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Full text of "Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik 23.1922"

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ZEITSCHRIFT FÜR 

PÄDAGOGISCHE PSYCHOLOGIE 

UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK 

XXIII. JAHRGANG 


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HERAUSGEGEBEN VON * t 

0. SCHEiBNER UND W. STERN 

UNTER REDAKTIONELLER MITWIRKUNG VON 

Ä. FISCHER UND H, GAtWO 

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Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig 


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Unserer Jugend. 

Von Hugo Gaudig. 

Es heißt offenbar das pädagogische Denken sehr stark erregen, wenn man 
vom wirklichen Erzieher, vom Erzieher der Zukunft, die Anerkennung des 
Rechtes der Jugend auf eine ihrer Natur gemäße Lebensführung un( j (j a8 
Gefühl für ihre wertvolle und unersetzliche Eigenart fordert, wenn man von 
der rechten Schule erwartet, sie solle sich dessen bewußt bleiben, „daß die 
Jugend ihr eigenes Recht, ihre eigene Schönheit hat und nicht lediglich 
Vorbereitungszeit, nicht lediglich Mittel zum Zweck ist“. 1 ) Ein starker Anreiz 
zum Denken für die mit der gegenwärtigen Erziehung Zufriedenen; ein 
stärkerer für die, die bereit sind, der Jugend zu ihrem Rechte zu verhelfen; 
ein sehr starker Anreiz aber namentlich für die ältere Jugend der Schule 
und besonders wieder für die, die — vor nicht langer Zeit aus der Schule 
entlassen — den Gedanken nicht gewährten Rechtes, erlittenen Unrechtes 
frisch im Bewußtsein trägt. Gegep wen kann sich nun das Gefühl gekränkten 
Rechts wenden? Gegen die wissenschaftliche Pädagogik, die dies Recht nicht 
reklamiert hat; gegen die Schule, die das Recht der Jugend nicht wahmimmt; 
gegen den Staat, der den Willen des Volkes durch Sicherung der Daseins¬ 
rechte der Jugend nicht vollstreckt; gegen die kulturelle Entwicklung, die so 
kulturwidrig ist, daß die Jugend nicht zu einem Leben eigenen Rechtes, 
eigenen Wertes, eigener Schönheit gelangt; gegen die Jugend, die zu schlaff 
ist, ihr Recht wahrzunehmen? Offenbar kann die Erregung sich in alle diese 
Richtungen wenden. 

Sind die Rechtskränkenden aber nicht vor allem — die Erwachsenen? Die 
Jugend — die Erwachsenen! Ein alter Gegensatz. Man versteht, daß sich 
das Rechtsgefühl der Jugend leicht in die Bahn dieses Gegensatzes wirft 
Bei den Erwachsenen findet man „die ungeheure Anmaßung“, „die Schule 
als eine Präparationsanstalt für das anzusehen, was sie unter dem Leben 
verstehen, und sie.ihren Altersinteressen dienstbar zu machen“ 2 ); dieselbe „An¬ 
maßung, die in der Jugend .... nichts als die Vorstufe des Alters sieht, 
das Alter aber als den eigentlichen Gipfel des Lebens“. Man spürt schon 
am Wortlaut die Stärke der Erregung. Leidenschaftlicher Haß aber sprüht 
aus den Worten, wenn a. a. 0. von einem „Schulmeisteraberglauben an die Vor¬ 
bereitungspflicht der Schüler auf das sogenannte Leben“ als von einem bis in 
seine letzten Wurzeln auszurottenden Aberglauben gesprochen wird. 

Die Jugend -— die Erwachsenen. Das scheint aber zu heißen: Die Jugend — 
das „Alter* (a. a. O. S. 167). 

Und nun folgerichtig weiter: „Wie die Jugend als Ganzes nicht dem Alter 
untertan sein darf, so auch nicht der Schule“. Die Schule ist für niemand 
sonst da als für die jungen Menschen; sie soll ihren und nur ihren Bedürf- 

*) G. Wyneken, Schule und Jugendkultur (1914), S. 39 und 61. 

pgdagogik deines Wesens (Freideutscher Jugendverlag. 1920). S. 166. 

Zeltsehrin f. pUdagog. Psychologie. 1 


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Hugo Qaudig 


2 


nissen gerecht werden und zwar „den gegenwärtigen Bedürfnissen“, „nicht 
denen, die sie in 10 oder 20 Jahren einmal haben werden“. „Die Schule 
ist nicht ein Mittel, sondern ein Selbstzweck.“ Die Fürsorge für die Be¬ 
dürfnisse ist aber Sache der Jugend selbst, denn es ist eine selbstverständliche 
„Wahrheit, daß jedes Lebensalter für seine Bedürfnisse selbst zu sorgen“ hat 
(a. a. 0.). 

Ein radikaler Gedanken'zug. Am Ende sind wir bei schroffen Gegen¬ 
sätzen angelangt, vor allem bei dem Gegensatz Alter/Jugend, der die ge¬ 
samte Zwecksetzung der Schule und damit ihr ganzes Wesen verdorben hat. 
Die Jugend aber muß vom Alter ihr Recht fordern. So sind wir denn in 
unserem Kulturleben, das doch bereits schwer unter der Menge der Gegen¬ 
sätze leidet, zu einem neuen Gegensatz gelangt: die Jugend gegen das Alter; 
und dieser Gegensatz bricht verwüstend in das Schulleben ein. 

Im übrigen: Sind es wirklich die Erwachsenen als Erwachsene, die der 
Jugend ihre Rechte kränken? Mir scheint, als wehrten sich die Freunde der 
Jugend und die Jugend selbst gegen ein nirgends zu fassendes, nichts denkendes 
und nichts wollendes Abstraktum. 

Die Schule aber, die auf den gekennzeichneten Grundanschauungen auf¬ 
gebaut ist, erfreut sich der absoluten Autonomie; sie verfügt frei über sich; 
sie kennt keine Zwecke, die ihr das Jenseits der Schule diktiert; auch nicht 
Zwecke, deren Berücksichtigung der Lebensgang dei Jugend nach der Schul¬ 
zeit fordert. Aber das Schulleben selbst könnte zweckbestimmt sein; zweck¬ 
bestimmt im Sinne der immanenten Zwecke. Die Freunde der Jugend, deren 
Wegen wir nachgehen, sind offenbar keine Freunde der Teleologie. Sie 
schauen im einzelnen und in der Gemeinschaft Kräfte des Wachstums, die 
zielsicher in dem jugendlichen Menschen wirken; diesem Wachstum darf die 
Erziehung vertrauen; sie darf die Zöglinge wachsen lassen, wie und wohin 
sie wollen. Sie vertraut der „geistigen Welt“, die die Kinder in sich tragen. 1 ) 

Die Schule unserer Jugendfreunde ist eine in sich geschlossene, von jen¬ 
seits nicht durch Zweckforderungen beunruhigte, auf die dem Eigenwesen 
innewohnenden Kräfte der jugendlichen Selbstentfaltung bauende „Welt“. 

Die gegenwärtige Schule ist stark gebunden durch den Stoff; die zu be¬ 
herrschenden Stoffe („Stoff und abermals Stoff“), meinen unsere Jugendfreunde, 
liegen als schwere Last auf den jugendlichen Geistern utad erdrücken das 
geistige Wachstum. Daraus ergibt sich die Forderung der Befreiung vom 
Stoffzwang. — Mit dem Namen „Arbeitsschule“ bezeichnet eine große 
Reformbewegung der Gegenwart ihr Wesentliches; ihr Ziel ist der Erwerb 
geistiger Kräfte — durch Arbeit für die Arbeit. Die Schule der Jugendfreunde 
läßt nichts von diesem straffen Zuge zur Arbeitsfähigkeit spüren. Da die 
beste Vorbereitung aufs Leben ist, sich nicht vorzubereiten, da man das 
Arbeiten auf Vorrat, den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten, dieses 
„Hamstern“ auf Vorrat, sich „schenken“ kann, ohne die Zukunft der Mensch¬ 
heit und der einzelnen zu gefährden, so ist die Zukunftsschule der „Jugend“ 
frei von allem Arbeitszwang und Arbeitsdruck; so will sie nichts von „Werk¬ 
geist“ wissen. Und da ein wirklich ernstes Arbeiten, bei dem es auf Beherrschung 
des Stoffs und der Arbeitsweise ankommt, nur bei fachmäßiger Arbeit mög¬ 
lich ist, kann man die Ablehnung der Fächer als einfache Folge verstehen. 


*) a. a. 0. 8. 29, 119, 164 usw. 


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Unserer Jugend 


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Das Entscheidende der Schule der Jugend liegt aber nach einer bisher noch 
nicht berührten Seite: nach der Seite des Gemeinschaftslebens; ihr Cha¬ 
rakter ist eigenartig sozial. Daher die scharfe Ablehnung alles unsozialen 
Geistes: des Neides, des Ehrgeizes usw. Vor allem aber kennzeichnet die 
Schule die starke Betonung des Verhältnisses von Lehrer und Schüler sowie 
von Schüler und Lehrer. Das Verhältnis beruht auf freier Wahl, auf freier 
Wahl des Lehrers und der Schüler. Ein Lehrerwechsel wird vermieden. 
„Die innere Einheit der Schule ist die Gemeinschaft, die sich um den Lehrer 
als Führer schart.“ Der Lehrer muß mit den Kindern leben (S. 51). „Die 
Frage der Menschwerdung ist die Frage an das Schicksal, ob es den Menschen 
für uns bereit hat, durch dessen Liebe wir eingehen in das Reich des Geistes.“ 
Die Arbeit an der Jugend ist heiliger Dienst. Stark betont wird auch die 
Gemeinschaft der Zöglinge untereinander. Also eine Welt der Liebe, des Eros. 

Und die „Ordnung“, die Zucht? Der Geist der Jugendschule wird er¬ 
sichtlich aus den Wendungen, man müsse mit den Versuchen aufhören, 
durch stoffliche, zeitliche und räumliche Bindungen das innere Leben bürokratisch 
zu dirigieren; es müsse der Gemeinschaft überlassen werden, wo, wann und 
wie sie aus dem gemeinsamen Erleben heraus gestaltet“ (S. 68). 

Das Stimmungsleben der Schule aber ist aus einem gläubigen Optimismus 
geboren; in diesem Optimismus lehnt sie alle Mahnung, bei ihrer Erziehung 
an den „Emst des Lebens“ zu gedenken, at>. 

Das ist die Schule, wie sie sich mir nach den „Gedanken der Erneuerung“ 
darstellt, ln ihr soll aber die Jugend zu ihrem Lebensrecht kommen. 

Sehen wir zu, wie man nach unserer Meinung das Problem der Schule 
stellen und lösen muß, in der der Jugend ihr Recht wird; wenn wir vor¬ 
läufig noch die Fragestellung nach dem Recht beibehalten. Nun zunächst 
ein rtQQTov tpevdoc: der Ausgang von dem Gegensatz Jugend—Erwachsene 
oder vollends Jugend—Alter. Will man von einem Verhältnis ausgehen, das 
von vornherein dem pädagogischen Denken die Aussicht auf bestimmende Kraft 
in allem, was die Jugend angeht, verheißt, so kann es nur das Verhältnis 
Volk/Jugend sein. Bei diesem Verhältnis stehen die beiden Verhältnis¬ 
glieder wie das Ganze und ein Teil gegenüber, denn die Jugend — ist Volk, 
und zwar ein genau zu umschreibender Teil des Volkes. Das Leben der 
Jugend spielt sich im Rahmen des Volkes ab; die Jugend ist selbst Volks¬ 
kraft und empfängt ihre Lebenskraft aus dem Volksleben. In den Erwachsenen 
kommt das Volk zum Bewußtsein seiner selbst, es umfaßt aber in seinem 
Bewußtsein zugleich „seine“ Jugend; wenn es die Jugend mitdenkt, so kann 
es sich denken, wie es eben ist, in seiner vollen Gegenwärtigkeit. Es kann 
aber auch seine Zukunft denken, in der sich seine gegenwärtige Jugend zur 
kulturtragenden Generation weitergeschoben hat Das Volk weiß seine Jugend 
als den Volksteil, in dem es sich verjüngt (regeneriert). Dabei umfaßt ein 
Volk, je mehr es Volk ist, je weiter sein Einheitsbewußtsein entwickelt ist, 
die gesamte Jugend in ihrer Einheit. Bei einem wirklichen Kulturvolk neigen 
ferner alle Bewußtseinsakte, in denen es sich seiner Jugend bewußt wird, 
zu starker Gefühlsbetonung; in der Jugend sieht das Volk ja seine Jugend; 
vielleicht die Macht, die das Volk vor dem Oberaltern bewahrt, die seine 
Kulturentwicklung höher hinaufführt, die Hoffnung gewährt, daß sie die Not 
des Volkes heilt; vielleicht aber auch den Teil des Volkes, an dem die Sünden 
der Väter heimgesucht werden. 

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Hugo Gaudig 


Nun ist es aber leider Tatsache, daß die „Kulturvölker“ weit davon ent¬ 
fernt sind, Kulturvölker im vollen Sinne zu sein. Vor allem fehlt ihnen das 
Einheitsbewußtsein; oder es ist nur vorübergehend aktuell und nur selten 
stark wirksam. Solche Völker vermögen darum auch nicht, das rechte Be¬ 
wußtseinsverhältnis zu ihrer Jugend zu gewinnen. So „kennt“ unser deut¬ 
sches Volk seine Jugend nicht; den Parteien und den Klassen tritt die eine 
Jugend in bürgerliche und proletarische Jugend auseinander. Noch viel weniger 
vermag eine in Parteien zerrissene, nur gelegentlich und zufällig in ihren 
Anschauungen einige Nation das zu leisten, was wir von ihr der Idee nach 
vor allem fordern müssen. Sie vermag Dicht in einheitlichem Bewußtsein, 
aus einheitlichem Willen auf die Lebensgestaltung ihrer Jugend zu wirken, 
sie ermangelt also in einem für den nationalen Kulturprozeß wesentlichen 
Stücke des erforderlichen Kulturvermögens. Unser, pädagogisches Denken 
allerdings, sofern es grundsätzlich ist, kann nur mit einer Nation rechnen, 
die die Kraft in sich hat, auf das Leben ihrer Jugend im Sinne wertvollen 
Kulturlebens einzuwirken. Aufgabe der praktischen Pädagogik ist es dann, 
mit den gegebenen Verhältnissen rechnend, die zum Endziel führenden Etappen 
zu bestimmen, deren Erreichung inzwischen möglich ist. Nur ein sauberes 
Auseinanderhalten der reinen pädagogischen Theorie und der praktischen 
Pädagogik schafft eine wissenschaftlich mögliche Lage. 

Wenn wir von der Einwirkung des Volkes auf das Lebensschicksal seiner 
Jugend sprechen, so denken wir natürlich von vornherein nicht an eine Über¬ 
lassung der Jugend an den Willen des Volkes, vielleicht in der Weise, daß 
der Wille des Volkes sich als Staatswille in staatlicher Erziehung allmächtig 
auswirkte. Wir erkennen das Recht der Einwirkung aller der „Mächte“ an, 
die wertvoll gestaltend auf das Lebensschicksal der Jugend des Volkes eiti- 
wirken können. Grundsätzlich fest stehen uns Pflicht, Recht, Wert der elter- 
liche"n Einwirkung. . Die modernen pädagogischen Richtungen, die das 
Mitbestimmungsrecht der Eltern tunlichst einschränken und die Kinder der 
Einflußsphäre der Eltern bo viel als möglich entrücken wollen, halten wir 
für einen Kulturschaden ersten Grades. Auch andere Faktoren besitzen ein 
Mitbestimmungsrecht; ich nenne nur die Gemeinde und die Kirche. Außer¬ 
dem wird die Kultur der Zukunft darauf bedacht sein müssen, von den großen 
Gebieten des kulturellen Lebens her selbständige Bahnen der Einwirkung auf 
die Gestaltung des Jugendlebens zu Öffnen. Indes — so sehr die Nation als 
Kulturvolk bereit sein wird, alle rechtschaffenen Einflüsse mit voller Kraft 
und in aller Fülle auf das Leben ihrer Jugend einwirken zu lassen, ohne 
ihr die Freiheit der Bewegung einzuschränken — immerhin wird sie als 
Trägerin des gesamten Kulturlebens nicht gleichgültig gegen die das Leben 
der Jugend gestaltenden Mächte (persönlicher und unpersönlicher Art) sein. 
Sie wird diese Mächte als solche ansehen, die in ihrem Schoße, in der Sphäre 
ihres Lebens ihre Wirksamkeit auf die Jugend entfalten und wird diese 
Wirksamkeit mit allen Mitteln unterstützen. Man denke z. B. an die Ma߬ 
nahmen, durch die der Staat jetzt die pädagogische Kraft des Elternhauses, 
die allerdringlichst der Entwicklung bedarf, entwickeln hilft. Vor allem 
aber wird ein Kulturvolk das Ganze der Einwirkungen auf das Leben 
seiner Jugend einheitlich zusammendenken und zusammenfassen, damit 
ein Höchstmaß in sich zusammenstimmender Einwirkungen erreicht wird. 
Dabei wird es sich besonders um die Stellung handeln, die eine Kultur»- 


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Unserer Jugend 


nation dem Organ ihres Willens, der Schule, innerhalb der gesamten 
Wirkungen gibt 

Gesamtleben der Jugend. Wir betonen aufs stärkste: Gesamtleben. Daß 
wir in unserem pädagogischen Denken nicht recht vorwärts kommen, liegt 
nicht zum geringsten Teile darin, daß wir allenfalls zum planmäßigen Denken 
Qber das Schulleben unserer Jugend kommen, aber nicht ihr Gesamtleben 
ins Auge fassen. Ein Denken aber im Geiste einer Kulturnation, wie wir es 
fordern, muß die gesamte Lebensgestaltung unserer Jugend umspannen, muß 
die verschiedenen Sphären, in denen sich das Jugendleben bewegt, zusammen¬ 
fassen: die Schule, das Elternhaus, die Straße, die Gemeinde usw., muß die 
gesamten Kräfte im Auge haben; muß vor allem beachten, wie nun eigentlich 
die Jugend lebt: leiblich, geistig; in der Arbeit, im Spiel, in der Feier, in 
den verschiedenen Lebensverhältnissen der Gemeinschaft, in den Lebensord¬ 
nungen. Dazu wird eine kulturell wertvolle Anschauung beachten müssen, 
wie sich in dem Leben der Jugend das Eigenwesen der Jugendlichen zu er¬ 
höhtem persönlichen Dasein entfaltet, wie sich ihr Denk-, Gefühls- und Willens¬ 
leben zu einem einheitlichen Geistesleben zusammenschließt usw. 

Aber freilich: nur dann kann ein Kulturvolk recht auf die Lebensgestaltung 
seiner Jugend einwirken, wenn es in seiner „Schule“ ein Bild des Kultur¬ 
ideals trägt, auf das hin es sich im Kullurprozeß entwickeln soll. Ist dies 
Ideal dem Geiste des Volkes nicht bewußt, wirken auch im Volke die großen 
Strömungen nicht, die in der Richtung des Kulturideals tragen, so kann es 
zu einer großgearteten Einwirkung der Nation auf das Leben ihrer Jugend 
nicht kommen; dann mögen allenfalls wertvolle Einzelwirkungen möglich sein. 

Können wir, die wir über die Gestaltung des Lebens unserer Jugend nach¬ 
sinnen, uns nicht auf ein im Bewußtsein der Nation bereits feststehendes 
Kulturideal beziehen, auf das hin ein klarer Kulturprozeß von Etappe zu Etappe 
führen soll, dann müssen wir selbst — auf die Gefahr hin, daß wir nidht 
den innersten Strebensrichtungen unseres Volkes gerecht werden —- bedin¬ 
gungsweise das Leitbild zeichnen, ohne das wir Uber die Gestaltung des 
Lebens unserer Jugend nichts festzusetzen vermögen. 

In dem gesamten Kulturideal ist das Leitbild des jugendlichen Lebens ein 
wesentliches Stück. Ein entscheidender Gedanke ist die Erfassung des Jugend¬ 
lebens als Kulturleben. Man ist geneigt, nur da von Kulturleben zu sprechen, 
wo bestimm- und greifbare Werte hei vorgebracht werden. Das führt zu Irr- 
tümera: auch da, wo nur Leben ausgelebt wird, muß vom Kulturleben ge¬ 
sprochen werden, falls nur das Leben Wert in sich hat. Ein Volk, das sich 
zu seiner Jugend die rechte Stellung geben will, kann nun gar nicht daran 
denken, das Leben der Jugend nur insoweit kulturell zu würdigen, als die 
Jugend Werte hervorbringt, sei es, daß dabei etwa an wirtschaftliche Werte 
gedacht wird, an deren Hervorbringung die schulentlassene Jugend mitwirkt, 
sei es, daß die wertvolle Gestaltung des inwendigen Menschen ins Auge ge¬ 
faßt wird, die die Jugend in der Jugendzeit für ihre weitere Entwickelung 
gewinnt Es hieße ja den „Sinn“ der Jugend in einem entscheidenden Stück 
verkennen, wenn man sie unter den Druck der Wertförderung und der Zweck¬ 
setzung stellte, sie, die doch in ihre gesamte Lebensgestaltung erst allmählich 
den Dienst des Wertes und des Zwecks aufnehmen kann. Um so mehr, je 
mehr eine Kulturnation den Sinn für ein erfreuliches Leben ihrer Jugend hat, 
wird sie bereit sein, auch das Spiel und die Feier und den Reichtum des 


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Hugo Gaudig 


Gemeinschaftslebens als kulturell wertvollen Inhalt des Lebens ihrer Jugend 
anzüsehen; sie wird auch das in den Tag Hineinleben, das Schlafen und 
Träumen als wertvoll schätzen. Sie wird der Jugend als Jugend gerecht, 
indem sie ihr die zwecklose Zuständlichkeit, das spielende-Sichausleben gönnt; 
sie erweist sich so als fähig, das Jugendleben als Jugendleben nach seinem 
„Sinne“ zu erfassen und gestalten zu helfen. Anderseits zwingt aber schon 
das Wachstum der Jugend dazu, im Leben der Jugend sichere Bahnen der 
Entwickelung nach vorwärts und aufwärts einschlagen zu lassen. Sonst wird 
die Jugend in sich selbst verkommen. 

Unser Denken blieb bis hierher in dem Rahmen befangen, der die Jugend 
umschließt. Anderseits wäre es eine verhängnisvolle Einseitigkeit, wenn ein 
Kulturvolk mit seinem Denken und Wollen zugunsten seiner Jugend nicht 
über die Grenze der Jugend hinausdächte. Man kann von einer Kulturnation, 
die einen Kulturprozeß trägt, nicht erwarten, daß sie ihrer Jugend nichts als 
die Fähigkeit entgegenbringt, sich in sie hineinzudenken, Wie sie in ihrem 
FQrsichsein in sich beharrt und sich eigenwesentlich aus sich entwickelt. 
Schon das Wachstum zwingt wieder dazu, über die Grenze der Jugend 
hinauszudenken. Vor allem aber der Kulturprozeß, in dem die Nation steht. 
Hier aber wird eine reife Kulturnation sich wieder vor allem in die Seele 
ihrer Jugend versetzen und um der Jugend selbst willen, die nach der Jugend¬ 
zeit in den werteschaffenden Kulturprozeß eintritt, die Forderung erheben, 
daß sie auf das kulturelle Mitschaffen während der Jugendzeit vorbereitet 
wird. Ein pädagogisches Denken, das um der Jugend willen nicht über die 
Jugendgrenze hinauskommt, hinauskommen will (wie wir oben sahen), wirft 
die in den Kulturprozeß eintretende Jugend in eine unmögliche Lage. Die 
Fortführung des Jugendlebens, das ohne zweckmäßige Beziehung auf das 
Kulturleben der Nation verläuft, ist unmöglich und führt zu verhängnisvoller 
Unzusammenhängigkeit. Aber nicht nur um der Jugend selbst willen wird 
eftie Kulturnation fordern müssen, daß die Jugend auf den Kulturprozeß vor¬ 
bereitet werde. Auch um dieses Kulturprozesses selbst willen, für dessen 
Entwickelung die „kulturtragende“ Generation in erster Linie verantwortlich ist. 

Hier liegt nun ein Moment von besonderer Wichtigkeit: Es hieße in das 
Selbstleben der Jugend, in ihr werdendes Personenleben brutal eingreifen, 
wenn eine Kulturnation die heranwachsende Jugend zwangsweise (durch 
Geisteszwang) auf eben die Kulturphase einstellen wollte, in der sie gerade 
steht, weil sie . selbst in dieser Kulturform ihr Genüge gefunden hat. Das 
wäre eine Tyrannei des kulturtragenden Teiles der Nation gegen die Jugend 
der Nation. Überall da, wo man den Kulturprozeß als einen unendlichen 
Prozeß auffaßt, ist die Jugend gegen diese zwangsweise Einstellung gesichert; 
vor allem aber wird das Recht der Jugend dort wahrgenommen werden, wo 
man die Jugend unter das Schutzrecht stellt, das die Idee der Persönlich¬ 
keit gewährt. Man wird also nicht daran denken, der Jugend ihre Freiheit 
dadurch zu nehmen, daß man ihr eine bestimmte Kultur- und Lebensanschau¬ 
ung, eben die zu einer bestimmten Zeit herrschende, aufnötigt. Wohl wird man 
ihr alle die Werte darlegen, die die gegenwärtige Kulturperiode verwirklicht; 
aber man wird auch andere Kulturanschauungen zum Verständnis bringen, 
so daß die Jugend, wenn sie im Leben dann die persönlichen Lebensent¬ 
scheidungen fällen soll, nicht entscheidungslos, zwangsläufig in der schlaffen 
Annahm e des gegenwärtigen Kulturideals endigt. 


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Unserer Jugend 


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Bei dieser Stellungnahme zur Schulung des Geistes ihrer Jugend wird die 
Kulturge8ell8cbaft insofern der eigentümlichen Geistesweise der Jugend ge¬ 
recht werden, als sie den Zug zur Unbedingtheit, zur sprungweisen Bewegung, 
der der Jugend natureigen ist, nicht abtötet. So lebt die kulturtragende 
Schicht der Nation in der Bereitschaft, die Kraft der Jugend in das Kultur¬ 
leben der Nation einströmen und die Nation so verjüngen zu lassen. 

Das Organ, mit dem eine Kulturnation vor allem auf den Lebensprozeß 
ihrer Jugend einwirkt, ist nun die Schule. Nach unserer Anschauung ist 
die Schule nichts, was aus dem Kulturleben der Nation in irgendwelche 
klösterliche Abgeschiedenheit hihausgerückt werden darf. Sie soll ja das 
Gesamtleben der Jugend in entscheidender Weise mitgestalten helfen; ein 
solches Gesamtleben aber kann kein Leben sein, in dem z. B. bereits die 
frühe Jugend aus dem Bannkreis der Familie oder aus dem wertvollen Er¬ 
lebniskreis der heimatlichen Ortsgemeinde in eine künstliche Lebenssphfire 
herausgerissen ist Die Kulturgesellschaft wird Wert darauf legen müssen, 
daß die Schule tief in ihren Schoß eingebettet wird. 

Die Gesamtarbeit der Schule wird einerseits der Jugend als Jugend, ander¬ 
seits der Jugend als der zukünftigen Trägerin der Kultur gelten. Die „Anti¬ 
nomie* (Wyneken), die bei dieser doppelten Zwecksetzung besteht, wird sich 
um so leichter lösen, je mehr das Leben der Jugend alJs Jugend nicht daseins- 
fera und weltfremd verläuft. 

„Schule?* Was soll sie innerhalb des gesamten Kulturprozesses sein? Eine 
„Anstalt* für Kulturübermittlung? Eine Kulturnation, die das ganze Problem 
der Lebensgestalhing der Jugend klar und entschieden auffaßt, wird darauf 
dringen, daß sich im Zusammenhänge ihres eigenen Lebens ein Schulleben 
entwickelt, ein Schul leben im vollen Sinne des Wortes; ein Leben, das der 
physischen und psychischen Natur der Jugend gerecht wird; ein Leben, in 
dem sich die Eigenwesen, soweit es möglich ist, in Freiheit ausleben, in dem 
aber zugleich die Eigenwesen zu Persönlichkeiten emporgebildet werden. 
Das gesamte Schulleben wird um so mehr unter dem großen Leitgedanken 
der wertvollen Persönlichkeit stehen, je mehr die Kulturgesellschaft von der 
Erkenntnis durchdrungen ist, daß nur Persönliehkeiten Träger der Kultur sein 
können und daß das letzte und höchste Ziel des Kulturprozesses eben die 
wertvolle Persönlichkeit ist. 

„Schulleben*! Schulleben muß Leben und als Leben Arbeit und Erleben 
sein. In neuerer Zeit tut vor allem not, daß die Schule ein Lebenskreis 
starken und mannigfaltigen Erlebens wird. 1 ) Damit dies möglich ist, be¬ 
darf es vor allem einer ausgesprochenen Differenzierung des Schullebens in 
Lebensgebiete, damit nicht nur das Leben der Bildung, sondern auch das 
Leben in Spiel und Feier, das Leben in der „Ordnung*, vor allem aber das 
Gemeinschaftsleben in allen Formen reiche Erlebnisgelegenheit darbiete. 
Durch diese Differenzierung wird das Schulleben dem „wirklichen* Leben 
ähnlich; es wird ein Stück Kulturleben inmitten des allgemeinen Kultur¬ 
lebens, durchflutet und doch nicht überschwemmt von dem allgemeinen 
Kulturleben; ein Teil und doch ein Ganzes. Das Gemeinschaftsleben wird 
als ein selbständiges Lebensgebiet gewürdigt, das seine Werte in sich hat, 
und nicht etwa nur einem Zweig, der Förderung der Arbeit, dient. Im 


*) Vgl. das Programm der II. Höheren Mädchenschule in Leipzig »vom Jahre 1913. 


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8 Hugo Gaudig, Unserer Jugend 


Mittelpunkt des Schullebens steht die Jugend; nicht der Lehrer. Das Ver¬ 
hältnis Schüler-Lehrer, Lehrer-Schüler hat die volle Würde eines bedeut¬ 
samen, in sich wertvollen Lebensverhältnisses; allem gefährlichen Ver¬ 
fließen von Person zu Person aber ist dadurch vorgebeugt, daß die werdende 
Persönlichkeit 'des Zöglings gegen eine „Liebe“ geschützt ist, die zu¬ 
viel bietet und zuviel will. Ich kann mir nicht wohl denken, daß eine 
über sich selbst klare Kulturgesellschaft der „erotischen“ Gestaltung des Ver¬ 
hältnisses von Lehrer und Schüler geduldig zusieht. Schon das starke Ober¬ 
wiegen dieses Lebensgebiets im Kulturleben der Schule muß als ungesund 
erscheinen. Denn der Schwerpunkt der Schule und ihres Lebens wird doch 
im Bildungsleben und damit in der Arbeit liegen; in einer Arbeit, die zwar 
alle Schönheit der Arbeit, zugleich aber auch den vollen Ernst der Arbeit 
entfaltet und zwar nicht allein um des „Lebens“ willen, über dessen Emst 
am wenigsten in unserer Zeit leichtgewichtiger Optimismus hinwegtäuscht, 
sondern auch um der Jugend als Jugend willen, die doch nur aus ernster, 
auch dem Stoff sein Recht gewährender Arbeit den für das Werden der 
Persönlichkeit entscheidenden Arbeitsgewinn herauszuziehen vermag. 


Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen. 

Von William Stern. 

Vorbemerkung. Ein von mir au! der Kieler Herbstwoche für Kunst und Wissenschaft und 
anderweitig gehaltener Vortrag über „Das Seelenbild der reifenden Jugend u soll im Jahre 1922 
in stark erweiterter Form zur Veröffentlichung kommen. Der folgende Aufsatz greift einen ein- 
seinen verhältnismäßig selbständigen Abschnitt (den zweiten der Gesamtdarstellung) heraus und 
verzichtet auf alle Literaturangaben und Belege (Tagebuchstellen, Gedichte von Jugendlichen usw.), 
welche die Buchausgabe enthalten wird. 

Die Darstellung ist durchaus typisierend: Die Reifezeit soll lediglich in ihren allgemeinen 
Wesenszügen gekennzeichnet wenien; Unterschiede der Geschlechter, der sozialen Schichten, 
der Individuen werden mit Absicht beiseite gelassen. Die allgemeine Fassung des Problems 
gab die Möglichkeit, es zu gewissen philosophischen Voraussetzungen der Psychologie in Be¬ 
ziehung zu setzen, wie Bie der Personalismus annimmt; insbesondere wird die Beziehung der 
Jugendpsychologie zum Wertproblem deutlich. 

Mit der Bezeichnung „Jugend 14 , „Jugendlicher 44 ist stets das Alter der beginnenden Geschlechts¬ 
reife, also die Zeit etwa vom 14. Jahr an (im Gegensatz zur „Kindheit 44 ) gemeint. 

Der Schlüssel zum Verständnis der jugendlichen Reifungszeit liegt im Ver¬ 
halten des Menschen zur Wertsphäre: Jene Epoche ist die Zeit der Ent¬ 
deckung der Werte und der Auseinandersetzung zwischen dem 
Ich wert und den Weltwerten. Voran geht die Kindheit, in der die 
Werthaltigkeit der Dinge noch ganz den Dingen selbst verhaftet ist, in der 
daher ein unbefangenes Hinnehmen und Übernehmen der Werte zugleich 
mit den Dingen vorwaltet. Am Abschluß der Reifezeit steht ein Zustand, in 
welchem das Auseinander von Ich- und Weltwerten wieder zum Ineinander 
wird; erwachsen ist der Mensch, wenn er der „Introzeption“ fähig geworden 
ist, der Einverleibung der objektiven Werte in den Selbstwert der eigenen 
Persönlichkeit. Im vorliegenden Aufsatz soll lediglich die Stellung des Jugend¬ 
lichen zu seinem Ichwert behandelt werden.. 


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William Stern, Vom Ichbewußtsein des Jugendlieben 


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I. Die Wendung nach innen. 

Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, daß die menschliche Lebens- 
Knie, wenn sie die Grenze der Kindheit überschreitet, eine Wendung von 
außen nach innen vollzieht; aber der Sinn dieses bildhaften Ausdrucks 
bedarf doch einer eingehenderen Prüfung. Vergleichen wir hierzu den Jugend- 
Kchen mit dem Kinde. Wohl ist das Kind in seinem ganzen Verhalten aufs 
stärkste egozentrisch, aber nicht (wenn der Ausdruck gestattet ist) egoreflexiv. 
Der Ausgang vom Zentrum der Ich-Bedürfnisse und Ich-Interessen ist ihm 
selbstverständlich; aber sein Ziel ist die Welt da draußen, die es zu be¬ 
wältigen sucht. Trotz eines noch so starken Einschlages von Spontaneität 
bestimmt doch das Rezipieren vorwaltend die Richtung seines Tuns. Emp¬ 
fänglich und empfangend stellt sich das Kind zur Welt, läßt sie durch alle 
Sinne in sich einströmen, speichert sie im Gedächtnis auf, macht sich durch 
Nachahmung ihre Leistungsformen, durch Suggestibilität ihre Überzeugungen 
und Strebungen zu eigen. Diese Aneignung der Außenwelt erfolgt in der 
frühen Kindheit auf dem Wege des Spiels; in der Schulkindheit tritt hierzu 
schon die Fähigkeit systematisch geordneten Lernens; aber um vorwiegende 
Rezeption handelt es sich hier wie dort. Das eigene Ich des Kindes verleiht 
diesem Verhalten die Gefüblsbetontheit, richtet mit Energie den Willen auf 
die Bewältigung der Weltfülle, verarbeitet sie durch Phantasie, sucht' allem 
Neuen durch Intelligenz gerecht zu werden — aber es weiß noch nichts 
von sich, wird sich noch nicht zum Problem. In voller Naivität wird in 
jedem Moment das begehrt, was dem gegenwärtigen Ich-Zustand entspricht; 
und kein Bruch wird empfunden, wenn zu anderer Zeit aus anderen Be¬ 
dürfnissen heraus anderes zum Ziel des Wunsches und Willens wird. 

Das wird nun anders, wenn die Reifungszeit einsetzt. Zuerst nur in 
gelegentlichen Spuren und Andeutungen, dann immer schärfer und eindrucks¬ 
voller entfaltet sich vor dem jungen Menschen eine zweite Welt neben jener 
ihm so vertrauten Außenwelt. Es ist wirklich eine Entdeckung, die er 
hier macht, wenn auch zunächst nur eine Entdeckung von lauter Rätseln. 
Er bemerkt, daß sein Wollen und Streben, sein Lieben und Hassen nicht 
nur den einen Pol da draußen hat, beim Gegenstand, auf den es gerichtet 
ist, sondern noch einen anderen Pol dort, wo es entspringt. Diese Ursprungs¬ 
quellen beginnen mit magischer Gewalt sein Interesse zu fesseln. Der Jugend¬ 
liche ergeht sich in Selbstanalysen, die oft geradezu zu Selbstzerfaserungen 
werden. Die eigenen Gefühle und Gedanken werden bloßgelegt, nicht um 
des Gegenstandes willen, auf den sie sich beziehen, sondern als Erlebnisse 
des Subjekts. Diese Loslösung des Seelischen vom GegenständUchen wird 
dadurch unterstützt, daß die psychischen Regungen oft genug überhaupt 
kein bestimmtes Objekt haben, recht im Gegensatz zur Kinderzeit. Jetzt gibt 
es vage, flatternde Stimmungen, die den jungen Menschen völlig beherrschen, 
ohne daß eine greifbare Substanz da wäre, auf die sie sich stützen; da sind 
Gedanken, deren Gehalt ganz unbestimmt bleibt, während die Tätigkeit des 
Suchens, Bohrens, Grübelds alles ist Da sind Phantasiegebilde, die nicht 
mehr — wie etwa im kindlichen Spiel — in voller (wenn auch vorüber¬ 
gehender) Realität erlebt, sondern nur als Erzeugnisse schweifender Subjek¬ 
tivität genossen werden. Aber auch bei jenen Bewußtseinsinhalten, die eine 
reale Gegenstandsbeziehung besitzen, vermag diese nur noch.einen Teil des 


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William Stern 


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Interesses zu fesseln; ein anderer Teil wird der subjektiven Seite gewidmet. 
Der Backfisch interessiert sich nicht nur schwärmend für den Lehrer oder 
den Tanzstundenfreund, sondern interessiert sich auch für dieses sein Schwärmen; 
und die wohlbehüteten Tagebücher oder die nie endenden Gespräche mit 
der Freundin sind voll von solchen Wühlereien im eigenen Inneren, wo alle 
möglichen Gefühle und Gefühlchen, echte und eingebildete, vor dem Bewußt¬ 
sein ausgebreitet werden. Und der junge Mann, der irgendeinen ihm wichtig 
erscheinenden Schritt tun (etwa einen Freund wegen irgendeines Streitfalls 
zur Rede stellen) will, fragt sich nicht nur, ob er so und so handeln dürfe 
und solle, sondern sucht sich über seine Motive klar zu werden, prüft sich 
auf Herz und Nieren, ob die gutgemeinten Beweggründe, die er zunächst 
vorfindet, auch wirklich die echten sind, ob dahinter nicht vielleicht selbstische, 
gemeinere schlummern usw. 

Wer Gelegenheit hat, die fortlaufend geführten Tagebücher eines jungen 
Menschen aus der Kindheit hinüber in die Pubertätszeit zu verfolgen, kann 
diesen Übergang von dem nach außen gerichteten Interesse zur Selbstanalyse 
oft mit großer Deutlichkeit erkennen. Es handelt sich hier fraglos um ein 
ganz allgemeines Entwicklungsgesetz, wenngleich die Intensität, mit der sich 
diese Wendung nach innen bemerkbar macht, sehr verschieden ist Es gibt 
manche Jugendliche, denen zeitweilig die Außenwelt ganz versinkt, weil sie 
nur mit sich selbst beschäftigt sind, andere, bei denen der Subjektivismus 
nur als Einschlag in den nicht zu unterdrückenden Realismus auftritt. 

Die Bezeichnung „Selbstanalyse“, die wir für das nach innen gewandte 
Verhalten vorläufig gebrauchten, bedarf nun aber noch einer wesentlichen 
Korrektur. Gewiß wird zerlegt und zergliedert, aber nicht bloß deshalb, um 
die Elemente als solche zu erhalten; vielmehr gewinnen alle die einzelnen 
Gedanken, Gefühle usw., die der Jugendliche in sich findet, für ihn nur 
darum Interesse, weil sie ihn über sein Ich aufklären. Und dieses Ich, der 
gemeinsame einheitliche Hintergrund aller einzelnen Bewußtseinsinhalte, ist 
das eigentliche Ziel der neuen subjektivistischen Einstellung. Damit kommen 
wir auch erst zu der Wertbeziehung, welche diesem Verhalten das Gepräge 
gibt. Das „Erkenne dich selbst“, das der junge Mensch sich zum Wahlspruch 
setzt, ist nicht etwa die Aufforderung zu einer „Erkenntnis“ im Sinne wert¬ 
freien wissenschaftlichen Forschens, sondern es bedeutet: Erfasse deinen 
Selbstwert! Werde dir klar über das, was du bedeutest, was der Sinn 
deines Daseins ist! Gib dir Rechenschaft von den Zielen, denen deine per¬ 
sönliche Entwicklung entgegenstrebt, und von den Hemmungen, die der Er¬ 
füllung dieser Aufgabe widerstreben! 

Es ist also nicht so sehr die Analyse, sondern die Synthese, auf die es 
letzten Endes ankommt: hinter all den einzelnen Erlebnissen, die durch das 
Bewußtsein gleiten, erhebt sich als ihre synthetische Einheit das Ich. In 
dieser Einheit ist nicht nur das Nebeneinander der in einem Augenblick vor¬ 
handenen Erlebnisse zusammengefaßt, sondern — was weit wichtiger ist — 
das Nacheinander der Lebensaugenblicke zu einem personalgeschichtlichen 
Zusammenhang verknüpft. Der Gedanke, daß das gegenwärtige Dasein 
Konsequenz des vorangegangenen und Vorbereitung des kommenden ist, 
gibt der Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit der Seelenphänomene eine ganz neu¬ 
artige Substantialität, die nicht so sehr daseiende Wirklichkeit^ sondern 
ständige Verwirklichung ist und zwar Verwirklichung eines Wertes. 


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Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen 


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Dieses Vordringen zu dem, allem Einzelerleben übergeordneten Ich als 
einem Selbstwert setzt schon rein intellektuell eine Abstraktionsfähigkeit 
neuer Art voraus, die dem Kinde noch fremd ist. Denn es handelt sich hier 
nicht um die Herstellung einer Verallgemeinerung aus einer Reihe von em¬ 
pirischen Tatsachen (hierzu sind auch schon die höheren Kindheitsstufen 
fähig), sondern um die Bildung einer regulativen Idee, die sinngebend 
und richtungsweisend für die empirischen Tatsachen sein soll. Das Ich ist 
etwas, «was da werden soll“. 

Suchen wir nun konkreter diese Eigenart der jugendlichen Selbstbesinnung 
nachzuweisen und zwar durch Gegenüberstellung gegen das vorangehende 
kindliche Verhalten. 

So lebhaft das Interesse des Jugendlichen für die akuten Bewußtseinsvor¬ 
gänge (Phänomene und Akte) sein mag, so dient es eigentlich doch nur dazu, 
die dahinter liegenden chronischen Ich-Beschaffenheiten, also die Disposi¬ 
tionen zu erkennen. Wenn auch schon das Kind gelegentlich einen solchen 
Dispositionsbegriff anwendet, z. B. sagt „ich bin artig“, so meint es ihn 
eigentlich nicht dispositionell, sondern nur als Bezeichnung seines augen¬ 
blicklichen Verhaltens. Es hat weder die Neigung noch die Fähigkeit, sich 
darüber Rechenschaft zu geben, ob „artig sein“ oder „unartig sein“ ein 
dauernder Zug seines Ich sei. Den Jugendlichen aber interessiert gerade 
diese Frage. Vor mir liegt das Tagebuch eines 16 */2 jährigen Knaben, zu 
dessen Beginn eine ganz bewußte Selbstbesinnung erfolgt „Bin ich klug?“ 
„Bin ich ein Egoist?“ Diese an die Spitze gestellten Fragen werden mit 
größter Aufrichtigkeit beantwortet, das Für und Wider abgewogen, auch die 
Art der gefundenen Eigenschaften näher bestimmt, und jede Analyse endet 
in Imperativen, die auf eine Ablegung der erkannten Fehler hinzielen: „Bilde 
dir nicht zuviel auf deine Klugheit ein“ usw. Der letzte Zug beweist also 
Wieder, wie die ganze Selbstbesinnung unter dem Wertgesichtspunkt steht. 

Daß auch die Reaktion auf die Außenwelt ganz anders unter die Idee der 
Ich-Einheit gestellt ist, sei an den Beispielen der Strafe und der Lüge gezeigt 

Ein Kind empfindet die Strafe vor allem als eine augenblickliche Unlust: 
Zufügung von Schmerz oder Entziehung einer Annehmlichkeit. Wohl hat 
es, wenn es feinfühlig ist, auch ein Bewußtsein von dem Ehrenrührigen der 
Strafe; aber auch dies bezieht sich doch nur auf die augenblickliche Be¬ 
einträchtigung seines Ich-Wertes und hat keine nachhaltige Zukunftsbedeutung. 
Ganz anders der Jugendliche. Für ihn treten die unmittelbaren Unlustmomente 
ganz hinter der Persönlichkeitsminderung zurück, die er durch die Strafe er¬ 
fährt Sie ist eine Niederlage im Kampf von Persönlichkeit und Persönlich¬ 
keit Schmerzhafte Schläge, die der 14jährige in einem Spiel mit seines¬ 
gleichen erhält, machen ihm gar nichts aus; aber die geringste, kaum empfind¬ 
liche körperliche Züchtigung durch Lehrer oder Eltern verwundet ihn aufs 
tiefste. Denn er erlebt diese Strafe als einen Eingriff in das Recht, das er — 
als einheitliche Person — auf sich und seinen Körper hat; und da er sich 
auch zeitlich als Einheit fühlt, so ist auch sein künftiges Sein davon mit¬ 
betroffen; die ungerecht erscheinende Strafe wird geradezu als dauernde 
Entehrung empfunden; Ressentiment, Märtyrergefühl, nachhaltige Rache¬ 
stimmungen sind die Folge. 

Ober die Lüge von Kindern und Jugendlichen haben wir durch neuere 
psychologische Untersuchungen, insbesondere die von Franziska Baumgarten, 


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wichtige Aufklärungen erhalten. Die kindliche Lüge hat stets akuten Gegen¬ 
wartscharakter; sie dient lediglich als Selbstschutz gegen eitle unmittelbar 
drohende Gefahr oder als Mittel, sich eine momentane Annehmlichkeit zu 
verschaffen. Natürlich gibt es solche Lügen auch beim Jugendlichen; die 
Art, wie sich etwa ein jugendlicher Angeklagter vor Gericht herauszureden 
sucht, braucht sich dann nur durch das größere Raffinement zu unterscheiden 
von der Lüge, durch die sich ein kleinerer Junge der Bestrafung für eine 
unterlassene Schularbeit zu entziehen sucht. Daneben aber gibt es beim 
Jugendlichen eine andere, dem Kinde ganz unbekannte Lügenform, die Lüge 
des „Persönlichkeits-Schutzes“. Zwischen dem Dasein, das nach außen in 
die Erscheinung tritt, und dem „eigentlichen Ich“ wird ein schroffer Unter¬ 
schied gemacht. Seelische Erlebnisse und Strebungen erscheinen um so icli- 
hafter, um so tiefer dem Wesen des Ich angehörig, je weniger sie an die den 
anderen erkennbare Oberfläche gelangen. Das Seelenbinnenleben wird eifer¬ 
süchtig behütet, nur in seltenen Augenblicken des Mitteilungsbedürfnisses 
und gegenüber ausgewählten Personen, die das Vertrauen des jungen Menschen 
errungen haben, kommt es zum Beichten; aber jedem taktlosen oder auch 
nur plumpen und verständnislosenVersuch der Außenwelt, sich hineinzudrängen, 
wird unbedenklich die Lüge entgegengesetzt. Solche Lügen erhalten dann 
oft einen chronischen Charakter, wie sie ja selbst aus dem Bestreben eines 
Schutzes des chronischen Ich hervorgehen. So empfinden Jugendliche die 
Bekundung ihrer frühesten erotischen Erlebnisse als eine Selbstpreisgabe und 
hüllen sich den Eltern und Lehrern gegenüber jahrelang in ein Gespinst von 
Verheimlichungen, Ausreden und Vorspiegelungen. In orthodoxer Umgebung 
ahnen oft die Nächsten nichts von den inneren religiösen Kämpfen, Gewissens¬ 
bissen und Zweifeln, die der reifende Jüngling in völliger Vereinsamung 
durchmachen muß. 


II. Die Ich-Betonung. 

Es ist eine psychologische Notwendigkeit, daß der Gegenstand einer neuen 
Entdeckung vom Entdecker zunächst gewaltig überschätzt wird. Das Neue, 
bisher Ungeahnte nimmt so den Geist gefangen, daß daneben alles andere 
vorerst in den Hintergrund tritt; es besteht die Neigung, den Wert des 
Neuentdeckten zu verabsolutieren. So geht es dem Jugendlichen mit seinem 
Ich. Die Ich-Entdeckung führt zu einer übermäßigen Ich-Betonung. Auf 
sie wurde schon mehrfach hingewiesen; sie muß aber noch näher betrachtet 
werden. 

Die jugendliche Ich-Betonung unterscheidet sich wiederum grundsätzlich 
von dem naiven kindlichen Egoismus, dem es auf das Ansichraffen der 
Dinge für das Ich ankommt. Sie ist überhaupt nicht sowohl Egoismus als 
Subjektivismus, ein geistiges Wichtignehmen des Ich. Es ist genau 
derselbe Prozeß, den auch die allgemeine Geistesgeschichte der Menschheit 
überall dort zeigt, wo die Selbsterkenntnis als Ausgangspunkt des Denkens 
und Handelns statuiert wurde. 1 ) Das Wort „Selbstbewußtsein“ hat nicht zu¬ 
fällig die beiden Bedeutungen: der theoretischen Erfassung des Ich und der 
hohen Einschätzung des Ich; beides läßt sich eben nie ganz trennen. Gegen¬ 
über der elementaren Gewißheit, die in diesem Sichselbstbesitzen liegt, wird 


1 ) Z. B. bei den Sophisten und bei Descartes. 


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Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen 


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alle andere Realität gleichsam zweitklassig- und schemenhaft, alle von außen- 
her kommende Wahrheit minderwertig. 

Und so entwickelt sich denn dieser Subjektivismus, wenn er nicht rechtzeitig 
durch andersartige Ideale 1 ) sein Gegengewicht erhält, zum Individualismus. 
Es gibt kaum einen Jugendlichen, der sich von ihm völlig freihielte, viele, 
die zeitweilig ganz von ihm erfaßt werden — leider auch einige, die dann 
nie wieder aus ihm herauskommen. Das Ich wird in seiner Andersartig¬ 
keit gegenüber der Welt und anderen Ichen, in seiner Unvergleichlichkeit 
und Einmaligkeit unterstrichen. Denn hätte es seinesgleichen, dann wäre es 
ja nicht mehr „mein Eigen“, dann ist ja sein Geheimnis eine allen bekannte 
Gemeinplätzigkeit „Anderssein“ wird zum Wert an sich. Darum fühlen 
sich so viele in diesem Alter als kleine Obermenschen, für die Nietzsche 
eigens seinen Zarathustra geschrieben hat, als Wunschgenies, ohne daß sie 
der Welt oder auoh nur sich selbst irgendeinen Nachweis für ihre besondere 
Berufung geführt hätten. Darum ist jene jugendliche Opposition so bezeichnend 
gegen alles, was dieses betonte Ich von außen her zu binden scheint. Nur 
Dicht mehr Traditionswesen sein — das ist ja der Kindheitszustand. Nur 
nicht Herdenwesen sein — das ist ja Gleichmacherei, welche die Eigenart 
des Ich bedroht. Überlieferte Überzeugungen und Wertungen sind schon 
deshalb verdächtig, weil sie mit dem Anspruch auf Anerkennung auftreten; 
man will sich selber alles erarbeiten, alles aus sich schaffen. 2 ) 

Und man glaubt, das Hilfsmittel zu dieser Selbsterarbeitung in sich zu 
tragen, nämlich im Intellekt. Bei einem bestimmten Typ der Jugendlichen 
tritt sogar dieser Zug als Intellektualismus ganz in den Vordergrund: das 
Verlangen, durch verstandesmäßige Kritik mit allen den Fragen fertig, zu 
werden, deren Beantwortung man bis dahin aus Überlieferung und Belehrung 
hingenommen hatte. Dieses Bedürfnis nach Voraussetzungslosigkeit ist von 
hoher Bedeutung für die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens; denn 
nur wer einmal ernsthaft den Mut aufgebracht hat zu dem Versuch, sein 
Nachdenken von ungeprüftem Ballast frei zu machen, kennt die Reinheit ob¬ 
jektiven Erkenntnisstrebens, das daher dem Kinde noch fremd ist. 3 ) Freilich 
bewegt sich dieser jugendliche Intellekt mit Vorliebe im verstandesmäßig 
Abstrakten, und ist daher typisch ungeschichtlich. Was sich nicht dem 
logischen Schematismus restlos einordnen läßt, erscheint in seiner Wider¬ 
sinnigkeit und mithin Ungültigkeit erwiesen. Für jene tiefer liegenden 
historischen Triebkräfte, die bei aller Irrationalität dpch von unmittelbarster 
Lebensrealität sind, ist der jugendliche Intellektualist blind. Er weiß es noch 


J ) Diese andere Seite der Pubertätspsyche, nämlich ihr Verhalten zu den objektiven Werten, 
kann im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes nicht behandelt werden. 

2 ) Sowie das kleine Kind bei körperliQhen und technischen Verrichtungen seine Selbsttätig¬ 
keit zu unterstreichen sucht durch den Ruf „allein machen*, mit dem es Hilfe und Anleitung 
abwehrt, so versteift sich der Jugendliche auf das „Alleinmachen* bei dem geistigen Stellung¬ 
nahmen. Es ist — auf höherem Entwicklungsniveau — ein verwandter Vorgang. 

3 ) Wir werden hier nochmals erinnert an die entsprechenden Phasen der Menschheitsgeschichte, 
in denen die Entdeckung des Ich mit einer intellektualistisch-skeptischen Haltung gegenüber 
allem bisher für wahr, gut und heilig Geltenden verbunden ist. Um bei den oben genannten 
zwei historischen Beispielen zu bleiben: bei den Sophisten wird der Satz, daß der Mensch das 
Maß aller Dinge sei, ins Negative gewendet, indem allen Nonnen, da sie nur beliebige Menschen¬ 
satzung seien, die objektive Gültigkeit abgesprochen wird. Und bei Descartes wird dem cogito 
ergo sum der andere Satz vorangeschickt: de omnibus dubitandum. 


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William Stern 


nicht, daß es Erscheinungen und Probleme gibt, bei denen verstandesmäßiges 
Erklären nur an die Oberfläche rührt und erst einfühlendes Verstehen die 
wahren Tiefen erschließt. 1 ) 

Eine andere Schwäche des jugendlichen Intellektualismus entspringt daraus, 
daß er weniger um des gedanklichen Ergebnisses als um des denkenden Ich 
willen gepflegt wird. Er ist mehr oder weniger ein Werkzeug der Ich- 
Betonung. Hierzu ist er so trefflich geeignet, weil das selbst gefällte Urteil 
so offensichtlich Eigenproduktion ist. Nicht so sehr die Schärfe der ent* 
wickelten Logik, die Gründlichkeit der Prüfung den eigenen Prämissen 
gegenüber ist entscheidend für das Ergebnis der Kritik, sondern ihr bloßer 
Oppositionscharakter, das Bewußtsein, durch die Insspielsetzung des eigenen 
Verstandes an Bich schon erhaben zu sein über der Irrationalität des Ge¬ 
gebenen. Daher findet sich der Intellektualismus durchaus nicht nur hei 
Jugendlichen mit wirklich starker intellektueller Gabe und Lebensaufgabe, 
er äußert sich bei geistig weniger Hochstehenden oft genug als öde Krittelei, 
als unfruchtbare Sophisterei, als bornierter Negativismus. Bei den einen ist 
er die Ankündigung einer sich entwickelnden echt kritischen Geistigkeit 
bei den anderen ist es nur eine Deckform der Ich-Betonung, die schließlich 
— trotz aller scheinbaren Unbedingtheit des Denkens — in ein recht geistes- 
armes Philistertum einmünden kann. 

Mit dieser Feststellung einer Deckform eröffnet sich uns ein letzter Ge¬ 
sichtspunkt der Untersuchung. 


DI. Täuschungen des Ichbewußtseins. 

Wir würden das Wesen der Ich-Betonung nicht voll erfassen, wenn wir 
nicht auch die in ihr liegenden Zwiespältigkeiten, ja Antinomien auf¬ 
deckten. Damit kommen wir zu Betrachtungen, in denen sich der Personalis¬ 
mus mit gewissen Gedankengängen der Psychoanalyse begegnet. 

Die im Bewußtsein eines Individuums vorhandenen Vorstellungen und 
Gefühle vom eigenen Ich sowie die nach außen hervortretenden Bekundungen 
dieses Bewußtseins sind nur zu einem Teil reine und unmittelbare Dar¬ 
stellungen dieses Ich. Denn der Wesenskern einer Persönlichkeit projiziert 
sich nur immer bruchstückweise in das eigene Bewußtsein; zu einem anderen 
Teil sind die Inhalte des Ich-Bewußtseins weniger Spiegelungen als Vor¬ 
spiegelungen des wirklichen Ich. Mit diesen „Vorspiegelungen" sind hier 
nicht absichtliche Fälschungen gemeint, wie Heuchelei. und Lüge (von denen 
ja zum Teil schon oben die Rede war), sondern die — dem Individuum 
selbst ganz unbewußten — Formen, in denen das tiefere Ich sich vor sich 
selber und vor anderen versteckt oder sogar ein Gegenbild von sich auf¬ 
stellt, dessen Sinn man gleichsam wie das Negativ einer Photographie um¬ 
deuten muß. Somit haben wir zwei ganz verschiedene Arten des Ich- 
Bewußtseins zu unterscheiden, die ich an anderer Stelle 2 ) als das „ich- 


*) Die seltsame Antinomie, diß sich im Jugendlieben mit diesem geschichtsfeindliehen In¬ 
tellektualismus die unbedingte Hingabe an einzelne historische Ideale oft genug verträgt, kann 
erst in anderen, hier nicht * nlT1 Abdruck kommenden Abschnitten der Gesa m tda r stel l u ng be¬ 
sprochen werden. 

') Die menschliche Persönlichkeit, S. 261 ff. 


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Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen 


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gemäße“ und das »täuschende“ Ich-Bewußtsein beschrieb. Die bisherigen 
Erörterungen über die Ich-Betonung bezogen sich fast durchweg auf das 
„ich-gemäße“ Ich-Bewußtsein. Nun ist aber gerade die Reifungszeit be¬ 
sonders reich an Erscheinungen jenes täuschenden Ich-Bewußtseins. Ist es 
doch die Epoche der Labilität, der inneren Unfertigkeit und Unsicherheit; 
und die Selbsttäuschungen des Bewußtseins sind besonders markante Zeichen 
des erschütterten Gleichgewichts. Sie treten in zwei Hauptformen auf, in 
der unechten Selbstminderung und in der Kraftpose. 

Ich-Betonung hat — so möchte es scheinen — stets eine Erhöhung des 
Ich zum Ziel. Nun gibt es aber in der Beschäftigung des Jugendlichen mit 
seinem Ich zahlreiche Einstellungen mit negativen Vorzeichen; ja manche 
junge Menschen ergehen sich fast nur in Selbstanklagen und Selbstvorwürfen. 
Unzufriedenheit mit sich, Minderwertigkeitsgefühle bilden den ganz über¬ 
wiegenden Inhalt ihres Ich-Bewußtseins. Sind diese Bekundungen nun ganz 
wörtlich zu nehmen? Haben wirklich solche Menschen ein ganz kleines 
zusammengeschrumpftes, verkümmertes Ich? Die Frage läßt sich nicht ohne 
weiteres bejahen. Denn in einem ist ja dieses Verhalten mit dem entgegen¬ 
gesetzten, der bewußten Selbstzufriedenheit, identisch: im ungeheuren Wichtig¬ 
nehmen des Ich! Schließlich ist das Vorzeichen des Wichtignehmens weit 
weniger bedeutsam als die Tatsache an sich, die wir schon oben charakteri¬ 
sierten: das Ich geht in der Beschäftigung mit sich selbst gänzlich auf, und 
alle Nicht-Ich-Werte scheinen gegenüber diesem ungeheuren Faktum in nichts 
zu versinken. Die Selbstbejahung braucht darum nicht minder heftig zu 
sein, weil es die vermeintliche Kleinheit des Selbst, nicht seine vermeintliche 
Größe ist, die man so überaus tragisch nimmt. 1 ) 

Ja, noch mehr. Den Verkleinerungserlebnissen haftet geradezu ein gewisses 
Lustmoment an, das mit einer paradoxen Wonne genossen wird. Das Wühlen 
im eigenen Schmerz hat eine unsagbare Süße; das Suchen nach allen mög¬ 
lichen Gedankensünden, schlimmen Phantasien, verbrecherischen Regungen 
besitzt einen prickelnden Reiz. 2 ) Und vor allem wird hierdurch die Be¬ 
sonderheit des Ich um neue Züge bereichert. Durch nichts kann man 
sich ja mehr absondern und individualisieren, als wenn man in sich Ab¬ 
gründe findet, von denen der Durchschnittsmensch und Moralphilister nichts 
ahnt! Es gibt unter den jungen Leuten nicht nur Wunschgenies, sondern 
auch Wunsch-Herostraten! 

Natürlich soll nicht gesagt sein, daß diese Triebkräfte überall wirksam 
seien, wo Selbstverkleinerung geübt wird, und daß das Kleinheitsbewußtsein 
immer und in jeder Hinsicht eine Selbsttäuschung des Ich sein müßte! Viel¬ 
mehr verschränkt sich hier ich-gemäßes und täuschendes Bewußtsein in 
verschiedenster Weise. Nur gewisse Leitlinien konnten hier gezogen werden; 
in jedem individuellem Falle wird es feinfühligster und vorsichtigster Deutung 
bedürfen, um die hinter den Selbstbezjchtigungen und Selbstverkleinerungen 
liegenden wahren Ich-Tendenzen zu enthüllen. 


*) Verwandt ist die feine Beobachtung, die schon Schopenhauer machte: daß der Selbstmord 
nicht etwa eine Verneinung, sondern eine besonders starke Bejahung des Willens zum Leben sei 
*) Noch der alternde Rousseau offenbart in seinen Confesaions Züge, die wie Pubertitsrßck- 
stlnde anmuten, wenn er mit kokettem Behagen die perrersen Sexnalerlebnisse seiner Kindheit 
und andere Schwachen schildert 


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William Stern, Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen 


Aber nicht minder wichtig ist der umgekehrte Zug: die Oberfläche zeigt 
starke Ich-Betontheit und Ich-Erhöhung — darunter aber birgt sich in der 
Tiefe eine Ich-Schwäche und Unsicherheit Die aus der Psychoanalyse hervor¬ 
gegangene, aber auf anderen Wegen fortgeschrittene „Individualpsychologie“. 
Alfred Adlers hat diese Erscheinungen genauer studiert und unter dem (viel¬ 
leicht nicht ganz glücklichen) Namen des „männlichen Protestes“ beschrieben. 
Es handelt sich also darum, daß eine primäre Unterwertigkeit sich durch 
Markierung der entgegengesetzten Überwertigkeit zu verleugnen sucht; des¬ 
halb tritt die Erscheinung vornehmlich in Lebensformen und Epochen auf, 
die unter dem Zeichen der Schwäche stehen: in der Kindheit, die ja an 
allen Ecken und Enden auf äußere Hemmungen und innere Unzulänglich¬ 
keiten stößt, in psychopathischen Zuständen usw. Ein besonderes Gepräge 
aber erhält der „männliche Protest“ in der Pubertätszeit, weil hier — infolge 
der Entdeckung des Ich — die Ich-Schwäche nicht bloß als vereinzeltes 
augenblickliches Manko, sondern als eine den Kern ergreifende Wertminderung 
der Persönlichkeit erlebt wird. Ein kleines Kind mag vielleicht in einem 
Einzelfall das beklemmende Unbehagen einer Situation durch eine zur Schau 
getragene Unbekümmertheit oder durch lautes Auftrumpfen zu verhüllen 
suchen; für den Jugendlichen ist es nicht mehr Sache einer gelegentlichen 
Situation, sondern es ist die in seiner Pubertät gegründete seelische Ge¬ 
samtverfassung, die Unklarheit des Übergangs, die Unfertigkeit, die 
(später zu besprechende) Unstimmigkeit zwischen Wollen und Können — 
die in einer Protesteinstellung ihre Deckung sucht. Der Abstand von der nun 
überwundenen Kindheit soll möglichst vergrößert, die Annäherung an die 
Erwachsenen möglichst beschleunigt werden. Und da innere Entwicklungs¬ 
hemmungen noch lange die letzte Reife vorenthalten, werden Ersatzformen 
für die wirkliche Erwachsenheit geschaffen. Das Mädchen, das auf ein langes 
Kleid und hochgesteckte Haare größten Wert legt — der Knabe, dem die 
lange Hose, der Stehkragen und die Zigarette als Eintrittskarte in die Männ¬ 
lichkeit gelten — der geheime Verein von Sekundanern, in dem Studenten¬ 
sitten und -Unsitten in lächerlicher Verzerrung nachgeahmt werden — sie 
geben zunächst Beispiele ab für die ganz äußerliche Seite dieser Kraftpose, 
die das verräterische Dokument der Schwäche ist. 

Aber man darf die Erscheinungen des „männlichen Protestes“ in diesen 
Äußerlichkeiten nicht erschöpft glauben* und deshalb auch nicht mit bloßem 
Spott abtun. Ist es denn nicht allzu verständlich, daß das Ich, welches sich 
eben entdeckt hat, sich nun auch sichern möchte gegen Gefahren, die seinen 
Blößen von überall her drohen? Daß man das Embryonenhafte seines Zu¬ 
standes nicht wahrhaben, vielmehr den erst kommenden, heiß ersehnten 
Zustand völliger Reife schon vorwegnehmen möchte? Ist es nicht doppelt 
begreiflich, daß man dem verständnislosen Erwachsenen gegenüber, der den 
Jugendlichen allzulange als Kind behandelt, zeigen will, wie wenig man sich 
selbst noch als Kind fühlt? Es ist in der Tat eine Schwäche des Jugend¬ 
lichen, daß er inständiger Angst lebt, nicht für voll angesehen, nicht ernst 
genommen zu werden — ein Zeichen, wie unsicher er sich noch selbst 
fühlt Aber gäbe es ohne diesen intensiven (wenn auch zuweilen sich 
grotesk äußernden) Willen zum Ernstgenommenwerden eine wirkliche 
Entwicklung zum Reifezustand hin? 


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Hermann Weimer, Wesen and Arten der Fetaler 


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Wesen und Arten der Fehler. 

Von Hermann Weimer. 

I. Der Fehlerbegriff. 

Das deutsche Wort „Fehler* ist mehrdeutig. Wir sprechen sowohl von 
Fehlern, die man hat, als auch von solchen, die man macht Zu den 
ersteren rechnen die Charakter-, die Organ-, die Schönheitsfehler usw.; sie 
scheiden alle für unsere Betrachtung aus. Die letzteren gehören in das 
Gebiet der Handlungen; man mufi sie daher genauer Handlungsfehler 
oder Fehlhandlungen nennen. Unterliegt die Handlung einer Beurteilung 
oder Bewertung, wie das im Bereiche des Unterrichts fast regelmäßig der 
Fall ist, so nimmt sie das Gepräge der Leistung an. Wir können daher 
die Fehler, mit denen wir es in unserer Untersuchung zu tun haben, auch 
als Leistungsfehler oder Fehlleistungen bezeichnen. 

Eine zufriedenstellende begriffliche Bestimmung dieser Fehler hat man bis 
jetzt vergebens gesucht. Und doch ist sie von allergrößter Bedeutung für 
das richtige Verständnis des Wesens fehlerhafter Leistungen. Suchen wir 
daher einmal sorgfältig die wichtigsten Merkmale dieses Begriffs festzustellen. 
Fehler, die man macht, fallen, wie schon gesagt, in das Gebiet der Hand¬ 
lungen. Unter Handlung versteht man die Verwirklichung einer Willens- 
absicbt'). Bei der Fehlleistung wird allerdings diese Absicht nur in unvoll¬ 
kommener Weise erreicht Wir drücken das so aus, daß wir sagen, die 
Leistung sei falsch, sei nicht richtig, d. h. nicht so, wie sie Rein sollte. Nun 
ist freilich bei weitem nicht alles, was falsch ist, ein Fehler. Dieses nega¬ 
tive Merkmal teilt der Fehler mit der Fälschung, der Täuschung, dem Irr¬ 
tum usw. Die Fälschung und die Täuschung, soweit diese Bezeichnung als 
der Fälschung sinnesähnlich gebraucht wird, sind am leichtesten aus dieser 
Gruppe auszuscheiden. Beide suchen den Schein des Richtigen zu er¬ 
wecken; sie sind sogar bisweilen richtig in der Form, aber falsch, unecht 
in ihrem Wesen. Sie werden ferner mit Bewußtsein ausgeführt, während 
der Fehler nicht in der Absicht seines Urhebers liegt 2 ). 

Mit Täuschung bezeichnet man allerdings auch einen Begriff, der dem¬ 
jenigen des Fehlers näher steht. Wir meinen das weite Gebiet der Sinnes¬ 
täuschungen, der Tast- und Bewegungstäuschungen und der in den letzten 
Jahrzehnten besonders eingehend durchforschten geometrisch-optischen Täu¬ 
schungen. Einige von ihnen, wie die Müller-Lyersche Figur, die Heringsche 
Sternfigur, die Schrödersche Treppe, die Zöllnersche Figur, sind aus dem 
physikalischen Unterricht allgemein bekannt. Es handelt sich dabei um 
Täuschungen der Sinne, besonders des Augenmaßes, dem alle Menschen in 
gleicher Weise unterworfen sind. Es sind Zwangserscheinungen, denen nie- 

*) Vgl. Rudolf Eisler, Handwörterbuch der Philosophie. 1913. Artikel „Handlung“. (S. 271.) 

*) Fälschungen kommen auch im Schulleben vor. Man denke nur an die abgeschriebenen 
Arbeiten, die öfter als eigene Erzeugnisse der Schreiber ausgegeben werden. Geschickte Fälscher 
fügen solchen Arbeiten Schein fehler ein, die wie unbeabsichtigte Fehler aussehen, in Wahr¬ 
heit aber ebenfalls Täuschungszwecken dienen. 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 2 

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Hermann Weimer 


mand entgehen kann. Wir können jederzeit mit dem Maßstab oder der 
Zirkelöffnung nachweisen, daß die wagerechten Mittellinien der beiden 
Müller-Lyerschen Figuren genau gleichlang sind, und dennoch erscheint 
jedem Auge die Mittellinie mit den beiden auswärts gerichteten Schenkel - 
paaren länger als die mit den beiden inwärts gerichteten Schenkelpaaren. (Fig. 1.) 

