondern diese Eintheilung in typische
und nicht typische Fälle lediglich durch Zusammenstellung der Seiten¬
abweichungsbilder machten, um dieselben erst nachher auf das Ver¬
halten der Torsionstypen zu prüfen.
Aus der Thatsache aber, dass bei den linksconvexen Total¬
skoliosen, welche den II. Torsionstypus, d. h. convexseitige Torsion
zeigen, im Verlaufe der Beobachtung früher oder später Abweichungen
von dem Krümmungstypus einer typischen Totalskoliose beobachtet
werden konnten, dürfen wir wohl schliessen, dass es sich auch hier
nicht um reine Fälle mit gleichmässiger Betheiligung sämmtlicher
Digitized by VjOOQle
420
Jakob Steiner.
Wirbelabschnitte gehandelt habe. Vielmehr müssen hier verschiedene
Wirbelasymmetrien in atypischer Anordnung als 'ätiologisches Moment
angesprochen werden.
II. Typische rechtsconvexe Totalskoliosen.
Auch hier geben wir zuerst die tabellarische Uebersicht:
Tabelle III.
Typische rechtsconvexe Totalskoliose.
I. Torsionstypus.
I
1
Horizontalcurven
1
Nivellir*
trapezmaasa
Bemerkungen über die Form
der Seitenabweichung
Nr.
i.
II.
ui.
Brust¬
wirb.
Len- -
den- |
wirb.
211 i
1
1
1
fehlt
fehlt
Ganz typisches Bild.
659
1
1
1
1
1
9 9 9
884
1
1
1
1
1
9 9 9
1535
1
1
1
1
1
9 9 9
1834 ;
1
l
0
1
0
9 9 9
II.
Torsionstypus.
1149 |
r
r
r
r
0 i
Jetzt typisch, zeigt in spateren
1
1
Zeichnungen Doppel kr ümmun-
|
1
!
1
i
gen.
In Bezug auf die Vertheilung der Torsionstypen beobachten
wir hier wiederum das ganz bedeutende Ueberwiegen des I. Torsions¬
typus, nur ein Fall entspricht dem II. Torsionstypus, und dieser
bietet später in der Seitenabweichung ein atypisches Bild.
Ferner zeigt die Zusammenstellung wieder deutlich die voll¬
ständige Uebereinstimmung der im aufrechten Stehen beobachteten
Torsion mit der in Vorbeugehaltung mit dem Nivellirtrapez ge¬
messenen.
Hier widerspricht eigentlich keine Ausnahme dem oben schon
bei den Linksconvexen gewonnenen Gesetze, dass bei der reinen,
der oben gegebenen Definition entsprechenden Totalskoliose die
Digitized by VjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
421
Torsion, wenn sie vorhanden ist, stets dem ersten Torsionstypus
entspricht, und dass dieselbe sowohl im aufrechten Stehen, als beim
tiefen Bücken nachweisbar ist.
Alle dem II. Torsionstypus angehörenden Fälle sind also mehr
oder weniger anfechtbar, insofern sie von dem Krümmungstypus der
reinen Totalskoliose weichen.
Wir glauben daher mit vollem Recht verlangen zu
dürfen, dass die nach der concaven Seite der Krümmung
gerichtete Torsion als integrirender Bestandtheil des
Symptomencomplexes einer reinen Totalskoliose anzu¬
sehen sei, und dass es geradezu als Kennzeichen einer
Mischform zu betrachten sei, wenn dieselbe nicht vor¬
handen ist.
Durch den oben erwähnten frappirenden Befund aufgemuntert,
entschlossen wir uns, nochmals auf die Prüfung dieser ersten Gruppe
einzutreten und stellten uns einzelne Fragen über die Grösse der
Torsion im allgemeinen, über das Verhältniss dieser Grösse zur Grösse
der physiologischen Krümmung und über das Verhältniss der Torsions¬
grösse im aufrechten Stehen zur Torsionsgrösse in Vorbeugehaltung.
Dabei behandelten wir zuerst den ersten Torsionstypus bei den Links¬
convexen und Rechtsconvexen, d. h. die Fälle mit concavseitiger
Torsion, sodann bei beiden den II. Torsionstypus mit convexseitiger
Torsion.
Um diesen Vergleich machen zu können, stellten wir folgende
Tabelle auf unter Berücksichtigung nachstehender Punkte:
1. Grösse der Torsion im aufrechten Stehen sowohl nach den
Messungen in Zahlen als auch nach dem Gesammtbild der Curve
in Worten ausgedrückt.
2. Die Nivellirtrapezmaasse.
3. Die physiologische Krümmung.
4. Die Grösse der Deviation.
Alle Maasse, soweit sie in Zahlen ausgedrückt sind, sind in
Millimeter, die Verhältnisszahl der Tiefe der physiologischen Krüm¬
mung zur tangirten Linie (s. pag. 6, Ziff. 5) in Procent ausgedrückt.
I. Curve bedeutet den Umriss des Rückens in der Acromialhöhe,
II. Curve in der Höhe des unteren Scapulawinkels, III. Curve in
Lendenhöhe.
Digitized by
Google
422
Jakob Steiner.
Tabelle IV.
r bedeutet rechte, 1 links, d deutlich.
Ia. Typische linksconvexe Totalskoliose.
I. Torsionstypus.
Torsion beim aufrechten 1
Nivellirtrapez-
Physiologische
Nr.
Stehen
maass
Krümmung
i
j
I. Curve
II. Curve
III. Curve
Brust¬
wirbels.
Lenden¬
wirbels.
Brust¬
kyphose
Lenden¬
lordose
279
6 r
4 r
ganz
schwach r
fehlt
fehlt
"/•
6,0
0/0 I
5,2
,3
363
schwach r
schwach r
deutlich r
fehlt
fehlt
7,6
9,0
6
598
deutlich r
schwach r
schwach r
5—2°r
2° r
13,8
12,8
12
0
4 r
0
338
1 r
10 r
4 r
fehlt
fehlt
12,4
8,8
i 20
deutlich r
Scapula
schwach r
1
i
vor-
stehend
366
7 r
8 r
3 r
fehlt
fehlt
9,0
10,7
i 30
deutlich r
deutlich r
deutlich r
i
386
5 r
6 r
7 r
3° r
4° r
12,1
10,5
i 11
deutlich r
deutlich r
deutlich r
1
405
6 r
5 r
0
4—5°r
5—6° r
15,1
11,4
7
deutlich r
deutlich r
deutlich r
i
430
8 r
deutlich r
6 r (d r)
2 r (d r)
5° r
3° r
li,8
9,7
14
445
j 6 r (d r)
1
8 r (d r)
5 1
2° r
2° r
12,1
16,4
14
schwach r
i
717
4 1 (d. r)
0 (d r)
0 (d r)
| 7° r
10° r
6,7
16,2
• 20
786
2 r
3 r
3 r
| 5° r
3° r
6,9
6,7
6
schwach r
schwach r
schwach r
t
919
6 r (d r)
7 r (d r)
0 (d r)
| fehlt
fehlt
11,2
15,2
8
976
1 r (d r)
1,5 r (d r)
2 1 (d r)
5° r
3° r
10,7
12,4
19
1033
8 r (d r)
4 r (d r)
4 1
8° r
6° r
14,7
10,8
22
schwach r
1116
0 (d r)
2 r (d r)
0
2-3° r
1—2° r
1 11,2
17,0
7
schwach r
!
i
1193
! 4 r (d r)
4 r (d r)
4 r (d r)
3—4°r
4° r
13,6
13,6
11
1185
: 3 r
schwach
10 r (d r)
2 r (d r)
4° r
4° r
8,5
8,0
24
1302
! 8 r (d r)
0
fehlt
3° r
0
7,5
14,0
17
1473
4 r (d r)
4 r (d r)
0 (0)
5° r
5° r
8,2
13,3
9
1770
11 r(d r)
17 r (d r)
0 (d r)
3° r
1° r
12,4
12,7
12
439
4 r (d r)
12 r (d r)
5 r (d r)
fehlt
fehlt
16,7
14,1
11
1400
1 schwach r
4 r (0)
0 (undeut¬
2—3°r
1° r
10,7
10,0
11
»
lich)
Digitized by tjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
423
Ib. Rechtsconvexe typische Totalskoliose.
I. Torsionstypus.
Nr.
Torsion beim aufrechten
Stehen
Nivellirtrapez-
maass
i
Physiologische
Krümmung
.g.o
co V3
I. Curve
II. Curve
III. Curve
Brust¬
wirbels.
Lenden¬
wirbels.
Brust¬
kyphose
Lenden¬
lordose
so .3
u >
o«
211
2 1 (d 1)
11 1 (d 1)
4 1 (d 1)
fehlt
fehlt
7«
11,7
7«
11,5
13
659
4 1 (d 1)
6 1 (d 1)
12 1 (d 1)
5° 1
5° 1
11,1
16,0
17
884
5 1 (d 1)
2 1
2 1
o—ri
0—1° 1
9,7
12,1
12
1535
3 1 (d 1)
(schwach)
3 1 (d 1)
(schwach)
2 1
2 —5°1
4° 1
11,6
9,6
15
1834
10 1 (d 1)
8 1 (d 1)
(schwach)
0 (0)
5° 1
0
14,0
14,1
über¬
schrei¬
tet die
Mittel¬
linie
nach
links.
II a. Linksconvexe typische Totalskoliose.
II. Torsionstypus.
619
0
0
2 1 (d 1)
2-1° 1
3° 1
11,0
11,3
(schwach 1)
629
0
4 1 (d 1)
6 1 (d 1)
fehlt
fehlt
5,3
6,1
(schwach r)
358
4 1 (d 1)
3 r (d 1)
4 1 (d 1)
0
0
15,8
15,4
429
3 1 (d 1)
2 1 (d 1)
4 1 (d 1)
3° r
0
13,2
10,4
1037
2 1 (d 1)
5 r (d 1)
0
1-2° 1
1° 1
12,1
13,8
(schwach 1)
1417
6 1 (d 1)
0 (d 1)
4 1 (d 1)
3° r
1° 1
16,7
15,1
II b. Rechtsconvexe typische Totalskoliose.
II. Tor sions typus.
1149
3 r (d r)
0 (d r) I 3 r (d r)
3° r
12,8
15,0
10
Aus dieser Tabelle ergeben sich ohne weiteres folgende Schlüsse
für die Torsion:
Wir finden sowohl beim aufrechten Stehen als auch in der
Vorbeugehaltung wenig hohe Werthe. Einzelne hohe Werthe kommen
bei der Torsion in der Scapulacurve vor, die aber jeweilen vor¬
getäuscht sind durch starkes Abstehen des unteren Scapulawinkels.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 28
Digitized by VjOOQle
424
Jakob Steiner.
Wie verhält sich nun die Grösse der Torsion im aufrechten
Stehen zu derjenigen in Vorbeugehaltung?
Bei der I. Gruppe, linksconvexer I. Torsionstypus, haben wir
in 11 von 16 Fällen, bei denen beide Maasse angegeben sind, ziem¬
lich entsprechende Werthe in den Horizontalcurven und bei der
Nivellirtrapezmessung; in 2 Fällen ist erstere unverhältnissmässig
grösser als die zweite, in den übrigen 3 Fällen ist das gleiche Ver¬
hältnis, aber umgekehrt. Von den 4 Fällen der II. Gruppe, rechts¬
convexer I. Torsionstypus, stimmen bei 3 die beiden Torsionsgrössen
ziemlich überein.
Weniger Uebereinstimmung zeigen die zwei Gruppen mit convex¬
seitiger Torsion (II. Torsionstypus).
Auch hier in Bezug auf die Grösse zeigt sich also die
grösste Uebereinstimmung der Torsion beim aufrechten
Stehen mit der in Vorbeugehaltung gemessenen bei dem
I. Torsionstypus. Wir sehen also wiederum den Fingerzeig, dass
die Torsion nach der concaven Seite der Skoliose da eine ziemlich
constante Grösse bildet, wo es sich wirklich um reine Totalskoliosen,
nicht aber da, wo es sich nur um scheinbare Totalskoliosen handelt.
Was die Grösse der Torsion in Bezug auf die Grösse der Seiten¬
abweichung anbelangt, ersehen wir aus dieser Tabelle, dass dieselben
nicht in directer Proportion stehen. Wir haben grosse Seitenab¬
weichungen mit kleinen Torsionen und umgekehrt.
In Bezug auf die physiologische Krümmung zeigt sich bei
keiner Gruppe ein gesetzmässiges Verhalten. Immerhin sind die
Maasse (siehe oben) durchschnittlich bei den 22 Fällen links¬
convexer Totalskoliose mit concavseitiger Torsion etwas kleiner als
bei den anderen 3 Abtheilungen, indem die Tiefe zur Länge der
tangirten Linie (siehe Fig. 1 dieser Arbeit und die dortige Erläute¬
rung) im Durchschnitt sich verhält wie 10,86 : 100 bei der Brust¬
kyphose und 11,34 : 100 bei der Lendenlordose. Denn die gleichen
Grössen verhalten sich bei Gruppe Ib wie 11,62 : 100 bei der Brust¬
kyphose und wie 12,6 : 100 bei der Lendenlordose und bei Gruppe IIa
wie 12,35 : 100 bei der Brustkyphose und wie 12,2 : 100 bei der
Lendenlordose.
Der einzige Fall bei Gruppe II b kann wohl nicht als Durch-
schnittsmaass gelten.
Das Verhältniss der Ausbildung der physiologischen Krümmung
zur Grösse der Torsion ist ein variirendes; es entspricht weder die
Digitized by CjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
425
grössere physiologische Krümmung der grösseren Torsion, noch um¬
gekehrt der kleineren Torsion. Nach dieser tabellarischen Zusammen¬
stellung sind dies zwei yon einander unabhängige Grössen. Es
lässt sich also hier der Satz nicht aufrecht halten, dass mit
der Zunahme der physiologischen Krümmung die Torsion
kleiner werde.
Ebensowenig lässt sich eine gesetzmässige Abhängigkeit der
physiologischen Krümmung von der Grösse der Seitenabweichung der
Dornfortsatzlinie constatiren.
B. Zweite Gruppe.
Atypische Formen, bei denen die Dornfortsatzlinie zwar
in einem seitwärts gerichteten Bogen verläuft, aber entweder der
Krümmungsscheitel an abnormer Stelle liegt, oder die Seiten¬
abweichung sich nur theilweise über Brust- und Lendenwirbelsäule
ausdehnt.
Obige Behauptung, dass es als ein Kennzeichen einer Misch¬
form zu betrachten sei, wenn die Torsion nach der concaven Seite
hin fehlt, findet mehr oder weniger ihre Bestätigung schon in dieser
Gruppe der nicht mehr in allen Fällen typischen Totalskoliosen, wo
schon das summarische Resultat ein ganz anderes Verhältnis zwischen
I. und II. Torsionstypus aufweist.
Während wir bei der ersten Gruppe, linksconvexe Totalskoliosen,
22 Fälle mit obiger Charakteristik und 6 Fälle, die zudem nur vor¬
übergehend in der Form der Seitenabweichung typisch sind, mit
gleichnamiger Torsion haben, ist das Verhältniss der zweiten Gruppe
linksconvexer Totalskoliosen 24 : 13.
Wir haben bei weitem nicht mehr das starke Ueber-
wiegen der concavseitigen Torsion. Mehr Uebereinstimmung
mit der ersten Gruppe zeigen dagegen die rechtsconvexen, wo
4 Fälle vom I. Torsionstypus 1 Fall vom II. Torsionstypus gegen¬
überstehen.
Zur genaueren Orientirung, wie wir zu dieser zweiten Gruppe
und deren Charakterisirung gelangt sind, haben wir auch hier den
tabellarischen Auszug mit Angabe der Torsion gemacht (Tab. V).
Von den dort rubricirten Fällen zeigen:
1. Von den im aufrechten Stehen bei der Rechtstorsion notirten
24 Fällen
Digitized by
Google
426
Jakob Steiner.
Tabelle V.
Linksconvexe atypische Formen.
I. Torsionstypus.
I
| Horizontalcurven
j Nivellirtrapez-
1 maass
Bemerkungen über die Form
der Seitenabweichung
Nr.
I.
II.
III.
Brust¬
wirbel¬
säule
Lenden*
Wirbel¬
säule
227
r
r
r
fehlt
fehlt
215
r
r
0
*
»
823
r
r
0
»
9
341
r
r
r
*
9
356
r
r
r
0
r
Früher links überhängend, runder
Rücken.
397
r
r
r
fehlt
fehlt
Mehr Dorsalskoliose.
491
570
t r
r
r
r
r
0
»
9
Kuppe tief unten localisirt.
Kuppe hoch, leichte Gegenkrüm-
mung unten.
603
r
r
1
r
r
Spitze Kuppe und hoch localisirt.
640
r
! r
r
1
0
1
Lendenwirbelsäule ist in die Sko¬
liose fast gar nicht einbe¬
zogen.
515
r
r
1
1
Kuppe und gesammte Deviation
hoch localisirt.
723
1 r
r
1
r
r
Eher Dorsalskoliose; Deviation
dehnt sich vom III.—XII. Brust¬
wirbel aus.
756
r
r
r
r
r
Kuppe tief localisirt, sonst typisch.
771
1 o
r
0
r
r
Kuppe tief, in späteren Zeichnun¬
gen typische Dorsalskoliose.
1007
1
r
r
1
r
Obere Brustwirbelsäule an der
Deviation nicht betheiligt.
1375
r
r
0
r
r
Leicht übergeneigte Form, Lende
an der Deviation nicht be¬
theiligt.
1575
r
r
r
r
1
Mehr dorsal, in späteren Zeicb-
i nungen unten und oben Gegen-
! krümmung.
1710
r
r
r
0
1
1 Kuppe sehr tief.
1711
0
r
0
0
0
Mehr dorsal.
470
r
r
0
r
r
Leichte Gegenkrümmung in der
1 Mitte.
1169
r
r
1
r
r
Mehr dorsale Skoliose.
1383
0
r
r
r
r
Kuppe tief localisirt.
1118
r
r
0
r
r
Kuppe hoch localisirt, in allen
Zeichnungen gleichbleibend.
1396
r
r
0
1
0
Kuppe sehr tief localisirt.
Digitized by tjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
427
II. Torsionstypus.
Horizontalcurven
Nivellirtrapez-
maass
!
Bemerkungen über die Form
der Seitenabweichung
Nr.
:
i
I.
II.
III.
Brust¬
wirbel¬
säule
Lenden*
Wirbel¬
säule
253
1
1
i
fehlt
fehlt ,
Unten starke Knickung, runder
Rücken.
547
1
1
1
s
«
Typisch, aber in allen anderen
Zeichnungen Dorsalskoliose.
574
r
0
1
1
1
Mehr dorsal, Kuppe hoch locali-
sirt.
655
1
1
1
1
1
Kuppe tief localisirt.
766
r
0
1
1
0
Mehr dorsale Skoliose.
905
1
1
1
r
r
Mehr Dorsalskoliose.
933
l
1
0
r
r
Kuppe tief localisirt.
1094
r
1
1
r
r
Mehr dorsal, sehr schwache De¬
viation.
1373
1
1
r
1
r
l
Auffallend starke Deviation, in
späteren Zeichnungen Dorsal¬
skoliose.
1510
r
0
1
1
1
Tief sitzende Dorso-Lumbalsko-
liose.
1540
1
1
1
1
1
Mehr Dorsalskoliose, ebenso in
den anderen Zeichnungen.
1725
1
1
0
r
r
Kuppe sehr hoch localisirt.
1300 1
0
1
1
1
0
Mehr dorsal und runder Rücken.
a) 9 I
me h
[.echtst
orsion i
in allen
3 Curven, von 5, die beide
Torsionsmaasse aufweisen, stimmt 1 Fall in beiden tiberein;
b) 8 Fälle Rechtstorsion in 2 Curven, wobei 1 Curve Tor¬
sion = 0 aufweist, von 5, die beide Torsionsmaasse auf weisen,
stimmt kein Fall in beiden überein;
c) 2 Fälle Rechtstorsion in 1 Curve, wobei 2 Curven Tor¬
sion = 0 aufweisen, von 2, die beide Torsionsmaasse aufweisen,
stimmt kein Fall in beiden überein;
d) 5 Fälle Rechtstorsion in 2 Curven, wobei 1 Curve Torsion
links auf weist, von 5, die beide Torsionsmaasse aufweisen, stimmt
1 Fall in beiden überein.
2. Bei den unter Linkstorsion notirten Fällen zeigen:
a) 5 Fälle Linkstorsion in 3 Curven;
b) 3 Fälle Linkstorsion in 2 Curven und in 1 Curve Tor¬
sion = 0;
Digitized by VjOOQle
428
Jakob Steiner.
c) 2 Fälle Linkstorsion in 2 Curven und in 1 Curve Torsion
nach rechts;
d) 3 Fälle Linkstorsion in 1 Curve und in 1 Curve Torsion
nach rechts und in 1 Curve Torsion = 0.
Die letzteren 3 Fälle könnten ebensogut zu den rechtsgedrehten
Fällen gerechnet werden, so dass sich das Verhältniss der Rechts¬
gedrehten zu den Linksgedrehten stellt wie 24:10, also haben wir
auch hier wieder ein sehr starkes Ueberwiegen der Torsion nach der
concaven Seite, und namentlich ist die Zahl derjenigen Fälle noch
gross, die in allen 3 oder doch wenigstens in 2 Curven Rechtstorsion
aufweisen, nämlich 17 in dem I. Typus.
Gruppiren wir noch die Fälle nach dem Nivellirtrapezmaass
allein, so haben wir mit
Rechtstorsion oben und unten.9 Fälle
Rechtstorsion unten allein.1 Fall
Rechtstorsion oben und links unten oder umgekehrt 2 Fälle
Linkstorsion oben oder unten allein.3 Ä
Linkstorsion oben und unten.1 Fall
fehlender Torsion.1 ,
Total 17 Fälle.
Nehmen wir diese Fälle zusammen, so stellt sich bei der Vor¬
beugehaltung Torsion auf der concaven Seite heraus bei 14, Tor¬
sion auf der convexen Seite bei 10, oben oder unten je Rechts- und
Linkstorsion bei 3 Fällen und gar keine Torsion bei 1 Fall.
Bei unserer ersten Zusammenstellung weist uns schon das ver¬
schiedenartige Verhalten der Torsion im aufrechten Stehen allein auf
das Atypische dieser Gruppe hin, indem wir bei 9 Fällen von 24
Torsion in allen 3 Curven, bei 5 Fällen aber sogar in 1 Curve ent¬
gegengesetzte Torsion finden.
Vergleichen wir aber das Verhalten derselben Fälle in Bezug
auf die Uebereinstimmung der beiden verschiedenartigen Torsions-
maasse, so finden wir nur 2 Fälle, welche im aufrechten Stehen
und zugleich bei Vorbeugehaltung übereinstimmende Torsion auf
der concaven Seite aufweisen. 8 Fälle stimmen insofern nicht
überein, als die concavseitige Torsion beim Aufrechtstehen durch die
Vorbeugehaltung theilweise zum Verschwinden, oder die beim auf¬
rechten Stehen theilweise fehlende Torsion zum Vorschein gebracht
Digitized by VjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
429
wird. Endlich weisen 7 Fälle bei den zwei verschiedenartigen Mes¬
sungen theilweise einander entgegengesetzte Torsionen auf.
Bei den rechtsconvexen Totaiskoliosen dieser Gruppe mit mehr
oder weniger atypischer Form der Seitenabweichung erhielten wir
die Tabelle VI.
Tabelle VI.
Rechtsconvexe atypische Formen.
I. Torsionstypus.
1
i
J florizontalcurven
Nivellirtrapez-
maass
Bemerkungen über die Form
j der Seitenabweichung
Kr.
I.
II.
III.
i
Brust¬
wirbel¬
säule
Lenden¬
wirbel¬
säule
1
629
1 r
1
1
j fehlt
fehlt
Ganz flacher Rücken.
758
i 0
1
1
1
j *
*
Kuppe tief localisirt, Deviation
oben linksseitig.
881
1 1
1
1
i 1
■
r
Die sonst typische Deviation über¬
schreitet in der Mitte die Verti-
callinie.
627 |
1
1
1
fehlt
fehlt
Deviation hoch, runder Rücken.
656
r
II. Torsionsty p us.
r I r II r I 1 || Kuppe hoch localisirt, mehr Dor-
r salskoliose.
Die geringe Anzahl der Fälle einerseits und das Vorhandensein
der Nivellirtrapezmessung bloss in 1 Falle gestatten es nicht, hieraus
werthvolle Schlüsse zu ziehen. Immerhin weist auch hier die Tor¬
sion auf das atypische Verhalten dieser Fälle hin.
C. Atypische Fälle mit Gegenkrümmimgeü.
Der Vollständigkeit halber notiren wir auch die einzelnen Fälle
der folgenden Gruppe der atypischen Fälle, die alle mehr oder
weniger Gegenkrümraungen in der Seitenabweichung aufweisen und
fügen deren Charakteristik bei.
Digitized by VjOOQle
430
Jakob Steiner.
Tabelle VII.
Linksconveze atypische Fälle.
I. Torsionstypus.
1 Torsion beim auf-
| rechten Stehen
Bei tiefem
Bücken
_
i
| Charakteristik der Spinallinie
i
Nr.
1
I.
Curve
II.
Curve
UI.
Curve
1
j Brust¬
wirbel¬
säule
Lenden¬
wirbel*
säule
280
r
r
fehlt
fehlt
Gegenkrümmung angedeutet, spä¬
tere Zeichnung ganz atypisch.
229
r
r
1
s
s
Kuppe sehr hoch localisirt und
weit abstehend.
180
r
r
1
»
.
Unten rechts-, oben linksconvex.
239
r
0
1
s
»
Unten leicht rechtsconvex; spä¬
tere Zeichnung noch deutlicher.
256
r
r
i
1
r
Jetzt typisch, war früher unten
rechts, Mitte links oben rechts¬
convex.
446
r
r
r
1
0
Mehr dorsal, Zeichnung zeigt in
4 Monaten Gegenkrümmung.
622
r
0
0
r
1
Ganz leichte Gegenkrümmung
unten.
766
r
r
i
r
r
I. Kuppe hoch localisirt, 11. Kuppe
in der Lende, dazwischen Ge¬
genkrümmung.
803
r
r
r
r
0
Unten Gegenkrümmung.
808
r
r
i
r
0
Linksconvexe Schlangenlinie.
886
0
r
r
!
i
1
1
Dorsalskoliose mit Gegenkrüm¬
mung oben.
945
r
r
0 !
r
1
In der Mitte leichte Gegenkrüm¬
mung.
1013
r
1
r j
1
1
Mitte leichte Gegenkrümmung an¬
gedeutet, in späteren Zeich¬
nungen ganz deutlich.
1092
!
0
0
r |
j
0
r
1
Aeusserst geringe Deviation in
Mitte der Brust und ob der
Lende, dazwischen Rechtsdevia-
tion.
1165
r
r
i t
r
r
Mehrere kleinere Krümmungen,
später mehrmals rechtsconvex.
1191 |
l
r
r
l
i
r
r
Leichte Gegenkrümmung oben und
unten angedeutet.
1265 |
l
r
r
l
i
r
1
Leichte Gegenkrümmung in der
Lende, später noch deutlicher.
1402 !
1
r
r
i ,
!
1
r
r |
1 ]
Leichte Gegenkrümmung oben,
später noch deutlicher.
Digitized by VjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
431
j
1
Torsion beim auf¬
rechten Stehen
Bei tiefem
1 Bücken
i
Nr.
!
i
' I.
Curve
! i
II.
Curve
HL
Curve
.Brust¬
wirbel¬
säule
Lenden¬
wirbel¬
säule '
Charakteristik der Spinallinie
1528
1
r
r
1
o !
Doppelkrümmung.
1539
0
r
0
r
r !
Mehrere kleine Gegenkrümmun¬
gen.
1035
r
r
0
r
r
Oben Gegenkrümmung angedeutet.
1328
r
r
1
r
1 |
Unten und oben Gegenkrümmung
angedeutet. II. Zeichnung zeigt
deutliche Gegenkrümmung.
1397
r
1
1
0
1
Jetzt typisch, früher deutliche
Doppelkrümmung.
1773
r
r
r
r
r
Oben Gegenkrümmung.
1772
r
r
0
1
II. Tor
1
sio nst]
Leichte Gegenkrümmung im Len-
dentheil, Gibbus.
fpus.
290
1
1
r
fehlt 1
fehlt |
Gegenbiegung.
156
0
0
1
i*
Mehrere Gegenbiegungen.
238
1
1
1
*
Leichte Gegenkrümmung.
342
1
1
r
*
»
Unten links , oben rechtsconvex.
418 |
1
1
1
*
*
Oben Gegenkrümmung.
424
r
1
1
i»
w
Unten leichte Gegenkrümmung.
478
0
0
1 ■
Zwei deutiicheGegenkrümmungen.
564
1
1
1
*
Oben Gegenkrümmung.
626 1
i
0
1
1
Jl
Kuppe hoch localisirt, unten leichte
Gegenkrümmung.
402
1
1
1
1
r
0
Dorsalskoliose mit zwei Gegen-
krümmungen schon beim Ein¬
tritt.
410 |
I
l
1
|
1
1
r
1
1
Eintrittsbild ist typisch rechts¬
convexe Totalskoliose, jetzt
Gegenkrümmung; lange be¬
handelt.
582
1
1
1
1
1
In Mitte leichte Gegenkrümmung.
747
1
1
0
1
i r
Unten links-, oben rechtsconvex.
769
1
1
1
1
1
i 1
In der Mitte Gegenkrümmung an¬
gedeutet.
809
1
1
1 1
i
r
1 j
Unten Gegenkrümmung angedeu¬
tet.
1009
1
1
0
1
r
Mitte leichte Gegenkrümmung,
später sehr deutlich.
1039 |
!
1
1
1
1
0
1
r
Unten leichte Gegenkrümmung,
Zeichnung nach 2 Monaten
rechtsconvex.
Digitized by CjOOQle
432
Jakob Steiner.
1 Torsion beim auf-
1 rechten Stehen :
Bei tiefem j
| Bücken
i
i
Nr.
*
I.
Curve
II.
Curve
in. |
Curve 1
1
Brust¬
wirbel¬
säule
Lenden-]
Wirbel¬
säule |
Charakteristik der Spinallinie
1035
1
1
1
r
r
Deviation überschreitet die Mittel¬
linie in Mitte der Brust , spä¬
ter ganz unregelmässigerTypus.
1113
1
1
r
1
1
Unten links-, oben rechtsconvex.
1152
i
1
r
| 1
0
Unten Gegenkrümmung, drei Zeich¬
nungen ganz unregelmässig.
1186
i
1
1
1
0
Mehrere kleine Gegenkrümmun-
1 gen, Zeichnung nach 2 Mona-
i ten rechtsconvex mit Links¬
abweichung.
1172
1
r
1
r
1 ’
| Unten Gegenkrümmung.
1309
1
i
1
r
r
1 Kuppe hoch localisirt, in der Mitte
Gegenkrümmung.
95
r
1
1
i i
1
In der Mitte Gegenkrümmung.
757
1
1
r
1 r
r
Schlangenlinie.
1504
1
1
0
! 1
1
Zwei Gegenkrümmungen ange¬
deutet.
1584
1
i
1
1 r
0
i In der Mitte Gegenkrümmung
deutlich und minimale Abwei¬
chung.
1518
1
i
1
1
1
1
Unten ausgesprochene Rechtscon-
vexität bei Linksabweichung.
1692
1
1
1
1
r
Linksconvexe Schlangenlinie.
1786
0
1
r
! i
r
In der Mitte deutliche Gegen¬
krümmung.
1819
r
1
r
0
Oben leichte Gegenkrümmung.
433
0
1
1
fehlt
fehlt
1 Früher deutliche G egenkrümmun-
8 en -
615
1
1
0
1
r
i Kleine Gegenkrümmung, im gan¬
zen mehr rechtsconvex mit
Linksabweichung.
618
1
1
r
0
r
Gegenkrümmung, früher sehr
deutlich.
1015
1
1
0
i r
r
War früher linksconvex mit Rechts¬
torsion, jetzt atypisch.
1034
0
0
0
r
1
Gegenkrümmung.
1122
1
1
0
0
1
Unten rechts-, oben linksconvex,
und wird später zur rechts¬
convexen Skoliose.
Bei näherer Betrachtung dieser Gruppe muss uns vor allem
auffallen, dass sich das Verhältniss der Torsion im aufrechten Stehen
geradezu umgekehrt hat. Nur noch 25 Fälle entsprechen dem
Digitized by
Google
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
433
I. Torsionstypus, indem sie auf der concaven Seite der Krümmung
ihre hauptsächlichste Torsion haben, während 37 das umgekehrte
Verhältniss aufweisen.
Wir finden nämlich beim I. Torsionstypus linksconvexer
atypischer Fälle:
Fälle coneav-
seitiger Torsion
3
4
14
3
1
Total “25“
in Nivellirtrapezmaass davon überein-
Curven ist vorhanden bei stimmend Fälle
3 2 0
2 u. in 1 Curve Tors. = 0, 4 0
2 f»• in 1 Curve Tors. \ lg 2
l = convexseitig j
1 u. in 2 Curven Tors. = 0, 3 1
1 (u. in 1 Curve Tors.=0, [ ^ ^
\ in 1 Curve convexseit. /
2l" 3
Beim II. Torsionstypus linksconvexer atypischer Fälle
haben wir
Fälle convex- in
seitiger Torsion Curven
Nivellirtrapezmaass
ist vorhanden bei
13 3 10
9 2 u. in 1 Curve Tors. = 0, 7
n 2 K in 1 Curv. Tors. \ g
1 “ l = concavseitig i
2 1 u. in 2 Curven Tors. = 0, 0
j j ( u. in 1 Curve Tors.=0,} ^
\ in 1 Curve concavseit. /
1 Torsion in allen 3 Curven = 0 1
Total ~W "27
davon überein¬
stimmend Fälle
3
0
0
0
1
0
4
Die Nivellirtrapezmessung wurde im ganzen bei 48 Fällen aus¬
geführt, davon haben unten und oben concavseitige Torsion 13 Fälle;
oben und unten convexseitige Torsion 11 Fälle; oben convexseitig
und unten concavseitig oder umgekehrt 12 Fälle; nur oben oder
unten convexseitige Torsion und am anderen Ort Torsion = 0 =
7 Fälle; nur oben oder unten convexseitige Torsion und am anderen
Ort Torsion = 0 = 6 Fälle.
Daraus ist zu ersehen, dass auch das Nivellirtrapezmaass nicht
einmal in der Hälfte der Fälle den 1. Torsionstypus aufweist.
Digitized by VjOOQle
434
Jakob Steiner.
Wenn wir die Torsionsangaben beim aufrechten Stehen allein
in Betracht ziehen, zeigt, wie es bei diesen scheinbaren Total¬
skoliosen mit Gegenkrümmung nicht anders zu erwarten stand, die
grosse Zahl eine doppelsinnige Torsion. Beim I. Torsionstypus zeigen
10 von 24 Fällen gleichsinnige Torsion nach der concaven Seite,
davon jedoch nur 3 Torsion in allen 3 Curven. Beim II. Torsions¬
typus zeigen 24 von 37 Fällen nur convexseitige Torsion und davon
13 Fälle in allen 3 Curven. Die Messungen im aufrechten Stehen
allein betrachtet, weist also der II. Torsionstypus die grössere Regel¬
mässigkeit und Gleichheit der Torsion auf.
Vergleichen wir nun noch die Maasse beim aufrechten Stehen
mit den Nivellirtrapezmessungen, so finden wir, wie zu erwarten ist,
wenig Uebereinstimmung. Beim I. Torsionstypus stimmen von
21 Fällen nur 3, und beim II. Torsionstypus von 27 Fällen nur 4
in beiden Maassen vollständig überein, also von 38 Fällen nur 7,
d. h. 18 ° o aller Fälle, währenddem in 24 Fällen einzelne Torsions-
maasse im aufrechten Stehen der Torsion bei Vorbeugehaltung ent¬
gegengesetzt sind.
Rechtsconvexe atypische Fälle.
Endlich lassen wir auch noch die rechtsconvexen atypischen
Fälle dieser Gruppe in gleicher tabellarischer Zusammenstellung wie
die früheren folgen (s. Tabelle VIII).
Von 10 Fällen der Rechtsconvexen des I. Torsionstypus haben
5 Fälle concavseitige Torsion in 3 Curven; davon haben 3 das
Nivellirtrapezmaass; die beiden Maasse stimmen in keinem Falle
überein: 5 Fälle haben concavseitige Torsion in 2 Curven und in
1 Curve convexseitige Torsion. Das Nivellirtrapezmaass ist in 2 Fällen
vorhanden, und die beiden Maassarten stimmen in 1 Falle überein.
Von 8 Fällen mit convexseitiger Torsion, d. h. vom II. Tor¬
sionstypus, haben 4 Fälle convexseitige Torsion in allen 3 Curven,
das Nivellirtrapezmaass ist vorhanden bei allen, die beiden Maass¬
arten stimmen in 2 Fällen überein. 1 Fall hat convexseitige Tor¬
sion in 2 Curven und in 1 Curve ist die Torsion = 0, das Nivellir¬
trapezmaass fehlt. 2 Fälle haben convexseitige Torsion in 2 Curven
und in 1 Curve concavseitige; das Nivellirtrapezmaass ist in 1 Fall
vorhanden und stimmt mit der Torsion in den Horizontalcurven
nicht überein. 1 Fall weist convexseitige Torsion in 1 Curve auf,
Digitized by VjOOQle
Klinische Studien Uber die Totulskoliose etc.
435
Tabelle VIII.
Bechtsconyexe atypische Fälle.
I. Torsionstypus mit concavseitiger Torsion.
Horizontalcurven
Nivellirtrapez-
maase
' Bemerkungen über die Form
der Seitenabweichung
Nr.
I.
II.
in.'
Brust¬
wirbel¬
säule
Lenden¬
wirbel¬
säule
584
i ■ — -
1
(
1
r
fehlt
fehlt
Unten linksconvex, oben rechts¬
convex.
593
1
i
r
*
I Mehr dorsal, später Gegenkrüm¬
mung.
191
i
1
1
0
r
In den Krümmungen vielfach
wechselnd.
318
, 1
1
1
fehlt
1
fehlt
Kuppe hoch local isirt, Gegenkrüm-
! mung angedeutet.
423
1
1
1
*
i»
| Gegenkrümmung, Deviation über¬
schreitet die Mittellinie nach
links.
729
1
1
r
1
r
Gegenkrümmung unten, vor 2 Mo¬
naten noch deutlicher.
917
1
1
r
fehlt
fehlt
Rechtsconvex mit Linksdeviation,
| unten Gegenkrümraung.
1194
| 1
1
r
r
0
| Oben Gegenkrümmung.
1310 1
! 1
1
1
r
1
Kuppe hoch localisirt, Gegen¬
krümmung angedeutet.
1371
1
1
1
r
1
Zwei Gegenkrümmungen ange¬
deutet, später noch deutlicher.
II. Torsionstypus mit convexseitiger Torsion.
343
I *■
0
r
fehlt
fehlt
Oben leichte Gegenkrümmung.
509 !
1 r
r
1
T
*
War früher linksconvex, jetzt noch
Andeutungen.
572
r
r
r
j 0
0
Unten Gegenkrümmung.
712
r
r
r
! ■
r
Erste Zeichnung hat mehrere
Gegenkrümmungen.
810
r i
| i
r
1
! i
1
Kuppe hoch localisirt, unten Gegen¬
krümmungen.
814
1
r
0
0
1 r
!
1
Minimale Deviation, früher links¬
convex mit Rechtstorsion.
1502
r
r
r
: r
0
Unten Gegenkrümmung, später
noch deutlicher.
592
r
r
T
' r
J
r
Kuppe hoch localisirt, oben Gegen¬
krümmung.
1
Digitized by VjOOQle
436
Jakob Steiner.
und in 2 Curven fehlt dieselbe; das Nivellirtrapezmaass ist vor¬
handen, aber stimmt nicht überein mit der Torsion in den Horizontal-
curven.
Also auch hier zeigt sich wieder die gleiche Unregelmässig¬
keit, denn nur bei 3 von 13 Fällen stimmt die Torsion beim auf¬
rechten Stehen mit der in Vorbeugehaltung gemessenen überein,
verhältnissmässig ist die Uebereinstimmung grösser als bei den
Linksconvexen dieser Gruppe. Auch haben zum Unterschied zu den
Linksconvexen hier die Hälfte aller Fälle in allen 3 Curven gleiche
Torsion.
Bei der Nivellirtrapezmessung, für sich allein betrachtet, haben
von 11 Fällen 2 convexseitige Torsion oben und unten; 3 convex¬
seitige Torsion oben oder unten und an einem Ort Torsion = 0,
4 Fälle haben convexseitige Torsion oben und concavseitige unten
oder umgekehrt, 1 Fall hat concavseitige Torsion oben und unten,
und 1 Fall gar keine Torsion. Auch das Nivellirtrapezmaass für
sich allein beweist das Atypische dieser Gruppe, indem nur ein
einziger Fall oben und unten Torsion auf der concaven Seite aufweist.