> - < 

Ein offener Halbkreis erscheint normalen Menschen größer als ein mit dem¬ 
selben Radius gebildeter Halbkreis, der durch eine Durchmesserlinie ab- 
gegrenzt ist. (Fig. 2.) 

Der Fehler unterscheidet sich von solchen Sinnestäuschungen dadurch, 
daß er nicht zwangsmäßig bei allen Menschen in gleicher Weise auftritt. 
Wir machen vielmehr im Fehler etwas falsch, was wir sonst vielleicht richtig 

machen, oder was andere innerhalb 
der gleichen Leistung fehlerlos zustande 
bringen. Der Fehler ist eine Abwei¬ 
chung vom Richtigen, die nicht sein 
soll und nicht zu sein braucht und die 
darum auch nicht immer in gleicher 
Weise ein tritt. 

Dem Fehler enger verwandt ist der 
Irrtum. Beide berühren sich in ihrem 
Wesen z. T. so nahe, daß sie öfter miteinander verwechselt werden. Und 
doch könnte schon der Sprachgebrauch auf die Verschiedenheit beider Be¬ 
griffe aufmerksam machen. Man „befindet sich in einem Irrtum“, man 
„macht einen Fehler“; die umgekehrten Ausdrücke „sich in einem Fehler 
befinden“ und „einen Irr tun? machen“ würden unserem Sprachgefühl wider¬ 
sprechen. Man kann in einem Irrtum befangen sein, sich von einem Irrtum 
losmachen, nicht aber in einem Fehler befangen sein, sich von einem Fehler 
(d. h. Handlungsfehler) losmachen. Diese Ausdrücke zeigen deutlich, daß 
der Irrtum einen Zustand, etwas Verharrendes bezeichnet, der Fehler aber 
ein Gebilde des Augenblicks ist. Tatsächlich währt ein Leistungsfehler nur 
so lange, als er „gemacht“ wird; der Druckfehler, der im Hefte schriftlich 
fixierte Schreib- oder Rechenfehler sind nur die erstarrten Abdrücke des see¬ 
lischen Vorgangs, den wir als Fehlhandlung oder Fehlleistung bezeichnen. 

Noch wesentlicher ist der Unterschied zwischen Fehler und Irrtum in an¬ 
derer Hinsicht. Einige Beispiele mögen dies klarmachen. Christoph Co- 
lumbus teilte die Meinung des Florentiner Gelehrten Tos ca nelli, daß man 
das vielbegehrte Indien auch auf dem westlichen Seewege, erreichen könne. 
Als er nach langer Seefahrt am 12. Oktober 1492 das ersehnte Land betrat, 
glaubte er tatsächlich an der Küste von Indien angekommen zu sein. Es 
war, wie sich später herausstellte, ein Irrtum. Wichtige Tatsachen, die 
Columbus eines Besseren hätten belehren können, waren ihm und seinen 
Zeitgenossen noch unbekannt. Die Geschichte der Wissenschaft hat eine 
ganze Reihe ähnlicher Irrtümer aufzuweisen, denen die scharfsinnigsten 



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Wesen und Arten der Fehler 


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Gelehrten trotz aller Anstrengung ihrer geistigen Fähigkeiten verfallen waren 
und die andere Gelehrte ebenso wie ihre Urheber als Wahrheiten ansahen, 
bis eines Tages Tatsachen bekannt wurden, welche die bisher vertretenen 
Ansichten zweifellos als irrig erwiesen; wir erinnern nur an die jahrhunderte¬ 
lang für richtig gehaltene Ptolemäische Lehre vom Weltsystem, an die 
Hypothesen vom Horror vacui, von der Emanation des Lichtes usw. Alles 
da9 sind keine Fehler, sondern IrrtQmer gewesen; sie beruhten nicht auf 
geistigen Mängeln ihrer Urheber, sondern auf der Verborgenheit gewisser 
Tatsachen, die für die richtige Erkenntnis von wesentlicher Bedeutung waren. 

Wenn dagegen ein Schüler, der das Einmaleins gelernt hat, in einer Rechen¬ 
aufgabe 8x6 = 42 setzt, so irrt er sich nicht, sondern macht einen Fehler. 
Ihm ist das richtige Produkt 48 früher schon bekannt geworden; er hatte 
es aber im entscheidenden Augenblicke nicht gegenwärtig: die psychische 
Funktion des Gedächtnisses hat versagt. — Ein anderes Beispiel: Ein Schüler 
liest den Satz: „Die dritte Wurzel des Weltenbaums senkt tief, tief sich 
hinab bis in das kalte, dunkle Niffheim“. Nach kurzer Ermahnung liest er 
richtig: „Niflheim*. Auf Befragen erklärt der Schüler, daß er das 1 „beim 
flüchtigen Hinsehen* für ein f gehalten habe; durch weitere Fragen wird 
festgestellt, daß während des Lautlesens sein Blick schon über die folgenden 
Worte weiterschweifte. Die Analyse ergibt also die Tatsache, daß zwei psy¬ 
chische Funktionen im Augenblick, wo der Fehler gemacht wurde, versagten, 
d. h. nicht auf voller Höhe waren: die Schärfe der Wahrnehmung und die 
Konzentration der Aufmerksamkeit. 

Die Geschichte der Logik kennt ferner eine ganze Reihe von Paralogismen 
oder Fehlschlüssen, die auf Denkfehlern beruhen. Sei es nun, daß eine 
Mehrdeutigkeit von Begriffen und Worten übersehen wird oder daß sich der 
Schluß auf falschen Vordersätzen oder einer fehlerhaften Verbindung von 
Urteilen oder (wie bei den induktiven Analogieschlüssen) auf einer voreiligen 
Verallgemeinerung aufbaut: jedenfalls rührt ein solcher Fehlschluß von einem 
Versagen der psychischen Funktion des Denkens her. Dieses Versagen 
psychischer Funktionen ist ein wesentliches Merkmal des Fehlers. 

Häufig scheint allerdings auch der Irrtum auf einem Versagen psychischer 
Funktionen zu beruhen. Wenn z. B. jemand zwei selbst geschriebene Briefe 
gleichzeitig absendet und nachher erfahren muß, daß er die Anschriften 
verwechselt hat, so wird er dieses Mißgeschick einem „Irrtum* zuschreiben 
und ein solcher Irrtum ist nach allgemeiner Überzeugung nur möglich ge¬ 
wesen infolge mangelnder Aufmerksamkeit dessen, der die Briefe in die 
falschen Umschläge gelegt und abgeschickt hat. Aber bei genauerer Be¬ 
trachtung dieses Beispiels wird man bemerken, daß bei solcher Annahme 
zwei verschiedene Dinge unter einer Bezeichnung zusammengeworfen werden: 
ein Fehler und ein Irrtum. In dem Augenblick, wo der Schreiber die beiden 
Briefe infolge mangelnder Aufmerksamkeit verwechselte, machte er einen 
Fehler. Er bemerkte ihn jedoch nicht und lebte daher in dem Glauben, 
daß die tatsächliche falsche Handlung richtig vollzogen worden sei. Dieser 
Glaube an die Richtigkeit des in Wirklichkeit Falschen darf allein als Irr¬ 
tum bezeichnet werden. Wir haben oben festgestellt, daß man einen Fehler 


') So auch Sigmund Freud in seiner „Psychopathologie des Alltagslebens“, der im Kapitel 
»Irrtümer“ (7. Auli. 1920, S. 268t) zwei Beispiele dieser Art anführt 


2 * 


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Hermann Weimer 


„macht“, sich aber in einem Irrtum „befindet“, daß der erstere ein Augen¬ 
blicksgebilde, der letztere etwas Verharrendes ist. Wir wissen jetzt genauer, 
daß dieses Verharrende ein seelischer Zustand ist, ein Glauben, ein Für¬ 
wahrhalten des Falschen, des Nichtwahren, des Nichtrichtigen. 

Nun haben wir aber auch gefunden, daß der Irrtum nur möglich ist 
durch Unkenntnis gewisser Tatsachen, die für die richtige Erkenntnis von 
wesentlicher Bedeutung sind. Steht das eben angeführte Beispiel der 
Brief Verwechselung nicht im Widerspruch zu dieser Feststellung? Nein; 
denn auch hier ist dem Schreiber eine wichtige Tatsache unbekannt ge¬ 
blieben, die Tatsache eben des Verwechselns, des Falschmachens und des 
dabei zutage getretenen Versagens der Aufmerksamkeit. Der Irrtum baute 
sich also nicht auf dem Versagen der psychischen Funktion selbst auf, 
sondern auf dem Verborgenbleiben dieses Fehlvorgangs. Die obige Fest¬ 
stellung trifft demnach auch auf unser letztes Beispiel zu. Dieses hat uns nur 
♦die weitere Erkenntnis gebracht, daß die Unkenntnis der Tatsachen, aus 
denen der Irrtum erwächst, ebensowohl psychische wie außerpsychische Tat¬ 
sachen umfassen kann. 

Wir können nach diesen Betrachtungen die Begriffe des Irrtums und des 
Fehlers folgendermaßen umgrenzen: 

Der Irrtum ist ein seelischer Zustand, ein Fürwahrhalten des Falschen, 
das bedingt ist durch die Unkenntnis gewisser Tatsachen, die für die 
richtige Erkenntnis von wesentlicher Bedeutung sind. 

Der Fehler ist eine Handlung, die gegen die Absicht ihres Urhebers vom 
Richtigen abweicht und deren Unrichtigkeit bedingt ist durch ein Versagen 
psychischer Funktionen ')• 

Meringer erzählt in seinem Buche „Versprechen und Verlesen“ allerdings 
ein kleines Erlebnis, das unserer Begriffserklärung des Fehlers zu wider¬ 
sprechen scheint 2 ). Er wollte eines Abends vor dem Verlassen des Zimmers 
die Lampe auslöschen. Er schickte sich schon zum Ausblasen der Flamme 
an, als ihm einfiel, daß er vorher auf dem Flur Licht machen müsse, um 
draußen nicht im Dunkeln zu tappen. Er öffnete die Tür, den Mund noch 
voll zusammengepreßter Luft, und statt, wie beabsichtigt, das Flurlicht an¬ 
zuzünden, pustete er die Luft in den dunklen Flur hinein. Er fügt dieser 
Erzählung die Bemerkung bei, sein Freund Mayer könne ihm bestätigen, 
daß er nicht an Zerstreutheit leide. Er wollte offenbar damit sagen, daß 
er ein Versagen der Aufmerksamkeit in jenem Augenblick für ausgeschlossen 
halte. Der Fall läßt sich nicht mehr wissenschaftlich nachprüfen; aber wir 
haben trotzdem allen Grund, die Richtigkeit der Meringerschen Schlu߬ 
behauptung anzuzweifeln. Man braucht durchaus kein zerstreuter Professor 
zu sein, um im entsprechenden Falle in ähnlicher Weise zu entgleisen wie 
der Grazer Spracbgelehrte, und zwar gerade durch ein augenblickliches Nach- 


*) Wie wenig man bis jetzt noch diese Dinge aaseinandergehalten hat und welche Unklar¬ 
heit infolgedessen hinsichtlich des Fehler- wie des Irrtumbegriffes allgemein herrscht, zeigt ein 
Blick in Eislers Handwörterbuch der Philosophie im Artikel „Irrtum“ (1913, S. 321f.). — 
Sigmund Freud muß infolge seiner falschen Auffassung des Irrtumbegriffs mehrfach gestehen, 
daB sich die von ihm als „Irrtümer“ angeführten Beispiele ebenso gut in anderen Abschnitten, 
seines Buches hätten unterbringen lassen. Vgl. Zur Psychopathologie des Alltagslebens, a. a. O. 
S. 267 u. 269. 

*) Vgl. Meringer und Mayer, Versprechen und Verlesen. S. 97ft. 


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Wesen und Arten der Fehler 


21 


lassen der Aufmerksamkeit. Wer das Wesen und Wirken dieser Funktion ge¬ 
nauer beobachtet hat, der weiß, wie schwankend sie ist und wie sie besonders 
leicht „verwiirt“ wird, wenn sie sich auf mehrere sich kreuzende Aufgaben 
verteilen soll. Mit Recht sagt E. Dürr in seiner „Lehre von der Aufmerk¬ 
samkeit" '): „Es ist sehr wohl möglich, daß Inhalte, die in dieser Sekunde 
mit Aufmerksamkeit erfaßt werden, in der nächsten dem Gedächtnis ent¬ 
schwunden sind". Und er führt Beispiele an, die diese Behauptung be¬ 
stätigen. Zudem hat sich Meringer in seinem Buche selbst widersprochen. 
Im Vorwort (S. VII) warnt er davor, den Sprachfehler als etwas Pathologisches 
aufzufassen; es versage dabei nur die Aufmerksamkeit, die Maschine laufe 
ohne Wächter, sich selbst überlassen 2 ). 

Manchen Psychologen wiederum scheint vielleicht das Versagen psychischer 
Funktionen bei der Fehlleistung so selbstverständlich zu sein, daß sie dieses 
Merkmal für unwesentlich und seine Heraushebung deshalb für überflüssig 
halten. Wenn aber ein Merkmal zur Abgrenzung eines Begriffs von anderen 
ihm verwandten Begriffen erforderlich ist, so ist ihm damit seine Stellung 
als wesentliches Merkmal gesichert. Wir haben nun schon gezeigt, daß das 
Versagen psychischer Funktionen den Fehlerbegriff von dem der Fälschung 
und des Irrtums abgrenzt. Er unterscheidet sich durch dieses Merkmal auch 
von dem Begriff der Handlungsstörung 3 ). Gerade die letztere kommt, 
wie der Irrtum, in der äußeren Erscheinung dem Fehler sehr nahe. Sie 
weicht, wie der Fehler, vom Richtigen ab, sie vollzieht sich, wie der Fehler, 
gegen die Absicht ihres Urhebers und unterscheidet sich von ihm nur da¬ 
durch, daß sie durch außerpsychische Tatsachen zustande kommt. Ein 
falscher Ton, der nicht durch unsichere Reproduktion der Tonvorstellung, 
sondern durch Eintritt von Speichel in die Stimmbänderritze verursacht wird, 
das Ausgleiten eines Gehenden auf einer Obstschale, das Stolpern über einen 
Stein in der Dunkelheit, das Verschütten einer Flüssigkeit infolge eines 
Stoßes, das Verschlucken u. a. sind Handlungsstörungen, keine Handlungs¬ 
fehler. Sie sind nicht durch seelische, sondern außerseelische Bedingungen 
hervorgerufen. 

Wir müssen auch aus einem anderen Grunde das Versagen psychischer 
Funktionen als ein wesentliches Merkmal des Fehlerbegriffs betonen. Der 
Fehler ist eine Leistung, die nicht sein soll. Die Frage nach seiner Be¬ 
seitigung ist — nicht nur vom pädagogischen Standpunkt aus — mindestens 
ebenso wichtig als die Frage nach seiner Entstehung. Eine wirksame Fehler¬ 
bekämpfung ist aber nur möglich, wenn man diejenigen psychischen Funk¬ 
tionen in richtige Tätigkeit versetzen kann, die bei der Erzeugung des 
Fehlers versagt haben. Diese Funktionen ausfindig zu machen, muß daher 
eine Hauptaufgabe der Fehlerkunde sein. 

Wir fragen uns also, welche psychischen Funktionen durch ihr Versagen 
für das Entstehen von Fehlleistungen in Betracht kommen. Man wäre 

l ) 2. Aull. 1914. S. 7. Vgl. auch daselbst S. 14, 34, 142, 1541. 

*) Wundt in seiner Völkerpsychologie, I. Bd., Die Sprache, l.Teil, 3. Aufl., S. 394 u. 402, 
betont ebenfalls das Versagen der Aufmerksamkeit als wesentliche Begleiterscheinung des Fehlers. 
Wir haben aber schon gezeigt und werden es bald noch ausführlicher nachweisen, daß dies nicht 
die einzige Funktion ist, deren Versagen bei der Fehlerbildung in Frage kommt. 

*) Von Freud nicht erwähnt oder mit „Ungeschicklichkeit* verwechselt. Vgl. „Zur Psycho¬ 
pathologie des Alltagslebens“, 7. Aufl., S 186, Anm. 2 (Stolpern), S. 214 (Wagenunfall), S. 218 
(Sturz vom Pferde), S. 220fl. („Selbstbestrafung“). 


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Hermann Weimer 


geneigt zu antworten: alle, die bei der Erzeugung irgendwelcher Willens¬ 
handlungen beteiligt sein können; also außer dem Willen selbst der (Emp¬ 
findung und Auffassung einschließende) Wahrnehmungsakt, das Gedächtnis, 
die Phantasie, das Denken, das Fühlen und die alle geistigen Leistungen 
begleitende Aufmerksamkeit. Bei dem Zustandekommen von Fehlleistungen 
sind jedoch Störungen im Phantasie- und Gefühlsleben nicht als letzte Ur¬ 
sachen beteiligt. Sie können die Aufmerksamkeit ablenken, die Wahrneh¬ 
mung fälschen, das Gedächtnis beeinträchtigen und das Denken in unrichtige 
Bahnen lenken; sie liegen also immer als Ursachen zweiten Grades hinter 
den ebengenannten Funktionen. Von einem Versagen des Willens kann in 
der Regel nur insofern die Rede sein, als die allgemeine Absicht, mit der 
Leistung das Richtige zu treffen, nicht erreicht wird. Der Glaube, das Rich¬ 
tige getroffen zu haben, oder wenigstens der Glaube an die Möglichkeit 
einer richtigen Leistung ist in vielen Fällen vorhanden, und somit bewegt 
sich die Willensabsicht in der Richtung der falschen Leistung selbst. Nur 
gewisse mechanische Entgleisungen, wie das Versprechen, Verschreiben und 
Vergreifen, machen hiervon eine Ausnahme. Sie können sich auch gegen 
den Willen des Urhebers einstellen. 

Dagegen haben wir ein Versagen der vier Funktionen der Aufmerksamkeit, 
des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und des Denkens bei allen Fehlern 
feststellen müssen, die wir bis jetzt näher untersucht haben ')• Nicht daß alle 
zugleich versagen; denn sie treten ja noch lange nicht bei allen geistigen 
Leistungen zusammen in Tätigkeit. Oft ist es nur die eine oder die andere, 
oft sind es mehrere zugleich, deren Störung den Fehler begleitet 2 ). So kann 
bei einem reinen Denkfehler die Wahrnehmung nicht versagen; denn diese 
Funktion ist nur wirksam, wo es sich um die Aufnahme und seelische Ver¬ 
arbeitung von Reizen handelt. Umgekehrt pflegt bei den meisten Wahr¬ 
nehmungsakten das Denken nicht beteiligt zu sein. Und wenn ein Schüler 
im Geschichtsunterricht das Jahr 818 als Todesjahr Karls des Großen angibt 
und sich eines besseren nicht erinnern kann, dann hat lediglich das Ge¬ 
dächtnis und nicht eiue andere Funktion versagt. 

Dieses Versagen einer Funktion bedeutet ferner nicht ihr völliges Aus¬ 
geschaltetsein; es genügt oft ein bloßes Nachlassen oder eine leichte Störung, 
um der in Betracht kommenden Funktion denjenigen Grad von Zuverlässig¬ 
keit zu rauben, der nötig ist, um eine fehlerfreie Leistung zu sichern. Manch¬ 
mal kann auch eine Überspannung der Funktion ihrem Versagen in der 
Wirkung gieichkommen. Wenn man z. B. mechanisch gewordene Handlungen 
mit zu großer Aufmerksamkeit begleitet, so werden sie leicht fehlerhaft 3 ). 
Das Maß der erforderlichen Aufmerksamkeit scheint im geraden Verhältnis 
zur Schwierigkeit einer Handlung zu stehen. Diese Tatsachen können nur 
festgestellt werden durch eine sorgfältige Betrachtung und Zergliederung der 
Fehler selbst mit dem Mittel der Selbstbeobachtung oder des Ausfragens der 
Fehlerurheber. Wir haben beide Arten von Fehleranalysen seit vielen Jahren 


*) Wir gehen hier mit Absicht auf die sonst berechtigte feinere Unterscheidung zwischen 
Aufmerksamkeit und Gedächtnis auf der einen und Wahrnehnung und Denken auf der anderen 
Seite nicht ein, da sie für unsere Zwecke belanglos ist. 

*) Aus diesem Grunde läßt sich auch eine strenge Einteilung in Aufmerksamkeitsfehler, Ge- 
d&chtnisfehler, Wahrnehmungsfehler und Denkfehler nicht durchführen. 

2 ) Vgl. E. Dürr, Die Lehre von der Aufmerksamkeit, 2. AufL S. 144. 


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Wesen und Arten der Fehler 


23 


in Tausenden von Füllen vorgenommen und die angegebenen Tatsachen 
immer wieder bestätigt gefunden. 


n. Die Fehlerarten. 

So wertvoll indessen die Feststellung der Störung gewisser psychischer 
Funktionen für die Umgrenzung des Fehlerbegriffs\ist, so* reicht sie doch 
noch nicht aus, um die Fehlet Vorgänge in ihrer Eigenart erschöpfend zu 
erfassen. Wir wissen nach solcher Feststellung wohl, was versagt, wir wrissen 
aber noch nicht, was sich in der Fehlererscheinung seihst vollzieht. Um dies 
zu ergründen, müssen wir zunächst einmal Zusehen, welches äußere Bild die 
Fehler darhieten. Das volkstümliche Denken und die landläufige Pädagogik 
haben 6chon immer die Fehler in Unterarten eingeteilt. Man redet im Volks¬ 
mund von versprechen, verlesen, verschreiben, verrechnen, vergreifen, verlegen, 
vertauschen, verwechseln; man spricht in der Schule von Lesefehlern, Schreib¬ 
fehlern, Rechenfehlern, Interpunktionsfehjem, Rechtschreibefehlern, gramma¬ 
tischen Fehlem usw. Diese gewohnheitsmäßige Einteilung ist indessen für 
das Erfassen der Eigenart der Fehler völlig wertlos. Sie charakterisiert die 
Fehler nach dem Leistungsgebiet, innerhalb dessen sie Vorkommen. Das ist 
gerade so, wie wenn man die Krankheiten nach den Ländern benennen 
wollte, in denen 6ie Zufällig auftreten. Kein vernünftig Denkender wird von 
deutschen, italienischen, russischen oder schwedischen Krankheiten reden. 
Wir wissen, daß körperliche Leiden der gleichen Art über die verschiedensten 
geographischen Gebiete verteilt sein können. Genau so verhält es sich mit 
den Fehlem. 

Ebenso belanglos für das Erfassen des wahren Wesens der Fehler ist die 
Feststellung der äußeren Form. Sprachgelehrte wie Psychologen haben 
bisher auf die reinliche Scheidung dieser Formen großen Wert gelegt 
Meringer zählt nicht weniger als neun Gruppen von Sprechfehlern auf: 
Vertauschungen, Vorklänge, Nachklänge, Kontaminationen (Verschmelzungen), 
Substitutionen (Ersetzungen), Umstellungen, Laut- und Silbenausfall, Laut- 
stottem und Dissimilationen 1 )- Wilhelm Wundt glaubte ihn zu verbessern, 
indem er schärfer zwischen Lauterschwerungen, Lautvermengungen und Wort¬ 
vermengungen unterschied und diese Hauptgruppen wieder in Unterklassen ein¬ 
teilte, die Lauterschwerungen in Stammeln, Silbenstolpem und Lautvertretungen, 
die Lautvermengungen in Einschaltungen, Auslassungen und Umstellungen, in 
Vorausnahme und Nachwirkung besonderer Laute 3 ). Jakob Stoll begnügt 
sich in seiner Arbeit über die Schreibfehler mit vier Fehlergruppen: Aus¬ 
lassungen, Zusätze, Fälschungen und Umstellungen 3 ). 

Aber das alles sind nur Fehlerformen, keine Fehlerarten; sie sagen 
uns Wertvolles über die äußere Erscheinung, wenig aber über die zugrunde 
liegenden seelischen Vorgänge. Sie umfassen zudem nur ein beschränktes 
Betrachtungsgebiet. Wir machen nicht nur Fehler im Bereiche des Sprechens 
und Schreibens, sondern auf allen Gebieten menschlichen Handelns. Da 
aber die äußeren Formen je nach der Eigenart eines Betätigungsgebietes 

*) Vgl. Meringer nnd Meyer, a. a. O. S. 13ff. 

*) Vgl. Wandt, Völkerpsychologie, I. Bd.: Die Sprache, 1. TeiL 3. Aull. 1911, S. 390 - 404. 

*) Jakob Stoll, Zar Psychologie der Schreibfehler. (Marbes Fortschritte der Psychologie, 
0, 1 and 2.) Leipzig 1913, S. 16. 


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24 


Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler 


wechseln, so muß die Gesamtheit der Fehlerformen viel umfangreicher und 
mannigfaltiger sein, als die erwähnten Ginteilungsversuche vermuten lassen. 
Es mag verlockend sein, dieser Buntheit der Fehlerformen nachzugehen, 
aber es ist für unsere Zwecke nebensächlich. 

Wichtiger ist es für uns, die seelischen Geschehnisse festzustellen, die den 
verschiedenen Handlungen zugrunde liegen. Sie wechseln durchaus nicht 
immer mit de^ äußeren Form; vielmehr kann ein und derselbe seelische 
Vorgang sich in den verschiedensten Fehlererscheinungen kundgeben, und 
umgekehrt können äußerlich ganz gleiche Fehlhandlungen verschiedene 
psychische Wurzeln haben. Einige Beispiele mögen dies erläutern. Wir 
greifen zur Veranschaulichung der letzten Behauptung eine sehr häufig vor¬ 
kommende Fehlhandlung heraus, die Schlüsselverwechselung. Ein Schul¬ 
leiter pflegte in seiner Westentasche am selben Ring zwei Hausschlüssel zu 
tragen, die er öfter miteinander verwechselte. Der eine gehörte zur Tür 
seines Wohnhauses, der andere zur Haupttür des nahegelegenen Schul¬ 
gebäudes. Es ist nun mehrfach vorgekommen, daß er eben das Schulhaus 
verließ und abschloß und gleich darauf, vor seinem Wohnhaus angekommen, 
wieder den Schulschlüssel aus der Westentasche zog, um mit seiner Hilfe 
zur Wohnung zu gelangen. Die kurz vorausgegangene Greifbewegung 
wirkte also seelisch noch nach und veranlaßte die Wahl des falschen 
Schlüssels. Die psychologische Erscheinung, die dieser Fehlhandlung zu¬ 
grunde liegt, ist die durch G. E. Müller und Pilzecker bekannt gewordene 
Erscheinung der Perseveration. Derselbe Herr hat aber auch schon, von 
einem Spaziergang kommend, vor der Türe seines Wohnhauses den Schul- 
schlüssel herausgezogen, weil in jenem Augenblick seine Gedanken bei Vor¬ 
gängen und Ereignissen aus dem Schulleben weilten. Hier haben also die 
„Schulgedanken“, um gemeinverständlich zu reden, seine Aufmerksamkeit 
dermaßen in Anspruch genommen, daß auch die Wahl des Schlüssels durch 
sie beeinflußt wurde. Psychologisch gesprochen haben in diesem Falle asso¬ 
ziative Miscbtendenzen — oder wie andere Psychologen sich ausdrücken — 
reproduktive Nebenvorstellungen die Fehlhandlung veranlaßt. Endlich ist 
es auch schon vorgekommen, daß derselbe Herr vor einem fremden Hause 
den Wohn- oder Schulhausschlüssel aus der Tasche nahm, um mit ihnen die 
fremde Tür zu öffnen. Hier hat neben der jedesmal vorhandenen Zerstreut¬ 
heit (Versagen der Aufmerksamkeit) die liebe Gewohnheit das Vergreifen 
veranlaßt. Als dritte psychologische Wurzel des äußerlich den früheren 
ganz gleichen Geschehnisses hat sich also die Übermacht gewohnheitsmäßiger 
Vorstellungen erwiesen. 

Und nun die Umkehrung! Es kann, wie oben bemerkt, auch derselbe 
seelische Vorgang äußerlich ganz verschiedene Fehlhandlungen bewirken. 
Bleiben wir z. B. bei der irreführenden Macht gewohnheitsmäßiger Vor¬ 
stellungen! Ein Schüler hat einen Text in z. T. altertümelnder Sprache ab¬ 
zuschreiben. Es kommt in der Vorlage die Form „angemerket“ vor; der 
Schreiber kopiert aber unter dem Einfluß der Umgangssprache „angemerkt“. 
Hier hat die Gewohnheit einen Auslassungsfehler veranlaßt. Ein anderer 
Schüler hat gelernt, daß der Plural im Französischen meist durch Anhängung 
eines s an die Singularform gebildet wird, und diese Regel durch Lesen 
und Schreiben hundertfältig geübt. Er hat nun eines Tages die deutschen 
Worte: „diese Menschen“ ins Französische zu übersetzen und hängt ge- 


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H. Scbüßler, Die optische Muskeltäuschung als Intelligenztest für anormale Kinder 25 


wohntermaßen ein „s“ an cet, ohne sich im Augenblick bewußt zu werden, 
daß das t des Singular bei diesem Plural ausfällt. Hier hat also wieder die 
Gewohnheit einen äußerlich andersartigen Fehler, einen Zusatz, veranlaßt. 
Schreibt ein Schüler in der ersten Klassenarbeit eines neuen Kalenderjahres 
noch die übungsgefestigte Zahl des vergangenen Jahres (etwa 1921 statt 1922), 
so ist die psychische Wurzel dieses Verschreibens dieselbe, wie wenn der 
Lehrer nach einer Stundenplanveränderung mitten im Schuljahr seine neuen 
Unterrichtsstunden vergißt oder wie wenn die Einführung der Sommer- und 
der Winterzeit die mannigfachsten Verspätungen oder Verfrühungen 
veranlaßt: immer siegen die gewohnheitsgefestigten Vorstellungen über die 
neuen, ungewohnten und offenbaren ihre Macht durch ungewollte Fehlhand¬ 
lungen der äußerlich verschiedensten Art. (Fortsetzung folgt) 


Die optische Muskeltäuschung als Intelligenztest 
für anormale Kinder. 

(Aus der Arbeitsgemeinschaft der „Vereinigung für Kinderkunde“ zu Frankfurt a. M.) 

Von Heinrich Schüßler. 

1. Einleitung. 

Jean Demoor schreibt in seinem Buche über „Die anormalen Kinder“ 1 ) 
folgendes: ^ 

„Bei der Untersuchung der Assoziationsfähigkeit wird die Probe auf die 
früher erwähnte optische Muskeltäuschung gemacht. Zwei gleich schwere 
Gegenstände (Flaschen mit Bleischrot) von sehr verschiedener Größe werden 
dem Kinde in beide Hände gegeben — zwei Proben sind notwendig — mit 
der Aufforderung, die beiden Gegenstände zu wägen und zu sagen, welcher 
von ihnen der schwerere sei. — Diese Probe kann nur mit Kindern gemacht 
werden, die mindestens 5 1 /a bis 6 Jahre alt sind; die normalen Kinder 
werden behaupten, daß der kleinere Gegenstand der schwerere sei; die 
anderen erklären, daß das Gewicht gleich, oder noch häufiger, daß der 
größere der schwerere sei.“ 

Mit meinen jQngsten Kindern — einem Mädchen von 3 1 /a und einem 
Knaben von 5 Jahren — habe ich die später beschriebenen Versuche eben¬ 
falls gemacht. Das Mädchen hat bei den Flaschen die kleinere für die 
schwerere erklärt,, während es bei den Papprollen jede für schwer erklärte. 
Der Knabe hingegen hat bei allen Versuchen den kleineren Körper für den 
schwereren gehalten. Die Altersangaben scheinen also bei Demoor nicht 
zu stimmen. 

Trifft die andere Angabe Demoors zu, daß alle nicht normalen Kinder 
den kleineren Körper nicht für den schwereren halten? Urteilen so alle 
Idioten schweren und leichten Grades, aber auch die Imbezillen und Debilen? 
Das ist nicht anzunehmen, da Demoor an anderer Stelle 2 ) zugibt, daß von 
380 Hilfsschulkindem 370 die kleinere Flasche für die schwerere gehalten 


«) Altenburg t912, S. 127. 

*) J. Demoor, „Welche Bedeutung haben die Täuschungen der Muskelempfindungen für die 
Diagnose des Idiotismus?* Die Kinderfehler. 4. Jhrg. S. 135. Langensalza 1899. 


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26 


Heinrich Schilder 


haben. Trotzdem wird in dem „Grundriß der Heilpädagogik" von Th. Heller 1 ) 
das „Demoorsche Phänomen“ zur Feststellung des Schwachsinns schlechthin 
empfohlen und in einer Fußnote Ley 2 ) genannt, der beobachtet haben will, 
daß alle geistig Zurückgebliebenen ausnahmslos das Demoorsche Phänomen 
zeigten. 

Höfler undWitasek beschreiben in dem 97. ihrer „100 psychologischen 
Schulversuche“ 3 ) denselben Versuch in folgender Weise: 

„Drei Zylinder von verschiedenem Volumen, aber gleichem Gewicht. Die 
Körper werden durch unmittelbares Anfassen auf möglichst gleiche' Weise 
gehoben, ln der Regel wird der größte Körper für den leichtesten, der 
kleinste für den schwersten gehalten.“ 

Durch die Worte „in der Regel“ wollen Höfler und Witasek ausdrücken, 
daß normale Versuchspersonen auch manchmal anders empfinden und 
urteilen. Stimmt das, dann wird die Verwendung des „Demoorschen Phä¬ 
nomens“ für die Auslese schwachsinniger und schwachbefähigter Kinder ge¬ 
ringen Grades noch problematischer und muß an einem großen Material 
nachgeprüft werden. Andererseits erhebt sich die Frage: wie stark ist der 
Prozentsatz bei den Normalen, die das Demoorsche Phänomen nicht zeigen? 

Daraus ergab sich die Aufgabe, den Test der „optischen Muskeltäuschung“ 
an normalen und Hilfsschulkindem nachzuprüfen. Demoor gibt die beiden 
Gegenstände in die Hand und läßt sie wägen. Höfler und Witasek lassen 
die Zylinder anfassen und heben. Beide Arten wurden als Varianten unserer 
Versuche berücksichtigt. 

Als ich mit meinen Versuchen begann, erschien eine Veröffentlichung von 
H. Friedländer „Über Gewichtstäuschungen“ 4 ), die sich mit demselben 
Problem, aber aus anderen Voraussetzungen und zu anderen Zwecken befaßt. 
Drei Feststellungen sind für uns wertvoll. 

1. „Handelt es sich um volumverschiedene Gegenstände gleichen Gewichts, 
so ist demgemäß zu erwarten, daß die Täuschung mit wachsendem absoluten 
Gewicht zurückgeht.“ 5 ) 

2. „Daß die Volumtäuschung beim Heben von Gewichten deutlicher zutage 
tritt als bei rein lastenden Gewichten, wird man wohl in erster Linie dadurch 
erklären können, daß die Unterschiedsempfindlichkeit im letzteren Falle ge¬ 
ringer ist.*®) 

3. „Die Volumtäuschung wird nicht durch die Wirkung der Übung be¬ 
seitigt.“ 7 ) 

2. Versuche. 

Ich nahm volumverschiedene Gegenstände von geringem Gewichte, nämlich 
zwei Medizinfläschchen und zwei kleine Papprollen. Jeder dieser vier Gegen¬ 
stände wog .95 g. Die Flaschen waren inwendig mit Eisenlack geschwärzt. 
Die kleine Flasche hatte mit Kork eine Höhe von 9 cm und einen Durch¬ 
messer von 2,5 cni, die große eine Höhe von 13,5 cm und einen Durchmesser 
von 4,5 cm. Die Papprollen 8 ) hatten eine Höhe von 10 cm und 6,5 cm und 
beide einen Durchmesser von 3,8 cm. 

*) 2. Aufl. Leipzig 1912, S. 53. *) Ley, „Arriöration mentale“, S. 154. Brüssel 1904. 

*) Leipzig 1918, S. 47. 4 ) Zeitgehr. f. Psych. Bd, 84, S. 268 ff. Leipzig 1920. 

*) S. 275. •) S. 278. 7 ) S 279 Anmerkung. 

*) Sie entstammen dem B Schwachsinnsprüfungskasten“ von Prof. Dr. W. Weygandt, Hamburg. 
(Verlag Job. Müller, Cbarlottenburg.) 


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Die optische MuskeltSuscbung als Intelligenztest für anormale Kinder 


27 


Da ich die Täuschung bei lastendem und gehobenem Gewichte untersuchen 
wollte, ergaben sich für jede Versuchsperson vier Versuche. In der Reihen¬ 
folge der einzelnen Versuche wurde so abgewechselt, daß jeder Versuch 
gleichhäufig am Anfang, in der Mitte und am Ende der Vierergruppen vorkam. 
Die Instruktion lautete: 

„Prüfe die zwei Flaschen (die zwei Rollen), ob sie gleich oder verschieden 
schwer sind! (Bei gehobenem Gewicht): Fasse sie an! (Einmal und rück¬ 
wärts. Wird vorgemacht. Bei lastendem Gewicht werden sie den Kindern 
in die Hand gegeben.)“ 

Als Versuchspersonen wurden Volksschul- und Hilfsschulkinder beiderlei 
Geschlechts im Alter von 9—14 Jahren herangezogen. Hilfsschulkinder, 
welche geistig so tief standen, daß ihnen die Instruktion nicht verständlich 
gemacht werden konnte, schieden aus. Die Versuche wurden jahrgangweise 
verrechnet 

Die Rohtabellen kann ich des beschränkten Raumes wegen nicht veröffent¬ 
lichen. Ich hinterlege sie im Frankfurter Schulmuseum. 1 ) Die Hauptergeb¬ 
nisse enthält die Tabelle S. 28. 


S. Ergebnisse. 

Als Hauptergebnis kann ich feststellen, daß die Hilfsschüler 
nicht anders urteilen als die normalen Volksschüler. Die Hilfs¬ 
schulknaben übertreffen sogar um einige Prozente im Durchschnitt die Volks¬ 
schüler in der von Demoor als normal bezeichneten Beurteilung (k), während 
die Hilfsschülmädchen bei derselben Gruppe ein klein wenig hinter den 
Volksschülerinnen Zurückbleiben. Ich lege diesem Unterschied, wie schon 
gesagt, keinen großen Wert bei, möchte aber doch auf die interessante 
Reihenfolge bei allen vier Versuchsgruppen hin weisen: 


k-Urteile. 


Flaschenversuche. 

^— - 

2. Gruppe. 


1. Gruppe. 

V.-M. = 99,4<>/o 
H.-K. = 95,6o/o 
H.-M. = 92,6 0/0 
V.-K. = 91,1 0/0 


V.-M. = 94,7o/o 
H.-M. = 93,4o/o 
H.-K. = 85,7 0/0 
V.-L. = 84,5 o / 0 


H.-M. = 72,30/o 
H.-K. = 71,1 0/0 
V.-K. = 61,3 0/0 


V.-M. = 75,6 0/0 
H.-M. = 74,6 °/o 
H.-K. = 72,fio/ 0 
V.-K. = 66 , 50/0 


Zylinderversuche. 

-— 

3. Gruppe. 4. Gruppe. 

V.-M,= 80,4o/o 


Abgesehen von den Hilfsschulkindern in der ersten Gruppe, die den 
zweiten und dritten Platz miteinander vertauscht haben, ist die Reihenfolge 
vollständig gleich. Die Überlegenheit der Mädchen über die Knaben 
nimmt nicht wunder, 2 ) wohl aber die der männlichen und weib¬ 
lichen Hilfsschüler über die männlichen Volksschüler. 

Die Täuschung ist um so größer, je größer der Volumunter¬ 
schied ist Das zeigt deutlich der Unterschied zwischen den Flaschen-und 
Zylinderversuchen. Im Gegensatz zu Friedländer ist bei den Flaschen- 

') Mühlbergschule, Frankfurt a. M.-Oberrad, Lettigkautweg. 

*) H. Schüßler, „Die Entwicklung dee schlußfolgernden Denkens bei Kindern und Jugend- 
Heben*. Zeitschr. f. angew. Psycb. Bd. 17, S 848. Leipzig 1920. — H. Scb&filer, „Die Ko- 
instroktion in psychologischer Beleuchtung*. Pharus. Jahrgang 1922. Donauwbrth. 


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Die beiden Körper sind gleich. 



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Versuchspersonen 1 Flaschenversuche Zylinderversuche 







F. Schlotte, Eine experimentelle Auslese von Sprachbefähigten in der Volksschule 29 


▼ersuchen die Täuschung durch das lastende Gewicht größer als 
durch das gehobene. Bei den Zylinderversuchen tritt weder diese, noch 
die Friedländersche Gesetzmäßigkeit deutlich zutage. Bs scheint aber eine 
Neigung vorhanden zu sein, als wolle sich die Täuschung stärker beim ge¬ 
hobenen Gewicht geltend machen. 

Demoors Angabe, daß die anormalen Kinder häufiger urteilten, der 
größere Körper sei der schwerere, wurde durch meine Versuche für Hilfs¬ 
schulkinder nicht bestätigt. Die Hilfsschüler haben in allen vier Ver¬ 
suchsgruppen mehr = Urteile als g-Urteile, und die Hilfsschüle¬ 
rinnen haben nur bei den Zylinderversuchen mehr g- als =Ur- 
teile. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den anderen Kindern. Die 
Volksschüler haben überall mehr = als g-Urteile, und die Volksschulerinnen 
haben nur bei den Flaschen versuchen mehr g- als = Urteile. Auffallend ist 
die vollständige Übereinstimmung bei den Knaben und das umgekehrte Ver¬ 
hältnis bei den Mädchen. Der durchschnittliche Prozentsatz läßt sich leicht 
nach der Tabelle feststellen. Er beträgt bei den g-Urteilen der Volksschüler 
7,3 °/o und bei den =Urteilen 16,9 °/o. Die entsprechenden Werte bei den 
Volks8chQlerinnen betragen 4,7 °/o und 7,8 n /o. Für beide Geschlechter zu¬ 
sammen erhält man einen g-Wert von 6,0 °/o und einen =Wert von 12,3 ®/o. 

4. Zusammenfassung. 

1. Die optische Muskeltäuschung ist als Intelligenztest für Hilfsschul¬ 
kinder unbrauchbar, da sich kein typischer Unterschied zwischen normalen 
und Hilfsschulkindern aufzeigen ließ. 1 ) 

2. Wenn die Beurteilung des kleineren Gegenstandes als des schwereren 
mit „normal“ bezeichnet wird, so übertreffen nach meinen Versuchen die 
Mädchen die Knaben und sogar die Hilfsschülerinnen und Hilfsschüler die 
Volksschüler. 

3. Die Beurteilung des kleineren Gegenstandes als des schwereren ist am 
häufigsten, das umgekehrte Urteil am seltensten. 

4. Die Täuschung ist um so größer, je größer der Volumunterschied ist 

5. Bei den Flaschenversuchen war die Täuschung durch das lastende Ge¬ 
wicht größer als durch das gehobene. 

6. 12,3 °/o der Urteile von Volksschulkindern bezeichnen beide Körper als 
gleich schwer und 6,0 ®/o erklären den größeren für den schwereren. 

Ein e experimentelle Auslese von Sprachbefähigten 
in der Volksschule. 

Von Felix Schlotte. 

Die Untersuchung, deren Ergebnisse ich hier bespreche, wurde vorgenommen, 
um aus einer Schar von 79 Zehnjährigen diejenigen herauszufinden, die 
sprachlich-logisch befähigt sind. Auf Grund ihrer einseitigen Begabung 

l ) Schon Th. Heller wies in dem Aufsatz »Zur Klassifikation des infantilen Schwachsinns* 
auf die Ungeeignetheit des Demoorschen Phänomens als allgemeinen Prüfungsmittels wegen 
«einer Kompliziertheit hin. Zeitscbr. f. päd. Psych. 11. Jahrg., S. 65. Siehe auch E. Claparfcde, 
„L'illosion de poids chez les enfants anormaux et le eigne de Demoor.* Arch. de Psych. 1902 
und A. Descoeudres, „L’öducation des enfants anormaux.* S. 116 und 117. Neuchatel 19lf 


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30 


Felix Schlotte 


wurde eine Anzahl Kinder für die in Leipzig einzurichtenden Sprachklassen 
vorgeschlagen. Das Kennzeichen dieser Klassenart ist eine Fremdsprache. 
Im Gegensatz zu den Werkklassen wird in diesem fünfjährigen Zweige unseres 
Volksschuloberbaues besonders das begriffliche Denken gepflegt. Da es außer¬ 
dem gilt, eine verhältnismäßig große Menge Stoff zu bewältigen, wurde bei 
der Auslese auch auf ein gutes Gedächtnis Wert gelegt. Im Hinblick auf 
diese Anforderungen der Sprachklassen stellte ich folgenden Untersuchungs¬ 
plan auf: 1 ) 

L Prüfung des Gedächtnisses: 

s) für kleinere Komplexe, 

1. sinnvoll verbundene Reihen (10 Drei wortreihen), 

2. Vokabeln (10 Vokabeln); 

b) für größere Komplexe (Hamburger Merkfähigkeitsversuch; inhaltliches Merken von 
3 langen Sätzen). 

0. Untersuchung der sprachlich-logischen Fähigkeiten: 

a) Sinn für logische Zusammenhänge 

1. in einzelnen Sätzen (Mosaiksätzen), 

2 in einer Geschichte (wirre Gedanken). 

b) Sinn für logische Ordnungen, 

1. Neben- und Oberordnung, 

2. Begriffsreiben. 

c) Sprachliche Kombinationsfäbigkeit, 

1. gebundene Kombinalion i2 Lückentexte) 

2. freie Kombination (Zweiwortversuch). 

d) Vorsteüungsscbatz, Vorrat und Flüssigkeit der Vorstellungen (Assoziationsversuch). 

e) Lautauffassung und Lautdarstellung (nach Dr. Handrick). 

Diese Zusammenstellung der Versuche hat sich im großen und ganzen 
bewährt, wenn auch die Wahl einiger Teilaufgaben, deren Schwierigkeiten 
nicht für diesen besonderen Fall erprobt, sondern nur abgeschätzt worden 
waren, nicht die günstigste Zusammenstellung der Schwierigkeitsabstufungen 
ergab. Ein Versuch (IIb 2 Ordnen von Begriffsreihen) mußte bei der Aus¬ 
wertung ganz ausscheiden. Bei der Anweisung zu diesem Versuche war 
nicht Bedacht darauf genommen worden, daß das Ordnen von Begriffsreihen 
in zwei Richtungen erfolgen kann, vom engsten zum weitesten Begriff oder 
umgekehrt. Da ferner wegen der großen Anzahl der Prüflinge bei jedem 
Versuch nach reicher Abstufung der Leistungen getrachtet wurde, eine 
Scheidung in vollständig richtige oder ganz falsche Lösungen hierzu nicht 
genügte, teilweise richtige Lösungen aber wegen der nicht eingehaltenen 
Ordnungsrichtung oftmals doppeldeutig waren, mußte dieser Versuch bei der 
Auswertung wegfallen. 

Die eigentliche Aufgabe einer Prüfung im Rahmen einer Auslese besteht 
darin, die aus verschiedenen Klassen — in meinem Falle aus 7 — kommen¬ 
den Schüler vergleichbar zu machen und zwar in den für die zukünftige 
Klasse wichtigsten Arbeitsformen. Aus diesem Grunde war das Ziel der 
Auswertung für mich eine Rangreihe gewesen, in der sämtliche 79 Kinder 
nach ihren Leistungen an den beiden Prüfungstagen geordnet waren. Hat 
man durch Wiederholung solcher Prüfungen unter ähnlichen Verhältnissen 
Erfahrungen gesammelt und haben sich die Ergebnisse in annähernd gleichem 

') Ober den Gang der Untersuchung unterrichtet eingehend: Pädagogisch - psychologische 
Arbeiten aus dem Institut des Leipziger Lehrervereins, Bd. 11. Leipzig 1921. Dürr*sche 
Bu chhan dlung. 


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Eine experimentelle Auslese von SprachbelBbigten in der Volksschule 


31 


Grade als richtig erwiesen, so wird das Verfahren durch das Aufstellen von 
gewissen Normalleistungen viel einfacher. Es genügt dann, ein Psychogramm 
aus den Einzelleistungen jedes Prüflings zu entwerfen und dieses mit einem 
Normalpsychogramm für Sprachklassenschüler oder mit einem Profil der 
Mindestanforderungen zu vergleichen. Das letzte Urteil wird bei unseren 
Eignungsprüfungen stets der Erfolg sprechen; denn es wird dem Unter¬ 
suchungsleiter nie gelingen, sämtliche Faktoren, die das Ergebnis beeinflussen 
könnten, zu beherrschen. Bis zu welchem Grade trotzdem eine Überein¬ 
stimmung zwischen Vorhersage und Bewährung möglich sein kann, erkannte 
ich aus den Urteilen des Lehrers, dem die ausgelesenen Knaben zugewiesen 
wurden. 

Oben war die Rangreihe als notwendiges Ergebnis der Untersuchung 
bezeichnet worden. Es fehlt hierzu noch eine Ergänzung. Die Rangreihe 
gibt wohl die Reihenfolge in bezug auf die Würdigkeit an, nicht ohne 
weiteres ist aber der Punkt zu erkennen, unter den man bei der Auswahl 
nicht herabsteigen darf. Die Art, wie dieser kritische Punkt unter den be¬ 
sonderen Verhältnissen meiner Untersuchung bestimmt wurde, läßt sich auch 
bei anderen Gelegenheiten anwenden. Da Erfahrungen mit Sprachklassen 
überhaupt noch nicht bestanden, mußte der Weg der Schätzung beschritten 
werden und z“ war in folgender Weise: Bei der Meldung für die Unter¬ 
suchung waren die Schüler zunächst nur in alphabetischer Reihenfolge auf¬ 
geführt worden, damit die Unabhängigkeit des Urteils aus den Versuchen 
von dem der Klassenlehrer auf jeden Fall gewährleistet würde. Nach der 
Prüfung wurden sowohl vom Klassenlehrer wie auch vom Versuchsleiter die 
vorgeschlagenen Schüler jeder Klasse für sich nach ihrer Würdigkeit ge¬ 
ordnet; der Lehrer tat dies an der Hand der Zensuren und seiner Beob¬ 
achtungen, der VI. benutzte nur seine Rangreihe. Zunächst ließ sich schon 
zwischen den Rangreihen der Klassenlehrer und denen des VL eine gute 
Übereinstimmung feststellen. Wo die Urteile nicht ohne weiteres zusammen¬ 
fielen, wurden sie durch Aussprache geklärt. Beim Klassenlehrer halfen 
frühere Beobachtungen, der VI. prüfte nach, wie das Gesamturteil aus den 
einzelnen Versuchsergebnissen zustande gekommen war. Bemerkenswert 
war nur, daß die Klassenlehrer bei dieser Besprechung ihre Meinung zu¬ 
gunsten des Prüfungsurteils zurücktreten lassen wollten. Mancher Lehrer 
urteilte nach dieser Bestätigung seines Urteils von einer unbeeinflußten 
Seite mit größerer Sicherheit. An diesem Punkte der Auslese könnte ein 
Beobachtungsbogen gute Dienste leisten. — Das Ergebnis dieser Besprechung 
war eine gemeinsame Vorschlagsliste für jede Klasse. Von jedem Klassen¬ 
lehrer ließ ich mir nun in dieser Liste angeben, bis zu welchem Punkte er 
im Hinblick auf die aus dem Lehrplan bekannten Anforderungen die Prüf¬ 
linge vorzuschlagen gedächte. Bei der Vereinigung dieser unabhängig von¬ 
einander gefällten Urteile stellte sich heraus, daß nur die bessere Hälfte 
meiner Rangordnung (39 von 79) ernsthaft in Frage kam. Ein Vorschlag 
ging über diese Grenze hinaus, und zwar handelte es sich um 2 Knaben mit 
den Rangplatznummern 46'/z und 52'/i. Da diese beiden Knaben in der 
Untersuchung nicht vollständig versagt hatten, konnten sie nicht ausgeschlossen 
werden; es wäre ja auch möglich gewesen, daß wir den Maßstab zu streng 
angelegt hätten. Umsomehr war ich überrascht, als der Sprachklassenlehrer 
bereits nach dem ersten Vierteljahr ohne Kenntnis des Prüfungsergebnisses 


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32 


Felix Schlotte 


mir mitteilte, daß die beiden erwähnten Schüler „die Sprachklasse kaum mit 
Erfolg durchlaufen würden,“ und sie als solche bezeichnete, „deren Auswahl 
er für einen Mißgriff hält“. Eine bessere Bestätigung für die Zuverlässigkeit 
des Prüfungsergebnisses hätte ich mir nicht wünschen können. Auch die 
Reihenfolge der übrigen Schüler, die mir der Sprachklassenlehrer auf Grund 
seiner Erfahrungen angab, stimmte gut mit unserer im voraus festgelegten 
überein. — Oben wurde gezeigt, welchen Gewinn die Klassenlehrer von der 
Prüfung hatten; hier half das von verschiedenen Seiten abgegebene Schätzungs¬ 
urteil dem VI.; die Erfahrung hat gezeigt, daß der von mehreren Fachleuten 
schätzungsweise bestimmte kritische Punkt richtig bezeichnet worden war. — 
Von den vorgeschlagenen Mädchen (20) hat sich eins als ungeeignet er¬ 
wiesen. Eine Erklärung für das Versagen gerade dieses Kindes, das nach 
dem Ergebnis der Untersuchung und dem Lehrerurteil sehr gut geeignet 
erschien, ließ sich nicht auffinden. 

Überblicken wir das Gesamtergebnis der Auslese! 

Aus sieben Klassen waren 79 Kinder vorgeschlagen worden. Geeignet er¬ 
schienen nach dem Untersuchungsergebnis 39. In zwei Fällen wurde unter 
die durch die Prüfung festgestellte Grenze gegriffen, obwohl die Nichteignung 
wahrscheinlich war. Die Praxis bestätigte in diesen beiden Fällen das Prüfungs¬ 
ergebnis. Von den 28') Kindern, die nach der experimentellen Untersuchung 
den Anforderungen der Sprachklassen gewachsen erschienen, hat nur ein 
Kind versagt. Es ist anzunehmen, daß unter günstigeren Umständen die 
experimentelle Untersuchung noch selbständiger und sicherer arbeiten wird. 

Was diese Zahlen zu bedeuten haben, zeigt erst richtig ein Vergleich mit 
den Klassen, die ohne eine experimentelle Auslese zusammengestellt wurden. 
Durch eine Umfrage bei den Sprachklassenlehrern erhielt ich folgende 
Zahlen: In 15 verschiedenen Sprachklassen wurden Ostern 1920 insgesamt 
475 Kinder aufgenommen. 66 davon wurden als ungeeignet bezeichnet, d. h. l ji. 

Man denke sich die Arbeit eines Lehrers in diesem Kreisel Im Laufe des 
ersten Jahres wurden 37 dieser ungeeigneten Kinder zurückversetzt; das 
bedeutet ein Jahr lang vergeblich aufgewendetes Bemühen, Zerstören mancher 
Hoffnung und für lange Zeit nachwirkende Enttäuschung und Beschämung. 
Da mit Hilfe der experimentellen Untersuchung das Verhältnis günstiger war, 
erscheint es empfehlenswert, hiervon Gebrauch zu machen. 

Neben dem Gewinn für die eigentlichen praktischen Zwecke der Unter¬ 
suchung läßt sich außerdem noch einiges Wertvolle für das Verfahren über¬ 
haupt ableiten. 

Bei der bereits erwähnten Umfrage, die ich nach Ablauf des ersten Jahres 
an die Sprachklassenlehrer richtete, bat ich um Auskunft darüber, auf welche 
geistigen Fähigkeiten wohl bei der Auslese ein besonderes Augenmerk zu 
richten sei. In den meisten Fällen wurden logisches Denken, Fähigkeit zum 
Systematisieren und abstrakten Denken gefordert. Dem Denken sollte sich 
das Gefühl für Sprachrichtigkeit in der Muttersprache zugesellen, außerdem 
ein gutes Gedächtnis, besonders Wortgedächnis. Von anderer Seite wurden 
lautliche Begabung und gutes Unterscheidungsvermögen für akustische Wort- 


*) Die Zustimmung der Eltern war zur Aufnahme nötig; dadurch kam es, daß 9 Kinder 
— meist Knaben — nicht entsandt wurden. Als Grund wurde die unerwünschte Verlängerung 
der Schulpflicht um 1 Jahr angegeben. 


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Eine experimentelle Auslese der Sprach befähigten in der Volksschule 


33 


bilder gewünscht Daneben stehen: Konzentration, KombinationsfShigkeit 
und Ausdauer. 

Der oben angeführte theoretisch aufgestellte Untersuchungsplan zeigt eine 
gute Übereinstimmung mit den Forderungen aus der Praxis. Er könnte 
also die Grundlage für weitere Untersuchungen bilden. Durch Umfragen 
lassen sich die Anforderungen an eine derartige Auslese noch genauer be¬ 
stimmen. Auch aus den Gründen, die für Rückversetzungen angegeben 
wurden, ist mancher Wink zu entnehmen. 

Ein anderes Hilfsmittel zur Kontrolle des Verfahrens bietet die Korrelations¬ 
rechnung. Es hätte natürlich keinen Sinn, wollte man den Korrelations¬ 
koeffizienten bestimmen für eine Schar von nur wenigen Kindern, die am 
Ende einer Auslese mit Gruppen anderer Schüler zu einer Sprachklasse 
vereinigt werden. Dazu sind die Zahlen zu niedrig, die Zusammensetzung 
solch kleiner Gruppen also noch keine gesetzmäßige. Umstände, die das 
Verhalten dieser in die Spracbklassen versetzten Kinder ändern können, sind: 
neuer Lehrer, neue Klassengenossen, höhere Anforderungen; die Leistung, 
die im bisherigen Kreise als gut galt, wird im Kreise der gleichartig, gleich¬ 
stark oder besser Befähigten geringer gewertet. Es wäre sonderbar, wenn 
diese stark auf das Gemüt wirkenden Umstände sich nicht auch in den 
Leistungen einiger bemerkbar machten. Ich glaube, es genügt hier die Fest¬ 
stellung: Bewährt oder nicht bewährt. 

Dagegen wird es gelingen, durch Korrelationsrechnungen die Beziehungen 
der einzelnen Versuche zueinander und ihren Einfluß auf das Gesamtergebnis 
zu bestimmen. — Die Zahl der Vpp. (79) ist groß genug, so daß man schon 
mit einer gesetzmäßigen Verteilung rechnen kann. Bei diesen Berechnungen 
mußten die Leistungen von 4 Vpp. ausgeschieden werden, da diese nicht an 
sämtlichen Versuchen teilgenommen batten. Unregelmäßigkeit in der Teil¬ 
nahme wird fast stets Vorkommen, sobald man eine größere Anzahl an 
mehreren Tagen untersucht. Es erscheint erstrebenswert, die Untersuchung 
auf mehrere Tage aü6zudehnen, damit jedem Prüfling, der an einem Tage 
nicht in der günstigsten Verfassung war, Gelegenheit geboten wird, diesen 
Ausfall wenigstens zum Teil an den anderen Tagen wettzumachen. Diesem 
Vorteil stehen als Nachteil die erwähnten Versäumnisse einzelner Teilnehmer 
an einem oder dem anderen Versuchstage gegenüber, ein Umstand, der die 
Auswertung erschwert. Verteilt man die Untersuchung auf zwei Tage, wie 
ich dies getan habe, und läßt man dazwischen eine Pause von mehreren 
Tagen, so ist meines Erachtens den Schwankungen in der Verfassung ge¬ 
nügend Beachtung geschenkt, und die Wahrscheinlichkeit vieler störender 
Versäumnisse ist gering. 

Man hat die Art der Prüfungen, die hier angewandt wurde, verschiedentlich 
als Fähigkeitsprüfungen bezeichnet. Natürlich sind wir nicht imstande, 
die Fähigkeiten unmittelbar zu messen. Das, was augenscheinlich wird und 
dem Zählen und Vergleichen zugänglich ist, — zugleich aber auch die Form, 
in der die Fähigkeiten erst wertvoll werden, — sind Leistungen. Für die Aus¬ 
bildung durch die Schule ist die Befähigung zu gewissen Leistungen not¬ 
wendig. 

Der Wert einer Leistung wird in der Hauptsache durch drei Faktoren be¬ 
stimmt: Güte und Menge des Geleisteten und Zeitdauer zu seiner Erzeu¬ 
gung. — Die Zeitdauer war für die einzelnen Versuche durch die Ver- 

Zeitschrift f. pAdagog. Psychologie. 3 


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Felix Schlotte 


suchsanweisang vorgeschrieben; sie war stets so bemessen, daß nur ganz Lang¬ 
same das Geforderte nicht hätten leisten können. — Die Menge ist leicht 
durch Zählung festzustellen. Mit diesen Feststellungen begnügte man sich 
oft in den bisherigen Untersuchungen. Durch die Arbeit im Ausschuß für 
Begabungsprüfungen im Leipziger Institute wurde ein Bewertungsprinzip auf¬ 
gestellt, das die Güte einer Leistung hervorheben sollte. Dieses Bewertungs- 
prinzipes, das nach der Güte der Leistung abstuft, habe ich mich auch bei 
meiner Untersuchung bedient, und es hat sich als brauchbar erwiesen. Die 
Menge des Geleisteten zu bestimmen, ist besonders wichtig, wenn ent¬ 
schieden werden soll, ob ein Prüfling zu gewissen Dauerleistungen be¬ 
fähigt ist In unserem Falle schien es mir aber darauf anzukommen, die 
einseitig begrifflich Befähigten herauszufinden und nach der Stärke ihrer 
geistigen Kräfte zu ordnen. Deswegen wählte ich verschieden schwere 
Aufgaben. Die unterschiedliche Schwierigkeit bildete den Widerstand, an 
dem die Kräfte erprobt und eingestuft wurden. 

Die Bestimmung der Schwierigkeit kann auf dem Wege der vorangehenden 
Eichung aller Aufgaben durch Massenversuche geschehen. Wir haben vor¬ 
geschlagen, die Schwierigkeitsfaktoren der Teilaufgaben aus den Leistungen 
der Prüflingsschar selbst zu gewinnen. Das ist natürlich nur möglich, 
wenn sie einen gewissen Umfang besitzt; ist die Anzahl der Vpp. groß, 
dann ist die Eichung durch sie selbst entschieden sicherer, als die in einem 
anderen Kreise vorgenommene. — Ein Beispiel wird am kürzesten in unsere 
Denkweise einführen. Der Lückentext »Die Stare“ beginnt: 

Wann werden die Stare —? Es ist März, der A ist von den A und 
Wiesen weggetaut, auch scheint die A hell und A. Aber die Luft ist 
noch rauh und A, und in den Nächten wird alles A zu Eis. Drum 
bleibt nur noch ein Weilchen im A Lande, ihr lustigen Al Doch was 
seh ich? Das Starenvölkchen ist mit der Schnellpost iA 

In der folgenden Übersicht ist zunächst die Anzahl der richtigen Aus¬ 
füllungen (b) für jede dieser Textlücken (a) angegeben. Im ganzen bearbei¬ 
teten 79 Vpp. diesen Text 76 Prüflinge fanden eine sinngemäße Ausfüllung 
der 1. Lücke, 3 dagegen nicht. Die Häufigkeit der richtigen Lösung ist ein 
Maßstab für die Schwierigkeit. Daraus ergibt sich folgende Regel: Je häufiger 
die Ausfüllung gelingt, desto geringer ist die Schwierigkeit; je seltener die 
Lösung gelingt, desto größer ist wahrscheinlich die Anforderung der be¬ 
treffenden Aufgabe. Ergänzen wir also die Häufigkeitszahlen (b) zu dem 
Werte: Zahl der Vpp. (79) -I- 1 (= 80), so gibt uns diese Differenz zwischen 
80 und der einzelnen Häufigkeitszahl (b) für jede Lücke deren Schwierig¬ 
keit (c) an. Die Zahl 1 würde eine sehr leichte Aufgabe bedeuten, deren 
Lösung sämtlichen 79 Vpp. gelang. Schwierigkeit 80 würde anzeigen, daß 
nicht eine einzige richtige Lösung der betreffenden Lücke erreicht wurde. — 
Einerseits, um die Zahlen zu vereinfachen, und weil andererseits der Ver¬ 
feinerung des Maßstabes nicht eine ebenso große Empfindlichkeit der Ab¬ 
stufung entspricht, wurden die für die Schwierigkeit gefundenen Zahlen auf 
5 Schwierigkeitsgrade (d) vergröbert. Diese Unterscheidung hat für unsere 
Zwecke genügt. Die 1. Lücken dieses Textes sind leicht; das ist für die 
Einstellung auf diese Aufgabe wichtig. 


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35 


Zum Vergleiche habe ich die Schwierigkeitsgrade daruntergesetzt, die sich 
in einer sogenannten Förderklasse (Schwachbefähigte) ergaben (e). Derselbe 
Text bietet diesen schwachbefähigten Schülern größere Schwierigkeiten. 


a 

Lücke 

i 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

b 

Häufigkeit. 

76 

65 

65 

75 

55 

64 

64 

45 

64 

53 

c 

Schwierigkeit. 

4 

15 

15 

5 

25 

16 

16 

35 

16 

27 

d 

Schwierigkeitsgrad (Sprchk.) 

1 

1 

1 

1 

2 

1 

1 

3 

1 

2 

e 

Schwierigkeitsgrad (Ford.) . 

2 

3 

2 

1 

2 

1 

2 

3 

2 

2 


Dieses Bewertungsprinzip läßt sich sinnentsprechend auch auf die anderen 
Versuche anwenden. Im angeführten Beispiel waren die nach ihrer Schwierig¬ 
keit abzustufenden Teilaufgaben die Lücken eines Textes, im Gedächtnis¬ 
versuch sind es die einzuprägenden Wörterreihen oder Vokabelpaare, die in 
bezug auf ihre Schwierigkeit unterschieden werden sollen. — Der Vorteil 
dieser Verrechnungsart wird schon augenscheinlich, wenn man sie einmal 
bei einem Proberechnen oder bei der Beurteilung eines Extemporale an¬ 
wendet. Die Auswertung wird dadurch sicher in ihrer Abstufung gerechter, 
als wenn man nur die Zahl der richtigen Lösungen oftmals ganz verschieden 
schwieriger Aufgaben feststellt. 

Wird diese abstufende Wertung in Verbindung mit einer dem Zweck der 
Auslese entsprechenden Mischung der Schwierigkeitsgrade verbunden, so 
kann man mit Hilfe des Verfahrens entweder die guten Leistungen oder 
auch die niederen beliebig betonen und herausheben. Man braucht nur 
diejenigen Schwierigkeitsgrade'bei der Zusammenstellung der Teilaufgaben 
zu bevorzugen, die dicht an der Grenze der Leistungsfähigkeit des Durch¬ 
schnittes liegen. Will man nur die Bestbegabten herausfinden, nimmt man 
also verhältnismäßig viel schwierige Aufgaben, soll dagegen ein größerer 
Kreis über dem Durchschnitt herausgeschält werden, so stellt man mehr 
Aufgaben vom Schwierigkeitsgrade 4 usf. 

Das bei dieser Art der Auswertung Wertvolle sind die Abstände der ein¬ 
zelnen Leistungsurteile, die Reihenfolge der Rangreihe wird dadurch nur 
wenig geändert; denn gewöhnlich werden wohl diejenigen Prüflinge, die den 
schwierigsten Aufgaben gewachsen sind., auch alle leichteren erfüllen, und 
die Schwachen werden wahrscheinlich nicht nur in der Güte, sondern auch 
der Anzahl nach weniger leisten. — Die Verteilung der Punktzahlen, mit 
denen alle Leistungen beurteilt wurden zwischen dem Höchst- und dem 
Nullwerte, hat dann eine ganz bestimmte Regelmäßigkeit aufzuweisen: ihre 
Abstände sind groß in dem Teile der Reihe, der durch die Auswahl der 
Aufgaben bevorzugt wurde. In meinem Falle waren also die über dem 
Durchschnitt liegenden Leistungen fein abgestuft, die schlechten erschienen 
dagegen wenig voneinander verschieden. Besonders deutlich zeigt das die 
graphische Darstellung. Ordnet man die Leistungen nach ihrer Größe und 
trägt man sie als Ordinaten nebeneinander in ein System ein, so fällt die 
alle Endpunkte verbindende Linie erst ziemlich schräg ab und zeigt in dem 
Teil der niedrigen Werte nur noch eine geringe Neigung. Stellt man die 
Häufigkeit der Werte dar, also ihre Anzahl in den gleichen Abschnitten 
zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Werte als Ordinaten, so hat 
diese Verteilungskurve nicht die regelmäßige symmetrische Glockenlinie,. 

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Felix Schlotte 


sondern erscheint verschoben; der Gipfel liegt dem Ende der schlechten 
Leistungen näher und fällt nach der Seite der guten allmählich ab. Diese 
Form erstrebte ich in allen Versuchen. (Die Form einer Kurve, in der die 
Verteilung der Schwierigkeitsgrade versinnbildlicht werden soll, müßte die* 
selbe Gestalt, um die Senkrechte gedreht, zeigen.) 

Für die weitere Verwendung des Ergebnisses aus den einzelnen Versuchen 
war es nötig, alle die verschiedenen Zahlenreihen derartig rechnerisch zu 
behandeln, daß jede auf das Endergebnis mit ungefähr gleichem Gewichte 
wirkte. Dies suchte ich dadurch zu erreichen, daß ich alle Zahlenreihen, 
die zunächst für die einzelnen Versuche ganz verschiedene Ausdehnung des 
Punktspielraumes hatten, auf den gleichen Punktspielraum brächte. Als 
festen Punkt der ganzen Reihe benutzte ich den Höchstwert, also die beste 
Leistung, und nannte sie in jedem Versuche 100. Alle übrigen Werte wurden 
in demselben Verhältnis wie der ursprüngliche Höchstwert entweder ver¬ 
mindert oder erhöht, so daß jede Vp. innerhalb des Zahlenraumes 0—100 
an derselben Stelle stand wie vorher in einem weiteren oder engeren Zahlen¬ 
raume. Der Abstand aller Vpp. untereinander war verhältnismäßig derselbe 
geblieben. Erst durch diese Einordnung aller Zahlen unter den Höchstwert 
100 P. wurde ein Vergleich der Versuche untereinander möglich. In Ver¬ 
bindung mit der Verteilungskurve oder mit dem Durchschnittswerte war ohne 
weiteres jedes Punkturteil eine Wertangabe, ein Umstand, der bei der Be¬ 
sprechung der Versuchsergebnisse und beim Vergleich mit den Zensuren 
und Beobachtungen des Lehrers das Prüfungsmaterial übersichtlich gestaltete. 