Wir glauben also das Resultat unserer Zusammenstellung und
Untersuchung in folgender Weise resumiren zu müssen.
Es gibt ein Krankheitsbild der reinen Totalskoliose,
wobei an der Seitenabweichung der Dornfortsatzlinie sich
gleichmässig sämmtlicheAbschnitte derLenden- und Brust¬
wirbelsäule, eventuell das Kreuzbein betheiligen und die
Kuppe des Krümmungsscheitels ungefähr in der Mitte der
Länge genannter Wirbelsäule zusammengerechnet liegt,
und wobei der Truncus zugleich sowohl beim aufrechten
Stehen als beim tiefen Bücken in dem grössten Theil seiner
Länge Drehung nach der concaven Seite der Krümmung
auf weist.
Die Summe dieser Fälle erreicht in unserem Institut die Zahl 34,
beträgt also ungefähr 3 °/o der Gesammtzahl aller Skoliosen. Die¬
selbe ist demnach eine sehr beschränkte.
Späteren Mittheilungen sei es Vorbehalten, über die Aetiologie
und den Verlauf der eben beschriebenen Krümmungen Aufschluss
zu ertheilen, ebenso behält sich Herr Dr. W. Schulthess vor, eine
Erklärung über das Zustandekommen der concavseitigen Torsion ab¬
zugeben.
In Bezug auf die atypischen, von uns ebenfalls untersuchten
Digitized by CjOOQle
Klinische Studien über die Totalskoliose etc.
437
Formen glauben wir, einfach auf die vorstehenden Tabellen und
Ausführungen verweisen zu dürfen.
Es geht aus denselben hervor, dass sich in Bezug auf die
Torsion ein so gesetzmässiges Verhalten wie bei den 34 zuerst be¬
schriebenen Fällen nirgends zeigt, und dass sie anderen Gruppen von
Skoliosen zugetheilt werden müssen. Ein guter Theil derselben ist
als scheinbare Totalskoliose zu registriren.
Zum Schlüsse werfen wir noch einen kurzen Blick auf die
einschlägigen Beobachtungen, besonders in Bezug auf die erwähnte
concavseitige Torsion. Während wir in dieser Arbeit die concav-
seitige Torsion als Charakteristikum für Totalskoliose aufgestellt
haben, galt bisher der Lehrsatz, die Torsion komme nur auf der
convexen Seite vor. Im Jahre 1892 wies G. Jach in seiner mehr¬
erwähnten Arbeit dieser Zeitschrift an Hand des Materials des ortho¬
pädischen Institutes nach, dass bei 30 °/o aller Fälle der Totalskoliose
die Torsion auf der concaven Seite zu finden sei.
Unseres Wissens als erster hat Nönchen darauf hingewiesen,
dass die Torsion hier und da concavseitig aufgetreten sei, ohne sich
aber auf weitere Mittheilungen einzulassen. (Siehe Centralblatt für
orthopädische Chirurgie und Mechanik Nr. 6, 7 und 8, VII. Jahr¬
gang 1890.)
In Band VI der „Revue d’Orthopedie“ 1895 erwähnt Kir-
misson dieselbe Erscheinung. Es sind dies: 1. eine linksconvexe
Totalskoliose (rhächitisch), die bei der Vorbeugehaltung ausgeprägte
Torsion nach rechts aufwies; 2. eine linksconvexe Totalskoliose mit
Torsion rechts; 3. leichte linksconvexe Totalskoliose mit rechts¬
seitiger Torsion in Vorbeugehaltung bei einer Zwergin; 4. links¬
convexe Totalskoliose mit deutlicher Torsion nach rechts bei Vor¬
beugehaltung. Kirmisson nennt diese Fälle Scolioses paradoxales.
Endlich bemerkte V u 1 p i u s, dem die Mittheilungen von
G. Jach entgangen zu sein scheinen, im Jahre 1896 Band IV der
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie von Prof. Dr. Hoffa, VII. Ab¬
handlung, dass er einige Fälle beobachtet habe, bei denen die Torsion
des Körpers entgegen der bisherigen Annahme auf der concaven
Seite der Wirbelsäuleinflexion zu finden war. Vulpius erwähnt
einen Fall von linksconvexer Totalskoliose mit Torsion der dorsalen
Wirbelkörper nach rechts und den üblichen Folgeerscheinungen an
den Rippen, einen Fall von linksconvexer Totalskoliose mit Links¬
torsion in der Lenden- und Rechtstorsion in der Thoraxhöhe, einen
Digitized by VjOOQle
438 Jakob Steiner. Klinische Studien über die Totalskoliose.
Fall mit Linksneigung des Rumpfes bei gerader Spinallinie, aber
mit Rotation nach rechts, endlich einen 4. Fall von linksconvexer
Totalskoliose mit unzweifelhaft rechtsseitiger Torsion.
Eine Erklärung über diese Verhältnisse ist bis jetzt nicht ge¬
geben worden, ebensowenig ist bis jetzt auch die Zusammengehörig¬
keit der concavseitigen Torsion mit schön ausgebildeter Totalskoliose
nachgewiesen worden, wie das in der vorliegenden Zusammenstellung
möglich war.
Dieses Gesetz ergibt sich als beiläufiges Resultat unserer
Durchsicht der Symptome der Totalskoliose, und es ist dadurch ein
weiterer Beitrag zur Kenntniss der concavseitigen Torsion
geliefert. Diese Bezeichnung möchten wir auch vorschlagen gegen¬
über derScolioses paradoxales Kirmissons und der contra¬
lateralen Torsion Vulpius, und glauben um so eher daran
festhalten zu dürfen, als aus diesem Institute die ersten auf genauen
Messungen beruhenden Beobachtungen über dieses eigenthümliche
Verhalten vieler Skoliosen durch G. Jach publicirt worden sind.
Zum Schlüsse unserer Arbeit sprechen wir Herrn Dr. W. Schult-
hess unseren wärmsten Dank aus für die bereitwillige Ueberlassung
des reichhaltigen Materiales und für die persönliche Unterstützung,
die er uns bei der Sichtung und Zusammenstellung aller Fälle zu
Theil werden liess.
Digitized by VjOOQle
XXIV.
TJeber die grundlegenden Gesichtspunkte und
Methoden der modernen Skoliosentherapie 1 ).
Von
Docent Dr. med. M. Dolega,
Inhaber der vormals Schreber-Scbildbach’scben orthopädischen und
mechanotherapeutischen Heilanstalt zu Leipzig.
Mit 10 in den Text gedruckten Abbildungen.
Man darf wohl jetzt die Auffassung als allgemein gültig an¬
erkannt annehmen, dass die Formen der kindlichen Skoliose, welche
als habituelle und constitutielle ein so ausserordentlich reiches Ma¬
terial der orthopädischen Praxis abgeben, zu Stande kommen als
sogen. Belastungsdifformitäten.
Ihr pathologisch-anatomisches Bild entwickelt sich auf Grund
des Gesetzes der functionellen Anpassung.
Wie man sich die Einzelheiten der Entstehung der oft so
hochgradig ausgebildeten anatomischen Veränderungen, besonders
der Wirbel selbst, zu denken hat, darüber sind trotz der zahl¬
reichen und zum Theil ausgezeichneten Untersuchungen die Acten
noch nicht geschlossen. So viel aber steht wohl fest, dass das patho¬
logisch-anatomische Bild der kindlichen Skoliose sich entwickelt auf
Grund einer Abänderung der Wachsthumsbedingungen der knöchernen
Wirbelsäule.
Die veränderten statischen Verhältnisse haben für die in ihrem
Wachsthum noch nicht abgeschlossenen Wirbelkörper speciell zu¬
nächst eine Asymmetrie der beiden Wirbelhälften, wie ihrer einzelnen
Componenten zur Folge.
l ) Nach einem in der Chirurg. Section des XII. internat. medic. Con-
gresses zu Moskau gehaltenen Vortrage.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Baud. 29
Digitized by tjOOQle
440
M. Dolega.
Die verbildeten Wirbel machen nun bekanntlich zum Theü den
Eindruck, als seien sie in sich im Verhältniss zu ihren früheren
Stellungsachsen verdreht.
Ueber den Begriff dieser sogen. Torsion der Wirbel und be¬
sonders der Wirbelkörper, ist viel und heftig gestritten worden,
ohne dass dieses Problem ganz einwandfrei gelöst worden wäre.
Es ist der Begriff der Torsion des Enochengefüges von be¬
rufener Seite überhaupt in Abrede gestellt worden.
Dass eine solche aber oder zum mindesten eine Abknickung
der Knochenbälkchen in ihrem Verlauf innerhalb der Spongiosa der
Wirbelsäule erfolgt, habe ich erst kürzlich dargethan 1 ), und zwar
zeigte sich an meinen Schnitten die Abknickung nach der concaven
Seite zu, ungefähr in der Gegend der concavseitigen Bogenwurzel.
Andererseits hat Nicoladoni bekanntlich nachgewiesen, dass in
frühkindlichen Stadien der Skoliosen eine derartige Structuranomalie
nicht vorhanden ist. Es scheint daher, als wenn jedenfalls diese
Abknickungserscheinungen erst in späteren Stadien des skoliotischen
Processes zur Ausbildung gelangten.
Des Näheren auf diese Verhältnisse einzugehen, ist hier nicht
der Ort. Ebensowenig kann an dieser Stelle überhaupt darauf ein¬
gegangen werden, wie man sich die Entstehung des anatomischen
Bildes in ihren einzelnen Stadien zu erklären gesucht hat.
Es sei nur kurz hier hervorgehoben, dass jedenfalls anfangs
jede echte, nicht in einem entzündlichen Knochenprocess ihre Ur¬
sache habende Skoliose eine habituelle Ermüdungshaltung ist, und
dass diese mit beginnender Stabilisirung den Anfängen einer An¬
kylosenbildung vergleichbar ist, welche dann auf Grund der ver¬
änderten Belastungsverhältnisse, die ihrerseits zur Inflexion und Recli-
nation der Wirbel, wie eventuell auch zu einer gewissen Torsion des
inneren Gefüges führen, die Verbildung der Wirbelkörper und ihrer
Adnexe verursacht.
Dass dabei auch die Anpassung an die Muskelfunction einen
gewissen Einfluss hat, das kann wohl, sowohl auf Grund der neueren,
wie der älteren, z. B. Ludwig Fick’schen und EngeTschen Unter¬
suchungen, nicht in Abrede gestellt werden.
*) Siehe Dolega, Zur Pathologie und Therapie der kindlichen Skoliose
und über die Unterscheidung einer habituellen und constitutioneilen Form der¬
selben. Leipzig 1897, Verlag F. C. W. Vogel.
Digitized by VjOOQle
Ueb. die grundleg. Gesichtspunkte u. Method. d. modern. Skoliosentherapie. 441
Auch auf Grund der therapeutischen Erfahrungen erscheint
ja eine derartige Auffassung als naheliegend.
Von ausserordentlicher Wichtigkeit ist ferner für die Ent¬
stehung einer Skoliose und für die Prognose derselben die Beurthei-
lung der ätiologischen Momente.
Es sei hier nur angeführt, dass wohl allgemein für das Zu¬
standekommen schwerer Skoliosen eine constitutionelle Prädisposition
und speciell eine abnorme Plasticität der Knochensubstanz ange¬
nommen werden muss.
Diese Gesichtspunkte sind es nun, welche bezüglich der Lösung
der Aufgaben der Skoliosentherapie für uns jetziger Zeit massgeb¬
lich zu sein haben.
Die Aufgaben der Behandlung lassen sich demzufolge kurz
dahin präcisiren, dass wir bestrebt sein müssen, die vorliegende,
fehlerhafte Belastung durch Beeinflussung der Körperhaltung mög¬
lichst zu compensiren, eine Fixation der Wirbel und Rippengelenke
in pathologischer Ankylosenstellung möglichst zu verhindern, schon
eingetretene Veränderungen der Wirbel und Stellungsanomalien der¬
selben zu einander nach Möglichkeit zu corrigiren und mit Hilfe ver¬
änderter Muskelfunction in regressivem Sinne zu beeinflussen, soweit
dies überhaupt realisirbar ist. Denn es erscheint auf Grund der
Kenntniss der anatomischen Verhältnisse als absolut sicher, dass es
keinerlei therapeutisches Verfahren geben kann, welches die durch
den modellirenden Belastungsdruck aus ihrer normalen Achsen-
stelluiig herausgedrängten und asymmetrisch gewordenen Wirbel etwa
einfach in ihre normale Lage zurückzudrängen im Stande sei.
Es gilt nun, die oben besprochenen therapeutischen Gesichts¬
punkte zur Wirkung kommen zu lassen und dabei gleichzeitig doch
die freie und gesundheitsmässige Entwickelung des gesammten kind¬
lichen Körpers als wichtigsten Bundesgenossen für die Behandlung
der Rückgratsdifformität in Anspruch zu nehmen.
Hierin liegt ein Dilemma, welches vollkommen zu beseitigen
nie möglich sein kann, und welches verursacht, dass unsere thera¬
peutischen Resultate hinter dem idealen Resultate, welches man auf
Grund der modernen technischen Hilfsmittel vom theoretischen
Standpunkte aus vielleicht erzielen zu können annehmen möchte,
erheblich Zurückbleiben müssen.
Wenden wir uns nun zu der Betrachtung der speciellen thera¬
peutischen Methoden und Hilfsmittel der modernen Skoliosentherapie,
Digitized by VjOOQle
442
M. Dolega.
so ist zunächst erfreulicherweise zu constatiren, dass der alte
Gegensatz von Vertretern einer nur rein dynamischen oder rein
mechanischen Therapie der Vergangenheit angehört.
Die Verbindung der zweckmässigen Resultate beider ist die
Losung.
Man kann die Methoden der modernen Skoliosentherapie in
folgende vier Gruppen theilen:
1. Eine allgemeine wie specialisirte Gymnastik in Verbindung
mit Massage.
2. Die Suspension.
3. Das methodische Redressement.
4. Portative Stützapparate.
Die Gymnastik ist ein wichtiges Mittel im functionellen und
antistatischen Sinne, nur darf sie nicht in der schematischen und
gedankenlosen Weise, baar aller mechanischen Hilfsmittel, gehand-
habt werden, wie dies lange Zeit von Seiten der schwedischen Gym-
nastenschulen der Fall war.
Es ist das grosse Verdienst Schreber’s und Schildbach's,
die Einseitigkeit dieser schwedischen Methode scharf betont und,
unter Beibehaltung des Guten aus derselben am rechten Platze, eine
wesentlich verbesserte gymnastische Methode für die Behandlung
der seitlichen Rückgratsverkrümmungen aufgestellt zu haben.
Schildbach’s kleines Buch 1 ) und seine praktischen Uebungen
haben leider immer noch nicht die ausgedehnte Würdigung gefun¬
den, die sie verdienen.
Seine gymnastische Methode trifft ganz entschieden am rich¬
tigsten den Kernpunkt der orthopädisch-gymnastischen Behandlung,
das ist das Wecken der Energie des Kindes und Anerziehen einer
möglichst richtigen, durch Selbstcorrection mittelst der eigenen
Muskeln und der als Hebel gebrauchten Extremitäten einzunehmen¬
den Haltung.
Gerade dieser Punkt ist es auch, welcher ein Manco der aus¬
schliesslichen Anwendung der Zander'schen Methode bedeutet, so
brauchbar andererseits die von Zander angegebenen Redressirungs-
apparate sind.
Ich selbst bringe durchweg die zum Theil von mir modificirte
und ergänzte Schildbach’sche Gymnastik, combinirt mit einer Reihe
l ) Schildbach, Die Skoliose. Leipzig, Veit u. Co. 1872,
Digitized by CjOOQle
Ueb. die grundleg. Gesichtspunkte u. Method. d. modern. Skoliosentherapie. 443
von aus der schwedischen Gymnastik entlehnten Uebungen, zur An¬
wendung.
Vor allen Dingen sind es vier Arten solcher Uebungen, welche
indicirt erscheinen:
1. Haltungs- und RichtungsUbungen, unter Zuhilfenahme ein¬
seitiger Muskelgruppenbelastung mittelst Gewichten, Hanteln, Kugel¬
stäben etc.
2. Gleichseitig ausgeführte, allgemein roborirende Uebungen,
einschliesslich von Athmungsübungen, sowohl in der Form von Frei-
und Geräth- bezw. Apparatübungen.
3. Hang- und Schwungübungen zur möglichsten Streckung
der Wirbelsäule durch die eigene Körperschwere.
4. Umkrümmungsübungen oder antistatische Uebungen im
engeren Sinne, unter Zuhilfenahme von Geräthen und Apparaten, so¬
wie antistatischer Vorrichtungen, wie schiefen Sitzes, erhöhter Sohle etc.
Auf den Ernährungszustand der Musculatur, besonders der
Rückenmusculatur, wie auf den Ernährungszustand des ganzen Kör¬
pers überhaupt, suchen wir nebenher durch Regelung des ganzen
diätetischen Regimes, wie durch systematische Massage zu wirken.
Die zweite wichtige therapeutische Methode ist die verticale
Suspension.
Es wird dabei die Wirbelsäule soweit gedehnt, als es die nor¬
male Elasticität der Wirbelbandcomponenten gestattet.
Dass dabei eine Entfernung der Wirbelkörpermitten über die
Distanz ihrer Syndesmosenkerne nicht statt hat, ist nachgewiesen;
wohl aber werden seitliche Inflexionen bei normaler Elasticität der
Bänder vollständig ausgeglichen, und die antero-posterioren Krüm¬
mungen abgeflacht.
Aus den oben erwähnten physiologischen Wirkungen ergeben
sich sowohl die Gesichtspunkte für den Zweck ihrer therapeutischen
Verwendung, wie für eine nicht unwesentliche Einschränkung ihrer
Indication.
Was ersteren Punkt betrifft, so ist die Suspension, zufolge der
durch sie herbeigeführten Dehnung der contrahirten Muskeln und
Bandapparate, ein Mittel zur Mobilisirung und gleichzeitig auch Ent¬
lastung der falsch belasteten Wirbelsäule.
Der zweite Gesichtspunkt ist der, dass die Suspension, wie
schon erwähnt, die antero-posterioren Krümmungen abflacht und
daher nicht leichtsinnig und schematisch, ohne wirkliche Indica-
Digitized by CjOOQle
444 M. Dolega.
tionen, besonders bei an sich schon flachem Rücken, angewendet
werden soll.
Die senkrechte Suspension wird angewendet, einmal, um sich
diagnostisch einen Aufschluss darüber zu verschaffen, inwieweit die
Wirbelsäule noch mobil und die Inflexionen derselben unter dem
Einfluss des Zuges des Körpergewichtes ausgleichbar sind; weiterhin
zu dem Zweck der therapeutischen Correction. Betreffs des letzteren
Gesichtspunktes bildet sie einen integrirenden Bestandteil der zu¬
erst von Sayre eingeführten Methode, der amoviblen Corsetbehand-
lung, und wird ausserdem geübt als Selbstzweck zur Dehnung der
verkürzten Bänder und Entlastung der Wirbelsäule.
Was letztgenannte Aufgabe betrifft, so bediene ich mich zu
ihrer Erfüllung der sogen. Kunde-Löffler’schen Gehmaschine, welche
wesentliche Vortheile bietet, und die ich Ihnen im Bilde hier vor¬
zeige (Fig. 1). Für eine noch längere, wenn auch weniger inten¬
sive, Extensionsbehandlung als in der verticalen Form eignet sich die
Suspension auf der sogen, schiefen Ebene, einem der wohl allgemein
eingeführtesten Skoliosenapparate.
Weiterhin wird die Suspension in Verbindung mit redres-
sirenden und auch sogen, detorquirenden Vorrichtungen in der Ge¬
stalt verschiedenfacher Apparate verwendet, wie sie gleich erwähnt
werden sollen.
Als dritte wesentliche therapeutische Methode in der Skoliosen¬
behandlung dient das methodische Redressement.
Unter Redressement versteht man manuell oder maschinell aus¬
geführte Manipulationen, welche zum Zweck haben, sowohl die seit¬
liche Inflexion der Wirbelsäule, wie vor allem die Verbiegungen der
Rippen und die Verdrehungen der diagonalen Durchmesser des
Beckens wie des Thorax zu einander nach Möglichkeit auszugleichen
und durch die systematische Art ihrer Anwendung mobilisirend auf
die bereits fixirten Skoliosen zu wirken.
Während das Bestreben, maschinell redressirend auf die grob
wahrnehmbaren Veränderungen, wie sie schwerere Skoliosen darbieten,
zu wirken, auf über 250 Jahre in der Geschichte der Medicin zu¬
rückgeht, ist es das Verdienst Schreber’s und Schildbach’s, das
ohne jedweden Apparat ausführbare und sehr gut individualisirbare
manuelle Redressement l ) in die Therapie eingeführt zu haben.
0 Ausführlicheres darüber siehe in meinem vorerwähnten Buche und in
der angeführten Schrift Schildbach’s selbst.
Digitized by VjOOQle
446
M. Dolega.
Fig. 2.
Was die maschinellen Vorrichtungen betrifft, deren Zahl ja
ausserordentlich gross 1 ) ist, so sind es in erster Linie bestimmte
*) Vergl. Ernst Fischer, Geschichte und Behandlung der seitlichen
Rückgratsverkrümmungen. Strassburg 1885.
Digitized by VjOOQle
Ueb. die grundleg. Gesichtspunkte u. Method. d. modern. Skoliosentherapie. 447
Lagerungsapparate, bei denen entweder durch die Schwerkraft des
Körpers oder durch elastischen wie constanten Zug oder federnden
Druck eine redressirende Wirkung auf die seitliche Inflexion, wie
vor allen Dingen auch auf die Rippenbuckel auszutlben versucht wird.
Hierher gehören die sehr zweckmässige und einfachste Lage¬
rungsvorrichtung, der sogen. Wolm. Ich zeige Ihnen hier den¬
selben in der Form, wie ich ihn in meiner Anstalt zu benutzen
pflege (Fig. 2).
Fig. 3.
Von älteren Lagerungsapparaten verdienen der Lonsdale'sche
Seitenlagerungsapparat, besonders in der Modification von Busch
brauchbar, und das von Schildbach modificirte Heine-Carus'sche
Lagerungsbett Beachtung.
Weiterhin sind es die Zander’schen Lagerungsapparate, welche
den Ruf der Zweckmässigkeit verdienen.
Von neuesten, besonders für den Nachtgebrauch bestimmten
Lagerungsapparaten bedeuten vor allen Dingen die nach dem Vor¬
gänge Barwell’s von Lorenz angegebenen sogen. Detorsionsbetten
einen Fortschritt. Man kann diese in Gestalt von Spiralzug-, wie
auch Seitenzugapparaten herstellen, und ich gebe Ihnen anbei 2 Ab¬
bildungen der Modifikationen herum, wie ich sie zur Anwendung zu
bringen pflege (Fig. 3 und 4).
Ausser in liegender Stellung hat man versucht, die Difformi-
Digitized by VjOOQle
448
M. Dolega.
taten in aufrechter Stellung des Oberkörpers, sitzender wie stehen¬
der und suspendirter zu beeinflussen.
Abgesehen von den älteren Versuchen, z. B. von dem Redres-
sirungsstuhl von Levacher de la Feutrie (1768), sind es der von
Fig. 4.
Bar well und Volk mann eingeführte schiefe Sitz, der Redres-
sirungsstuhl Zanderes und der Barwell'sche Rippenbuckelapparat,
welche principielle Fortschritte bedeuten.
Speciell der letztgenannte erfüllt, durch Hoffa zuerst ver¬
bessert und durch mich in der Weise modificirt, wie ich Ihnen dies
hier vorzeige, den Zweck, der Mobilisirung bereits fixirter Skoliosen
zu dienen, in recht befriedigender Weise (Fig. 5).
Neuerdings hat Schulthess auf dem letzten Chirurgencongress
Digitized by VjOOQle
Ueb. die grundleg. Gesichtspunkte u. Method. d. modern. Skoliosentherapie. 449
T zwei weitere Apparate zur corrigirenden Redressionsbehandlung
demonstrirt 1 ).
Fig. 5.
Digitized by
Google
*) Nachträgliche Anmerkung bei der Correctur: Die ausführliche Be¬
sprechung derselben ist inzwischen in Bd. V Heft 2 u. 3 dieser Zeitschrift unter
Wiedergabe vortrefflicher Abbildungen erfolgt.
Zum Theil beruhen die Wirkungen dieser Apparate in einer
sogen. Detorsionswirkung, welche zuerst von Bar well unter An¬
wendung des elastischen Bindenzügels in Anspruch genommen wurde.
450
M. Dolega.
Seitdem haben Hoffa und Schede, ich selbst, und wie eben
erwähnt, Schulthess, verbesserte Apparate zur sogen. Detorsions-
Fig. 6.
behandlung angegeben, und ich erlaube mir, Ihnen die Anwendung
meines Detorsionsapparates, welcher eine Modification des Hoffa-
Digitized by VjOOQle
Ueb. die grundleg. Gesichtspunkte u. Method. d. modern. Skoliosentherapie. 451
sehen und Schede’schen Apparates repräsentirt, in einer Reihe von
Abbildungen zu demonstriren (Fig. 6—8).
Fig. 7.
Der sogen. Beely'sche Barren versucht in Vorbeugehalten des
Patienten redressirenden Druck und Zug auf die Convexitäten, be¬
sonders Rippendifformitäten, auszuüben.
Digitized by VjOOQle
452
M. Dolega.
Die sogen. Detorsionsbehandlung hat nun auf dem Gebiete der
portativen Apparatbehandlung zu einem bemerkenswerthen Fort-
Fig. 8.
schritt geführt, und dies bringt uns kurz auf das vierte therapeutische
Hilfsmittel: die portativen Stützapparate.
Die Aufgabe eines Skoliosenapparates überhaupt lässt sich wohl
Digitized by VjOOQle
Ueb. die grundleg. Gesichtspunkte u. Method. d. modern. Skoliosentherapie. 453
dahin definiren, dass er dazu dienen soll, die bestmögliche Haltung
eines skoliotischen Kindes, welche in den leichtesten Fällen durch
Selbstredressement, in den schwereren Fällen durch redressirenden
Druck oder sonstige mechanische Correctur erreichbar ist, zu einer
für den Tageslauf des Patienten thunlichst dauernden zu machen.
Er soll nach Möglichkeit die seitlichen Inflexionsstellungen und
Fig. 9.
die Verschiebung wie Verdrehung von Rumpf und Becken zu ein¬
ander corrigiren.
Dadurch, dass es nach den Regeln der Detorsionsbehandlung
und mit Hilfe neuer technischer Hilfsmittel möglich ist, ein ab¬
nehmbares Stützcorset, an dem nicht nur durch Suspension, son¬
dern auch durch spiralen Drehzug corrigirten Körper anzulegen, ist
der Zweck einer functioneilen Skoliosentherapie erheblich gefordert
worden. Sayre, Hessing, Hoffa und Lorenz bezeichnen die
Ihnen Allen bekannten Fortschritte in der Technik der Anfertigung
orthopädischer Corsets.
Ich erlaube mir, Ihnen hier im Bilde die Modification vorzu-
Digitized by VjOOQle
454
M. Dolega. Ueber die grundlegenden Gesichtspunkte etc.
legen, wie sie sich mir auf Grund meiner Erfahrung am besten be¬
währt hat 1 ) (Fig. 9 und 10).
Ich möchte nur ausdrücklich an dieser Stelle nochmals her¬
vorheben, dass ein nach den Regeln der modernen Technik ange¬
fertigtes Corset vor allen anderen Arten Skoliosenapparaten den
Vorzug verdient, und dass ich persönlich das Stoffcorset, als allen
praktischen Anforderungen am besten entsprechend, erprobt habe.
Fig. 10.
Ich glaube damit im Wesentlichen den Stand der jetzigen
Skoliosentherapie gekennzeichnet zu haben, denn die neuerdings ge¬
machten vereinzelten operativen Versuche kommen für den eigent¬
lichen Kern der Skoliosentherapie nicht in Betracht.
Ich glaube, man darf sagen, dass, wenn auch noch bei weitem nicht
alle Probleme bezüglich der Skoliosentherapie gelöst sind, immerhin
doch die heutige Skoliosentherapie bei frühzeitiger und energischer An¬
wendung aller von heutiger Wissenschaft und Technik gebotenen Mittel
eine nicht mehr so ungenügende und unfruchtbare ist, wie vor Zeiten.
l ) Näheres &. Dolega, Zur Pathol. u. Therapie der kindl. Skoliose etc.
Digitized by VjOOQle
Referate
Zuckerkandl, Atlas und Grundriss der Chirurg. Operationslehre. J. F. Leh¬
mann. München 1897.
Der vorliegende Band ist der 16. jener medicinischen Handatlanten der
Lehmann’schen Sammlung, deren Güte wohl allgemein anerkannt wird.
Auch dieses Buch kann den bisher erschienenen Bänden würdig zur Seite
gestellt werden; es kommt zunächst wohl den Studirenden der Medicin sehr zu
statten, da es ihnen das Studium sowohl wie auch das Yerständniss mancher
schwierigen Kapitel in hohem Grade erleichtern hilft. Zahlreiche und vorzüg¬
liche Abbildungen, 217 an der Zahl auf 24 farbigen Tafeln, ein kurzer, bündiger,
aber dabei doch ein äusserst klarer Text, all das macht das Buch zu einem
empfehlenswerthen. Auch die Erfahrenen werden sich freuen, Manches speciell
nach der Technik und Anschauung der Wiener Schule dargestellt zu finden.
Nur dürfte wohl eventuell zu wünschen sein, dass in einer zweiten Auflage, die
ja bei der Vorzüglichkeit des Buches jedenfalls nicht lange auf sich warten
lässt, die orthopädischen Operationen mehr Berücksichtigung und Vervollständi¬
gung fänden. Blencke-Würzburg.
Maas s -Berlin, Ueber Celluloid verbände. Berl. klin. Wochenschr. 1897, Nr. 45.
Als Ersatz für den Gipsverband empfiehlt Verfasser den von Länderer
und Kirsch angegebenen Celluloidverband, der aus einem ebenso leichten (voll¬
ständiges Corset für ein mittelgrosses Kind = 400 g), aber festen, dabei in
hohem Grade elastischen und dauerhaften (10 Monate und länger haltend) Stoff
hergestellt wird, der durch Feuchtigkeit in keiner Weise angegriffen wird.
Auch ist die Technik eine einfache: nicht das feste Material wird verwendet,
sondern die Lösung desselben in Aceton (am besten purum) 1:8. Auf dem
Gipsmodell wechselt eine Mullbinde mit einer Lage Celluloidbrei ab (6—8 Lagen).
In 12 Stunden ist der Verband erstarrt und kann abgenommen werden. Auf
zwei Punkte, die in technischer Hinsicht von besonderer Wichtigkeit sind, macht
Verfasser noch aufmerksam. Der eine betrifft die Anfertigung artikulirter Ver¬
bände, bei denen ebenfalls aus Celluloid gefertigte Gelenke, die aus Celluloid¬
platten mittelst einer Laubsäge hergestellt werden, die aber auch käuflich sind,
verwendet werden. Der zweite betrifft die Möglichkeit, die Form des fertigen
Verbandes jederzeit beliebig ändern (z. B. durch Uebergiessen mit heissem Wasser)
und so dem Körper aufs genaueste anmodelliren zu können. Nachtheile sind:
Feuergefährlichkeit, die aber sicher geringer ist als die unserer gewöhnlichen
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 30
Digitized by VjOOQle
456
Referate.
Kleidungsstücke; Undurchlässigkeit, der man durch reichliches Durchlochen ent¬
gegentreten kann; der Preis, der etwas höher ist als bei anderen Verbänden,
und das langsame Erstarren. Blencke-Würzburg.
Smith, Telford, Knochenverkrümmungen bei Cretinen unter Schilddrüsen-
ftitterung. Brit. med. Journ., 2. Oct. 1897.
Verfasser beobachtete bei mehreren seiner Patienten, die unter Schild¬
drüsenfütterung schnell wuchsen, dass die langen Knochen der Extremitäten,
besonders der unteren, weicher wurden und sich allmählich bogen. Aus diesem
Grunde räth er, derartige Patienten möglichst wenig gehen zu lassen, ihnen
reichliche und kräftige Nahrung zu geben und sie in gute hygienische Ver¬
hältnisse zu bringen. Blencke-Würzburg.
Hofmeister, Ueber Störungen des Knochenwachsthums bei Cretinismus. Fort¬
schritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen Bd. I Heft 1.
Verfasser konnte an einem klinisch beobachteten Fall von Cretinismus
durch Aufnahmen mit Röntgenstrahlen die Anschauungen bestätigt finden, die
er bezüglich des Knochenwachsthums bei Cretinen durch Experimente am Thier
vor Jahren sich gebildet hatte. Es handelte sich um ein 4jähriges Mädchen
mit ausgesprochenem Cretinismus und Myxödem, bei dem durch Schilddrüsen¬
behandlung innerhalb 4 Monaten eine enorme Besserung erzielt wurde. Die
Röntgenaufnahme ergab ausser auffallender Kleinheit sämmtlicher Knochen das
Fehlen knöcherner Gelenkenden. Von sämmtlichen Röhrenknochen sieht man
fast nur die Diaphysen, von den Epiphysen entweder gar nichts oder nur ganz
kleine Knochenkerne. Die zum Vergleich daneben gestellten Skiagramme eines
gleichaltrigen Kindes demonstriren die erhebliche Entwickelungshemmung. Die
Länge des Kindes bleibt hinter der eines 1 — 17ajährigen zurück. Untor dem
Einfluss der Schilddrüsentherapie ist nicht nur das Myxödem verschwunden,
sondern es hat auch das Knochen wachst hum einen gewaltigen Aufschwung
genommen. Die Körpergrösse hat in 4 Monaten um 4 cm zugenommen. Daraus
ergibt sich, dass die Wachsthumshemmung durch das Fehlen der Schilddrüsen¬
function bedingt war. Verfasser ist Anhänger der Kocher’schen Theorie, dass
die cretinistische Degeneration bedingt ist durch die Vernichtung oder wenigstens
hochgradige Beeinträchtigung der Schilddrüsenfunction. Er glaubt aber, dass
einige Punkte immerhin noch der Auf klärung bedürfen, und dass hierzu neben
sachgemässen pathologisch-anatomischen Untersuchungen die Behandlung lebender
Cretinen mittelst Schilddrüsenpräparaten und die Untersuchung derselben durch
Röntgenstrahlen werthvolle Aufschlüsse geben können. Alsberg-Würzbnrg.
Vulpius, Ueber die Heilung von Lähmungen und Lähmungsdeformitäten mittelst
Sehnenüberpflanzung. Sammlung klin. Vorträge Nr. 197. Leipzig 1897.
Nach einer tabellarischen Uebersicht über die 38 bisher in der Literatur
veröffentlichten Fälle von Sehnenüberpflanzung erörtert Vulpius die Indicationen
und die Methoden dieser Operation, letztere unter Beifügung eines instructiven
Schemas. Kann man die natürliche Action des Kraftspenders nicht entbehren,
so muss die Continuität derselben erhalten bleiben. Dies geschieht entweder
Digitized by
Google
Referate.
457
dadurch, dass man die Sehne des gelahmten Muskels ganz oder theilweise auf¬
pfropft, oder dass man Theile der Sehne des Kraftspenders abspaltet ünd mit
der ganzen oder ebenfalls abgespaltenen Sehne des Kraftempfängers verbindet.
Dadurch, dass man die Ueberpflanzungen nicht nur auf zwei Muskeln ausdehnt,
sondern dass man unter Umständen gezwungen ist, zahlreiche Muskelwirkungen
mit einander auszutauschen, ergibt sich eine grosse Anzahl von Modificationen.
Vulpius schliesst nunmehr die Besprechung der 21 von ihm selbst operirten
Fälle an, von denen 29 den Unterschenkel betreffen, erörtert die verschiedenen
Möglichkeiten der Verlagerung, wie sie sich in einzelnen Fällen für ihn ergeben
haben, und schildert seine Operationstechnik. Der eigentlichen Operation ist
bei bereits bestehenden Deformitäten ein modellirendes Redressement voraus¬
zuschicken. För die eventuell nothwendig werdende Verlängerung der Achilles¬
sehne bevorzugt Vulpius in der Regel die Plastik durch den Treppenschnitt
vor der einfachen Tenotomie, da die Ernährung infolge der vorher bereits
vorgenommenen Abspaltungen nicht unbedingt sicher erscheint. Den in leicht
Übercorrigirter Stellung angelegten Gipsverband lässt er meist 4—7 Wochen
tragen. Grosser Werth ist auf die Nachbehandlung mittelst Massage, Gymnastik,
Bädern und Elektricität zu legen, wenngleich auch ohne derartige Nachkur
bisweilen gute functionelle Resultate zu Stande kommen. Die Prognose der
Sehnenüberpflanzung wird beeinflusst durch das Alter der Patienten und das
Alter der Lähmung. Je weiter die Entfernung ist, aus welcher die Muskelkraft
geholt werden muss, und je weniger functionsverwandt der Kraftspender ist,
desto unvollkommener ist in der Regel der Erfolg. In Fällen, in denen
functionelle Wiederherstellung unmöglich ist, da das Wechselspiel zwischen
Beugung und Streckung hoffnungslos verloren erscheint, kann die Operation
nützen, indem ein tendinös fixirtes Gelenk geschaffen wird, indem man aus
einem Muskel durch Abspaltung seinen eigenen Antagonisten bildet. Unter 15
zum Zweck der Heilung paralytischer Klumpfiisse ausgeführten Operationen
waren 6 einfache, 6 zweifache, 1 dreifache und sogar 2 fünffache Uebertragungen
nothwendig. Ebenso verschiedenartig waren die Operationen bei 5 paralytischen
Plattfüssen. Auf Grund seiner Erfolge spricht Vulpius die Hoffnung aus, dass
sich recht viele Chirurgen eingehend mit dieser Operation befassen möchten.
Alsberg - Würzburg.
W eis s enburg- Elisabethgrad (Russland), Angeborene Gliederverkrümmung.
Deutsche medicin. Wochenschrift 1897, Nr. 44.
Weissenburg führt eine in der That fast einzig dastehende hoch¬
gradige Verkrümmung der Glieder, da jedes andere ätiologische Moment fehlt,
auf den relativen Mangel an Fruchtwasser und auf die dadurch bedingte Druck¬
wirkung seitens des Uterus zurück. Das Kind lebt und war zur Zeit 4 Monate alt.
B1 e n c k e • W ürzburg.
Vulpius, Aus der orthopädisch-chirurgischen Praxis. Leipzig 1898.
Vulpius benutzt das Material, welches im Verlaufe eines Jahres in seiner
Anstalt beobachtet wurde, um direct aus der Praxis heraus die wichtigsten
Kapitel der modernen Orthopädie zu besprechen. Zunächst schildert er die
Vorzüge der modernen Apparatotherapie und betont die Nothwendigkeit des
Digitized by VjOOQle
458
Referate.
Zusammenarbeitens von Arzt und Mechaniker. In dem Abschnitt über die seit-
liehe Rückgrats Verkrümmung vertritt Vulpius den Standpunkt, dass eine
wirklich rationelle Skoliosenbehandlung nur bei Aufnahme der Patienten in
eine Heilanstalt und durch intensive Ausnutzung sämmtlicher Tagesstunden
stattfinden kann. Einige gute Resultate, die er auf diese Weise erreicht hat,
gibt er in bildlicher Darstellung wieder. Bezüglich der Stützcorsets bevorzugt
er solche aus Cellulose oder in leichteren Fällen Stoffcorsets mit Stahlbügeln.
Zur Spondylitisbehandlung benutzt er im floriden Stadium mit Vorliebe das
Gipsbett, um es später mit dem Cellulosecorset zu vertauschen. Ueber das
Calot’sche Redressement spricht er sich sehr vorsichtig aus, obgleich er es
mehrmals mit Erfolg ausgeführt hat. Zum Verband suspendirt er die Patienten
an den Füssen. Im Anschluss an die leichte Correctur eines weder hoch¬
gradigen noch alten Gibbus erlebte er einen Todesfall, dessen Ursache der
Shok oder vielleicht eine Halsmarkverletzung war. An Ort und Stelle des Ein¬
griffes war eine breite Knochenlücke, aber keine Verletzung des Rückenmarks
und seiner Häute wahrnehmbar. Auf die Details des Falles geht Vulpins
leider nicht ein. Einen grossen Fortschritt bedeutet der Calot’sche Verband
auch für Vulpius bei der Spondylitisbehandlung, ebenso empfiehlt er denselben
zur Behandlung gewisser nicbttuberculöser Formen der Kyphose. Unter 10
unblutigen Repositionen angeborener Hüftluxationen hat er nur einen Misserfolg
zu verzeichnen bei einem Kind, bei welchem die Pfanne nur sehr schlecht aas¬
gebildet war. Gute functionelle Resultate kamen auch ohne Nachbehandlung
zu Stande und obgleich der Kopf vielfach etwas vor der Pfanne zu fühlen war.