Es ist unmöglich, sich die einzelnen Leistungen von 79 Vpp. vorzustellen 
und wertend zu vergleichen; es macht sich hier eine Vereinfachung des 
Zahlenmaterials notwendig. Bisher bildete man aus den Rangreihen, die 
man aus den verschiedenen Versuchen erhalten hatte, eine sogenannte mittlere 
Rangreihe. Dieses Verfahren muß Fehler erzeugen, denn die Platznummern 
sollen eigentlich nur eine Reihenfolge angeben; es kommt ihnen nur ein 
geringer Maßwert zu. Ich glaubte richtiger zu handeln, wenn ich nicht die 
Platznummern aus den Versuchen zusammenzählte, sondern die Punktergeb¬ 
nisse aller Versuche, die durch die stete Beziehung auf den Höchstwert 100 
vergleichbar geworden waren, zusammenfaßte. Auch innerlich bestanden 
zwischen den Einzelergebnissen mehrfache Beziehungen. Die Schwierigkeit 
war dem Alter angemessen gut getroffen worden, die Höchstleistung fiel 
entweder dicht unter den Punkt der überhaupt möglichen idealen Erfüllung 
der Aufgaben oder öfter auch mit diesem zusammen und kam im günstigsten 
Falle dreimal vor. Außerdem war ja die Mischung der Schwierigkeitsgrade 
in den Teilaufgaben für alle Versuche eine ähnliche gewesen, und die Er¬ 
gebnisse waren nach denselben rechnerischen Wertprinzipien behandelt worden. 
Der Widersinn, der scheinbar darin liegt, die psychische Gesamtleistungs¬ 
fähigkeit aus den Teilleistungen einfach durch Summierung ableiten zu wollen, 
wird durch eigenartige rechnerische Auswertung — die Beziehung aller Werte 
auf den gleichen Höchstwert in Verbindung mit der Betonung der guten 
Leistungen — wettgemacht. Die beiden Maßnahmen haben folgende Wir¬ 
kung: Eine besonders gute Leistung auf einem Einzelgebiet hat starken Ein¬ 
fluß auf die Stellung der betreffenden Vp. in der Endrangreihe; dagegen 
wirkt ein Versager in irgendeinem Versuche lange nicht mit demselben Ge¬ 
wicht, weil ja die Abstände in der Gegend der geringen Leistungen nicht so 


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Eine experimentelle Auslese von Sprachbefähigten in der Volksschule 


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groß wie im oberen Teile der Reihen sind. Außerdem waren die niedrigsten 
Leistungen nicht entsprechend dem Verfahren bei den Höchstleistungen gleich 
null gesetzt worden. Diese Bevorzugung der guten Leistungen und Vernach¬ 
lässigung der Versager war aus folgender Überlegung geschehen: Wir unter¬ 
suchen mit den Tests die Arbeitsweisen des Bewußtseins möglichst getrennt, 
im gewöhnlichen Leben gehen diese Arbeitsformen stark ineinander auf, und 
dann kann die Überlegenheit au| einem Gebiete stellvertretend oder wenigstens 
unterstützend anderen Gebieten zugute kommen. 

Das waren methodische Ergebnisse, die sich vor allem auf die Verrechnung 
der Untersuchungsergebnisse bezogen. Wenig Gewinn läßt sich aus solchen 
Massenuntersuchungen für die Weiterentwicklung des einzelnen Tests ziehen. 
Den rechten Weg zu diesem Ziel hat Schierack-Leipzig 1 ) in seiner Arbeit 
gewiesen, indem er die Selbstbeobachtung als Prüfungsmittel für die einzelnen 
Tests anwandte. Joh. Schlag ließ eine Klasse 16 jähriger Mädchen über ihre 
Innenerlebnisse beim Lösen solcher Tests berichten und hat manchen wert¬ 
vollen Aufschluß erhalten. Viel weiter wird man aber im Alter nicht herab¬ 
gehen können; denn dort ist die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung noch nicht in 
genügendem Maße geübt. Vor allem wird es den Jüngeren schwer, das, was 
sie erleben, in treffende Worte zu kleiden. In diesen Fällen bieten dann 
Massenuntersuchungen Gelegenheit, die Beziehungen zwischen den einzelnen 
Versuchen aufzudecken. Ich verwandte zu diesem Zwecke nur die Ergebnisse 
der Kinder, die an sämtlichen Versuchen teilgenommen halten, und bildete 
mir Rangreihen dieser 75 Vpp. für jeden Versuch, für die Summen der 
beiden Tage getrennt und eine Endrangreihe über die Punktsummen aus 
sämtlichen Versuchen. 

Gespannt war ich zunächst darauf, ob sich wohl eine Übereinstimmung 
zwischen beiden Prüfungstagen ergeben würde. Man kann es sich ja so 
denken, die zwei Tage wären zwei von einander unabhängige Prüfungen, 
die an derselben Prüflingsschar mit zwei einander ähnlichen Zusammen¬ 
stellungen vorgenommen wurden. Die Versuche, die sich gegenüber standen, 
waren: 

L Tag: a) Gedächtnis für zehn sinnvoll verbundene Dreiwortreihen (Beispiel: Gewinn—Neid- 
Zank). B- 0,62]. 

b) Aulsuchen von Nebenbegriffen und Bilden des dazu gehörigen Oberbegriffes. (Nach 
Schierack.) ]-f- 0,69]. 

c) Ordnen der in Unordnung gebrachten Sätze einer Geschichte. („Wirre Gedanken“.) 
[+ 0.491. 

d) Ordnen der unbestellten Wörter einiger Sätze. (Mosaiksätze) [-j- 0,59]. 

e) Behalten des Sinnes einiger langer nur einmal gebotener Sätze, [-f- 0,69]. 

fl Bilden je eines Satzes zu mehreren gegebenen Wortpaaren, [-f- 0,64]. 

g) LOckentext „Die Stare“. (Es fehlen allerlei Wortarten.) [-|- 0,70], 

2. Tag: h) Vokabel versuch nach Dr. Handrick. (Beispiel: hunfer-Rache). [-f- 0,44]. 

i) Vorrat und Flüssigkeit der Vorstellungen. (Assoziationsversucb.) [~j- 0,52]. 

k) LOckentext „Der Buchweizen“. (Nur Bindewortlücken.) [-f- 0,68], 

1) Lautauffassung und Lautdarstellung nach Dr. Handrick. [-(- 0,40]. 

Der Korrelationskoeffizient zwischen den Rangreihen der Versucbstage be¬ 
trug -+- 0,68. (Die Zahlen über 0,50 bis -t- 1,00 bedeuten nach der 
Spearmanschen Formel für Rangkorrelationen eine gute [-J- 0,50] bis voll- 


') Päd.-pgych. Arbeiten aus dem Institut des Leipziger Lehrervereins. Bd. 10. Leipzig 1920. 
Dünsche Bachhandlung. 


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Felix Schlotte 


kommene [4> 1,00] Übereinstimmung zwischen zwei Rangreihen.) Zwischen 
den Ergebnissen des 1. und 2. Tages besteht also eine gute Übereinstimmung. 
Diese Tatsache legt die Vermutung nahe, daß durch die Zusammenstellung 
der Versuche ein Begabungstypus getroffen ist Wenn die Versuchsgruppen 
der beiden Tage noch gleichartiger wären, würde dies wahrscheinlich deut¬ 
licher in Erscheinung treten. Es ist behauptet worden, bei solchen Prüfungen 
treffe man vor allem die Fähigkeit zur Anpassung an neuartige Aufgaben. 
Wenn dem so wäre, dann müßte auch Übereinstimmung zwischen den ein¬ 
zelnen Versuchen untereinander bestehen. Das trifft jedoch nicht zu. Zwischen 
den einzelnen Versuchen ergeben sich — abgesehen von den gleichartigen 
oder einander sehr ähnlichen — keine Koeffizienten, die einen Zusammen¬ 
hang verraten. 

Ehe ich auf solche Gruppen eingehe, möchte ich die Zahlen erklären, die 
ich den einzelnen Versuchen in der Übersicht über beide Prüfungstage 
(s. vorher 1) gegeben habe. Sie geben den Grad der Übereinstimmung zwischen 
der. Rangreibe jedes einzelnen Versuches und der Endrangreihe aus sämt¬ 
lichen Versuchen an. Angenommen, es sei durch die Untersuchung gelungen, 
die begrifflich Denkenden herauszufinden — die Bestätigung hierfür scheint 
der Erfolg, nämlich die Bewährung der ausgelesenen Schüler, zu sprechen —, 
dann würden diese Korrelationskoeffizienten Urteile bedeuten über die Brauch¬ 
barkeit dieser Versuche in solch einem Ausleseverfahren für begrifflich Be¬ 
gabte. Ehe ich so weit gehe, möchte ich jedoch eine zweite Bewährung dieser 
Zusammenstellung unter einfacheren äußeren Verhältnissen und mit den Ver¬ 
besserungen, die durch die Erfahrung geboten erschienen, abwarten. Eins 
kann man jedoch ohne weiteres diesen Zahlen entnehmen und daraus Gewinn 
für die Weiterarbeit ziehen. Die Koeffizienten lassen erkennen, in welchem 
Grade das Ergebnis jedes einzelnen Versuches zum Gesamtergebnis beigetragen 
hat. Da scheint zunächst der Versuch „Wirre Gedanken“ nicht ganz in den 
Rahmen zu passen. Die technische Bewältigung dieser Aufgabe macht dem 
Prüfling — wie ich bereits bei der Durchführung des Versuches beobachtete — 
ziemliche Schwierigkeiten. Der Schüler erhält ein Päckchen Papierstreifen. 
Auf jedem der elf Streifen steht je ein Satz einer in Unordnung gebrachten 
Geschichte, und nun heißt’s: Ordne die Streifen derart, daß aus den Sätzen 
eine zusammenhängende Erzählung wird! Die Vp. hat während des Ver- 
suches zwei Gruppen von Streifen vor sich liegen, die bereits geordneten 
und die noch der Ordnung harrenden. Eine zweite Klippe ist für manchen 
das Aufschreiben der Lösung gewesen. Das Hantieren beim Ordnen und 
Aufschreiben sind nun allerdings Nebenumstände des Versuchs, die aber der¬ 
artig große Anforderungen an die Vp. stellen, daß das Gesamtergebnis stark 
beeinflußt wird. Und zwar muß dies in einem ungünstigen, dem eigentlichen 
Zwecke des Versuches widerstreitenden Sinne geschehen; denn die technische 
Seite würde wohl leichter von praktisch Denkenden erfüllt werden als von 
denen, die ich herausfinden wollte, den begrifflich Denkenden. 

Im Anschluß an diese Erfahrung drängte sich der Gedanke auf, ob man 
nicht bei einer derartigen Auslese einen Versuch einfügen sollte, der einen 
hohen Symptomwert für den anschaulichen Typus besitzt. Den dürfte man 
natürlich nicht in die Zusammenfassung der übrigen Versuche einbeziehen, 
sondern er würde der negativen Auslese dienen. Es ist doch sicher so, daß 
ausgeprägte Typen selten sind, meist werden wohl beide Arten des Denkens 


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Eine experimentelle Auslese von Sprachbefähigten in der Volksschule 


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nebeneinander In derselben Person bestehen, und eine der Formen wird nur 
gegen die andere hervortreten. Hält man aber nur in einer Richtung positive 
Auslese, so würde man wohl alle diejenigen herausfinden, die begrifflich gut 
begabt sind. Es besteht jedoch die Möglichkeit, daß auch solche Kinder dar¬ 
unter sind, die zwar begrifflich gut begabt sind, aber auf dem Gebiete des 
anschaulichen Denkens noch Besseres leisten könnten. Man entzieht auf 
diese Weise den Weikklassen viele gute Begabungen, nimmt den Sprach- 
klassen ihren eigentümlichen Charakter und formt sie zu Begabtenkl&ssen um. 

Noch empfehlenswerter wäre es, am Ende der Grundschule sämtliche 
Kinder allseitig zu untersuchen, nicht um auszulesen, sondern um zu scheiden. 
Der Zeitpunkt ist im Hinblick auf die kindliche Entwicklung zwar zu früh, 
wir müssen aber vorläufig mit dem Schulaufbau rechnen, wie er jetzt besteht 

Ein andrer Versuch, der im Gegensatz zu den übrigen steht, ist der an 
letzter Stelle genannte, eine Untersuchung der Befähigung zu genauer Auf¬ 
fassung der Laute und zu ihrer richtigen Darstellung. — Mit Rücksicht auf 
das Erlernen der Fremdsprache scheint diese Prüfung notwendig vor allem, 
wenn im fremdsprachlichen Unterrichte der Nachdruck auf das Sprechen ge¬ 
legt werden 6oll. Ob der ungünstige Ausfall des Versuches auf die zu ge¬ 
ringe Schwierigkeit des Versuchsstoffes oder darauf zurückzuführen ist, daß 
hier zum Teil physiologische Bedingungen (Ohr!) mit untersucht werden, 
läßt sich an der Hand dieses einen Materials nicht entscheiden. Vielleicht 
wird man damit ähnlich verfahren müssen, wie ich es für die Gedächtnis¬ 
versuche vorschlagen möchte: Zu dieser Gruppe gehören drei Versuche. Der 
Vokabel versuch ähnelt davon den Versuchen, durch die man das Gedächtnis 
am reinsten erfaßt — dem Lernen sinnloser Silben —, am meisten. Der 
Stoff bestand in zehn Vokabelpaaren wie „ramtos — Vater“; die Einprägung 
geschah zweimal durch Vorlesen, gemeinsames Lesen und selbstgewählte Art 
des Einprägens. Bei der Abnahme wurde das fremde Wort geboten, die 
deutsche Wortbedeutung war zu ergänzen. — Äußerlich ebenso verlief der 
Versuch mit Dreiwortreihen. Hierbei wird die Einprägung durch den die 
drei Wörter jeder Reihe verknüpfenden Sinn erleichtert. Das Erkennen dieses 
Zusammenhanges, das Erfassen der Richtung, in der die Reihe verläuft oftmals 
bei der Abnahme wohl gar das Nachschaffen der Reihen aus Einprägungsresten, 
das sind Nebeneinwirkungen, die die eigentliche Gedächlnisleistung zurück¬ 
treten lassen. Noch geringer ist der Anteil der eigentlichen Gedächtnisleistung 
sicher dann, wenn gar kein Wert auf das wörtliche Behalten gelegt wird 
wie im Hamburger Merkfähigkeitsversuch. — Diese Abstufung der 
reinen Gedächtnisleistung spricht auch aus den Korrelationskoeffizienten, die 
sich aus dem Vergleichen dieser Versuche untereinander und mit der End¬ 
rangreihe ergeben. 


* 

I. 

n 

HI 

IV 

I. Vokabel versuch .... 

T ^ 

-i 0,52 

4- 0,35 

-f 0.44 

TL Dreiwortreihen .... 

4- 0,52 

+ 1 

+ 0,57 

4- 0,62 

JIL 8ätze. 

— }- 0,35 

+ 0.57 

+ 1 

+- 0,69 

IV. Endrangreihe. 

-f 0,44 

+ 0,62 

+ 0,60 

+ 1 


Nach den Erfahrungen mit den Gedächtnisversuchen scheint es mir emp¬ 
fehlenswert, die Untersuchung des reinen Gedächtnisses nur dann in die 


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40 F. Schlotte, Eine experimentelle Aaslese von Sprachbefähigten in der Volksschule 


Zusammenfassung einzubeziehen, wenn das Ergebnis stark unter dem Durch* 
schnitt bleibt, im übrigen aber hierbei keinen Wert auf Höchstleistungen zu 
legen. Ebenso wäre mit der Prüfung der Lautauffassung zu verfahren. 

Die Ergebnisse meiner Untersuchung sind hier mitgeteilt worden, um zu 
zeigen, was eine derartige experimentelle Prüfung im Rahmen einer Auslese 
leisten kann. Zugleich wollte ich auf die Punkte hinweisen, an denen die 
Weiterarbeit einsetzen möchte: Analyse der speziellen Anforderungen der 
Sprachklassen auf Grund der Erfahrung; entsprechende Auswahl der Versuche 
und Neugestaltung brauchbarer Tests; längere Beobachtung der nach diesen 
Methoden ausgelesenen Schüler; Feststellung von Normalleistungen und Ver¬ 
einfachung des Verfahrens. 


Subjektive optische Anschauungsbüder bei Jugendlichen. 

Von Oswald Kroh. 

Als ich im Herbst 1917 mit der Einstellung des von Prof. E. R. Jaensch 
geleiteten psychologischen Instituts der Universität Marburg an meine Schüler 
(Oberrealschule nebst Reformrealgymnasium zu Marburg) herantrat, machte 
ich gelegentlich die Feststellung, daß der Vorstellungsmodus einer großen 
Anzahl von Schülern von dem der normalen Erwachsenen erheblich abweicht, 
und es schien mir, als wenn das Schlagwort von der Konkretheit des 
Vorstellens und Denkens der Jugendlichen nicht geeignet sei, dem 
beobachteten Tatbestand genügend Rechnung zu tragen. Es zeigte sich näm¬ 
lich, daß ein erheblicher Teil der Jugendlichen über subjektive optische 
Anschauungsbilder verfügte und diese mehr oder weniger gewohnheits¬ 
mäßig zu gebrauchen pflegte. 1 ) 

1. Beschreibung der Anschauungsbilder. 

Was das subjektive optische Anschauungsbild von einem Vor¬ 
stellungsbild unterscheidet, wird am besten klar, wenn man die Aus¬ 
sagen derjenigen Individuen zugrunde legt, die sowohl Anschauungsbilder als auch 
Vorstellungsbilder besitzen. Legt man diesen ein postkartengroßes oder kleineres 
Bild oder einen Gegenstand von gleicher Größe in normaler Leseentfernung vor, 

*) Nachdem V. Urbantschitsch im Jahre 1907 den subjektiven optischen Anschauungsbildern 
erstmalig eine monographische Behandlung zuteil werden ließ, die aber infolge der Bevorzugung 
abnormer (apsychonomen Formen vorwiegend nur das KuriositSteninteresse befriedigen konnte, 
sind inzwischen unter Leitung von E. R. Jaensch aus dem Psychologischen Institut der Uni¬ 
versität Marburg eine Reihe von Abhandlungen hervorgegangen, die — großenteils in der Zeit¬ 
schrift für Psychologie sowie der Zeitschrift für Sinnesphysiologie erschienen — als gesonderte 
Monographien bei J. A. Barth, Leipzig, berausgegeben werden: 

„Ober die Vorstellungswelt der Jugendlichen und den Aufbau des intellektuellen Lebens.* 
„Ober den Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre Struktur im Jugendalter.* 

Vgl. ferner B. R. Jaenschs Referat „Üoer subjektive Anschauungsbilder*, das demnächst 
im Bericht über den 7. Psycbotogenkongreß zu Marburg (1921) erscheinen wird, sowie des Verf., 
im besonderen auch die pädag. Seite berücksichtigenles Buch: 0. Kroh, Subjektive An- 
scbauungsbilder bei Jugendlichen, das in Kürze litt Verlag Vandenhoek & Rupprecht, Oöttingen 
erscheint, und den IV-i'rag: O. Kroh, Eidetiker im ter deutschen Dichtern. Zeitsohr. f. PsychoI. 
Bd. 85 11920). 


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Oswald Kroll, Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlieben 41 


bo sind sie imstande, selbst nach kurzdauernder, wenige Sekunden langer Be¬ 
trachtungsich das dargebotene Objekt nicht nur vorzustellen, sondern es sich mit 
wahrnehmungsgemäßer Deutlichkeit als Anschauungsbild zu vergegenwärtigen. 
Sie geben an, daß sie das Anschauungsbild im eigentlichen Sinne des Wortes 
zu sehen glauben; nicht nur haben sie den Eindruck, daß das Auge bean¬ 
sprucht sei, sondern das Bild erscheint auch wie ein echtes Sehding im Seh¬ 
raum, zumeist an der Stelle, die durch Konvergenz- und Akkommodationsgrad 
der Augen gerade ausgezeichnet ist. So bedeckt dann das Anschauungsbild 
eines vorgelegten Gegenstandes den Grund (etwa die Wand), auf den es 
projiziert wird. Dabei kann es Vorkommen, daß der Grund an der betreffen¬ 
den Steile völlig verschwindet, während er ringsherum noch deutlich sichtbar 
ist; meist aber bleibt er noch durch das vorgelagerte, durchscheinende Bild 
hindurch erkennbar. Sehr oft mischen sich die Farbe des Grundes und die 
des Bildes zu einem einheitlichen Eindruck, genau so, wie bei physi¬ 
kalischer Farbenaddition — etwa bei Mischung entsprechender Spektralfarben 
in einem Farbenmischungsapparat oder bei Mischung von Papierfarben auf 
einem Farbenkreisel — Farben miteinander verschmelzen. So können Individuen, 
die im Besitze subjektiver optischer Anschauungsbilder sind und die wir im 
folgenden gemäß einem von Jaensch eingeführten Terminus alsEidetiker 
bezeichnen wollen, ein rein graues bzw. mehr oder weniger leicht gelblich 
oder bläulich getöntes Quadrat sehen, wenn sie das Anschauungsbild, das 
sie von einem blauen Quadrat erzeugt haben, auf ein gleich großes gelbes 
Quadrat projizieren oder umgekehrt. 1 ) — Daneben lassen sich Fälle beobachten, 
in denen eine derartige Mischung der Anschauungsbildfarben mit den Farben 
des Grundes nicht stattfindet, sondern abwechselnd bald mehr der Grund, 
bald mehr das Bild im Gesichtsfeld überwiegt. In diesem Falle haben wir 
Wettstreiterscheinungen vor uns von der Art, wie man sie auch im Stereoskop, 
z. B. als sogenannten Konturenwettstreit, beobachten kann. , 

Allen diesen verschiedenen Erscheinungsweisen ist das gemeinsam, daß 
das Anschauungsbild im Sehraum erscheint und in einer bestimmten, wenn 
auch lockeren Verknüpfung zu den Objekten der Wahrnehmung steht. 2 ) 

Die Erscheinungsweise des Vorstellungsbildes ist davon völlig verschieden. 
Wohl kann es bei egozentrischer Lokalisation vor, neben oder hinter dem 
vorstellenden Individuum erscheinen; aber es wird niemals im eigentlichen 
Sinne des Wortes gesehen, demgemäß ordnet es sich auch nie mit den Merk¬ 
malen eines neuen Empfindungsinhaltes in den Sehraum ein, vor allem kann 
von einem Grade der Kohärenz zu den Wahrnehmungsobjekten, wie er in 
den oben charakterisierten Fällen vorliegt, keine Rede sein. 

Zu diesem Wesensunterschied aber kommen noch andere unter¬ 
scheidende Merkmale hinzu. Das Anschauungsbild ist in seinen aus¬ 
geprägten Formen von hohem Detailreicbtum; es ist beständig, denn es ver¬ 
schwindet oft erst nach minutenlanger Betrachtung; es ist dauerhaft, denn 
es kann, mindestens bei gewissen Individuen (vgl. S. 43), noch nach Wochen 
und Monaten mit meist nur geringen Abweichungen wieder erzeugt werden. 
Ferner sind die Anschauungsbilder in der Regel von geringerer Flexibilität 

’) E. R. Jaenscb u. B. Herwig, Ober Mischung von objektiv dargebotenen Farben mit Farben 
des Anscbauungsbiides. Zeitscbr. I. Psychol.. Bd. 87. 

*) A. Gösser, Gründe des verschiedenen Verhaltens der einzelnen GedScbtnisstufen. Zeitscbr. 
L Psychol., Bd. 87, S. 97—128. 


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Oswald Kroh 


42 


als Vorstellungsbilder, die bekanntlich leicht zerfallen, sich umbilden, Ver¬ 
schmelzungen und Mischungen mit anderen Vorstellungsinhalten eingehen. 
Ja, es existieren sogar Fälle (S. 44), in denen der Mangel an Flexibilität den 
Anschauungsbildern den Stempel der Starrheit aufdrückt. 

Neben den absichtlich erzeugten Anschauungsbildern spielen spontan 
aufsteigende Bilder von gleichem Charakter eine erhebliche Rolle. Ihre 
Analyse liefert schätzenswertes Material für die Untersuchung der Ideale der 
Jugendlichen und ihre besonderen Interessenkreise. Besonderen Abarten 
dieser spontanen Anschauungsbilder begegnen wir in gewissen Wachtraum¬ 
formen sowie in den Autoskopien. 

Wir deuteten vorhin an, daß der Detailreichtum der Anschauungs¬ 
bilder verschieden groß sein kann. Es existieren zahlreiche Übergangs¬ 
formen vom rohen, oft nur aus Konturenteilen oder aus unscharf begrenzten 
Farbflecken bestehenden zum scharf gezeichneten, vorlagegemäß gefärbten 
Anschauungsbild wahrnehmungsähnlicher Art. Auch hinsichtlich der Größe 
der Vorlage, von der ein Anschauungsbild erzeugt werden kann, bestehen 
weitgehende Unterschiede. Will man bei Versuchen diesem Umstand Rech¬ 
nung tragen, so empfiehlt es sich, zunächst nieht über Postkartengröße hinaus¬ 
zugehen. Ebenso ist die Größe des Gesichtsfeldes, in dem ein Anschauungsbild 
simultan vergegenwärtigt werden kann, erheblichen individuellen Differenzen 
unterworfen. 

Auch bezüglich der Farbigkeit bestehen bedeutende individuelle Unter¬ 
schiede. Individuen, die sonst vollkommen farbentüchtig sind, können im 
Anschauungshild total-farbenblind oder rotgrün-blind sein oder bezüglich 
einzelner Farben eine besondere Schwäche aufweisen (Rot-Schwäche, Blau- 
Schwäche). Bemerkenswert ist, daß im normalen Sehen beobachtbare Rot¬ 
grünschwäche sich im Anschauungsbild zu völliger Rotgrün-Blindheit zu steigern 
vermag. 1 ) 

Ihrer räumlichen Erscheinungsweise nach können Anschauungsbild¬ 
farben sowohl den Charakter von Oberflächenfarben wie von raumabschließen- 
den und durchsichtigen Flächenfaiben, wie auch von Raumfarben tragen. 

Nicht jeder Eidetiker ist imstande, von jeder Vorlage ein Anschauungsbild 
bzw. von allen Vorlagen gleich deutliche Anschauungsbilder zu entwerfen. 
Vielmehr offenbart sich hier die auswählende Wirkung gewisser Ten¬ 
denzen 2 ), die oft einen überraschend deutlichen Einblick in die psychische 
Gesarotstruktur gewähren. So können z. B. manche — stark ästhetisch ein¬ 
gestellte — Eidetiker im Anschauungsbild nur Schönes reproduzieren. Hä߬ 
liches fällt bei ihnen einfach aus oder erscheint sehr undeutlich (kalotrope 
Selektionstendenz). Andere wieder erhalten Anschauungsbilder nur von 
solchen Vorlagen, die ihrem Interesse Rechnung tragen (philotrope Tendenz). 
Hier mag als bemerkenswertes Beispiel der Fall des von E. R. Jaensch unter¬ 
suchten Studienreferendars Dr. W. erwähnt werden, der bei seinen erdkund¬ 
lichen und botanischen Studien in den subjektiven optischen Anschauungsbildern 
wesentliche zuverlässige Gedächtnisstützen von hoher Beständigkeit besaß, 
die ihm -die Arbeit bedeutend erleichterten, während seine Anschauungsbilder 

’) B. Herwig, Ober den inneren Farbensinn bei Jugendlichen nnd seine Beziehungen zo 
den allgemeinen Fragen des Licbtsinns. Zeitscbr. f. Psycho!., Bd. 87. 

*) E. R. Jaensch, Sitzungsberichte der Gesellsch. zur Beförderung d. ges. Naturwissenschaften 
zu Marburg, 1917. 


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43 


Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlichen 


in der mit der Botanik durch die Studienordnung fest verbundenen Zoologie 
infolge hochgradiger Flexibilität und starker Tendenz zu assoziativen Misch¬ 
wirkungen und störenden Abwandlungen mehr schadeten als nützten. Ähn¬ 
lich beobachtete Verfasser bei einer Reihe von Schälern einen starken Vor¬ 
rang der Geometrie vor der Arithmetik, der sich ebenfalls unschwer auf die 
Mithilfe bzw. das Versagen des Anschauungsbildgedächtnisses zurückführen ließ, 
öfter trat auch der Fall ein, dafi ein Schüler von einer bildmäßigen Vorlage kein 
Anscbauungsbild erzeugen konnte, während ihm das eidetische Gedächtnis 
gegenüber dem Objekt selbst bereitwilligst zur Verfügung stand. Auch in 
solchen Fällen zeigt sich die Wirkung einer selektiven Tendenz, der Gegen¬ 
standstendenz. Aber auch gewisse Änderungen, die sich an einem Anschauungs¬ 
bild gegenüber seiner Vorlage beobachten lassen, sind als Wirkungen von 
Tendenzen verständlich, die auf Erhaltung der Erfahrungsgemäßheit, auf 
Vervollständigung des unvollständig Repräsentierten oder auf Weiterbildung 
des nur Angedeuteten bzw. Nichtabgeschlossenen gerichtet sind. 

Nicht immer sind, wie nach dem Vorausgehenden angenommen werden 
könnte, farbige Anschauungsbilder der Vorlage gleichgetönt. In manchen 
Füllen treten komplementäre Farben auf. Alsdann ist auch die Dauern 
haftigkeit des Anschauungsbildes meist eine beschränkte und in extremen 
Füllen seine Erzeugung nur in unmittelbarem Anschluß an die Betrachtung 
der Vorlage möglich. Man sieht ohne weiteres, wie nahe ein derartiges 
Anschauungsbild dem negativen Nachbild stehen kann. In der Regel bleiben 
jedoch noch wesentliche Merkmale des Anschauungsbildes erhalten (große 
Beständigkeit usw.), die eine Absonderung von den Nachbildern rechtfertigen. 
Daneben existieren jedoch auch ausgesprochene Obergangsformen zum nega¬ 
tiven Nachbild. 

Schon diese kurzen zusammenfassenden Ausführungen mögen einen Ein¬ 
blick geben in die Fülle und Vielgestaltigkeit der Formen, die wir unter dem 
Namen der Anschauungsbilder summarisch begreifen. 

Dem Fernerstehenden kann daraus sehr leicht der Eindruck erwachsen, 
als handle es sich hier um eine unentwirrbare Mannigfaltigkeit, die besten¬ 
falls nur individualpsychologisches Interesse haben könne. Doch ordnet sich 
das Material bei genauerer Betrachtung zwanglos in gewisse typische Formen. 
Es ist das Verdienst von W. Jaensch 1 ), diese Formen als Begleit¬ 
erscheinungen gewisser psychophysischer Konstitutionstypen er¬ 
kannt und beschrieben zu haben. W. Jaensch unterscheidet basedowoide, 
tetanoide und tetanoid-basedowoide Typen. 

Die Träger des B-(basedowoiden) Typs sind sehr häufig erkennbar an ge¬ 
wissen körperlichen Symptomen: Leichtes Schwitzen, lebhafte Hautreflexe, 
niedriger Hautwiderstand, weite Lidspalte, lebhafte Pupillenreaktion und 
Glanzauge. Ihre Anschauungsbilder zeigen niemals komplementäre Bildfarben 
and sind im allgemeinen sehr deutlich, von hoher Dauerhaftigkeit und ziem¬ 
lich starker Flexibilität. Der ganze psychische Habitus zeigt meist eine ge¬ 
steigerte Lebhaftigkeit, starken Mitteilungsdrang, gelegentlich auch Aufmerk- 
samkeitsstörungen. 

Die Träger des T-(tetanoiden) Typs besitzen in leichteren Fällen keine so 


*) Ober Wechselwirkung von optischen, zerebralen und somatischen Stigmen bei Konstitutions¬ 
typen. Zeitachr. f. die ges. Neuro!, u. Psychiatr., Bd. 59, S. 104H. 


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44 


Oswald Kroh 


' "1 


deutlichen körperlichen Symptome; für sie ist die starke mechanische und 
galvanische Überregbarkeit auf motorischem und sensiblem Gebiet besonders 
charakteristisch; in ausgeprägteren Fällen gesellt sich dazu noch ein merk¬ 
würdig ängstlich mißtrauischer Gesichtsausdruck (Uffenheimers Tetaniegesicht). 
Die Anschauungsbilder der Tetanoiden stehen dem negativen Nachbild nahe, 
erinnern an dieses in ihrer Starrheit und Unbeeinflußbarkeit, oftmals auch 
in ihrer komplementären Färbung. Der Tetanoide ist ängstlich und mi߬ 
trauisch und verschweigt seine Anschauungsbilder gelegentlich, zumal sie ihm 
infolge ihrer Starrheit und einer gewissen Neigung zur Persistenz (Zwangs¬ 
charakter) unheimlich erscheinen. 

Der TB-Typ umfaßt die Mischformen beider Typen, wobei sowohl hinsicht¬ 
lich der genannten äußerlichen Merkmale als auch der Anschauungsbilder 
bald mehr der T- und bald mehr der B-Typ überwiegt. 

Ebenso wie wir hier die Anschauungsbilder der Tetanoiden zu den nega¬ 
tiven Nachbildern in Beziehung bringen konnten, ebenso stehen die An¬ 
schauungsbilder reiner Basedowoider den Vorstellungsbildern (sofern man von 
der Erscheinungsweise im Sehraum absieht), nahe. Alsdann ordnet sich die 
Mannigfaltigkeit der subjektiven optischen- Anschauungsbilder zwischen nega¬ 
tives Nachbild und Vorstellungsbild ein. 

Trotz der gekennzeichneten engen Beziehungen zu gewissen psychopathischen 
Konstitutionsformen kann man die Träger der Anschauungsbilder niemals 
schlechthin als bedauernswerte konstitutionelle Psychopathen ansehen. Nur 
eine verschwindend geringe Anzahl — sicher nicht mehr als unter anderem 
Schülermaterial — fiel aus der Breite des psychisch und physisch als normal 
geltenden heraus. (Gerade in diesen Fällen aber offenbarten sich die An¬ 
schauungsbilder als ein diagnostisches Hilfsmittel von hohem Range, wie 
Verfasser in seiner erwähnten Publikation zeigen wird.) Die starke psycho¬ 
physische Labilität des Jugendlichen bewirkt, daß er sich auch in anderer 
Hinsicht sehr oft Formen annähert, die beim Erwachsenen schon als außer¬ 
halb des Bereichs des Normalen liegend betrachtet werden müssen, die aber 
beim Jugendlichen nur selten den Charakter von ausgesprochenen Krankheits¬ 
bildern tragen. Man befindet sich in Übereinstimmung mit anerkannten 
Anschauungen, wenn man zur Erklärung den Umstand heranzieht, daß im 
jugendlichen Organismus jenes Gleichgewicht der Stoffwechselvorgänge, im 
besonderen der Drüsenfunktionen, das dem gesunden Erwachsenen eigen¬ 
tümlich ist, noch nicht völlig erreicht wird, daß aber die hohe Umstellungs¬ 
und Anpassungsfähigkeit dieses Organismus im Laufe der Zeit Ausgleiche 
und Abklänge zu schaffen versteht, die einer drohenden Gefahr entgegenwirken. 

2. Häufigkeit und Verbreitung der Anschauungsbilder. 

Nachdem zunächst das Vorkommen von Anschauungsbildern im Unterricht 
gelegentlich festgestellt worden war und schnell improvisierte Klassenversuche 
sogar einen hohen Prozentsatz von Eidetikern ergeben hatten, schritten wir 
zu einer Untersuchung des gesamten Schülermaterials. Bezüglich der bei 
diesen Versuchen verwendeten Methoden verweise ich auf meine ausführlichere 
Publikation. Dort werden auch Methoden zum Nachweis der Realität der 
Anschauungsbilder angegeben, ebenso wird dort der bei flüchtiger Betrach¬ 
tung naheliegende Einwand, es handele sich hier um Suggestionswirkungen, 
abgewehrt. 


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Subjektive optische Anscbauungebiider bei Jugendlichen 


45 


Im folgenden wird das Ergebnis der Untersuchung sämtlicher Schüler der 
Oberrealschule nebst Reformgymnasium zu Marburg mitgeteilt. 1 ) 


Alter L J. 

1 

Anzahl der 
Schüler 
überhaupt 

2 

Anschauu 
hatten da 
hai 

Anzahl 

3 

ingsbilder 
von über- 
lpt 

%ßatz 

4 

Deut 

Anschauu 

hat 

Anzahl 

5 

liehe 

ingsbilder 
ten 
% satz 

6 

Verhältnis 
von Spalte 5 
zu Spalte 3 
(in Proz.) 

7 

19 

3 

0 

0 

0 

0 

_ 

19 

20 

7 

35 

1 

5 

14 

17 

41 

21 

51 

7 

17 

33 

16 

58 

37 

05 

20 

35 

54 

15 

43 

32 

72 

19 

44 . 

61 

14 

44 

29 

66 

20 

45«/, 

69 

13 

49 

27 

55 

19 

40 

70 

12 

45 

31 

69 

20 

44 

65 

11 

67 

37 

65 

23 

40 

62 

10 

17 

10 

59 

8 

47 

80 

9 

3 

1 

33 

0 

0 

— 


Es ist klar, daß die Gruppe der 19 Jährigen sowie die der 9 Jährigen schon 
aus fehlerstatistischen Gründen vernachlässigt werden müssen. Dann aber 
ergeben sich in Spalte 4 und 6 für die Altersstufen von 10—16 Jahren sehr 
hohe Werte mit relativ geringen Schwankungen. Mit dem 17. Jahre setzt 
eine rapide Abnahme ein, die vor allem in Spalte 6 deutlich in die Er¬ 
scheinung tritt und sich hier schon bei den 16 Jährigen anbahnt. Unsere 
Obersicht bringt zum Ausdruck, daß vom 10.—16. Lebensjahr im Durchschnitt 
65°/it aller Schüler Eidetiker waren — eine Zahl, die übrigens bemerkens¬ 
werterweise in den beiden stärksten Gruppen, bei den 16- bzw. 11 Jährigen 
auch genau erreicht wird. Der Anteil der Eidetiker mit deutlichen und 
detaillierten, d. h. aber pädagogisch besonders wichtigen Anschauungsbildern 
beträgt auf den Altersstufen vom 10.—15. Jahre durchschnittlich etwa 43 °/o. 
In Spalte 7 endlich erkennt man deutlich eine schon früh (mit dem 15. Lebens¬ 
jahre) einsetzende Tendenz zur Abnahme der Fälle höherer Bilddeutlichkeit 
in der Gesamtzahl der Eidetiker. 

Sowohl die festgestellten hohen Durchschnittswerte wie auch ihr auffälliges 
Zurücktreten von der Pubertät ab kennzeichnen die eidetische Anlage als 
eine ausgesprochene Jugendeigentümlichkeit. Dem entsprach ganz das Re¬ 
sultat parallel gehender Massenversuche an männlichen Erwachsenen (Stu¬ 
dierenden), bei denen nur etwa 7°/o Eidetiker festgestellt wurden. Was die 
geographische Verbreitung der eidetischen Anlage anbetrifft, so legen schon 
die Resultate der Typenuntersuchungen von W. Jaensch die Annahme nahe, 
daß bedeutende lokale Differenzen bezüglich der Häufigkeit bestehen. Es 
ist ja bekannt, daß gerade; die basedowoide und tetanoide Konstitution in 
gewissen Gebieten mit auffälliger Häufigkeit Vorkommen, so daß man geradezu 
von Basedowprovinzen reden kann. 2 ) So wird man damit rechnen müssen, 

l ) Das Alter ist hier durch die erreichte Anzahl von Jahren ausgedrückt, so daß z. B. die 
als 17 jährig Bezeichnten ein Durchschnittsalter von 17 */* Jahren haben usw. 

*) Der Umstand, daß Wien und seine Umgebung eine solche Basedow-Provinz bilden, macht 
verständlich, daß V. Urbantschitsch bei seinen Untersuchungen über subjektive optische An¬ 
schauungsbilder dort auch bei Erwachsenen auf ein so reiches Material stieß, ein Material allerdings. 


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46 


Oswald Krota 


daß mit der örtlich differierenden, größeren oder geringeren Häufigkeit und 
Ausgeprägtheit jener Typen auch die ihnen entsprechenden Anschauungsbild¬ 
formen bald mehr bald weniger häufig bzw. ausgeprägt auftreten werden. Unter¬ 
suchungen, die Schaler von E. R. Jaensch in verschie Jenen Teilen des Deutschen 
Reiches anstellten, bestätigten diese Annahme. Verfasser konnte z. B. fest¬ 
stellen, daß in Qöttingen Anschauungsbilder in geringerer Häufigkeit und 
Ausgeprägtheit auftreten als in Marburg. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, 
daß der Schüler, der unter den in Göttingen Untersuchten die deutlichsten 
Anschauungsbilder aufwies, aus Schlesien stammte und erst vor wenigen 
Jahren zugewandert war. 1 ) 

Durch eine Tabelle wie die voraufgegangene wird aber die Verbreitung 
der subjektiven optischen Anschauungsbilder nur unvollständig erfaßt. Unter 
Leitung von E. R. Jaensch sind indirekte Methoden ausgearbeitet worden, mit 
deren Hilfe rudimentäre eidetische Anlagen auch bei solchen Jugend¬ 
lichen nachgewiesen werden konnten, bei denen die sonst verwendeten 
direkten Methoden keinen positiven Befund lieferten (vgl. Zeitschr. f. Psychol., 
Bd. 87, S. 73 ff.). 

Wenn wir vorhin sagten, daß die subjektiven optischen Anschauungsbilder 
in der Regel in einem gewissen Aller verschwinden — bei unseren Versuchen, 
die sich über Jahre erstreckten, konnte mehrfach dieses allmähliche Ab¬ 
klingen und Verschwinden direkt beobachtet werden —, so trifft das nur 
teilweise zu. Bei den meisten Menschen lebt vielmehr das Anschauungsbild 
' auch später in mancherlei Formen und Verkleidungen weiter. So tragen 
fraglos bei der Mehrzahl der Menschen die Traumbilder den Charakter 
von Anschauungsbildem. Ähnliches gilt von vielen Synästhesien des 
Gesichtssinns (Diagrammen und Chromatismen), von Illusionen usw. Im 
besonderen gehören hierher die in der psychologischen Literatur als Sinnes¬ 
gedächtniserscheinungen beschriebenen spontanen subjektiven Gesichts¬ 
empfindungen. Auch die Halluzinationen stehen unseren Anschauungsbildern 
sehr nahe. 

Sogar bei normalen Wahrnehmungsvorgängen lassen sich Spuren 
von Anschauungsbildern unschwer nach weisen. Ja, es läßt sich sogar die 
Behauptung vertreten, daß das Anschauungsbild dann die Aufgabe einer 
zentralen Erfahrungs- bzw. Gedächtniskomponente der Wahrnehmung erfüllt 2 ). 
Auch bei der Ausfüllung gewisser Skotome (etwa der Ausfüllung des blinden 
Flecks oder der Fovea im Dunkelauge) stoßen wir auf subjektive Gesichts¬ 
erscheinungen vom Anschauungsbildtyp. 

Subjektive Sinneserscheinungen von der Art . der optischen AnschauungB- 
bilder lassen sich auch für die anderen Sinne unschwer nachweisen. 
Auf taktilem Gebiete scheinen sie etwa die Häufigkeit der optischen An¬ 
schauungsbilder zu haben, auf akustischem Gebiet sind sie weit seltener. 
Auch gustatorische und olfaktorische Anschauungsbilder sind gut bezeugt. 

• 

das durch seine stark apsycbonome Verbaltungsweise auffalleo muß. (Vgl. hierzu E.R. Jaensch, 
Zur Methodik experimenteller Untersuchungen an optischen Anschauungsbildern. Zeitschr. f. 
Psychol., Bd. 85, S. 37 ff.) 

*) Es liegt nahe, auf der Grundlage einer entwickelten Konstitutionslehre, über die wir zur 
Zeit noch nicht verfügen, an das Problem der geopsychischen Erscheinungen sowie der Stammes- 
und Rasseforschung heranzutreten. 

Vgl. E. R. Jaensch, Die Westmark. Märzheft 1921. 


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Subjektive optische Anscbauungsbilder bei Jugendlichen 


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Ihnen allen eignet die Empfindungsgemäßheit, die sie im Bewußtsein ihres 
Trägers scharf von Vorstellungen des gleichen Gebietes sondert. 

S. Einiges Aber die pädagogische Bedeutung der Anschauungsbilder. 

Die pädagogische Bedeutung der Anschauungsbilder beruht, wenn wir von 
ihrem Anteil am Aufbau der Wahrnehmungswelt und des intellektuellen 
Lebens absehen'), wesentlich auf der hohen Leistungsfähigkeit des 
Anschauungsbildgedächtnisses. 

Ein Beispiel: Einem 11jährigen Quintaner wurde eines Tages eine Serie 
von 19 der verschiedensten Objekte (Attrappen von Topfblumen, Soldaten 
und Heren, Inventarstücke aus Puppenküchen usw.) in bunter Folge in zwei 
Reihen angeordnet vorgelegt Nach einer Betrachtungszeit von 30 Sekunden 
wurden die Figuren abgedeckt. Der Schüler war nun imstande, sämtliche 
19 Objekte der Reihe nach sicher anzugeben, sie einzeln nach Form und 
Farbe eingehend zu beschreiben, sogar recht genaue Größen vergleiche auch 
zwischen nichtbenachbarten Objekten auszuführen. Um festzustellen, mit 
welcher Festigkeit die einzelnen Reihenglieder dem Gesamtbilde, das er vor 
sich auf grauem Projektionsgrunde sah, eingefügt waren, wurde ihm auf¬ 
gegeben, bestimmte Vertauschungen unter den Bildern vorzunehmen. Die 
Erfüllung der Aufgabe machte ihm keine Schwierigkeiten. Das ursprüngliche 
Bild wurde durch diese Manipulation so wesentlich verändert, daß der Ver¬ 
suchsleiter, um Überblick und Kontrolle zu behalten, die verlangten Um¬ 
stellungen an der Objektserie an verdeckter Stelle selbst ausführen mußte. 
Trotzdem war der Schüler imstande, die Objekte in schneller Folge auch in 
der neuen Anordnung ohne Auslassungen und Fehler zu nennen. 

Diejenigen Teilnehmer am 7. Kongreß für experimentelle Psychologie in 
Marburg, April 1921, die Gelegenheit hatten, dem Referat von E. R. Jaensch 
über subjektive optische Anschauungsbilder beizuwohnen, waren Zeugen einer 
Leistung, wie sie uns bei unseren Untersuchungen täglich entgegentrat. 
Jaensch legte seiner Versuchsperson ein eigens zu diesem Zwecke ge¬ 
zeichnetes Bild, das eine komische Straßenszene darstellte und eine Fülle 
von kleinen Einzelheiten aufwies, vor. Der Schüler hatte das Bild noch nie 
gesehen; auch unter dem Bildermaterial, das sonst bei Versuchen verwandt 
wurde, kam ein ähnliches Bild nicht vor. Während der Schüler sein An¬ 
schauungsbild beschrieb, wurde das Bild selbst auf die Leinwand projiziert, 
so daß jederTeilnehmer imstande war, die spontan und auf Befragen erfolgenden 
Angaben des Knaben zu kontrollieren. Es zeigte sich, daß ihm kaum eine 
der auf dem Bild dargestellten Einzelheiten entgangen war. 2 ) 

Gelegentlich kommt es sogar vor, daß auch solche Vorlageteile nachher 
im Anschauungsbild deutlich sichtbar sind, die infolge allzu kurzer Be¬ 
trachtungszeit oder aus anderen Gründen nicht bewußt aufgenommen waren. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß eine derartige Fähigkeit zu 
detaillierter, wahmehmungsgemäßer Wiedervergegenwärtigung des Gesehenen 

') BzgL dieser Bedeutung des Anschauungsbildgedflchnisses vgl. die au! S. 40 (Fußnote 1) 
«wähnten von E. R. Jaensch herausgegebenen Serien. 

s ) Die Verwandtschaft dieser Leistung mit der mancher Blindschachspieler ist nicht gut zu 
▼erkennen. In der Tat folgt auch aus den von Binet (La Psychologie des grands calculateurs 
et des joueurs d’öchecs) mitgeteilten Aussagen einer Reihe dieser Künstler, daß sie sich bei 
ihren Leistungen auf ausgesprochene Anschauungsbilder stützten. 


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48 


Oswald Kroh 


eine Mitgift der Natur darstellt, die in ihrer Bedeutung nicht gut überschätzt 
werden kann und die daher weitgehendste Berücksichtigung seitens der Päda¬ 
gogen verdient. Ihre Bedeutung wird noch erhöht, wenn man die im allgemeinen 
leichte Ansprechbarkeit des Anscbauungsbildgedächtnisses und seine enorme 
Dauerhaftigkeit — noch nach Monaten waren unsere jugendlichen Vpn. 
vielfach imstande, früher einmal projizierte Bilder mit überraschender Treue 
wieder hervorzurufen — in Betracht zieht. 

Allerdings besteht in der Einengung, die die Ansprechbarkeit des An¬ 
schauungsbildgedächtnisses durch Versagen der früher erwähnten selektiven 
Tendenzen erfahren kann, ein Faktor, der die unterrichtliche Verwendung 
der Anschauungsbilder einzuschränken geeignet scheint. Sie ist wohl auch 
einer der wesentlichsten Gründe dafür, daß eine Erscheinung von solcher 
Verbreitung und Tragweite bisher der Aufmerksamkeit der Pädagogen ent¬ 
gangen ist 1 )* Aber diese Einschränkung hat nur selten absolute Geltung. 
Sehr oft gelang es z. B. dem Verfasser durch kurze Bemerkungen und Hin¬ 
weise, Erklärungen und Ermutigungen nach erneuter Betrachtung der Vorlage 
auch in denjenigen Fällen ein Anschauungsbild hervorzurufen, in denen es 
ursprünglich auszubleiben schien. Gerade die philotrope Selektionstendenz, 
die hei unserem Versuchsmaterial eine erhebliche Rolle spielte, ist eine 
ausgesprochene Funktion des Interesses und erhält durch dieses ihren Wir¬ 
kungsbereich zugewiesen. 

Aus der Feststellung der jeweils wirksamen maßgebenden selektiven Ten¬ 
denzen erwachsen aber nicht nur pädagogische Aufgaben, nein, ihre Kenntnis 
besitzt auch selbst einen hohen pädagogischen Wert, insofern sie Grundzüge 
der geistigen Struktur enthüllt. Der Schüler, der sich Häßliches im An¬ 
schauungsbilde nicht zu vergegenwärtigen vermag, ist so gänzlich auf Schönes 
eingestellt, daß der Lehrer davon Kenntnis haben muß, wenn er überhaupt 
auf individuelle Behandlung seiner Schüler Wert legt. 

Das häufige Vorkommen der Gegenstandstendenz beweist unwider¬ 
leglich die Berechtigung der alten pädagogischen Forderung, die Schüler mit 
den Dingen selbst und nicht nur mit ihren Namen oder Bildern vertraut 
zu machen. 

Der starke Anteil, den namentlich an den spontanen Anschauungsbildem 
die Gegenstände und Probleme der manuellen, technisch konstruktiven — 
heute meist außerschulmäßigen — Tätigkeit des Schülers besitzen, zeigt im 
Verein mit den oft überraschenden Resultaten jener Tätigkeit, wie sehr der 
moderne Arbeitsunterricht der psychischen Struktur des Kindes ent¬ 
gegenkommt. Die meisten unserer eidetischen Techniker dachten sich ihre 
Apparate und Konstruktionen im Anschauungsbilde aus, Bie sahen das In¬ 
einandergreifen der Räder, die Wirkung der Transmissionen im Anschauungs¬ 
bild vor sich, ehe sie an den Bau herangingen. 

Sie gingen aber nicht bloß an die Arbeit heran, sie brachten sie auch in der 
Regel, wenn auch unter oft wochenlangem Bemühen, zu Ende. Denn — und 
darin beruht eine der wichtigsten pädagogisch bedeutsamen Wirkungen des 
Anschauungsbildes — es drängt zum Ausdruck. Den technisch Inter¬ 
essierten treibt es an, die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich der Ver¬ 
wirklichung seiner Pläne entgegenstemmen. Andere zeichnen, erzählen oder 


f ) Es ist hier nicht der Ort, auch die anderen Gründe auseinanderzusetzen. 


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Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlichen 


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schreiben nieder. Ganze Mappen voll Zeichnungen, Tagebücher voll von 
Erzählungen und Gedichten fanden sich in den Händen unserer jugendlichen 
Eidetiker. Es war auch sicher kein Zufall, daß mich zuerst ein auf selbständige 
Beobachtungen gegründeter naturkundlicher Vortrag eines Schülers, der den 
Stempel unmittelbaren Wiedererlebens trug, zu der Annahme führte, in dem 
Schüler einen Eidetiker vor mir zu haben. (Es ist nach dem früheren ver¬ 
ständlich, daß ein derartiger Einfluß des Anschauungsbildes gerade bei den 
Vertretern des B-Typs besonders deutlich in die Augen springt Auch im 
TB-Typ pflegt die T- Komponente meist nicht oder nur wenig zu stören. 
Zudem besteht nach den Untersuchungen von W. Jaensch sehr oft die 
Möglichkeit, die T-Komponente durch Calciumgaben zu beseitigen. 1 ) 

Noch deutlicher aber kann die Wirkung der subjektiven optischen Anschau- 
nngsbilder imschriftlichenAusdruckin die Erscheinung treten. Vorbedingung 
dafür ist, daß der Stoff jenen Tendenzen genügt, die wir vorhin als für das 
Zustandekommen der Anschauungsbilder in manchen Fällen wirksam erkannt 
haben. Außerdem darf natürlich der Aufsatz- bzw. Stilunterricht nicht die 
hemmenden und uniformisierenden Wirkungen ausüben, die ihm gelegentlich 
eigen sind. Je unmittelbarer der Stoff an das intimste persönliche Interesse 
des Schülers appelliert, je mehr der Schüler frei ist vom Einfluß der Norm 
und Schablone, je freier und ungezwungener er sich bei der Niederschrift 
fühlt, desto deutlicher muß der Einfluß des Anschauungsbildgedächtnisses 
auf den schriftlichen Ausdruck, sofern er überhaupt besteht, in die Erscheinung 
treten. Aus dieser Überlegung heraus ließ ich die Schüler einer Quarta, noch 
bevor der erste planmäßige Aufsatzunterricht einsetzte, das Thema „Meine 
Lieblingsbeschäftigung“ frei bearbeiten. Den Schülern wurde die Zusicherung 
gegeben, daß die Aufsätzchen unzensiert bleiben würden. Es zeigte sich nun, 
daß die meisten Arbeiten durchaus konventionell gehalten waren. In trockenen, 
einfachen Erzählsätzen waren die „Höhepunkte“ eines normalen Tageslaufes 
lose und unanschaulich aneinander gereiht. Der Darstellung fehlten jede 
Frische, Unmittelbai keit, Plastik und Einheitlichkeit. Daneben stand ein nicht 
unerheblicher Teil von Arbeiten mit gänzlich anderer inhaltlicher und stilisti¬ 
scher Gestaltung. Irgendeine besonders markante Episode aus dem Leben 
oder eine bevorzugte Beschäftigung war herausgegriffen, mit anschaulicher 
Plastik und vielem Detail geschildert. Das war kein bloßes Aufzählen, das 
waren wirklichkeitsgetönte Ausschnitte aus dem Leben. Bei der Sichtung 
des Materials zeigte sich nun, daß die Verfasser dieser Aufsätze Eidetiker 
waren. Die Schüler hatten aus ihren Bildern heraus geschaffen und waren 
,im Bilde“ geblieben, in einigen Fällen so sehr, daß sie, das Thema aus dem 
Auge verlierend, die Schilderung auch dann nicht abgebrochen hatten, als 
ihr Gegenstand längst aufgehört hatte, noch eine „Lieblingsbeschäftigung* 
zu sein. 

Aber darüber hinaus war sogar der besondere Charakter der Anschauungs¬ 
bilder aus der Darstellung deutlich zu erkennen. Ein Schüler mit akustischen 
Anschauungsbildem bevorzugte unverkennbar in seiner Schilderung akustische 
Erlebnisse; ebenso kam bei zwei anderen die für ihre spontanen Anschauungs- 


') In gleicher Weise konnten ancb die anderen Stigmen des T-Typs durch Kalkbebandlnng 
beseitigt oder abgeschwächt werden. W. Jaensch gewann so ein harmloses Mittel, gerade 
Anscbanungsbilder vom Charakter der Zwangsvorstellungen zu beseitigen. 

Zeltacbrtn f. pfidagog. Psychologie. 4 


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Oswald Krob, Subjektive optische Ansehauungsbilder bei Jugendlieben 


btlder charakteristische Sprunghaftigkeit auch in der Niederschrift deutlich 
zum Ausdruck. 1 ) Mit dem Resultat der Analyse stimmte die Aussage der 
Schüler, daß sie niedergeschrieben hätten, was sie vor sich sahen, völlig 
Überein. 

Auch bei Versuchen in anderen Klassen ergaben sich ähnliche Resultate, 
wenngleich auf den höheren Stufen der Aufsatzunterricht offenbar schon 
eine stark nivellierende Wirkung ausübte und in den untersten Klassen eine 
gewisse stilistische Schwerfälligkeit der auch hier bei Eidetikern sichtbaren 
Tendenz, lebendig und anschaulich einheitliche Episoden zu schildern, starke 
Hemmungen bereitete. Wie sehr man berechtigt ist, die erwähnten Eigen¬ 
schaften der freien schriftlichen Darstellung mit der eidetischen Anlage in 
Beziehung zu bringen, mag noch durch folgende Beobachtung unterstrichen 
werden. Der Deutschlehrer einer Klasse, dem ich von meinen Erfahrungen 
erzählt hatte, nannte mir auf Grund der ihm vorliegenden Klassenaufsätze 
einige Schüler, die „eigentlich Eidetiker sein müßten*. In der Tat stellte 
sieb bei einer nachher vorgenommenen Untersuchung heraus, daß diese 
Schüler Anschauungsbilder besaßen. 

Daß nicht alle Eidetiker an ihren Aufsätzen, auch nicht an ihrem münd¬ 
lichen Ausdruck erkannt werden können, wird verständlich, wenn man be¬ 
rücksichtigt, daß unter unserem Material die starren Formen des tetanoiden 
» Anschauungsbildes und seine verschlossenen Träger keineswegs selten waren. 

Im Zeichnen fiel die durchgängige Zeichenfreudigkeit der Eidetiker, ihre 
gute Raumverteilung und der enge Zusammenhang ihrer zeichnerischen Ver¬ 
suche mit den Gegenständen ihrer spontanen Anschauungsbilder auf. Dagegen 
war ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Grade der eidetischen 
Anlage und der künstlerischen Gesamtleistung nicht aufweisbar. Welche 
Schwierigkeiten dem Eidetiker bei dem Versuch, seine Anschauungsbilder 
unmittelbar zeichnerisch zu fixieren, erwachsen können, habe ich a. a. 0. 
(s. Fußnote S. 40) zu zeigen versucht. 

Ebenso ließen sich auch in den übrigen Unterrichtsfächern sehr häufig 
Beziehungen zwischen Arbeitsweise und Leistung einerseits und den Besonder¬ 
heiten des Anschauungsbild-Gedächtnisses andererseits nach weisen. Desgleichen 
bot die Analyse der eidetischen Anlage in vielen Fällen die Möglichkeit, be¬ 
sondere Verhaltungsweisen der Schüler im Unterricht (besonders lebhafte 
Beteiligung, Träumen, Sprunghaftigkeit, Unstetigkeit usw.) befriedigend zu 
erklären. Aber auch manche pädagogischen Maßnahmen erfahren durch 
die besondere Art, in der der Eidetiker auf sie zu reagieren pflegt, eine neue 
Beleuchtung. 

Besonders wertvoll war die Analyse der Anschauungsbilder für die Diagnose 
leicht psychopathischer Konstitutionen. Gerade hier zeigte sich das 
Anschauungsbild als ein Indikator von hohem Rang, der auch leicht psycho¬ 
pathische Formen schon in ihren Anfängen mit hoher Sicherheit zu bestimmen 
gestattet. 

Die vorstehenden Ausführungen wollen und können nur ein Totalbild ver¬ 
mitteln. Genaueres ist den zitierten Publikationen zu entnehmen. Vielleicht 
darf aber auch schon auf der Grundlage des hier Angedeuteten gesagt werden, 

') Verfasser hat in einer Untersuchung .Eidetiker nnter deutschen Dichtern* (Zeilachr. t 
l'sychol., Bd. 86i den Zusammenhang zwischen der eidetischen Anlage einiger Dichter nnd dar 
Art sowie den Resultaten ihres Schaffens aufzuzeigen versucht 


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Emil Kraepelin, Wesen tmd Ursachen der Homoseznalität 


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daß die subjektiven optischen Anschauungsbilder, die sich überdies als 
eine geeignete Grundlage für die Untersuchung wichtiger Probleme der Wahr- 
nehmungs- und Denkpsychologie erwiesen haben (vgl. im besonderen die S. 40 
zitierten Veröffentlichungen von E. R. Jaensch), sowohl für die allgemeine 
wie für die Jugendpsychologie und die auf beiden aufbauenden Wissen¬ 
schaften eine nicht zu unterschätzende Bedeutung besitzen. 


Wesen und Ursachen der Homosexualität') 

Von Emil Kraepelin. 

Die urwüchsigen Wächter unseres Daseins sind die Triebe, die unser 
Handeln ohne Oberlegung in bestimmte Richtungen drängen, unter Umständen 
selbst gegen unseren Willen. Ihre Macht verdanken sie ihrer Lebens¬ 
wichtigkeit; sie sind auf das engste verknüpft mit den Aufgaben der 
Selbsterhaltung und der Arterhaltung. Die erstere Gruppe von Trieben, 
der Nahrungstrieb, das Schlafbedürfnis, der Betätigungstrieb, die der Abwehr, 
der Flucht, dem Angriffe dienenden Triebe, sind vom Beginn des Lebens an 
wirksam, während der Fortpflanzungstrieb erst bei einer gewissen Reifung 
der Persönlichkeit zur Entwicklung gelangt Sein Hervortreten erfolgt beim 
Menschen verhältnismäßig spät, wenn es auch durch Rasse, Klima und per¬ 
sönliche Veranlagung verschoben werden kann. Beim Tiere vollzieht sich 
die geschlechtliche Entwicklung sehr viel früher. Ähnliches beobachten 
wir bei gewissen Formen der Idiotie, anscheinend im Zusammenhänge mit 
Störungen der Drüsentätigkeit, andererseits bei Entarteten mit unzulänglicher 
oder verspäteter Reifung der seelischen Persönlichkeit. 

Aus dem Zustande der Geschlechtslosigkeit heraus machen sich zu Beginn 
der Entwicklungsjahre zunächst unklare Triebregungen ohne erkennbares 
Ziel geltend, die sich in Gefühlen unbefriedigter Sehnsucht und suchenden 
Anschlußbedürfnisses äußern. Von den beiden Hauptrichtungen des Fort¬ 
pflanzungstriebes, dem Begattungs- und dem Brutpflegetrieb, meldet sich 
zunächst der erstere, der beim Manne dauernd im Vordergründe bleibt, 
während er bei der Frau in der Regel durch den letzteren überwogen wird. 
Naturgemäß erreicht der Begattungstrieb längere Zeit hindurch sein Ziel nicht, 
nicht nur wegen der Unbestimmtheit seiner Richtung, sondern namentlich 
wegen der Hindernisse, die Erziehung, Sitte und Absperrung der Geschlechter 
voneinander seiner Betätigung entgegensetzen. Die Folge davon sind, vor 
allem beim Manne, nächtliche Ergüsse, weiterhin aber häufig genug die 
Selbstbefriedigung, die durch Verführung erfahrener Kameraden besonders 
gefördert wird. 

An diesem Punkte beginnt die Gefahr. Bei frühem Erwachen und großer 
Lebhaftigkeit des Begattungstriebes, wie sie durch persönliche Veranlagung, 
aber auch durch Lebenseinflüsse, Bücher, Bilder, Schauspiele, Gefährten, be¬ 
günstigt werden kann, wird die Neigung zur Selbstbefriedigung sehr stark 
und hartnäckig werden können, besonders auch wegen der Leichtigkeit, mit 
der sie jederzeit ihr Ziel zu erreichen vermag. Dadurch aber wird nicht nur 


') Nach einem für Lehrer und Schulärzte gehaltenen Vortrage. 


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i 


52 Emil Kraepelin 


das natürliche Ziel des Begattungstriebes, die geschlechtliche Vereinigung, 
mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, sondern das geschlechtliche 
Begehren richtet sich allmählich ganz auf das eigene statt auf das andere 
Geschlecht. Allerdings pflegt diese Entgleisung bei sonst gesund veranlagten 
Kindern durch die Macht des immer entschiedener hervortretenden natürlichen 
Triebes rasch überwunden zu werden; die Selbstbefriedigung bleibt ein ver¬ 
hältnismäßig harmloses Zwischenspiel, ähnlich wie in sonstigen Lebenslagen, 
wo sie als Ersatz der natürlichen Befriedigung auftaucht, auf Schiffen, in 
Gefängnissen. Wo aber die Zielsicherheit des Triebes ungenügend ist, wie bei 
Entarteten, oder übermäßige geschlechtliche Begehrlichkeit schon früh die 
Gewohnheit der Selbstbefriedigung fest einwurzeln läßt, besteht die Gefahr 
eines dauernden Abirrens, das sich unter Umständen auch neben normaler 
geschlechtlicher Betätigung durch Jahrzehnte hindurch erhalten kann. 

Das Auftreten geschlechtlicher Regungen ist von lebhaften Stimmungs¬ 
schwankungen, Schwärmerei und starker Überschätzung der begehrten Per¬ 
sonen begleitet; es handelt sich hier gewissermaßen um einen Kunstgriff der 
Natur, der die Annäherung der Geschlechter begünstigt. Nunmehr entwickeln 
sich sinnlich gefärbte Freundschaften, zunächst natürlich oft zu dem ohne 
weiteres zugänglichen gleichen Geschlecht, die unter Umständen auch zu 
gegenseitiger geschlechtlicher Befriedigung führen. Damit verknüpft sich in 
der ersten Zeit vielfach eine bis zur Abneigung gehende Scheu vor dem 
anderen, unverständlich und fremdartig erscheinenden, zudem durch die 
Sitte abgesperrten Geschlechte. Sehr bald aber greift die Schwärmerei auch 
auf dieses über und drängt nunmehr die sinnliche Zuneigung zum eigenen 
Geschlechte rasch in den Hintergrund. Immerhin kann es in diesem Alter 
vorübergehend zu einer Art von Doppelgeschlechtlichkeit kommen, indem gefühls¬ 
selige Anlehnung an das eigene wie an das andere Geschlecht gesucht wird. 

Die volle Entfaltung des gesunden Triebes bängt beim Manne von der 
Fähigkeit zur Ausübung , des Geschlechtsverkehrs ab. Diese wird gefährdet 
einmal durch große Schüchternheit und Ängstlichkeit. Abgesehen von der 
Unsicherheit gegenüber dem völlig neuartigen Vorgänge können dabei ent¬ 
würdigende äußere Bedingungen, ferner die Furcht vor Ansteckung oder 
Schwängerung eine erhebliche Rolle spielen. Außerdem aber kann der Ge¬ 
schlechtsverkehr durch übergroße Erregbarkeit sowie durch Abstumpfung der 
natürlichen Regungen infolge von häufiger Selbstbefriedigung vereitelt werden. 
Ein derartiger Mißerfolg pflegt, besonders, wenn er sich wiederholt, was leicht 
eintritt, verhängnisvoll für die weitere Entwicklung zu werden. Das starke 
Unbehagen der Enttäuschung führt zu einer Verstärkung der vielleicht noch 
kaum überwundenen Abneigung gegen das Weib und zu einer entschiedenen 
Ablenkung des Geschlechtszieles auf das eigene Geschlecht, sei es in Form 
der Onanie, sei es in mannmännlichen Beziehungen. Entsprechend allgemeinen 
seelischen Erfahrungen wird das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit in ab¬ 
sichtliches Verschmähen der unmöglich gewordenen natürlichen Befriedigung, 
ja schließlich in eine höhere Bewertung der an ihre Stelle getretenen Ver¬ 
irrung umgewandelt 

Eiine sehr bedeutende Rolle spielt bei allen diesen Entgleisungen des Ge¬ 
schlechtstriebes die Verführung. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, daß 
die mannmännliche Liebe im Altertum verbreitete Sitte war und auch heute 
noch in südlichen und östlichen Ländern ungleich häufiger ist als bei uns, 

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Wesen und Ursachen der Homosexualität 


53 


sondern auch ihr massenhaftes Auftreten in Großstädten und ihr Anwachsen 
in den letzten Jahrzehnten. Es ist in zahllosen Einzelfällen möglich, den 
entscheidenden Einfluß entgleister Personen auf die Entwicklung und die 
Befestigung geschlechtlicher Verirrungen unzweifelhaft festzustellen. Zu¬ 
zugeben ist allerdings, daß eine solche Verführung nur dort Erfolg hat, wo 
der Boden durch frühzeitige Onanie oder geschlechtliche Mißerfolge vor¬ 
bereitet ist. 

Gegenüber dieser Auffassung, die in der Homosexualität gewissermaßen 
das Steckenbleiben der seelischen Geschlechtsentwicklung auf einer Stufe 
unvollkommener Reifung erblickt, ist von jeher mit großem «Nachdrucke die 
auch heute noch weit verbreitete Anschauung vertreten worden, daß jene 
Verirrung durch die besondere Veranlagung der Betroffenen von vorn 
herein schicksalsmäßig festgelegt sei. Es soll 6ich um eine weibliche Seele 
in einem unglücklicherweise männlich gebauten Körper, um eine Art Zwitter¬ 
bildung, um Zwischenstufen zwischen männlicher und weiblicher Persönlichkeit 
handeln. Die Homosexuellen würden demnach eine besondere Abart, ein 
drittes Geschlecht, darstellen, das dieselben Rechte auf staatliche Anerkennung 
seiner Eigenart erheben darf wie die beiden anderen. 

Zur Begründung dieser Ansicht wird zunächst auf das frühzeitige Hervor¬ 
treten der Abirrung und ihre triebhafte Eindeutigkeit hingewiesen. Das vor¬ 
zeitige Erwachen geschlechtlicher Regungen ist, wie früher ausgeführt, Zeichen 
einer Entwicklungsstörung und birgt an sich schon die Gefahr der Ablenkung 
von dem natürlichen Geschlechtsziel auf die Selbstbefriedigung und späterhin 
auf mannmännliche Beziehungen in sich. Von einer Eindeutigkeit kann aber 
insofern keine Rede sein, als wir bei diesen Entarteten häufig genug ein 
langes, selbst dauerndes Schwanken zwischen beiden Geschlechtern beobachten. 
Auch die vielfach stark betonte frühzeitige Abneigung gegen das andere 
Geschlecht beweist gar nichts für die ursprüngliche Festlegung der Homo¬ 
sexualität. Sie läßt sich einfach aus dem Fortbestehen der das Entwicklungs¬ 
alter einleitenden, ablehnenden Haltung erklären, die weiterhin durch Scheu 
oder das Gefühl der eigenen Unfähigkeit verstärkt wird. Daß bei den Er¬ 
zählungen über geschlechtliche Jugenderlebnisse zweifellos öfters auch nach¬ 
trägliche Umdeutungen mitspielen, sei nur nebenbei erwähnt. Als besonders 
starker Beweis für die scbicksalsmäßige Begründung der Homosexualität 
pflegt immer der Umstand angeführt zu werden, daß bei ihr die seelischen 
Neigungen wie die gesamte Lebensführung sich dem anderen Geschlechte 
annähern, ja, daß auch die Körperbildung solche Übergänge zeigen kann. 
Dagegen ist zunächst zu bemerken, daß sich dem eigenen Geschlechte nicht 
entsprechende Liebhabereien und Gewohnheiten sehr wohl mit gesundem 
geschlechtlichem Empfinden verbinden können, daß sie aber andererseits 
naturgemäß die Folge einer Verirrung bilden werden, die sich bewußt oder 
unwillkürlich der neuen Rolle anzupassen bestrebt ist. Die Feststellung 
körperlicher Angleichungen an das andere Geschlecht aber ist in hohem 
Grade willkürlich, und es ist bisher nicht der geringste Beweis dafür erbracht, 
daß die beobachteten Abweichungen in irgendeiner gesetzmäßigen Beziehung 
zu den Entgleisungen des Geschlechtstriebes stehen. Immerhin wird man 
zugeben können, daß auffallendere Abweichungen des Körperbaues im Sinne 
des anderen Geschlechtes dem Hinübergleiten in die Homosexualität einen 
gewissen Vorschub leisten können. 