Coxitis und Gonitis behandelt er im floriden Stadium nach vorausgegangener
Steilungscorrectur mit Gipsverbänden und nach Ablauf des schmerzhaften Zu¬
standes mit Hessing’schen Schienenhülsenapparaten oder bei ärmeren Patienten
mit Hülsenapparaten aus Cellulose. Die Gelenkcontracturen, soweit sie nicht
unblutig gestreckt werden können, greift er mittelst der offenen Weichtheil-
durchschneidung oder eventuell durch Osteotomie im Scheitel der Verkrümmung
an. Am Knie kommen Keilosteotomie oder bogenförmige Resection in Frage.
Den angeborenen Klumpfuss hat Vulpius in 55 Fällen mit Erfolg durch das
modellirende Redressement behandelt, bei der Behandlung des paralytischen
Klumpfusses empfiehlt er die Sehnentransplantation aufs wärmste. Eine aus¬
führliche Arbeit desselben Verfassers über dieses Thema ist an anderer Stelle
referirt. Auch bei der Behandlung des paralytischen Plattfusses hat ihm die
Sehnentransplantation gute Dienste geleistet, ebenso wie das modellirende Re¬
dressement bei den starren Formen des statischen Plattfusses. Für 5 Fälle von
Hohl- und Spitzfuss nimmt Vulpius ein nervöses Grundleiden, eine Muskel¬
dystrophie mit Schrumpfung an. Den Schluss des Büchleins bilden zwei Kapitel,
in welchen er die Principien seiner Behandlung der Nervenleiden und Unfalls¬
verletzungen darlegt und in denen er ganz kurze Angaben über interessantere
Fälle macht. Alsberg-Würzburg.
Dr. Redard, P., Le torticollis et son traitement. Paris, G. Garrd et C. Naud.
edit. 1898.
Mehrfache bedeutende Untersuchungen, die in den letzten Jahren über
Schief hals und besonders über die Therapie desselben gemacht wurden, lassen
Digitized by VjOOQle
Referate.
459
die Herausgabe dieses Buches nicht ungerechtfertigt erscheinen. Redard gibt
zunächst an der Hand alter und neuer Arbeiten und gestützt auf seine eigenen
Beobachtungen eine zusammenfassende Darstellung des medicinischen und chirur¬
gischen Torticollis, widmet der Aetiologie, Symptomatologie, der pathologischen
Anatomie und Prognose die einzelnen Kapitel und geht hauptsächlich auf die
einzelnen Punkte der Behandlung näher ein. Er empfiehlt besonders permanente
Extension und Massage und räth zu einer operativen Behandlung erst vom
3. Jahre ab, da bei Kindern unter 2 Jahren subcutane und offene Tenotomie
gewisse Gefahren in sich berge. Partielle Exstirpation des Kopfhickers gibt
nach des Verfassers Ansicht keine besseren Resultate, die totale Exstirpation
will er nur auf ganz wenige Fälle beschränkt wissen. Nach der Tenotomie
wendet er für die erste Zeit permanente Extension mit der Glisson’schen Schwebe
an. In einem der letzten Kapitel theilt Verfasser noch die Erfolge mit, die er
mit seiner Behandlungsmethode erzielt hat und die er sehr instructiv mit guten
Abbildungen illustrirt. Ebenso sind die Apparate, die zur Correction der Kopf¬
stellung dienen und von denen er die mit elastischem Zug besonders lobt, in
zahlreichen Abbildungen dargestellt. B1 e n c k e *Würzburg.
Hildebrandt, Ueber doppelseitiges Caput obstipum. Deutsche Zeitschrift für
Chirurgie Bd. XLV S. 584 ff.
Hildebrandt beschreibt einen Fall von doppelseitigem Caput obstipum
mit Stellungsanomalie, der bis jetzt ohne Analogon in der Literatur dasteht.
Kind in Steisslage ohne Schwierigkeiten geboren. Kopf exprimirt. Keine Asphyxie.
4 Wochen später bemerkte man, dass der Kopf stets nach hinten gebeugt ge¬
halten wurde. Auf jeder Seite im M. sternocleidomastoideus zwetschgengrosser,
knolliger Tumor, der beiden Muskelportionen angehört. 8 Tage später Ex¬
stirpation, bei der die Continuität der Muskeln erhalten werden konnte. 4 Wochen
später Exitus letalis an Atrophie und Bronchopneumonie. Die makroskopische
Untersuchung ergab grauweisse, derbe Geschwülste, auf dem Durchschnitt
überall gleichmässig. Muskelfasern nur am äusseren Umfang. Nirgends Blut¬
färbung. Mikroskopische Untersuchung: Vereinzelte Muskelfasern, aus einander
gedrängt durch Bindegewebe verschiedener Entwickelung. Je mehr das Binde¬
gewebe entwickelt ist, desto dünner sind die eingestreuten Muskelfasern, deren
Continuität häufig unterbrochen ist. Man constatirt an ihnen die verschiedenen
Stadien der Degeneration. Es handelt sich um interstitielle Myositis, wie sie
von Köster für ein gleichaltriges einseitiges Caput obstipum beschrieben wurde.
Die Rückwärtsneigung des Kopfes ist bedingt durch die gleichzeitige Erkrankung
und Contraction beider Musculi stemocleidomastoidei. Hildebrandt führt
aus der Literatur 6 Fälle von Ruptur beider Kopfnicker intra partum an, kann
sich aber nicht dazu entschliessen, die Affection für eine nur traumatisch be¬
dingte zu halten. Er betont einerseits die Aehnlichkeit seiner mikroskopischen
Befunde mit der Muskelischämie und andererseits die Möglichkeit einer infectiösen
Myositis nach Kader. Für Lues liegt keinerlei Anhaltspunkt vor. Thera¬
peutisch empfiehlt Hildebrandt vor eingetretener Deformirung des Schädels
und der Halswirbelsäule bei jungen Kindern die Massage.
Alsberg - Würzburg.
Digitized by VjOOQle
400
Referate.
Salaghi, M. 1 . Sulla scolioBi. Studio clinico (Ueber die Skoliose. Klinisches
Studium). Archivio di ortopedia 1894—1895 (125 S.).
Derselbe. 2. Note cliniche di ortopedia (Klinische Noten von Orthopädie).
Aus der chir.-päd. Klinik zu Florenz. Arch. di ortop. 1896, Nr 5 n. 6.
1. Was die erstgenannte Arbeit anbetrifft, sind ihre Abschnitte so eng
mit einander verbunden, dass es in einem Bericht nur möglich ist, einige Punkte
zu berühren.
Verfasser gibt für die verschiedenen Formen der Skoliose, die habituelle,
dorsale oder lumbale, die eigentliche rachitische, die reflectorische und die
von Schiefhals oder Kinderlähmung oder von vorausgegangener exsudativer
Brustfellentzündung abhängige Skoliose, eine einheitliche mechanische Erklärung,
nämlich die abnorme Wirkung des Körpergewichtes über die eine Hälfte der
Wirbelsäule. In Bezug auf die rachitische Form würde die grössere Weichheit
der Wirbel, welche mit der Rachitis des kindlichen Alters zusammenhängt,
die Erklärung für die erheblichere Knochendeformität abgeben, welche bei den
rachitischen Skoliosen beobachtet wird. Davon würde auch der kürzere Radius
dieser Krümmungen abhängen, welcher in zweifelhaften Fällen als ein Hilfs¬
mittel der Differentialdiagnose von den habituellen Formen dienen kann, die
für gewöhnlich einen längeren Krümmungsradius aufzuweisen pflegen.
Auch bei der reflectorischen Skoliose würden die Muskeln bloss eine das
Gewicht richtend^ Wirkung haben, mit Ausnahme der von Ischias abhängigen
homologen Skoliosen, welche durch Muskelkrampf entstehen. Bei den von
Pleuritis abhängigen Skoliosen wirken als Ursachen zusammen der Einfluss des
atmosphärischen Druckes, welcher auf der erkrankten Seite der mangelhaften
Lungenausdehnung wegen vorwiegt, und die Schrumpfung der narbigen Stränge
zwischen beiden Pleurablättern.
Von den gewöhnlichen Kenntnissen über die Anatomie und Physiologie
der Wirbelsäule ausgehend, kommt Verfasser zu folgendem Schluss in Bezog
auf die Pathogenese der Skoliose:
Zunächst kommt bei fehlerhaften Haltungen oder anderweitig die po¬
tentielle Wirkung (azione potenziale) der seitlichen Beugung der Wirbel¬
säule in Betracht, welche durch die Quetschung der Zwischen wirbelscheiben
möglich ist; die Rotation ist weiter nichts als der physikalische Ausdruck einer
und derselben beugenden Kraft, welche an den Wirbelkörper und den Wirbel¬
bögen angewendet wird, indem beide einen verschiedenen Grad von anatomischer
Fixation besitzen. Die Rotationsachse ist virtuell (virtuale), nicht wirklich,
und entfernt (remoto). Indessen, der Gestalt und Richtung der Gelenkfortsätie
wegen, ist nur ein geringer Grad der Wirbelrotation möglich; die grösseren
Grade der pathologischen Rotation, welche mit der Beugung der Wirbelsäule
einhergehen, sind erst möglich infolge der Verunstaltung der Gelenkfortsätze,
deren Gelenke thatsächlich die allerersten Veränderungen aufweisen; die hinteren
Theile der Wirbelkörper, welche den Bögen zunächst liegen, werden infolge¬
dessen verunstaltet, und so erklärt man die Reclinationserscheinungen. Ver¬
fasser bessert in der Beziehung die allgemein angenommene Meinung, das*
infolge der Reclination die lumbale physiologische Lordose sich abflache;
das Gegentheil ist durch die klinische Beobachtung mehrerer Fälle, sowie durch
Digitized by VjOOQle
Referate.
461
einen wichtigen Fall bewiesen, welchen Verfasser am Sectionstische im patho¬
logisch-anatomischen Institut zu Florenz studiren konnte.
Das Studium über die statischen Verhältnisse des menschlichen Körpers
dient auch dazu, eine irrige, allgemein angenommene Auffassung zu widerlegen,
welche die Lage der Schwerlinie des Rumpfes in Bezug auf die bicoxofemorale
Achse anbetrifft.
Dann folgt eine ausführliche, mit praktischen Bemerkungen bereicherte
literarische Kritik, wobei Verfasser die Barwell’sche musculäre, sowie die
Müllerische Theorie, welche sich auf deu Entstehungsmechanismus der habi¬
tuellen dorsalen Skoliose durch die fehlerhafte Haltung beim Schreiben beziehen,
sowie viele andere irrige Erklärungen, welche für die Symptome und Ur*
Sachen der reflectorischen Skoliosen u. s. w. angegeben werden, widerlegt.
Die klinischen Beobachtungen sind zahlreich (über 60) und mannigfaltig;
bei jedem Fall sind die Ursachen und die klinischen Eigenschaften genau her¬
vorgehoben, und öfter wird das photographische Bild der Deformität vorgestellt.
Praktisch wichtig ist die vom Verfasser vorgeschlagene und geübte
manuelle Detorsionsmethode der Wirbelsäule, deren Einzelheiten genauer in
folgender Arbeit beschrieben werden. Unabhängig von jedem Apparat oder
Instrument hat Verfasser in wenigen Wochen habituelle Skoliosen des ersten
Grades und nicht schwere Skoliosen des zweiten zur Heilung gebracht (die eigent¬
lichen rachitischen Formen allerdings erwiesen sich hartnäckiger). Diese
Methode empfiehlt sich ihrer Raschheit, Einfachheit und Sicherheit halber, was
einen grossen Vortheil über die anderen, mehr kostspieligen, complicirten und
oft nutzlosen Behandlungsmethoden darstellt; ausserdem ist dadurch in vielen
Fällen erlaubt, das orthopädische Stützcorset zu entbehren. Letzteres ist in¬
dessen bei den schweren, der Behandlung trotzenden Skoliosen nothwendig, da
die Deformität geneigt ist, sich in zunehmendem Maasse zu verschlimmern; der
mathematische Beweis wird durch eine sinnreiche Anwendung des Parallelo¬
gramms der Kräfte geliefert, deren sich schon J. Guerin in seiner Arbeit
(Mömoire sur l’extension sigmo’ide et la flexion dans le traitement des ddv.
laterales de la taille) irrigerweise bedient hatte.
Es ist bemerkenswerth, dass die vom Verfasser angewendete manuelle
Detorsion als ein schätzbares Hilfsmittel für die Diagnose und Prognose vor
und während der Kur dienen kann, um die Fortschritte derselben genau zu
verfolgen.
Endlich folgt ein die Fabriken und öffentlichen Schulen in Mailand be¬
treffender Anhang. Verfasser beschreibt dabei die fehlerhaften Haltungen, in
welchen die Schüler und Arbeiter resp. Arbeiterinnen verharren, und schlägt die
bei den Schulbänken u. s. w. anzubringenden Modificationen vor.
Verfasser ist davon überzeugt, durch seine Studien die Pathogenese der
Skcjiose in ihren mannigfaltigen Formen und Erscheinungen aufgeklärt zu haben,
welche verschieden sind je nach der Natur, dem Sitz und Grad der Deformität,
und die Frage der Therapie für viele Fälle entschieden zu haben. Die metho¬
dische, täglich bis zu erreichter Hypercorrection fortgesetzte, manuelle Detorsion
der Wirbelsäule wiederholt eben in entgegengesetztem Sinne die Verunstaltungs¬
arbeit des Skelets, welche schon durch die regelmässige Wirkung des Körper¬
gewichtes vollführt worden war.
Digitized by VjOOQle
462
Referate.
2. ln der zweiten Arbeit setzt Verfasser das praktische Studium der
Skoliose fort. Durch seine letzten klinischen Erfahrungen ist er dazu geführt
worden, keinen prindpiellen Unterschied zwischen den habituellen und den
rachitischen Formen anzunehmen. Erstens bieten einige Fälle, welche als
habituelle Skoliosen betrachtet werden, alle die klinischen Züge der eigentlichen
rachitischen Formen: sie zeigen einen kurzen Krümmungsradius, eine erheb-
liehe Torsion der Rippen und Wirbel mit entsprechender Verunstaltung des
Thorax und Veränderung seiner diagonalen Durchmesser, endlich eine grosse
Hartnäckigkeit der Behandlung gegenüber.
Aber davon abgesehen, kommen sogen, habituelle Fälle im jugendlichen
Alter vor, welche bis zu einer gewissen Zeit unter der Behandlung grössere
Besserungen aufweisen; dann plötzlich erfahren sie ohne genügende Ursache
eine starke Verschlimmerung und nehmen geradezu einen galoppirenden Verlauf.
Solche Verschlimmerungen können eben bloss durch die Wiederanfachung einer
nur dem Scheine nach erloschenen rachitischen Erkrankung der Wirbel erklärt
werden. Diese Erfahrungen haben für die Praxis eine grosse Bedeutung, indem
sie den Arzt zur grössten Vorsicht bei Stellung der Prognose mahnen.
Die vom Verfasser geübte manuelle Detorsion war als Handgriff sicherlich
schon bekannt, da sie äusserst einfach ist; aber als eine in vielen Fällen einzige
Behandlungsmethode und als eine systematische Anwendung, welche täglich für
15—30' wochen- und monatelang fortgesetzt wird, wurde von Niemand anders
weder vorgeschlagen noch angewendet. Deshalb sieht sie Verfasser als seine
eigene Methode an.
Das Verfahren besteht wesentlich in rhythmischen Drücken, welche mit
der Hand über die Krümmungsconvexität in Bauchlage des Patienten ausgeübt
werden. Durch lange Uebung kann man die Richtung und den Grad der Kraft
kennen lernen, welche man in jedem einzelnen Falle ohne Schaden anwenden
darf. Bei den dorsalen Formen dienen als Angriffspunkte die Rippen nahe
ihrem Winkel, bei den lumbalen die rotirten Querfortsätze der betreffenden
Wirbel. Für einen nicht veralteten Fall von habitueller Skoliose mögen un¬
gefähr 60 Sitzungen ausreichen. Man erhält eine vollkommene Heilung oder
eine erhebliche Besserung. Die Resultate sind dauerhaft, was augenscheinlich
vom Einfluss des Druckes auf das Wachsthum der Wirbel abhängt Sobald
die normalen statischen Verhältnisse wiederhergestellt sind, zeigt die Natur das
Bestreben, dieselben zu erhalten (Verfasser kann in der Beziehung über Fälle
berichten, welche seit mehr als 2 Jahren aus der Behandlung entlassen wurden).
Die manuelle Detorsion wirkt hauptsächlich auf die seitliche Beugung
und die pathologische Rotation der Wirbel, und nur indirect auf die eigent¬
liche Torsion oder anatomische Verunstaltung der Wirbel und Rippen, sowie auch
auf die Reclination. Indessen bekämpft man durch Verminderung der Rotation
die von ihr abhängige Thoraxdeformität, was die Circulations- und Respiratipns-
störungen, sowie die solche schweren Skoliosen häufig begleitenden Schmerzen
zu mildern resp. denselben vorzubeugen vermag.
Bemerkenswerth ist die Empfindung der freieren Beweglichkeit des Rück¬
grats, welche von vielen Patienten angegeben wird, und von der raschen
Besserung, welche durch diese Methode erreicht wird, abhängt. Das hängt mit
der rasch verschwindenden Steifheit der Wirbelgelenke zusammen, welche seit
Digitized by VjOOQle
Referate.
463
dem Anfang der Skoliose wahrgenommen wird und den Patienten den Eindruck
macht, als ob ihre Wirbelsäule in einen starren Stab verwandelt wäre.
Indem wir für die übrigen Theile der Arbeit auf das Original verweisen,
heben wir nur Folgendes hervor.
Eine angeborene Skoliose bei einem saugenden Mädchen, welches andere
Entwickelungshemmungen darbot, wurde nach 8monatlicher Behandlung durch
das oben beschriebene Verfahren vollkommen und dauerhaft geheilt. Ebenfalls
geheilt wurde eine von angeborenem Schief hals abhängige Skoliose; gegen den
Schief hals wurde die offene radicale Durchschneidung des Sternocleidomastoideus
ausgefuhrt, mit Erzielung eines vollkommenen Resultates, wofür unter anderem
das Bild der jungen Patientin Zeugniss abgibt.
Weitere Fälle sind: conservativ behandelte und blutig operirte Ausgänge
von Kinderlähmung; — eine angeborene Starre (spinale Form) der unteren Ex¬
tremitäten, welche durch die mechanische Kur geheilt wurde; — eine angeborene
Entwickelungshemmung des linken Schulterblattes; — eine mit mannigfachen
Contracturen, sowie mit Klinodaktylie und Klumpfuss einhergehende Missbildung
der Glieder u. a. m. Autoreferat.
Erben, Ischias scoliotica (Scoliosis neuralgica). Eine kritische Studie. Wien
und Leipzig 1897. Braumüller.
Mit grossem Fleiss hat Verfasser die gesammte Literatur über Ischias
scoliotica gesammelt und das Material kritisch verarbeitet. Nachdem er zu¬
nächst die verschiedenen Theorien über die Entstehung der Skoliose zusammen-
gestellt hat — es sind deren neun — berichtet er über die Ergebnisse seiner
physiologischen Studien auf dem Gebiet der Rumpfmuskulatur, um auf Grund
derselben zu prüfen, wie weit die Angaben der verschiedenen Autoren mit den
physiologischen Thatsachen sich in Einklang bringen lassen. Es ist unmöglich,
im Rahmen eines Referates wiederzugeben, wie Erben in kurzer und sach¬
licher Weise die einzelnen Theorien kritisch beleuchtet. Alle Gesichtspunkte,
die sieb aus diesem Verfahren ergaben, verwendet er auf die Analyse der 68
von ihm beobachteten Fälle, von denen er 5 Fälle als Paradigmata für die
einzelnen Arten der Skoliose mittheilt. Es sind dies je zwei gekreuzte und
homologe Skoliosen und eine alternirende. Das Resultat seiner Beobachtungen
fasst er dahin zusammen, dass die Variationen der Rückgratsverkrümmung und
ihrer Begleitsymptome im Zusammenhang stehen mit verschiedener Localisation
der Nervenerkrankung (Schmerzhaftigkeit), welche mit sich bringt, dass in
einem Fall dieser, in einem anderen Fall jener Körpertheil vor Druck geschützt
werden muss. Die Einzelheiten müssen im Original nachgelesen werden.
Alsberg -Würzburg.
Joseph-Berlin, Eine neue orthopädische Brustklammer. Berliner klinische
Wochenschrift 1897, Nr. 41.
Der Verfasser hat zur Verbesserung des Hoffa-Schede'schen Skoliosen¬
apparates eine in dem betreffenden Artikel abgebildete Vorrichtung angegeben,
mittelst welcher die Arme des Patienten gleichzeitig der Mittellinie genähert
oder von ihr entfernt werden können- Zugleich verhindert eine automatisch
Digitized by
Google
464
Referate.
wirkende Zahnstange, dass die beiden Arme der Klammer sich durch den von
Seiten des Körpers hervorgerufenen Gegendruck zu weit von einander entfernen.
B1 e n c k e -Würzburg.
Schanz, Zur Messung von Skoliosen. Centralblatt für Chirurgie Jahrg. 1897,
Nr. 38.
Schanz schlägt vor, als Controlle der Behandlungsresultate bei Skolio-
tischen einfach Messungen der Körpergrösse vorzunehmen und durch Vergleich
mit Wachsthum stabeilen normaler Individuen einen Schluss auf den erreichten
Heileffect zu machen. So bestechend die Methode auch durch ihre Einfachheit
sein mag, so dürfte sie bei einem so complicirten Mechanismus, wie ihn die
Skoliose darbietet, nur sehr wenig durch auch nur annähernde Ex&ctheit ge¬
nügen und wohl nur, wie es auch Verfasser zu üben scheint, in poliklinischer
Behandlung ihre Anwendung finden. Simon-Würzburg.
Redard, P., Traitement des deviations de la Colonne vertebrale et princi-
palement au traitement de la gibbon: te du mal de Pott. Presse medi-
cale Sept. 1897.
Verfasser berichtet über seine Erfahrungen bei der Redression des Pott-
schen Buckels nach Calot. Er unterscheidet drei Grade des Buckels: leicht
redressirbare, ziemlich leicht redressirbare und unredressirbare. Zu ersteren
rechnete er die frischen Buckel mit wenig ausgebreiteten tuberculösen Verände¬
rungen. Die zweite Kategorie bilden die Pott’schen Buckel noch sehr junger
schwacher Individuen, bei denen der Buckel auch schon längere Zeit bestehen
kann, etwaige knöcherne Consolidationen weichen in diesen Fällen einer geringen
Kraft. Die ausgedehnten alten Buckel von 3 — 8 Jahren, die mehrere Wirbel
betreffen und mit Deformitäten des Thorax einhergehen, hält Verfasser für un-
redressirbar. Auch sind die winklig vorspringenden Buckel leichter zu beein¬
flussen als die sich auf mehrere Wirbel ausdehnenden runden. Am leichtesten
sind Buckelbildungen der Brust- und Lendenwirbelsäule zu beeinflussen, weniger
leicht die der Halswirbelsäule, auch sind hier im allgemeinen die Gefahren
wegen drohender Verletzungen des verlängerten Marks grössere. Grössere Ab-
scesse im Abdomen oder in der Fossa iliaca contraindiciren ebenfalls wegen
der drohenden Gefahr der Ruptur die Operation, doch sah Verfasser in 3 Fällen
kleinere Abscesse nach der Operation verschwinden. Ernstere Zufälle wurden
nicht beobachtet unter den 32 behandelten Fällen, was Redard der vorsich¬
tigen Auswahl seiner Fälle zuschreibt.
Die Reduction wird hauptsächlich durch Zug an den unteren Extremi¬
täten und am Kopf vermittelst Schrauben zu Wege gebracht; nur in einer ge¬
ringen Anzahl der Fälle wird noch ein vorsichtiger Druck auf den Buckel aus¬
geübt. Als bestes Mittel der Fixation erkennt Verfasser den Calot’schen
Verband an.
Am Schlüsse seiner Arbeit berichtet Verfasser über 5 mit forcirter Re¬
dression nach Delore behandelte Fälle von Skoliose. Nach vorausgegangener
Mobilisation der Wirbelsäule wird in Narkose durch Zug und forcirten Druck die
Deformität corrigirt und im Gipsverband fixirt. Mehrere Sitzungen folgen sich
Digitized by VjOOQle
Referate.
465
in Intervallen von 2—4 Monaten. Bei sehr rigider Wirbelsäule bedient er sich
zu Verstärkung des Drucks eines mit einer Pelotte versehenen Hebels.
Simon -Würzburg.
V ulpius, Ueber das gewaltsame Redressement des Buckels. Münchener med.
Wochenschrift 1897, Nr. 36.
Der Verfasser empfiehlt, um die vielen Assistenten, die bei der Calot-
schen Operation nöthig sind, entbehren zu können, die Extension mit der
Lorenz’schen Schraube. Der Kopf des Patienten wird mittelst einer aus
dünnem, aber festen Stoff gefertigten Schlinge extendirt, die Unterschenkel mit
der Schraube durch starke Strähne verbunden. Zieht man nun auf beiden
Seiten an, so wird der Patient in die Schwebe gehoben und stützt sich nur
mit den Ellenbogen der lose herabhängenden Arme auf. Der Gipsverband wird
in dieser Stellung angelegt und reicht, das Becken einbegriffen, nach aufwärts
biß zum Kopf, so dass das Kinn eben über den Rand des Verbandes vorschaut.
Auch die Anlegung in verticaler Suspension des an den Füssen aufgehängten
Kranken hat Vulpius bewährt gefunden. Die Patienten liegen mit diesem
Verbände 8 Wochen hindurch, wenn möglich viel im Freien; dann wird der
Verband erneuert, die Patienten gehen mit diesem zweiten Verband umher.
Einmal hat V u 1 p i u s vorübergehend Zeichen einer meningealen Reizung
beobachtet. B1 e n c k e - Würzburg.
Trapp, Zur Kenntniss der Wirbelbrüche. Eine Studie über die klinische
Diagnose des Sitzes einer Wirbelfractur aus den nervösen Ausfalls¬
erscheinungen. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 45 Heft 3 u. 4.
Auf Grund eigener und literarischer Beobachtungen hat der Verfasser
Tafeln zusammengestellt, aus denen zu ersehen ist, welche nervöse Ausfalls¬
erscheinungen je nach dem Sitze einer Rückenmarksverletzung entstehen müssen.
Auf die Einzelheiten näher einzugehen würde den Rahmen eines kurzen Referates
weit Überschreiten. Bekanntlich hat auch Kocher in seiner grossen Arbeit
über Wirbelverletzungen ähnliche Tafeln zusammengestellt.
B1 e n c k e -W ürzburg.
Lovett, Robert W., Spondylolisthesis with description of a case. Trans¬
actions of the American Orthopedic Association 1897.
Nach eingehender Besprechung der Pathologie, Aetiologie, Diagnose und
Therapie der Spondylolisthesis, für die er sich im wesentlichen an die Unter¬
suchungen von Neugebauer anlehnt, theilt Verfasser einen einschlägigen
Fall mit.
Ein 18jäbriger junger Mann, der bis dahin nie krank gewesen und kräftig
entwickelt war, verunglückte, indem ihm ein schwerer Wagen über das Becken
ging. Er wurde nicht behandelt, sondern blieb nur etwa 8 Tage im Bett und
ging dann mit Krücken umher. Bei der ersten Untersuchung fiel von rück¬
wärts die scharfe Prominenz der Ossa iliaca auf, eine sehr starke Lordose der
Lendenwirbelsäule und die Kürze des Rumpfes. Das Aussehen der Hüften liess
eine doppelseitige Hüfbluxation vermuthen, doch waren die Trochanteren in der
Digitized by VjOOQle
466
Referate.
Roser-Nelaton'schen Linie. Beim Betasten der Wirbelsäule liess sich con-
statiren, dass der letzte Lumbarwirbel weiter nach vorne stand als der erste
Sakralwirbel, der augenscheinlich an seiner normalen Stelle war. Die Diagnose
wurde auf Spondylolisthesis gestellt. Unten in Suspension ein Gipscorset an¬
gelegt. Nach 7 Monaten konnte Patient entlassen werden. Er hatte keine Be¬
schwerden mehr, konnte ohne Corset gehen. Die Bewegungen des Rumpfes
waren ziemlich frei. Simon-Würzburg.
Sternberg-Wien, Habituelle beiderseitige Luxation der Clavicula. Wiener
klinische Wochenschrift 1897, Nr. 47.
Ein sonst gesundes 16jähriges Mädchen fällt und zieht sich durch diesen
Fall eine incomplete prästernale Luxation der rechten Clavicula zu. Linke
Clavicula intact. Operative Fixation und Heilung. Fünf Monate später ent¬
steht dieselbe Luxation auf der linken Seite und zwar durch gewaltsames Zerren
am Arm. Gleiche Operation wie rechts. V 9 J&hr später gleiche Luxation und
zwar wieder auf der linken Seite. Es wird links eine zweite Operation aas¬
geführt: der Kopfnicker&nsatz wird transplantirt an das Periost der ersten
Rippe; Heilung. Ein Jahr später steht die rechte Clavicula von neuem in
leichter luxirbarer Verbindung mit dem Brustbein. Das linksseitige Gelenk
functionirt ausgezeichnet, weshalb Verfasser besonders noch den guten Effect
der Transplantation des Kopfnickers resp. dessen Clavicularpartien betont
B1 e n c k e - Würzburg.
Herbert L. Burrell and Lovett, Robert W., Habitual or Recurrent Dislo¬
cation of the shoulder.
Die habituelle Schulterluxation lässt sich nach den Verfassern zurück¬
führen 1. auf Schlaffheit der Schultergelenkskapsel, 2. theilweise Fractur des
Humeruskopfes, 3. theilweise Fractur der Gelenkpfanne, 4. Zerreissung der
Muskelinsertion und 5. auf abnormale Beschaffenheit des Kopfes, sei es
infolge einer Fractur oder einer chronischen nicht eitrigen Entzündung. Immer
finden sich gewisse Muskelgruppen atrophisch. Als Behandlungsmethode em¬
pfiehlt sich auf Grund der Erfahrungen von 6 einschlägigen Fällen Massage
und Gymnastik nach vorausgegangener Fixation, die mindestens 10 Tage bis
zur völligen Heilung des Kapselrisses statt haben muss. Führt dies nach
10 Wochen nicht zum Ziel, so ist Operation zu empfehlen, die von Burrell
in 2 Fällen mit gutem Erfolg ausgeführt wurde. Die Operation besteht in
theilweiser Resection der vorderen Kapselpartie und Verkleinerung der Kapsel¬
tasche durch Nähte. Simon-Würzburg.
Weill-Strassburg, Apparat zum Zurückhalten frischer und zur Vermeidung
habitueller Luxationen. Münchener medic. Wochenschrift 1897, Nr. 48.
Verfasser beschreibt einen in dem Artikel abgebildeten, einfachen Apparat,
der aus einem breiten Ledergurt besteht, der quer über den Rücken, unter den
Achselhöhlen durch über die Schulter hinwegläuft, um hinten von den beiden
Schultern aus mit seinem Endstück wieder an das Querstück befestigt zu wer¬
den. Weill räth, diesen Apparat in allen Fällen von Schultergelenksluxationen
Digitized by VjOOQle
Referate.
467
eine Zeit lang statt gewöhnlicher Hosenträger zu tragen, in den Fällen, wo
eine Luxation bereits mehrere Male eingetreten ist, dauernd.
Bl e n ck e -Würzburg.
Nicoladoni, Daumenplastik. Wiener klin. Wochenschrift 1897, Nr. 27.
Ein Fall Ton Abschälung der Haut des ganzen Daumens von seiner
Spitze bis über die ganze Circumferenz des Thenar veranlasst© den Verfasser,
einen gestielten Hautlappen aus der Brust zu nehmen, den er röhrenförmig
nach Art eines Fingerlings zusammennähte und in den er den wunden Daumen-
stumpf schob, um dann Daumen und Fingerlingswundrand durch Nähte zu
vereinigen. Das Resultat war ein gutes. Verfasser geht noch weiter und will
— ein Gedanke, den er bis jetzt auszuführen noch nicht die Gelegenheit
hatte — einen vollen Ersatz des Gliedes dadurch anstreben, dass er durch einen
gestielten Lappen aus der oberen Bauchgegend die Haut des Daumens ersetzt
und, wenn dies gelungen ist, in die neu gewonnene und angeheilte Hautwalze
ein entsprechend langes, von Periost bekleidetes Stück der Tibia implantirt.
Er schlägt ferner noch vor, den Daumen vielleicht durch den kleinen Finger
der anderen Hand zu ersetzen oder aus der zweiten Zehe des gleichseitigen
Fusses einen neuen Daumen mit Fingernagel und beweglichem Gelenk zu schaffen.
B1 e n c k e - W ürzburg.
Hofmeister, Ueber Waclisthumsstörungen des Beckens bei frühzeitig er¬
worbener Hüftgelenkscontractur. Ein Beitrag zur Lehre vom coxalgischen
Becken. Beitr. zur klin. Chirurgie XIX Heft 2.
Verfasser sucht im Anschluss an einen Fall, den er in der Tübinger
chirurgischen Klinik zu beobachten Gelegenheit hatte, zu beweisen, dass der
von König aufgestellte Satz: Die Beugecontractur des Hüftgelenkes wird aus¬
geglichen durch Neigung des Beckens und die Neigung des Beckens wiederum
durch vermehrte Lordosenstellung der Lendenwirbelsäule, nicht ohne Ausnahme
geblieben ist. Er fand nämlich, dass bei jungen Individuen und bei länger
bestehender Contracturstellung die Flexionscontractur nicht durch Neigung des
ganzen Beckens, sondern nur durch Neigung der kranken Beckenhälfte aus¬
geglichen wurde, die durch allmähliche Umformung und Verschiebung der
Knochen und Knorpel ermöglicht wurde.
Diese Form Veränderung kommt nach Hofmeister zu Stande in erster
Linie durch das Gewicht der in abnormer Flexion und Adduction fixirten Ex¬
tremität. Als unterstützende Momente kommen hinzu: Fehlen des Gegendrucks
vom Kopf auf die Pfanne und einseitige Wirkung der Rumpflast auf die ge¬
sunde Beckenhälfte.
Die Darmbeinschaufel der betreffenden Hälfte ist steil aufgerichtet, gegen
den Bauch hineingezogen; die ganze Seite des Beckeneingangs ist bogenförmig
ansgeweitet, die Vorder wand des kleinen Beckens vollständig umgelegt, so dass
die betreffende Beckenseite gegenüber der anderen stark geneigt erscheint.
Zwei weitere Fälle, von denen der erste dem beschriebenen durchaus
analog ist, führt er weiter an und zieht aus dem Gebrachten die Schlussfolge¬
rung, dass man bei Beurtheilung länger bestehender Hüftcontracturen, die in
ihrer Entstehung in die Jugendzeit zurückreichen, auf die Messungsresultate
Digitized by VjOOQle
468
Referate.
kein zu grosses Gewicht legen darf. Speciell dürfen in solchen Fällen scheinbar
zu niedrige Werthe für jene Grössen nicht als Beweis gegen eine Luxation in
die Wagschale fallen. Blencke-Würzburg.
Lorenz, Adolf, Ueber das combinirte instrumenteile modellirende Redresse¬
ment der Hüftgelenkscontracturen. Wiener med. Blätter Nr. 40 8. 651.
Das Redressement der Hüftgelenkscontracturen mittelst des von Lorenz
consfcruirten Hüftredresseurs ist ein combinirtes, d. h. es setzt sich aus dem
gleichzeitigen und gleichmässigen Redressement des Beckenschenkels
und des Extremitätenschenkels des Deformi täte winkeis zusammen. Der Apparat
besteht im Princip aus zwei an den Fusssohlen des Patienten befestigten Blech¬
sandalen, welche durch Schrauben Wirkung in vor- und rückschreitende Bewe¬
gung versetzt werden können. Die Sandale an der Zugspindel zieht das ver¬
kürzte (adducirte) Bein nach abwärts (Schenkelredressement), während gleich¬
zeitig die Triebspindel das abducirte, längere Bein durch entgegengesetzte
Drehung in die Höhe schiebt (Beckenredresseraent). Selbstverständlich wird
das Knie der Trieb- oder Schubseite durch eine Vorrichtung gegen das Ein¬
schnappen versichert. Trieb- und Zugspindel sind an dem Spindelträger be¬
festigt, welcher seinerseits die Querstange eines starken I-Eisens bildet, das in
einer Blechhülse läuft, so dass der Apparat auf jede Beinlänge eingestellt
werden kann. Auf der Basis des Apparates ist eine Beckenstütze angebracht
Gleichzeitig sind Vorkehrungen zur Correction der Beugestellung getroffen.
Bei der Anwendung des Apparates, der als Extensionsapparat insofern
originell ist, als die Extensionswirkung keine Contraextension benöthigt, das
Perineum also ganz ausser Spiel bleibt, wird der Patient auf die Beckenstütze
gelagert und mit seinen Fusssohlen an den Sandalen befestigt. Sodann wird
in langsamer, allmählich steigender, immer schonender und temporisirender
Wirkung Trieb- und Zugspindel gleichzeitig in Thätigkeit gesetzt, bis eine
leichte Uebercorrectur erreicht ist, die nach dem Stande der inneren Knöchel
resp. der Spinae beurtheilt werden kann. Die scharf gespannte Muskelcoulisse
der Adductoren, sowie die Spinaweichtheile werden, wenn nöthig, mit dem
Tenotom bis zum Nachlass jeder Spannung subcutan eingekerbt. Schliesslich
wird die Correcturstellung des Gelenkes durch einen exacten Verband fixirt und
der Patient erst nach dem vollständigen Erhärten desselben vom Apparat fort¬
genommen. Der Hüftredresseur eignet sich auch in bequemster Weise zum
Etappenredressement ohne Narkose bei den Fällen mit fliessenden Fisteln, welche
wegen leicht ein tretender Eiterverhaltung zum Redressement in einer Sitzung
wenig geeignet sind. Joachimsthal.
Ghillini, Cesare-Bologna, Rendiconto clinico di Chirurgia ortopedica.
Verfasser bespricht zunächst die bei der angeborenen Hüftgelenks-
luxation angewandten Operationsmethoden, differencirt dabei das Vorgehen
von Paci und Lorenz bezüglich der Nachbehandlung und bespricht dann zwei
nach Paci resultatlos behandelte Fälle und einen Fall bei einem 11jährigen
Mädchen, das er am 20. Juni nach lmonatlicher Gewichtsextension (8 M.) ein¬
renkte und nach dem Vorgehen von Lorenz behandelte. Am 20. December
Digitized by CjOOQle
Referate.
469
Gips entfernt. Gutes anatomisches und functionelles Resultat. Ueber weitere
6 Fälle, die noch in Behandlung sind, gibt er kein Urtheil ab.
ln 4 Fällen wandte Verfasser die blutige Methode an, und zwar bei zwei
Knaben von 18 und 15 Jahren mit sehr gutem Resultat.
Der zweite Abschnitt befasst sich mit dem Genu valgum, den Ent*
stehungstheorien und Operationsmethoden desselben. Er hat 7mal bei Jüng*
lingen, 40mal bei Kindern mit Redressement forcd operirt. In 2 Fällen trat
Recidiv ein, alle anderen sah er nach Jahren in normalem Zustande wieder.
Das folgende Kapitel beginnt mit der Beschreibung der Phelps-Opera¬
tion bei Klumpfuss, die er in 18 Fällen anwandte. Dann bespricht er die
Modificationen dieser Methode durch verschiedene Chirurgen; die von Bessel-
Hagen angegebene ist nach seiner Ansicht die beste.
Im Schlusskapitel bespricht Verfasser die Arthrodesenoperationen am
Knie und Fuss, und hebt dabei die Verdienste von Albert um diese Methode
hervor. Er selbst operirte 2mal am Fuss und 2mal am Knie mit gutem func-
tionellem Resultat. Gocht-Würzburg.
Bayer, Zur Therapie der Coxa vara. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie Bd. 45
S. 562 ff.
Verfasser bespricht an der Hand zweier Fälle von Coxa vara, die im
Kölner Bürgerhospital behandelt wurden, sowohl die conservative, wie operative
Therapie der Erkrankung. Die erstere hält er für angezeigt bei allen begin¬
nenden und mittelschweren Fällen, während auch bei schweren Fällen ein Ver¬
such sich immer lohnen kann. Ist als Grundlage der Erkrankung Rachitis
anzusehen, so sind die gegen diese Krankheit wirkenden Massnahmen zu er¬
greifen. Ausserdem ist die Behandlung mittelst Bettruhe, Extension und Mas¬
sage angezeigt. Die Schmerzen verschwinden dabei in der Regel sehr bald,
die Functionsstörung nur soweit die anatomischen Veränderungen es zulassen,
ln dem einen mitgetheilten Fall soll sogar der Trochanterhochstand nach
4wöchentlicher Extensionsbehandlung vermindert gewesen sein. Genauere Zahlen¬
angaben fehlen jedoch. Bei dem zweiten Falle, einem 16jährigen Fabrikarbeiter
mit doppelseitiger Coxa vara, wurde das operative Verfahren eingeschlagen,
und zwar wurde auf der einen Seite die keilförmige Osteotomie des Schenkel¬
halses nach Kraske, auf der anderen Seite die lineare Osteotomie des Schenkel¬
halses, wie sie gleichzeitig von Büdinger angegeben wurde, ausgeführt.