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Emil Kraepeün 


Von durchschlagender Bedeutung für die Zwittematur der Homosexuellen 
schienen aber endlich die Versuche Steinachs zu sein, dem es anscheinend 
gelang, durch Einpflanzung von Geschlechtsdrüsen bei Tieren deren Verhalten 
im Sinne der übertragenen Drüse (Weitgehend zu beeinflussen. Abgesehen 
davon, daß diese Versuche noch dringend weiterer Nachprüfung bedürfen, 
lassen sich die Erfahrungen an Tieren mit überwucherndem Geschlechtsleben 
durchaus nicht ohne weiteres auf Menschen übertragen. Die spärlichen Be¬ 
richte über den Erfolg ähnlicher Eingriffe am Menschen aber sind deswegen 
ganz und gar nicht beweiskräftig, weil die Homosexualität, wie die Behandlungs¬ 
versuche mit der Hypnose lehren, suggestiven Beeinflussungen recht zugänglich 
ist. Es muß aber auch betont werden, daß die Anschauung, die Grundlage 
der Homosexualität s$i eine Zwitterbildung der Geschlechtsdrüsen, aus all¬ 
gemeinen Gründen schlechterdings unannehmbar ist Schon die zwittrige 
Verbildung der äußeren Geschlechtsteile ist so ungemein selten, daß eine 
irgendwie häufigere Mißbildung der Geschlechtsdrüsen selbst, auf denen die 
gesamte Erhaltung der Art beruht, durchaus undenkbar erscheint. Be¬ 
sonders muß aber auch noch auf die Erfahrung hingewiesen werden, daß 
bei der seltenen wirklichen Zwitterbildung die Art der Geschlechtsdrüsen das 
geschlechtliche Verhalten ihrer Träger keineswegs eindeutig zu bestimmen 
pflegt. Erziehung und Gewohnheit scheinen jedenfalls eine weit größere 
Rolle zu spielen, so daß unter Umständen erst die Untersuchung nach dem 
Tode das wirkliche Geschlecht sicher festzustellen vermag. 

Ein helles Licht auf die Entstehungsbedingungen der Homosexualität wirft 
aber ihr vielfacher Zusammenhang mit den übrigen geschlechtlichen Ver¬ 
irrungen. Onanie, Exhibitionismus, Sadismus und Masochismus, Fetischismus 
verbinden sich untereinander und mit der Homosexualität so häufig, daß sie 
nur als verschiedenartige Gestaltungen derselben Grundstörung, eben des 
Abgleitens der Triebrichtung aus der natürlichen Bahn, begriffen werden 
können. Außer den besprochenen allgemeinen und persönlichen Vorbedingungen 
sehen wir bei diesem Vorgänge ganz gewöhnlich bestimmte Lebenserfahrungen 
eine entscheidende Rolle spielen. Am deutlichsten tritt das beim Fetischismus 
hervor, dessen mitunter ganz abenteuerliche Gestaltungen ihre Form gewöhn¬ 
lich unmittelbar durch solche Erlebnisse erhalten. Da es sich dabei oft um 
an sich ganz belanglose Vorgänge und Eindrücke handelt, werden wir den 
letzten Grund der Verirrung in der ungenügenden Zielsicherheit des früh¬ 
zeitig erwachenden und darum zunächst unsicheren Geschlechtstriebes zu 
sehen haben, die modelnden und ablenkenden Einflüssen unerwünschte An¬ 
griffspunkte bietet. Bei der Entstehung der Homosexualität ist es ganz be¬ 
sonders die längere Zeit hindurch getriebene Selbstbefriedigung, die das ge¬ 
schlechtliche Begehren ganz auf das eigene Geschlecht einstellt und damit 
die natürlichen Regungen mehr und mehr in den Hintergrund drängt. 

Aus dieser Feststellung muß vor allem die wichtige Tatsache abgeleitet 
werden, daß die Homosexualität gezüchtet werden kann, was ohne¬ 
dies durch ihre ganz verschiedene Verbreitung zu verschiedenen Zeiten, in 
verschiedenen Gegenden, Volksschichten und Berufen völlig sichergestellt 
wird. In diesem Umstande liegt die ungeheure Gefahr für die unreife Jugend, 
zugleich aber auch die Aussicht, durch tatkräftige Bekämpfung der Ver¬ 
führung Erfolge zu erzielen. Wir dürfen uns darüber nicht täuschen, daß 
in den letzten Jahrzehnten, namentlich aber seit Kriegsende, die Wühl- 


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Wesen und Ursachen der Homosexualität 


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and Werbearbeit der Homosexuellen eine außerordentliche Zunahme erfahren 
hat Die Versendung von einschlägigen Bildern und Flugschriften, ja von 
einer eigenen Zeitschrift, ffir die'Erlaubnis zum Straßenverkauf angestrebt 
wird, die Vermittlung gegenseitiger Beziehungen durch verblümte Anzeigen, 
die „Aufklärung* 1 weiter Kreise durch Vorträge und Films hat einen 
ungeahnten Umfang angenommen. Auch Bestrebungen von Wissenschaft* 
hchem Anstrich, umfangreiche Bücher und Zeitschriften, die Gründung 
des .wissenschaftlich-humanitären Komitee“, neuerdings die Gründung einer 
„Akademie für Sexualwissenschaft“, haben vielfach dazu dienen müssen, die 
Forderungen der Homosexuellen nach staatlicher Anerkennung zu unter¬ 
stützen. Dazu kommt das ebenso leichtfertige wie wirksame Verfahren, auf 
Grund ganz unzulänglicher Anhaltspunkte alle möglichen hervorragenden 
geschichtlichen Persönlichkeiten ohne weiteres zu Vertretern der gleich¬ 
geschlechtlichen Liebe zu stempeln, endlich die aus der Geschlechtsüber¬ 
schätzung hervorgehende Neigung der Homosexuellen, sich und ihresgleichen 
zu verhimmeln und als die Blüte des Menschengeschlechts hinzustellen. 
Diese umfangreiche und vielseitige Wühlarbeit ist nicht ohne erschreckende 
Erfolge geblieben. Während der erste in der Deutschen wissenschaftlichen 
Literatur 1860 von Casper veröffentlichte Fall wegen seiner Fremdartigkeit 
noch großes Aufsehen erregte, pflegen heute schon Schüler und Schülerinnen 
mit den verschiedenen Formen geschlechtlicher Verirrungen unangenehm 
vertraut zu sein. Die Zahl der jedermann zugänglichen Schriften über 
diese Fragen ist ins ungemessene angeschwollen, und in den Großstädten 
wimmelt es geradezu von gewohnheits- und gewerbsmäßigen Vertretern der 
gleichgeschlechtlichen Liebe. 

Die Gefahren dieser ungesunden Entwicklung bedrohen vor allem unser 
kostbarstes Volksgut, unsere Jugend! Gerade sie ist es, die, wie beim 
natürlichen Liebesspiel, so auch bei der gleichgeschlechtlichen Liebe in 
erster Linie begehrenswert erscheint und darum den schwersten Verführungen 
ausgesetzt ist. Das ist um so bedenklicher, als bei ihr das Triebleben noch 
unentwickelt und schwankend ist und somit ablenkenden Einflüssen am 
wenigsten Widerstand entgegenzusetzen vermag. Die frühreifen, geistig reg¬ 
samen, schwärmerisch und künstlerisch veranlagten Kinder sind besonders 
bevorzugt und gefährdet Ihnen kann die Begegnung mit einem Verführer 
zum schwersten Verhängnis werden und ihr ganzes Lebensglück vernichten. 
Wenn auch für ein Mädchen die Homosexualität verhältnismäßig wenig ins 
Gewicht fällt, 60 wird der verführte Knabe nicht nur mit großer Wahrschein¬ 
lichkeit unfähig zur Erzeugung von Nachkommenschaft, sondern er schwebt 
auch dauernd in der Gefahr, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu 
werden. Außerdem wird er fast notwendig selbst zum An^teckungaherd, von 
dem aus sich das Obel weiter verbreitet. 

Diese Überlegungen machen es klar, daß jeder Einsichtige verpflichtet ist, 
den Kampf gegen die Ausbreitung der Homosexualität mit allen 
Mitteln zu führen, daß aber vor allem diejenigen Stände, denen die Für¬ 
sorge für das heranwachsende Geschlecht anvertraut ist, die Lehrer und die 
Ärzte, in diesem Kampfe vorangehen müssen. Man kann dabei sehr wohl 
den Standpunkt einnehmen, daß der jetzt bestehende § 176 des Strafgesetz¬ 
buches abänderungsbedürftig sei. Daß er nahezu unwirksam ist, hat die 
Erfahrung gelehrt, und überdies berührt es das öffentliche Wohl wenig, 

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Emil Kraepelin, Wesen und Ursachen der Homosexualität 


wenn erwachsene Menschen sich in einer ihren persönlichen Neigungen ent¬ 
sprechenden, wenn auch noch so ekelhaften Form geschlechtlich befriedigen, 
soweit dadurch kein öffentliches Ärgernis' gegeben wird. Um so entschiedener 
aber müssen wir den Schutz unserer Jugend und in engstem Zusammen¬ 
hänge damit die rücksichtslose Unterdrückung jeder öffentlichen An¬ 
reizung und Anpreisung, sowie jeder persönlichen Verführung Minderjähriger 
zur gleichgeschlechtlichen Liebe fordern. In zielbewußter Kleinarbeit gilt 
es ferner, alle die Kanäle abzugraben, durch die das Gift jetzt schon der 
Jugend zugeleitet wird, und in ihr selbst die Kräfte zu wecken, die sie gegen 
seine Einwirkungen schützen. Der erste Schritt auf diesem Wege ist die 
klare Erkenntnis vom Wesen und den Entstehungsbedingungen des Feindes, 
den es zu bekämpfen gilt. Aus ihr ergeben sich von selbst die Waffen, die 
uns gegen ihn zu Gebote stehen, und die Art, wie wir sie anzuwenden haben. 


Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik. 

Von Aloys Fischer. 

In den Untersuchungen über das Pädagogikstudium an den Hochschulen 1 ) 
versuchte ich, die Grundlagen und Folgerungen der noch immer gegensätz¬ 
lichen Auffassungen der Erziehungswissenschaft und der Stellung zur Frage 
ihrer Akademisierung klarzulegen und zum Ausgleich zu bringen. Oberblicke 
ich den Gang dieser Überlegungen, so bahnt sich die Möglichkeit an, zu einer 
Art Lehrplan für das Pädagogikstudium zu gelangen, der solche Einrichtungen, 
die für die Pflege der Erziehungswissenschaft als reiner Theorie dienlich 
sind, und andere, die vor allem auf ihre Nutzbarmachung für den gesell¬ 
schaftlichen Zweck der Ausbildung von Berufserziehern absehen, in innere 
Verbindung zu setzen, vergleichbar etwa der in naturwissenschaftliche und 
klinische Studien zerfallenden theoretischen, und der das Praktikum am 
Krankenbett und eine geschlossene, geleitete und überwachte Probezeit um¬ 
fassenden praktischen Ausbildung der Ärzte. 

Ein solches Fazit unserer Überlegung dürfte m. E. auch einem in den 
Kreisen der Studierenden und Lehrer gespürten Bedürfnis entgegenkommen. J ) 
Die Zahl der Personen, die ihr hauptwissenschaftliches Studium der Pädagogik 
widmen, nimmt zu und wird, einerlei wie die schließliche Regelung der 
Lehrerbildung auch ausfallen mag, noch weiter wachsen. Die Studierenden 
der Pädagogik sind heute nach dem Gang ihrer Vorbildung und nach den 
Endzwecken ihres Studiums noch verschiedener als andere Studentengruppen; 
deshalb steht der Einzelne der Frage, wie er seine Hochschulbildung an fangen 
und einrichten sdll, oft verlegener und ratloser gegenüber als der Kommilitone, 
der etwa Rechtswissenschaft oder Philologie gewählt hat. Die Hochschulen 
die den Aufgaben des Studiums und Unterrichts der Pädagogik erst seit 
kurzem allgemein näher treten und für sie noch recht ungleich mit den ent¬ 
sprechenden dinglichen und persönlichen Hilfsmitteln ausgestattet sind, konnten 

>) Diese Zeitschrift, 1921, S. 273. 

*> Zum Beweis für dies Bedürfnis verweise ich auf den von Otto Karstadt herausgegebenen 
.Wegweiser für das Hochschulstudium des Lehrers“ in 2 Teilen, Osterwieck a. Harz (Zickfeldt), 
der Obersichten über die geltenden neueren Bestimmungen und praktische Ratschläge enthält. 


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Aloys Fischer, Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik 


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selbst noch keine Tradition ausbilden, die die Führung des Anfängers über¬ 
nehmen könnte. 

Im Hinblick auf die Lage sowohl der Pädagogik wie ihrer Interessenten 
scheint mir ein Generalstudienplan weder möglich zu sein noch den Bedürf¬ 
nissen zu entsprechen. Deshalb gehen die folgenden Überlegungen von den 
auch noch in der nächsten Zeit wahrscheinlichen Hauptgruppen der Studieren¬ 
den dieses Faches aus und stellen die für die pädagogische Bildung wünschens¬ 
werten Studien hinein in den Zusammenhang ganzer Berufsbildungsgänge, 
die wenigstens in ihrem praktischen Ergebnis noch verschieden sind. 

Wer Pädagogik als Wissenschaft studieren will, mit der Absicht, später 
selbst als pädagogischer Forscher zu arbeiten, für den muß ich verlangen, 
daß er zunächst einmal die pädagogische Praxis so ausgedehnt und tief 
als möglich kennen lernt. Das kann geschehen z. B. dadurch, daß er selbst 
einige Zeit lehrt und erzieht, womöglich auf allen Stufen des Bildungs¬ 
prozesses. Die Geschichte der pädagogischen Wissenschaft zeigt, daß aus 
solch intensiver und aktiver Berührung mit der Praxis vielfach die frucht¬ 
barsten Erkenntnisse hervorgewachsen sind. Ich sage, die Berührung mit 
der Praxis der Erziehung kann durch eigene Erziehungs- und Lehrtätigkeit 
gesucht werden, sie muß aber nicht in jedem Fall auf diesem Wege erstehen. 
Es ist unter Umständen noch ergiebiger, durch Reisen, Studienaufenthalte, 
Hospitieren, Einblick in die Schulverwaltung und andere Mittel sich eine in 
vieler Hinsicht umfassendere und nicht notwendig oberflächlichere Anschauung 
von der Erziehungswirklichkeit zu verschaffen. 

Wer selbst praktische Erziehungsarbeit leistet, steht unter dem Druck einer 
Verantwortung, der unter Umständen die erkennende Geisteshaltung aus- 
Bchließt; er wird Erfolge sehen, nicht Einsichten gewinnen wollen. Eine 
fortlaufend selbstkritische Einstellung, eine beständig rückschauende Über¬ 
prüfung seiner Maßnahmen, wie sie für Gewinnung von Erkenntnissen er¬ 
fordert wird, gefährdet die Zuversicht, jedenfalls die Naivität der Wirkung. 
Und wenn der Einzelne als Praktiker auch noch so beweglich und erfinderisch 
ist, er wird über einen gewissen Kreis von Möglichkeiten nicht hinauskommen; 
es fehlt ihm eine zu vergleichender Erkenntnis wünschenswerte Mannigfaltig¬ 
keit der Verfahren, Methoden, Personen. Pädagogisches Wirken setzt als 
psychologische Bedingung im Erzieher Glauben an sich selbst voraus; als 
Einstellung des wissenschaftlichen Menschen ist dieser Glaube gefährlich, 
gebiert er leicht die Voreingenommenheit für die eigenen Erfahrungen und 
Theorien, Enge des Blickes und vorschnelle Erstarrung. Wer mit wissen¬ 
schaftlicher Absicht die Praxis anderer betrachtet, wird leichter hinter die 
Relativität aller methodischen Standpunkte kommen, als wenn er selbst sich, 
teils aus Not und teils aus Gewöhnung, auf eine eigene Art praktischer Arbeit 
festlegte. Man kann natürlich geltend machen, daß eigenes pädagogisches 
Tun unter Umständen die Innenseite der erzieherischen Tatsachen und Zu¬ 
sammenhänge näherbringt, während eine „bloße" Anschauung der pädago¬ 
gischen Praxis anderer leicht an den Äußerlichkeiten haften bleibt; es läßt sich 
nicht bestreiten, daß die eigene Praxis nicht nur Nachteile, sondern auch bedeut¬ 
same Vorzüge hat für den, der erkennen will, was lebendige Erziehung ist, 
wie umgekehrt die Beobachtung und das Studium der pädagogischen Vor¬ 
gänge durch Reisen, Besichtigungen und Kontrollen, durch Vergleich und 
Austragung nicht nur Vorzüge, sondern auch Nachteile einschließt. Wenn ich 


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Aloys Fischer 


recht sehe, ist gerade für einen Theoretiker die größere Mannigfaltigkeit der 
Tatsachen, Einrichtungen, Personen, Methoden, Hilfsmittel usw. ein Vorzug; er 
verbreitert dadurch die Basis fDr seine Begriffsbildungen; und diese Fülle — 
allerdings mehr mittelbarer — Erfahrungen gewinnt man leichter durch die 
pädagogische Studienreise als durch versuchsweise Praxis. Die letztere müßte 
einen Mann zweifellos an vielerlei Schulen und Anstalten führen, ihn mit den bei¬ 
den Geschlechtern, den Verschiedenheiten der Begabungen und der Berufsinter- 
essen in Berührung bringen, um ähnlich ergiebig zu sein. Am besten wird ein 
Mann fahren, wenn er auf beiden Wegen die Berührung mit der Praxis sucht 
und gewinnt, in zeitweise eigener Erziehungsübung und zeitweise planmäßiger 
Beobachtung. Bedenken wir aber die allgemeinen Verhältnisse eines Studenten 
und jungen Gelehrten, so werden wir sagen müssen, daß er für seine doch 
theoretischen Endabsichten mehr gewinnt, wenn er, ohne selbst zu lehren 
und zu erziehen, möglichst viele Studiengelegenheiten zur Beobachtung der 
Praxis ausnutzb 

Wenn ich von meinem eigenen Werdegang exemplifizieren darf, so stelle 
ich fest, daß ich viele Zeit meines Lebens dazu verwandt habe, mir Kindergärten, 
Internate, Schulen aller Art, Versuchsgründungen anzusehen, mit den in ihnen 
wirkenden Persönlichkeiten Fühlung zu gewinnen, ihre Lehrpläne, Methoden, 
Hilfsmittel zu studieren, ihre Erfolge und Schwierigkeiten auf mich wirken 
zu lassen. Immer wieder spüre ich den Impuls, mit der Wirklichkeit, dem 
pädagogischen Leben in der Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungen in Be¬ 
rührung zu kommen, und die kleinen und großen Schranken, die hier dem 
außerhalb der Praxis stehenden doch gezogen sind, empfinde ich als beträcht¬ 
liche Erschwerung gerade der theoretischen Arbeit. Eben diese Wirklichkeit 
des pädagogischen Lebens soll ja die Theorie durchleuchten — wie kann sie 
das ohne die Möglichkeit umfassenden Blickes auf sie? Freilich hat das 
Studium der Praxis beim Theoretiker eine andere Zielung: er will nicht selbst 
praktizieren, also auch nicht die Praktiken lernen, sondern er will erkennen 
und verstehen. Für jeden, der Pädagogik als Wissenschaft treibt, muß des¬ 
halb als Verpflichtung die lebendige dauernde Fühlung mit den Wirklichkeiten 
des Erziehungs- und Schullebens ausgesprochen werden, für jeden, der Päda¬ 
gogik mit späterer wissenschaftlicher Endabsicht studieren will, muß durch die 
ausbildenden Hochschulen entsprechende Gelegenheit zur Anschauung der Er¬ 
ziehungswirklichkeit geschaffen werden. 

Da die Hochschulen sich in der Regel an Orten mit zahlreichen öffentlichen 
und privaten Erziehungs- und Unterrichtsanstalten befinden, dürfte es nicht 
schwer fallen, der Vertretung der Pädagogik das Recht zu gewähren, diese 
Anstalten und Schulen nach festem Plan und mit Zustimmung der Kollegien 
bezw. der praktisch an ihnen wirkenden Lehrer und Erzieher zu Führungen, 
Vorweisungen, kurz: zu einem Anschauungsunterricht in Pädagogik heranzu¬ 
ziehen. In manchen Fällen hat sich der Vertreter der Pädagogik durch persön¬ 
liche Beziehungen vor allem zu privaten Anstalten helfen können, in anderen 
wurden wenigstens Besichtigungen der Gebäude, Lehrmittehammlungen und 
anderen toten Inventars gestattet. Wenn in der Gegenwart die Forderung der 
Öffentlichkeit des Unterrichts so betont wird, so sollten wenigstens diejenigen 
davon Nutzen haben, die selbst wieder Sachverständige ünd Fachleute der 
Erziehung werden wollen oder als Forscher zum Ausbau der Einrichtungen 
beizutragen in die Lage kommen werden. Nach meinem Dafürhalten wäre 


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Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik 


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es der kürzeste Weg, wenn die staatlichen Unterrichtsverwaltungen der aka¬ 
demischen Vertretung der wissenschaftlichen Pädagogik die Ermächtigung 
geben, mit einer Anzahl von öffentlichen Erziehungs- und Schulanstalten 
eine von allen beteiligten Direktoren und Lehrern gebilligte Vereinbarung zu 
treffen, in welcher Weise eine derartige Verwertung für die Zwecke des 
Studiums erfolgen kann. Die Modalitäten werden nicht immer und überall die 
nämlichen sein können, aber ich bin überzeugt, daß bei gutem Willen immer eine 
Form zu finden ist, in der die Arbeit der Anstalten nicht gestört, die Erzieher 
und Lehrer sich nicht „beaufsichtigt* oder geschulmeistert fühlen, sondern um¬ 
gekehrt als Erläuternde und Rechtfertigende aktiv an diesem Demonstrations¬ 
unterriebt mitwirken und die Studierenden vor dem Wahn bewahrt bleiben, sie 
könnten das Gesehene und Gehörte entweder sofort auch machen oder gar besser 
machen. Gewiß erfordert dieser Anschauungsunterricht von seinem Leiter 
eine eigene Technik der Vorbereitung, Führung, Anleitung zu arbeitsteiliger 
Beobachtung und Nachbesprecbung, aber wie der in pädagogischer Endabsicht 
betriebene Psychologieunterricht eigene Wege ging und geht , l ) so wird auch 
der pädagogische Unterricht neue Bahnen einschlagen müssen und hat es 
teilweise schon getan. Für einen Besichtigungsgang z. B. können kleine 
Gruppen gebildet werden, von denen jede außer dem möglichst unbeeinflußt 
zu lassenden Gesamteindruck Material zu einer bestimmt gestellten Beob¬ 
achtungsaufgabe etwa die Lüftungsanlagen, die Raumgliederung und die 
Ausstattung der Wände, die Manieren der Zöglinge in allen Richtungen 
zu sammeln hat. Für die Teilnahme an einer Unterrichtslektion lassen sich 
entsprechende Einzelbeobachtungsaufgaben für kleine Gruppen formulieren. 
Ich glaube von weiterer Verdeutlichung absehen zu können, ich möchte unter 
keinen Umständen den Anschein erwecken, als solle und könne auf diesem 
Neuland schon nach besten Rezepten verfahren werden. Zudem hängen ja 
'wohl die Beobachtungsaufgaben von dem Endzweck ab, den die Leitung 
verfolgt, und deshalb können sie bei denselben pädagogischen Veranstaltungen 
beträchtlich wechseln. Für den, der mit theoretischer Absicht an solchem 
Anschauungsunterricht teilnimmt, ist das Ergebnis unter allen Umständen 
ein Schatz selbstgewonnener Beobachtungen der pädagogischen Wirklichkeit, 
Einsicht in die Unerschöpflichkeit wie jeder, so auch der pädagogischen 
Realität, Versicherung gegen die Leere bloß konstruktiver Begriffe und die 
Zufälligkeit des Materials, Übung für den zergliedernden und kritischen 
Geist 

In steter Verbindung mit der originalen Anschauung des pädagogischen 
Lebens geschieht dann die Einführung in die Geschichte dieses Lebens, 
d. h. die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Erziehungszuständen wie 
mit den Erziehungsgedanken der Menschheit. Man kann eine so umfassend 
intendierte Geschichte der Pädagogik erfolgreich freilich nur auf der Basis 
eines historischen Verständnisses der menschlichen Geistesentwicklung über¬ 
haupt treiben, d. h. auf der Basis von Kulturgeschichte, Gesellschaftswissen¬ 
schaft und Geschichte der Philosophie. Vermittelt der vorhergeschilderte 
pädagogische Anschauungsunterricht die Berührung mit der Erziehungswirk¬ 
lichkeit der Gegenwart und des eigenen Kulturkreises, so erweitert die Ge- 


*) Vgl. dazu meine Ausführungen .Zur Theorie und Technik des psychologischen Demonstrations- 
▼eraucha*. (Die Lehrerfortbildung, 2. Jahrg. 1917, S. 3—12 u. 64f.). 


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Aloys Fischer 


schichte der pädagogischen Ideen und Zustände den Blickkreis räumlich und 
zeitlich in weitere Fernen. Selbstverständlich ist die Geschichte der Erziehung 
und Erziehungswissenschaft noch in der Entwicklung begriffen, kein Theo* 
retiker der Pädagogik kann ungestraft auf die Ärmelfilhlung mit den Arbeiten 
der historischen Pädagogik verzichten, ja bis zu einem gewissen Grad wird 
er — trotz der sonst empfehlenswerten Arbeitsteilung — auch selbst forschend 
sich mit zu betätigen haben. Jedenfalls aber ist die historische Orientierung 
in der Vorbereitung nicht zu entbehren, selbst wenn der gelehrte Päda- 
gogiker später nur als pädagogischer Psychologe oder als Didaktiker oder als 
Organisator schöpferisch arbeiten will. Nun teilt die Geschichte der Erziehung 
mit den anderen Teilgebieten der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte das 
Schicksal, nicht für sich allein getrieben werden zu können; die Abhängigkeit 
der Bildungsideale und Erziehungszustände vom Stand der Wissenschaft, von 
der Gliederung der Gesellschaft, von den sittlichen Zuständen, von Wirtschaft, 
Kunst und Technik einer Zeit ist eine unlösliche und viel verzweigte, so daß 
volles Verständnis einer Erscheinung der Erziehungsgeschichte nur auf den 
Grundlagen umfassender kulturgeschichtlicher und kulturphilosophischer 
Bildung möglich ist. Für' den Studenten, der sich auf die Mitarbeit an der 
pädagogischen Forschung vorbereiten will, bedeutet das, daß er mindestens 
mft der allgemeinen Geschichte der Geistesströmungen, wie sie heute das 
historische Studium der Philosophie und der Kulturgeschichte schulmäßig 
vermitteln wollen, sich bekannt macht. Deshalb muß ich an dieser Stelle 
aussprechen, daß auch die beute wachsende Tendenz auf eine von der Philo¬ 
sophie emanzipierte, selbständige pädagogische Wissenschaft keinem ihrer An¬ 
wärter erspart, sich philosophisch zu bilden, sowenig jeder Vertreter der Päda¬ 
gogik verpflichtet werden kann, selbst zu philosophieren oder auch nur die 
philosophischen Disziplinen lehrend zu vertreten. In dem noch nicht ab¬ 
geschlossenen Vorgang der Verselbständigung von immer mehr Sonderwissen¬ 
schaften aus dem Schoße der Philosophie ist gewiß mit Recht die Pädagogik 
jetzt der Soziologie und der Psychologie gefolgt; jedes dieser Gebiete ist heute 
umfassend, entwickelt und bedeutend genug, daß es mehr als ausreichender 
Inhalt einer akademischen venia und Vertretung sein kann. Trotzdem wäre es 
ein verhängnisvoller Irrtum, wenn der pädagogische Forscher meinte, auf all¬ 
gemein geschichtliche und philosophische Bildung verzichten zu können. 1 ) 

Die praktische und die geschichtliche Einführung in den Gegenstand der 
Pädagogik werden gewöhnlich als propädeutisch betrachtet für das Studium 
der pädagogischen Systematik. Auch im gegenwärtigen Zeitpunkt wird die 
Beschäftigung mit den systematischen Fragen ein Hauptbestandstück aller 
akademischen Studienpläne für Pädagogik bleiben. Aber man darf dabei 
folgendes nicht außer acht lassen: 

Was man gemeiniglich „System der Pädagogik“ nennt, ist heute in 
der Regel System des betreffenden Fachvertreters der Pädagogik; ein be¬ 
herrschendes System fehlt, ein Stammgut gesicherter, in allmählichem Ausbau 

*) In der jüngsten Vergangenheit hat Joh. Kretzschmar in seinem Buch: „Das Ende der 
philosophischen Pädagogik 41 (Leipzig, Wunderlich) mit besonderem Nachdruck den Ruf: Los 
von der Philosophie! erhoben; aber ich stelle mit Befriedigung fest, daß selbst seine Kritik 
gewisser Entwicklungslinien der systematischen Pädagogik die Notwendigkeit philosophischer 
Studien für jeden Theoretiker der Erziehung und für jeden wissenschaftlich gebildeten Erzieher 
ausdrücklich unerschüttert läßt und in den Aufgaben einer Erziehuogsphilosophie auch noch 
einen sachlichen Zusammenhang zwischen Pädagogik und Philosophie wahrt. 


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Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik 


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zu wahrender grundlegender Erkenntnisse ist wohl das Ziel der Forschung, 
insofern bleibt die Beschäftigung mit dem Systemgedanken als unentbehr¬ 
licher Bestandteil der pädagogischen Theorie zu betrachten. Das systema¬ 
tische Studium hat auf pädagogischem Gebiet keine andere Bedeutung und 
kein anderes Endziel als auf philosophischem: es darf nicht darauf hinaus¬ 
laufen, Proselyten zu machen, Anhänger zu werben, die den wissenschaft¬ 
lichen Nachwuchs auf irgendein System festlegen; er kann nur pädagogisch 
denken lehren wollen, wie die Lehre der Philospphie nur bezweckt. Philo¬ 
sophieren zu lehren. Auf beiden Gebieten mag die Zahl der Berufenen und 
Fähigen außerordentlich gering sein im Verhältnis zur Gesamtzahl der 
Studenten, auf beiden Gebieten mögen tatsächlich sehr viele ihr eigenes 
Bedürfnis schließlich mit übernommenen und angelernten Begriffen bestreiten. 
Die letzte Rechtsgrundlage für den akademischen Betrieb systematischer 
Studien bleibt doch: die Weckung des Willens zum eigenen System, oder 
bescheidener: die geschulte Fähigkeit, selbständig geistig zu bauen. 

Von diesem Gesichtspunkt aus ist nicht nur das persönliche System des 
jeweiligen Vertreters der systematischen Pädagogik bzw. Philosophie einzu- 
schätzen, sondern auch die Beschäftigung mit den großen Systembildungen der 
Vergangenheit. Man kann über sie historisch referieren, man kann sie 
aber auch in eindringendem Einzelstudium der Führer zur Erarbeitung eigener 
systematischer Grundbegriffe benutzen. Deshalb ist im heutigen Philosophie¬ 
unterricht der Hochschulen die Beschäftigung mit Platon, Thomas, Descartes, 
Kant, Hegel usw. nicht nur im historisch-philosophischen Interesse üblich und 
möglich, sondern vor allem im kritisch-systematischen. Durchaus ähnlich ist 
die Lage des wissenschaftlichen Pädagogikunterrichtes. Auch sein Ziel ist, 
pädagogisches Forschen und Denken zu lehren, und einer seiner Wege ist die 
eindringende Vertiefung in die Systeme gsoßer Pädagogiker und Pädagogen, 
die Auseinandersetzung mit ihrer Art, Pädagogik zu treiben. 

Der pädagogische Anschauungsunterricht, die historische Pädagogik und 
das systematische Streben bilden den dauernden Grundstock der Erziehung 
des Nachwuchses für die wissenschaftliche Pädagogik. Unter den Verhältnissen 
der Neuzeit sind die „Didaktik“ und die „Theorie der Bildungs¬ 
organisation“ als relativ selbständige Teilgebiete der Bildungstheorie zu 
bewerten und zu pflegen; ebenso wenig sind die Geschichte der Schulgesetz¬ 
gebung und Schulpolitik und die „Einführung in die heutigen 
Schulverfassungen des Inlandes und Auslandes“ sind für die Theorie 
der Erziehung entbehrlich, so gewiß allerdings in erster Linie die Praktiker 
der Erziehung und Schulverwaltung an einer historischen und politischen 
Schulkunde interessiert sein mögen. Das Gebiet der Didaktik umfaßt nicht 
nur die logischen Voraussetzungen und Grundlagen — die Lehre vom Wissens¬ 
inhalt als Voraussetzung der Lehre vom Wissenserwerb — nicht nur die all¬ 
gemeine Methodenlehre des Unterrichts, sondern auch die logischen und 
psychologischen Grundlagen, die Hilfsmittel und Verfahrensweisen der speziellen 
Didaktiken der verschiedenen Disziplinen und Schulstufen, die Probleme der 
Lehr- und Stundenpläne, die Gesichtspunkte der Stoffauswahl und Aufgaben¬ 
gestaltung. Und ebenso sind die Fragen der Organisation des Bildungswesens 
nicht auf die historische und grundsätzliche Erörterung der Schultypen be¬ 
schränkt, sondern umfassen alle Erziehungsanstalten (Waisenhäuser, Inter¬ 
nate usw.) und alle Erziehiingsformen. 


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Schon dieser Umriß rein pädagogischer Vorlesungen und Übungen zeigt 
eine beträchtlich weile Spannung und Mannigfaltigkeit. Soweit die päda¬ 
gogische Theorie aber auch noch auf die anthropologisch-psychologische 
Seite des Erziehungsprozesses und Erziehungswesens zu erstrecken ist, ob¬ 
liegen ihr noch andere Aufgaben: vor allem die „pädagogische Psycho¬ 
logie“, die sich nicht in reiner Kinderpsychologie und psychologischer 
Jugendkunde erschöpft, sondern selbständige Fragestellungen und Gesichts¬ 
punkte entwickelt und die Berufspsychologie des Erziehers mit einschließt 
Zur Mitarbeit an diesen Fragen bedarf die Pädagogik auf der Grundlage 
eines Studiums der allgemeinen Psychologie und Anthropologie eines ent¬ 
sprechend eingerichteten pädagogisch-psychologischen Instituts. Für die 
Studierenden der Pädagogik bedeutet der psychologisch-anthropologische 
Teil seiner Ausbildung die Mitarbeit in Vorlesungen und Seminaren (Prak¬ 
tiken) fQr allgemeine Psychologie, pädagogische Psychologie, Anthropologie 
vor allem der Kinder und Jugendlichen, wenn er speziellere Absichten 
hat, auch der Psychopathologie der Kinder und Jugendlichen, jedenfalls 
auch ein Studium der pädagogischen Hygiene. 

Soweit endlich die Theorie auch einen anregenden, kontrollierenden und 
kritisierenden Einfluß auf die Umgestaltung der Erziehungspraxis bean¬ 
spruchen darf, braucht sie pädagogische Versuchsanstalten, mindestens 
das Recht zu pädagogischen Versuchen. Die Wissenschaft Pädagogik 
bedarf für ihre Zwecke keiner Übungsschulen, d. h. Lehrstätten zur Ein¬ 
übung der unterrichtlichen Technik, sondern Versuchsschulen. Die Be¬ 
denken der Hochschulen gegen Eingliederung bzw. Anschluß pädagogischer 
Versuchsanstalten werden im Lauf der Zeit ebenso verstummen, wie die 
einst erhobenen Bedenken gegen landwirtschaftliche, technische und sonstige 
Versuchsanstalten verstummt sind, oder in noch früherer Zeit gegen die 
Verbindung von Krankenhäusern mit dem Unterricht der Mediziner. Wie 
die Verbindung der pädagogischen Theorie mit Erziehungs- und Schul¬ 
anstalten zum Zweck des planmäßigen, wissenschaftlich geleiteten pädago¬ 
gischen Versuches in der Praxis erfolgen kann, lasse ich unerörtert; es sind 
verschiedene Wege denkbar, wenn auch nicht gleich ergiebig, und die 
Ausgestaltung wird durch die örtlichen Verhältnisse bestimmt sein müssen. 
Teilweise ist die vorher behandelte Fühlung des akademischen Unterrichtes 
mit den Anstalten zum Zweck der Vermittlung von pädagogischer Anschauung 
auch ein Wegweiser, wie der wissenschaftliche pädagogische Versuch zu 
organisieren wäre. 

Verdichten’ wir unsere Überlegungen zu einem Studienplan') für theore¬ 
tische Pädagogik, etwa mit der Promotion als äußerem Abschluß und unter 
Angleichung an die Grundzüge der deutschen Promotionsordnungen, so dürfte 

•) Wahrend des Druckes dieser Ausführungen erhalte ich Kenntnis von einer Untersuchung 
Otto Brauns Uber die PSdagogik als Lehrfach der Universität und ihr Verhältnis zur Lehrer¬ 
bildung in der „Schweizerischen Lehrerzeitung“ (1921 Nr. 36). Die mannigfachen Berührungen 
mit seiner Begründung der akademischen Stellung der Pädagogik auf ihren reinen Wissen¬ 
schaftswert, sowie mit der Charakterisierung und Anordnung der einschlägigen Vorlesungs¬ 
gruppen sind mir als Bestätigung der hier entwickelten Gedankengänge willkommen, durften 
fUr jeden von Wert und Interesse sein, der zu diesen Fragen Stellung nimmt. Es ist mir leider 
nicht mehr möglich, im Text auf das Einzelne einzugehen, auch auf die durch die Schweizer 
Verhältnisse mitbedingten Abweichungen. Ich verweise deshalb den Lehrer naehdrUcklich auf 
Brauns Darlegungen selbst. 


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Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik 


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ein akademisches Triennium als Gesamtzeit kaum ausreichen. Zunächst 
müßten wohl die mit Pädagogik als Hauptfach zu verbindenden Nebenfächer 
nach den inneren Bedürfnissen der Pädagogik selbst bestimmt werden; in 
Betracht kommen — je nach den geltenden Promotionsordnungen — entweder 
Philosophie, oder Psychologie, oder Geschichte, unter Umständen Anthro¬ 
pologie; außerdem als ein weiteres Nebenfach eine Fachwissenschaft, die als 
Stoffgrundlage einer der bestehenden Schulen Wert hat mit Mindestanfor¬ 
derungen, wie sie für die Zulassung zum höheren Lehramt, die facultas docendi 
im betreffenden Fach, normiert sind. 

Die Anschauung der pädagogischen Praxis und das Studium der Nebenfächer 
haben sich über die ganze Studienzeit, zu verteilen; sie werden deshalb bei 
der Aufstellung für die einzelnen Studienhalbjahre nicht mehr ausdrücklich 
genannt In dem folgenden Studienplan selbst deute ich nur die eigentlich 
pädagogischen Vorlesungen an. 

Im ersten Semester hätten die grundlegenden Vorlesungen Platz zu finden: 

1. Geschichte der Erziehung und Erziehungswissenschaft im Altertum und 
Mittelalter. 

2. In Verbindung damit, Lektüre und Interpretation einschlägiger Quellen¬ 
schriften in seminarischer Behandlung. 

3. Geschichte der Philosophie im Umriß oder Einleitung in die Philosophie. 

4. Allgemeine Psychologie und 

5. in Verbindung damit: Psychologisches Praktikum zur Einführung in 
die Methodik der psychologischen Untersuchung. 

Im zweiten Semester dürften sich die Fortsetzung und der Abschluß 
der einführenden Studien empfehlen: 

1. Geschichte der pädagogischen Ideen und Zustände von der Renaissance 
bis zur Gegenwart. 

2. In Verbindung damit: Lektüre und Besprechung eines Klassikers der 
Pädagogik der neuem Zeit (zur Auswahl: Comenius, Rousseau, Herbart, 
Schleiermacher, Pestalozzi usw.). 

3. Geschichte der neueren Philosophie. 

4. Kinder- und Jugendpsychologie mit Teilnahme 

- 5. an einem entsprechenden Praktikum oder Seminar. 

Im dritten Semester könnten folgen: 

1. Systematische Pädagogik (pädagogische Grundbegriffe oder wie man 
sonst sagen will) in Verbindung mit 

2. seminarischen Übungen zur Theorie der Erziehung entweder wieder 
an der Hand eines gut ausgebauten Systems oder beschränkt auf einen der 
wesentlichen Teile eines Systems (z. B. Übungen zur Charakterpädagogik, 
über Disziplin, Kunsterziehung, Sexualpädagogik usf.). 

3. Geschichte der Schulgesetzgebung und Schulpolitik (das Verhältnis von 
Erziehung und Gesellschaft klärend). 

4 . Fortsetzung der psychologischen Studien in einer Spezialvorlesung über 
pädagogische Psychologie. 

5. Einführung in die pädagogische Hygiene. 

im vierten Semester könnte auf der bisher entwickelten historischen 
und systematischen allgemeinen Grundlage die Bildungstheorie im engeren 
Sinn aufbauen. Der Studierende muß von diesem Zeitpunkt an die Aus¬ 
gestaltung seiner Studien teilweise selbst in die Hand nehmen können. Vor 


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allem gilt das für die Wahl von Spezialvorlesungen und Sonderstudien, die 
von jetzt an rStlich werden. 

1. Theorie der Bildungswerte. 

2. Allgemeine Didaktik und Methodik; in Verbindung damit 

3. Übungen zur Didaktik entweder einer Schulstufe oder eines Unterrichts¬ 
faches (im Wechsel i. 

4. Kulturphilosophie oder eine philosophische Wertwissenschaft (Ethik, 
Religionsphilosophie, Ästhetik usw.) zur Vertiefung der bildungstheoretischen 
Gedanken. 

5. Eine pädagogische bzw. didaktische Spezialvorlesung ohne Rücksicht 
auf bestimmte Schulgattungen (z. B. Heilpädagogik, Volksbildungswesen, 
Jugendpflege, Fürsorgeerziehung, Erziehung des Kleinkindes in Familie und 
Kindergarten, Spezialstudium eines Systems oder Abschnitts aus der Ge¬ 
schichte der Pädagogik usw). 

Im fünften Semester kann die Bildungstheorie zum Abschluß gebracht 
und das Studium der bestehenden Bildungsverhältnisse unter Auswertung des 
inzwischen wohl angebahnten eigenen Standpunkts, der sich konsolidierenden 
persönlichen pädagogischen Überzeugungen, begonnen werden. Als Vor¬ 
lesungen bzw. Übungen kommen in Betracht: 

1. Theorie der Schulorganisation. 

2. Das Bildungswesen des In- und Auslandes (Schulkunde). 

3. Spezialvorlesungen mit entsprechenden Übungen im Zusammenhang mit 
der Theorie der Bildungsorganisation (z. B. Lehrplantheorie, Pädagogik und 
Didaktik der Volksschule, Pädagogik und Didaktik der höheren Schule, das 
Hilfsschulwe&en, Internatspädagogik usw.). 

Im sechsten Semester müßte die eigene wissenschaftliche Arbeit im 
Mittelpunkt stehen; soweit Vorlesungen und Übungen noch erforderlich sind, 
könnten sie sich auf ganz spezielle' Fragen beschränken. 

1. Spezial Vorlesungen (aus dem oben umschriebenen Kreise, soweit sie noch 
nicht gehört wurden und für die persönlichen Absichten in Betracht kommen). 

2. Spezialdidaktik (des mathematischen, historischen, naturwissenschaft¬ 
lichen Unterrichts, der sprachlichen Fächer usw., zu wählen nach Gelegenheit, 
Berufsabsicht und Fachstudium). 

3. Die Aufgaben der Schulleitung und Schulverwaltung. 

Wie alle Studienpläne ist auch der vorstehend skizzierte nichts als Ratschlag, 
eine Möglichkeit, wie man es machen kann, um sich vom Allgemeinen und 
Grundlegenden in das Spezielle und Abgeleitete der Erziehungswissenschaft 
einzuarbeiten. Es ist möglich, auch anders zu verfahren, denn schließlich 
ist der psychologische Prozeß der Bildung einer pädagogischen Anschauung 
im einzelnen Forscher unabhängig von der zeitlichen Reihenfolge, in der er 
die einzelnen Voraussetzungen dafür erwirbt und von der logischen Ordnung, 
in der die pädagogischen Disziplinen sachlich zueinander stehen. Noch ein¬ 
mal betone ich, daß die Beobachtung der pädagogischen Wirklichkeit und 
das Studium einer oder einiger außerpädagogischer Fachwissenschaften während 
der ganzen Studienzeit betrieben werden muß, das letztere nach dem aus 
der Natur der gewählten Führer sich ergebenden Plan. Und ebenso bemerke 
ich, daß mir mit einem solchen Studiengang wohl die Grundlegung selb¬ 
ständig wissenschaftlicher Arbeit auf pädagogischem Gebiet möglich erscheint. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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nicht ein endgültiger Abschluß. Die Teilnahme an der pädagogischen Literatur 
versteht, sich von selbst, als eine die ganze Zeit durchziehende Verpflichtung. 

Nach dem äußeren Abschluß seiner Studien müßte der künftige Theoretiker 
der Pädagogik selbst entscheiden, wie er seine weiteren Arbeiten einrichtet. 
Als Stellungen, in denen er sich eigenen Arbeiten zu widmen vermöchte, 
kämen die Aufgabenkreise von Hilfsarbeitern, Assistenten und Bibliothekaren 
an pädagogischen Instituten und Seminaren in Betracht, Assistentenposten 
an psychologischen Instituten, die Mitarbeit an großstädtischen Schulverwal¬ 
tungen, die wohl immer mehr dazu übergehen werden, für die Beratung und 
fortlaufende Auswertung ihrer organisatorischen Maßnahmen und Erfahrungen 
auch Wissenschaftler heranzuziehen. Jedenfalls müßte das selbständige Studium 
der Erziehungszustände der Gegenwart auf Studienreisen, die gewissenhafte 
Anteilnahme an der pädagogischen Fachliteratur die Gewähr für die not¬ 
wendig breite Fundamentierung der eigenen Arbeiten bieten. Welche be¬ 
rufliche und wirtschaftliche Zukunft den reinen pädagogischen Theoretikern 
offen steht, möchte ich nicht erörtern; die akademische Laufbahn, in Zukunft 
sicher etwas leichter und aussichtsreicher als in den letzten Jahrzehnten, kann 
kein Vertreter der Pädagogik empfehlen wollen; sie muß unter allen Um¬ 
ständen Sache des unbeeinflußten Entscheids bleiben. Ob Pädagogien, 
Akademien und andere Einrichtungen für die Lehrerbildung in Betracht 
kommen und auch dem Vertreter der Erziehungswissenschaft ein Wirkungs¬ 
feld bieten, bleibt abzuwarten. 

Zu einem in mancher Hinsicht erheblichen andersgearteten Studienplan 
kommen wir, wenn wir die Frage der Berufsausbildung für das Lehr¬ 
amt in den Mittelpunkt des Hochschulstudiums stellen und den Anteil päda¬ 
gogischer Disziplinen daran abmessen. Eine an die geschichtlich gewordenen 
Verhältnisse und die teilweise vorhandene sachliche Verschiedenheit der Auf¬ 
gaben von Volksschule und höherer Schule anknüpfende Neuregelung wird 
hier eine Verschiedenheit der Bildungsbahn für Volksschullehrer und Studien¬ 
lehrer auch in der Zukunft nicht entbehrlich erscheinen lassen. Es ist sogar 
zweifelhaft, ob nicht die Fach- und Berufsschulen in Zukunft ebenfalls einen 
eigenen Lehrertyp erfordern, der wenigstens für einen Teil seiner Ausbildung 
eigene Wege gehen muß. (Fortsetzung folgt.) 


Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Die Frage der seelischen Berufseignung vom Standpunkte des Arztes 1 ). 
1. Der mit der Jugendsichtung befaßte Arzt beurteilt die seelische Berufs- 
eignung vom Standpunkte des körperlichen und seelischen Gesundheits¬ 
schutzes, ja der Gesundheitssteigerung der Jugend. Sein Urteil setzt soziale 
Auskünfte, pädagogische Berichte und die Leistungsprüfung des Fachpsycho¬ 
logen voraus. Er ergänzt diese Vorermittelungen durch eine Untersuchung 
der körperlichen Maß-, Form- und Funktionsverhältnisse, sowie durch eine 
zwanglose Fühlungnahme mit den Jugendlichen in freier Unterhaltung. 

2. Er verarbeitet sein Eindrucksbild und die Vorermittelungen mit dem 
Ergebnis seiner wissenschaftlichen Untersuchung zu einem körperlich-seelischen 
Gesamtbild der werdenden Persönlichkeit und durchleuchtet dieses kritisch 

*) Aus einem in der Frankfurter Berufsberatungswoche gehaltenen Vortrag Juni 1921. 

Zeitschrift f. pÄdagog. Psychologie. 5 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 




nach seiner Entstehung aus äußeren Einnassen und innerer Veranlagung. 
Seine erste Aufgabe ist die Erforschung des „Grades der Beseeltheit“, also 
der Höhe der seelischen Gesamtveranlagung; die zweite: die Feststellung der 
seelischen Berufsreife und der Mittel zu ihrer Förderung. 

3. Das Ziel der seelischen Gesundheitsförderung deckt sich mit der För¬ 
derung der Gesamtpersönlichkeit: sie geschieht durch richtige körperliche 
Ernährung; durch sinnvolle, miß volle, wechselweise uni rhythmisch ge¬ 
bundene Beanspruchung »Iler Seelenanlagen und die Pflege ihres Zusammen¬ 
spiels in Wechselkampf und Wechselhilfe, endlich, durch planmäßige Selbst¬ 
besinnung in der Richtung innerer Ordnung und Einheitlichkeit. Je ein¬ 
heitlicher, um so gesunder ist der Mensch, um so größer die seelische 
Spannkraft, um so weiterreichend die Seelenwirkung. 

4. Das Sondertalent ist um so wertvoller, wenn es einen wertvollen Menschen 
offenbart; deswegen ist über der technischen Pflege von Sondergaben die 
Pflege der Gesamtpersönlichkeit nicht zu vergessen. Im Berufsmenschen 
darf der Mensch nicht vergessen werden. 

5. Etwaige Mängel und Schwächen mU 3 sen vom Arzt auf ihren sozialen 
und pädagogischen Ursprung, andererseits bis in ihre biologischen Wurzeln 
verfolgt werden, um Grad und Grenze der Bildsamkeit annähernd festzustellen 
und Ratschläge für die Erhaltung und Förderung der Berufsfähigkeit geben 
zu können. Die Aufgabe des Arztes ist also nicht bloß die Erkennung der 
seelischen Gesundheit und Berufsreife, sondern vor allem die Angabe der 
im Einzelfalle erforderlichen besonderen Berufsbedingungen. 

6. Nur seelische Dauermängel dürfen als Berufsausschließungsgründe in 
Frage kommen; bestimmte Talente — brauchen noch nicht die Berufswahl 
zu bestimmen, sie können es gar nicht ohne weiteres, wenn sie in mehr¬ 
facher Richtung vorhanden sind. Ob und wieweit sie sich hierzu eignen, 
kann nur aus dem Zusammenhang der Gesamtpersönlichkeit beurteilt werden. 

7. Die Mannigfaltigkeit der körperlich-seelischen Veranlagungen ist der 
Mannigfaltigkeit der gesellschaftlich gewordenen Berufe keineswegs eindeutig 
zuzuordnen. Die besondere seelische Artung begrenzt die Berufswahl in der 
Mehrzahl der Fälle nur nach der Berufsgruppe, also nur in sehr allgemeiner Weise. 
Sie bestimmt weniger die Wahl des Berufes, als die Art seiner Ausübung. 

8. Die durch allseitige Ausbildung erzielte größere Freiheit in der Berufs¬ 
wahl bedeutet zugleich einen höheren Grad seelischer Gesundheit und Stärke; 
sie trägt auch die Gewähr der Dauerhaftigkeit in sich durch größere An¬ 
passungsfähigkeit gegenüber den Forderungen der Zeit, die Einfachheit der 
Lebensführung und Vielseitigkeit der Lebensleistung verlangt. 

9. Es ist — zumal im heutigen Deutschland — keineswegs durchweg 
möglich, daß sich „innerer Beruf“ und „Brotberuf“ decken. Wenn nun 
Neigung und Begabung vorwiegend nach bestimmter Richtung weisen, soll 
man sie schon zur Erhaltung des seelischen Gleichgewichts wenigstens außer¬ 
beruflich pflegen. 

10. Die Selbsteinordnung des Einzelnen in die Schicksalsgemeinschaft des 
ganzen Volkes macht dieses zur Gesinnungs- und Willensgemeinschaft und 
gibt gleichzeitig dem Einzelnen auf erkannten und auf unerkannten Wegen 
immer wieder die Spannkraft zur Erhaltung und Steigerung seiner eigenen 
seelischen Gesundheit und seelischen Berufseignung. 

Frankfurt a. M. Dr. med. Fürstenheim. 


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Kleine BeitrSge und Mitteilungen 


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Eine Umfrage über die Eignung zum Lehrerberuf wird von Prorektor 
Dr. F. Schneider (Brühl) veranstaltet. „Gegenwärtig“ — so leitet er sein 
Anschreiben ein — „geht man in Deutschland, vor allem in den Groß* 
Städten, daran, die Berufswahl zu rationalisieren. Die erstrebte Neu¬ 
gestaltung der Berufswahl hat zur Voraussetzung die möglichst exakte Fest¬ 
stellung der körperlichen und geistigen Eigenschaften, welche für den ein¬ 
zelnen Beruf unentbehrlich sind. Diese Feststellung ist besonders schwierig 
bei allen höheren Berufen, so auch beim Lehrerberuf. 

Trotz des vielen, das uns die historische Pädagogik an Ausführungen der 
verschiedensten Pädagogen über die Persönlichkeit des Lehrers und ihre 
Eigenschaften bietet, trotz auch einiger von der modernen Berufsberatungs¬ 
bewegung angeregten Untersuchungen über die Eigenschaften, welche zum 
Lehrerberuf geeignet oder ungeeignet machen, ist das Problem der Berufs¬ 
eignung des Lehrers noch nicht gelöst Selbst über den Kern des Problems 
sind wir wissenschaftlich noch nicht einmal im klaren: genügen Intelligenz, 
Fleiß und guter Wille, um ein wirklich tüchtiger Lehrer zu werden? Können 
wir von einem jungen Menschen, der diese Dreiheit besitzt, sagen, er eigne 
sieb zum Lehrer, er sei berufen zum Lehrerberuf? Nie werden wir 
jemanden nur auf diese drei Eigenschaften hin raten, sich der Erlernung und 
Ausübung einer der Künste zu widmen. Wir wissen alle, daß da noch ein 
notwendiges Attribut hinzukommen muß: künstlerische Begabung. Verlangt 
nun vielleicht der Lehrerberuf zu seiner möglichst vollkommenen Ausfüllung 
auch noch ein Mehr: pädagogische Begabung? Wenn ja, worin besteht sie? 
Wie offenbart sie sich beim Jugendlichen? Wie zeigt sie sich beim Lehrer 
in seiner Berufsarbeit? Ist die pädagogische Begabung oder Anlage häufig 
anzutreffen? Wenn wir bei der großen Zahl der erforderlichen Lehrer von 
ihr auch etwa absehen müssen: welche Eigenschaften muß der künftige 
Lehrer unbedingt besitzen, oder welche machen ihn ungeeignet? 

Meines Erachtens müßte reiches Material zur Beantwortung der Fragen zu 
gewinnen sein, wenn man die in der Lehrpraxis Stehenden dazu hörte. Ich 
bitte daher alle diejenigen Kollegen und Kolleginnen, die sich für die Frage 
der Berufseignung des Volksschullehrers interessieren, die obigen, besonders 
, aber die nachfolgenden Fragen, soweit es ihnen möglich ist, zu beantworten. 
Wer außer den Antworten auf die gestellten Fragen Zweckdienliches zum 
Thema der Umfrage zu sagen weiß, der fördert die Bearbeitung des Problems, 
wenn er es gleichzeitig mitteilt. Die Beantwortung bitte ich an meine 
Adresse zu richten. 

1. Haben Sie unter Ihren Schülern solche gehabt, die Sie für besonders 
geeignet zum Lehrerberuf hielten? Worauf stützten Sie diese Meinung? 
Haben Sie Gelegenheit gehabt, solche Schüler im späteren Leben im 
Auge zu behalten? Gab deren spätere Entwicklung Ihnen recht? 

2. Nehmen Sie eine spezielle pädagogische Begabung an? Wenn ja, worauf 
stützen Sie diese Annahme? - Worin besteht sie nach Ihrer Ansicht? 

3. Kennen Sie einen Kollegen, der ein intelligenter, fleißiger Mensch ist 
und trotz alles guten Willens in seinem Berufe nichts Tüchtiges leistet 
oder sich in seinem Berufe nicht wohl fühlt? Woran liegt das nach 
Ihrer Ansicht? 

4. Welche geistigen Fähigkeiten sind bei einem Ihnen etwa näher be¬ 
kannten hervorragend tüchtigen Lehrer besonders ausgeprägt? 

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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


5. Waren in Ihrer Seminarzeit diejenigen, die in den wissenschaftlichen 
Fächern am meisten leisteten, die besten Lehrer in der Übungsschule 
und auch — soweit Sie es verfolgen konnten — nach der Seminarzeit 
im Amt? Oder wie war das Verhältnis?“ 

Ein neuer Schülerbogen ist vom Institut für experimentelle Päda¬ 
gogik und Psychologie im Leipziger Lehrervereine herausgegeben 
worden. Er ist bestimmt, das Kind durch alle Stufen der Schulbahn zu be¬ 
gleiten und so einerseits die schulamtliche Listenführung zu vereinfachen 
(Wegfall der alljährlich neu anzulegenden Klassenverzeichnisse), andererseits 
durch die fortlaufend einzutragenden Befunde dem wirkenden Lehrer die er- 
förderlichen Unterlagen zu bieten, wenn er für oin unterrichtliches und er¬ 
ziehliches Wirken die Gesamtbilder der einzelnen Schüler zu gewinnen sucht 
Von anderen artgleichen Entwürfen hebt sich der Leipziger Bogen vorteil¬ 
haft heraus durch eine sehr zweckmäßige äußere Einrichtung wie vor 
allem durch die praktisch gehaltene, auf das Wesentlichste und bestimmt 
Durchführbare eingestellte sachliche Gestaltung. Ein beigegebenes Er¬ 
läuterungsblatt leitet zu seinem Gebrauch recht geschickt an. Der erste 
Raumteil dient — ähnlich wie bei der Schülerkarte — den Eintragungen der 
Personalien. (Für den Ausdruck „Bildungsstätten“ würde sich besser noch 
die bereits eingebürgerte Bezeichnung „Schulbahn“ empfehlen.) Es werden 
darnach Angaben über das Elternhaus verlangt („Hygienische Verhältnisse, 
Erziehung, soziale Verhältnisse, Geschwistertafel“.) Die beiden nächsten 
Seiten nehmen aus der gesamten Schulbahn die Versäumnisse und Zensuren 
auf. Für „Bemerkungen“ ist freier Raum bereitgestellt. Weitgehende Auf¬ 
gliederung zeigt dann die Tafel für die Befunde über die „körperliche 
Eigenart“ innerhalb der ablaufenden Schulzeit. Sie trennt die „Ärzt¬ 
lichen Gutachten“ und die „Beobachtungen des Lehrers“. Zum bequemeren 
Darstellen der Entwicklungskurven für Körperlänge und Gewicht ist ein Dia¬ 
gramm mit eingetragenen Normalkurven eine glückliche Beigabe. Der 
„geistigen Eigenart“ , wie sie sich in den wechselnden Jahren der Beob¬ 
achtung erschließt, steht der Raum von zwei Blattseiten zur Verfügung. — 
Wohlbedacht haben hier die Bearbeiter eine Beschränkung auf das unbedingt 
Notwendige geübt und auch schlichte Fassungen gewählt. (Aufmerksamkeit, 
Auffassung und Beobachtungsfähigkeit, Gedächtnis, Denken und Phantasie, 
Charakter, geistige und körperliche Arbeit, Begabungen.) Es wird so der 
Bogen gegen Widerstände gesichert sein, wie sie anderwärts mit dem Hin¬ 
weis auf zu große Arbeitsbelastung des Lehrers und auf Schwerverständlich¬ 
keit aufgetreten sind. Daß ausdrücklich die Anweisung „Keine Experi¬ 
mente veranstalten!“ gegeben ist, könnte darum verwundern, weil der 
Bogen aus einem Institute für experimentelle Pädagogik hervorgegangen ist. 
Verständlich wird die Warnung aus dem Unfug, mit dem hier und da — in 
vielleicht gutgemeintem, aber doch höchst schädlichem Eifer — in den 
Schulstuben von ungeschulten Händen herumexperimentiert wird 1 ). Solchem 
peinlichen Gebaren, das sich — wie wir es erfahren mußten — bei seinem 
krassen Dilettantismus auch manchmal gern noch mit dem Gehaben wissen- 


*) Vgl. hierzu: „Warnung vor dilettantischer Anwendung von Testprufungen“. Diese Zeitschr. 
XX. Jahrg. (1919, S. 353.) 


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schaftlichen Tuns spreizt, in aller Entschiedenheit entgegenzuwirken, for¬ 
dert einmal der Sinn des Lehrerberufes, dem die Kinder zum Unterrichten 
und Erziehen, nicht aber zum fragwürdigen Herumhantieren an ihnen, an¬ 
vertraut sind und dann auch das Ansehen der pädagogischen Psychologie, die der 
um jeden Preis „psychologisch experimentierende Lehrer“ schwer diskreditiert. 
Ein ganz anderes freilich ist es, wenn vereinzelt der dazu ausgebildete Pädagoge 
zum Forscher wird und nun in streng wissenschaftlicher Einstellung und 
Haltung mit einwandfreien Verfahren seine Untersuchungen an Schülern und 
Klassen ausführt, als wenn zur Ausfüllung von allgemein eingeführten Listen 
nun jeder Lehrer zum Drauflos-Experimentieren verpflichtet würde. Wie da¬ 
gegen auf Grund gewissenhafter und steter Beobachtung ein zuverlässiges 
Bild der geistigen Schülerverfassung ersteht, dazu leiten dann die Erläu¬ 
terungen zum Leipziger Schülerbogen eingehender an. Sie zeigen die Rich¬ 
tungen, auf die sich der seine Schüler beobachtende und sich in sie einfühlende 
Lehrer einstellen muß, geben auch manche Beobachtungsgelegenheiten und 
fügen Beispiele von Eintragungen an. Dabei ist besonderes Gewicht auf 
die Erschließung des Gemüts- und Willenslebens gelegt. Wie die Aufstel¬ 
lungen des Leipziger Bogens nicht bloß aus wissenschaftlichen Erwägungen, 
sondern vor allem aus den Erfahrungen der Schulwirklichkeit erwachsen sind, 
bezeugen nicht zuletzt die Schlußabteilungen: „Wirkung pädagogischer Ma߬ 
nahmen“ und „Berufseignung und Berufswahl“. 

Die Vereinigung für Kinderkunde im Lehrerverein zu Frankfurt a. M., 
zur Zeit 115 Mitglieder zählend, hat auch im verflossenen Jahre eine rege 
Tätigkeit entfaltet. An Gegenständen der Pädagogik wurden behandelt: 
1. Gedanken über Erziehung und Unterricht in Gottfried Kellers Grünen 
Heinrich. 2. Bericht über die Sitzung der Erziehungswissenschaftlichen 
Hauptstelle des D. L.V. 3. Bericht über die Pädagogische Woche an der 
Gaudig- Schule in Leipzig. 4. Ostwalds Farbenlehre. 5. Die Durchführung 
des Arbeitsschulgedankens im Deutschunterricht auf der Oberstufe. — Im 
Gebiete der Psychologie bewegten sich die Themen: 1. Zum Gedächtnis 
Wilhelm Wundts. 2. Vorläufiger Bericht über unsere Eichung von Fabeltests. 
3. Suggestion und Hypnose. 4. Aussprache über den Frankfurter Beob¬ 
achtungsbogen. 5. Experimentelle Beiträge zur Blindenpsychologie. 6. Die 
pädagogische und experimentell-psychologische Auslese der Begabten für die 
Obergangsklasse n. 7. Gedächtnisversuche nach dem erweiterten System 
von Netschajeff in einer Förderklasse. — Von den eigenen Arbeiten der 
Vereinigung erschien in der Zeitschrift für angewandte Psychologie (Bd. XVII, 
Heft 4/6) 1. Schüßler, Die Entwicklung des schlußfolgernden Denkens bei 
Kindern und Jugendlichen. Mehrere andere Untersuchungen sind im Gange. 
Außerdem stand die Vereinigung in praktischer Mitarbeit bei der experi¬ 
mentellen Prüfung der Obergangsklasse II. — Auch auf die in den letzten 
Jahren eifrig und fruchtbar in den Lehrerschaften gepflegten pägagogischen 
Lehrgänge hat sich die Tätigkeit erstreckt. So fand einer, geleitet von den 
beiden Mitgliedern Grupe und Klarmann, in Limburg statt. Er zeigte die 
Durchführung des Arbeitsschulgedankens im Unterricht. Ein anderer eben¬ 
solcher Lehrgang wurde in Hanau abgehalten. . Als in Limburg in einer Ver¬ 
sammlung der Kreisvereine des Allgemeinen Lehrervereins im Regierungsbezirk 
Wiesbaden nach einem Vortrage von Schulrat Eckhardt beschlossen wurde, 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


eine „ErziehungswissenschafI liehe Hauptstelle beim Allgemeinen Lehrerverein 
im Regierungsbezirk Wiesbaden“ zu schaffen, gaben die beiden Vorsitzenden 
des Vereins (Grupe und Schüßler) ihre Zustimmung für ein Zusammen* 
arbeiten beider Arbeitsgemeinschaften. Die Vereinigung fQr Kinderkunde 
wird einen ihrer beiden Vorsitzenden in die Hauptstrlle entsenden. — Es 
bleibt zu berichten, daß die Vereinigung zur Beratyng und Durchführung 
herangezogen wurde, als im verflossenen Winter die Stadt Frankfurt a. M., 
angeregt durch eine Denkschrift der Vereinigung, Versuchsschulen einrichtete. 

Eine Hamburgische Woche für Erziehung und Unterricht (Arbeits- und 
Studienwoche) veranstaltet vom 18. bis 27. April 1922 die Oberschulbehörde 
und die Hamburgische Universität in Verbindung mit den Hamburgischen 
Lehrervereinen. Diese pädagogische Woche will zeigen, wie die Idee der 
Arbeitsschule im Kultur- und Geistesleben unserer Stadt Gestalt gewinnt. Den 
Teilnehmern soll ein Einblick in die praktischen Aufgaben und die Art 
und Weise der angestrebten Lösungen gegeben werden. Außerdem sollen 
die wissenschaftlichen Probleme, die mit der Frage des Arbeitsunterrichts 
sowie einigen anderen Aufgaben des heutigen Erziehungs- und Bildungs¬ 
wesens Zusammenhängen, in Universitätskursen Behandlung finden. 

Die Woche ist eine Arbeits- und Studienwoche. Es sind daher außer Vor¬ 
trägen und Vortragsreihen Arbeitsgemeinschaften in Verbindung mit Volks¬ 
und höheren Schulen geplant und dafür die Vormittagsstunden von 9 bis 
11'li Uhr vorgesehen. Für Einzelvorträge, an denen die Mitglieder aller 
Arbeitsgemeinschaften teilnehmen können, sind die Stunden von 12—1 Uhr 
und von 5—6 Uhr bestimmt. Die Nachmittage von 8—5 Uhr sollen den 
Führungen, Besichtigungen usw. Vorbehalten bleiben. 


I. Die Arbeitsschule und ihre Durchführung. 

Für die Arbeitsgemeinschaften sind durchweg die Tage vom 18. bis 22. April festgesetzt. 
Sie werden nach deutsch-geschichtlichen, naturwissenschaftlich-mathematischen und fremdsprach¬ 
lichen Gebieten geordnet, und zwar für die Volksschulen und für die höheren Schulen zeitlich 
so, daß jeder Teilnehmer möglichst an zwei Arbeitsgemeinschaften teilnehmen kann. 

Die deutsch-geschichtliche Gruppe gliedert ihre Arbeitsgemeinschaften nach den Gebieten der 
Volksschule (erster Lese- und Schreibunterricht, heimatkundlicher Spraöhunterricht, der Erlebnis¬ 
aufsatz u. a.) und der höheren Schule. Eine besondere Arbeitsgemeinschaft ist für Staatsbürger¬ 
kunde geplant. 

Die naturwissenschaftlich-mathematische Gruppe bildet Arbeitsgemeinschaften für die Volks¬ 
schule auf den Gebieten der Biologie, Physik und Chemie zusammen mit einzelnen Schulen und 
den für die Fortbildung der Lehrer eingerichteten Laboratorien Für die höheren Schulen soll 
durch Vorträge, Demonstrationen und praktische Übungen in Verbindung mit den Einrichtungen 
einzelner Schulen in die Probleme und die Praxis des naturwissenschaftlichen und mathema¬ 
tischen Arbeitsunterrichts eingeführt werden. Die Arbeitsgemeinschaft für Erdkunde wird be¬ 
sonders durch heimatkundliche Ausflüge in die Elbmarechen, das Elbtal bei Boberg, nach Finken¬ 
wärder und durch den Hafen die Durchführung des Arbeitsprinzips verdeutlichen. Außerdem 
soll zu zeigen versucht werden, wie die Museen als Lehrapparat in den Dienst der Schule ge¬ 
stellt werden können. 

Die fremdsprachlichen Gruppen werden für Englisch, Französisch und Spanisch sowie für 
die alten Sprachen gesonderte Arbeitsgemeinschaften bilden. 

Zeichnen, Musik, Werkarbeit und Gymnastik werden den allgemeinen Arbeitsplänen ein¬ 
geordnet. 

ln Einzel Vorträgen sollen Probleme der hamburgischen Scbulorgani6ation, die Selbst- 
verwalt urg der Schulen, die Entwickelung des Arbeitsunterrichts in den mathematisch -natur¬ 
wissenschaftlichen Fächern auf den höheren Schulen Hamburgs, die Arbeitsschule und ihre 


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Durchführung in der Volksschule, die Erziehung zur sozialen Gesinnung in der höheren Schule, 
die Schaffung von Schul beimen u. a. zur Darstellung kommen. 