Zwischen beiden Operationen lag ein Zeitraum von etwa 2 1 /* Monaten. Der
Erfolg beider Operationen war wenig befriedigend, da eine fast vollständige
Ankylose eintrat. Trotzdem war eine Verbesserung des Ganges zu constatiren;
auch ermüdete der Patient nachher weniger leicht. Verfasser gibt alsdann eine
Kritik der bisher bekannten operativen Massnahmen und kommt zu dem Schluss,
dass in der Regel die lineäre Osteotomie im Schenkelhals vorzuziehen sei mit
nachfolgender Extensionsbehandlung in geringer Abduction und Einwärtsrotation,
weil in dieser Stellung bei einem eventuellen Misserfolg wenigstens eine ver-
hältnissmässig gute Stellung der Extremität resultirt Für schwere Fälle mit
hochgradiger Deformirung des Schenkelhalses ist die Resection häufig das
einzige Verfahren, durch welches man die Beschwerden heben und eine relativ
günstige Stellung des Beines herbeiführen kann. Alsberg-Würzburg.
Digitized by VjOOQle
470
Referate.
Mittheilungen aus den Hamburgischen Staatskrankenanstalten Bd. 1 Heft 2.
Janez berichtet über einen Fall von congenitalem Defect des Fasses.
Bei einem 47jährigen Mann fand sich, wie sich anamnestisch ermitteln liess,
angeboren, statt des rechten Fusses ein Stumpf, welcher auf den ersten Blick
den Eindruck eines C h op art*sehen Amputationsstumpfes machte. Das Röntgen-
bild zeigte mit grosser Deutlichkeit, dass zwei Fusswnrzelknochen im Stampf
vorhanden waren, welche ihrer Lage nach dem Talus und Calcaneus entsprachen,
während sie in Bezug auf Grösse und Form sehr verkümmert waren, dass aber
auch die unteren Enden der Tibia und Fibula an der Missbildung betheiligt
waren, insofern, als die Malleolen ihres untersten normalerweise spitz zu.
laufenden Stückes entbehrten, ln der Literatur existirt nur ein ähnlicher Fall
von Schäfer aus der Brun suchen Klinik. Verfasser fasst die Deformität als
Hemmungsbildung auf. Graf berichtet Über die Behandlung der Oberschenkel¬
brüche mit Gehverbänden nach der von Bardeleben empfohlenen Methode.
Die mittlere Consolidationszeit betrug in den 10 behandelten Fällen 47 Tage.
4 Patienten verliessen mit tadelloser. 2 mit recht guter Form und Function das
Krankenhaus, 2 verliessen in noch durch weitere Behandlung verbesserungs¬
fähiger Form gegen ärztlichen Rath das Krankenhaus, während 2 noch in Be¬
handlung standen. Bei 6 bestand eine Verkürzung von V*—3 cm, doch wurde
dieselbe leicht durch Senkung des Beckens ausgeglichen. Sehr gut eignet sich
zum Eingipsen der S c h e d e'sche Extensionstisch. Es empfiehlt sich, die ersten
Tage zur Ueberwindung des Muskelzugs einen Extensionsverband anzulegen.
Bei Kniegelenksergüssen und starken Suggillationen der Haut und des Unter¬
hautzellgewebes sind die Gehverbände nicht empfehlenswerth.
Gocht bespricht die Wichtigkeit der R ö n t g e n’schen Durchleuchtung
als Bereicherung der bisherigen Untersuchungsmethoden bei Fracturen und als
Mittel zu deren Beurtheilung, als ausgezeichnete Controlle der Wirkung jeg¬
lichen Verbandes, da es gelingt, auch die dicksten Gipsverbände zu durch¬
leuchten, und ferner als Mittel zur Beurtheilung des erreichten Erfolges.
Verfasser berichtet sodann über verschiedene Fälle von Fracturen, die
ohne das Rön t gen verfahren nicht diagnosticirt waren oder sich aber selbst
in Narkose, wie sich aus den Bildern ergibt, nicht hätten diagnosticiren lassen.
Zehn sehr schöne Abbildungen sind der Arbeit beigegeben. Die einzelnen an¬
geführten Fälle bieten viel Interessantes, das sich in dem engen Rahmen eines
Referats nicht wiedergeben lässt. Simon-Würzburg.
Salaghi, M., Un caso di arresto di sviluppo dell 1 arto inferiore sinistro oon
partiale mancanza del perone. (Ein Fall von Entwickelungshemmung
der linken unteren Extremität mit theilweisem Defect des Wadenbeins.)
Aus der chirurgisch orthopädischen Klinik zu Florenz. II Pratico, Anno
1897, I Vol. II Nr. 4.
Es handelt sich um ein sonst gesundes und gut entwickeltes, 6monat¬
lich es Bauernmädchen ohne nennenswerthe erbliche Anlage. Das ganze linke
untere Glied ist dünner und kürzer als das rechte; ausserdem besteht ein etwas
mehr als */* de 9 Knochens betreffender Defect in der Diaphyse des linken
Wadenbeins. Die Lage beider Knochenstümpfe des Wadenbeins, wovon der
untere einen rudimentären Malleolus extemus trägt und eine gewisse Beweg-
Digitized by VjOOQle
Referate.
471
lichkeit der Tibia gegenüber besitzt, entspricht nicht ganz der Norm, indem
sie nach hinten verschoben sind. Der linke Fuss ist kleiner als der rechte und
steht in Valgusstellung; das nach innen und unten rotirte Sprungbein ragt
hier stark oberhalb des medialen Randes des abgeplatteten Fussgewölbes hervor.
Die Ursache war höchst wahrscheinlich eine mechanische, Druck von
Seiten der Gebärmutter, des vermutlichen Mangels an Fruchtwasser wegen,
oder Druck durch Adhäsionen des Amnion, welches, in seiner Entwicke¬
lung gehemmt, die normale Entwickelung der linken unteren Extremität
verhindert haben würde. Autoreferat.
Salaghi, M., La terapia meccanica dell’ einartro del ginocchie. (Die mecha¬
nische Behandlung des Haemarth ros genu). Archivio di Ortopedia,
Anno 1897, XIV Nr. 4.
Verfasser nimmt seinen Ausgangspunkt von einem traumatisch (durch
Fall vom Wagen) entstandenen Bluterguss ins linke Kniegelenk eines Erwach¬
senen, welcher durch die Massage rasch beseitigt wurde, um die mechanische
Behandlung solcher Ergüsse der operativ chirurgischen gegenüber zu stellen.
Im vorliegenden Fall waren grössere Blutcoagula bei der Palpation des Ge¬
lenkes durchzufühlen, welche sicherlich hätten nicht durch die blosse Punction
und Aspiration entleert werden können. Man hätte also den Gelenkschnitt
ausführen müssen, welcher immerhin einen nicht unbedeutenden Eingriff darstellt.
Die längere Verweilung des Ergusses im Gelenke kann unter Umständen
verderblich sein, indem sich die Blutgerinnsel zu organisiren und bindegewebige
Stränge und Adhäsionen zu bilden vermögen, von der Gefahr einer durch den
fortgesetzten Reiz hervorgerufenen sogen, traumatischen chronischen Gelenk¬
entzündung abgesehen.
Die Riedel'schen Versuche am Kaninchen bestätigen die vom Verfasser
hervorgehobene Schwierigkeit der spontanen Heilung des Haemarthros genu.
Einen directen Beweis hat dann Verfasser durch Versuch am Kaninchen
erbracht. In beiden Kniegelenken des Thieres wurde ein gleicher traumatischer
Bluterguss hervorgerufen und das eine Gelenk regelmässig der Massage unter¬
worfen, während das andere ohne Behandlung blieb. Das Thier wurde dann
getödtet, und beide Gelenke wurden mikroskopisch untersucht. Es ergab sich
nun, dass, während das behandelte Gelenk im grossen und ganzen normale
Verhältnisse darbot, das andere Gelenk Veränderungen der Synovialis zeigte,
welche auf einen verzögerten Reparationsvorgang hindeuteten.
An frontalen Schnitten sah man hier ein Hämatom mit einigen durch
Rhexis entstandenen Blutaustritten und kleinen Hämorrhagien, welche zum
Theil auf der Oberfläche der endothelialen Zellen, d. h. intraarticulär, zum
Theil im unterliegenden dichten Bindegewebe sassen.
An sagittalen Schnitten beobachtete man zwei begrenzte Hämatome mit
verstreuten Ansammlungen von Blutpigmeut und einigen Heerden der Leuko-
cyteninfiltration: ausserdem waren mehrere dendritische, in die Gelenkhöhle
hervorragende Wucherungen aus jungem Bindegewebe vorhanden. Letztere
haben insofern eine nicht unerhebliche Bedeutung, als sie mit der Bildung von
freien Gelenkkörpern in Zusammenhang gebracht werden.
Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. V. Band. 31
Digitized by tjOooLe
472
Referate.
Die oben erwähnten Hämatome hätten auch durch nachfolgende Abstie-
lung und Abschnürung zur Entstehung von Reiskörperchen und Gelenkmäusen
Veranlassung geben können, mit bleibender Schädigung des Gelenkes. Und
gerade das Kniegelenk ist ein bevorzugter Sitz solcher Bildungen.
Autoreferat
Lovett, Robert W., Bursitis of the deep pretibial bursa.
Der Verfasser berichtet über 6 Fälle von Entzündung des unter dem
Ligamentum patellae gelagerten Schleimbeutels. Zunächst gibt er eine genaue
auf Grund von Studien an der Leiche gewonnene Darstellung der Lage und
Begrenzung der Bursa. Dieselbe communicirt nicht mit dem Kniegelenk, nur
in 1 von 1000 untersuchten Fällen konnte ein enger Kanal constatirt werden,
der mit dem Kniegelenk in Verbindung stand. Die Symptome der Entzündung
sind Schmerz und Steifheit beim Gehen, besonders beim Steigen. Schmerz bei
starker Flexion, sowie besonders bei vollständiger Extension des Knies. Das
Ligamentum patellae ist zart und steht mehr vor als gewöhnlich, in schwereren
Fällen findet sich zu beiden Seiten desselben eine fluctuirende Prominenz. Die
Patella tanzt nicht. Die Affection kann leicht mit der Entzündung der ober¬
flächlichen prätibialen Bursa verwechselt werden.
Die Behandlung besteht in vollständiger Ruhigstellung mittelst einer
Schiene bis keilständige Beugung ohne Schmerz ausführbar ist, dann Entfernung
der Schiene und Application einer Flanellbinde. Massage kann im späteren
Stadium von Nutzen sein. Schwerere Fälle können eine Punction oder Decision
nöthig machen. Simon-Würzburg.
Krön, H., Berlin, Zur Lehre von den Arbeitsparesen an den unteren Extremi¬
täten. Deutsche med. Wochenschr. 1897, Nr. 45.
Zenker lenkte im Jahre 1883 zum erstenmal die Aufmerksamkeit aut
eine Lähmung, die er bei Arbeitern infolge von anhaltender Thätigkeit in
knieender oder knie-hockender Stellung beobachtet hatte. Der Verfasser theilt
nun einen neuen, zu dieser Kategorie gehörenden Fall mit und bespricht dabei
zugleich die anatomische Erklärung des Phänomens. Die Prognose dieser Druck¬
lähmungen ist, seiner Meinung nach, eine günstige; die Therapie ist die ge¬
wöhnliche. Blencke-Würzburg.
Ehret, Ueber eine funetionelle Lähmungsform der Peronealmuskeln traumati¬
schen Ursprungs. Archiv für Unfallheilkunde Bd. 2.
Nach Mittheilung eines Falles geht Verfasser näher auf diese Erkrankung»-
form und ihre Eigentümlichkeiten ein, da sie gerade für die Behandlung und
Beurteilung von Unfallverletzten von grosser Wichtigkeit ist, und da das früh¬
zeitige Erkennen des Krankheitszustandes für die Prognose mehr oder weniger
entscheidend ist. Auch wird bei derartigen Fällen durch Verdacht auf Simu¬
lation entschieden viel gesündigt. — Die Hauptsätze, die Verfasser in seinem
Artikel aufstellt, sind folgende: Es gibt functioneile Lähmungen, von denen am
häufigsten die Peronealmuskeln befallen werden, und die nicht von hysterischen
Symptomen begleitet sind und sich von den gewöhnlichen hysterischen Läh¬
mungen wesentlich durch Entwickelung und Verlauf unterscheiden. Die Ursache
Digitized by CjOOQle
Referate.
473
derselben müssen wir in schmerzhaften Zuständen suchen, durch die zunächst
Gewöhnung an eine pathologische Fussstellung bedingt wird. Das Einsetzen
der Lähmung ist schleichend, ihre Entwickelung ist auffallend langsam, aber
stetig fortschreitend, dadurch ist die Diagnose sehr erschwert. Die Prognose
ist eher ungünstig. Je früher die Therapie eingreift, um so grösser ist die
Aussicht auf einen gewissen Erfolg. Zum Schluss führt er noch 8 Kranken¬
geschichten an. Blencke-Würzburg.
Hübscher, Ueber Arthrodese des Fussgelenks. Correspondenzbl. f. Schweizer
Aerzte 1897, Nr. 2.
Nachdem der Verfasser ein Bild von dem heutigen Stand der Arthrodesen¬
frage des Fussgelenkes gegeben und gezeigt hat, dass trotz der einfachen In-
dication, ein Gelenk zu versteifen, eine grosse Verschiedenheit in der Art des
entsprechenden Eingriffs herrscht, dass sogar jeder einzelne Act, der Zu¬
gang zum Gelenk, die Anfrischung der Knochen, die Nachbehandlung, seine
verschiedenen Methoden aufweist, führt er einen Fall an, bei dem er nach ein¬
ander zuerst den Klumpfuss redressirte und dann die Arthrodese des Fuss¬
gelenkes vornahm. Er bediente sich dabei des nach seiner Meinung idealen
Schnittes zur Eröffnung des Fussgelenkes, des äusseren eeitlichen Querschnittes
von Reverdin-Kocher. Beschreibung der Operation. Resultat gut.
B l e n c k e -W ürzburg.
Riedinger, J., Die Mechanik des Fussgewölbes als Grundlage der Lehre von
den Fussdeformitäten. Centralbl. f. Chirurgie 1897, Nr. 15.
Riedinger kommt nach einer einleitenden Ausführung über die Statik
des Gewölbebogens zu dem Schluss, dass die Scheitelfuge des Fussgewölbes in
der Y-förmigen Verbindung von Würfelbein, Kahnbein und dritten Keilbein zu
suchen sei. Der Fuss lässt sich somit nur in der Längsrichtung mit einem sym¬
metrisch gebauten, einseitig belasteten Brückengewölbe vergleichen mit min¬
destens drei Gelenken, im übrigen aber mit einem aus vier Gewölbewangen
zusammengesetzten Gewölbe, dessen seitliche Wangen den Boden nicht erreichen
und nur Widerlagspunkte haben.“ Der Plattfuss stellt nach Riedinger ein
Ausweichen sämmtlicher Stützpunkte dar, des vorderen nach vom, des hinteren
nach hinten; die inneren dringen nach innen, die äusseren nach aussen, wobei
sie sich gleichzeitig drehen um eine Achse, welche durch R i e d i n ge r’s Scheitel¬
gelenk geht, für den rechten Fuss beispielsweise die inneren im Sinne des
Uhrzeigers, die äusseren entgegengesetzt. Weder kann der Talus als Schluss¬
steinbetrachtetwerden, noch kann Lorenz mit der Annahme eines Abgleitens
des inneren Bogens Recht haben.
Eine eingehende Kritik ist hier unmöglich, ich will nur bemerken, dass
ich die Rieding ersehe Voraussetzung, das Fussgewölbe sei in der Längs¬
richtung auch nur annähernd symmetrisch gebaut, nicht für richtig halte, wo¬
mit auch den hierauf basirenden Folgerungen die Grundlage entzogen wird.
B ä h r - Hannover.
Glökler, Ueber Plattfuss und atypische Plattfussbeschwerden. Dissert. Strass¬
burg 1896.
Der Verfasser gibt zunächst in einem Ueberblick über den heutigen
Stand der Lehre vom Plattfuss im wesentlichen die Anschauungen Hoffa’s
Digitized by
Google
474
Referate.
wieder. Im Anschluss daran zeigt er an der Hand einzelner Krankengeschichten,
dass die bei Plattfuss an den drei typischen Stellen auftretenden Schmerzen
auch an den verschiedensten Stellen des Fusses ihren Sitz haben, ja sogar auf
den Unterschenkel Übergreifen können, und dass ferner nicht selten in Fallen,
wo kein ausgesprochener Plattfuss besteht, Schmerzen an den Füssen auftreten,
welche denselben Sitz und dieselben mechanischen Ursachen haben, wie beim
ausgebildeten Plattfuss. Den Schluss seiner Abhandlung widmet er der Therapie
des Plattfusses und bringt hierbei nichts Neues. Blencke-Würzburg.
Heubach, Ueber Hallux valgus und seine operative Behandlung nach Edm.
Rose. Deutsche Zeitschr. für Chirurgie. Bd. 46.
Verfasser hält den Hallux valgus für eine statische Deformität im Sinne
von J. Wolff. Die laterale Seite des Gelenkkopfes nimmt nach und nach in¬
folge der vermehrten statischen Inanspruchnahme an Volumen zu, die mediale
Seite dagegen, die vom Druck entlastet ist, wird kleiner. Der Gelenkknorpel
bleibt dabei überall dort, wo die verschobenen Theile noch mit einander arti-
culiren, vollkommen erhalten, von intraarticulären Knochenwucherungen fehlt
jede Spur. Die Annahme, dass es sich bei Hallux valgus um eine Arthritis
deformans handele, wird also durch all dieses zunichte gemacht.
Zwanzig Capitula metatarsi I, die bei der Operation des Hallux valgus
gewonnen wurden, wurden aufs genaueste anatomisch untersucht und auf diese
Untersuchung gründen sich auch jene Anschauungen. Verfasser gibt in seiner
Abhandlung eine genaue Beschreibung der einzelnen Veränderungen, auf die
hier näher einzugehen, mich zu weit führen würde.
Sodann kommt er auf die Behandlung des Hallux valgus zu sprechen,
die nach Edm. Rose in der totalen Resection der Articulatio metatarso pha-
langea I besteht, d. h. in der Entfernung sämmtlicher Gelenktheile, des Capi-
tulum metatarsi I, der Basis phalangis I und der Ossa sesamoidea. Schliessung
der Wunde mit 8—4 Nähten und Drainage. 16 Patienten wurden auf diese
Weise operirt; in der Mehrzahl der Fälle bekam man gute Resultate. Aber
auch an einigen Misserfolgen fehlte es nicht, die Verfasser anderen Compli-
eationen an den Füssen oder anderweitigen körperlichen Leiden znschreibt.
B1 e n ck e -Würzburg.
Digitized by VjOOQle
Autorenregister
A.
Acdonin 104.
Abaut 87.
Alsberg 346.
Anders 74.
Aron 91.
Arreat 331.
Auerbach 328.
B.
Bähr 52. 295.
Bayer 469.
Beck 356.
Bilhaut 97. 344.
Bonnardtere 79.
Boquel 80.
Braatz 333.
Bradford 92.
Braun 91.
Brodhurat 93.
Brown 352.
Büttner 356.
Burell 466.
Burmeiater 86. •
C.
Calot 75. 340. 345.
Chaudefroy 94.
Coville 101.
D.
Dane 75. 82.
Delbet 94.
Denuce 338.
Dolega 348. 439.
Dollinger 103.
Dreesmann 77.
Drewitz 98.
Drobnik 104.
Ducroquet 340.
E<
Eichenwald 84.
Ehret 472.
Erben 463.
F.
Falk 354.
Feldmann 317.
Finckh 78.
Ct.
Gendron 74.
Ghillini 88. 274. 468.
Goguel 98.
Glöckler 473.
Gutsche 81.
H.
Haudek 328. 331.
Heilborn 95.
Helferich 342. 358.
Henggeier 379.
Henneberg 85.
Hennequin 94.
Heubach 474.
Heusner 1. 276.
Hildebrandt 459.
Hinrichs 81.
Hirsch 318. 346.
Hofmann 325.
Hofmeister 456. 467.
Hübscher 324. 473.
J.
Jaeschke 90.
Jagerink 24.
Jeannin 94.