Die Arbeitsgemeinschaften, die mit praktischen Obungen verbunden werden, können nur 
eine begrenzte Zahl von Teilnehmern aufnehmen. Die geographischen und heimatkundlichen 
Vorträge und Veranstaltungen, ebenso die für Werkunterricht und Zeichnen, Musik, Turnen, 
Spiel sollen allen Teilnehmern gleichmäßig zugänglich sein. Die Vorträge allgemein pädagogischer 
Art, denen eine Aussprache folgen kann, werden in die Stunden von ß—6 Uhr gelegt werden. 
Den Teilnehmern, die für die Aufgaben der Berufsberatung Interesse haben, wird Gelegenheit 
geboten werden, die in Hamburg bestehenden Einrichtungen kennen zu leinen. Für das Gebiet 
der Heilpädagogik werden besondere Arbeitsgruppen gebildet. (Besichtigungen der bestehen- 
Schulen und Anstalten für Taubstumme, Blinde, Schwei hörige, Spracbkranke, Schwach¬ 
sinnige, jugendliche Irre, sowie der Hilfsschulen und Scbulkindergärten). Im phonetischen 
Laboratorium der Universität finden Nacbmittagskurse über die Appeizeptionsweisen der Sprache 
vom phonetischen Standpunkt aus statt* 

Die Versuchs- und Gemeinschaftsschulen. 

Vier Volksschulen und eine höhere Schule (Licbtwarkschule) werden schon aus räumlichen 
Gründen nur einer sehr zu begrenzenden Zahl von Teilnehmern zugänglich gemacht werden 
kßnnen. Ihnen wird in Arbeitf gemeinte) aft mit den Kollegien dieser Schulen ein Einblick in 
das Wesen des hier unternommenen Versuchs, mit den Eltern und der Jugend selbst das Schul¬ 
leben neu zu gestalten, gegeben werden können. Es wird Vorsorge getroffen werden, auch den 
Teilnehmern, denen die Mitarbeit nicht zu ermöglichen ist, duich Vorträge u. a. mit der Art der 
von diesen Schulen übernommenen Aufgaben bekannt zu machen. Die Arbeit mit den Kollegien x 
dieser Schulen schließt die Teilnahme an den unter 1 gei annten Arbeitsgemeinschaften aus. 

Für die Anmeldung wird um die Angabe gebeten, ob die gemeinsame Arbeit mit den Kollegien 
dieser Schulen gewünscht wird. 

II. Wissenschaftliche Kurse der Hamburgischen Universität 

Innerhalb der pädagogischen Woche veranstaltet die Hamburger Universität wissenschaftliche 
Knfse von zwei- bis vierstündiger Dauer, die zum größten Teil in den Tagen vom 24.-27. April 
toUfinden. 

A. Kurse zur Pädagogik und Jugendkunde. 

AlsEinzelthemen werden behandelt: Grundfragen der Pädagogik. Die gefährdete Jugend osw. 
Aofierdem veranstaltet das Psychologische Laboratorium einen pädagogisch-psychologischen 
Sonderlehrgang für solche Lehrkräfte aller Schulgattungen, die sich speziell mit schulpsycho¬ 
logischen Aufgaben und mit der psychologischen Schulung der Lehrerschaft durch Vortiäge und 
Arbeitsgemeinschaften beschäftigt haben oder zu beschäftigen gedenken. Eine nähere Bekannt¬ 
schaft mit der modernen wissenschaftlichen Psychologie muß vorausgesetzt werden. Der aus 
mehreren Teilkursen bestehende Lehrgang erstreckt sich auf Psychologie der reifenden Jugend, 
Begabungs- und Berufseignungsforschung, psychologische Vertiefung des Lehrerurteils; er muß 
im Ganzen belegt werden. Die Teilnehmerzahl ist beschränkt 

B. Fachwissenschaftliche Kurse 

insbesondere über die Bedeutung der wissentcbaftlichen Methoden und Forschungsergebnisse 

für den Unterricht. 

Ans folgenden Gebieten sind bisher Kurse (z. T. mit Demonstrationen und Exkursionen) an¬ 
gemeldet: Philosophie. Allgem. Sprachwissenschaft. Klass. Philologie. Heuere Sprachen und 
Literaturen. Deutschkunde. Völkerkunde. Kunstgeschichte. Mathematik. Physik. Biologie. 
Erdkunde. Geologie. Meteorologie. Siedlungswesen. 


III. Ausstellungen. 

Während der Woche finden eine Reibe von Ausstellungen statt, und zwar: 1. die zeich¬ 
nerische Begatang. 2. Werkarbeiten von Lehrern und Schülern. 3. Einfache Apparate aus der 
Hand des Schülers und des Lehrers und einfache Versuchsanordnungen für den natuiwissen¬ 
schaftlichen Unterricht. 4. Der Arbeitsunterricht in Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und 
Erdkunde (Oberrealschule auf der Uhlenhorst). 6. Heimatkunde. 6. Schrift und Schreiben. 7. Scbul- 
gesehichtliche Ausstellung. 


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Literaturbericht 


IV. Sonstige Veranstaltungen. 

Ostermontag, den 17. April: Dampferfahrt nach Cuxhaven (Elbmündung). Dienstag, 
den 18. April: Gemeinsamer Festabend im Cnriohaus (Lehrervereinshans). Mittwoch, den 
19. April: Konzert in der Michaeliskirche. Freitag, den 21. April: Vorstellungen der Jugend¬ 
wanderbühne und der Spielgruppen verschiedener Schulen. Sonnabend, den 22. April: 
Dam pferfahrt dnrch den Hafen. Sonntag, den 23. April: Spiel- und Sportfest. Außerdem 
finden täglich nach Verabredung mit dem Geographie-Ausschuß Führungen durch Stadt und 
Hafen statt. 

Alle Anmeldungen sind mit Angabe der gewünschten Arbeitsgemeinschaften und einer MiU 
teilung, ob die Teilnahme an den Kursen der Universität gewünscht wird, bis zum 1. Februar 1922* 
an die Geschäftsstelle der Oberschulbehörde, Dammthorstraße 25, zu richten. 

Sobald eine Obersicht Über die Zahl der Teilnehmer vorliegt, wird der endgültige Arbeitsplan 
nach Tagen und Stunden geordnet zugesandt werden. — Die Teilnehmerkarte kostet M. 50.—. 
Die Veranstaltungen der Universität sind einzeln gegen besondere noch festzusetzende Gebühren 
zu belegen. Ebenso werden die Zulaßkarten zu den „Sonstigen Veranstaltungen“ (IV) beson¬ 
ders berechnet Der Zutritt zu den Ausstellungen ist auf Grund der allgemeinen Teilnehmer¬ 
karte frei. — Es soll versucht werden, möglichst vielen Teilnehmern Wohnung und Ver¬ 
pflegung preiswert zu beschaffen. Wer daher private Unterkunft wünscht, wird gebeten, dies 
bei der Anmeldung anzugeben. 

Nachrichten. 1. Johannes Trüper, der Begründer und Leiter des Er¬ 
ziehungsheimes Sophienhöhe bei Jena und Herausgeber der Zeitschrift für 
Kinderforschung nebst ihren „Beiträgen“ ist am 1. November 1921 im Alter 
von 60 Jahren gestorben. 

2. Im 67. Lebensjahre starb im Dezember 1921 Provinzialschulrat Dr. Paul 
Cauer, Professor für klassische Philosophie, praktische Pädagogik, Didaktik 
und Geschichte des höheren Schulwesens an der Universität Münster. 

3. Provinzialschulrat Dr. Wilhelm Kahl, Privatdozent für Pädagogik, 
wurde zum Honorarprofessor der Universität Köln ernannt. 

4. Dr. Fritz Giese in Halle erhielt an der rechts- und staatswissen¬ 
schaftlichen Fakultät mit der Ernennung zum Professor einen Lehrauftrag für 
Vorlesungen und Übungen über Wirtschaftspsychologie. 


Literaturberfcht 

Eine neue psychologische Zeitschrift. 

Psychologische Forschung, Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften. 
Herausgegeben von K. Koffka (Gießen), W. Köhler (Berlin), M. Wertheimer (Berlin), K. Goldstein 

Frankfurt a. M.), H. Gruhle (Heidelberg). 

Verlag Springer, Berlin. Bd. I, Heft 1/2. Preis des Bandes (20—30 Bogen) 86 M. 

Unter dem Titel „Psychologische Forschung“ beginnt eine neue Zeitschrift zu erscheinen,, 
die einen bemerkenswerten Fortschritt unserer wissenschaftlichen Arbeit einzuleiten verspricht. 
Das was sie von den anderen der allgemeinen Psychologie dienenden Zeitschriften unterscheidet, 
ist die Geschlossenheit des Standpunktes und der Richtung, ln ihr gewinnt die „gestalt- 
psychologische“ Auffassung des Seelenlebens ihr ständiges Organ. Eine Gruppe jüngerer 
Psychologen, die bisher im Stillen, aber eifrig arbeitete, hatte schon dem letzten Psychologen¬ 
kongreß in Marbnrg eine besondere Note gegeben; nun erhält sie auch für den Femerstehenden 
deutlichere Umrisse durch diese Zeitschrift Der geistvolle Anreger ist Max Wertheimer, der 
bisher nur wenig veröffentlicht hat, aber auf seine persönlichen Freunde und Jünger, einen 
außerordentlich tiefgehenden Einfluß ausübt; (ihm reiht sich der) durch seine Untersuchungen 
an A nthropoiden schnell bekannt gewordene Wolfgang Köhler (jetzt G. E. Müllers Nachfolger 
in Göttingen), ferner die Psychologen Koffka und Gelb, die Psychiater Goldstein und Gruhle an. 

Die psychologische Grundüberzeugung, welche dieser Richtung eigen ist, kommt in den 
knappen „Prinzipiellen Bemerkungen“ Wertheimers programmatisch zum Ausdruck. Der Kampf 


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Literaturbericht 


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gilt den zwei Thesen, die — ausgesprochenermaßen oder unbewußt — den größten Teil der 
exakt-psychologischen Arbeit bisher beherrschten: der Mosaik- oder Bündelthese und der Asso- 
riationstbese. Bestritten wird jeder Versuch, das psychische Geschehen von den „Elementen“ 
her zu erklären, die sich summativ aneinanderknüpfen und durch beliebiges Beieinandersein 
rar Synthesis gebracht werden. Dieser Auffassung wird die Gegenthese gegenübergestellt: 
,Das Gegebene ist an sich, in verschiedenem Grade gestaltet: gegeben sind mehr oder weniger 
bestimmte Ganze und. Ganzprozesse, mit vielen sehr konkreten Ganzeigenschaften, mit inneren 
Gesetzlichkeiten, charakteristischen Ganztendenzen, mit Ganzbestimmtheiten für ihre Teile. 
^Stöcke“ sind zu allermeist in konkreter Weise als „Teile“ in Ganzvorgängen aufzufassen.“ 

Für den Kenner der personalistischen Psychologie leuchtet sofort die Verwandtschaft beider 
imchauungen ein; denn auch der Personalismus führt ja — sowohl in der Weltanschauung 
Oberhaupt, wie auch speziell im Psychologischen — den ständigen Kampf gegen den Versuch, 
Ganzheiten aus Teilen entstehen zu lassen, also gegen eine Mechanismus- und Aggregattheorie 
des Seelischen. Zum mindesten in der Abwehr sind somit beide Richtungen identisch. Aber 
auch im Positiven sind so viel Berührungspunkte da, daß sich eine Gemeinsamkeit der Arbeit 
als sachliche Notwendigkeit aufdrängt Zurzeit besteht noch der Unterschied in der Auswahl 
der Probleme. Der Personalismus wendet den Gestaltungsgedanken vornehmlich auf die „Person“ 
selbst als unitas multiplex an und sucht alles einzelne Psychische durch seine Zweckbeziehung 
za der sich ständig gestaltenden Einheit persönlichen Lebens zu verstehen; bei ihm spielen 
daher die Gestaltprinzipien der Disposition, der Entwicklung, der Anlage usw. eine vorherrschende 
Rolle. Die Gestaltspsychologie dagegen hält sich an die Bewußtseinsphänomene als solche und 
knüpft daher viel unmittelbarer, wenn auch polemisch, an die bisherige experimentelle Labo- 
ratoriumsarbeit an. Es sind insbesondere die Probleme der räumlichen Wahmebmung, der Be- 
wegungsauffassung, dann aber auch gewisser Denkphänomene, die hier in äußerst fruchtbarer 
Weise behandelt werden. Gründlichste Experimentaltechnik wird genau wie bei den bekämpften 
Psychologen angewendet, aber nun nicht, um etwa bei einem bestimmten Phänomen der Raum- 
vahmehmung oder des Denkens aufzuzeigen, welche „Elemente“ daran beteiligt sind, sondern 
am diejenigen Gesetzmäßigkeiten zu finden, die der strukturierten Raumgestalt oder Bewegungs¬ 
testalt oder Gedankengestalt innewohnen und von sich aus erst die einzelnen Bestandsstücke 
in Ihrer psychischen Elementarbeschaffenheit bestimmen. Die ausführliche Spezialuntersuchung 
von Czermak und Koffka über „Bewegungs- und Verschmelzungsphänomene“ bietet ein Beispiel 
hierfür. 

Bemerkenswert ist dann weiter die erfolgreiche Anwendung der Gestaltsgesichtspunkte auf 
psychopathologische Fälle: Hier ist es insbesondere die Frankfurter Hirnverletztenuntersuchungs- 
station von Professor K. Goldstein, die zu theoretisch und praktisch gleich wichtigen Ergebnissen 
über* die Struktur von Wahmehmungs- und von Denkstörungen gekommen ist. Diese sind 
nun Teil bereits an anderen Stellen veröffentlicht; zum Teil werden sie in der neuen Zeitschrift 
erscheinen. Den Anfang macht hier eine Arbeit von W. Fuchs. 

Schließlich sei noch mit einem Wort auf Köhlers Beitrag „Zur Psychologie des Schimpansen“ 
eingegangen. Köhler gibt hier eine Art Nachlese zu seinen früheren Spezialuntersuchungen, 
die sich sämtlich mit den Schimpansen der deutschen Anthropoidenstation in Teneriffa befassen. 
In ihrer Gesamtheit bilden diese Affenuntersuchungen die weitaus besten Beiträge zur Tier¬ 
psychologie, die uns das letzte Jahrzehnt gegeben hat. Bezogen sich die früheren Darstellungen 
K/s auf die Intelligenz und die einfacheren „Strukturfunktionen“ der Menschenaffen, so werden 
diesmal in zwangloser Form vornehmlich die Erscheinungen des Gemüts- und Willenslebens 
behandelt, das Verhalten zur Gruppe, zum Menschen, zu anderen Tieren, Kameradschaft, Haß, 
Furcht, Sexualleben, Spiel. Aber auch auf gewisse geistige Funktionen, so das Verhalten zur 
Zeit nach rückwärts und vorwärts, das Erkennen des Spiegelbildes oder von Photographien usw. 
BDt sehr interessantes Licht. Besonders lehrreich ist die Lektüre gerade für den Kindes- 
Psychologen. Die Übereinstimmung der K.'sehen Beobachtungen mit Feststellungen, die 
vir and andere in dem ersten Lebensjahre des Menschenkindes machen konnten, ist geradezu 
verblüffend, und es würde eine höchst dankenswerte wissenschaftliche Aufgabe sein, die Ver¬ 
gleichung beider psychischer Gebiete systematisch durchzuführen; denn wir würden dann mit 
einer ganz anderen Deutlichkeit als bisher die Grenzstellen aufzeigen können, an denen auch 
das höchste tierische Seelenleben gegenüber dem immer weiter fortschreitenden menschlichen 
endgültig Zurückbleiben muß 1 ). 

’) Obige Zeilen waren bereits geschrieben, als ein Buch erschien, das der dort auf¬ 
gestellten Forderung zum Teil zu’ entsprechet sucht. K. Koffka veröffentlicht soeben „Di* 
Grundlagen der psychischen Entwicklung. Eine Einführung in die Kinderpsychologie“ (Zickfelu, 


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Literaturbericht 


Das Wagnis, unter den gegenwärtigen schwierigen Verhältnissen eine neue Zeitschrift zu 
beginnen, ist nicht gering, wir möchten der Hoffnung Ausdruck geben, daß der „Psychologischen 
Forschung 44 dies Wagnis glücken möge. 

Hamburg. William Stern. 


Elnzelbesprechungen. 

Prof. Heinrich Ernst Ziegler, Tierpsychologie. Sammlung Göschen. Berlin und 
Leipzig 1921. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. 118 S. 6 M. 

Wer in diesem Bändchen einen geschlossenen und ebenmäßig ausgebauten, das Wesent¬ 
liche in guter Übersicht daistellenden Abriß der Methoden und Ergebnisse der tierpsychologi- 
achen Forschung erwartet, wird enttäuscht sein. Was Ziegler bietet, ist einseitig naturwissen¬ 
schaftlich eingestellt, bewegt sich teilweise in vulgärpsychologischen Begriffen und Auffassun¬ 
gen, übergeht wichtigste Gebiete, befriedigt auch nicht im Aufbau. Im ersten Teile wird, mit 
den Auffassungen in den alten Religionen und bei der älteren griechischen Phil« sophie be¬ 
ginnend, ziemlich eingehend ein Obeiblick über die Geschichte der Tierpsychologie gegeben, 
auf den man gern zugunsten anderer Tatsachen- und Gedankenkreise verzichtet hätte. Der 
zweite Teil — Grundbegriffe der Tierpsychologie — behandelt ausführlich und gut den In¬ 
stinkt, um dann — sich 6ehr allgemeiner Begriffe bedienend — über die Gefühle und das 
Gedächtnis wegzugleiten und bei der Betrachtung der höheren Verstandestätigkeiten nicht viel 
mehr zu bieten als einen kurzen Bericht über die Köhlerschen „Intelligenzprüfungen an anthro¬ 
poiden Affen 44 und über die „Klopfsprache bei Pferden und Hunden“. Der dritte Teil ist ent- 
wicklungegefchichtlicb eingestellt. Es werden hier die Protozoen, die Cnidarier, sodann die 
Würmer, Arlhiopoden und Mollusken, schließlich die Wiibeltiere entsprechend ihrer körper¬ 
lichen Organisation als ..pfycbische Stufen 44 unterschieden und vorwiegend nach ihn m Nerven¬ 
system und in ihien Reakticnsweisen dargestellt. Ein Schlußwort erörtert dann noch, wie mensch¬ 
liches Seelenleben zwar den höchsten Stufen tierischer Erscheinungen nahesltht, wie aber 
seelisches Tierleben nicht von der Psychologie des Menschen aus gedeutet weiden darf. — Ein 
Vorzug des Zieglersehen Buches sind seine reichen Hinweise auf Beispiele. Einige beigegebene 
schematische Dai Stellungen verschiedener Nervensysteme begleiten den Text. Es bleibt nach 
Zieglers GörchenLändcben das Bedürfnis eines Grundriß der Tierpsychologie in einer Dar¬ 
stellung, wie sie die Sammlungen Wissenschalt und Bildung, Natur- und Geisteswelt und 
Göschen pflegen, immer noch offen, 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Rorschach, Hermann, Psychodiagnostik, Methodik und Ergebnisse eines wahr¬ 
nehmungsdiagnostischen Experimentes (Deutenlassen von Zufallsformen). Bern und 
Leipzig 1921. Ernst Bircher. 174 S. 60 M. 

Das Buch ist zunächst für den Mediziner, speziell den Psychiater geschrieben, aber der in 
dem Werk ausgearbeitete „Formdeute versuch“ wird für den Pädagogen und Berufsberater eine 
ebensolche Bedeutung erlangen wie für den Psychiater. 

Der Verfasser benutzt einen Testapparat von 10 Tafeln, deren Jede durch Pressen von Tinten- 
klexen gewonnene Figuren enthält. Die Versuchsperson wird aufgefordert, zu sagen, was für 
Figuren sie in diesen Tintenklexen wahrnimmt. Die Aussagen werden genau protokolliert und 
alsdann nach bestimmtem, genau kritisch ausg<arbeitetem Verfahren statistisch ausgewertet. Es 
wird z. B. unterschieden, ob vorwiegend ruhende Formen wahrgenommen oder ob Bewegungen, 
kinästheti8che Momente hineingedeutet oder ob die Farben — bei den mehrfarbigen Figuren — 
stark mitverwertet werden. Ferner wird unterschieden, ob die Teribilder als Ganzes oder in 
Teilen erfaßt werden usw. So erlaubt die Berechnung alsdann, verschiedene Typen aufzn- 
stellen: Theoretiker, Praktiker, Phantasiemenschen, Nörgler, Pedanten, Abstrakte usw. Das Ver¬ 
hältnis der Bewegungs- und Faibmomente zueinander repräsentiert das Verhältnis der introver- 
siven, auf Innerlicbkeitsarbeit gewandten, zu den extratensiven, auf die Außenwelt gerichteten 
Momenten einer Versuchspeison. Dieses Verhältnis, als »Erlebnistypus“ bezeichnet, gestattet, den 
introversiven, extratensiven, koartierten und ambiäqualen Erlebnistypus zu unterscheiden. 


Osterwieck 1921, 278 S.) Gemeint sind die ersten Lebensjahre. Im Mittelpunkt des Buche$ steht 
die Psychologie der frühkindlicben Neuleistungen und Lernprozesse; und weitgehend werden 
zu deren Verständlichmachung im Sinne der Gestaltspsychologie die Parallelen aus Köhlen and 
sonstigen Tieruntersuchungen herangezogen. 


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Literaturbericht 


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Je mehr die Farben über die Kinästhesien überwiesen, um so labiler ist die Affektivität 
der Versuchsperson; je mehr die Kinästhesien überwiegen, um ao stabilisierter ist die Affektivität. 

Aus diesen kurzen Bemerkungen geht schon hervor, welche Bedeutung dieser Versuch in 
der Hand des Psychologen und Pädagogen gewinnen kann. Ausgehend von der Fragestellung: 
Mit welchen Gedanken beschäftigt sich die Versuchsperson in freien Momenten, in denen sie sich 
selbst ganz überlasten ist, läßt sich mittels des „Formdeutevereuchs“ in 20—30 Minuten ein 
Oberblick gewinnen über wesentliche charakterologische Eigentümlichkeiten, über die affektive 
Veranlagung usw. der Versuchsperson. Dt. Römer, ein langjähriger Mitarbeiter Dr. Rorschachs, 
verwendet bei der Berufsberatung der Akademiker den psychodiagnostischen Versuch in weitem 
Maße. (Vgl. den Bericht im Sammelbande des 7. Kongresses für experimentelle Psychologie. 
Marburg 1921, J. A. Barth, Leipzig.) 

Dortmund. Bruno Krause. 


Gertmd Bäumer und Lili Droescher. Von der Kindesseele. Beiträge zur Kinder- 
psychologie aus Dichtung und Biographie. Leipzig 1921. 467 S. 4. Auflage. R. Voigt 1 ändere 
Verlag. 30 BL 

Wir haben, als die schöne Sammlung erstmals erschien, ihre Bedeutung als wissenschaftliche 
Erkenntnisquelle und ihren Wert als eine Handreichung für den psychologischen Unterricht an 
Eraieherbildungsschulen gegenüber anderen Meinungen auf ein geringes Maß zu rückgeführt, 
ohne ein Verdienst der beiden Herausgeberinnen damit verkennen zu wollen, und wir 
halten unsere bedingte Eiqschätzung des Buches, dem wir unterdessen wer weiß wie oft reichen 
literarischen Genuß verdanken, auch heute, wo ihm das stärkere Hervortreten einer «verstehen¬ 
den Psychologie* günstig geworden ist, noch aufrecht. Sch. 

Walter Georgi, Briefe deutscher Ferienkinder aus Skandinavien. Jena 1921. 
Diederichs. 161 S. 

Dem Verfasser waren vom Roten Kreuz ungefähr 25000 Briefe und Karten in die Hand 
gegeben, die deutsche Ferienkinder aus Skandinavien und Finnland nach der Heimat ge¬ 
schrieben batten. Ein außerordentlich wertvolles Material für kinderpsychologische Forschung, 
unvergleichlich ergiebiger und aufschlußreicher als noch so große Sammlungen von Schul¬ 
aufsätzen, auf die sich vielfach Jugend kund liehe Untersuchungen gründen. Losgelöst aus dem 
tagtäglichen Lebenszusammenhang des «Zubause*, in der Fremde überwältigt von tausend 
Neuem, brechen diese Ferienberichte ungekünstelt, kinderecht und naturwüchsig heraus aus 
innerer Ergriffenheit und Erlebnistiefe. Es lohnte sich, unter den verschiedensten Fragestellungen 
das Material auszuwertep. Ergibt doch schon ein erster Blick auf herausgegriffene Proben 
wichtige psychologische Funde: wie Dänemark ganz anders auf Gemüt und Denken der Ferien- 
kmder wirkt als Norwegen und Finnland, wie sich die Standeszugehörigkeit der Kinder — ob 
Arbeiter-, Bürger- oder Adelskind — in den empfangenen Eindrücken widerspiegelt, wie Alters¬ 
stufen, Knaben und Mädchen usf. scharfe Typenbilder zeigen usf. Die Auswahl aber, die Walter 
Georg! aus dem unschätzbaren Material getroffen bat, geschah nicht für wissenschaftliche Ver¬ 
wertung. Immerhin vei dient sie auch die Beachtung des Psychologen. 

Leipzig. Otto Scheibner. 


G. F. Hartlaub, Der Genius im Kinde. Zeichnungen und Malversucbe begabter Kinder. 

Breslau 1922. Hirt 184 S. u. 91 Abb. auf Kunstdruckpapier. Geh. 60 M., geb. 72 BL 
Das vom Verlag glänzend ausgestattete Buch ist erwachsen aus der Mühe um die 1921 
in Mannheim veranstaltete Ausstellung hochentwickelter zeichnerischer Kinderleistungen, einer 
Ausstellung, di* „ein wesentlich anderes Bild als die mechanischen Schul k inderarbeiten“ (S. 57) 
ergab. Auf über 90 Tafeln führt es in technisch vollendeter Wiedergabe eine Auswahl der 
kindlichen „Kunstwerke“ unter beigetügten Hinweisen au! ihre Entstehung und Deutung vor, 
und ein in sich selbständiger Text leitet die wertvolle Sammlung ein. In diesen textlichen Aus¬ 
führungen will Hartlaub, bewußt auf romantische Auffassungen zurückgreifend, binführen zu 
einem tief* ren Verstehen de$ kindlichen Gestaltens, wie es triebkräftig als Naturgabe aus dem 
weidenden Geiste bervoi bricht, wie es einen höchsten Eigenwert in sich trägt und wie es des 
Schutzes gegen unverständige und ebrfurchtslose Verscbulmeisterung durch die Erwachsenen 
bedarf. Es ist vorwiegend eine verstehende Psychologie, mit der Hartlaub das erlebnistiefe 
Walten im freien kindlichen Schaffen aufzuschließen sucht, wiewohl er dabei gern seinen Glauben 
an den „Genius im Kinde** mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen stützt (vgl. 
den trMUichen Abschnitt „Anmerkungen und Exkurse'*), und es ist eine lose verbundene Reihe 


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Literaturbericht 


geistvoller, mitunter ästhetisierender Essays, in denen er vom Wesen des kindlichen Darstellend 
Zeugnis gibt. „Träumen und Spielen**, „Zeichen und Gesicht“, „Schmuck und Gebärde“, „Er¬ 
findung und Gesinnung** überschreiben sich einige seiner feinsinnigen Feuilletons, die nicht frei 
von schöngeistigem Überschwang bleiben, aber von denen sich schließlich auch der auf schlich¬ 
teren Ton eingestellte. Fachpsychologe nicht ungern auf gefühlsgetragenere Betrachtungen ein¬ 
stimmen lassen wird. Was an pädagogischem Gehalte in den Darlegungen Hartlaubs ruht 
— vgL besonders den Abschnitt „Unterweisung“ S. 70 ff. —, ist erheblich, wenn auch zu einem 
Teile schon gesicherter Ertrag aus den Jahren, in denen ,,Kind und Kunst“ als Schlagwort um¬ 
lief. Wir danken dem Buche manche Förderung." 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Kurt Finkenrath, Die Jugend zur Geschlechterfrage. Zeitschr. f. Sexualw. 
7. Heft. Oktober 1921. 

Die wichtigste Stoffquelle zur Kenntnis der geschlechtlichen Anschauungen der Jugend sind 
selbstgeschriebene Äußerungen. Es kommen in Betracht: Bier- und Schülerzeitungen, Studenten- 
und Schülerpoesie, jugendliche Briefwechsel, Tagebücher und Aufsätze in Jugendzeitschriften. 
Nur letztere sind hier berücksichtigt. Es zeigen sich 3 Hauptrichtungen: 1. eine gro߬ 
städtische, frühreife, jüdische, die das „Recht der Erotik a fordert, 2. eine zarte, weihevolle, 
gefühlsreiche, die Kameradschaft und tiefverbundene Gemeinschaft zwischen den Geschlechtern 
erstrebt; sie zeigt sich in der Wandervogeljugend, 3. eine, die vom vorherrschenden Denk¬ 
vermögen beherrscht, die soziale Frage und die hygienische Seite in den Vordergrund stellt: 
ihr gehört die studentische Literatur an. Das Material stammt aus* der Vorkriegszeit und ist 
im ganzen sehr einseitig. 

Löbau i. Sa. Heinz Burkhardt. 

Wilhelm Heinitz (Hamburg), Können wir sprechen, was wir singen? Vox, Internat. 
Zentralbl. f. experim. Phonetik, 1921. Heft 4. 

Verf. ließ von Versuchspersonen bekannte Liedanfänge (Was blasen die Trompeten? Husaren 
heraus! — Allein Gott in der Höh* sei Ehr! — Stille Nacht, heUige Nacht, alles schläft, einsam 
wacht. — Es ist ein Ros* entsprungen — u. ä.) sprechen. Die Assoziation mit der musikalischen 
Vertonung erwies sich so stark, daß bei den meisten Vp. kein natürliches Sprechen erfolgte. 
Rhythmik, Dynamik und Dauer wurden beeinflußt. Das kann durch sinngemäßes Deuten der 
dichterischen Absichten vor der Einübung der Vertonung vermieden werden. Die Versuche 
lassen sich leicht wiederholen. 

Löbau i. Sa. Heinz Burkhardt. 

F. Reinkemeyer, Förderung der Begabten. Richtlinien und Vorschläge zur Neugliederung 
der Volksschule. Köln 1921. M. du Mont-Schaubergsche Buchhandlung. 32 S. 5,50 M. 

Die Volksschule — so wird ausgeführt — darf nicht die Förderung einer Spitzengruppe 
von Hochbegabten betreiben, sie muß vielmehr darauf zukommen, eine breitere Schicht der 
Begabteren zu befreien von dem Bleigewichte der Schwächeren im Geiste, Entscheidend soll 
dabei aber nicht einzig die rein intellektuelle Fähigkeit sein, sondern es gilt, das Gesamtbild 
der seelischen Verfassung der Schüler zu bewerten. Die Scheidung, bei der Lehrerbeobachtung 
und Testanwendung vereint wirken möchten, wird verlegt auf das Ende des 4. oder 3. Schul¬ 
jahres. Der Volksschulkörper weist dann drei Klassenzüge auf: Zu der Normalschule zählen 
Gut- und Bestbegabte mit höherer Spannkraft; die Entlastungsklassen vereinigen die Schwächeren 
und von den besser Veranlagten solche mit geringerer Energie; der Sammelklasse aber werden 
ausgesprochen Schwachbegabte zugewiesen. — Der Schrift mangelt die von ihrem Gegenstand 
unerläßlich geforderte tiefere psychologische Durchleuchtung. Die praktisch-pädagogischen Ge¬ 
danken und Vorschläge bringen, von Untergeordnetem abgesehen, kaum wesentlich Neues. 
Sicher wäre die Schrift nicht geschrieben worden, hätte sich ihr Verfasser, wie es bei einer so 
lange und gründlich erörterten Frage selbstverständliche literarische Pflicht ist, im Schrifttum des 
Gebietes umgesehen. Erst nach Abschluß seiner Arbeit, so heißt es im Vorwort, hat er zu einer 
der Schriften Sickingers; gegriffen und mit seltsamer Pose bekennt er, daß ihm dies genüge. 

Leipzig. Rieh. Tränkmann. 

Johannes Prüfer, Theorie und Praxis in der Erziehung. Ein Buch zur Vertiefung des 
pädagogischen Denkens. Leipzig 1917. J. Klinkhardt. 88 S. 9 M. 

Wer die pädagogischen Arbeiten von Johannes Prüfer verfolgt hat, kennt ihn als einen der 
wenigen Denker, die über das Gebiet der Schulerziehung hinausblicken und die zentralen^ragen 


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der sittlichen Bildung und Erziehung für die ausschlaggebenden halten. Seinen originalen 
Forschungen über Fröbel verdanken wir ein wesentlich verbessertes und gereinigtes Bild dieses 
Mannes und seiner Bestrebungen ; Prüfers Geschichte der Erziehung des Kleinkindes ist noch immer 
der beste Oberblick über Familien- und Früherziehung in ihrer Entwicklung. Aus dem gleichen 
Gedanken- und Interessenkreis erwuchs die von ihm ins Leben gerufene „Deutsche Gesellschaft 
zur Förderung der häuslichen Erziehung“ nnd wirkt deren von ihm geleitete Zeitschrift „Eltern 
und Kind“. Feinsinnig und gemütvoll als Persönlichkeit besitzt Prüfer einen guten Blick gerade 
für die eigentlichen Erziehungsfragen, die pflegliche, entwickelnde und bessernde Arbeit am sitt¬ 
lichen Kern der werdenden Persönlichkeit. Er wird nicht müde — hierin mit seinem Vorbild 
Fröbel natur- und wahlverwandt —, die Erziehung als die für das moralische Schicksal des 
Einzelnen und der Menschheit bestimmende Macht klarzulegen und so zur Vertiefung der päda¬ 
gogischen Verantwortlichkeit beizutragen. 

ln den vier Kapiteln (1. Die pädagogische Idee, 2. Pädagogik als Wissenschaft, 3. Die prak¬ 
tische Erziehung, 4. Pädagogische Kultur) des klar und flüssig geschriebenen Buches, das ich 
Eltern und Berufserziehern für eine Stunde der inneren Sammlung, der Besinnung und Ver¬ 
tiefung warm empfehlen möchte, entwickelt er seine Philosophie der Erziehung Im ersten Ge¬ 
dankenzug bestimmt er wesentlich in einer Auseinandersetzung zwischen Natorp und Fröbel die 
Natur der „Ideen“ als freier und aktiver Schöpfungen des Geistes, die dem Wirklichen als un¬ 
bedingte Zielstellungen vorleuchten, als voraussetzungslose Willensrichtungen und Forderungen 
vorangehen, nicht als Zusammenfassungen oder Folgerungen aus ihm abstrahiert sind, ln dem 
Verhältnis von Idee und ^Wirklichkeit wurzelt das pädagogische Tun in seinem umfassenden 
Sinn. „Selbstbewußte Entwicklung vermag sich allein zu denken unter der Idee eines Zieles, 
das sie erreichen soll“ (Natorp). So wird zur pädagogischen Idee der wesensnotwendige Glaube, 
daß jeder empirische Mensch stehe im Dienst der unendlichen Aufgabe, das Menschliche zu ver¬ 
wirklichen, berufen, die unbedingten Forderungen des Geistes zu leben. Was sich aus dieser 
Grundeinstellung an Folgerungen für den pädagogischen Optimismus, für die pädagogische 
Auffassung der Freiheit, für den ursprünglich behütenden, nur allmählich und bedingt auch vor¬ 
schreibenden, fordernden und eingreifenden Charakter der Erziehungsmaßnahmen, über Recht 
und Grenzen des lndividualisierens in der Erziehung ergibt, wird in einer immer zu Herzen 
gehenden Selbstbesinnung verdeutlicht und veranschaulicht 

Aus dieser grundlegenden Einsicht, die den philosophischen Gedanken vor der Vermengung 
mit der Wirklichkeit (S. 30) sicherstellt, leitet sich auch Prüfers Auffassung der Pädagogik als 
Wissenschaft her. Philosophische Systeme der Erziehung bleiben Theorie, darum beschränkt in ihrer 
Geltung und Anwendungsfähigkeit für das reale Leben; auch induktiv gewonnene, psycho¬ 
logisch fundierte, sozusagen technische Systeme der Pädagogik, die auf der Beobachtung der 
Wirkungen in früheren Fällen beruhen, können unbedingte Verbindlichkeit für die Praxis nicht 
beanspruchen, weil der Effekt erziehenden Tuns in der Sphäre der menschlichen Freiheit liegt, 
die eine völlige Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit ausschließt. Durch solche Überlegungen 
wird die Normativität der Pädagogik beschränkt und eine deskriptive Erfassung und Durch¬ 
dringung der Erziehungstatsachen selbst als der innerste Sinn einer von den Forderungen und 
Bedürfnissen der Praxis emanzipierten reinen pädagogischen Theorie herausgestellt. Der Ver¬ 
fasser hat recht, wenn er diese Auffassung als erst in der Bildung begriffen bezeichnet, aber 
auch, wenn er ihr eine sichere Zukunft prophezeit 

Im dritten Gedankenkreis gibt Prüfer eine auf breiter Erfahrungsgrundlage ruhende Zer¬ 
gliederung des erziehenden Tuns und entwickelt dabei die einzelnen Voraussetzungen, Hilfsmittel, 
Hemmungen der praktischen Erziehungsarbeit. Die Analyse des erziehenden Aktes, d. h. des 
„Wesens“ all der im einzelnen außerordentlich verschiedenen Akte, die im Dienst der päda¬ 
gogischen Idee eben pädagogische werden, ist unstreitig die wichtigste Aufgabe der Erkenntnis; 
Prüfer hat (in nicht wenigen Einzelaufsätzen seitdem) weitere Momente verdeutlicht Indem er 
vom einzelnen Erziehungsvorgang aus Licht fallen läßt auf die weiteren Zusammenhänge, wird 
dieses Kapitel ein Grundriß der praktischen Erziehungslebre, besinnlicher als die sonst üblichen 
schulmäßigen Abhandlungen über Aufgabe und Grenzen der Erziehung, über Autorität, Vorbild, 
Erziehungsmittel, Lohn, Strafe usw., der Vielfältigkeit der Tatbestände feiner angepaßt als die 
starren Nonnen, die sonst deduziert zu werden pflegen. Auch wenn Prüfer selbst es nicht 
deutlich ausspricht, die zugrunde liegende Meinung möchte ich entschieden teilen: kein Er¬ 
ziehungsmittel ist eindeutig — kein Erziehungsfall generalisierungsfähig. Deshalb ist ja die 
praktische Erziehung von vollendet vorbildlicher Gestalt eine so seiten getroffene Leistung der 
seltenen Erzieherbegabung, die nur sehr ungefähr ersetzt werden kann durch die lernbare Technik, 
die wissenschaftliche Reflexion and die willige Nachfolge. Jede gelungene Erziehung eines 
Kindes durch seine Mutter, seinen Vater, jedes Einzelbeispiel einer wenigstens im Grundriß 


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Literaturbericht 


richtigen und sich bemühenden Bildungsarbeit enthält ein geniales Moment — nur haben wir 
noch immer nicht Bückktaft genug, diese Genialität im Kleinen und Alltäglichen, im Praktischen 
und Lebendigen zu sehen. Wenn wir das Geniale im Wirken des rechten Erziehers sehen 
sollen, dann muß es schon in beträchtlichen Ausmaßen auf treten oder — was für das Wirken 
selbst durchaus belanglos ist — in einer Nachfolgergemeinde oder im literarischen Werk ver¬ 
stärkten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben. 

Für den reifsten und interessantesten Teil der Schrift halte ich das Schlußkapitel über 
pädagogische Kultur. Prüfer bewegt sich hier auf einem Gebiet, dem der Hauptteil seiner 
historischen Forschung und seiner praktischen Wirksamkeit gegolten hat und noch gilt. Er¬ 
ziehung als Institution und die Institutionen der Erziehung, der persönliche Faktor in allem In¬ 
stitutionellen, der pädagogische Beruf in allen seinen Zielarten und die Verantwortlichkeit der 
ganzen Gesellschaft, nicht nur der berufsmäßigen Erzieher in ihr, treten als die wesentlichen 
Momente einer pädagogischen Kultur stärker hervor — sie selbst aber ist das lebendige Be¬ 
wußtsein einer Gesellschaft vom Wert der Erziehung und der reine Wille zu immer besserer 
Erkenntnis und Übung der Erziehungspflichten. Bildung und Leben einer organischen Tra¬ 
dition in Erziehungsdingen — das ist das Kennzeichen pädagogischer Kultur. Ob wir — -trotz 
unseres hochentwickelten rationellen Erziehungs- und Bitdungswesens und trotz der Höhe des päda¬ 
gogischen Professionalismus — eine solche vom Volk getragene pädagogische Tradition schon 
haben? Ob überall schon Sinn und Bedeutung der Erziehung in lebendiger F.insicht erfaßt und 
in wirkender Anteilnahme als Sache der Gesellschaft gefördert werden? Oder ob wir ein Volk 
der Lehrer und Erzieher, aber noch kein erzieherisches Volk sind? E 9 sind Fragen von beträcht¬ 
licher Tiefe, mit denen Prüfer seinen Leser entläßt, er selbst hoffnungsfreudig und erziehungs¬ 
gläubig, von der Möglichkeit pädagogischer Volkskultur innerlich überzeugt und aus diesem 
Glauben fähig, pädagogisches Leben zu wecken. 

München. Atoys Fischer. 

Elise Deutsch, Jugendlichen-Pädagogik. Aus der Erfahrung dargestellt als Ratgeber 
für Klassenführung und Schulleitung, sowie als Anleitung für den Gebrauch an Seminaren 
der Fach- und Fortbildungsschullehrerinnen, sowie zum Selbstunterricht Leipzig 1921. 
Teubner. 103 S. 6 M. 

Diese Handreichung für Lehrerinnen an Mädchenfortbildungsschulen sei hier angezeigt weil 
sie den ernstlichen Versuch unternimmt, gegenüber der ausschließlichen Lehranstalt den Ge¬ 
danken der Erziebungsschule in den Vordergrund zu rücken und in diesem Sinne sich bemüht, 
das Wirken der Lehrerin auf jugendkundliche Einsichten zu gründen. Was freilich in den drei 
ersten Abschnitten an Soziologischem und Psychologischem über das Jungmädchen ausgeführt 
wird, ist zu diesem Zwecke nicht ausreichend, zum Teil aus großstädtischen Erfahrungen 
heraus vorschnell verallgemeinert und in den pädagogischen Folgerungen mitunter doch etwas 
gar zu verständig und hier und da fast tantenhaft. ohne die Grundstimmung de9 Jungseins mit 
der Jugend. Über viel Äußerlichem der „Geschäftsführung“ ist zum schweren Schaden des 
Buches versäumt, den Geist zu fordern und darzustellen, der im Sinne des ArbeitsschuJ- 
gedankens den Unterricht an den für unser Volk so bedeutsamen Mädchenfortbildungscbulea 
durchwalten müßte und der dann ohne allzu ausgeklügelte Küustlichkeiten an Erziehungs¬ 
praktiken ganz natürlich von sich aus eine tiefe, natürliche, echte erziehliche Wirkung aus¬ 
üben wird. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Die Arbeitsschule, Beiträge aus Theorie und Praxis, heransg. vom Leipziger Lehrerverein. 
3. Aufl. Leipzig 1921. Klinkhardt 188 S. 20 M. 

Das bekannte Buch, das aus der methodischen Abteilung des Leipziger Lehrervereins 
hervor^egangen ist und eine Sammlung von Aufsätzen zur Ausgestaltung der Arbeitsschule ent¬ 
hält, die die Lehrer P. Vogel, R Sieber (f 1915), K. Rößger und 0. Erler zu Verfassern haben, 
bringt in der vorliegenden Auflage zwei völlig neue Beiträge; die übrigen, die R. Siebers aus¬ 
genommen, sind ergänzt Ganz auf den Volksschulunterricht eingestellt, behandelt es nach einer 
allgemein orientierenden Einleitung den Begriff der Arbeitsschule (unverändert), die Verstandes- 
und Willensbildung in ihr (unverändert!, die Reform des Elementarunterrichts, die Leipziger 
Versuchsklassen (neu), Beispiele aus dem Gesamtunterricht der Oberstufe (neui, den Bau unseres 
Hauses und unserer Wohnung, Sellerhausen vor 100 und vor 1000 Jahren als heimatkundliche 
Frage, endlich Material und Werkzeug sowie ihre Bildungswerte betreffende Fragen. Die 
Arbeiten sind aus dem Studium der wichtigsten Schriften über den Arbeitsschulgedanken und 
über die Entwicklung des Kindes sowie vielfachen Erfahrungen der Praxis hervorgegangen; 


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überall zeigt sich eifriges Bemühen um neue Wege, ernsthaftes Suchen nach Umbildung der 
vorhandenen Unterrichtsformen und -Verhältnisse in bessere im Sinne des Arbeitsschulgedankens, 
sieht ein biofies Schmieden schöner Pläne, um sie beziehungslos dem Vorhandenen gegenüber- 
zusteliea. — „Die neue Schule muß aus der alten organisch hervor wachsen. 4 * Die neue Schule 
ist aber diejenige, welche von der natürlichen Entwicklung des Kindes ausgeht und in eigen- 
tätiger Schülerarbeit alle Kräfte im Kinde entwickelt, in welcher der Geist der werktätigen 
Arbeit und der Menschenliebe lebt und in der das Leben der Gegenwart und der Heimat pulsiert. 
Zwei Leitgedanken erscheinen besonders betont als für die in dem Buch vertretene Auffassung 
charakteristisch, der eine ausdrücklich, der andere mehr tatsächlich durch die Art der Stoff- 
•aswahl: 1. Die Entwicklung des Kindes soll für alle Erziehung Gesetz und Regel geben, sie 
soll sich in jeder Phase so vollkommen als möglich darsteüen; 2. Die Einstellung des Kindes 
im Volksschalalter gehe besonders auf die äußere, technische Seile des uns umgebenden Lebens, 
md deshalb sei eine so (d. h. technisch) orientierte, großaugelegte Heimat- und Kulturkunde 
als konzentriertes Fach, gleichsam der einzig angemessene Stoffplan für die Arbeitsschule, die 
auf Grund dieses „Konzentrationsfaches 14 auf allen Stufen ihre Arbeit als Gesamtunterricht (im 
Sinne der alle Aufgaben und Betätigungen verwebenden Unterrichtsgestaltung, nicht in einer 
anderen Bedeutung!) durchzuführen habe. Der erste Leitgedanke verführte wenig zu Einseitig¬ 
keiten, soweit ich sehen konnte, da Entwicklung auch von der Umgebung abhängig gedacht 
wiid. Um so mehr der zweite: der Technizismus tritt in den vermi leiten Vorstellungsinhalten 
and angewandten Betätigungsformen allzu stark hervor. Das Wertvolle darin sei durchaus nicht 
verkannt; aber e-i gibt doch auch noch andere Schichten und Bezirke in unserem Leben, denen 
die Kinder Verständnis und Teilnahme entgegenbringen und die auch unter das Ideal des 
schaffenden Menschen fallen Für eine kommende Auflage möohte ich empfehlen, die psycho¬ 
logischen Ausführungen einer erneuten Nachprüfung zu unterziehen, die Literatur sorgfältiger an- 
»führen, die einzelnen Abschnitte klarer und straffer zu gliedern, so daß sie durchsichtiger, im 
Fortschreiten des Gedankens eindrucksvoller werden; dann lassen sich die Wiederholungen, auch 
innerhalb der einzelnen Abschnitte, leichter vermeiden. Diese Mängel sind zum Teil in dem 
gegenwärtigen Stand der Behandlung solcher Fragen begründet; wir haben noch keinen Besitz 
von festen Formen für die Darstellung der Fragen der Arbeitsschuldidaktik, und in die Grund¬ 
formen der herkömmlichen Didaktik passen diese neuen Gedanken und Versuche nicht ohne 
weiteres hinein. Über die einzelnen Darlegungen kann hier nicht eingehender berichtet werden. 
Besonders hingewiesen sei auf den Bericht über die Leipziger Versuchsklassen. Die grund¬ 
legenden Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen) werden erst im letzten Vierteljahr mehr 
systematisch in Angriff genommen, trotzdem wurde am Eude der drei unteren Schuljahre das 
ftbliche Unterrichtsziel erreicht, ln diesem Zusammenhang möchte ich einen in einer solchen 
äehrift scheinbar sehr auffallenden und merkwürdigen Satz anführen (er ist von mir gesperrt, 
tan ich bin der gleichen Meinung): „... das Kind kann . .. mehr Stoff verarbeiten, al 
ihm die gegenwärtige Volksschule bietet, nur muß er ihm gemäß ausgewählt sein und 
B der rechten Weise von ihm verarbeitet werden können 44 (S. 73). — Das Besondere und 
Wertvolle der Schrift liegt darin, daß hinter den Ausführungen jeweils der Wille und die Er- 
ktarang des praktischen Versuches steht; man kann nur wünschen, daß sich recht viel Fähige 
Baden, die in dem gleichen Geist der Umsicht, der Besonnenheit und der Tatkraft neue Wege 
der Unterrichtsgestaltung versuchen und über ihre Absichten uni Erfahrungen berichten. 

Tübingen. Gustav Deuchler. 

0. Erler, Bilder aus d. Praxis d. Arbeitsschule. Lpzg. 1921. Klinkhardt. 124 S. 16,75 M. 

Der Verfasser, Mitarbeiter an der von der methodischen Abteilung des Leipziger Lehrer- 
voreins heraasgegebenen Schrift „Die Arbeitsschule 44 , gibt uns durch seine „Bilder 44 einen 
schönen Einblick in seine eigne praktische Ausgestaltung des Arbeitsschulgedankens. Er gibt 
aber nicht bloß „Bilder 4 *, sondern auch grundsätzliche Betrachtungen über die innere und äußere 
Organisation der Arbeitsschale, wobei er seine Grundanschauungen von dem inneren Wesen 
and der äußeren Ausstattung der Arbeitsschule darlegt, ln seinem Bild von der Arbeitsschule 
hat er den Werk-, Ausdrucks-, Darstellung^- und Selbsttätigkeitsgedanken als ein Ineinander 
ton körperlicher und geistiger Arbeit innig verwoben und unter den Leitgedanken der 
Kalturarbeit gestellt. Der Arbeitsgedanke ist ihm also nicht bloß ein methodischer und 
organisatorischer Gesichtspunkt, sondern auch ein inhaltlicher, das Wertbewußtsein erfüllender. 
Damit ist aber zugleich die Gefahr heraufbeschworen, daß das Kind zwar „zu einem tätigen 
Glied der Kulturgemeinschaft erzogen 44 , aber nicht „der Mensch in ihm entwickelt 44 wird, und 
dieser Gefahr ist Erler, wie ich glaube, nicht ganz entronnen. Eine zweite kommt hinzu. Der 


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Literatur bericht 


V erfasser (aßt den Begriff der Kulturarbeit zu eng. Er sieht in ihr doch im wesentlichen oder 
wenigstens vorwiegend die technischen Einrichtungen des heutigen Lebens, und das macht sich 
dann auch in den Einzelbildern (S. 21 ff.) und insbesondere bei dem Arbeitsplan für die Ober¬ 
stufe (S. 16—21) geltend; diesen kann man vielleicht am besten als „Lebensbilder unserer 
technischen Arbeit (i. w. S.) und Einrichtungen“ bezeichnen: Die Arbeit an und im Hause 
(5. Schul].); die A. im Garten und auf dem Feld (6. Schul].); die A. im Handel und Verkehr 
(7. Schul].); die A. in Industrie und Bergbau sowie in der Verwaltung von Reich, Staat und 
Gemeinde. Zweifellos kommt darin die geistig-geschichtliche Welt an Umfang, Gewicht und 
Eigenart zu kurz, in der Gesamteinstellung wie auch in den Einzelausführungen. Daß die 
Schüler des Verfassers diesem Arbeitsplan Verständnis und Interesse entgegengebracht haben, 
darf auch, abgesehen von der anregenden Kraft des Lehrers, ohne weiteres angenommen 
werden; denn diese soziale Schicht atmet die gleiche geistige Luft, die der Arbeitsplan aus¬ 
strömt. Soll aber das heranwachsende Geschlecht positiv mitarbeiten an der Gestaltung unseres 
sozialen, politischen und geistigen Lebens, so scheint mir dies nicht möglich zu sein, ohne daß 
ein Arbeitsplan verwirklicht wird, in dessen Aufbau der des Verfassers etwa die eine Hälfte 
ausmacht, die andere Hälfte der geistigen und geschichtlichen Welt entstammt; denn Mitarbeit 
am Ganzen setzt ein diesem Ganzen entsprechendes Wertgefüge im einzelnen voraus und den 
Grund dazu bat die Schule zu legen. Das ist der wichtigste Einwand, den ich zu machen 
habe. Die Grundgedanken der Arbeitsschule dürften bei einer zweiten Auflage in schärferer 
Gliederung dargelegt werden. Die Abbildungsart S. 13 ist nicht recht verständlich. Ob die 
vorgelegte Art, an Gesamtbildern zu arbeiten, bei der die eigentätige Erarbeitung der exakten 
Begriffe und Gesetze in den Hintergrund tritt, diese vielmehr immer bloß auftreten und entwickelt 
werden, wenn es das Verständnis des Gesamtbildes verlangt, für die wissenschaftliche Er¬ 
ziehung der Unterstufe der Studienschule in Betracht kommen kann, erscheint mir fraglich. 
Aber das nur nebenbei; der Verfasser ist wohl selbst nicht der Meinung. Die Art, wie alle 
Arbeite- und Erlebnisgebiete im Unterricht in das Ganze des Planes hinein verwoben wird, zeugt 
von großer unterrichtlicher Gestaltungskraft. Ich möchte deshalb dem Buch recht viele wünschen, 
die in und nach ihm eigentätig gestaltend zu arbeiten verstehen; denn es ist für die Praxis 
geschrieben. Aber solche Schriften, die die wirkliche Arbeit an der Praxis der Arbeits¬ 
schule darstellen, sind auch für die Theorie derselben von nicht zu unterschätzendem Wert, 
weil doch nur an ihnen die Grundsätze und Grundanschauungen in kritischer Analyse zur 
Klarheit herausgearbeitet werden können. 

Tübingen. Gustav Deuchler. 


Mitteilungen. 

1. Der Chemnitzer Erziehungsbogen ist dank der ideellen und finanziellen Unterstützung 
des städtischen Schulamtes und der Berufsberatungsstelle der Stadt Chemnitz vollständig um¬ 
gearbeitet worden und in neuer Form erschienen. Die wesentlichste Neuerung besteht darin, daß alle 
Fragen, Beobachtungshinweise usw. aus dem Bogen herausgenommen und in einer gesonderten 
„Anleitung zu planvoller psychologischer Beobachtung“ zuaammengefaßt worden sind. Der 
neue Bogen enthält nur ein Schema von 11 Hauptgruppen, in da6 nach Belieben ausführliche 
oder kurze Beobachtungsergebnisse eingetragen werden können. Auf Anregung der Chemnitzer 
Berufsberatungsstelle wurden Fragen und Beobachtungahinweise anfgenommen, die sich auf die 
Berufsberatung beziehen. Die Berufsberatungsstelle hofft durch dieses Zusammenarbeiten mit 
der Schule wertvolle Aufschlüsse über die Berufseignung der Jugend zu erhalten. In der Er¬ 
kenntnis des erzieherischen Wertes des psychologischen Beobachtungsbogens hat das Schulamt 
die Einführung zunächst in den beiden oberen Klassen der Chemnitzer Volksschulen empfohlen. 
Der Bogen kann zum Gesamtpreise von 1,50 M. (firziehungsbogen 0,60 M., Anleitung dazu 0,00 M.) 
ausschließlich Porto durch Herrn R. Mütze, Chemnitz, Kurfiirstenstr. 17, 111, Gemeindegiro 
Chemnitz C 210, geliefert werden. 

2. Der Frankfurter Beobachtungsbogen von Eckhardt und Schüßler nebst Anleitungs¬ 
heft ist in 2, Auflage bei Julius Beltz, Langensalza, erschienen. 

3. Zur Psychologie der proletarischen Jugendbewegung (vgl. die Aufsätze von 
C. Bondy und W. Stern im letzten Heft, Bd. 22, S. 36911.). Die dort angekündigte Veröffent¬ 
lichung des Buches von Curt Bondy über „Die proletarische Jugendbewegung“ erscheint dem¬ 
nächst im Freideutscben Verlag von Saal, Lauenburg a. d. Elbe. 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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D ie Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle 
Pädagogik (Verlag 
jährlidiin 12 Heften zum 3 
und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen. Briefe und Manu¬ 
skripte sind an den geschäftsführenden Schriftleiter Seminar-Oberlehrer 
O. Scheibner, L.-Gohlis, Ehrensteinstraße 34, zu richten. Be¬ 
sprechungs-Büchersendungen und dergl. an die Verlagsbuchhandlung 
QUELLE *<D MEyER, Leipzig, Kreuzstraße 14 


QUELLE <£> MEyER) erscheint 
von 24. — M. für das I. Halbjahr 1922 


VERLAGSBUCHHANDLUNG BLEYL « KAEMMERER IN ORESDEN-BLASEWITZ 

Postscheckkonto Leipzig 25030 — . .. . 

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vom erziehenden Unterricht 

Von Professor Dr. KARL JUST 
VIII und 101 Seiten / Preis bei portofreier Zusendung Mark 9,35 

AUS DEM INHALT: 

1 Das Ziel des erziehende» Unterrichtes ! Kap, U Der interessante und der Interesse ertrec&tnde 

c Die Erztehurjgsschulen Stätten allgemeiner j Unterricht 

Menschenbjtdujig „ 12 Der nutzbringende Unterricht 

I Der Mittelpunkt des erziehenden Unterrichts 11 PersönUrhkeJtshildung 

I Der Stützpunkt des Erziehers „ H Die Konzentration des Unterrichts u. die Kultur» 

» Der Unterricht die stärkste uädagogJsthe Kraft stufen 

i Der besondere Zweck des Unierrkhfs, „ 15 Der Ausgangspunkt des erziehenden Umerridits 

r Das Interesse als Übergang vom Wissen zvim „ 16 Die Schonung der Eigenart des Kindes 

Wollen „ V Das Lehrv erfahren 

i Die l lauptridimngen des erziehenden Unterrichts „ 1^ Die Persönlichkeit des Lehrers 

f Der frohe Unterricht Familie und Schule 

1 Der freie Unterricht ,. 20 Kern- und Leitwortc Zillcrs 


VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG 


iiiuiuiuiiiiiMuiinuiHiMuiiiHiintiiiuiiiiHiiiii'HirMMinMHiiiiuiuiHiiruiiiViiiinHinVt'nrMVHiiiMiniiMHiiiiiHuiuiiTiiiiiffnt 


PROFESSOR DR. A. FISCHER 

(Ergiefpwg aU 33eruf 

54 Setten ©efyejtet *271. 5 

©d>arff{nn»ge Qluöftibrungen über t>aß 2Brfm Jc&er CPrjfehung, (ßre 
Aufgaben un£> tßre 3fcfe. Cinc ^öeruf^fojiologtc brö S’rfjrcrftont'cö. 























Grundsätzliches über die Volkshochschulfrage. 

(Bericht und Gedanken über die neunte staatliche Volkshochschultagung vom August 1921 

in Weilburg.) 

Von F. E. Otto Schultze. 

Vom 1. bis 12. August fand in Weilburg eine Tagung statt, zu der die 
Abteilung UV des preußischen Ministeriums der Wissenschaft, Kunst und 
Volksbildung eingeladen batte. Diese Zusammenkunft sollte den Teilnehmern 
Gelegenheit geben, „in gemeinsamer Arbeit den Volkshochschulgedanken zu 
klären und zu vertiefen“. Sie führte von den verschiedensten Seiten her 
zur Erörterung des Volkshochschulproblems. Besonders oft wurden grund¬ 
sätzliche Fragen besprochen. Eine etwas tiefer schürfende Betrachtung wird 
uns unvermerkt zu dem allgemeinen und grundsätzlich wichtigen Problem 
der Bildung und Erziehung der Erwachsenen führen. Aus solchen 
Gründen ist ein eingehender Bericht und sind Reflexionen zu einer Ver¬ 
öffentlichung an dieser Stelle berechtigt. 

Zunächst sei einiges Wenige über den charakteristischen äußeren Rahmen 
der Verhandlungen gesagt, dann sollen die theoretischen Grundfragen er¬ 
örtert werden. 

Ea waren etwa 40 Männer und Frauen erschienen: die Ministerialreferenten von UV, Ver¬ 
baler des Provinzialkollegiums und der verschiedenen Schularten, sowohl von Universitäten, 
als auch von Ober-, Mittel- und Volksschulen, ferner Leiter von Volkshochschulen und Mit¬ 
arbeiter von Volksbildung8einricbtungen, so auch von der Arbeiterakademie in Frankfurt, einige 
Pfarrer usw. Der größere Teil der Anwesenden hatte praktische Erfahrung auf dem Gebiete 
des Volkshochscbulwesens, einige suchten erst Berührung damit zu bekommen. — Die Tagung 
War in folgender Weise organisiert: Die Regierung hatte die Teilnehmer eingeladen und er¬ 
leichterte ihnen ihre Unkosten durch Übernahme des Fahrpreises der Eisenbahn, sowie durch 
Gewährung des Tagegeldes von 20 M. Vorträge fanden mit einer Ausnahme nur vormittags 
statt: ihre Dauer betrug 1 —1 */» Stunden. Es folgte eine kurze Frühstückspause und dann 

linden die Diskussionen statt, die meist 27s-3 Stunden währten. Die Gesamtdauer der Tagung 
war gut ausreichend; eine längere Ausdehnung oder eine wesentliche Abkürzung hätte niemand 
gewünscht. 

Die Vorträge betrafen die Probleme der Volksbildung (Picht), die Grundtypen der Volks- 
bildungsarbeit (von Erdberg)/ die staatliche Volkshochschule (Heller), das Volksbochschul- 
beim (Kocht, die Methode des Volkshochschulunterrichls (Wegener: die philosophische Me¬ 
thode; Heller: Pädagogik der Arbeitsgemeinschaft). Die Organisationsfrag^n wurden von 
Picht, das Verhältnis von Volksschule und Weltanschauung von Antz behandelt. Eine Be¬ 
schreibung von Einzelkursen erfolgte durch Bluntschli (am Beispiel des Knochengewebes) und 
dnich Ehrenberg (an Kunstformen). 

Kurze und gelegentliche Berichte aus der Praxis der Volkshochschulen gab Bräuning- 
OVtavio, er schilderte die University tutorial classes; Pfarrer Ritter erzählte von seinen Er¬ 
fahrungen an einer Bauernhochschule, die er fünf Monate lang mit 20 Jungen Bauern abge- 
halten hatte. Weidenfeller berichtete von Erfahrungen aus Griesheim, Bryk von Höchst und 
Haas von Wiesbaden. Picht konnte wiederholt sehr wertvolle Einzeltatsacben aus verschiedenen 
Teilen Preußens wiedergeben, von denen er infolge seiner Stellung als Ministerialreferent 
gebürt hatte. 

Es ist unmöglich, ein eingehendes Referat über all das zu geben, was in 
Ä Stunden an Vorträgen und Diskussionen gesagt wurde. Es ist zu hoffen, 

Trftashrif! f. pftdagog. Psychologie. 6 

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F. E. Otto Schultze 


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daß mancher Vortrag veröffentlicht wird. Ich werde deshalb hier in der 
Hauptsache nur die Ergebnisse in einer sachlich bedingten Reihenfolge in 
meiner persönlichen Auffassung zu entwickeln versuchen. Wo die Meinungen 
ernstlich auseinander gingen, werde ich es berichten. 

Die theoretischen Fragen drängten sich unbedingt und immer wieder von 
selbst in den Vordergrund. Dies lag zum Teil an der Sache und ihrer 
großen Bedeutung, denn sie greift in die tiefsten Voraussetzungen unserer 
Kultur hinein; zum Teil lag es an der Eigenart der Vortrags- und Debatte- 
redner, zum Teil an der deutschen Neigung, in Theorie zu zerfallen. Leider 
fehlte oft das Gegengewicht der Praktiker, die unnötig und zu unrecht stark 
zurückhielten. (Dabei hörte ich oft die Bemerkungen „Wann kommt etwas 
Praktisches? Wir wollen wissen, wie es gemacht weiden soll“.) Es wäre 
zumal für die weitere Ausgestaltung der Volkshochschulen sehr vorteilhaft 
gewesen, wenn die Diskussion über den sehr anregenden Vortrag von Picht 
über Organisation der Volkshochschulen auf zwei Tage ausgedehnt worden 
wäre und wenn man in der Debatte die Einzelfragen getrennt und der 
Reihe nach behandelt hätte. 

Um ein. richtiges Bild von der Tagung zu geben, muß hervorgehoben 
werden, daß sie eine wirkliche Arbeitsgemeinschaft war. Die Vorträge waren 
durchweg ernst durchdacht; die Diskussion bewegte sich mit ganz seltenen 
Entgleisungen auf der Höhe grundsätzlicher Auseinandersetzungen und blieb 
es auch — trotz mancher parteipolitischer Gegensätze. Die Sache erfordert 
es, auf ein wenig erfreuliches Symptom hinzuweisen: wiederholt verstanden 
die Redner einander überhaupt nicht oder mißverstanden sich sogar recht 
gründlich. Zum Teil ging dies aus philosophischer oder parteipolitischer 
Einstellung hervor, zum Teil aber aus ungenügender Kenntnis der philo¬ 
sophischen und besonders der pädagogischen Voraussetzungen. Es zeigte 
sich der Tiefstand unserer theoretischen Pädagogik recht deutlich auch hier, 
manchmal in recht beklagenswerter Weise. Wäre dieser besser imstande, 
so hätten sich wohl auch Gegensätze überbrücken lassen, die infolge des 
Mangels einer breiten theoretischen Grundlage als Klüfte bestehen blieben. 

Was die geistige Einstellung der Mitglieder der Tagung betrifft, so mußte 
in unserer intellektualistischen Periode angenehm und erfreulich befremdend 
wirken, daß der Begriff der Lebenswahrheit eine starke Rolle spielte 
und oft durch die Reden hindurchklang. Wegen er bezeichnete als sein 
Ziel der Volkshochschule das: „Ich will der Geburtshelfer des werterfüllten, 
gehaltvollen Menschen sein.“ Koch. forderte „Freiheit von der Tyrannei 
des Zwecks, von Büchern und Buchstaben!“ und positiv gewandt „Lebens¬ 
wahrheit, Lebensoffenbarung, Lebenstheorie, Lebensführung!“ Bluntschli 
gebrauchte wiederholt die Wendung von dem Leben, das in seinem Flusse 
Ausgang und Ziel der Erziehung sei. Worte wie die: „Wille, Ahnung und 
Charakter müssen bei aller Volkshochschularbeit mitschwingen.“ Oder 
„Toleranz und Brüderlichkeit sind die Grundforderung des Volkshochschiil- 
betriebes“ — wurden oft gehört 

Dementsprechend mußte es zu offener Wendung gegen den Intellektualis¬ 
mus kommen, der im Grund in der Praxis allzuoft eine Einstellung auf 
Besser-, Genauer- und Nochbesserwissen ist. Mancher wollte von der 
Theorie um ihrer selbst willen nichts wissen und fragte: „Hat sie denn wirklich 
Selbstwert?“ Heller sagte: „Es braucht kein Mensch Erkenntnistheorie“; 


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Grundsätzliches Über die Volkshochschulfrage 


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Ehren bergr „Die Philosophie gehört nicht an die Volkshochschule.* Suhr 
zitierte den Ausspruch eines Studenten vom letzten Erlanger Studententag: 
„Wir wollen keine Wissenschaft.* Gegen die Universitäten und Universitäts¬ 
lehrer wurde manche Stimme laut, auch von seiten von Universitätsvertretern. 
Der Fähigkeit der Universitätslehrer wurde kein großes Loh gespendet Der 
Skeptizismus gegen die Wissenschaft ging so weit, daß man vereinzelt eine 
wissenschaftliche Untersuchung im Bereich der Werte für überhaupt un¬ 
möglich hielt. 


Ziel und Aufgabe der Volkshochschule. 

Das Ziel der Volkshochschule war das am meisten umstrittene Thema. 
Zu einer vollen und allseitigen Klärung ist man nicht gekommen. Daß es 
sich nicht um einen neuen Facbhocbschultypus handeln kann, bedurfte 
keiner Erklärung. Fachhochschulen setzen die Reifeprüfung der Oberschulen 
voraus; für sie genügt nicht die natürliche Altersreife der Besucher, ein 
Moment, dessen Bedeutung der Fernstehende kaum kennt und stark unter¬ 
schätzt, das aber von den Praktikern genügend erkannt und auch hier an¬ 
erkannt würden ist. 

Als erste Forderung ist die zu stellen: die Volkshodhschule muß vollwertig 
sein, ein neues, ein bestimmtes „Niveau* in Stoff und Methode haben I Der 
bloße Unterbaltungsvortrag schafft noch keine Volkshochschule, noch weniger 
heißt es im Gegensatz zu einigen Bestrebungen freideutsch-jugendlichen 
Ursprungs: „Oberall wo getanzt wird, ist Volkshochschule.* Unbedingt muß 
die Volkshochschule eine Stätte ernster geistiger Arbeit sein. Schon darum 
ist die Arbeitsgemeinschaft der wesentliche Typus des Unterrichtes. Den 
Gedanken, daß man wegen des Hocbschulcharakters eine ganze Anzahl 
Lehrstoffe, wie Kleintierzucht, den guten Ton in allen Lebenslagen und 
andere nützliche und unterhaltsame Dinge nicht hochschulmäßig behandeln 
könnte, möchte ich (z. B. in bekannter Anlehnung an Plato) nicht a priori 
verwerfen; wohl aber sind derartige Stoffe aus praktischen Rücksichten von 
der Volkshochschule zu verbannen und dem allgemeinen Volksbildungs¬ 
wesen, also den einfachen Belehrungsvorträgen zuzuweisen. Daß Steno¬ 
graphie, Rechtschreibung, Kopfrechnen, Maschinenschreiben und ähnliche 
Fächer Aufgaben der Volksbildung sind, wird niemand bestreiten; noch 
weniger ist zu leugnen, daß immer und immer wieder Kurse über solche 
Stoffe verlangt werden; aber Hochschulaufgaben sind sie natürlich nicht, ln 
diesem Sinne wurden auch die Kurse einer ländlichen Volkshochschule als 
nicht hochschulmäßig zurückgewiesen, denn sie waren im Grunde nichts 
als Modifikationen von lanowirtscfaaftlichen Winterschulkursen. Darüber, 
daß sie als volksaufklärend sehr fruchtbar sein könnten und würden, waren 
natürlich alle einig. 

Es kommt wie bei jedem Unterricht, so auch beim üblichen Hochschul- 
und beim Volksbocbschulunterricht in formaler Hinsicht darauf an, die 
geistigen Kräfte der Beobachtung, des Urteils und der Kritik zu wecken 
und zu stärken, damit die Besucher sich der kritischen Selbständigkeit des 
Denkens annähern. In materieller Hinsicht aber müssen diejenigen Kennt¬ 
nisse und Eikenntnisse vermittelt werden, die unser Leben befruchten und 
auf eine höhere Stufe entwickeln können. Die Stoffbehandlung muß ihren 

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F. £. Otto Schultz« 


Schwerpunkt in der Durchknetung in der Arbeitsgemeinschaft suchen. Wurden 
diese Forderungen allgemein zugestanden, so kam es andererseits zu Dis¬ 
kussionen Ober die Art der Stoffbietung. 

A. Die Unterrichtsmethoden. 

a) Die fachliche, gedankliche Entwicklung des Lehrstoffes. 

Der Vortrag von Wegener Aber die philosophische Methode gab den 
Hauptanlaß, Aber dieses Thema zu diskutieren; Hellers Vortrag Aber die 
Taktik und Pädagogik der Volkshochschule und Bluntschlis Demonstrationen 
gaben weiteres Material. Leider kam man daraus nicht zur allgemeinen 
Klarheit, daß drei Wege der Stoffbehandlung grundsätzlich geschieden werden 
mAssen. 

Wenn ich einen Stoff schulmäßig entwickele, so wende ich mich an den 
Verstand. Ich baue ihn auf, teils rein darstellend (Vortrag), teils t maeutisch) 
fragend (Lehrgespräch). Was hierAber von Herbart in seiner Lehre von 
den Formalstufen entwickelt worden ist, ist nicht stets glAcklich gesagt. 
Jedenfalls ist es von seinen Nachfolgern vielfach ganz schulmeisterlich in die 
Breite getreten worden. Wer den Sinn solcher Lehren nicht verstanden hat, 
schimpft Aber sie als etwas ganz Unnötiges und Wertloses. Der geborene 
Lehrer und Schulmeister im guten Sinne beherrscht und wendet aber die 
Formalstufen an, ohne Aberhaupt von ihnen gehört zu haben und ohne daß 
der SchAler es irgendwie störend merkte. Im Gegenteil empfindet dieser sie 
als Grundlage der Klarheit und Einfachheit. Deshalb sind die großen Forscher 
fast ausnahmslos gute Universitätslehrer, denn in ihren Vorlesungen tritt von 
selbst klar zutage, wie die Gedanken der Forschung sich aus ihren Voraus¬ 
setzungen zwingend und Aberzeugend ergeben. Als Forscher sind diese 
Leute gewohnt, neue Ergebnisse systematisch herauszuarbeiten, d. i. induktiv 
zu finden; was sie fAr sich tun, bringen sie vor dem Hörer ganz von selbst 
zur Anwendung. Ist nun ein Lehrer nicht hochschulmäßig erzogen, sondern 
nach der Methode der Lernschule gebildet, so hat er unendliche Schwierig¬ 
keiten mit der Stoffdarstellung und Entwickelung. Die Methoden Herbarts 
sind dann in ihm nicht vorbereitet, er kann sie nicht anwenden, sofern er 
nicht innerlich zum freien schöpferischen Geist veranlagt ist. 

Wenn auch die Grundforderungen der Stoffentwickelung einfach und durch¬ 
sichtig sind, so ist doch die Anzahl der Möglichkeiten, in denen man seinen 
Unterricht ausbauen kann, sehr groß, ja unerschöpflich. Der eine wird mehr 
anschaulich, der andere mehr abstrakt, dieser mehr induktiv, jener mehr 
deduktiv Vorgehen. Man darf nun deshalb, weil der Forscher am besten 
Aber die Wege der Wahrheit Bescheid weiß, noch nicht meinen, daß er auch 
den Ungebildeten am geschicktesten zu seinen Zielen zu fAhren versteht. 
Es wäre weit verfehlt, wollte man behaupten, daß alle großen Lehrer und 
Forscher und die ersten Philosophen der Universitäten auch am besten zu 
Lehrern an Volkshochschulen geeignet sind, oder daß sie zu Lehrern an den 
Seminarschulen passen, die man frAher oder später zur Ausbildung von 
Volkshochschullehrern wird errichten mAssen. Diesen zuletzt genannten Ge¬ 
danken vertrat Wegener; Heller und Hemerlink traten ihm sehr lebhaft 
entgegen. — Bei allen diesen Fragen mAssen naturgemäß neben den logisch 
methodologischen Gesichtspunkten der Unterrichtsgestaltung auch die psycho- 


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Grundsätzliches Aber die Volkahochschalfrege 


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logischen berücksichtigt werden. Das ist natürlich eine Binsenwahrheit, und 
doch traten, wie so oft, auch auf der Weilburger Tagung uralte Forderungen 
auf den Plan, die den Anspruch erhoben, neue Gedanken zu sein. So wurde 
z. B. als etwas besonderes gefordert, daß man von der „Anschauung* aus¬ 
gehen müsse. Andere Gedanken wirkten dagegen anregend, so z. B., daß 
das Großstadtasphalt unterrichtlich für die Entwickelung von Werten betrüblich 
wenig Material gibt, daß es vor allem für die Grundlage einer Heimatkultur 
nichts bietet. Bluntschli wies ferner sehr anschaulich auf die Forderung 
hin, zun&chst singulär zu denken und nicht sogleich zu typisieren, d. h. 
nicht allzu früh zu verallgemeinern. Der Sinn für Einzelheiten muß sowohl 
für Beobachtung als auch in der gedanklichen Ausbeutung kräftig entwickelt 
werden; das physiologische oder funktionelle Denken darf gegenüber dem 
reinen anatomischen und auf die Form allein achtenden nicht" zurücktreten, 
oder mit anderen Worten: der Sinn für die Mannigfaltigkeit und deren Wert 
•und das Verständnis für Funktionen, für den Zusammenhang zwischen Ge¬ 
stalt, Zweck und Leistung müssen erst geweckt und geschult werden. 

b) Die Methode der Einfühlung und Wertfindung. 

Auf dem Wege zu den Dingen, den wir mit unseren Sinnen und mit 
unserem Denken zurücklegen, können wir mitunter stehen bleiben und uns 
dem Eindruck unseres Gegenstandes unmittelbar und gedankenfrei hingeben. 
Dann kann es — vorausgesetzt, daß wir dazu fähig sind, oder daß der 
Gegenstand dazu geeignet ist — geschehen, daß sich eigentümliche Erlebnisse 
zwischen die Akte unseres Schauens und Denkens einschieben, die dem 
bloßen Verstand durchaus fremd sind. Wir spüren dann etwas von dem 
Hauch und der Eigenart unseres Gegenstandes, von seiner inneren Größe 
und seinem Werte. Dieses gefühlsmäßige Erleben ist es, das hervorzuheben 
uns nunmehr am Herzen liegt. Schopenhauer bat sehr schön gesagt: man 
muß vor einem Kunstwerk stehen, wie vor einem König und warten, bis es 
einen anspricht. 

Die Erfüllung dieser weisen Forderung führt uns tausendmal schneller als 
alle geschichtliche Betrachtung ins Innere der Dinge. Wie vor Kunstwerken 
müssen wir aber auch vor den Gebilden der Natur und den Erscheinungen 
des Lebens und Alltags stehen zu bleiben vermögen; dann beginnt das Gemüt 
zu sprechen und den Wert der Dinge vor uns zu enthüllen. Eine gleiche 
Wirkung vermag die so wenig Menschen verliehene Kunst des Erzählens und 
die Gewalt der zündenden Rede in uns auszulösen. Nur diese Weise der 
Stellungnahme zum Gegenstand läßt dem Betrachter und Hörer dessen Wert 
gefühlsmäßig klar, ja oft übeihaupt erst bewußt werden. Um solche Gefühle 
zu wecken, ist es z. B. im Kunstunlerricht nötig, das Gefühl durch besondere 
Darbietungen erst zu wecken. Im Volksbildungsbetrieb werden Massen¬ 
wirkungen in Form von Tbeateraufführungen, Konzerten und ähnlichen Ver¬ 
anstaltungen in diesem Sinne besonders zweckmäßig sein, denn es ist zweifellos, 
daß man als Glied einer Masse (es ist an den Begriff der Massenpsychologie 
zu erinnern) leichter hineingerissen wird, denn als einzelner. Es ist gut, daß 
man dabei den Kopf in gewissem Sinn verliert, denn man fühlt dafür wärmer 
und stärker und kommt zu einem Wertgenuß des GeLotenen (von Erdberg). 
Heißt es so, sein Herz der Kunst und dem Schönen widmen, so ist damit 


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F. E. Otto Schultze 


etwas gesagt, das scheinbar mit dem Unterricht oder dem Studium nichts zu 
tun hat Und doch ist es der Fall. Was will denn die akademische Freiheit? 
Weshalb ist sie uns trotz aller ihrer Mißbräuche so unendlich viel wert? 
Weil sie am ehesten den Weg zur Sache öffnet und zwar dadurch, daß wir 
uns frei und ungehemmt mit ihr beschäftigen und auseinandersetzen können. 
Derb gesagt: man muß sich einmal tüchtig in das Gras hinein knien und 
fressen können, wie es einem gerade behagtl Dadurch bekommt man über¬ 
haupt erst den Geschmack an der Wissenschaft, Freude an der wissen¬ 
schaftlichen ArbeitI Psychologisch gesprochen heißt das: die Reize, die in 
der wissenschaftlichen Arbeit liegen und den Gegenstand der meisten Wissen¬ 
schaften bilden, sind für den Anfänger so fremd und darum so schwach, 
daß sie oft erst durch eine recht häufige Wiederkehr, also mit einer langen 
Latenzzeit und durch starke Summation zur Wirksamkeit gelangen; dann aber 
sind sie groß, großartig und bedeutend. 

Vom gleichen Gesichtspunkt aus sind noch andere Momente in der Volks¬ 
hochschule von der allergrößten Bedeutung. Bs sind die Unterschiede des 
Standes, der Welt- und Parteiauffassung zwischen Lehrern und Hörern. Jeder 
nur ganz flüchtige Kenner des Volkshochschulwesens weiß, wie schwer es 
ist, selbst auf wissenschaftlichem Gebiete Arbeiter und Bürger zusammen 
zu bringen. Der Arbeiter sagt ganz einfach zum Bürgerlichen: „Ihr steht 
auf einem anderen wirtschaftlichen Boden und seht und erlebt die Dinge 
anders als wir. Was für Euch gilt, gilt nicht für uns.* 4 Persönliche Kälte 
und schulmeisterliche Art können dabei nicht minder schaden. Auch nur 
eine Andeutung eines Überlegenheitsgefühls seitens des Lehrers schadet seiner 
Sache ungeheuer. In dieser Hinsicht sind die Hörer oft hochgradig empfindlich. 
„Der sieht einen als dumm an“, „der denkt, man ist ein ganz ungebildeter 
Mensch a usw., sind Redewendungen, die man gelegentlich im Anschluß an 
die Volkshochschulvorlesungen über den Dozenten hören kann. Dieser Ge¬ 
fahr gegenüber wurde von verschiedenen Seiten auf das energischste betont, 
der Lehrer müsse sich so einstellen, daß er vom Hörer ebensoviel empfange, 
als dieser ihm biete. Dazu — das bekenne ich offen — bin ich in den 
wenigsten Fällen in der Lage, obschon ich weiß, daß mir mancher Hörer 
in seiner menschlichen Anlage überlegen ist. Es wäre auch traurig, wenn 
die Wissenschaft so leicht zu ergänzen und zu kritisieren wäre, daß man als 
Forscher von jedem Volkshochschulbesucher in seinem Fach ohne weiteres 
lernen könnte. Dies geht sicher nur in einigen außerwissenschaftlichen 
Dingen; so in der Politik, wo wir alle, selbst die Geschichtsprofessoren so 
sehr im Dunkeln tappen und oft von Vorurteilen befangen sind, daß wir von 
einem klar blickenden Gliede der ungebildeten oder halbgebildeten Volks¬ 
schicht manches, sogar grundlegendes lernen können. Wenn ich als Dozent 
Anregungen für mein Fach empfangen kann, so werde ich sie dankbar an¬ 
nehmen. Allein, wenn z. B. wie Bräuning-Octavio berichtet, im Jahre 1907 
ein Arbeiter in Oxford bei einer Sitzung von Universitätsvertretern und 
der Arbeiterschaft erklärte: „die Arbeiterschaft kann Oxford mehr geben, als 
Oxford der Arbeiterschaft“, so ist diese Äußerung nichts als eine Verblendung 
des Arbeiters. Geld und politische Macht sind an dieser Stelle nicht ent¬ 
scheidend, sondern geistige Güter, und die sind bei dem Arbeiter als Fertig¬ 
ware überhaupt nicht da. Was da ist, sind Seelen, die befruchtet werden 
können, und zwar viel mehr erstaunlich fruchtbare und empfänglichere Seelen, 


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Grundsätzliches über die Volksboch6cbulfrage 


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als mancher Hochschulprofessor glaubt. In gleicher Weise muß man auch 
versuchen, die Hemmung der Standesvorurteile zu zerstören, indem man, 
zumal den Bauern und Arbeitern gegenüber, den gemeinsamen Standpunkt 
reiner Menschlichkeit geltend macht. Man muß in seinen Darlegungen auf 
die einfachsten Grundgedanken zurückgehen und dem Volkshochschulbesucher 
in der schlichtesten Weise zeigen, daß im Lehrstoff etwas gegeben ist, was 
ihn als Mensch genau so angeht wie alle anderen Menschen. Und zwar 
muß er das nicht bloß dumpf ahnen, sondern gefühlsmäßig stark erleben. 
Hierbei den richtigen Ton zu finden, ist nicht stets leicht und manchem so¬ 
gar nicht einmal gegeben; jedoch eine auf Gefühlswirkung zurück¬ 
gehende Atmosphäre der Offenheit, Warmherzigkeit und Ritter¬ 
lichkeit zu schaffen, ist zweifellos eine unbedingte .Forderung, 
die der Volkshochschullehrer zu erfüllen hat. Sie ist nichts als eine 
Selbstverständlichkeit, denn sie ist ein allgemein menschliches Postulat, für 
das man an anderer Stelle das Wort Liebe gebraucht. Ich gestehe, daß mir 
dieses Wort in seiner Vieldeutigkeit und Abgebraucbtheit in der wissenschaft¬ 
lichen Rede unangenehm ist und daß es im öffentlichen Verkehr wie eine 
Indiskretion verletzt, wenn es jemand hemmungslos gebraucht; ein Ersatz dafür 
fehlt aber. So kann ich denn nur noch auf nahestehende Begriffe wie 
Brüderlichkeit, Toleranz, Solidarität usf. hinweisen. Das w r as an dieser Stelle 
daran wichtig ist, ist die seelische Tatsache, daß bei Abstimmung des Verkehrs, 
der Arbeit, des Unterrichtes auf Wärme und Liebe alles leichter und besser 
geht als in der Frostigkeit innerer Ferne. Die Beziehungen von Mensch zu 
Mensch werden schneller angeknüpft, man versteht schneller und besser, was 
der andere will, und findet leichter Mittel und Wege der Verständigung und 
des gemeinsamen Schaffens. 

Noch eine dritte Quelle, die ein frohes und freudiges Fühlen hervorquellen 
läßt, muß auch in der Volkshochschularbeit eröffnet werden, es ist die Sache 
selbst in ihrem Arbeitswert. 

Der Vorgang der Anteilnahme des Gemütes an der Einführung von Lehr¬ 
stoffen ist so wichtig, daß man, wenn man sich seine Ausbeutung zum Ziel 
setzt, mit Fug und Recht von einer Unterrichts- bzw. Erziehungsmethode 
reden kann. Sie ist so wichtig, daß sie ohne Zweifel nicht selten sogar die 
Voraussetzung der zuerst betrachteten Methode der gedanklichen Stoff¬ 
entwicklung ist. Mit ihr wird gewissermaßen der fruchtbare Boden der Seele 
überhaupt erst einmal aufgerissen und zur Aufnahme des Samens vorbereitet. 
Daß man mit der Verwendung dieser Methode sparsam verfährt, ist selbst¬ 
verständlich; Begeisterung ist keine Alltagsware. 1 ) 

Naturgemäß kann man Gefühls^ und Verstandeswirkung nicht von¬ 
einander trennen; solche Loslösung ist angesichts der Organisation der Seele 
unmöglich. Es geschieht an dieser Stelle nur in der Theorie, um die Prin¬ 
zipien des Unterrichtes und der Erziehung, zumal der Erwachsenen klar 
herauszuheben. Wir würden den Sinn der akademischen Freiheit einseitig 
beurteilen, wollten wir ihn nur in dem Verhältnis von Verstand und Gefühl 
sehen; er liegt noch in manchem anderen, so in der Erwerbung der Methoden 
des Denkens, wie sie sich aus der Natur des Studierenden heraus entwickeln. 


*) Interessant war Kochs Bericht vom dänischen Volkshocbschulwrsen; er sagte, dafi dort 
die Wirkung auf die Begeisterung viel stärker entwickelt sei als bei uns. 


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F. E. Otto Schultze 


Auch da muß jeder nach seiner Fagon selig werden. Weiter führte sie uns 
zur wissenschaftlichen Geduld; wir lernen vorurteilslos abwarten, was bei 
unserer Arbeit herauskommt. Das aber ist wesentlich, denn aus den scheinbar 
nebensächlichsten Erscheinungen, ja aus Spielereien heraus — man denke 
an die Anfänge der Lehre von der Elektrizität — können die größten Er¬ 
folge und Werte erwachsen. Diese Einstellung zu finden, kostet zweifellos 
viele Jahre innerer Entwicklung. Weil sie aber zur inneren Einstellung der 
Menschen zur Sache gehört, ist sie auch eine Teilaufgabe des Volkshoch¬ 
schulunterrichtes, der nur schulmäßig sein kann, wenn solche Imponderabilien 
entwickelt werden. Schnellfertiges Urteilen ist des Gebildeten unwürdig. 

Aus all diesen Erörterungen muß die große Bedeutung der Gefühle für die 
Verarbeitung von Lehrstoffen und für ihre Verwertung zum Ausdruck kommen. 
Eröffnet man den Quell des Gefühles sowohl vom Stoff als von den Menschen 
her, die an ihn gebunden sind (in diesem Fall vom Lehrer und vom Hörer 
her), so schafft man seinen Hörern einen geistigen Besitz, den sie bisher nicht 
hatten und der für sie unmittelbaren Wert hat. Nicht äußerer Nutzen und 
Vorteil ist es, der den Studierenden mit einem neuen Inventarstück seiner 
Seele verbindet, sondern der Wert der Sache selbst, die ihn zu fesseln 
begonnen hat; darum heißt es, bewußt den Volkshochschulbesucher zum 
Selbstwertstandpunkt führen. Er ist es, von dem aus allein wir die 
Kulturgefahr des Intellektualismus und den übertriebenen Relativismus, sowie 
der einseitigen Einstellung auf technisch-dynamische Ideale vermeiden können. 
Natürlich hat auch der Satz: „Wissen ist Macht“ sein gutes Recht Sobald 
er aber seine Berechtigung aus parteipolitischen Wurzeln herzuleiten sucht 
und man Volkshochschule treibt, damit der Arbeiter Macht bekommt, so muß 
man sich grundsätzlich dagegen wehren. Deshalb fand ein sozialdemokra¬ 
tischer Vertreter mit solchen Äußerungen Widerspruch von allen Seiten. 

Man kann die Tatsache des Selbstwertes kaum unterschätzen, denn ihre 
seelische Bedeutung ist unvergleichlich groß. Sie schafft vor allem Ruhepunkte, 
die man um ihrer selbst willen auftucht, an denen man sieb wohl fühlt und 
über die man nicht ohne weiteres hinweg soll. Die Selbstwerte vermögen 
ferner etwas, was Drill und Zwang nie fertig bringen: die innere Bindung 
an die Sache und die freiwillige Unterordnung unter sie. Sie schaffen 
damit Freiheit, Verantwortlichkeit und inneren Halt der Persön¬ 
lichkeit, also die Schwerpunkte, um die sich alle Einzelwerte gruppieren 
und um derentwillen alles geschieht. Schließlich sind sie eine Hauptquelle 
der Energieentwicklung, und in dieser Hinsicht ist ihnen nur die Macht 
der Gewöhnung gleich zu stellen; diese bleibt ihr aber an innerem Wert 
weit unterlegen, weil sie der geistigen Verarbeitung und Stellungnahme der 
Persönlichkeit innerlich direkt entgegengesetzt ist. In diesem Zusammenhang 
muß einem auch klar werden, daß und warum Lust und Liebe die Fittiche 
zu großen Taten sind. Um gleichgültiger Dinge willen kriecht kein Hund 
hinter dem Ofen hervor; um wertloser Dinge willen setzt kein Mensch sein 
Leben auf das Spiel. Nur das Besondere zieht, nur das Große und das 
Schöne erheben über den Alltag. Um der gleichen Tatsache willen befriedigt 
es Lehrer und Hörer so tief, wenn ein Vortrag oder eine Arbeitsstunde als 
Glanzpunkt aus dem Alltagsleben herausleuchtet oder wenn sie zu Lieblings¬ 
stunden oder gar zu einem Augenblick innerer Erhebung und Weihe werden. 
Sie können nicht oft kommen, aber wenn sie da sind, sind sie unmittelbar 


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Grundsätzliches Ober die Volkshocbschulfrage 


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und an sich schön. Unser Volk kann nur seelisch gesunden, wenn es echten 
Kulturwert, also Selbstwerte schafft und sich aneignet und um ihrer willen 
ringt und kämpft. 

Zweifellos sind alle Werte nur „individuell", d. h. vom Individuum ab¬ 
hängig, nur im Individuum Oberhaupt möglich und in ihm gegeben, von ihm 
aus allein wirksam. Sie sind aber darum nicht ohne weiteres schlechthin 
blofi relativ oder gar wertlos. Selbst wenn sie bloß relativ wären, wären sie 
doch bereits eines, nämlich eben Werte. Aber sie können zugleich sehr wohl 
den Anspruch auf objektive Geltung erheben und können auch in dem Sinne 
„objektive" Werte sein, wenn sie allgemein menschlich sind, d. h. für alle 
Menschen gelten; dabei bleibt es gleichgültig, ob sie von allen Menschen 
verstanden oder gar anerkannt werden. 

Dieses ungemein wichtige philosophische Rätsel, das zumal in unserer Zeit 
wieder allgemeine Beachtung zu erfahren beginnt, wurde auf der Tagung 
wiederholt gestreift, konnte aber ebensowenig wie auch hier im Zusammen¬ 
hänge eines Referats prinzipiell erörtert werden. Ohne die hier entwickelte 
psychologische, d. i.-auf die Einzelseele gerichtete Einstellung, ist es jeden¬ 
falls nicht zu verstehen. 

B. Die philosophische Methode. 

Neben den beiden Methoden der intellektuellen Einführung unserer Er¬ 
kenntnisse und ihrer gefühlsmäßigen Erhebung zu Werten, zumal zu Selbst¬ 
werten, erhebt eine dritte Methode ihre Rechte; es ist die philosophische. 
Sie wurde von Wegener an einer großen Anzahl von Beispielen entwickelt. 
In der Naturwissenschaft führt sie zu dem Hintergrund der Naturphilosophie 
als dem Momente, das ihrer Behandlung erst vollen Wert schafft. In der 
Mathematik ist die Einsicht in das philosophische Problem der bloßen Gültig¬ 
keitsnatur und der Irrealität der mathematischen Gebilde eine Hauptaufgabe 
des Volkshochschulunterrichts; in den Geisteswissenschaften sind die Wert¬ 
systeme, in die jeder Mensch und jedes Zeitalter unvermeidlich eingespannt 
sind, nachzuweisen. Allenthalben handelt es sich somit darum, die Lehr¬ 
stoffe in Beziehung zu dem großen philosophischen Hintergrund 
der Ewigkeitsfrage zu setzen. Nicht die Einzeltatsacbe und ihre Struktur 
als solche ist an dieser Stelle Gegenstand der Untersuchung, sondern ihre 
weiteren Zusammenhänge und ihre allgemeinsten Voraussetzungen und Prinzi¬ 
pien. Welthistorischer und philosophischer Überblick und Tiefsinn sind zu 
schulen; der Mensch ist zum überindividuellen Denken zu erheben und auf 
die Ewigkeitsfragen einzustellen. In diesem Sinne ist Volkshochschularbeit 
eine Arbeit der Heiligung. Das Leben ist ein heiliges Gut, sagte Koch 
mit großer Überzeugungskraft und Eindringlichkeit. Damit rücken wir weit 
ab von bloßer Unterhaltung oder ästhetischer Feinschmeckerei und stehen 
mitten auf dem Boden der letzten Lebenswerte. 

Unter den Voraussetzungen, die bei einer philosophischen Besprechung 
vieler Stoffe sich herausheben müssen, gehören, wie diese Überlegungen ohne 
weiteres verstehen lassen, auch die mehr oder minder zufälligen, von ört¬ 
lichen und zeitlichen Einflüssen abhängigen Werteinstellungen, die in jedem 
Menschen wirksam sind. Meist sind sie ihm gar nicht bewußt, die Zeit, die 
Umgebung und die Erziehung haben sie ihm tief eingefleischt. Ruhige, 


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F. E. Otto Scbultze 


sachliche Auseinandersetzungen müssen sie ihm meist erst bewußt und dann 
klar machen. In dieser Hinsicht kann gerade der Volkshochschulbetrieb eine 
besondere Bedeutung bekommen, weil sich hier Klassengegensätze treffen, 
die einander sonst nicht berühren. Es kann z. B. ein rechtsradikaler Hoch¬ 
schullehrer mit einem kommunistischen Arbeiter in Beziehung treten und zu 
Ansichten kommen, zu denen ihm der lautlose Zuhörerkreis der Vorlesungen 
seiner Universität keine Gelegenheit geboten hätte. In den Fragen der Alltags¬ 
politik sind in diesem Sinne große Segnungen aus gegenseitigen Aussprachen 
von Lehrern und Hörern zu erwarten. Auch in religiösen und philosophischen 
Dingen wird mancher Lehrer von seinen Schülern infolge deren natürlicher 
Arbeitsreife manches lernen können, was er sonst nicht gesehen hätte. 

Zweifellos setzt die philosophische Methode die fachwissenschaftliche voraus, 
aber sie ist es, die dem Unterricht den eigentlichen Volkshochschulwert gibt 
Wegeners Darstellung fand viel Widerspruch, zum Teil weil die philosophische 
Methode infolge ihrer isolierten Darstellung im Sondervortrag ein gewisses 
Übergewicht erlangte, zum Teil weil sie vielen Lehrern einfach nicht liegt, 
während sie anderen, allerdings wenigen, selbstverständlich ist. 

Volle Durchgeistigung des Lehrstoffes ist das Prinzip seiner 
hochschulmäßigen Darstellung. 

Mit den Überlegungen der letzten Abschnitte'uind wir zu sehr ernsten und 
grundsätzlichen Fragen gekommen. Es heißt wie bei aller Schulung, auch 
in den Volkshochschulen Kulturleistungen zu vollbringen, nämlich die Hörer 
möglichst tief in das geistige Leben hineinzuführen. 

Den Ausgangspunkt bildet stets der Alltag, in dessen Wertung der Mensch 
nun einmal nicht viel mehr als ein Gewohnheitstier ist. Er handelt hier 
nach seinen Regeln und Vorbildern, über die er sich mehr oder weniger 
viel, meist aber herzlich wenig Gedanken macht. Er ist dort ein praktisches 
Instinkt- oder ein gefühlsmäßig reagierendes Gewohnheitsgeschöpf. Über 
diesen Standpunkt der Gasse, des Kellers, des Ladens und des Bureaus soll 
er sich erheben lernen, damit er zu einem freien Höhenstandpunkt kommt 
und in der frischen Luft des Geisteslebens den Weitblick des Gipfelpanoramas 
genießen und verstehen lernt. Ein Prozeß der Durchgeistigung in Form einer 
tiefen innerlichen Auseinandersetzung mit dem Sinn der Dinge der Welt muß 
eingeleitet und möglichst weit durchgeführt werden. Es ist schon hinsicht¬ 
lich der Zweckmäßigkeit nicht das gleiche, ob eine Krankenschwester einen 
neuen Apparat nach der Gebrauchsanweisung zum Desinfizieren benützt oder 
ob ein gut ausgebildeter Arzt das gleiche tut; es ist nicht dasselbe, ob eine 
Viehmagd einen Stall allein reinigt oder ob der Tierarzt sie dazu anleitet 
und die Aufsicht hat. Der Durchgebildete sieht mehr und geht der Sache 
und der Einzelerscheinung anders auf den Grund. Der Handlanger und der 
Subalterne bleiben stets mehr oder minder an der Oberfläche kleben. Wenn 
Plato lehrt, alle Staatenlenker sollten Philosophen sein, so entspricht das 
durchaus der gleichen Überlegung und unserem Ideal. Das Ziel, auf das 
wir hinstreben, liegt also nicht im Bereich des bloß Nützlichen, sondern in 
der Hinführung zu Selbstwerten und zur Durchgeistigung des Lebens. Innere 
Sicherheit und Zufriedenheit, Glück im höchsten Sinne ist das Endziel aller 
dieser Bestrebungen. 


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Grundsätzliches Uber die Volkshocbscbaltrage 


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Weg, den man hierbei zu gehen hat, hat man vielfach als den der 
lg bezeichnet; das ist insofern richtig, als der reife oder, wenigstens 
lezu reife Mensch (unreife gehören nicht in die Hochschule, auch nicht 
die Volkshochschule) bereits eine Menge Erfahrungen und Kenntnisse 
jlpsitzt und es praktisch bis zu einem gewissen Qrade nur darauf ankommt, 
'Uesen Besitz zu klären. Es scheint tatsächlich nicht viel mehr nötig zu sein, 
als eine Bewußtmachung der bereits vorhandenen Lebenswerte. Aber im 
Grunde ist es doch viel mehr, denn man kann darin nicht gründlich genug 
Vorgehen. Man muß sich als Lehrer darüber klar sein, daß wir stets eine 
mehr oder minder große Anzahl von Individuen vor uns haben und daß in 
denselben bestimmte seelische Prozesse ablaufen. Es muß der ganze Schatz 
geistiger Voraussetzungen, zumal der Anschauungen und Erfahrungen einer 
gründlichen Durchsicht unterzogen werden. Aus ihnen müssen durch eigene 
Arbeit der Hörer die bereits allgemein (m. a. W. phylogenetisch oder über- 
(ndividuell) feststehenden und gültigen Ergebnisse der Wissenschaft neu 
id. h. ontogenetisch oder individual-immanent) aufgebaut und gefunden 
werden. Es werden so geistige Erzeugnisse geschaffen, die wir, weil wir 
de mit dem schlichten Namen von Kenntnissen bezeichnen, in ihrer Eigenart 
als seelische Produkte allzuleicht verkennen und in ihrer Struktur unterschätzen. 
Schon die einfachsten Urteile sind gleichsam Aufbauten. Zwar sind Subjekt und 
Objekt eines neuen Urteiles oder Gedanken jeweils als Begriffe in uns be¬ 
reits vorgebildet. Indem sie aber das Urteil bilden, geben sie etwas Neues, 
eben den Einfall, den Gedanken, den tieferen Sinn, oder wie man sich aus- 
drücken mag. Dieser Sinn fehlte vorher. Indem er sich neu bildet, kann 
er uns trotz und gerade in seiner größten Einfachheit sogar als Erleuchtung 
und Offenbarung erscheinen. — Daß dieser Vorgang der geistigen Neubildung 
im Lernenden ein ganz anderes Faktum ist als das Denken im Unterrichtenden, 
kann nicht genug hervorgehoben werden. 

Hat sich im Lernenden ein neuer Gedanke von mehr oder minder 
großem Umfang gebildet, so muß er zu allem sonstigen einschlägigen Geistes¬ 
inventar seines neuen Trägers in Beziehung gebracht werden. Dieser muß 
seine Folgerungen aus ihm ziehen und die Bedeutung des neuen Stoffes 
erkennen. Die so eingeleiteten intellektuellen Akte sind aber nicht lebens¬ 
kräftig und lebenswarm, sondern wertlos, wenn sie nicht gleichzeitig sich 
mit den Akten der inneren Hingabe und Wertung verbinden. Es muß also 
auch hier wieder unser feinstes Seelenorgan, das Gemüt, in die Denkarbeit 
eingreifen und die philosophische Betrachtung, die Arbeit erweitern und ver¬ 
tiefen. In dieser Weise muß der Alltagsmensch den allertiefst eingefleischten 
Nützlicbkeitsstandpunkt Schritt für Schritt überwinden lernen; er muß zum 
Staunen kommen; er muß innerlich erschüttert werden und das Gefühl der 
Ahnung des tiefen Sinnes bei allem Denken spüren. Von diesem Standpunkt 
aus wird es selbstverständlich, daß jede Aufgabe geistiger Verarbeitung den 
Forderungen der genannten drei Methoden der intellektuellen Durchdringung, 
der Einfühlung und der Selbstwertfindung, sowie der philosophischen Er¬ 
gründung Genüge leistet. 

An solches Arbeiten können und müssen bestimmte Forderungen gestellt 
werden, wenn es wirklich hochwertig sein und Hocbschulcharakter besitzen soll. 

1. Es muß vom Geist absoluter Sachlichkeit durchdrungen sein. Subjek¬ 
tive Voraussetzungen, zufällige Neigungen und Wünsche müssen ausgeschaltet 


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F. E. Otto Schnitze 


sein oder, wo sie sich nicht ausschliefien lassen, müssen sie bewufit gemacht 
werden und die Objektivität (d. i. Allgemeingültigkeit) des Ergebnisses muß 
als beschränkt oder gar nicht vorhanden erkannt werden. Damit ist die 
Scheidung von objektiver und subjektiver Wahrheit und der Geist der 
Wahrhaftigkeit als Grundbedingung aller geistigen Auseinandersetzung 
klar gefordert. Ebenso ist die Fähigkeit und der Zwang streng, solide, 
nüchtern, logisch und klar aufzubauen und überindividuell, sub specie 
aeternitatis, zu denken als Ziel gesetzt. 

2. Gedankenlosigkeit und gewohnheitsmäßige Selbstverständlichkeit müssen 
schwinden. Nichts- ist selbstverständlich, alles will durchdacht, durchforscht 
und in seinem Werte erfaßt, Vorurteil und Befangenheit müssen erkannt und 
überwunden werden. Man muß aus seinem dogmatischen Schlummer zum 
Wachleben der Problematik und Kritik erweckt werden. Man muß 
wissen, daß allenthalben etwas los ist, daß Probleme vorliegen; man muß 
sehen lernen, wo Mängel, Bedürfnisse und Nöte, geistige, seelische und 
intellektuelle Nöte sind, die beseitigt werden müssen. 

3. Man darf infolge der großen Bedeutung der Gedankenarbeit, die für 
alle innere Auseinandersetzung unentbehrlich ist, nicht einseitig werden und 
dem Intellektualismus frönen. Man muß unmittelbar und lebensnahe 
bleiben, stets auf Aufsuchung, Bewahrung und Beherrschung von Lobens¬ 
werten bedacht sein. 

C. Der Zweck der Volkshochschule und ihre Beziehung zur Volksbildung 

und Volkserziehung. 

Hat man einmal klar erkannt, wie tief das Schulproblem in unser ganzes 
geistiges Leben verwachsen ist, so wird man leicht noch einen Schritt weiter 
gehen und zugeben, daß ein hochstehender Unterricht noch andere, tief¬ 
greifende Wirkungen auch auf Funktionen der Seele haben muß, die hier 
noch nicht genannt sind, nämlich und zumal auf den Willen. In wie hohem 
Maße der Volkshochschulunterricht aktuell werden kann, zeigt ein von 
Wegener berichteter Fall: In Schlesien wurde in einer Arbeitsgemeinschaft 
das Koalitionsrecht der Arbeiter behandelt. Im Anschluß an diesen Kurs 
traten die Arbeiter in Streik 1 — Vergessen wir auch nie die Erfahrungen, 
die uns die Münchener Räterepublik gebracht hatte. Die Theoretiker und 
Idealisten vom grünen Tisch sind trotz aller Harmlosigkeit ihrer guten 
Charaktere allzuleicht gemeingefährliche Herren, zumal wenn sie etwas 
Temperament haben. Selbstbewußtsein fehlt ihnen selten, Hemmungen noch 
weniger. Wer Nihilisten in der Vorkriegszeit persönlich gekannt hat, dem 
waren die Vorgänge in München und sind die in Moskau hinsichtlich der 
Führerleistungen eine psychologische Selbstverständlichkeit. Wir dürfen also 
nicht verkennen, daß die Volkshochschule nicht unschwer zu einem Spiel 
mit dem Feuer werden kann. Wegener zitierte Hartmann, weil dieser 
den Standpunkt vertrat: „Wir lehren in der Volkshochschule nur objektive 
Wissenschaft; welche Stellung der einzelne dazu nehmen soll, mag er in 
seinem stillen Kämmerlein herausfinden." Wer wird diesen Standpunkt 
angesichts solcher Erfahrungen teilen? Wir müssen uns dessen bewußt sein, 
daß wir Wasser auf eine abschüssige Ebene schütten, wenn wir in offene 
und tatkräftige Seelen Geistesstoffe senken: Denken und Erkennen leiten 


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Grundsätzliches Aber die Volkshochschulfrage 


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auf solchem Boden unmittelbar zum Planen und Handeln über. Soll es 
uns gleichgültig sein, in welchem GeiBt unsere Hörer das Gesagte aufnehmen? 
Sollen wir bloß darüber wachen, daß unsere Zuhörer richtig verstehen, was 
wir meinen? Keinesfalls! Wir müssen dem Geist und der Gesinnung folgen, 
mit der sie es verarbeiten. Die Willensmomente, zu denen unsere Lehren 
unausbleiblich in Beziehungen treten, sind sorglich zu bedenken und soweit 
wir es vermögen, sachgemäß zu beeinflussen. Daß wir dem Hörer bei seiner 
Stellungnahme nur helfend zur Seite stehen, ihm im übrigen volle Freiheit 
der Entschließung lassen, ist selbstverständlich. In der Klärung und im 
Durchdenken der Folgen wird er uns jedoch brauchen können. So müssen 
wir selbst uns der Folgen unserer Lehre für das Handeln bewußt sein; in 
der Hinleitung zum Wollen liegt der wesentliche Unterschied zwischen 
Unterricht und Erziehung; der Volkshochschullehrer aber muß sich seiner 
Mission als Volkserzieher ebenso bewußt sein, wie der Schullehrer seiner 
einzelerzieherischen Aufgaben. Sonst ist er Intellektualist oder Ästhet. 

Gegen derartige Gedanken wurde auf der Weilburger Tagung eingewendet: 
„Die Volkshochschule kann die Hörer nicht erziehen, denn diese kommen 
mit fertigem Charakter. 8 „Es ist töricht, aus jedem Volksgenossen eine 
Persönlichkeit machen zu wollen“ usf. Solche Einwände können verblüffen, 
und doch sind sie nicht in allem richtig. Wenn man z. B. die innere Ent¬ 
wicklung eines Arztes oder Richters von seinem Staatsexamen an bis hin 
zu seinem 50. Jahre betrachtet, so muß man unbedingt zugeben, daß sie 
wesentlich über das hinausgegangen ist, was der studierte Mann mit 25 Jahren 
war. Gerade die innere Ausreifung auf Grund der Bewertung und das Ver¬ 
ständnis für das allgemein Menschliche hatten sich seitdem erst im eigent¬ 
lichen Sinne herausgebildet und zur vollen Bewußtheit erhoben. Unter den 
Volkshochschulbesuchern haben wir aber vielfach Menschen, die noch nie 
% gezweifelt, vielleicht auch noch nie im hohen Sinne gestaunt haben, denen 
bis dahin vielleicht noch nie eine Offenbarung aufgegangen war und die 
doch sehr wohl dazu befähigt sind. Wir wissen ja, daß wir sie erst einmal 
zum Fragen, also zur ersten Äußerung selbständigen Denkens auf wissen¬ 
schaftlichem Gebiete bringen müssen. Wenn wir sie nun zur Auseinander¬ 
setzung mit den Lebenserscheinungen und Lebensrätseln anregen, so besteht 
nicht nur die Aussicht, sie zu unterhalten, sondern sie zu befruchten, ja 
ihre Persönlichkeit um- und auszugestalten, nur muß man dazu Zeit und 
Geduld haben. Echte Erkenntnisse wirken tatsächlich lebenformend 
und stilbildend. Sollte der Lebensstil einer Ehe nicht grundsätzlich von 
den Gedanken abhängen, die sich die Gatten über die Ehe machen? und 
ebenso der Lebensstil des Staates von der Staatstheorie seiner Bürger? 
Lebens- und Erziehungsziel decken sich. Beim Erwachsenen ist das deut¬ 
licher als bei Kindern. Die Selbsterziehung des Gereiften ist und bleibt 
seine wichtigste Leistung; sie hört nie auf. Darum ist es so wichtig, trieb- 
kräftige Samen zu streuen, und darum weise ich noch einmal auf die Forde¬ 
rung der Erfassung von Selbstwerten in Kirnst, Wissenschaft und Obersinn¬ 
lichkeit zurück. 

Bei Durchführung dieser Grundgedanken kann man nicht ausschließlich 
und einseitig auf dem l’art pour l’art- Standpunkt oder auf dem reinen 
Forscher- oder bloßen Predigerstandpunkt stehen bleiben, sondern muß die 
Beziehungen zu allen aktiven Lebenskräften suchen und ihre Arbeit richtig 


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P. E. Otto Schultze 


beeinflussen. Diese Aufgabe fand durch Koch eine glückliche Formulierung. 
Er sprach von den Aufgaben, die dem Volkshochschulheim als der höchsten 
Form der Volksbildungsbestrebungen gestellt werden müssen und unterschied 
dabei Lebensoffenbarung, Lebenstheorie und Lebensleitung. Diese letzte 
Aufgabe muß jeder Volkserzieher im Auge haben und muß in ihrem Sinne 
wirken, soweit es ihre äußeren Umstände gestatten. 

Was wir als „Leben“ zu bezeichnen haben, ist ungemein schwer zu sagen. 
Das Wort spricht sich so leicht aus, ist sehr beliebt und enthält die schwie¬ 
rigsten Probleme. Man wird es allgemein vielleicht fassen als „Entfaltung 
der im Menschen angelegten Kräfte in Anpassung an die Anforderungen 
der Außenwelt“. In Anbetracht der individuell so großen Verschiedenheit 
der seelischen Anlage wird man davon absehen* allgemeine Lebensziele auf¬ 
zustellen. Denn alle Wertung ist von den Anlagen des Wertenden ab¬ 
hängig; die Werte aber, also das, wofür man sich interessiert, wozu man 
sich wendet und wofür man sich einsetzt, müssen von Mensch zu Mensch 
verschieden sein. Dazu kommt der Zufall der' örtlichen Umgebung. Der 
eine wird in seinem stillen Erdenwinkel ganz andere Eindrücke verarbeiten 
und ganz anderen Ansprüchen gerecht zu werden haben, als der andere 
ihm sonst Gleichgeartete in der Weltstadt an exponierter Stelle. Gemeinsam 
kann nur das sein, daß wir nicht in bloßer Befriedigung der sinnlichen Be¬ 
dürfnisse, sondern in der Erhebung ins Geistige die eigentliche Lebens¬ 
aufgabe erblicken. Mag es sich um die Auffassung und das Verständnis 
des Entgegentretenden handeln, um die Zielsetzung, die dieses fordert, oder 
um die Verwirklichung von Zielen, Aufgaben und Plänen: je tiefer und 
weiter blickend, je ernster und selbständiger diese geistigen Akte in einem 
Menschen erfolgen, umso höher werden wir ihn einschätzen. Jeder Volks¬ 
genosse müßte in diesem Sinne erzogen sein und werden. Bei jedem kann 
es in mehr oder minder weitgehendem Maße geschehen, denn die Durch¬ 
schnittsanlage des Mannes und der Frau aus der breiten Masse ist nicht 
anders, als die Anlage derer, die unsere studierten Berufe erfüllen. 

Man muß eine umfassende Vorstellung der Aufgaben der Volksbildung 
und Volkserziehung besitzen, um sich einseitigen Meinungen mit der dazu 
nötigen Energie entgegenzustellen. Auch auf der Weilburger Tagung traten 
derartige Orientierungen zutage. Zumal äußerten sich sozialdemokratisch 
denkende Teilnehmer in solchem Sinne. So muß z. B. meines Erachtens eine 
ausschließliche Einstellung der Volkshochschule auf die Arbeiterschaft unbedingt 
verworfen werden. Oder wenn es hieß: „Bildung ist die Gestaltung des 
Individuums, soweit es als Glied des Ganzen diesem gemäß zu sein hat*, 
so scheint der Prüfstein aller Lebenswerte im Grunde nur der Wert zu sein, 
den ein Geisteserzeugnis für die Gemeinschaftsbildung besitzt. Das klingt, 
als wäre soziale Erziehung und Erziehung überhaupt dasselbe. Zweifellos 
ist das Ziel der Brüderlichkeit, der Toleranz, der Solidarität, der Liebe, oder 
wie man sich ausdrücken mag, für uns alle sehr schön, wichtig und un¬ 
entbehrlich, also Pflicht, aber es steht doch nicht allein da. Selbsterziehung 
im weitesten Sinne des Wortes ist nicht minder wichtig. Bildung auf den 
Gebieten der Kunst, Wissenschaft und Obersinnlichkeit lassen sich nicht in 
soziale Aufgaben auflösen. Kochs Schilderung des gebildeten Bauern, so 
wie ihn der Weilburger Riehl dargestellt hat, zeigte deutlich, daß zu seiner 
Verwirklichung viel mehr nötig ist als soziale Ideen. Auch der gebildete 


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Grundsätzliches über die Volkshochschulfrage 


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Bauer besitzt warme Menschlichkeit, aber seine Kultur umfaßt mehr. Alles, 
was von der Ofenbank und ihrem Bildungswert gesagt wurde, zeichnete ein 
anderes Ideal und war auf den wesentlich umfassenderen und gesünderen 
Begriff der Heimatsliebe und Heimatsgestaltung gerichtet. Zur Heimat 
gehört der Mensch und seine ganze Umgebung, nicht bloß der Mensch mit 
seinem Sorgen, Ringen und Ängsten um Recht und Macht, sondern die Seele 
mit ihren zahllosen Fähigkeiten, die sich alle entfalten wollen, die ihrem 
Besitzer Freude und Friede bringen und sein Leben erheben und es ihm 
erhaben, ja heilig machen. Das Leben ist ein heiliges Gutl — ist Kochs 
Satz, den ich an dieser Stelle nochmals zitieren möchte. Er kennzeichnet 
das Ziel des Volkserziehers am besten. Fraglich kann nur sein, wie weit 
man diesen Begriff ausdehnt. Den weitesten Umfang, wie wir ihn mit den 
Worten „Geistesleben der Menschheit“ umreißen können, werden nur ganz 
wenige erfassen können, aber beobachtende, verstehende und gestaltende 
Teilnahme an dem Bildungsprozeß des Menschen in einem möglichst weiten 
Umfange bleibt doch unser Ziel. Heimatsliebe und Heimatsgestaltung aber 
ist nur das nächstliegende und meist auch realisierbare Ziel der Volkserziehung. 

Es lag eigentlich in der Luft, daß das Problem der Erziehung des Ge¬ 
meinsinnes durch die Volkshochschule auf das eingehendste diskutiert 
wurde. Dennoch geschah es nicht. Warum wohl? Vielleicht weil man 
wußte, daß jede Schule als Schule dazu unfähig ist. Ideen oder Ideale 
kann man dort wohl besprechen, aber für sie erziehen, d. h. den Willen zu 
ihnen anregen, stärken und zur Tat bringen und üben — das gelingt in 
solcher Umgebung nicht. Die Verkehrsforraen und die Arbeitsweise der 
Vorträge und Arbeitsgemeinschaften kann persönliche Bekanntschaft zwischen 
Unbekannten vermitteln, kann Freundschaften stiften, hier und . da auch 
soziale Gegensätze überbrücken. Sie kann also den Gemeinschaftssinn 
wohl anregen, aber viel mehr vermag sie nicht. In diesem Sinn ist allein 
vom Volkshochschulheim wertvolles zu erwarten. Von der Errichtung solcher 
Volksbildungsstätten im großen Stil sind wir aber noch weit entfernt; nie 
kann Volkshochschule und Volkshochschulheim identisch werden. Haften 
so der Volkshochschule hinsichtlich ihres Erziehungswertes große Mängel an, 
so treten diese noch deutlicher hervor, wenn man sie auf die Gegenwart 
unseres deutschen Volkes beschränkt. Wie kann man bei solcher Zerklüf¬ 
tung einer Volksgemeinschaft Einheit und Zusammenarbeit schaffen? Es 
war tief niederdrückend, zu hören, was die Praktiker sagten tmd erzählten. 
Schroff sprach ein Sozialist seine Auffassung aus: „Es stehen sich zwei Welten 
gegenüber; der Gegensatz kann nur durch Kampf überwunden werden.“ 
Von anderer Seite her wirkte es fast rührend, als ein wohlmeinender bürger- 
lieber Volkshochschulleiter versicherte: „Wenn man die Arbeiterführer davon 
überzeugt, daß wir das Gute wollen, so werden die Arbeiter schon kommen.“ 
Sollten ihm nicht örtliche Zufälligkeiten einen allzu starken Optimismus ein¬ 
gegeben haben? Mit welcher niedrigen Gesinnung tritt man ferner in Klein¬ 
städten demjenigen gegenüber, der Volksbildungsbestrebungen zu verwirk¬ 
lichen sucht. Hiervon erzählte zumal Körber. Versucht z. B. ein Lehrer 
oder Oberlehrer in diesem Sinne zu wirken, so heißt es: „Er will sich eine 
Nebeneinnahme schaffen.“ Daß er selbstlos ist und Ideale erstrebt, erkennt 
die Masse nicht an. Der Bauer wittert in den Volkshochschulbestrebungen 
'womöglioh eine neue Form der Besteuerung. Schwarte erzählte, daß er 


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F. E. Otto Schultze, Grundsätzliches über die Volkshochschulfrage 


mit einem Bauern abends von x lt9 bis */ 4 12 gesessen und verhandelt hätte. 
Es schien alles in die besten Wege geleitet zu sein. Nachts l j-A2 auf dem 
Bahnhofe rückte der Bauer endlich mit seinen eigenen Gedanken heraus, 
und alle Mühe war vergeblich gewesen. Immer und immer wieder wurde 
von den „Welten“ gesprochen, die nebeneinander bestehen. Günstigenfalls 
hieß es, sie suchen einander. Fast ausnahmlos wurde zugegeben, daß das 
Mißtrauen des Arbeiters gegen die Bürgerlichen alle fruchtbare Arbeit hint¬ 
anhält. Man kann fast von einer Lehre von der doppelten Wahrheit reden. 
Die Sozialisten glauben, eine andere Wissenschaft zu haben als die Bürger¬ 
lichen. Wir werden darin an die Renaissance erinnert, nur daß es damals 
die Kirche war, die da meinte, die wahre Wissenschaft zu vertreten. Am 
weitesten und tiefsten ist die Kluft zwischen Arbeitern und Bauern! Es sei 
ausgeschlossen, daß sie je zusammenkämen. Die größte Gefahr aber für 
unser Gemeinschafts- und Geistesleben sei die Unmoral der bäuerlichen 
Wirtschaft. Erfreulich war, daß Picht erzählte, man könnte bei zäher 
Arbeit doch Erfolg haben. Er hat in Berlin ein ganzes Jahr dazu gebraucht, 
um die U.S.P. für die Volkshochschule zu gewinnen. Die größten Zeit¬ 
verluste brachte es ihm, daß die Partei Vertreter auch dann, wenn sie sach¬ 
lich gewonnen waren, versicherten, sie hätten von der Partei keinen Auf¬ 
trag. Obschon dieser Zug genügend bekannt ist, muß man ihn doch aus¬ 
drücklich immer wieder in Rechnung stellen. — Möchte es doch in abseh¬ 
barer Zeit dahin kommen, daß wir Deutsche aus den verschiedensten Volks¬ 
schichten wieder miteinander reden! 


Zusammenfassung. 

Fassen wir unsere Meinung über die Stellung der Volkshochschule 
zusammen, so werden wir sie nicht neben das Volksunterhaltungs- und Volks¬ 
bildungswesen stellen, sondern sie zwar unterordnen, aber ihr doch die 
Zentralstellung im Volksbildungswesen geben.') Forderungen wie die von 
Erdberg, Wegener und anderen: sie ist keine Berufsschule, keine Partei- und 
Betriebsräteschule — werden wir ohne weiteres, unterschreiben. Sie muß 
neutral sein und sich wegen ihres Niveaus als Volkshochschule auf die 
Bildung und Erziehung des Erwachsenen im höchsten Sinne beschränken, 
sowohl gegenständlich (Kosmetik, Mutterschaftspflege, Sport usw. sind nicht 
Aufgabe der Volkshochschule) als auch in der Hörerauswahl (sie kann nur 
mit wenigen rechnen, nicht mit Massenveranstaltungen). — Die freien Vor¬ 
träge und Vortragsreihen werden mehr der Unterhaltung und Anregung 
dienen. Feste, Feiern und Schaustellungen können ihre Anziehungskraft 
erhöhen, ihre Gefühlswirkung verstärken und ihre Kasse aufbessern. Allmählich 
müssen die Vorträge durch Verbindung mit dem Lehrgespräch in den sich 
anschließenden Besprechungen die näher interessierten Hörer heranziehen 
und für die Arbeitsgemeinschaft gewinnen. Diese bilden die eigentliche 
Volkshochschule; hier ist echte Hochschularbeit zu leisten, die sich an hoch- 
schulmäßigen Arbeitsstoffen zu bewähren hat und so Vollwertiges schafft. 

') Den Namen Volkshochschule werden wir, nicht bloß weil mancher Parlamentarier darüber 
lächelt und mancher Hochschulprofessor den Volksbochscbullehrer über die Achsel ansiebt, sondern 
um der Gefahr einseitiger intellektualistiscber Bestrebungen zu entgehen, am besten vermeiden. 
Der Name Volksbildungsheim, wie er z. B. in Frankfurt üblich ist, dürfte am zweckmäßigsten sein. 


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Albert Huth, Anleitung cur Schüler-Personalbeschreibung 


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Wenn jemand eine Anzahl solcher Kurse (ich schätze 4—6, die sich auf ver¬ 
schiedene Semester verteilen) durcbgemacht bat, so wird er zu einem mehr 
oder weniger weitgehenden, selbständigen Urteilen und Werten gekommen, 
zu einer wesentlich fruchtbareren Verarbeitung der freien Vortiäge und zu 
eigenem Lesen von wissenschaftlichen Werken fähig geworden sein. — Das 
Volkshochschulheim steht über der Volkshochschule und den Arbeits¬ 
gemeinschaften. Es schließt ihre Arbeitsformen ein und ist ihnen durch die 
starke Wirkung auf die Willenskräfte und die Persönlichkeit weit überlegen. 
Von hier aus kann eine wirkliche Vertiefung und Befruchtung der Besucher 
im Sinn einer wahren Volkserziehung stattfinden. 


Anleitung zur Schiller-Personalbeschreibung. 

Von Albert Huth. 

Die Begründung der folgenden Beobachtungsanweisung ist in meiner Ab¬ 
handlung „Grundsätzliches über Personalbogen“ gegeben (Zeitschr. f. pädag. 
Psychol., XXII, 3/4, 1921). 

Es galt zunächst eine allgemeine Beobachtungsanleitung zu schaffen, der 
dann später Sonderhinweise für die Zwecke der Hilfsschule, Mittelschule, 
Begabtenschule, Berufsberatung usw. folgen werden. Diese Aufgabe hat die 
Arbeitsgruppe für Begabungsforschung im Päd.-Psych. Institut München in 
Angriff genommen. Im Anschluß an die Vorlesungen über Personalbogen 
wurden für jedes der sechs Hauptgebiete Referenten aufgestellt; sie sollten 
nicht nur die in der Literatur gegebenen Vorarbeiten benutzen, sondern vor 
allem versuchen, ihre eigene Schulklasse in dem betreffenden Punkt so aus¬ 
führlich wie möglich zu beurteilen und aus diesen Teil-Personalbeschreibungen 
eine Gliederung zu abstrahieren. In gemeinsamen Sitzungen wurden die 
Unterpunkte festgelegt und Beispiele und Beobachtungsmöglichkeiten an¬ 
gegeben. Großen Dank schulde ich für die Übernahme von Referaten Herrn 
Ettmayr (körperliche Entwicklung), den Herren Fink, Ganzenmüller und 
Hartmann (außerschulische Lebenskreise), Fräulein Dannegger (Lebenskennt¬ 
nisse und Schulleistungen), den Herren Brückl und Niederländer (Verstandes¬ 
entwicklung), Hofgärtner und Herzog (Gefühls- und Willensentwicklung), 
Ungemach und Fassoli (sittliche Entwicklung). 

Die später erscheinende Sonderanweisung wird auch eine Abteilung für 
die Personalaufnahme der Schulneulinge enthalten; die der Elementarklasse 
eigentümlichen Fragen sind also hier nicht berücksichtigt. 

Die Gliederung der Verstandesentwicklung ist durch Anregungen des Herrn 
Professor Dr. Aloys Fischer stark beeinflußt. 

Hoffentlich hat das Bestreben, jn der folgenden für jeden Lehrer be¬ 
stimmten Beobacbtungsanweisung die Fremdwörter möglichst auszuschalten, 
der Klarheit der Begriffsbestimmung nicht geschadet. 


. I. Körperliche Entwicklung. 


Bedeutungsvolle Erscheinungen aus der Vorschulzeit und an den nächsten 
Verwandten, die bei der Schulaufnahme noch nicht vermerkt wurden, können 
jederzeit nachgetragen werden. Der durch den Schularzt auszufüllende Ge¬ 
sundheitsbogen ist zur Ergänzung einzulegen. 

Zeitschrift f. pgdagog. Psychologie. 7 


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98 


Albert Huth 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


A. Allgemeiner Körperzustand. 


1. Entwicklungs¬ 
zustand 

2. Krankheiten: 

a) innere. 


b) äußere 


c) Absonderungen u. 
Geschlechtsteile 

d) Nerven. 

3. Mißbildungenu, 
krankhafte Zu¬ 
stände 


Ernährungsverhältnisse — Körperkraft — Einfluß von 
Witterung und Witterungswechsel — Einfluß von 
Tages- und Jahreszeiten auf den Körperzustand — 
Rechts- oder Linkshändigkeit 

Herzfehler, Lungenleiden (Tuberkulose), Verdauungs¬ 
störungen und Darmkrankheiten, Leisten- oder 
andere Brüche. 

Drüsen und Fisteln — Hautausschläge, Fußschweiß, 
Kropf, Mandelschwellungen, Wucherungen in der 
Nasenhöhle, Mittelohrentzündung. 

Bettnässen, Kotlassen, Selbstbefleckung. 

Nervenschwäche, ständige Kopfschmerzen, Anfälle. 

Verkrümmungen der Wirbelsäule und der Glieder, 
Zahnarmut und -mißbildung, Hasenscharte usw. 


B. Sinnesfehler und Sprachstörungen. 


1. Gesichtssinn . . . 

2. Gehörsinn . . . . 

3. Niedere Sinne . . 

4. Sprachstörungen . 


Kurz-, Weit-, Schwachsichtigkeit, Farbenblindheit, 
Augenmaß und Schätzen, Treffsicherheit usw. 

Schwerhörigkeit, Tonunterscheidungsvermögen. 

Geruch, Geschmack, Wärme-, Kälte-, Druck- und 
Gelenkempfindungen. 

Stammeln (Ausfall von Mitlauten), Lispeln, Stottern 
(Stocken beim Beginn einer Silbe),”Pöltern (über¬ 
hastetes Sprechen), Näseln (infolge Wolfsrachen), 
auffallend langsames Sprechen usw. 


C. Hervorstechende körperliche Geschicklichkeiten 
oder Ungeschicklichkeiten. 


1. Körperbeherr¬ 
schung 

2. Handgeschicklich¬ 
keit u. Bewegungs¬ 
beherrschung 

3. Körperliche Lei¬ 
stungsfähigkeit . . 


Ungeschicklichkeit, Umständlichkeit, besondere Lang¬ 
samkeit, mangelhafte Zuordnung von Bewegungen 
zueinander. 


Stärke und Ausdauer der Körperleistung. 


II. Außerschulische Lebenskreise des Kindes. 

Die Erforschung der häuslichen Verhältnisse erfordert Takt und Uradcht und das Material 
bleibe ein Stück Amtsgeheimnis. Es werde nie absichtlich durch irgendwelche Ausfragerei 
gesammelt, sondern ergebe sich gelegentlich bei Elternabenden, Klassenbesuchen der Eltern y 
Heimbesuchen des Lehrers usw. 


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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung 


99 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


A. Das Elternhaus oder dessen Ersatz. 


1. Die Eltern: 
a) Charakter . . 


b) Ehelicher Zusam¬ 
menhalt 

c) Verhältnis zu 

u) Religion . . . . j 

ß) Politik. 

y) Vergnügungen, 
d) Liebhabereien . 

d) Stellung zu Erzie¬ 
hung u. Bildung: 
u) Bildungsgrad 

der Eltern 

ß) Eig. Erziehungs¬ 
grundsätze und 
Erzi ehungsmittel 
y) Stellungnahme 
z. Schulerziehung 

2. Übrige Hausge¬ 
nossen: 

a) Verwandte .... 

b) Fremde. 

3. Wirtschaftliche 
Verhä ltnisse: 

a) des Vaters .... 


b) der Mutter . . . . 

c) der übrigen Ange¬ 
hörigen . 

4. Wohnung und 
Verpflegung: 
a) Wohnung. 


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Ordnungsliebe, Sinn für Häuslichkeit, Lässigkeit und 
Gleichgültigkeit, Sparsamkeit, Fleiß, Genußsucht, 
Bequemlichkeit, Leumund, Gerichtsstrafen; Herzens¬ 
bildung, Gemütsroheit, Jähzorn, Gewalttaten. 

Scheidungsprozesse, gegenseitige Gleichgültigkeit und 
Ungebundenheit, überwiegender Einfluß des Vaters 
oder der Mutter; öfterer Streit. 

Frommgläubigkeit, Teilnahme an Kirchenfesten, Frei¬ 
sinn, Sonntagsruhe. 

Führer im Parteileben, in Vereinen. 

Wirtshaus, Volksbelustigungen, Kartenspiel. 

Kunst und Sport; Theater, Konzert, Zeichnen, Malen, 
Basteln, Hausmusik; Sportsaiten; Wanderungen. 


Allgemeinbildung, Fortbildungsbestreben, Sinn für 
höhere Interessen oder Stumpfheit und Gewöhn¬ 
lichkeit; Umgangssprache und Umgangsformen. 

Interesse am Kinde, Liebe zum Kinde, Gewöhnung 
zur Schule oder Abhaltung von der Schule, Strafen 
und Belohnungen, Nachhilfe bei Schulaufgaben. 

Klassenbesuche, Teilnahme an Schulfeiern, Eltern¬ 
abenden, Schulreisen. 


Geschwister (Zahl, Alter, hervorstechende Eigen¬ 
schaften), Großeltern, weitere Verwandte, Paten. 
Dienstboten, Untermieter usw. 


Beruf und Verdienstmöglichkeiten, Arbeitslosigkeit, 
öftere Abwesenheit; Arbeitsstätte der Eltern (in der 
Natur, in Fabrik-, Geschäfts- u. Wirtschaftsräumen, 
Werkstätten, Schreib-. Studier- u. Künstlerstuben), 
besondere Schwierigkeiten, Verantwortlichkeit und 
Gefahren des Berufs, Auszeichnung im Beruf. 

Mithilfe im Erwerb, im Geschäft des Mannes oder bei 
fremden Leuten, Arbeitszeit, öftere Abwesenheit. 

Mithilfe im Erwerb, Stellvertretung der Eltern. 


Eigenhaus od. Mietwohnung, Garten- od. Hofbenutzung, 
Lage (Vorder- oder Rückgebäude, Nähe lärmender 
Betriebe), Zimmerzahl, abgeschlossene oder Teil- 

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Albert Huth 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


b) Schlafgelegenheit 
des Kindes 


c) Kleidung, Wäsche 
und Schuhwerk . 

d) Nahrung . . . . . 

5. Beschäftigun¬ 
gen des Kindes: 
a) pflichtmäßige . . . 


wohnung, Untermieter; Lichtverhältnisse; Platz fOr 
Schularbeiten, Zustand der Wohnung, Ungeziefer, 
Ordnung und Reinlichkeit, Ausstattung, Geschmack 
der Einrichtung. 

Schlafzimmer, Bettgenossen oder allein im Bett; Not- 
liegestätte, Bettenzahl und Zahl der zum Schlafen 
benutzten Zimmer in der Familie; öfteres Schlafen 
außerhalb der Wohnung. 

Anzahl, Reinlichkeit, Schonung. 

Regelmäßigkeit, Durchesser oder Näscher, Schul¬ 
speisung. 


zum Gelderwerb (Zeitung- und Milchaustragen, Auf¬ 
treten in Theatern, Modellstehen), Art und Zeit, Be¬ 
zahlung; Helferdienste im Haus und im Eltemberuf 
(Tier-u. Pflanzenzucht); Kinderpflege, Besorgungen; 
Heimarbeit der Eltern. — Zur eigenen Fortbildung: 
Hausaufgaben, Musikstudien, Ausbildung in der 
Ballettschule usw. 


b) freiwillige 


6. Lebensgewohn¬ 
heiten: 

a) Taschengeld und 
dessen Verwen¬ 
dung 

b) feste Hausordnung 

c) der Sonntag . . . 

d) Familientraditio¬ 
nen . 


Spiel, Sport und Wandern, Vorliebe för unterhaltende 
oder lehrhafte Spiele, Beschäftigungsspiele, Spiel¬ 
zeug, Spielplatz, Spielzeit usw. - Schwimmen und 
Radfahren. — Handarbeiten: Laubsägen, Basteln, 
weibl. Handarbeiten usw. — Weihnachtsgeschenke. 
Sammeln; Zeichnen und Malen. — Lektüre, Zei¬ 
tung, eigene oder geliehene Bücher; Theater, Kon¬ 
zert, Kino; sonstige geistige Beschäftigungen. — 
Sei bst schöpfen sehe Tätigkeit des Kindes. 


Herkunft und Höhe des Taschengeldes, Näschereien, 
Alkohol, Zigaretten, Schundbücher, Kino usw. 

Beschäftigung am Abend, an freien Nachmittagen; 

Schlafzeit, Kind im Besitz des Hausschlüssels. 
Kindergottesdienst, der Sonntagnachmittag. 

bei Adelsgeschlechtem usw. 


B. Die übrigen Lebenskreise des Kindes. 


1. Kameraden . . . . 


2. Unter Leitung von 
Erwachsenen ste¬ 
hende Einrichtun¬ 
gen . 


Freundschaft (Alter, Grund der Freundschaft, Wechsel 
in der Freundschaft), Spiele außer Haus, Gassen- 
leben, Jugendvereine und Klubs usw. 


Hort, Ferienkolonie, Jugendwandergruppen usw. 


J 


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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung 


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Hinweise 

ffir die Beobachtung 

Beispiele 

3. Anstalten, sonsti¬ 
ger Familienersatz 

Regelmäßiger Aufenthalt bei Großeltern oder Paten usw. 


HF. Lebenskenntnisse und Schulleistungen. 
A. Lebenskenntnisse. 


1. Einsicht in Lebens¬ 
verhältnisse: 

a) Wissen Ober die 
eigene Persönlich¬ 
keit 

BeiVerteilungvonSchul- 
imtern, in der Selbst¬ 
regierung uew. 

b) Einsicht in die Fa¬ 
milienverhältnisse 

Gelegentl. Mitteilungen 
der Kinder im Unterricht 
u. bei vertraulichen Be¬ 
sprechungen usw. 

e) Besondere Kennt¬ 
nisse aus dem Er¬ 
werbs- und Wirt¬ 
schaftsleben. . . . 

d) Prakt. Menschen¬ 
kenntnis und Men¬ 
schenbeurteilung . 

e) Vertrautheit mit 

staatlichenVerhält- 
nissen. 

f) Wissen Ober das 
Geschlechtsleben . 

2. Sachkenntnis: 

a) Das Durchschnitts¬ 
maß Qbersteigende 
Orts- und Natur¬ 
kenntnisse 

b) Material-u. Spezial¬ 
kenntnisse 

c) Kenntnisse Ober d. 
wirklichen Wert d. 
Gegenstände d. täg¬ 
lichen Lebens 

d) Kenntnisse aus d. 
Gebiete d. Kunst. 


Selbstbeurteilung, Kenntnis der eigenen Stellung in 
Haus und Schule (Beliebtheit, Gönner, Gegner), 
Lebensziele (Ideale) und Kenntnis der Wege zu 
deien Verwirklichung. 


Einsicht in Erwerbsleben, soziale Stellung, politische 
und religiöse Stellungnahme der Familie; Miterleben 
von Geburten, Unglücks- und Todesfällen im Hause 
oder in nächster Verwandtschaft, Zeuge von Selbst¬ 
morden, Verbrechen, gewaltsamen Naturereignissen 
oder Verkehrsunglücken; Zeugenschaft vor Gericht. 


Einsicht in bestimmte Berufskreise, soziale Verhältnisse. 


Einschätzung von Mitspielern, Spielkameraden usw. 


Verfassung, Politik, Weltkrieg. 

Aufklärung durch wen, wann, wie, wieweit? 


Vielfache Heimatwanderungen, Reisen, öfterer Wechsel 
des Wohnorts, Landleben. 

durch Lektüre, Sammeln, Beihilfe in gewerblichen 
Betrieben. 


Messen, Schätzen und Verwerten des Geldes (wie weit 
reicht man mit 20 M.?). 

Baukunst, Bildhauerei, Malerei, Musik, Dichtkunst usw. 


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102 


Albert Huth 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


1. Im allgemeinen: 

a) Leistungsrichtung 
Gelegentliche Bemer¬ 
kungen der Schüler in 
mündlicher Aussprache 
oder in freien Aufsätzen. 


Bei n Lern fächern“ und 
„Verstandesfä ehern“,im 
Gesangsunterricht, auf 
SchülerwanderüMgen, in 
den Pausen und nach 
dem Unterricht bei ge¬ 
legentlichen Ausspra¬ 
chen. I 

b) Gegenseitiges Ver¬ 
hältnis der Leistun¬ 
gen verschiedener 
Gebiete 

i 

2. In einzelnen 
Fächern: | 

a) Religion: 

Beobachtungenwährend j 
des Religionsunterrichts | 
des Geistlichen und des 
Lehrers, beim ßeicht- 
bezw. Konfirmations¬ 
unterricht, bei gelegent¬ 
lichen Aussprachen mit 
den Schülern. 

Beobachtungen in der 
Kirche, im Schulguttes- 
dienst, im Kindeigottes- 
dienst. 


B. Schulleistungen. 

aa) Lieblingsfach, Lieblingsinteressen, Sonderschwä¬ 
chen und Sondertalente; Hauptrichtung des Inter¬ 
esses (Vorliebe für mehr körperliche oder mehr 
geistige Beschäftigungen). 

bb) Ursache der Gesamtschulleistung: Fleiß oder Be¬ 
gabung. 

cc) VorherrschendeRichtungderSchtllerfragen: Fragen 
nach Grund und Ursache, Herausheben von Un¬ 
wahrscheinlichkeiten, von weiteren Möglichkeiten, 
rein praktische Fragen, Fragen nach Einzelheiten, 
kritisierende (spitzfindige) und Geschwätzigkeits¬ 
fragen. 