Joachimsthal 66. 89.
Jonnesco 344.
Joseph 463.
K.
Kirmisson 79. 86. 101.
Kirsch 82.
Kittel 333.
Knauer 350.
Kocher 316.
König 334.
Köhler 375.
Digitized by VjOOQle
476
Autorenregister.
Kohn 105.
Krauss 81.
Kruckenberg 70.
Krön 472.
Köttner 352.
L.
Lagarde 87.
Laker 327.
Lange 88. 304. 330. 332.
Leboucq 96.
Lehmann 90.
Leitenstorfer 69.
Levereans 356.
Levy-Dorn 76.
Lorenz 343. 354. 468.
Lossen 316.
Lovett 82. 83. 465. 466. 472.
Lüning 166. 248.
M.
Maass 456.
Malherbe 341.
Martin 79.
May dl 351.
Mayer 102.
Mc. Kenzi 72.
Meyer 78.
Mirallie 101.
Monezy 92.
Monod 338.
Müller 72. 90. 92. 356.
N.
Nebel 16. 30. 36. 77.
Nicoladoni 467.
Nobele 93.
O.
Oberst 100.
Oeffinger 77.
Oelze 335.
P.
Paci 93.
Petersen 353.
Phocas 87.
Piechaud 74.
Potel 87. 329.
Quervain 99.
Ranneft 265.
Rasch 326.
Redard 94. 342. 458. 464.
Reiner 100. 345.
Riedinger 97. 473.
Ritschl 331.
S.
Salaghi 460. 470. 471.
Schanz 330. 359. 464.
Scheyer 88.
Schmid 243.
Schmidt 102.
Scholder 327.
Schott 328.
Schulthess 166. 243. 307.
Schwartz 86.
Seyberth 336.
Smith 456.
Sprengel 109.
Staffel 270. 330. 332. 346.
Stechow 356.
Steiner 404.
Stemberg 466.
Subercaze 91.
Sulzer 323.
T.
Tausch 350.
Thiel 95.
Thilo 74. 356.
Thom6 83.
Thure Brandt 327.
Tilanus 79. 336.
Trapp 336. 465.
Y.
Vincent 341.
Vulpius 40. 456. 457. 465.
W
Watjoff 86.
Weissenburg 457.
Weill 466.
Wide 356.
Willard 356.
Winkler 98.
Withman 92.
Wolff 60. 106.
Z.
Zuckerkandl 455.
Digitized by VjOOQle
Sachregister
i.
Ankylose des Ellbogengelenks (Go-
guel) 98.
-Kniegelenks (Abuut) 87.
Anpassung (Lehmann) 90.
— (Müller) 90.
Apparate, orthopädische (Müller) 72.
Arbeitsparesen derunteren Extremi¬
tät (Krön) 472.
Arbeitsklaue als Ersatz der oberen
Gliedmassen (Köhler) 375.
Arthrodese des Fussgelenks (Hüb¬
scher) 473.
— im Talocruralgelenk (Henneberg) 85.
— Tibiotarsalgelenk (Kirmisson) 86.
-(Schwartz) 86.
Arthrogene Ganglien (Oelze) 335.
Athmungsorgane, Massage bei Er¬
krankungen der (Laker) 327.
B.
Bahr, Bemerkungen zur Arbeit des
Herrn Dr. (Wolff) 60.
Bauchmassage, über instrumentelle
(Auerbach) 328.
Beckens, über die Wachsthumsstö¬
rungen des (Hofmeister) 467.
— statische Beziehungen des, zur unte¬
ren Extremität (Bähr) 52.
Becken Stellung, Beiträge zur Kennt-
niss der (Henggeier) 379.
Bemerkungen zur Arbeit des Dr.
Bähr (Wolff) 60.
Bericht über das Wiesbadener me-
dico-mechanische Institut (Staffel)
330.
Blutuntersuchung bei Knochen-und
Gelenktuberculose (Dane) 75.
Brachydaktylie und Hy perphalangie
(Leboucq) 96.
Brustklammer, eine neue orthopä¬
dische (Joseph) 463.
Brustmuskeldefect, angeborener
(Hofmann) 325.
Buckels, über das gewaltsame Re¬
dressement des (Vulpius) 465.
Buckel bei Malum Pottii (Calot) 75.
C.
Caput obstipura, über doppelseitiges
(Hildebrandt) 459.
Celluloid verbände (Maass) 456.
Cellulose, Verwendung der, in der
Orthopädie (Vulpius) 40.
Chirurgie, Lehrbuch der (Lossen)
316.
— des Rückenmarks (Trapp) 336.
Clavicula, beiderseitige habituelle
Luxation der (Sternberg) 466.
Consolidation der Wirbel nach for-
cirtem Redressement (Ducroquet)
340.
Co rs et verb an danlegung, Schwebe¬
lagerungsgestell für (Nebel) 36.
Coxa vara (Bayer) 469.
— — und Arthritis deformans (Maydl)
35L
Coxitis, Behandlung der fistulösen
(Chaudefroy) 94.
Craniektomie bei Mikrocephalie
79.
C r e t i n e n, Knochen Verkrümmungen bei
(Smith) 456.
Cretinismus, über Störungen des
Knochenwachsthums bei (Hofmei¬
ster) 456.
Digitized by CjOOQle
478
Sachregister.
Cubitus valgus nach Epiphysenab
Sprengung (Seyberth) 336.
D.
Daumenplastik (Nicoladoni) 467.
Defect, angeborener, der Oberschen-
keldiaphyse (Lange) 88.
— langer Röhrenknochen (Joachims¬
thal) 89.
— congenitaler, des ersten Metacarpus
(Bilhaut) 97.
Deformitäten, functionelle Patho¬
genese der (Wolff) 106.
Doigt ä ressort (Jeannin) 94.
— -(Heilborn) 95.
Druckverbände mit Filz (Thilo)
74.
Ellbogengelenkes, Ankylose des
(Goguel) 98.
E.
Epiphysenabsprengungam oberen
Radiusende (Seyberth) 336.
Erwiderung an J. Wolff (Bähr) 295.
Extensionsapparat (Piechaud) 74.
F.
Faustschlusses, über Behinderung
des, und deren Behandlung (Ri 18 c h 1)
331.
Femur, angeborene Knickung des,
beiderseits (Ranneft) 265.
Filz, Bearbeitung des, zur Herstellung
von Immobilisationsapparaten (An¬
ders) 74.
— Druckverbände mit (Thilo) 74.
Finger, Lupu9 der, und Zehen (Kütt-
ner) 352.
— schnellender (Jeannin) 94.
-(Heilborn) 95.
Fracturenbehandlung, über ambu¬
lante 331.
Fracturen, intrauterine (Watzoff) 86.
-(Burmeister) 86.
Fractur der Patella (Jaeschke) 90.
-(Aron) 91.
-(Subercaze) 91.
Fracturen und Luxationen, Atlas
der (Helferich) 358.
Fussbekleidung, über die richtige
Form der (Braatz) 333.
Fussdeformitäten (Riedinger) 473.
Fussgelenkes, Arthrodese des (Hüb¬
scher) 473.
Fussgewölbes, die Mechanik des
(Riedinger) 473.
Fu8s, pronirter (Lovett) 83.
Fusssohle, über Uratablagerung in
der (Kittel) 333.
G.
Ganglien, arthrogene, über (Oelze)
335.
Gelenksteifigkeiten, Behandlung
der (Dreesmann) 77.
-(Nebel) 77.
Genu recurvatum, Beitrag zur Ca-
suistik des (Staffel) 270.
Genu valgum, Osteotomie bei
(Scheyer) 88.
-Riesenwuchs (Ghillini) 88.
Gipsbett zur Behandlung der Skoliose
(Jagerink) 24.
Gipscorsets, Vereinfachung der Her¬
stellung des (Gendron) 74.
Gliederstarre, angeborene spastische
(Lorenz) 354.
Gliederverkrümmung, angeborene
(Weissenburg) 457.
Gymnastik (Wide) 357.
H.
Haemarthros genu (Salaghi) 471.
Hallux valgus und seine operative
Behandlung (Heubach) 474.
Hamburger, Mittheilungen aus den,
Staatskrankenanstalten 470.
Handgelenk, Perimetrie des (Hüb¬
scher) 324.
Hals Wirbelsäule, modellirendes Re¬
dressement der (Reiner) 100.
— Redressement der (Reiner) 345.
Hallux valgus (Delbet) 94.
Herzens, über Veränderungen des,
durch Bad und Gymnastik (Schott)
328.
Hessing, was vermag die Apparato-
therapie von, zu leisten (Haudek)
328.
Hüftankylosen, schiefe Osteotomie
bei (Redard und Hennequin) 94.
Hüftgelenkscontracturen, über
das Redressement der (Lorenz) 468.
Hüftgelenkscontractur, über
Wachßthumsstörung des Beckens bei
(Hofmeister) 467.
Digitized by VjOOQle
Sachregister.
479
Hüftluxation, über Ursachen, Ge¬
schichte und Behandlung der an¬
geborenen (Heusner) 276.
— congenitale (Withman) 92.
— Operation der (Bradford) 92.
— Behandlung der (Nobele) 93.
-(Paci) 93.
-(Brodhurst) 93.
— nach vom (Monezy) 92.
Hüftverrenkung, angeborene, Aetio-
logie der (Schanz) 359.
— Entstehung der angeborenen (Hirsch)
346.
-(Alsberg) 346.
— Behandlung (Tausch) 350.
Hydarthros des Kniegelenks (Lagard e)
87.
Hyperphalangie, Brachydaktylie
und (Leboucq) 96.
I.
Immobilisationsapparate, Filzbe¬
arbeitung (Anders) 74.
Institut, Mittheilungen aus dem
orthopädischen, Zürich (Lüning und
Schulthess) 166. 243. 307.
Ischias scoliotica (Erben) 463.
-(Schmidt) 102.
-(Mayer) 102.
K«
Kinderlähmung (Falk) 354.
— Behandlung der, mit Functionsthei-
lung und Functionsübertragung der
Muskeln (Drobnik) 104.
— cerebrale (Kohn) 105.
Klumpfuss, angeborener (Sprengel)
109.
— — über die Behandlung des (Arreat)
331.
— congenitaler (Kirmisson) 79.
-(Boquel) 80.
— — (Krauss) 81.
-(Gutsche) 81.
-(Hinrichs) 81.
— paralytischer (Martin) 79.
Kniegelenkes, Hydarthros des (La-
garde) 87.
— Ankylose des (Abaut) 87.
— Über Verletzungen des Streckappa-
rates des (König) 334.
— Hämarthros des (Salaghi) 471.
— Verkrümmung des Oberschenkels bei
Flexionscontracturen des (Braun) 91.
Knie8, über angeborene Missbildung
des (Potel) 329.
Kniegelenksluxationen, con¬
genitale (Knauer) 350.
Kniescheibenbruch, Naht bei
(Jaeschke) 90.
-(Aron) 91.
-(Subercaze) 91.
Kniescheibe, congenitaler Defect
der (Phocas und Potel) 87.
Knochen- und Gelenktuberculose,
Blutuntersuchung bei (Dane) 75.
— Wachsthumsanomalien der (Feld-
inann) 317.
Knochenverkrümmungen bei
Cretinen (Smith) 456.
Knochenwachsthum, Über Stö¬
rungen des, bei Cretinismus (Hof¬
meister) 456.
-über den Einfluss der Nerven¬
verletzung auf das (Ghillini) 274.
L.
Lähmungen, Über die Heilung der,
mittelst Sehnenüberpflanzung (Vul-
pius) 456.
— der Peronealmuskeln (Ehret) 472.
Little’schenKrankheit, orthopä¬
dische Behandlung der (Bonnardiere)
79.
Lupus der Finger und Zehen (Kütt-
ner) 352.
Luxation, habituelle, der Schulter
(Bureli und Lovett) 466.
— beiderseitige habituelle, der Clavi-
cula (Sternberg) 466.
Luxationen, congenitale, im Knie¬
gelenk (Knauer) 350.
— Apparat zur Vermeidung habitueller
(Weill) 466.
— Reponibilität veralteter, des Schul¬
tergelenks (Finckh) 78.
M'
Mal dePott, Traitement de la bosse
du (Calot) 75.
M a s 8 a g e der Athmungsorgane (Laker)
327.
— bei Frauenleiden (Thure Brandt) 327.
Mechanische Heilmethoden
(Krukenberg) 70.
Mechanotherapie (Scholder) 327.
Messverfahren, ein neues, für
seitliche Rückgratsverkrümmungen
(Joachim9thal) 66.
Digitized by VjOOQle
480
Sachregister.
Metacarpus, congenitaler Defect des
(Bilhaut) 97.
Mikrocephalie, Craniektomie bei
(Tilanus) 79.
Missbildung, angeborene, der un¬
teren Extremitäten (Müller) 92.
Mittheilungen aus den Hamburgi-
sehen Staatskrankenanstalten 470.
-dem orthopädischen Institut Lü¬
ning und Schulthess (Steiner) 404.
-— —-(Henggeier)
379.
— des Instituts für Unfallverletzte
Breslau 335.
— aus der orthopädischen Heilanstalt
Pilling und Köhler 375.
Muskelatrophien, anatomische
Untersuchungen über, articulären
Ursprungs (Sulzer) 323.
Muskeln, Functionstheilung und
Functionsübertragung der, bei Kin¬
derlähmung (Drobnik) 104.
N.
Nervenverletzung, über den Ein¬
fluss der, auf das Knochenwachs¬
thum (Gbillini) 274.
0 .
Oberarmbruch (Drewitz) 98.
Oberarmkopfes, habituelle Sub¬
luxation des (Heusner) 1.
. Oberarmmusculatur, ringförmi¬
ger Defect der (Winkler) 98.
Oberschenkeldiaphyse, über den
angeborenen Defect der (Lange) 330.
— angeborener Defect der (Lange) 88.
Oberschenkel, Verkrümmung des,
bei Flexionscontracturen im Knie¬
gelenk (Braun) 91.
Operationslehre, Atlas der chi¬
rurgischen (Zuekerkandl) 455.
— chirurgische (Kocher) 316.
Orthopädie, chirurgische (Ghillini)
468.
— klinische Noten von (Salaghi) 460.
— Verwendung der Cellulose in der
(Vulpius) 40.
Orthopädisch - chirurgischen,
aus der, Praxis (Vulpius) 457.
Osteoplastischer Ersatz einer
Phalanx (Thiel) 95.
Osteotomie bei Genu valgum(Scheyer)
88 .
Osteotomie, schiefe, bei Hüftanky-
losen (Redard und Hennequin) 94.
P.
Pathogenese, functionelle, der De¬
formitäten (Wolff) 106.
Pendelapparat, verstellbarer, für
Finger-, Daumen- und Handgelenk
(Nebel) 16.
Perimetrie des Handgelenks (Hüb¬
scher) 324.
Peronealmuskeln, über Lähmun¬
gen der (Ehret) 472.
Phalanx, osteoplastischer Ersatz einer
(Thiel) 95.
Pleuritischer Exsudate, Be¬
handlung, mit schwedischer Gym¬
nastik (Oeffinger) 77.
Plattfuss, über Behandlung des
(Lange) 332.
— (Glökler) 473.
— Lehre vom (Kirsch) 82.
Plattfusstherapie (Kirsch) 82.
— (Lovett und Dane) 82.
Plattfussbehandlung (Thome) 83.
— (Eichenwald) 84.
Plattfussstiefel, über den (Staffel)
332.
Polydaktylie u.Syndaktylie(Rasch)
326.
Pott’sche Krankheit (Redard) 464.
-(Denuce) 338.
-(Monod) 338.
-(Ducroquet) 340.
-(Calot) 340.
-(Malherbe 341.)
-(Vincent) 341.
-(Redard) 342.
-(Helferich) 342.
-(Lorenz) 343.
— — (Bilhaut) 344.
-(Jonnesco) 344.
Pronirter Fuss (Lovett) 83.
R.
R a d i u 8, Epiphysenabsprung am obe¬
ren Ende des (Seyberth) 336.
Redressement von Hüftgelenkscon-
tracturen (Lorenz) 468.
— über das gewaltsame, des Buckels
(Vulpius) 465.
— Consolidation nach, des Gibbus
i (Ducroquet) 340.
Digitized by VjOOQle
Sachregister.
481
Riesenwuchs, angeborener (Machen-
hauer) 326.
— Genu valgum bei (Ghillini) 88.
Rippenathmung, experimentelle
Untersuchungen Über, und Anwen¬
dung von Pflastern am Thorax
(Le vy-Dorn) 76.
Röhrenknochen, angeborener De-
fect der langen (Mc. Kenzi) 72.
— langer, angeborener Defect (Joa¬
chimsthal) 89.
Röntgenstrahlen in der Chirurgie
(Oberst) 100.
— Technik und Verwerthung der (Bütt¬
ner und Müller) 356.
— (Stechow, Beck, Willard, Levereans)
356.
Rückenmarks, zur Chirurgie des
(Trapp) 336.
Rückgratsverkrümmungen, Mess¬
verfahren für (Joachimsthal) 66.
S.
Schienbeinform, mechanische Be¬
deutung der (Hirsch) 318.
Schilddrüsenfütterungbei Kno¬
chenverkrümmungen bei Cretinen
(Smith) 456.
Schleimbeutelentzündung (Lo-
vett) 472.
Schlittenextensionsapparat zur
Verbandanlegung (Nebel) 30.
Schultergelenks, veraltete Luxa¬
tionen des (Finckh) 78.
Schulterluxation, habituelle (Bu-
rell und Lovett) 466.
Sch webel agerungsgestell für
Corsetverbandanlegung (Nebel) 36.
Sehnentiberpflanzung, über Hei¬
lung von Lähmungen mittelst der
(Vulpius) 456.
Skoliosis neuralgica (Erben)
463.
S k o 1 i o 8 e, operative Behandlung
schwerer (Calot) 345.
— (Redard) 464.
— zur Messung der (Schanz) 464.
— kindliche (Dolega) 348.
— über (Salaghi) 460.
— Messung und Röntgenphotographie
in der Diagnostik der (Schulthess)
307.
— (DrDr. Lüning und Schulthess) 166.
— zur Aetiologie der (Lange) 304.
— congenitale (Coville) 101.
— neuropathische (Mirallie) 101.
Skoliose, Gipsbett zur Behandlung
der (Jagerink) 24.
Skoliosentherapie (Dolega) 439.
Spalthand (Riedinger) 97.
Spina bifida (Acdonin) 104.
Spondylitis (Dollinger) 102.
— traumatica (Staffel) 346.
Spondylolisthesis (Lovett) 465.
Sprengel’8 Deformität (Tilanus)
336.
Staatskrankenanstalten, aus den
Hamburger 470.
Statische Beziehungen des Beckens
zur unteren Extremität (Bähr) 52.
Streckapparat des Kniegelenks
(König) 334.
Subluxation, habituelle, des Ober¬
armkopfs (Heusner) 1.
Syndaktylie, congenitale, und Poly¬
daktylie (Rasch) 326.
T.
Talocruralgelenks, Arthrodese
des (Henneberg) 85.
Tibia, Deformität der, nach Trauma
(Brown) 352.
Tibio-Tarsalgelenks, Arthrodese
des (Kirmisson) 86.
— -(Schwartz) 86.
Tic rotatoire (Meyer) 78.
Torsion, concavseitige, bei Total¬
skoliose (Steiner) 404.
Torticollis und seine Behandlung
(Redard) 458.
— spastica (de Quervain) 99.
Totalskoliose, klinische Studien
über die (Steiner) 404.
Training, militärisches (Leitenstorfer)
69.
U.
Uebcingen (Thilo) 356.
Unfällen, Wirbelsäulendeformitäten
nach (Schanz) 330.
Unterschenkelfractur, intraute¬
rine (Burmeister) 86.
Uratablagerung, über, in der
Fusssohle (Kittel) 333.
T.
Vorderarmbrüche, schief geheilte
(Petersen) 353.
Digitized by VjOOQle
482
Sachregister.
W.
Wachsthumsanomalien der Kno¬
chen (Feldmann) 317.
Wadenbeins, Defect des (Salaghi)
470.
Wirbelbrüche, zur Kenntniss der
(Trapp) 465.
Wirbelentzündung, Behand¬
lung der tuberculösen (Dollinger)
103.
Wirbelsäule, Deformitäten der,
nach Trauma (Kirmisson) 101.
Wirbelsäulendeformitäten nach
Unfällen (Schanz) 330.
Wirbelsäulenmissbildung(Cranio-
rhachischisis), (Schmidl *243.
Wolff, Erwiderung an (Bähr) 295.
Digitized by
104958
Google
Digitized by
Digitized by
Digitized by
Digitized by
mw
Digitiz*
by Google