Grund besonders guter oder besonders schlechter 
Leistungen. — Überwiegen der rechnerisch natur¬ 
wissenschaftlichen, der sprachlich-geschichtlichen, 
der technisch-künstlerischen, der rein praktischen 
Leistungen und Interessen. 


aa) Auffallende Vorliebe oder Abneigung für religiös¬ 
sittliche Belehrung (Katechismus) oder für biblische 
Geschichte. 

bb) Aufnahme religiöser Eindrücke: mechanisch-ge¬ 
dächtnismäßiges Behalten, innerliches Miterleben, 
religiöse Schwärmerei, Skrupelhaftigkeit, Grübelei, 
Glaubenszweifel, philosophierendes Denken, Reli¬ 
gionsspötterei. 

cc) Ausdruck religiöser Erlebnisse: rein äußerlich reli¬ 
giöse Übung, Bigotterie, religiöse Denk- und 
Handlungsweise. 


b) Sachunterricht . . 


c) Sprachunterricht. 
u) Mündlicher Aus¬ 
druck 

Im gesamten mQnd- 
lichen Unterricht, be¬ 
sonders im Leseunter¬ 
richt, bei Vorbereitung 
von Schulfeiern, bei 
Schülervorträgen, bei 
dramatischerUestaltung 
von Lesestücken. 


Bevorzugtes Gebiet.— Selbständige Mitarbeit (Sammeln 
von Beobachtungen, Verwendung von Erfahrungen, 
Leichtigkeit im Erkennen des Gesetzmäßigen, selb¬ 
ständiges Experimentieren, Anfertigen von Modellen). 

Sprachtechnik: Lautreinheit, Mundart, Eintönigkeit 
oder Wandlungsfähigkeit. Lesefertigkeit und Vortrag 
(schnelles, flüchtiges, fehlerhaft es,stotterndes,stocken¬ 
des, langsames, sicheres Lesen). Betonung in ge¬ 
bundener und ungebundener Rede. Freie Rede: 
Leichtigkeit bezw. Schwerfälligkeit im Nacherzählen, 
im vorbereiteten oder freien schaffenden Ausdruck 
eigener Gedanken;Sprunghaftigkeit, Wiederholungen, 
Weitschweifigkeit, Verlieren des Gedankenganges.— 
Fähigkeit zu dramatischer Gestaltung a) eines er¬ 
zählten oder gelesenen Tatbestandes, b) einer ein¬ 
gelernten Rolle. 


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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung 


103 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


ß) Schriftlicher 
Ausdruck 

Im Aufsatz; in Berichten 
über den Sachunterricbt 
oder Über SHbsterlebtes, 
in Briefen an den Lehrer 
während der Ferienzeit. 


d) Rechnen u. Raum¬ 
lehre 

Im Rechnen und Raum- 
lehreunterricht, bei der 
Anwendung des Gelern¬ 
ten im Sachunterricbt 

e) Fertigkeiten. . . . 

Im Singen, bei Vor¬ 
bereitung von Schul¬ 
feiern, beim Zeichnen 
und Modellieien, bei 
Bildbetracbtnngen. 


Gedankengehalt (eigene Gedanken und selbständige 
Gliederung oder Wiedergabe fremden Gedankenguts 
oder Erweiterung desselben; Neigung zu religiösen 
oder psychologisch einföhlenden Zusätzen; zu Natur- 
8childerungen,romantisch-schwärmerischenErgQssen, 
Unwahrscheinlichkeiten usw.). Sprachliche Form 
(Wortschatz, Sprachgefühl,Stil: sachlich,breit,knapp, 
geschmackvoll, urwüchsig, ungepflegt). — Äußere 
Darstellung: Sauberkeit, Schrift, Rechtschreibung, 
Sprachlehre, Zeichensetzung. 

Zahlenvorstellung (Fähigkeit zur abstrakten Zahlvor¬ 
stellung), Zahlengedächtnis. Mechanische Rechen¬ 
fertigkeit; langsames oder rasches Verständnis neuer 
Aufgaben; Mehrleistung im Kopf-oder Ziffernrechnen, 
bei reinen Zahlen oder eii gekleideten Beispielen; 
Fähigkeit zur Anwendung außerhalb der Rechen¬ 
stunde. Räumliches Anschauungsvermögen. 

Auffallend gute oder schlechte Leistungen und ihre 
Ursache (Anlage, Vorbildung, Neigung, Nachhilfe), 
musikalische Begabung, absolutes Gehör, rhythmische 
Gymnastik; schauspielerische Begabung, Zeichen¬ 
fähigkeit, perspektivische Darstellung, Verständnis 
und Nachbildung von Farbe und Formen. 


IV. Verstandesentwicklung. 

A. Hilfstätigkeiten des Verstandes. 


4. Aufmerksamkeit 

Beim Stunden Wechsel, 
beim Betrachten von 
Bildern, Pflanzen und 
Modellen, beim Wechsel 
zwischen körperlicher 
und geistiger Arbeit, 
zwisch. Pause u. Arbeit. 
Aufmerksamkeit bei 
gleichzeitigem Mit¬ 
schreiben, Darstellen, 
Turnen, Zeichnen. — 
Gleichzeitig auf die 
Worte des Lehrers und 
aufVeranschaulichungB- 
mittel achten. 

2. Auffassungsfähig¬ 
keit (Apperzeption) 


ln und außer der Schule, 
in der Unterhaltung, im 
Sach- und Sptachunter- 
ricbt; bei 'iheatervor- 
stellungen, Ausflügen, 
Erlebnissen. 


Leichte oder schwere Erregbarkeit der Aufmerksam¬ 
keit im Unterricht und außerhalb der Schule. — 
Ausdauer, starke Ablenkbarkeit der Aufmerksam¬ 
keit. — Konzentration der Aufmerksamkeit. — Um¬ 
stellung der Aufmerksamkeit auf neue Stoffe, Gleich¬ 
mäßigkeit der Aufmerksamkeit, für welche Stoffe 
besonders ausgepiägle Aufmerksamkeit? Schwan¬ 
kungen der Aufmerksamkeit, Abhängigkeit dieser 
Schwankungen von der Selbsttätigkeit, Verteilungs¬ 
fähigkeit der Aufmeiksamkeit. — Äußere Haltung 
beim aufmerksamen Zuhören (auch äußerliche Auf¬ 
merksamkeitshaltung oder Fingerspiel bei innerer 
Aufmerksamkeit). 

Reichtum, Klarheit, Genauigkeit, Selbständigkeit und 
Vielseitigkeit der Beobachtungen und Anschauungen, 
Schnelligkeit der Auffassung für äußere Eindrücke, 
für innere Seelenvorgänge (Einfühlung). — Ergiebig¬ 
keit der Beobachtung (frei, mit Anleitung); subjek¬ 
tiver (einfühlender) oder objektiver (sachlicher) 
Beobachtungstypus. — Grundlage der Sachvorstel- 
lungen sind voiwiegend Gesichts-, Gehörs- oder 
Bewegungseindrütke (Verwechslung von ähnlich 
aussehenden Buchstaben, von ähnlich klingenden 


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104 


Albert Huth 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


3. Gedächtnis 
(Reproduktion) 


Wiedergabe von Lese¬ 
stücken. im Sacbunter- 
richt, Wiedergabe von 
Gelerntem. — Nach¬ 
ahmungsspiele. 


Richtige Wiedergabe v. 
einmal gebürten oder 
gelesenen Stoffen sofort 
oder nach einiger Zeit. 


4. Phantasie. 

Beim Spielen, Turnen, 
Bauen, Formen, Gestal¬ 
ten, Theaterspielen; 
eigenartige Zusammen- 
stellungvonOrnamenten 
im Zeichnen und in 
Handarbeiten. Aufsatz. 


Lauten). — Art des Lernens: Mit dem Auge ohne 
Mitsprechen, mit halblautem Sprechton, mit leisen 
Sprechbe Regungen, mit Hand- und Schreibbewe¬ 
gungen, mit lebhaftem Mienenspiel. Typ des Lernens: 
schnell, langsam. 

Art des Gedächtnisses: vorwiegend verstandesmäßig 
(dem Inhalt nach) oder mechanisch (dem Wortlaut 
nach) oder mit Gedächtnishilfen. — Umfang des 
Gedächtnisses: wird viel oder auch vielerlei auf 
einmal gemerkt. — Sondergedächtnisse für be- 
stimmle Gebiete (Zahlen, Namen, Personen, Farben, 
Formen, Orte, Begebenheiten, sprachliche Zusammen¬ 
hänge usw.) oder allseitiges Gedächtnis. — Treue 
(Genauigkeit, Dauerhaftigkeit) oder Flüchtigkeit des 
Gedächtnisses; Verwendbarkeit (Dienstfertigkeit) des 
Gedächtnisses; Versagen bei unvermittelt gestellten 
Gedächtnisfragen. — Fähigkeit zur genauen sprach¬ 
lichen Wiedergabe gemachter Wahrnehmungen, 
Unterstützung der Wiedergabe durch Gesten, Zeich¬ 
nungen, Modellieren, freies Gestalten usw. — Be¬ 
vorzugung von Gesichts- oder Gehörseindrücken 
oder von Tätigkeiten bei der Reproduktion (in Er¬ 
zählungen und freien Aufsätzen usw.). 

Phantasiebegabt oder rein sachlich-nüchtern; Erreg¬ 
barkeit der Phantasie, phantasievolle Zusätze bei 
der Wiedergabe von Gelesenem und Gehörtem, 
Ausmalen bis ins Kleinste, Selbstvortäuschung an¬ 
geblicher Erlebnisse. Äußerung der Phantasie; 
Phantasievorstellung von Vorbildern und Idealen. — 
Neigung zur Übertreibung; Beherrschung d. Phantasie. 


B. Haupttätigkeiten des Verstandes. 


1. Beschreiben, Be¬ 
nennen u. Charak¬ 
terisieren 

Im gesamten Unterricht, 
besonders im Sach- und 
Zeichenunterricht. 


2. Unterscheiden 
u. Vergleichen 

Belm Rechnen und in 
derRaumlebre, imHand- 
fertigkeitsunterriclit. 
Vergleichen im Lese-, 
Sach- und Religions¬ 
unterricht. 


Beschreibungen und Schilderungen von Gegenständen 
und Erlebnissen (sprachlich, zeichnerisch, plastisch, 
mimisch). — Benennen von seltener gesehenen 
Gegenständen, von farbigen und farblosen Bildern, 
von Personen, Farben, Tönen verschiedener In¬ 
strumente, Tasteindrücken, Gerüchen, Geschmäk- 
kern. — Charakterisieren dieser Dinge. — Versuche 
zu Definitionen von Gegenständen und Abstrakten, 
Finden des Gattungsbegriffes oder Definition durch 
Stoff, Farbe, Form und andere Eigenschaften. 

Vergleich von Gesichtswahrnehmungen: Augenmaß, 
Färb- und Formvergleich, Entfernungsschätzen. — 
Angabe des Unterschiedes zwischen konkreten 
Gegenständen und abstrakten Begriffen; Vergleich 
von mehr als zwei Dingen; Vergleich von Tönen, 
von Tasteindrücken, Gerüchen, Geschmäckern. — 
Auffinden von Gleichheiten, von feinen Unterschie¬ 
den; Heraussuchen des wesentlichen unter gegebenen 
Gliedern einer Reihe. 


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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung 


105 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


3. Kombinieren und 
Ergänzen 

Im Sprachunterricht. 


4. Kritikfähigkeit u. 
Verständnis 

Korrektur von Mitschü- 
lerarbeiten, im Aufsatz¬ 
unterricht 

5. Abstraktionsfähig' 
keit und Denken 

Rechnen und Sprach¬ 
lehreunterricht, Kate- 
chUmus unterricht, prak¬ 
tische Arbeiten. 


6. Schlußfolgern und 
Urteilen 

Rechnen, Sachonter- 
ricbt, praktische Arbei¬ 
ten. 


ZusammenfQgen der Teile zu einem Ganzen; Er¬ 
gänzen unvollständiger Sätze, Ergänzen von Figuren, 
von Rechenaufgaben; Ergänzen von Stichwörtern 
zu einer sinnvollen Erzählung; Kombination einer 
Geldsumme aus bestimmten Geldsorten, Finden 
von Reimen, Finden von Beziehungen zwischen 
gegebenen Gegenständen oder Begriffen. 

Finden von Fehlern, Kritik von Sprichwörtern, Nach¬ 
bilden einer Geschichte mit gleichem Sinn, Schlag¬ 
fertigkeit und Witz, Selbstkritik auf den verschie¬ 
densten Gebieten. 

Verständnis fOr Abstrakta, selbständiger Gebrauch von 
Abstrakten; selbständige Anordnung von Gegen¬ 
ständen und Erscheinungen unter Abstrakta, Fähig¬ 
keit zu abstraktem Denken; Finden des Gemein¬ 
samen zwischen gegebenen Gliedern einer Denkreihe, 
Erfassen von Zusammenhängen; Fähigkeit zur Be¬ 
griffsbildung; zeitlicher Ablauf des Denkens; rich¬ 
tiges Neben-, Unter- und Oberordnen. 

Rein sachliches Urteil, Urteil auf Grund seelischer 
Einfühlung; Finden des Wahrscheinlichsten bei ge¬ 
gebenen Umständen, Finden des Zweckmäßigsten 
bei gegebenen Verhältnissen. Selbständigkeit des 
Urteils, Gründlichkeit im Urteilen. Geistesgegenwart. 


C. Äußerung des Verstandes. 


1. Organisationsform 
des geistigen Be¬ 
sitzes 

Bei gelegeatlicben Wie¬ 
derholungen. bei Ab- 
Schweifungen auf ent¬ 
legene Stoffgebiete. 

2. Anpassung»- und 
Einfühlungsfähig- 
keit („Intelligenz“ 
im engeren Sinne) 


Festigkeit und Reichtum der Assoziationen, mehr ur¬ 
sächliches (kausales) oder mehr geschichtliches 
Denken; Ordnung im Vorstellungsleben, feste Be¬ 
ziehungen zwischen dem Gelernten; Fähigkeit, auch 
außerhalb der Lehrstunde über das Wissen zu ver¬ 
fügen. 

Einfinden in neue Situationen und neue Einrichtungen, 
in neue Lehrstoffe und Aufgaben, neue Lehrweisen 
und neue Lehrer. (Beruht eine etwaige Langsamkeit 
auf Vorsicht oder Schwerfälligkeit? 


V. Gemüts- und Willensentwicklnng. 

A. Grundlagen der Gemüts- und Willensentwicklung. 
(Verhältnis zur Verstandesentwicklung.) 


Bel gemüt »e rechtstem- 
den Unterrichtsstoffen, 
bei besonderen Ereig¬ 
nissen im Familien¬ 
leben, beim Spiel, nach 
einem Tadel oder Lob. 


Starkes oder gering entwickeltes Gefühlsleben. — Vor¬ 
herrschender Gefühlston (Lust oder Unlust), Ge¬ 
fühlslage. — Die Gefühle sind nur oberflächliche 
Anwandlungen oder sie wirken lang im Bewußt¬ 
sein nach. — Leichte oder schwere Erregbarkeit der 
Gefühle, Steigerung zu Affekten. — Beherrschung 
der Gefühle. Temperament. — Erlebnisse, die das 
Gemütsleben entscheidend beeinflußt oder dem 
Willen eine bestimmte Richtung gegeben haben. 


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106 


Albert Huth 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


B. Inhalte der Gemüts- und Willensentwicklung. 


1. Logische Werte u. 
Erkenntnisgefühle 

Beim entwickelnden Un¬ 
terricht, im Rechnen, 
in der Sprachlehre. 


Freude am Suchen neuer Erkenntnisse, Freude an 
eigenem Forschen, Freude an Zahlenzusammen¬ 
hängen, Freude am Finden sprachlicher Ableitungen 
und sprachlicher Zusammenhänge. 


2. Ethische Werte u. 
sittliche Gefühle 

BeimSpiel, Beobachtun¬ 
gen über das außer¬ 
schulische Verhalten. 

Terrarien- u. Aquarien¬ 
pflege. 

3. Ästhetische Werte 
u. ästhetische Ge¬ 
fühle 

Zeichen-. Gesangsunter¬ 
richt, Kunsterziehung, 
Arbeitsunterricht auf 
der Oberstufe. 


Bescheidenheit, Verträglichkeit (Flegelhaftigkeit und 
Roheit); Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit; Haß, Rach¬ 
sucht, Grausamkeit usw. Verhalten des Schülers 
gegen Eltern und Geschwister; Stellungnahme zu 
geschichtlichen Personen, berühmten Zeitgenossen, 
Personen der Dichtkunst. — Verhalten zu Tieren 
und Pflanzen, Tierquälerei, Tier- u. Pflanzenpflege, 
Schülerfreundschaften und -feindschaften. 

Gemütsbeeinflussung durch Bilder, Musik, Dichtungen; 
Empfänglichkeit für die Schönheiten der Natur; 
guter Geschmack in der Beurteilung von Bildern 
und Literatur; Veiurteilung von Kitsch; Gefühl für 
Proportionen, Gestalten, Rhythmus, Farbkombina- 
tionen usw.; Empfinden für die Zweckmäßigkeit 
der Form in kunstgewerblichen Gegenständen. 


4. Religiöse Werte u. 
religiöse Gefühle 
Religionsunterricht, 
Kindergottesdienst usw. 


Gleichgültigkeit oder Neigung für religiöses Verhalten 
zu Kultushandlungen; Gefühl der Abhängigkeit (der 
Demut). — Gefühl der Gottähnlichkeit (Gottsuchen). 


5. Soziale Werte und 
soziale Gefühle 

Einordnung in die Klas- 
sengemeinschaft. Äuße¬ 
rungen bei staatsbürger¬ 
lichen Belehrungen; 
Hilfeleistung bei sozia¬ 
len Maßnahmen, Ver¬ 
halten bei Schulreisen 
usw. 


6. Personalwerte und 
Selbstgefühle: 
a) Kraftgefühle . . . 


Teilnahme (Mitleid, Mitfreude); Herrschsucht, Rück¬ 
sichtslosigkeit, Unbotmäßigkeit,Unterwürfigkeit; Teil¬ 
nahmslosigkeit, Neid, Mißgunst, Schadenfreude, Ver¬ 
achtung, Feindseligkeit; Verhalten gegen Lehrerund 
Geistliche, gegen jüngere und ältere Personen, gegen 
Kranke (Hilfsbereitschaft, Gewalttätigkeit); Verhalten 
gegen Erwachsene (Bekannte und Fremde), Anstand, 
Vergeltungsgefühle. — Verhalten zu Familie, Klasse, 
Erziehungsanstalten: Streben nach Anschluß oder 
Absonderung, Einordnung, Übernahme von Pflichten, 
Hintansetzung eigener Wünsche, Verhalten zu Ge¬ 
meinde, Staat, Glaubensgenossenschaft: Anteilnahme 
am Geschick des Volkes. 


Stärke, Überlegenheit, Sicherheit, Konkurrenzfähigkeit 
(und das Gegenteil), richtiges Verhältnis zwischen 
Unternehmungsfreudigkeit und Arbeitslust; Mut, 
Kühnheit, Waghalsigkeit (Furchlsamkeit, Verzagt¬ 
heit); Verhältnis zwischen Kraftgefühl und Lei¬ 
stungen; Versuche, die Überlegenheit ?u mißbrauchen 
oder die Schwäche durch Erweckung von Mitleid 
auszunützen. 


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Anleitung zur Schfiler-t’ersonalbeschreibung 


107 


Hinweise 

für die Beobachtung 

Beispiele 

b) Ehrgefühle .... 

Ehrsucht, Ehrgeiz, Anerkennungsbedürfnis, sich zu¬ 
rückgesetzt fühlen, Gleichgültigkeit, Ehrlosigkeit, 
Ehrgefühl und Pflichtbewußtsein, Abenteuersucht, 
übertriebener Sport; treibt das Ehrgefühl zu be¬ 
sonderen Leistungen über das vorgeschriebene Maß 
hinaus. 

c) Eigenwertgefühle. 

1 

Selbstüberhebung (Hochmut, Stolz, Dünkel); normales 
Selbstbewußtsein; Unterschätzung; ist das Urteil des 
Kindes über sich selbst selbständig gebildet oder 
durch andere beeinflußt: Selbstbeurteilung auf Grund 
von Äußerlichkeiten: Stolz auf Rang, Abstammung, 
Vermögen der Eltern, Eigenbesitz — Verschämtheit 
wegen Armut, wegen geringen Standes der Eltern 
usw. Eitelkeit auf Körpervorzüge, Kleider, Gesell¬ 
schaftsstufe. Selbstbeurteilung auf Grund von körper¬ 
lichen, geistigen und sittlichen Leistungen: berech¬ 
tigt oder unberechtigt; Verhalten bei Erfolgen und 
Mißerfolgen, Gleichgültigkeit oder Unzufriedenheit 
gegen sich selbst; übertriebene Selbstkritik. 


C. Erscheinungsform und Ablaufsweise der Gemüts- und Willens 

entwicklung. , 


1. Arbeit 


2. Ermüdung. 

Bei Hitze, Kopfrechnen, 
längerem Schreiben, 
Turnen, gegen linde der 
Stunde, des Tages, der 
Woche, des Vierteljahre. 

3. Arbeitsweise . . . 


4. Verfolgung von 
Zielen 


5. Ansätze zur Cha¬ 
rakterentwicklung 


Arbeit zu verschiedenen Tages- u. Jahreszeiten, nach 
Turnstunden, Ferien, Krankheiten, bei großer Hitze 
od. Kälte. — Besondere Ursachen guter od. schlechter 
Leistungen. Obungsfähigkeit. Arbeitsleistung bei 
vorgegebener oder beschränkter Zeit (Teilauftiäge, 
Beobachtungsaufgaben, langfristige Aufträge). 

Rasche Ermüdung oder langer Widerstand gegen die 
Ermüdung; besondere Anlässe starker Ermüdung; 
Erholungsfähigkeit (körperlich und geistig): Übungs- 
fähigkeit(Gewöhnung,Beispiel); besonders ermüdende 
Fächer; Äußerung der Ermüdung: Verschlechterung 
oder Verlangsamung oder beides. 

Tempo der Arbeit: flink, langsam. — Art der Arbeit: 
praktisches Zugreifen, logisch richtiges Vorgehen, 
Durchführung in Teilen, Drauflosarbeiten (Ökonomie 
des Handelns). — Gleichmäßigkeit oder Schwankung 
in der Arbeit. — Art der Durchführung: sorgfältig, 
schlampig, nur durch ständige Verbesserungen brauch¬ 
bar oder auf den ersten Entwurf gut. 

Tatendrang, nimmermüde, Energie. Ausdauer, Ziel- 
strt bigkeit (Kons< quenz) und Zielbewußtheit. — 
Überwindung von Hindernissen. (Anstrengungen, 
Hunger und Durst, Langeweile, Widersetzlichkeit 
des Materials oder der Personen). 

Selbstbeherrschung, Zurückhaltung, Draufgängertum.— 
Ruhe, Kaltblütigkeit, Entschlußfähigkeit; Entschieden¬ 
heit, Nachgiebigkeit, Wankelmut; Willensstärke, Be¬ 
harrlichkeit. — Sorglose Gleichgültigkeit, nervöse 
Gereiztheit, Ungeduld, Trotz. 


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108 


Albert Huth 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


D. Auswirkungen der Gemüts- und Willensdntwicklung. 


1. Sondergebiete der 
Betätigung 

2. Selbständigkeit . . 


3. Wirkung auf an¬ 
dere 

Beim Spiel, in der Selbst¬ 
regierung, in der Vor¬ 
bereitung von Schul¬ 
feiern; auf Schulreisen. 


Überwiegend körperliche oder geistige Betätigung; 
landwirtschaftliche u. gewerbliche Interessenrichtung. 

Selbständiges Fragestellen; Widerspruchsgeist; Ver¬ 
antwortungsfreude; Selbständigkeit in der Arbeit 
(Abschreiben). 

Führereigenschaften, suggestive Wirkung auf andere 
und suggestive Beeinflussung durch andere, organi¬ 
satorische Begabung, Sinn für Recht und Ordnung, 
sprachliche Überzeugungsfähigkeit (Überredungs¬ 
kunst, Begeisterung, Beweisführung«; Wirken durch 
persönliches Beispiel: der Schüler im Urteil seiner 
Kameraden. — Versuche, andere zur eigenen An¬ 
sicht zu überzeugen, Neigung zum Organisieren. 


VI. Sittliche Entwicklung. 
A. Mittelbare Tugenden. 


1. Ordnung (räumlich 
und zeitlich) 


2. Reinlichkeit. . . . 


3. Anstand 


Pünktlichkeit, Verhalten vor dem Unterricht, in den 
Pausen und nach dem Unterricht; Ordnung in den 
Schulsachen, Verhalten auf Unterrichtsgängen; Ver¬ 
waltung von Schülerämtern. 

Körper, Anzug, Schulsachen; im Schulhaus (Schul¬ 
zimmer, Treppen, Gänge, Hausflur, Aborte, Spiel¬ 
platz), Eitelkeit. 

Haltung, Ausdrucksweise, Umgangsformen (Nägelkauen, 
Eßgier, Anrempeln; Freundlichkeit, Verhalten beim 
Grüßen und Gehen; zuvorkommend, dienstfertig, 
gefällig). 


B. Grundlagen der sittlichen Entwicklung. 


1. Verhältnis zur 
Verstandesent- 
wicklung. 

2. Vorwiegende Be¬ 
weggründe zum 
Handeln: 

a) Triebe und Ge¬ 
wohnheiten 

b) Äußere Anlässe . 


c) Eigene Entschlüsse 
3. Entwicklung des 
Pflichtgefühls 


Übereinstimmung von Einsicht und Handeln, überlegte 
Entscheidungen oder triebhafte Entschlüsse, kindi¬ 
sches Wesen oder ernste Reife. 


Neigungen, Affekte, Leidenschaften; gedankenloses 
Nachmachen, mechanische Angewohnheiten. 

Muß zu allem getrieben werden; Erziehungsma߬ 
nahmen (Belehrung, Überwachung, Versprechungen 
und Drohungen, Belohnungen und Strafen); ver¬ 
steckter Zwang durch bestehende Vorschriften und 
bestehende Verhältnisse; folgt allen zufälligen An¬ 
regungen. 

(vergl. die Zusammenstellung unter C). 

Ausgeprägtes Pflichtgefühl, Rechts- und Verant¬ 
wortungsbewußtsein. 


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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung 


109 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


C. Inhalte des sittlichen Bewußtseins (Pflichtenkreise, die das Kind 
kennt, und Beweggründe seines Handelns). 


1. Pflichten gegen 
Gott und religiöse 
Gern einschaften 


2. Pflichten gegen 
Mitmenschen 
a) Gegen Einzelne 
aa) Gleichgeordnete 


ßß) Übergeordnete 


b) Gegen die Gesamt¬ 
heit 


3. Pflichten gegen 
sich selbst 


Kenntnis der Gebote Gottes und der Kirche; Bewußt¬ 
sein der Abhängigkeit von Gott, Erkenntnis der 
eigenen Nichtigkeit (Demut, Ehrfurcht, Bewunderung); 
Vertrauen auf Gott (Liebe, Dankbarkeit); Hoffnung 
auf Seligkeit, Furcht vor Fegefeuer und Hölle; 
religiöse Handlungen: Beten, Fluchen, Sonntag hei¬ 
ligen; Bewußtsein eines religiösen Lebenszweckes; 
religiöse Begründung aller Pflichten; religiöse Gleich¬ 
gültigkeit, Heuchelei, äußere Werke, Kirchenbesuch, 
Stellung zur Beichte bezw. Konfirmation. 


Kameraden (ehrlich, verträglich, wohlwollend, rück¬ 
sichtsvoll, feinfühlig); Einfügung in die Gesamtheit; 
Wertschätzung in der Meinung anderer; Ehrgeiz, 
Ruhmsucht, Selbstgefälligkeit, Hochmut; Geduld, 
streitsüchtig, jähzornig (Tätlichkeiten, Messerstechen 
usw.), Herrschsucht, Neid, Eigensinn, Geiz, Mutwille, 
Prahlerei, Angeberei, Schadenfreude; Nachäffen. — 
Wohltätigkeit, Hilfsbereitschaft, Opferfreudigkeit, 
Gemeinsinn. 

Eltern, Lehrer, Geistliche, ältere Personen: Hilfsbereit¬ 
schaft, Ehrfurcht vor dem Alter, zuvorkommend, 
Liebe, Anhänglichkeit. — Gehorsam (aus Furcht 
vor Strafe, aus Achtung und Ehrfurcht, aus Liebe, 
aus Einsicht in die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit 
des Befohlenen). — Dankbarkeit, Sparsamkeit, Rück¬ 
sichtnahme (Schonung von Kleidernund Schulsachen); 
Bescheidenheit. — Wahrhaftigkeit: Lüge aus 
Irrtum, Falschheit, Angst, Prahlerei, Verlegenheit, 
Schmeichelei, Selbstsucht, Trotz, Neid, Rachsucht, 
Scham, Hingebung, auf Befehl; Kniffe, Ränke, 
Verstellung und Heuchelei; Offenheit. 

Beruf, Partei, Staat, Heimat, Vaterland, Menschheit. — 
Duldung und Achtung gegenüber Andersdenkenden; 
Mitleid und Milfreude; Sinn für Recht und Billigkeit; 
Pflichten gegen den „Nächsten“. — Stehlen aus 
Not, aus Habsucht, auf Befehl; Betrug. 

Fleiß: im Verhältnis zur Begabung, abhängig von 
äußeren Antrieben; Streberei; Unterdrückung eigener 
Wünsche. — Selbstmordgedanken und -versuche. — 
Genußsucht: Eßgier, Trinken, Glücksspiel, Schulden¬ 
machen. Leichtsinn. — Selbstachtung: Rücksicht 
auf Gewissen, Ehre, Ruf, Ansehen; Furcht vor der 
schlechten Handlung, ihren Folgen, Hoffnung auf 
Belohnungen, Sorge für die Zukunft. — Das Ge¬ 
schlechtliche: Schamhaftigkeit, unkeusche Reden 


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110 


Albert Hufh, Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung 


Hinweise 

für die Beobachtung 


Beispiele 


4. Pflichten gegen¬ 
über den Dingen 
der Natur 


und unsittliche Zeichnungen; Verhalten beim Baden 
und in Aborten, Verhalten gegenüber dem Nackten; 
Aufklärungssucht; Aufdringlichkeiten gegenüber dem 
andern Geschlecht, Ritterlichkeit der Knaben gegen¬ 
über den Mädchen; geschlechtliche Handlungen: 
Selbstbefleckung, gegenseitige Masturbation, Ge¬ 
schlechtsverkehr, Gleichgesclilechligkeit. 

Tiere: Pflege, Quälerei. — Pflanzen: Pflege, mut¬ 
willige Beschädigungen. — Freude an der Natur, 
Wandertrieb. 


D. Stellungnahme des Kindes zu Erziehungsmaßnahmen. 


1. Bei Gewöhnung 
und Aufsicht 

2. Bei Beispiel und 
gutem Rat 


S. Bei Bitten, Auf¬ 
gaben, Aufträgen, 
Befehlen 

4. Bei Belohnungen, 
Drohungen, Strafen 


Einfügen, Widerstreben, absichtliche Verstöße; Lenk¬ 
samkeit, scheinbarer Gehorsam, Haß gegen jeden 
Zwang, Stellung zur Selbstregierung. 

Einfluß des guten oder bösen Beispiels; läßt sich mit¬ 
reißen im guten oder schlechten Sinn; macht sich 
über das gegebene Beispiel lustig; fühlt sich über 
gute Ratschläge erhaben; ist dankbar und folgsam 
für jeden Rat. 

Zuverlässigkeit der Ausführung, offener Ungehorsam, 
bedingungslose Ausführung, Kritik am Befehl, Eigen¬ 
sinn und Trotz, Vergeßlichkeit. 

Belohnung wird Ansporn zu neuer Leistung, zur Selbst¬ 
zufriedenheit; Nachlassen der Leistung, Ablehnung 
der Belohnung; Erfolg von Drohungen; Strafe er¬ 
scheint als notwendige Folge der Handlung, bewirkt 
Reue und Scham; Kritik an der Strafe, Widerstand 
gegen die Strafe, betrachtet den Strafenden als 
Feind; Wirkung der Strafe: bessernd, witzigend, 
wirkungslos, macht trotzig oder verstockt; Rach¬ 
sucht: besondere Art der Strafe. 


Zur Frage der psychologischen Schülerbeobachtung 
im Dienste der Berufsberatung. 

Von Otto Bobertag. 

Die Mitwirkung der Schule an der Berufsberatung unserer Jugend, die seit 
kurzem einen Gegenstand lebhafter Erörterungen in pädagogischen Kreisen 
bildet, umfaßt neben berufsethischer Aufklärung und berufskundlicher Unter¬ 
weisung als dritte Teilaufgabe die Beobachtung und Beurteilung der Schüler 
inbezug auf ihre Anlagen und Neigungen, soweit diese für die Berufswahl 
inbetracht kommen. Darüber, daß eine systematische, praktisch verwertbare 
Schülerbeobachtung nur an der Hand eines geeigneten Beobachtungsbogens 
durchgefüührt werden kann, ist man sich jetzt wohl im allgemeinen einig. 


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O. Bobertag, Zar Frage der psychol. Schülerbeobachtung im Dienste der Berufsberatung \\\ 


und die Frage, ob es erwünscht oder sogar notwendig sei, in den Schulen 
Personalbogen im Dienste der Berufsberatung einzuführen, wird daher gegen¬ 
wärtig von vielen Pädagogen bejaht. Es ist auch bereits eine ganze Reihe 
solcher Bogen herausgegeben, gelegentlich auch über gute Erfahrungen, die 
mit ihnen gemacht worden seien, berichtet worden. Obgleich es daher nahe 
liegt, die Einführung von Beobachtungsbogen ohne weiteres zu empfehlen, 
sollten die Schwierigkeiten, die hier zu überwinden sind, genau ins Auge 
gefaßt werden. Keinerlei Bedenken lassen sich natürlich dagegen anführen, 
daß die Bogen Angaben über die Schulleistungen, sowie über die körper¬ 
lichen Anlagen und den Gesundheitszustand der Kinder enthalten sollen. 
Anders verhält es sich mit den psychologischen Beobachtungen, deren 
Ergebnisse gleichfalls in den Bogen verzeichnet werden sollen. 

Die psychologischen Beobachtungsbogen haben nur insoweit einen Sinn 
und eine Berechtigung, als man die Gewähr dafür hat, daß die Lehrer sie 
gewissenhaft und richtig ausfüllen. Nun wird es zweifellos immereinen 
gewissen Prozentsatz von Lehrern geben, die dies tun werden, auch ohne 
besonders dazu angeleitet worden zu sein. Es muß jedoch als ausgeschlossen 
gelten, daß dieser Prozentsatz die Mehrzahl ausmacht. Man wüide wohl 
zwar durch Vorschrift erreichen können, daß von den meisten oder vielleicht 
sogar allen Lehrern irgendeine Ausfüllung der Bogen vorgenommen wird, 
aber deren Ergebnis würde wertlos sein. Die große Mehrzahl der Lehrer 
ist ohne vorherige eingehende Beschäftigung mit den Fragestellungen der 
psychologischen Schülerbeobachtung, ohne Anleitung dazu und ohne Vor¬ 
übung darin gar nicht imstande, solche Schülerbeobachtung in systematischer 
Weise praktisch'zu betreiben. Die in den Bogen vorkommenden psychologi¬ 
schen Begriffe sind ihnen z. T. unklar oder sie verstehen sie individuell 
verschieden; ihre Ausfüllungen sind z. T. mißverständlich oder widersprechen 
sich; über den psychologischen Gehalt der Beobachtungsgelegenheiten herrscht 
gleichfalls keine Klarheit und E nigkeit, und schließlich ist die Kenntnis der 
Beziehungen zwischen beobachteten Eigenschaften und Berufseignung vielfach 
mangelhaft. Dazu kommt, daß die Aufmerksamkeit des Lehrers während 
des Unterrichts doch in erster Linie dem Lehrstoff und Lehrverfahren, außer¬ 
dem noch der Disziplin, daher nur nebenbei der psychologischen Beobachtung 
seiner Schüler zugewandt ist; wenn diese daher überhaupt erfolgen soll, so 
muß der Lehrer ihre Methodik und Technik vollständig beherrschen, um sie 
fruchtbar gestalten zu können. Bei der großen Verantwortung, die die Schule 
hier auf sich nimmt — auf Grund der Ausfüllung der Bogen soll ja doch 
über das Berufsschicksal des Schülers mit entschieden werden —, sollten 
die maßgebenden Stellen, die Schulbehörden, keinem Lehrer einen Beob¬ 
achtungsbogen zur Ausfüllung in die Hand geben, ohne die Gewähr dafür 
zu haben, daß er sachgemäß ausgefüllt werden kann. 

Zu dem ganzen Problem erhebt sich übrigens noch eine Vorfrage, die hier 
nur angedeutet werden soll. Es ist nämlich zu berücksichtigen, daß eine 
sichere Entscheidung über den objektiven Wert selbst der gewissenhaftesten 
Bogenausfüllung erst zu erlangen ist auf Grund der Feststellung: 1. daß die 
Beobachtungen bzw. Urteile verschiedener Lehrer über denselben Schüler 
im wesentlichen übereinstimmen; 2. daß sie auch mit den Erfahrungen 
genügend übereinstimmen, die mit dem betreffenden Schüler nachher, 
während der Lehrzeit, gemacht werden. Eine allen wissenschaftlichen 


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112 


Otto Bobertag 


Anforderungen entsprechende Fundierung der Beteiligung der Schule an der 
Berufsberatung (in Gestalt einer Ausfüllung von Beobachtungsbogen) würde 
also eigentlich eine große statistische Vorarbeit erfordern, deren Ergebnisse 
über die beiden genannten Punkte Aufschluß zu geben hätten. 

Der beste Weg nun, um die Lehrer in ihrer Allgemeinheit zur sachgemäßen 
Ausfüllung psychologischer Beobachtung6bogen zu befähigen, ist zweifellos 
der, daß sie schon während ihrer Berufsausbildung gründlichen Psychologie¬ 
unterricht erhalten und zum Ausfüllen solcher Bogen unter Anleitung und 
Korrektur angehalten werden (Übungsschulen). Für die gegenwärtig schon 
im Amt befindlichen Lehrer ist dieser Weg nicht gangbar. Als einzig mög¬ 
licher Ersatz erscheint die Veranstaltung von Kursen oder Arbeitsgemein¬ 
schaften, in denen, unter Leitung eines psychologisch genügend vorgebildeten 
Schulmannes, die Lehrer in die Probleme und in die Technik der Schüler¬ 
beobachtung eingeführt würden. Auch wäre zu erstreben, daß die Lehrer¬ 
schaft mit den Berufsberatungsstellen in möglichst enge Verbindung trete, 
um deren besondere Wünsche hinsichtlich der von der Schule zu leistenden 
Vorarbeit zur Berufsberatung entgegenzunehmen u. dgl. m. 

Wenn die Lehrer in ihrer Allgemeinheit in den Stand gesetzt sein werden, 
die psychologischen Beobachtungsbogen auszufüllen, dann werden sie dies 
voraussichtlich auch allgemein tun wollen. Nach allen bisher vorliegenden 
Erfahrungen ist das nämlich bei den meisten nicht der Fall. Der Haupt¬ 
grund hierfür ist natürlich bis jetzt die gefürchtete Mehrbelastung, denn 
freilich erfordert diese psychologische Nebenarbeit eine nicht unbeträchtliche 
Zeit, namentlich dann, wenn der Lehrer — was doch gewünscht wird — 
seine Schüler auch außerhalb der Schule beobachten, vielleicht sogar das 
Urteil des Elternhauses anhören und schließlich auch noch mit dem Berufs¬ 


amt in Verbindung stehen soll. Es wird kaum möglich sein, dem Lehrer 
diese ganze Arbeit neben seinem regelrechten Schuldienst zuzumuten. 

Ein Ausweg aus dieser Schwierigkeit dürfte sich aber finden lassen, 
wenigstens dann, wenn man die Führung von Beobachtungsbogen grund¬ 
sätzlich nur im letzten Schuljahr fordert. Es wird zwar von verschiedenen 
Seiten, gerade auch von pädagogischen Praktikern, verlangt, daß jeden Schüler 
ein Beobachtungsbogen während seiner ganzen Schulzeit begleite. Die Ver¬ 
wirklichung dieses Gedankens dürfte jedoch gänzlich unmöglich und auch 
kaum notwendig sein. Will man psychologische Beobachtungsbogen, unter 
Absehung von der Berufsberatung, allgemein, d. h. in allen Klassen ein¬ 
führen, so würde sich dies vielleicht (entsprechende Lehrerbildung voraus¬ 
gesetzt!) durchsetzen lassen, wenn man sich auf die irgendwie auffallenden 
Kinder beschränkte: die intellektuell stark untemormalen, die hochbefähigten 
und die psychopathischen, schwer erziehbaren, sittlich gefährdeten Kinder, — 
zusammen schätzungsweise 10—15°/o der Gesamtheit. Was die Beobachtung 
im Dienste der Berufsberatung anlangt, so würde diese jedoch auf das letzte 
Schuljahr beschränkt werden können und müssen. Die Gründe, die hierfür 
sprechen, sind des Näheren folgende: 


1. Die für die Berufswahl wichtigen Eigenschaften treten auf früheren 
Altersstufen meist noch nicht deutlich genug hervor; es kommt hinzu, daß 
die Individualität vieler Kinder sich in den Entwicklungsjahren nicht unwesent¬ 
lich verändert und neue Züge offenbart, so daß frühere Beobachtungen im 
allgemeinen überflüssig, z. T. sogar irreführend sein würden. 


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UNIVERSITY OF MIC 






Zur Frage der psychologischen Schfllerbeobacbtung im Dienste der Berufsberatung H3 


2. Die Eigenschaften, die für die Berufswahl maßgebend sind, sind andrer- 
aeits bei manchen Kindern (ausgesprochene Talente!) so leicht feststellbar, 
daß sie keiner jahrelangen Beobachtung bedflrfen, die in diesem Falle also 
nur eine unnütze Arbeit wäre. 

3. Wenn die Beobachtungsbogen nacheinander in die Hfinde verschiedener 
Lehrer gelangen, so entsteht die Gefahr, daß der eine sich auf den andern 
verlSßt und selbständige Beobachtungen nicht anstellt, wodurch Voreinge¬ 
nommenheiten und Irrtflmer festwurzeln, die dem Schüler nur nachteilig 
werden können, — oder umgekehrt die Gefahr, daß infolge gegenseitigen 
Mißtrauens der Lehrer die Beobachtungsergebnisse z. T. illusorisch gemacht 
werden. 

4. Ein gewisser, nicht angebbarer Prozentsatz der Kinder nimmt die Ein¬ 
richtung der Berufsberatung überhaupt nicht in Anspruch; die Ergebnisse da 
psychologischen Beobachtung dieser Kinder werden also nie benutzt Es. 
empfiehlt sich nicht, nutzlose Beobachtungen länger auszudehnen, als unver¬ 
meidbar ist 

5. Es Bollte zwar, wie angedeutet, als erstrebenswert gelten, daß alle Lehrer 
befähigt werden, psychologische Schülerbeobachtung zu treiben; man wird 
aber auch bei anderer als der bisherigen Lehrerbildung damit rechnen müssen, 
daß immer nur ein Bruchteil der Lehrer ein solches Maß von Interesse und 
Fähigkeit für psychologische Schülerbeobachtung besitzt, daß diese ihnen im 
Sinne einer Vorarbeit für die Berufsberatung zugewiesen werden darf. Nur 
solchen Lehrern sollte die hier zu leistende Arbeit anvertraut werden, die 
sich aus eigenem Antriebe dazu bereit erklären und auch bereits ihre Be¬ 
fähigung dazu erwiesen haben. Man wird nun wohl darauf rechnen können, 
daß sich an jeder Schule — es brauchen zunächst nur städtische Verhältnisse 
berücksichtigt zu werden — mindestens eine Lehrkraft finden wird, die 
geeignet wäre, die Ausfüllung der Beobachtungsbogen im letzten Schuljahr 
zu übernehmen; es würde dann, allerdings wohl notwendig sein, daß diese 
Lehrkraft dauernd den Hauptunterricht in der Abschlußklasse übernähme, 
wie das jetzt in der Regel die -Schulleiter tun. Die nicht aus der obersten 
Klasse abgehenden Schüler würden bei diesem Modus natürlich nicht ver¬ 
nachlässigt zu werden brauchen. 

Bei einer solchen Organisation der Mitarbeit der Schule an der Berufsbe¬ 
ratung würde sich nun auch die früher berührte Schwierigkeit beheben lassen, 
die in der Mehrbelastung der Lehrer durch den Zwang zur Ausfüllung der 
Bogen liegt. Wenn zunächst nur eine Lehrkraft an der Schule mit der sy¬ 
stematischen psychologischen Schülerbeobachtung zu tun hätte — in der sie 
sich bald große Übung erwerben dürfte —, so würde es wohl möglich sein, 
sie im übrigen Schuldienste etwas zu entlasten, ihr etwa 4—6 Stunden wöchent¬ 
lich weniger zu übertragen. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß die betreffende 
Lehrkraft in dauernder Verbindung mit dem zuständigen Berufsamt stehen 
müßte; die Notwendigkeit dieser Verbindung ist zugleich ein weiterer Grund 
dafür, daß die Zahl der Persönlichkeiten, die an der Schule für die Berufs¬ 
beratung wirken, möglichst eingeschränkt werde. 

Wenn die Mitarbeit der Schule an der Berufsberatung in der durch die 
Schülerbeobachtung angezeigten Richtung gesichert werden soll, werden üb¬ 
rigens die Berufsämter ihrerseits darauf bedacht sein müssen, daß sie dem Lehrer 
nicht durch Indiskretion gegenüber den Eltern der Schüler die Berichterstat- 

Zeitschrift t. pfidagog. Psychologie. 8 


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114 0. Bobertag, Zur Frage der psychol. Schalerbeobachtung im Dienste der Berufsberatung 


tung an das Berufsamt verleiden, wie dies gelegentlich vorgekommen ist. 
Eine solche Indiskretion hat die Tendenz, das vielfach ziemlich gespannte Ver- 
hältnis zwischen Elternschaft und Lehrerschaft, das durch die Einrichtung 
der politischen Elternbeiräte geschaffen ist, noch mehr, auch zum Nachteil 
der Schüler, zu gefährden; und diese ist umso bedauerlicher, als die Eltern 
doch gerade in Gemeinschaft mit den Lehrern das Berufsamt unterstützen 
und ihm Vorarbeiten sollten. 

Zwei Bemerkungen erscheinen zum Schluß nicht überflüssig. 

1. Die Möglichkeit einer psychologischen Schülerbeobachtung beruht au f 
dem Vorhandensein von Beobachtungsgelegenheiten, und diese sind um so 
zahlreicher und günstiger, je mehr der Unterrichtsbetrieb darauf zugeschnitten 
ist, die Fähigkeiten, Interessen und Neigungen der Kinder in freier Selbst¬ 
tätigkeit hervortreten zu lassen. Und dies wiederum wird um so mehr der 
Fall sein, je mehr der Unterricht im Sinne der Arbeitsschule erteilt wird. Da¬ 
bei ist auf die handwerkliche Fähigkeit der Schüler besonderes Gewicht zu 
ligen, da für die Berufsberatung der Volksschuljugend die Eignung und die 
Neigung zu handwerklichen Berufen die weitaus größte Bedeutung hat. Aus 
den Beobachtungen, die der Lehrer im Werkunterricht an seinen Schülern 
anstellen kann, muß sich deren Berufseignung im weiten Umfange ganz von 
selbst und ohne besonders darauf gerichtete Bemühungen ergeben. 

2. Wenn es zur amtlichen Einführung von Beobachtungsbogen in der 
Schule zum Zwecke der Berufsberatung kommen sollte, so würde es sich 
empfehlen, die Vorarbeiten hierzu einer besonderen Kommission zu über¬ 
tragen, die aus Vertretern der Lehrerschaft, der Berufsämter und der wich¬ 
tigsten für die Volksschuljugend in Betracht kommenden Berufe selbst zu 
bestehen hätte. Diese Kommission würde die Aufgabe haben müssen, einen 
endgültigen Beobachtungsbogen nebst Anweisungen zu seiner Ausfüllung aus¬ 
zuarbeiten, nachdem sie womöglich durch Umfrage festgestellt hätte, welche 
praktischen Erfahrungen bis jetzt mit solchen Beobachtungsbogen gemacht 
worden sind. Der endgültig einzuführende Bogen sollte dann auch erst 
probeweise zur Verwendung kommen, um die mit ihm gemachten Erfahrungen 
zu einer letzten Redaktion des Bogens zu verwerten. 


Zur Feststellung der Sprachbefähigung bei Volksschülera. 

Ergebnisse einer Nachprüfung der Schlotteschen Untersuchungen 

an Zehnjährigen *). 

Von Marx Lobsien. 

Die Untersuchungen Schlottes über die sprachlich-logische Befähigung 
Zehnjähriger wiederholte ich an einer Kieler Knabenmittelschule. Die 
Ergebnisse decken sich teilweise, scheinen andererseits aber Mängel jener 
Methode aufzuweisen. Ich stelle sie kurz zusammen. 

Vorerst eine Bemerkung über meine Prüflinge: Ihre Zahl ist gering, nnr 
25 zehneinhalbjährige Knaben konnte ich untersuchen. Außer dem Alters- 


*) Hierzu vergleiche mau die Abhandlung von Schlotte S. 29 ft. des laufenden Bandes di< 
Zcitschiift. 


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Marx Lobsien, Zur Feststellung der Sprachbefiihigung bei Volksschülern 


115 


unterschied von durchschnittlich einem halben Jahre gilt noch zu bedenken, 
daß meine Prüflinge bereits l ji Jahr in einer Fremdsprache unterrichtet worden 
waren. Die Altersdifferenz veranlaßte, wie einwandfrei festgestellt werden 
konnte, keine Beeinflussung der Versuche, der Umstand aber, daß die Schüler 
bereits Gelegenheit gehabt hatten, im Englischen zu zeigen, was sie zu leisten 
vermochten, gab die mir sehr willkommene Gelegenheit, die Leistungen nach 
dem Befund der Prüfung und die Schulleistungen in der Fremdsprache zu 
vergleichen, jene also an diesen zu bewähren. Daß bei einer so geringen 
Anzahl von Prüflingen das Endurteil nur vorsichtig gefällt werden darf, liegt 
auf der Hand, doch unterlasse ich nicht, zu bemerken,-daß der Sprachunter¬ 
richt von einer erfahrenen und ausgezeichneten Lehrkraft erteilt worden war. 

Zunächst mögen die Versuchsergebnisse in Leipzig und Kiel kurz ver¬ 
glichen werden. Die prozentuale Erfüllung zeigt verhältnismäßig große 
Übereinstimmung, wie folgende Übersicht beweist: 

Leipzig Kiel 


1. Vokabelversucb. 80 29.6 

2. Vorstellungsreichtum.(30) (01.4) 

5. Freie Kombination. 44 88.7 

4. Gebundene Kombination. 47 46,2 

6. Ober- und Nebenordnung.60 49,8 

6. Lautaulfassung.61 67 

7. MosaiksStze. 62 63 

8. WortgedSchtnis. 64 64 

9. SatzgedSchtnis. 75 73,1 


Die prozentuale Erfüllung der ersten und letzten Versuchsart ist am be¬ 
denklichsten und weist darauf hin, daß da wie hier die Methode zu schwer, 
bezw. zu leicht war. 

Ich begnüge mich damit, diesen Vergleich der Prüfungsergebnisse in Leipzig 
und Kiel allein hierher zu schreiben und weise nur auf den verschiedenen 
Anteil bin, den die einzelnen Prüfungsergebnisse meiner Untersuchungen 
an der Prüfungsendreihe haben. Mit Hilfe der Korrelationsrechnung ergab 
sich: die Gedächtnisrangreihe, die aus allen Gedächtnisversuchen bestimmt 
ward, stand zur Gesamtrangreihe im Werte 0,75, die der sprachlich-logischen 
= 0,86. Allerdings standen beide im Verhältnis 0,49, also durchaus nur in 
mittlerer Korrelation. Insbesondere ergaben sich 


Korrelation zur Endreihe: 

1. Logischer Zusammenhang. 

2. Logische Ordnung. 

5. Gebundene Kombination. 

4. Freie Kombination.. 

6. Vorstellungsreichtum. 

6. Laulauffassung.. 


0,69 \ 
0,73 j 

0,581 
0,41/ 


0,86 

0,61 


0,23 

0,32 


Die Fähigkeiten, die nach allgemeiner Überlegung für die Spracherlernung 
besonders bedeutsam sind: Vokabelgedächtnis und Kombination und 
Lautauffassung standen zur Endreihe in der Korrelation 0,40, ward das 
Vokabelgedächtnis ausgeschaltet = 0,50. 

Das Vokabelgedächtnis stand zum Gesamtgedächtnis, soweit es 
durch die vorliegenden Versuche geprüft wurde, in der Korrelation 0,42, da¬ 
gegen das Vokabelgedächtnis allein zur Endreihe im Verhältnis — 0,08. 

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Marx Lobsien, Zur Feststellung der Sprachbef&bigung bei Volksschtllem 


Demnach scheinen die Ergebnisse meiner Nachprüfung den Vokabel* und 
den Lautauffassungsversuch in der vorliegenden Gestalt als wenig günstig zu 
erweisen. 

Vergleichen wir nun die Rangreihen, die die Prüfung an die Hand gab, 
mit der Reihe der Spracbleistungen nach halbjährigem Unterricht im Eng¬ 
lischen! Der Vergleich stößt sicher auf mancherlei Bedenken. Ich gehe 
darauf weiter nicht ein, zeige nur, wie die Sprachleistungsreihe gewonnen 
wurde. Als Grundlage dienten zehn im Laufe des Halbjahres angefertigte 
Klassenarbeiten, zwei grammatische Diktate, ein Vokabeldiktat und ein Diktat, 
das Lautauffassung und Lautwiedergabe erkennen lassen sollte. Jenes wandte 
sich an den bisher erlernten Wortschatz, dieses verlangte von den Prüflingen, 
daß sie 35 neue Wörter aus dem Wortklange des geübten Vokabelschatzes 
heraus richtig niederschreiben sollten. Die Verrechnung der Rohergebnisse 
geschah, soweit möglich, in ähnlicher Weise wie bei den Testversuchen. 

Der Vergleich ergab eine Korrelation von 0,37, nur die ersten und letzten 
Nummern ergaben Obereinstimmung, dazwischen lagen aber erhebliche Ab¬ 
weichungen. 

Man kann darauf hinweisen, daß der Sprachlehrer seine Reihe auf einer 
engeren Grundlage aufgebaut, daß er die Testversuche, die Intelligenz, die sich 
im Sinn für logische Verhältnisse äußert, viel deutlicher berücksichtigt habe. 
Wir greifen daher die Versuchsreihen heraus, die zu der Lehrerreihe vermut¬ 
lich in engerer Beziehung stehen: Gedächtnis, Kombinationsfähigkeit 
und Lautauffassung. Die Berechnung ergab die Werte 0,37 und 0,48 (Ge¬ 
dächtnis ausgeschieden). Man erkennt, daß eine sichere, übereinstimmende 
Auswahl nicht möglich ist 

Besonders bemerkenswert ist die Korrelation des Vokabelgedächtnisses 
zur Sprachrangreihe. Die Korrelation zur Testrangreihe ergab 0,03, hier 
die zur Lehrerreihe 0,07; es bestand nach der Rechnung hüben wie drüben 
keine Beziehung. Ein gutes Vokabelgedächtnis gibt anscheinend auch für 
den Elementarunterricht keine Gewähr für gute sprachliche Leistungsfähigkeit. 

Ein umfänglicheres Urteil erlaubt ein Vergleich der einzelnen Testleistungen 
zu der Test- und Lehrerrangreihe. Ich bezeichne jene als t, diese als 1« 

Logische Leistung: t —0,85, 1 — 0,80 
insbesondere: t: Ordnung 0,73—Zus. 0,69; t — 0,83, 1 = 0,36 

Gedächtnis: t —0,75, 1 — 0,48 

insbesondere: t —Vok.—0,02, Wort 0,58, gatz 0,69; 1 — 0,07 0,60 0,53 

Kombination: t — 0,61, 1 — 0,28 
insbesondere: t—geb. 0,58, frei 0,41, 1— 0,36 0,10 

Vorstellungsreichtum: t — 0,23, 1 — 0,29 

Lautauffassung: t — 0,32, 1 — 0,37 

Mit Ausnahme der Kombinationsprüfung ergibt sich leidliche Überein¬ 
stimmung. 

Aus dem Gange der Kurven scheint hervorzugehen, daß in der Testrang¬ 
reihe die logischen und Gedächtnisleistungen sich ungleich klarer ausprägen 
als die spezifisch sprachlichen. Es liegt der Sprachbefähigung noch ein Etwas 
zugrunde, das der vorliegenden Methode, wenigstens in ihrer jetzigen Form, 
nicht erfaßbar scheint 


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W. Alter, Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen \yj 


Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände 

bei Schulneulingen. 

Nach einer Vorlesung vor der Hauptversammlung des Lippischen Lehrervereins. 

Von W. Alter. 

Meine Herren! Die hohe Aufgabe, die Sie zu wirken haben, ist meinem 
Beruf eng verknüpft; auch wir Irrenärzte nehmen teil an jener Fülle von 
Beziehungen, die Sie und Ihre Tätigkeit allen Gebieten des Lebens und allen 
Möglichkeiten des menschlichen Werdens verbindet. Ihr Einfluß bedeutet in 
der Entwicklung jener Einzelseele, der unser Forschen und — wo es nottut 
— unsere Hilfe dient, eines der wichtigsten, entscheidendsten und nach¬ 
haltigsten Erlebnisse. An Ihrer Hand tritt das Kind zum ersten Male über 
die Schwelle des großartigen Palastes, den unsere logische und methodische 
Geistesarbeit errichtet hat; Sie eröffnen dem phantastischen Denken, dem die 
Kinderseele in ihren unbegrenzten Möglichkeiten so gerne nachgeht, ein 
weites und wundervolles Neuland; Sie gewöhnen diese Geistesrichtung aber 
auch an die Gebundenheit der Grenzen und Ziele, die sie aus einer gaukelnden 
Verführung zu einer unentbehrlichen und wegweisenden Führerin der logischen 
Begriffsfolgen umformt. 

Aber der Mensch lernt in Ihrer Obhut nicht nur die Weite seines kindlichen 
Ich in die strenge Ordnung des methodischen Denkens einzugrenzen; er lernt 
bei Ihnen auch das methodische Arbeiten durch eine planmäßige Anspannung 
des Könnens zum Wissen. Und er erwirbt auf diesem Wege zum Wissen 
schließlich an Ihrer Hand jenes geheimnisvolle höchste Gottesgeschenk, das 
die geistige Menschwerdung vollendet: die Fähigkeit, Eindrücke und Gefühle 
zu Urteilen und abstrakten Begriffen zusammenzuschließen und das Verhältnis 
des Ich zur Umwelt auch in dem Wechselspiel, das den Willen darstellt, den 
hohen Gesetzen unterzuordnen, die wir als Moral und Ethik begreifen. Es 
ist die großartigste Wiederholung der Erschaffung des Geistes, die Ihr Beruf 
immer aufs neue umfaßt; und Sie sind besonders glücklich zu preisen, weil 
Ihr Feld jene unermeßliche und in jedem Bilde neue Welt der Geister in 
ihrer köstlichsten Maienblüte umspannt. 

Aber diese schöne und stolze Aufgabe ist auch ein schweres Werk; das 
kann niemand besser würdigen, als ein Angehöriger meines Berufes, dem 
ja vor anderen die Schwierigkeiten bekannt sind, die sich aus der unendlichen 
Vielgestaltigkeit der geistigen Objekte unseres Wirkens ergeben. Es sind in 
vielem ähnliche Ziele, und es sind darum auch in weiten Strecken gleiche 
Wege, die unsere Berufe vereinen; Ihnen, wie uns erwächst aus der Arbeit 
an dem höchsten Schöpfungswunder, dem Menschengeist, die Notwendigkeit, 
dieses Wunderwerk eingehend zu studieren und zum mindesten in den Be¬ 
ziehungen genau kennen zu lernen, die im Kreise des beruflichen Wirkens 
geltend werden. 

Und es sind da vorab für Sie wieder ganz bestimmte Beziehungen, in denen 
diese Notwendigkeit eine besondere Bedeutung und eine für Ihre ganze Arbeit 
ausschlaggebende Wichtigkeit erlangt: es sind das die psychologischen 
Probleme, die sich in den Anfängen der Schulzeit bei der Einwertung der 
kindlichen Geisteszustände ergeben. Jedes Kind, das zum ersten Mal der 
Schulpflicht genügt, bedeutet in seiner geistigen Eigenart ein Rätsel, das 


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W. Alter 


gelöst — und zwar richtig gelöst — werden muß, wenn Ihre Arbeit Erfolg 
haben oder gar auf dem kürzesten Wege die besten Leistungen bewirken soll. 

Die Mehrzahl dieser Rätsel erfordert trotz aller Not der Zeit kein besonderes 
Kopfzerbrechen; die gesunden Kinder von regelmäßiger Geistesart bilden eine 
erfreulich große Mehrheit — die allerdings sicherlich größer erscheint, als sie 
es wirklich ist: denn es ist unvermeidlich, daß der Gesamteindruck frischer 
Gesundheit, den diese große Schar vollwertiger Schulrekruten ergibt, eine 
Reihe von unregelmäßigen Geisteszuständen dadurch überdeckt, daß er jene 
besondere Einstellung und Aufmerksamkeit nicht in Übung hält, die zur 
Ermittlung abwegiger Geisteszustände unentbehrlich ist. Dieses Verwaschen 
der Grenzen wird naturgemäß am stärksten Formen von flacher uAd wenig 
ausgeprägter Abweichung betreffen; aber es ist gerade da von besonderem 
Nachteil. Denn diese leicht abnormen Kinder werden immer mehr zum 
wichtigsten Problem der Pädagogik — weil bei ihnen zum Guten und zum 
Bösen die weitesten Möglichkeiten gegeben sind. Sie können, wenn ihre 
Eigenart verkannt wird, in der Schule unendlich viel mehr verderben, als 
erwerben; sie sind später immer in Gefahr, in die Kriminalität hineinzutreiben 
oder zur Geisteskrankheit zu entgleisen. Aber sie sind auch dem entgegen 
da, wo ihrer Eigenart das richtige Verständnis entgegenkommt, die lohnendsten 
und dankbarsten Objekte jener heilpädagogischen Bestrebungen, die heute 
auch die praktische Tätigkeit des Lehrers mit der des Arztes so eng verbinden 
und unentbehrlich sind, wenn das kostbare Material, das selbst der ärmste 
Kindergeist noch darstellt, zu seinen besten Möglichkeiten geformt und ge¬ 
bildet werden soll. 

Nach den gegebenen Verhältnissen muß auch eine solche heilpädagogrische 
Arbeit in weiten Grenzen im Rahmen der Normalschule geleistet werden: Sie 
alle, meine Herren, müssen im Kreis Ihres Wirkens neben den Anforderungen 
der regelmäßigen Schulung auch den besonderen und schwierigen Aufgaben 
zu genügen suchen, die durch Kindergeister von regelloser oder regelwidriger 
Eigenart gestellt werden. Deshalb hoffe ich Sie besonders und ganz allgemein 
zu interessieren, wenn ich Ihnen aus meinem Fachwissen einige Anhaltspunkte 
zur Erkenntnis solcher Eigenart darzustellen versuche. Ich werde dabei 
manches Altbekannte und Ihnen praktisch längst Geläufige nicht umgeben 
können; ich bitte das aus der großen Bedeutung der Sache freundlichst zu 
entschuldigen und zu berücksichtigen, daß grade uns Irrenärzten jeder Hinweis 
wichtig erscheinen muß, der die Erkenntnis solcher Kinder fördert — weil 
sie ebensooft die Vorstufen zu Fällen unserer Wirksamkeit bedeuten. Wir 
sind gegenüber diesen Vorstufen machtlos; aber Sie können der Volksgesund¬ 
heit und der werdenden Generation Großes leisten, wenn Sie durch eine 
frühzeitige Feststellung solcher Zustände zur Vorbeugung und Verhütung 
geistiger Entgleisungen beitragen und mitwirken. Meine Ausführungen wollen 
und sollen Ihnen dazu nur ein paar Richtungspunkte erinnern oder hervor¬ 
heben; ich will Ihnen nicht einzelne Zustandsformen und Krankheitsbilder 
schildern, sondern ganz allgemein diejenigen Eigentümlichkeiten besprechen, 
deren Nachweis bei einem Schulrekruten die Möglichkeit eines abwegigen 
oder minderwertigen Geisteszustandes vermuten läßt. Ich brauche dabei kaum 
zu betonen, daß eine solche Vermutung zunächst oft nur als ein Anlaß au 
besonderer Achtsamkeit und zu weiterer sorgfältiger Prüfung gewertet werden 
darf; in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der hierhier gehörenden Fälle 


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Zar Erkenntnis abwegiger and krankhafter Geisteszustlnde bei Schulneulingen H9 


kann erst diese weitere Prüfung sichere Urteile gewährleisten. Die Erkenntnis 
des Geistes läfit sich ebensowenig schematisieren und generalisieren, wie 
die geistige Erkenntnis; die Schule muß gerade in diesen Fällen am strengsten 
individualisieren, wenn sie der besonderen Eigenart solcher Kinder gerecht 
werden soll. Aus diesem Grunde sind auch zu solchen Prüfungen und Unter¬ 
suchungen die generalisierenden und schematisierenden Forschungsmethoden 
nur von beschränktem Wert« und bedingtem Nutzen. Eine geistige Eigenart 
kann beim Kinde ebenso wenig, wie beim Erwachsenen aus einer einseitigen 
Verfolgung eines ihrer Anteile erschlossen werden: wer wirklich Seelenkunde 
treiben will, muß immer die ganze Persönlichkeit seiner Objekte erfassen 
und zur Bewertung verwerten. Jede Untersuchunggart, die dieser Forderung 
nicht genügt, muß unter Umständen zu erheblichen Fehlurteilen führen; schon 
aus diesem Grunde sind die reinen Intelligenzprüfungen, die heute vielfach 
zur Erforschung kindlicher Geisteszustände benutzt werden, in ihren Ergeb¬ 
nissen immer sehr vorsichtig zu bewerten; sie offenbaren weiter nichts, als 
eine mehr oder weniger große intellektuelle Schlagfertigkeit — und das ist 
ein Wesenszug, der gerade bei Kindern nicht überschätzt werden darf, weil 
da dem Gefühlsleben, der Affektivität, eine noch größere Vorherrschaft zu¬ 
kommt, als ihm ohnehin gegeben ist. Es ist Ihnen ja bekannt, daß die Aus¬ 
bildung des Gefühlslebens dem Werden der Vorstellungen immer vorangeht; 
schon aus diesem Grunde müssen Störungen des Gefühlslebens belangreicher 
und bedeutsamer sein, als Störungen der Verstandesseele. Sie sind aber auch 
zweifellos viel wichtiger; intellektuelle Defekte bedeuten sehr oft nur Un¬ 
begabtheit oder einfachen Schwachsinn aus äußeren Ursachen; Störungen 
des Gefühlslebens beweisen ausnahmslos das Hereinspielen krankhafter Vor¬ 
gänge; ihr Auftreten signalisiert immer eines der eigentlichen und großen 
Probleme der Pädagogik. Sie lassen sich in kein Schema fassen und nach 
keinem Schema kurieren; sie sind nur durch eine Erziehung heilbar, in der 
äie Intuition und das Können mehr bedeuten als das Wissen. Schon aus 
diesem Grunde leistet die intuitive Erkenntnis, die durch Wissenschaft ge¬ 
stützt, aber nicht in starre Formen gepreßt ist, gerade zur Erforschung der 
Kinderseele die beste Arbeit; wer aus den sicheren Voraussetzungen der Er¬ 
fahrung unbefangen zum Urteil strebt, wird nicht selten schon auf den ersten 
Blick oder nach kurzer Bekanntschaft zu klarer Einsicht gelangen. 

Denn gerade die allgemeinste Betrachtung ergibt sehr oft schon deutlichste 
Fingerzeige zur Lösung unserer Rätsel — und diese nächsten Anhaltspunkte 
sind sogar oft besonders wertvoll; sie gestatten vielfach von vornherein Zu¬ 
stände auseinander zu halten, die einer schematischen Untersuchungsform 
gleichwertig erscheinen müssen, während sie in Wirklichkeit grundverschiedene, 
je nach Art, Entstehung und Aussichten überhaupt nicht vergleichbare Zu¬ 
standsbilder bedeuten. 

Ich will das an einem einfachen Beispiele erläutern: Stellen Sie sich drei 
Knaben vor, die zur ersten Schulstunde herankommen. Bei allen dreien er¬ 
gibt der erste Eindruck, die erste Ansprache geistige Mängel; eine eingehende 
Prüfung bestätigt diesen ersten Eindruck zu der fast vollkommenen Über¬ 
einstimmung einer mäßigen aber deutlichen intellektuellen Schwäche: und 
doch handelt es sich um diei grundverschiedene Zustände. Sie werden ohne 
weiteres diese grundsätzliche Verschiedenheit erkennen, wenn ich Ihnen einige 
besondere Kennzeichen der drei Kinder angebe: zwei sind groß und kräftig, 


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W. Alter 


der eine davon hat eine Hasenscharte und einen auffällig mißgebildeten 
Schädel, der andere fällt nur durch sein verwahrlostes Äußere auf; der dritte 
Knabe ist blaß, klein und schwächlich. Meine Herren! Die Deutung dieser 
Kennzeichen ist ja klar; der erste Knabe ist der einzig wirkliche Geistes¬ 
schwache, sein mangelhafter Geisteszustand bedeutet eine minderwertige An¬ 
lage. Der kleine Strolch kann dagegen in Wirklichkeit sehr gut veranlagt 
sein, er erscheint nur schwachsinnig, weil er duröh Nachlässigkeit und Stumpf¬ 
sinn seiner Angehörigen in seiner geistigen Entwicklung vernachlässigt worden 
ist Auch der dritte Rekrut täuscht mit dem Eindruck der Geistesschwäche; 
er erscheint minderwertig, weil er durch Kinderkrankheiten zurückgeblieben 
ist. Meine Herren: drei solche aufdringliche Schulbeispiele werden Ihrer Be¬ 
urteilung sicherlich sehr rasch zu denselben Schlüssen auffallen — aber es 
sind eben Zweckbeispiele, die die in Wirklichkeit meist vorhandenen Ver¬ 
wicklungen vermeiden. Denn es ist leider nicht ungewöhnlich, daß auch 
körperlich gut gepflegte Kinder aus wohlhabenden Familien eine mehr oder 
weniger hochgradige geistige Vernachlässigung erfahren; es ist sehr häufig, 
daß sich eine solche Bildungsschwäche auf eine ungünstige Veranlagung auf¬ 
pfropft also auf eine reelle geistige Minderwertigkeit — und es ist schließlich 
auch gar nicht selten, daß sich eine solche grundsätzliche Minderwertigkeit 
mit einer besonderen Anlage zu Erkrankungen verkuppelt und dadurch der 
Entwicklung meines dritten Beispiels nahetritt. Aber gerade weil die Sachlage 
meist so verwickelt und innerlich nach der einen oder der anderen Richtung 
hin kompliziert ist, bedeutet jeder Anhaltspunkt, den d e erste Betrachtung 
ergibt, einen wertvollen Trumpf in dem Rätselspiel der Seelenerkundung: 
Wer seinen Blick auf beachtenswerte Äußerlichkeiten solcher Kinder einge¬ 
stellt oder noch besser geradezu dressiert hat, vermag sehr oft aus solchen 
auffälligen Merkmalen buchstäblich auf den ersten Blick ein Urteil zu fällen, 
das das Verhältnis zwischen Kind und Schule von seinen ersten Anfängen 
an zu beider Segen in die rechten Wege leitet: ein sorgfältiges Achtgeben auf 
das Äußere der Schulrekruten ist gerade für die Zwecke, die ich geltend 
machen möchte, sehr wichtig und von großer Tragweite. 

Denn körperliche Mängel, Mißbildungen oder Gebrechen bedeuten eben 
ganz allgemein Signale des Ungewöhnlichen: und der Geist des Kindes ist 
noch so eng an das Gefängnis des Leibes gebunden, daß dem schadhaften 
Gefäß in der Regel auch ein schadhafter Inhalt entspricht. Natürlich kann 
eine fortgesetzte Beobachtung selbst gehäufte äußere Warnzeichen zur Be¬ 
deutungslosigkeit entwerten: aber man darf sie trotzdem nie übersehen und 
in keinem Falle die aus ihnen möglichen Folgerungen eher preisgeben, als 
bis man der geistigen Intaktheit ihrer Träger sicher ist. Aus ihrer großen 
Bedeutsamkeit ist ihre genaue Bekanntschaft für jeden Erzieher, der heil- 
pädagogische Wirkungen verfolgen und erstreben will, ganz unerläßlich; und 
aus dem gleichen Grunde ist es notwendig, daß man den Kreis der zur 
psychischen Beurteilung auswertbaren Äußerlichkeiten nicht einzuschränken 
sucht, sondern in seinen weitesten Möglichkeiten erfaßt 

In dieser grundsätzlich gebotenen weiten Ausdehnung des Bereichs der 
körperlichen Verdachtsmomente muß in den Lebensjahren, die hier in Frage 
stehen, schon jede erhebliche körperliche Vorreife und noch mehr jedes merk¬ 
bare Zurückbleiben hinter den Gleichaltrigen als ein Hinweis auf die Mög¬ 
lichkeit geistiger Schwäche beachtet und bewertet werden. Kinder, die älter 


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Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen 121 


oder jünger aussehen, als sie wirklich sind, schwächliche, blutarme und schlecht 
ernährte Kinder müssen — besonders in ländlichen Lebensverhältnissen und 
bei einer Herkunft aus erwerbssicheren Kreisen — stets als kranke Kinder 
gelten. Bestehen bei ihnen überdies noch Augenentzündungen, Ohrenleiden, 
Ausschläge oder Drüsenleiden, zeigen sie die wohlbekannten Folgeerscheinungen 
der englischen Krankheit, üble Ausdünstungen oder Geruch aus dem Munde, 
— so wird man sehr oft nicht fehlgehen, wenn man eine geistige Minderung 
aus körperlicher Ursache oder wie die Franzosen sagen: eine arrieration ma¬ 
terielle erwartet und daraus von vornherein die mildeste Beurteilung und eine 
besonders wohlwollende und unermüdlich nachhelfende Pädagogik geltend 
werden läßt. 

Dieselbe Stellungnahme wird noch entschiedener gerechtfertigt und not¬ 
wendig sein, wenn der erste Eindruck neben solchen Befunden oder in ver¬ 
einzeltem Auftreten noch ein oder das andere jener körperlichen Anzeichen 
ergibt, die als Merkmale der Entartung oder als Offenbarungen schwerer 
Nervenleiden gedeutet werden müssen. 

Sie wissen ja alle, daß der Begriff der Entartung der an eine schlechte 
Keimanlage oder an eine ungünstige Keimentwicklung gebunden ist, in der 
Entstehung abwegiger, ungewöhnlicher und krankhafter Geisteszustände eine 
ganz außerordentlich große Rolle spielt Die Entartung bedeutet immer eine 
Verschiebung gegenüber den gewöhnlichen Bahnen und den gesunden Grenzen 
der Entwicklung: sie wird oft nur in der geistigen Bilanz geltend, aber sie 
gewinnt auch nicht selten für die Gestaltung des Körpers einen charakteristischen 
Einfluß, der dann die sogenannten Entartungszeichen zur Ausbildung ge¬ 
langen läßt. 

Als solche Entartungszeichen sind zu bewerten: Mißbildungen des Kopf* 
Schädels, auffallende Ungleichmäßigkeiten der Gesichtshälften, Mißbildungen 
der Nase, Verschiebungen in der gewöhnlichen Stellung der Kiefer, Störungen 
in der Zahnreihe und Ohrverbildungen. In noch höherem Grade sind Hasen¬ 
scharten, Wolfsrachen, angeborene Verkrüppelungen und Mängel an den 
Gliedern in diesem Sinne zu beachten; sie paaren sich besonders häufig mit 
einer seelischen Mißbildung und sind daher stets Wegweiser zu ungewöhn¬ 
lichen Geisteszuständen. 

Solche Wegweiser sind aber auch ausnahmslos alle jene — zum Teil sehr 
auffälligen — körperlichen Eigentümlichkeiten, die überstandene oder fort¬ 
wirkende Nervenleiden anzeigen. Es handelt sich dabei natürlich um Dinge, 
die nach Wesen und Entstehung sehr verschieden sind;, ich lasse das hier 
ganz außer Betracht und hebe sie nur hervor, weil der Erzieher eben grund¬ 
sätzlich einen abnormen Geisteszustand erwarten soll, wenn er ihnen be¬ 
gegnet In erster Linie stehen da Lähmungen und Bewegungsstörungen 
einzelner Glieder, Schwächen und Mängel des Ganges und vor allem die 
Gebrechen im Sprechmechanismus: sie bedeuten immer den Ausdruck 
schwerer Nervenleiden. Die kindlichen Sprachstörungen sind überhaupt stets 
sehr belangreich für die Einschätzung zur Schulerziehung; Kinder, die stottern 
oder .beim Sprechen stocken, sind immer vorsichtig zu bewerten. Kinder, 
die auffallend langsam und mit schwerer Zunge reden, sind stets auf Narben 
am Schädel, im Gesicht oder an der Zunge nachzusehen: man muß bei ihnen 
von vornherein an die Möglichkeit einer zur Zeit herabgeminderten oder ganz 
ruhenden Epilepsie denken, deren Bestehen selbst den Eltern unbekannt sein 


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W. Alter 


kann. Es gibt in größerer Zahl, als gemeinhin angenommen wird, Epileptische, 
die nur in der ersten Kindheit an Krämpfen leiden und dann scheinbar ge¬ 
sund sind, bis in den Entwicklungsjahren die Krankheit aufs neue losbricht. 
— Daß bei offenkundigen Krampfzuständen, bei Kindern, die sich verun¬ 
reinigen, die an Ohnmächten leiden, die Zuckungen, ein allgemeines oder auf 
einzelne Glieder beschränktes Zittern, zwangsmäßige Bewegungen oder irgend 
eine Art von Veitstanz-Erscheinungen aufweisen, erst recht eine geistige Be¬ 
einträchtigung angenommen werden darf, versteht sich von selbst: solche 
Feststellungen müssen unbedingt zu dem Schlüsse bewertet werden, den alle 
anderen körperlichen Gebrechen, Mängel und Mißbildungen bei Schulrekruten 
zum mindesten zur Möglichkeit in Erwägung stellen sollen. Gerade eine solche 
gewissenhafte Würdigung der körperlichen Befunde ist in vielen Fällen das 
nächste und wirksamste Mittel, um den Gefahren vorzubeugen, die aus einem 
Übersehen oder Mißachten der geistigen Eigenart seelisch mißgebildeter 
Kinder immer gegeben sind — und leider auch sehr oft geltend werden, 
wenn die seelischen Wesenszüge, die solchen Kindern als trauriges Kenn¬ 
zeichen anhaften, zu Eigensinn, Ungezogenheit und Schlechtigkeit verkannt 
werden. Denn das ist leider das gewöhnliche Schicksal, das solchen Geistes¬ 
zuständen widerfährt: sie erleiden eine in jeder Beziehung schädliche Ver¬ 
kennung und am häufigsten deshalb, weil sie aus einer grundsätzlich irrigen 
und deshalb immer irreführenden Stellungnahme betrachtet und beurteilt 
werden. 

Es klingt paradox, aber es ist eine wichtige Wahrheit: wenn Sie Irrtümer 
bei der Beurteilung abwegiger Seelenzustände vermeiden wollen, müssen Sie 
das ausschalten, was sonst die Schule von Ihnen am dringlichsten fordert: 
die Subjektivität der Persönlichkeit und das eigene Empfinden. Das Beste 
in Ihrer Arbeit und alles Nachhaltige beruht auf in der rechten Weise zur Er¬ 
mahnung, zum Lobe, zum Verweis und zur Strafe angewandten eigenen Ge¬ 
fühlen, auf einem Wirksamwerden Ihrer eigenen Affekte. Gerade diese höchste 
Fähigkeit müssen Sie aber unbedingt zurückdrängen, wenn Sie an die Be¬ 
trachtung und Ermittlung ungewöhnlicher kindlicher Geisteszustände heran¬ 
treten. Affekte bedeuten immer Vorurteile und in Ihrem Falle berufsmäßige 
Vorurteile in moralisierender Richtung. Solche Vorurteile bilden überall starke 
Hemmungen für ein Verstehen seelischer Mißbildungen: wer einen fremden 
oder gar fremdartigen Geisteszustand moralisierend betrachtet, gerät immer 
selbst in eine veränderte Affektlage und daraus in die fast unvermeidliche 
Gefahr, die fremden Affekte falsch zu beurteilen und das ganze fremde Ge¬ 
mütsleben in seinen wesentlichen Voraussetzungen und Bedingungen zu ver¬ 
kennen. Es kommt hinzu, daß wir alle gewohnt sind, Gefühle an Vor¬ 
stellungen zu messen und durch Vorstellungen zu bewerten: auch das ist 
falsch, wenn man die Gefühle von Kindern und besonders von geistig ab¬ 
normen Kindern richtig verstehen will. Die kindliche Affektivität ist nicht 
durch Vorstellungen meßbar oder verständlich: sie kann nur aus ihren 
Äußerungen erschlossen und bewertet werden. 

Deshalb kann man diese wichtigste Eigentümlichkeit der geistig abwegigen 
Kinder — und ihren ganzen Seelenzustand — nur dann richtig begreifen, 
wenn man ihr Wesen ganz vorurteilslos, in naturwissenschaftlich nüchterner 
Tatsachendarstellung und in streng objektiver Schlußfolgerung betrachtet: 
jede andere Betrachtungsweise muß im wesentlichsten versagen, wenn es gilt, 


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Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen 123 


aus Unerzogenheit und Ungezogenheit die Grenzen der Erziehbarkeit zu be¬ 
stimmen. Denn Unerzogenheit und Ungezogenheit erscheinen eben auf rein 
geistigem Gebiet in der Regel als die offensichtlichsten Merkmale minder¬ 
wertiger Kinder — und sehr oft als besonders gefährliche Merkmale, weil sie 
die eigentliche Eigenart solcher Seelenzustände verdecken und schematisieren. 

Diese eigentlichen Seelenzustände der geistig minderwertigen Kinder sind 
nun ganz außerordentlich vielgestaltig — so vielgestaltig, daß die allen Be¬ 
griffe des Schwachsinns und Blödsinns nicht im Entferntesten der Fülle dieser 
Erscheinungen gerecht zu werden vermögen. Sie versagen aber auch des¬ 
halb, weil ihre Anwendung den Kernpunkt des ganzen pädagogischen Problems 
verlagert: es ist nicht die Hauptsache, daß die blödsinnigen, d. h. die nicht 
schulbaren Kinder ausgesondert werden, sondern es ist, wie gesagt, die eigent¬ 
liche Problemstellung der neuen Pädagogik, daß die geistig nicht vollwertigen 
oder nicht vollgesunden Kinder weder übersehen noch verkannt, sondern in 
ihrem Ausnahmezustand richtig ermittelt, genau ausgewertet und danach zweck¬ 
mäßig behandelt werden. 

Bei den blödsinnigen Kindern ist in der Normalschule alle Zeit und jede 
Arbeit vergeudet: ihre Einschulung muß daher unbedingt vermieden oder — 
wo sie erfolgt ist — rückgängig gemacht werden. Ihre Erkennung ist nie schwer. 
In der Regel verrät sie schon ihr körperlicher Zustand, die scharfe Heraus¬ 
setzung von Entartungszeichen oder von Merkmalen schwerer Nervenleiden. 
Am augenfälligsten ist meist die Ungeschicklichkeit und die Formenarmut 
ihrer Bewegungen — als deren Teilerscheinung fast immer mehr oder weniger 
hochgradige Sprachstörungen bestehen. Und wenn solche körperliche An¬ 
zeichen fehlen, dann fällt bei blödsinnigen Kindern meist von vornherein eine 
Reihe von charakteristischen geistigen Wesenszügen auf. Besonders leicht 
und besonders belangreich ist da immer die Feststellung, ob und in welchem 
Umfange die Anfänge des Persönlichkeitsbewußtseins — die jeder gesuude 
Schulrekrut besitzen muß — entwickelt und gegeben sind. Man darf ohne 
weiteres eine hochgradige geistige Minderung annehmen, wenn ein Kind, das 
zur Schule kommt, von sich noch in der dritten Person spricht, wenn es 
rechts und links nicht unterscheiden kann und seine Körperteile nicht zu 
bezeichnen weiß. Ebenso bedeutsam, wie diese Feststellung aus dem Per¬ 
sönlichkeitsbewußtsein sind die Ergebnisse einer anderen im ersten Augen¬ 
blick möglichen Prüfung: hochgradig schwachsinnige Kinder sind außerstande, 
2 bis 3 gleichzeitig erteilte Aufträge hintereinander auszuführen. Belassen 
diese leichten Prüfungen noch Unsicherheit, dann offenbart jedem einiger¬ 
maßen geschulten Beobachter schon eine kurze Bekanntschaft mit solchen 
Kindern das Fehlen jenes Grades von Willenskraft, der beim gesunden Kinde 
die ursprünglichsten Triebhandlungen mit Sicherheit zurückhält, und vor allem 
hochgradige Mängel des Gefühlslebens: sie zeigen sich in der Empfindungs¬ 
schwäche, die solchen Kindern eigen ist und besondere auffallend in ihrer 
Gleichgültigkeit gegen Schmerzreizungen und Geschmacksunterechiede hervor¬ 
tritt: sie imponieren aber auch in jeder anderen Beziehung zu dem eigentlich 
klassischen Wesenszug: zu dem Mangel jeder geistigen Regsamkeit; die Kinder 
sind nicht nur unfähig zum Lernen, sondern auch außerstande, aufzumerken, 
aufzufassen und zu begreifen. 

Gerade dieser Stumpfsinn der hochgradig schwachsinnigen oder nach dem 
alten Sprachgebrauch: blödsinnigen Kinder grenzt diese Zustände sehr scharf 


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W, Alter 


ab gegen jene Gruppen von Schulrekruten, die in Wirklichkeit nicht geistes¬ 
schwach sind, sondern nur aus geistiger Schwerfälligkeit und aus Unbildung 
durch soziale Verwahrlosung schwachsinnig erscheinen oder infolge von Krank¬ 
heiten in ihrer geistigen Entwicklung zurückgeblieben sind. Bei diesen drei 
Gruppen besteht — wenn es sich um unkomplizierte Fälle handelt — immer 
eine deutliche Fähigkeit zum Aufmerken und eine ganz gesunde geistige 
Regsamkeit, die zwar bei den durch Krankheit Schwachen zu rascher Er¬ 
müdung neigt, die sich aber auch da durch ihre ungestörte und allgemeine 
Neigung zum Behalten und Bewahren meist sehr deutlich abgrenzen läßt 
gegen jene ungesunde und unechte geistige Regsamkeit, die wieder, als eine 
freilich anders geartete affektive Störung, eines der hervorstechendsten Kenn¬ 
zeichen jener großen Gruppe von minderwertigen und nervösen Kindern dar¬ 
stellt, für die ich Ihr besonderes Interesse fesseln möchte. 

Diese Gruppe, die sich aus einfacher nervöser Reizbarkeit, aus ererbter 
nervöser Schwäche, aus schlechter Veranlagung durch Entartung, aus hyste¬ 
rischen und epileptischen Zuständen — kurz aus allen möglichen Anlässen 
zur seelischen Mißbildung rekrutieren kann: diese große Gruppe kennzeichnet 
sich überall und ausnahmslos durch eine grundsätzliche Disharmonie der 
geistigen Entwicklung, durch ein nicht immer offenkundiges, aber stets nach¬ 
weisbares Wechselwesen aus Vorreife und Rückständigkeit, aus einer un¬ 
gleichmäßigen Obertreibung und Herabsetzung von bestimmten Charakter¬ 
zügen, die wir in jedem gesunden Kinde angedeutet finden. 

Und wie ein erster und sichtbarster Ausdruck dieses Wechselwesens 
präsentiert sich bei solchen Kindern das Verhalten der Regsamkeit in zwei 
Richtungen. Einmal in einer ganz frappanten Launenhaftigkeit: die Regsamkeit 
bleibt da immer wählerisch und muß schon durch dieses den normalen Schul¬ 
rekruten fremde elektive Verhalten auffallen. Vieles, was alle anderen Kinder 
lebhaft interessiert, läßt sie ganz gleichgültig, irgendein Sondergebiet, manches, 
was andere kaum berührt, erweckt und steigert sie zu den höchsten Leistungen. 
Aber diese höchsten Leistungen — und darin liegt die zweite Störung der 
Regsamkeit — erscheinen eben nur dem flüchtigen Zusehen ungestört oder 
gar besonders glänzend und schlagfertig: jede genauere Prüfung, jede längere 
Inanspruchnahme erweist sie als eitel Schein und Strohfeuer. Das kommt 
daher, daß die Aufmerksamkeit, die die Führerin jeder geistigen Regsamkeit 
darstellt, bei diesen Kindern nur in ihrer ersten Hälfte, in der Weckbarkeit 
gegeben ist: dagegen fehlt ihnen das, was die Aufmerksamkeit erst wirksam 
und nützlich macht, was zum Aufmerken und zum aufmerksamen Denken 
führt: die Haftbarkeit. Deshalb sind alle diese Kinder innerlich unstet, inner¬ 
lich zerfahren und mehr oder weniger unfähig, sich zu sammeln und zu 
fixieren. Auch diese Eigentümlichkeit wird oft schon auf den ersten Blick 
im äußeren Verhalten bemerkbar: auch da fehlt alles Ausgeglichene. Vor¬ 
laute Aufdringlichkeit wechselt mit ängstlicher Scheu und Schreckhaftigkeit 
im Gesicht und an den Gliedern; im Mienenspiel und in der Haltung besteht 
nicht selten eine Unruhe, die bald unwillkürlich als Zucken und Zittern er¬ 
scheint, bald zu allerlei Bewegungen; Manieren und Angewohnheiten drängt. 
Das sind die Kinder, die sich ewig kratzen und reiben, die an den Nägeln 
kauen, mit der Zunge spielen und allerlei solche Unart treiben. In hoben 
Graden kann dieses Verhalten dazu führen, daß solche Kinder mit bestimmten 
Formen von schwerer Geistesschwäche verwechselt werden; auch da besteht 


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Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen 125 


fortwährende oder -doch im Verhalten überwiegende Bewegungsunruhe, 
bei diesen Blödsinnigen trägt die Bewegungsunruhe auch dann, wenn 
in den Formen abwechslungsreich erscheint, immer das Gepräge des Ein- 
Minigen, Starren und Mechanischen; sie drängt immer den Eindruck einer 
'.fÄnlosen stereotypen Form Wiederholung auf, während bei den minderwertigen 
lEndern auch in der Bewegungsunruhe immer jenes Fahrige, Flattrige und 
jÜBgleichmäßige vorwiegt, das ihr ganzes Wesen beherrscht. 

.. Schon dieses unstete und ungleichmäßige Wesen wird oft als Ungezogen¬ 
heit verkannt; noch häufiger widerfährt ein solches Fehlurteil — mit besonders 
-aebädlichen Folgen für die pädagogische Einwirkung — dem seltsamen und 
>jrie ich schon sagte, ganz außerordentlich wichtigen und charakteristischen 
Gefühlsleben solcher Kinder. 

Diesem Gefühlsleben ist nicht nur in seinem Einfluß auf die Regsamkeit, 
sondern auch in jeder anderen Äußerung das unselige Merkmal grundsätz¬ 
licher Ungleichartigkeit aufgeprägt. Schon bei gesunden Kindern ist ja die 
Stimmungslage sehr viel labiler als beim normalen Erwachsenen; das Kind 
ist immer ein Spielball seiner Gefühle und auch manchmal nicht hinlänglich 
begründeten Schwankungen und Umschlägen der Stimmungslage unterworfen. 
Launenhaftigkeit ist deshalb noch kein krankhafter Wesenszug; sie wird aber 
krankhaft, wenn die unbegründeten und nicht nachfühlbaren Verstimmungen 
überwiegen und die Änderungen und Ausschläge der Stimmung ganz jäh¬ 
explosiv und zu den äußersten Graden erfolgen. Noch bedeutsamer sind 
dauernde Verlagerungen der Stimmungslage in Form anhaltender Verstim¬ 
mungen ohne zureichenden Grund und vor allem die eigentlichen Mängel 
der Affektivität, die Minderwertigkeit in der Qualität der Gefühle. 

Allen Kindern dieser Gruppe fehlt trotz der quantitativen Ergiebigkeit ihrer 
Verstimmungen die qualitative Feinheit des gesunden kindlichen Stimmungs¬ 
lebens, sein Reichtum, seine Mannigfaltigkeit und seine Abstufbarkeit. Diese 
Erscheinung offenbart sich sehr oft schon ganz kennzeichnend in der schiefen, 
unrichtigen und unzulänglichen Einschätzung und Bewertung, mit der solche 
Kinder an ihre persönliche Umgebung und besonders an eine neue persön¬ 
liche Umgebung herantreten; die Kinder vermögen da in der Regel gemütlich 
nicht richtig zu distanzieren. Und ebenso charakteristisch erscheint dieser 
Zug im Bereich der auf das Selbst, auf das eigene Ich bezüglichen Gefühle. 
Auch da mangelt die Fähigkeit, abzustufen und Abstand zu nehmen: in der 
Regel zu dem Erfolg, daß ein gesteigertes Selbstgefühl mit Selbstgefälligkeit 
und Selbstzufriedenheit als Empfindlichkeit und Eitelkeit hervortritt — was 
den unorientierten Erzieher wieder leicht veranlaßt, eine besonders arge Un¬ 
gezogenheit anzunehmen und zu bestrafen. Aber auch hier berühren sich 
die Extreme; denn die scheinbar ganz artigen Schulrekruten, die Stillsitzer, 
die ohne jedes Anzeichen von Ungeduld und Langerweile und ohne jede Be¬ 
tätigung die längste Zeit in größter Gleichmütigkeit verharren, sind auch 
immer abnormer Geistesart verdächtig: Gleichgültigkeit gegen neue Eindrücke 
ist eine Eigenschaft, die in gesunden Grenzen erst später erworben wird und 
dem schulreifen Kinde grundsätzlich abgeht. Sie ist deshalb immer als ein 
Hinweis auf die Möglichkeit eines ungewöhnlichen Geisteszustandes zu be¬ 
werten und am meisten in der ersten Schulzeit. Es kommt da gar nicht selten 
vor, daß geistig minderwertige Kinder durch das neue Erlebnis der Schule 
za einer eigentümlichen seelischen Abscbließung veranlaßt werden, die oft 


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W. Aller 


nur den Eindruck solcher Gleichmütigkeit erweckt, manchmal aber auch so 
weit geht, daß sie den Stumpfsinn blödsinniger Kinder vortfiuscht oder — 
und das noch häufiger — als starrköpfiger Trotz erscheint. Diese Auffassung 
wird dann nicht selten dadurch gefördert, daß sich solche Zustände schein¬ 
bar argen Eigensinns gelegentlich und plötzlich in Ausbrüche von heftiger, 
ja maßloser Erregung entladen können. Ein solches Verhalten ist ausnahms¬ 
los ein Anzeichen einer sehr erheblichen Seelenstörung, die wie jede andere 
geistige Entgleisung aus Erkenntnis und mit Verständnis behandelt werden 
muß, wenn sie sich nicht nachhaltig vertiefen und zu einer unüberwindlichen 
Opposition gegen jede pädagogische Einwirkung, das heißt zu einer Gefahr 
für das ganze Leben entwickeln soll. 

Gerade das macht ja überhaupt die Bedeutung der Affektivität in der kind¬ 
lichen Minderwertigkeit so sehr groß: wer sie nicht beachtet oder unter¬ 
schätzt, kann nie die rechte Anschauung und deshalb auch nie den richtigen 
Weg zu solchen kränklichen und oft gerade in der Verkennung seelische Not 
erleidenden Kinderseelen finden: alle Möglichkeiten der Heilerziehung be¬ 
ruhen auf einer genauen Erkenntnis und einer sicheren Beherrschung des 
krankhaften Gefühlslebens der Kinder, an denen sie wirken soll. 

Auch aus diesem Grunde muß die Rücksicht * auf das kindliche Gefühls¬ 
leben immer in den Vordergrund gestellt werden — wenn man daneben 
auch — besonders zu den praktischen Zwecken der Schule — die intellek¬ 
tuellen Störungen nicht übersehen oder vernachlässigen darf. Eine ein¬ 
gehende und genaue Prüfung dieser intellektuellen Störungen verlangt grund¬ 
sätzlich die Anwendung bestimmter psychologischer Untersuchungsformen. 
Viele dieser Prüfungen sind so einfach, daß sie jeder Gebildete anzuwenden 
und auszuwerten vermag: für die praktische Arbeit, die Ihnen obliegt, sind 
sie aber durchweg zeitraubend, wenn sie nicht im Rahmen der Schularbeit 
selbst erledigt werden können. Auch das ist für manche wertvolle Erprobungen 
durchführbar und angängig: der Anschauungsunterricht und die Schreibstunde 
gewährleisten da Möglichkeiten, die sehr nützliche Ergebnisse erzielen lassen. 
Aber diese Erprobungen kommen naturgemäß für die Zwecke, die meine 
Ausführungen in erster Linie betreffen wollen, in der Regel zu spät: auch 
da gibt es jedoch wieder einige Hilfsmittel, die ohne große Umstände gleich 
bei der ersten Bekanntschaft eine in weiten Grenzen verläßliche Beurteilung 
ermöglichen. Zunächst gibt es auch hier ein einfaches äußeres Merkmal, 
das dem Geübten vielfach schon auf den ersten Blick einen fein unter¬ 
scheidenden Einblick gestattet: es ist das Verhalten der sogenannten Denk¬ 
furchen auf der Stirn. Jeder normale Schulrekrut zeigt zum mindesten eine 
Andeutung dieser Furchen. Bei den hochgradig schwachsinnigen Kindern 
sind sie entweder zur Grimasse erstarrt oder — und das ist die Regel — 
überhaupt nicht vorhanden. Bei der großen Gruppe der minderwertigen 
Kinder, die uns hauptsächlich interessiert, sind sie dagegen in der weitaus 
überwiegenden Mehrzahl der Fälle sehr erheblich und immer deutlich ver¬ 
tieft: meine Herren, dieses Kennzeichen ist so klar, daß ich seine Beachtung, 
zu der freilich Obung gehört, dringend empfehlen kann. Es ist aber nicht 
nur bedeutsam, sondern auch bedeutungsvoll: denn es verrät beim Blödsinnigen 
das Fehlen des Denkens und beim geistig Minderwertigen die kennzeichnende 
Eigenart der intellektuellen Leistungen: die Erschwerung der Denktätigkeit, 
die diesen Kindern aus drei wesentlichen Mängeln erwächst: aus einer un- 


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Zar Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen }27 


gewöhnlichen Armut an Vorstellungen, aus einer mehr oder weniger starken 
Herabsetzung der Fähigkeit zur VorstellungsverknQpfung und aus dem Unzu- 
reichen zur Urteilsbildung. 

Ich will Sie zur Würdigung dieser Erscheinungen nicht in die Weite einer 
psychologischen Erörterung führen und mich auch da nur auf das praktisch 
Wesentliche beschränken. 

Die Armut an Vorstellungen offenbart Ihnen bei solchen Kindern jede 
Prüfung des Gedächtnisses. Sie wissen, daß das Gedächtnis sonst gerade bei 
Kindern seine Glanzleistungen entfaltet und zwar — was für unsere Zwecke 
besonders wichtig ist — auch in der großen Gleichmäßigkeit, mit der es die 
von allen Sinnen vermittelten Eindrücke auf nimmt und auf bewahrt: das ge¬ 
sunde Kindergedächtnis enthält nicht nur alles Wesentliche des bisherigen 
Lebenskreises, sondern es ist auch im Festhalten verschiedener Eindrücke 
und Vorstellungsgruppen ganz unparteiisch verfahren. Das minderwertige 
Kind zeigt auch auf diesem Gebiet die charakteristische Note des Unausge¬ 
glichenen. Es hat in der Regel nicht ein aus allen Sinnesgebieten gleich¬ 
mäßig zusammengestelltes Gedächtnis, sondern es Uberwiegen bei ihm — 
zumeist sehr deutlich — die Erfahrungen aus einem bestimmten Sinnesgebiet: 
entweder die optischen Erinnerungen oder die Erlebnisse, die das Gehör 
eingeprägt hat, oder schließlich die Erfahrungen aus Gefühl und Bewegung. 
Diese Erscheinung, die freilich erst in genauerer Prüfung deutlich hervortritt, 
wird dem geschulten Beobachter meist auch aus dem gewöhnlichen Verkehr 
merkbar und bedeutsam. Wer sie nicht nutzbar zu machen versteht, kann 
zu derselben Erkenntnis einer abwegigen Gedächtnisbildung auch aus anderen 
einfachen Prüfungen gelangen. Einmal kann zu diesem Zweck die Fähigkeit 
zur Farbenbenennung geprüft und verwendet werden: auch da offenbart das 
minderwertige Gedächtnis fast immer beträchtliche Mängel. Noch charakte¬ 
ristischer ist eine Untersuchung aus der Fragestellung, ob die Kinder in dem 
Alter, in dem sie zur Schule kommen, nahverwandte Eindrücke in getrennten 
Bezeichnungen auseinanderhalten. Es ist sehr häufig, daß Kinder mit schlechter 
Gedächtnisbildung verschiedene Gegenstände ähnlichen oder gleichen Zweckes, 
wie Bank, Stuhl, Sessel, Sofa mit einem Ausdruck bezeichnen: es beweist 
dann unmittelbar den von meinen Ausführungen bevorzugten leichteren Grad 
geistiger Minderwertigkeit, wenn sie trotzdem die ihnen richtig benannten 
Gegenstände richtig anerkennen. 

Diese Erscheinungen bedeuten natürlich nicht nur Mängel des Gedächtnisses, 
sondern auch schon ein Anzeichen jener Schwäche der Vorstellungsver¬ 
knüpfung, die den zweiten großen intellektuellen Mangel geistig minder¬ 
wertiger Kinder darstellt. Diese Eigentümlichkeit, die sehr wichtig ist, läßt 
sich mit dem vielen von Ihnen wohl bekannten Assoziationsversuch auch in 
der Schule leicht prüfen: sie ergibt da dieselben Anzeichen, die Ihnen Kinder, 
die als denkfaul gelten, so oft in Ihrer Alltagsarbeit aufdrängen: große Pausen 
zwischen Frage und Antwort, die das langsame Werden der Vorstellungen 
anzeigen; das geistige Wiederkauen aus einem durch seelische Unbehilflichkeit 
bedingten Klebenbleiben an den einmal geformten Vorstellungen und schlie߬ 
lich Leistungen, die entweder die ärmlichsten, naheliegendsten und trivialsten 
Lösungen bedeuten oder aus offensichtlicher Gleichgültigkeit gegen die Frage 
abschweifen und danebenhauen. Im eigentlichen Assoziationsversuch tritt dazu 
noch die Neigung, sinnverwandte, aber nicht gebräuchliche Reaktiohsworte 


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W. Alter 


zu bilden und die Klangwirkung des Reizwortes seiner Begriffswirkung vor¬ 
zuziehen : das ist gleichzeitig ein Beweis für die auch sonst leicht feststell¬ 
bare Schwfiche der Eegriffe, die bei solchen Kindern besteht Oft arbeiten 
sie ganz geläufig mit Worten, zu denen ihnen jeder Begriff fehlt: es ist 
manchmal geradezu verblüffend, wie dann so ein Kind ein Objekt, dessen 
Bezeichnung es glatt gebraucht, gar nicht erkennt, wenn man es ihm zeigt 
oder in den wesentlichen Einzelheiten beschreibt. Diese Erscheinung, deren 
Auftreten in höheren Graden oder für alltägliche Gebrauchsgegenstände immer 
schwere Geistesschwäche anzeigt, bedeutet nebenbei in jedem Falle den Aus¬ 
druck jenes dritten intellektuellen Gebrechens, das ich oben erwähnt habe: 
des Ungenügens zur Urteilsbildung. Denn eine Urteilsbildung ist ja unter 
normalen Verhältnissen zur Herstellung des Begriffs aus der Wahrnehmung 
unerläßlich und notwendig. Diese Unzulänglichkeit der Urteilsbildung ist bei 
den minderwertigen Kindern aber nicht nur wegen der damit unvermeidlichen 
intellektuellen Einbuße belangreich, sondern auch wegen der tiefgreifenden 
Folgen, die sich aus ihr für das allgemeine Verhalten und das ganze Wesen 
solcher Kinder — sehr zu ihrem Schaden — ergeben. Das gesunde Kind 
lernt die Begriffe des Guten und Schlechten, des Rechten und Unre< hten, kurz 
das Auswerten des Moralischen — ganz ausschließlich aus Urteilsbildungen, 
die ihm durch die Erziehung nahegelegt oder aufgezwungen werden. Das 
minderwertige Kind muß also grundsätzlich — weil es zu solchen Urteils¬ 
bildungen nur in beschränktem Maße imstande ist — auch in der Ausbildung 
dieser Bewertungen minderwertig bleiben: das heißt: es muß dauernd oder 
doch unverhältnismäßig lange unmoralisch oder sittlich verkrüppelt erscheinen. 
Es ist auch da — und gerade da — sein Schicksal, verkannt zu werden und 
Strafe zu erleiden, wo es Mitleid und Erbarmen braucht: auch diese Wesens¬ 
züge der minderwertigen Kinder darf man eben nicht moralisierend betrachten; 
sie müssen unbedingt und ganz klar als Anzeichen krankhafter Eigenart, ge¬ 
würdigt und verstanden werden, wenn sie nicht nur äußerlich, sondern auch 
in ihren seelischen Voraussetzungen und nachhaltig gebessert werden sollen. 

Zu diesen Wesenszügen gehört in erster Linie die ganz außerordentlich 
große und scheinbar unausrottbare Neigung zur Lüge, die so oft bei diesen 
Kindern besteht. Sie bedeutet an sich nichts anderes als eine der oben be¬ 
tonten Übertreibungen normaler Kinderart: auch das normalste Kind vermag 
zur Zeit der Schulreife die Wahrheit noch nicht zu begreifen, weil die Aus¬ 
gestaltung seiner Bewußtseinsleistungen ihm nur eine sehr mangelhafte Re¬ 
produktionstreue gewährleistet und diese Mangelhaftigkeit noch durch über¬ 
wertige Affekte und durch eine zügellose Phantasie unterstreicht Aber das 
gesunde Kind lügt doch nur, wenn es üble Erfahrungen vermeiden will oder 
im Banne phantastischen Erlebens steht — also im wesentlichen in passiver 
Form. Das geistig minderwertige Kind lügt dagegen auch aktiv: das heißt 
auch da, wo es sich durch die Lüge weder Unliebsames erspart noch von 
phantastischen Vorstellungen durch Entäußerung befreit; es lügt nicht allein 
aus Mangel an Reproduktionstreue, sondern aus Unfähigkeit die Wahrheit 
zu sagen: weil seine schwächeren Fähigkeiten ihm den Wert der Wirklich¬ 
keit, die Realität der Dinge und der Erlebnisse belanglos und unerheblich 
erscheinen lassen. Gerade deshalb wird das geistig minderwertige Kind oft 
besonders streng getadelt und gestraft: auch da ist eine verständnisvolle Heil¬ 
pädagogik angebrachter und wirkungsvoller. Noch weit mehr gilt das von 


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Zar Erkenntnis abwegiger and krankhafter Geisteszustände bei Schnlneolingen 129 


einer anderen Eigenart, die leider immer zu der Annahme einer besonderen 
Lasterhaftigkeit verkannt wird: von dem frühzeitigen Auftreten sexueller 
Regungen. Ein solches vorreifes Geltendwerden geschlechtlicher Empfindungen 
bedeutet immer und ganz ausnahmslos ein vollwertiges Anzeichen einer un¬ 
gesunden und abwegigen Veranlagung — auch da, wo es scheinbar durch 
den schlechten Einfluß von sittlich verwahrlosten Erwachsenen oder Halb¬ 
wüchsigen herausgesetzt wird. 

Ebenso grundsfitzlicb psychopathisch, also krankhaft bedingt ist ein anderer 
Zug, der bisweilen gerade in der allerersten Schulzeit zum ersten Mal hervor¬ 
tritt: die Neigung mancher solcher Kinder zu einem planlosen und ziellosen 
Fortlaufen — gleichviel, ob einer solchen Flucht eine mehr oder weniger 
nacbfühlbare Verstimmung vorausgegangen ist oder ob sie aus heiterem 
Himmel erfolgt. Zustände der letzteren Art, plötzliche geistige und gemüt¬ 
liche Schwankungen aus einem Zustand von scheinbar ausgeglichener B Seelen- 
ruhe und Behaglichkeit bedeuten überhaupt bei jungen Kindern stets Alarm¬ 
signale seelischer Mißstände: erst in den Entwicklungsjahren wird eine jähe 
Sprunghaftigkeit der Strebungen physiologisch und belanglos. Ein eben 
solches Anzeichen von disharmonischer Entwicklung und ungesunder Vor¬ 
reife ist bei Scbulrekruten das Auftreten von Überschwänglichkeiten in Ge¬ 
fühlen und Affekten für irgendwelche — selbst für die nächststehenden — 
Personen der Umgebung. Bei gesunden Kindern steht in den Jahren, die die 
Schulzeit eröffnen, das Ich mit naiver Selbstverständlichkeit ira Zentrum des 
Lebens: deshalb ist kein gesundes Kind geneigt, einen anderen zu bewundern, 
zu verehren oder überschwänglich zu lieben. Kinder, die schon in der ersten 
Schulzeit schwärmerische Neigungen zeigen, sind abnorme Persönlichkeiten: 
der Egoismus ist eben die normale Eigenschaft des Kindes. 

Aber er trägt da in der rechten Art doch auch immer einen sehr deutlichen 
kommunistischen Einschlag: gesunde Kinder sind im Guten und im Bösen 
keine Eigenbrödler — diese fragwürdige Note deutschen Wesens entwickelt 
sich erst später —, sondern sie sind immer bereit und immer bestrebt, in 
Herdengleichheit und als Masse zu empfinden, zu leiden und zu kämpfen. 
Kinder, die dem entgegen ohne kameradschaftliche Instinkte als Einspänner 
abgeschlossen und für sich bleiben, sind Abnormitäten: eine eingehende Be¬ 
achtung wird an ihnen immer noch andere Züge abwegiger Geistesart heraus- 
-zusetzen vermögen. Später werden solche Kinder dann manchmal nicht nur 
rege Teilhaber, sondern geradezu Führer der Schülergemeinschaft: oft Führer 
zu allem Schlechten und gefährliche Gegner der Lehrer. Sie bleiben aber 
auch da meist innerlich allen anderen fremd und vereinzelt: sie schließen 
sich nur an, weil eine frühzeitig geltend werdende und in ihrem Wesen tief 
begründete Neigung zum Gegensätzlichen und Quertreiberischen rücksichtslos 
nach Betätigung drängt Das ist dann schon ein offenkundiger ethischer 
Defekt, während die fiübzeitig auftretende Neigung zu Diebstählen, die 
viele minderwertige Kinder auszeicbnet, nur eine ebensolche einseitige Über¬ 
treibung einer normalen Kindeseigenschaft darstellt, wie der Hang zum Lügen 
und Betrügen und die Neigung zur Grausamkeit, die als krankhaft bald 
durch das Fehlen jeder vorstellungsmäßigen Begründung, bald durch die Ent¬ 
stehung aus frühzeitigen Sexualverkuppelungen gekennzeichnet wird. Denn 
auch das normale und gesunde Kind besitzt gegenüber seinen Trieben und 
Gelüsten keinen Respekt vor fremdem Eigentum und vor fremdem Leiden. 

Zeitschrift I. ptdagog. Psychologie. ® 


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130 W. Alter, Zar Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen 


Das Kind lernt eben nicht durch ein selbständiges inneres Geftthl, sittlich zu 
handeln, sondern nur durch Nachahmung und aus der frühzeitig auftretenden 
Fähigkeit, Angenehmes zu schätzen und Unangenehmes zu verabscheuen. Ethik 
und Moral sind abstrakte Begriffe, und Abstraktionen vermag auch das best¬ 
veranlagte Kind erst am Anfang der Pubertät zu erfassen. Bis dahin ver¬ 
steht es nur aus dem Wert der Belohnungen und dem negativen Wert der 
Strafen zu urteilen; alle Hemmungen und Förderungen der Erziehung können 
daher nur durch diese psychologischen Mechanismen erreicht werden. 

Diese Mechanismen sind bei dem krankhaft und abwegig veranlagten Kinde 
durch die vorhin besprochene Urteilsschwäche beschränkt: das erklärt die 
moralischen Mängel solcher Kinder. Aber diese Beschränkung repräsentiert 
immer nur eine Beeinträchtigung und keine Ausschaltung der Voraussetzungen 
zur Erziehbarkeit, die von jenen Mechanismen,, gewährleistet werden. Das 
bedeutet den letzten und wichtigsten Unterschied, der diese Kinder von den 
blödsinnigen Kindern trennt: im Blödsinn sind jene Mechanismen grund¬ 
sätzlich nicht in einer solchen Gangbarkeit gegeben, daß sie praktisch nutz¬ 
bar gemacht werden können. Deshalb sind Blödsinnige nie einer Erziehung, 
sondern immer nur einer beschränkten Dressur zugänglich, die schon wegen 
ihrer ganz besonderen Ansprüche ausschließlich in Blödenanstalten getrieben 
werden sollte: auch deshalb, weil sie überall schadet, wo sie nicht unbedingt 
notwendig ist. 

Dagegen ist jene große Gruppe von im weitesten Sinne schwachsinnigen 
Kindern, die ich Ihnen in einigen Arten und Zügen zu kennzeichnen gesucht 
habe, nach jener ausschlaggebenden seelischen Beschaffenheit immer schul¬ 
fähig und unter Umständen sogar zu großen Erfolgen erziehbar —, wenn ihre 
Eigenart richtig erkannt, gewürdigt und bewertet wird. 

Die Anfänge einer solchen richtigen Erkenntnis derartiger Zustände werden 
immer in weiten Grenzen eine Leistung der Normalschule bleiben müssen: 
nur wenn Sie alle, meine Herren, auch auf diesem Gebiet das rege Interesse 
und das gewissenhafte Pflichtgefühl, das Ihr Stand allen Fragen der Volks¬ 
gesundheit entgegenbringt, zur Erfahrung anleiten und zur Wirksamkeit an¬ 
wenden, kann diesen geistig minderwertigen Kindern, die leider eine große 
und heut noch zumeist verkannte Gruppe bilden, das Recht einer verständ¬ 
nisvollen Würdigung zuteil werden. 

Eine solche verständnisvolle Würdigung kann dann schon in der Normal* 
schule sehr viel Gutes leisten: sie sichert den abnormen Kindern das Auf¬ 
merken des Lehrers und die zu ihrem Zustand rücksichtsvolle Bemessung 
der Ansprüche: sie schützt vor falscher Beurteilung und unrichtiger Behand¬ 
lung. Aber sie schützt auch den Lehrer selbst gegen den Einfluß der Er¬ 
regungen, die viele solcher Kinder jedem unorientierten Pädagogen bereiten 
können — und die oft zu üblen Folgen führen, weil gerade die geistig Minder¬ 
wertigen schärfere erziehliche Einwirkungen nicht selten durch ganz maßloße 
körperliche und geistige Reaktionen diskreditieren. Die Mehrzahl der Klagen 
wegen Überschreitung des Züchtigungsrechtes entsteht aus der Züchtigung 
von geistig Minderwertigen, die nicht als solche erkannt sind: es ist deshalb 
in gewissen Grenzen auch Selbstschutz, meine Herren, wenn Sie sich be¬ 
mühen, Ihre Kenntnisse von der Eigenart solcher Kinder und deren Erkennt¬ 
nis auszubauen und zu vervollkommnen. Auch deshalb, weil solche Kinder 
noch in anderer Beziehung Ihrem Wirken schädlich und gefährlich werden 


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William Stern, Der Formvariator 


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können: sie sind nicht nur die gegebenen Erreger aller Epidemien von geistiger 
Ansteckung, die in Schulen Vorkommen können, sondern unter Umständen 
eben auch Aufwiegler und Vergifter jener „öffentlichen Meinung“ unter den 
Schulkindern, die Sie, meine Herren, auf Ihrer Seite haben und behalten 
müssen, wenn Sie nützliche Arbeit leisten sollen. 

Aber vor allem ist die eingehende Kenntnis solcher Zustände und ihre 
möglichst weitgehende Ermittlung deshalb notwendig, weil nur aus einer 
klaren Obersicht der Sachlage die zweckmäßigen pädagogischen Einrichtungen 
betrieben und getroffen werden können. Alle diese Kinder sollten eben gar- 
nicht Objekte der normalen Schulung bleiben, sondern grundsätzlich möglichst 
ausschließlich und vor allem frühzeitig heilpädagogischen Einwirkungen unter¬ 
stellt werden: sie gehören unbedingt in Nebenklassen und Nebenschulen — 
die allerdings, wenn sie wirklich den notwendigen Ansprüchen genügen sollen, 
in zweierlei Form errichtet werden müssen: als Hilfsklassen für einfach Un¬ 
begabte und Zurückgebliebene und als Sonderklassen für krankhaft Minder¬ 
wertige. Es ist ein prinzipieller und schwerer Fehler, wenn man diese grund¬ 
verschiedenen Gruppen ohne weiteres zusammen wirft: denn bei den einfach 
Unbegabten und Zurückgebliebenen ist keine Heilpädagogik, sondern nur eine 
auf den Einzelnen eingestellte und besonders liebevoll nachhelfende Schulung 
nötig. Dagegen kann bei den krankhaft Minderwertigen die Schule nur dann 
wirklich nützliche Arbeit leisten und nachhaltig späteren Entgleisungen Vor¬ 
beugen, wenn sie sich nach den Grundsätzen der Heilerziehung aus sach¬ 
gemäßer Individualisierung der richtigen Formen und der wirksamsten Ma߬ 
nahmen bedient 

Und dieses Ziel muß eben auf jedem möglichen und aussichtsvollen Wege 
angestrebt werden, weil gerade in diesen Kindern die Keime zum Guten und 
Bösen so eng aneinander liegen und weil da die Saat des Bösen, das 
heißt die Anlagen der Krankheit, so leicht zu den schlimmsten Folgen und 
den schwersten sozialen Schäden aufwuchem können. 

Wenn Sie, meine Herren, dazu helfen wollen, solche Folgen und Schäden 
zu verhüten, dann werden Sie Ihren schönen und stolzen Beruf zur edelsten 
Vollendung krönen; denn dann werden Sie aus Lehrern der Geister Erzieher 
der Seelen und die vornehmsten Helfer in jener großen Arbeit, die durch 
Vorbeugung und Verhütung die geistige Gesundheit und damit die Kraft und 
Stärke unseres Volkes zu wahren und zu erneuern sucht. 


Der Formvariator. 

Ein Hilfsmittel zur Prüfung und Erziehung der dynamisch-geometrischen 

Raumauffassung. 

(Ans dem Psychologischen Laboratorium der Hamburgischen Universität.) 

Von William Stern. 

I. 

S'udien, die über die Prüfung der räumlichen Auffassungsfähigkeit in 
unserem Laboratorium ange*tellt wurden, führten mich zur Herstellung eines 
einfachen und handlichen Hilfsmittels, das über den ursprünglichen rein 
psychologischen Zweck hinaus auch als Lehrmittel verwendbar sein dürfte. 
Ich bezeichne es als „Formvariator“, um auszudrücken, daß es die Umwand- 

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William Stern 


lung einer geometrischen (zwei- oder dreidimensionalen) Form in mannig¬ 
fache andere Formen ermöglicht. Die Wandlungsfähigkeit unterscheidet den 
Formvariator von all den zahlreichen Modellen, die sonst zur Demonstration 
räumlicher Gebilde verwandt werden. 

Es ist ein wesentlicher Zug gewisser Begabungen, insbesondere der tech¬ 
nischen, daß man sich nicht nur ruhende Formen, sondern auch ihre Ver¬ 
schiebungen und Projektionen, ihre durch bestimmt gerichtete Kräfte be¬ 
wirkte Oberleitung in andere Formen innerlich vorstellen kann. Hier scheint 
eine bisher nicht genügend beachtete Differenzierung der geometrischen Be¬ 
gabung vorzuliegen: die stabil-geometrische Anschauungsfähigkeit (die sich 
auf ruhende Formen, ihre Teile, ihre Beziehungen usw. erstreckt), kann re¬ 
lativ gut ausgebildet sein ohne entsprechende Ausbildung dynamisch¬ 
geometrischer Leistungsfähigkeit, wie sie mit dem Formvariator 
geprüft wird. 

Zu einer näheren psychologischen Analyse dieser Fähigkeit ist hier 
nicht der Ort. Nur soviel sei gesagt, daß eine bei aller geometrischen Be¬ 
gabung zu berücksichtigende Scheidung hier besonders wichtig werden 
dürfte, nämlich die zwischen der sinnlichen Anschauungsfähigkeit und der 
logisch-konstruktiven Fähigkeit. Man nehme die folgende Aufgabe: ein un¬ 
regelmäßiges Viereck sei ohne äußere Anschauungshilfe vorgestellt. In 
welche Form kann es verwandelt werden, wenn die Seitenlängen unver¬ 
ändert bleiben, aber die Winkel beliebig verkleinert oder vergrößert werden 
kennen? Die nächste Verwandlung ist hier offenbar die in ein Dreieck, 
indem zwei benachbarte Seiten zu einer Geraden gestreckt werden. Bei 
einer so leichten Aufgabe ist das Finden dieser Antwort zweifellos auf rein 
logischem Wege möglich; das bloße unanschauliche Wissen um Längen und 
Winkelstreckung genügt dazu. Aber es ist auch möglich, daß man die 
Lösung wesentlich durch innere Anschauung findet: sei es rein visuell, 
indem man das Viereck aus der Ausgangsform durch Streckung allmählich 
in das Dreieck übergehen sieht, sei es mit Zuhilfenahme motorisch-kin- 
ästhetischer Anschauung, indem man den Bewegungsakt des Gerade¬ 
biegens der beiden Schenkel innerlich vorstellt. Vermutlich wirkt bei allen 
derartigen Leistungen beides zusammen; festzustellen, wie dies geschieht, 
wird Sache künftiger generell-psychologischer Untersuchung sein. Differentiell¬ 
psychologisch aber ist zu bemerken, daß der Anteil des visuellen, des 
motorischen und des unanschaulichen Faktors von Mensch zu Mensch stark 
variieren kann. Die sich hier ergebenden Typen und Gradabstufungen, ins¬ 
besondere auch die Möglichkeit der Kompensation einer geringeren Visualität 
durch logisch-konstruktive Hilfen bedürfen wiederum eigener Untersuchung. 
Bei diagnostischen Feststellungen über die Leistung der dynamisch-geometri¬ 
schen Auffassungsfähigkeit darf man sich jedenfalls nicht begnügen mit 
der Feststellung der Lösung oder Nichtlösung bei einem aufgegebenen Test; 
die Lösung muß vielmehr in ihrer psychologischen Struktur noch besonders 
gewürdigt werden. 

Didaktisch kann die bewegliche Form dazu dienen, die verschiedenen 
Inhalte des Geometrieunterrichts auseinander zu erzeugen, wie auch die 
Fähigkeiten des Schülers zu geometrischer Auffassung systematisch zu 
entwickeln. Wird nun gar der Formvariator nicht nur vom Lehrer zum 


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Der Formvariator 


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Vorzeigen benutzt, sondern dem Schüler selbst in die Hand gegeben (was 
bei Massenanfertigung künftighin möglich sein dürfte), dann kann die Ver¬ 
bindung von manueller Selbsttätigkeit mit optischer Anschauung in einem 
bisher nicht möglichen Mafie dem Raumlehreunterricht dienstbar gemacht 
werden. Damit ist aber zugleich — durch die Möglichkeit, sehr verschiedene 
Wandlungsaufgaben zu stellen — auch der intellektuellen Selbsttätigkeit ein 
weiter Spielraum gegeben. 1 ) 

Der Grundgedanke des Formvariators besteht darin, daß ein Raumgebilde 
aus starren, aber völlig gelenkig miteinander verbundenen Stäben 
hergestellt wird. Jeder Stab kann also gegen jeden anderen, mit dem er 
an einer Ecke zusammenstößt, beliebig nach allen drei Dimensionen gedreht 
werden, ohne aber die Verbindung mit ihm zu verlieren. Eine Grenze der 
Verschiebbarkeit ist nur dadurch gegeben, daß erstens die Länge der Stäbe 
unveränderlich ist und daß zweitens die Verschiebung des Stabes a gegen b 
nicht nur von diesen beiden Stäben, sondern auch von der ebenfalls un¬ 
lösbaren Verbindung jedes der beiden mit anderen Stäben c, d usw. ab¬ 
hängig ist 

Theoretisch können natürlich unzählige zwei- und dreidimensionale Raum¬ 
gebilde als Variatoren hergestellt werden. Doch wird sich sehr bald nach 
dem Höchstmaß der psychologischen und pädagogischen Verwendbarkeit 
eine enge Auslese heraussteilen. So werden alle Formen, die Dreiecke ent¬ 
halten, auszuscheiden sein, da das Dreieck selbst bei völliger Beweglichkeit 
in den Gelenken unwandelbar ist (jede Verschiebung hätte nämlich Streckung 
oder Kürzung von Dreieckseiten zur Folge, was bei starren Stäben un¬ 
möglich ist). 

Als zweidimensionale Form, die etwa für den Anfangsunterricht in der 
Raumlehre in Betracht kommt, wäre das regelmäßige Achteck zu benutzen. 
Aus ihm lassen sich Dreiecke und Vierecke verschiedener Art, Sechsecke, 
drei- und vierstrahlige Sterne usw bilden. Unvergleichlich mannigfacher 
ist aber die dreidimensionale Form des Würfels; auf ihn beschränken sich 
die folgenden Betrachtungen. 


H. 

Ein solcher „Variatorwürfel“ 2 ) ist ein Gerüst aus zwölf 10cm langen 
Holz- oder Metallstäben, die durch elastische Eckenverbindungen miteinander 
gelenkig verknüpft sind. Bekommt man einen solchen Würfel in die Hand, 
so ist seine proteusartige Beweglichkeit geradezu überraschend; unwillkürlich 
erzeugt man immer wieder neue Formen, und willkürlich lassen sich Auf¬ 
gaben von verschiedenstem Schwierigkeitsgrad daran lösen. 

Mit dem Würfel sind drei verschiedene Verfahrungsweisen vorzunehmen, 
die je nach dem psychologischen, psychotechnischen oder didaktischen Zweck 
entweder einzeln angewendet oder miteinander verbunden werden. 

1. Die Vorstellungsmethode. Sie stellt fest, wie weit geometrische 
Wandlungsaufgaben ohne Anschauungshilfen gelöst werden können. Mit 

') Daß der Formvariator auch in der Reihe der Spielzeuge eine Rolle spielen könnte, sei 
nur nebenbei erwähnt. 

*) Musterschutz angemeldet. Anfragen sind vorläufig zu richten an die Werkstatt des 
Laboratoriums, Hamburg, Domstr. 5. 


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William Stern 


einer solchen Probe sollte jede psychologische und didaktische Verwertung 
beginnen, noch ehe der Würfel oder eine andere Variatorfigur bekannt 
geworden ist. Freilich muß man hier mit ganz einfachen Aufgaben an¬ 
fangen, und auch für diese wird bei den weitaus meisten Prüflingen sehr 
bald die Grenze erreicht sein; man muß dann zu den anderen Verfahrungs- 
weisen übergehen, die aber möglichst immer mit erneuten Anwendungen 
der Vorstellungsmethode verbunden sein sollten. 

Vorstellungsaufgaben können in drei typischen Frageformen auftreten: 

a) Kann aus dem Würfel ein Dreieck (Sechseck usw.) hergestellt werden? 

b) Welche Figur entsteht, wenn der Würfel so und so verschoben wird? 

c) (nach Lösung von a) oder b). Wie ist die „Stabbesetzung“ ? d. h. wie¬ 
viel Stäbe liegen bei den einzelnen Figurseiten aufeinander? — Auf¬ 
gabe c) ist aus dem Kopf nur bei sehr leichten Aufgaben a) und b) 
lösbar und verrät bei richtiger Lösung eine hohe geometrische Vor¬ 
stellungsfähigkeit. 

Die Prüfung mit der Vorstellungsmethode wird zur Zeit im psychologischen 
Laboratorium etwa in folgender Weise vorgenommen (die Anweisung ist von 
Herrn Dr. R. Peter und Frl. Stadelmann ausgearbeitet): 

Denke Dir ein Dreieck aus festen Stäben gebildet! Denke Dir ein auf gleiche Weise ge¬ 
bildetes Viereck oder Fünfeck oder Sechseck. Die festen Stabe, die die Seiten dieser Vielecke 
bilden, sollen an den Ecken durch bewegliche Gelenke verbunden sein; so, wie wir es hier 
bei diesem Zirkel sehen. 

Dann kann man in manchen Fällen durch Verschieben aus den Vierecken andere Vier¬ 
ecke bilden. 

1. Kann man ein so gebildetes Dreieck verschieben? 

2. Kann man ein so gebildetes Viereck verschieben? 

3. Zeichne ein Viereck, das zu einem Dreieck verschoben werden kann. 

4. Zeichne ein Viereck, das nicht zu einem Dreieck verschoben werden kannl 

Denke Dir aus sechs festen Stäben eine dreiseitige Pyramide gebildet. In den Ecken sind 
die Stäbe durch allseitig bewegliche Gelenke verbunden. 

5. Kann man durch Verschieben aus dieser dreiseitigen Pyramide eine neue Figur erhalten? 
Begründung angeben. 

6. Denke Dir einen Würfel aus Stäben mit Gelenken an den Ecken. Er steht mit einem 
seiner Quadrate auf dem Tisch. Eine Seitenfläche ist Dir zugekehrt. Die Grundfläche bleibt 
in ihrer Lage. Die senkrechten Kanten werden seitlich geneigt (entsprechende Bewegung), bis 
sie wagerecht liegen. Was für eine Figur entsteht dann? 

Zeichne diese Figur und gib an, wie die Stäbe des Würfels auf die Seiten der Figur ver¬ 
teilt sind. 

7. Denke Dir in dem eben beschriebenen Würfel zwei gegenüberliegende Ecken durch eine 
Raumdiagonale verbunden. Schiebe dann diese gegenüberliegenden Ecken auf der Raumdiago¬ 
nale gegeneinander, bis sie sich in der Mitte treffen. Was für eine Figur entsteht dann? 

2. Die Anschauungsmethode. Versagt der Prüfling bei der Forderung, 
rein im Kopf die Verschiebungen vorzustellen, so zeigt man einen Variator, 
aber noch ohne ihn vom Prüfling selbst benutzen zu lassen. Schon 
der bloße Anblick des unbewegten Variators kann eine beträchtliche Hilfe 
bedeuten; von der sichtbaren Ausgangsfigur aus können die Verschiebungs¬ 
figuren nun leichter in der Vorstellung realisiert werden. Augenbewegungen, 
welche die imaginären Drehungen und Richtungsänderungen der Stäbe be¬ 
gleiten, vorgestellte Projektionen auf die sichtbare Tischfläche usw. erleichtern 
die Lösung. So ist z. B. die Aufgabe: „Was wird aus dem auf die Spitze 
gestellten Würfel, wenn er platt gedrückt wird?“ (Antwort: ein Sechseck; 
nur für ganz wenige Menschen rein aus der Vorstellung lösbar; ganz anders. 


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Der Formvariator 


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wenn der Experimentator oder Lehrer den Wfirfel ruhig so hält, daß nur 
eine Ecke den Tisch berührt, und nun den von oben auf die obere Spitze 
ausgeübten Druck vorstellen läßt. Eine noch stärkere Hilfe besteht natürlich 
darin, daß der Prüfer oder Lehrer die Ausführung irgendeiner Aufgabe 
(z. B. Umklappen des Würfels zum Rechteck) Vormacht, und nun bei der 
nächsten Aufgabe wieder die Losung in der Vorstellung oder aus der 
ruhenden Anschauung heraus fordert. 

3. Die Herstellungsmethode. Hier wird nun der Variator dem Prüf¬ 
ling oder Schüler selbst in die Hand gegeben, sei es zu spontaner Betätigung, 
sei es mit vorgeschriebenen Aufgaben. Überläßt man ihm selbst, damit zu 
hantieren, so ist es besonders lehrreich, wie groß die Anzahl und Ver¬ 
schiedenheit, Kompliziertheit und Eigenart der Formen ist, auf die er von 
selbst k(mmt. Stellt man bestimmte Aufgaben, so kann man — je nach 
der psychologischen oder pädagogischen Absicht — den Schüler ganz allein 
die Lösungen finden lassen, oder sie ihm vormachen, oder sogar die einzelnen 
Handgriffe schrittweise mit ihm zugleich ausführen. Sowohl beim spontanen 
wie reaktiven Verhalten kommt es übrigens nicht nur auf die Ergebnisse, 
also die konstruierten Endformen, sondern auch sehr auf die Arbeitsweise 
au: ob sich Systematik oder Sprunghaftigkeit oder Perseveration zeigt, ob 
sich der Prüfling auf den Zufall verläßt oder mit intuitiver Sicherheit auf 
die Lösung zusteuert oder logisch-konstruktive Hilfen verwendet 


III. 

„ Aufgaben und Lösungen. 

Um die konkrete Verwendung des Würfels zu ermöglichen, nennen wir 
zunächst eine Reihe von typischen Gebilden, die aus ihm herzustellen sind 
(vgl. die Abbildungen S. 136). 

Der Leser möge sie als Aufgaben betrachten und selbst ihre Lösung 
versuchen, ehe er die weiter unten gegebenen Beschreibungen der Haupt¬ 
lösungen nachliest a bedeutet die Länge einer Würfelseite. Die den Figuren 
beigesetzten kleinen Ziffern geben die Stabbesetzung der einzelnen Figuren¬ 
seiten an. Die gesperrt gedruckten Bezeichnungen stellen besonders interessante 
und schwierige Aufgaben dar. 

A. Ebene Gebilde. Quadrat mit ungleicher Stabbesetzung (ü), Quadrat mit gleicher Stab¬ 
besetzung (HO. Rbomboid, Rhombus (XVI), Dreieck (XII), Sechseck iXVill), Viereck mit 
angesetztem Stiel (Xm), Kreuz (IX), Gerade von den Lingen 8a (V) oder 2a oder a. 

B. Raumgebilde. Gerade nnd schiele vierseitige Prismen. Dreiffifiiges Stativ (XXI), 
Laterne <XX), Adventstern (XIX), Biscbofsmfitze iXXIIi. vierseitige Pyramide (XXIV), Te¬ 
traederzwilling (2 dreiseitige Pyramiden, die eine Kante gemeinsam haben (XXIII). 2 aut 
der Spitze stehende aufeinander senkrechte Quadrate mit gemeinsamer Diagonalachae, die 
aber nur imaginir ist (nicht durch Stfibe repräsentiert wird, XXV). 

Zn A: Erzeugung der Flächengebilde. 

Die ebenen Figuren sind entweder von WSrfelseiten oder von Wflrfelecken her zu erzeugen. 
Drückt man gegen eine Seitenfiäcl e des Würfels und klappt ihn bis zur Ebene, so entsteht ein 
Rechteck mit den Seitenlängen a und 2 a (1). Dieses IBßt sich durch Winkelverscbiebungen in 
der Ebene znm Rhomboid wandeln und schließlich bis zu einer Geiaden von Sa Länge strecken. 
(V. Die Gerade bat in ihren drei Teilen die Stabbesetzungen 8, 6, 8.) 

Gebt man nochmals vom Rechteck ■!) aus, das aus zwei Quadraten besteht, so kann man 
diese zusammenklappen, und es entsteht ein Quadrat mit der Stabbesetzung 2 , 4,2, 4 (II). Dies 


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William Stern, Der Formvariator 


Quadrat kann durch Winkelverschiebung zum Rhombus und schließlich zur Geraden von der 
Länge 2a und der Besetzung 6, 6 verwandelt werden. 

Der andere Ausgang ist von den Ecken her, und zwar geht man hierbei von zwei am weitesten 
entfernten Ecken aus, also solchen, die an den Polen einer Raumdiagonale liegen. Zieht man 



Dreidimensionale Darstellung. 



an diesen Ecken den Würfel auseinander, so erhält man direkt die Gerade 3 a (V. Besetzung 3, 
ß, 8), die oben anders konstruiert wurde. Drückt man dagegen die Ecken aufeinander (d. h» 
drückt man den Würfel in der Richtung der Raumdiagonale platt), so entsteht das reguläre 
Sechseck (XV111). 

Besondere Besprechungen erfordern das Dreieck (XII) und das gleichbesetzte Quadrat (IO). 


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Aloys Fischer, Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik 


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Tritt man an einen unvorbereiteten Prüfling mit der Dreieckaufgabe heran, so versagt er meist; 
er hftlt nicht nur in der Vorstellung ihre Ausführung für unmöglich, sondern bekommt auch 
die Lösung mit dem Würfel in der Hand nicht zustande. Und dabei ist sie außerordentlich 
einfach; man muß erst die Gerade (V) von der Länge 8a erzeugen und nun die beiden äußeren 
Thilo des Gebildes gegeneinander neigen, wodurch das gleichseitige Dreieck (XII) mit den 
Seitenlängen a und der Besetzung 8, 6, 8 entsteht Ein umständlicherer Herstellungsweg geht 
vom Sechseck aus; dies besteht aus sechs Dreiecken, die man durch Aufeinanderklappen schließlich 
zu einem Dreieck verwandeln kann. 

Ebenso interessant ist das Quadrat mit gleicher Besetzung (UI). Es wird von den meisten 
nicht gefunden, weil hierzu ein sonst nicht vorkommender Handgriff gehört: die Drehung einer 
ganzen Fläche gegen eine andere. Man muß vom stehenden Würfel ausgehen und die obere 
Fläche, ohne ihre horizontale Lage zu verändern, in sich um 90 Grad drehen, während man 
die Unterfläche festhält: dann senkt sich die Oberfläche auf die untere, und die vier senkrechten 
Kanten legen sich auf je eine Seite der unteren Fläche, damit hat jede Seite des entstehenden 
Quadrats drei Stäbe. 

Zu B: Erzeugung der Haumgebilde. 

Daß durch seitlichen Druck der Würfel in die verschiedensten geraden und schiefen Prismen 
verwandelt werden kann, ist ohne weiteres klar. 

Wird in einem solchen Prisma die obere Grenzfläche bis zum Zusammenfallen je zweier 
Stäbe zusammengedrückt, während die untere unverändert bleibt, so entsteht die »Bischofs¬ 
mütze* (XXII). 

Besondere Formen entwickeln sich, wenn man wieder von den Ecken ausgeht Wird eine 
einzige Ecke zusammengedrückt zu einem dreifach besetzten Pfahl, während die übrigen Stäbe 
auseinanderklaffen, so gibt es eine „Laterne* (XX). Regelmäßige Gebilde eigentümlicher Art 
entstehen durch gleichmäßige Behandlung von vier alternierenden Ecken. Man muß vier Ecken 
answählen, indem man von einer Ecke in den Flächendiagonaien zu drei anderen Ecken fort- 
schreitet Macht man diese vier gleichzeitig spitzer, so findet bei den vier anderen Ecken die 
ftrtgegengesetzte Veränderung statt, sie werden stumpfer und stumpfer und schlagen schließlich 
um in konkave Ecken, ln diesem Augenblick haben wir den vierzackigen »Adventsstern* (XIX) 
gewonnen. Wird weiter fortgefabren, bis die zugespitzten Ecken zu vier Pfählen geworden 
sind, dann bildet die Figur ein dreifüßtges Stativ (XXI). 

Eine andere Gruppe von Formen sind aus dem zum Sechseck plattgedrückten Würfel (XVIH) 
abzuleiten. Hält man den Mittelpunkt des Sechsecks fest, so daß die dort zusammentreffenden 
Strahlen nicht auseinanderfallen, hebt aber die Ränder, so entsteht ein tütenartiges Gebilde 
(XXIX). Klappt man eine Ecke des Sechsecks auf die ihr gegenüberliegende hinüber, so ist 
der Tetraederzwilling (XXIHt erreicht- Mit zu den schwersten Aufgaben gehört die vierseitige 
Pyramide (XXIV). Man klappt eine Ecke des Sechsecks zur zweit nächsten Ecke (also nicht 
zur symmetrischen) hinüber. Dann entsteht zunächst eine pyramidenförmige Tüte mit einem 
zweigliedrigen Henkel (XXVH). Dieser Henkel wird nun gegen die eine Tütenseite umgeklappt, 
und die gewünschte Form ist erzielt 

Ebenfalls sehr schwer sind die zwei auf der Spitze stehenden, zueinander senkrechten 
Qnadrate (XXV). Man findet den Zugang zu ihnen von dem Quadrat mit gleichbesetzten 
Seiten (III), das an sich schon schwer zu finden ist Stellt man dies Quadrat auf eine Spitze, 
so lassen sich nun ohne weiteres je ein halbes Quadrat nach rechts und nach links heraus¬ 
klappen, während das ursprüngliche Quadrat in der Besetzung 2, 1, 2, 1 bestehen bleibt 


Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik. 

Von Aloys Fischer. 

(Schluß.) 

Die Ausbildung für den Volksschuldienst wird künftig, wenn die 
Forderung der Reichsverfassung durchgeführt wird, auf eine Vorbildung durch 
die bestehenden oder eine neue, den bestehenden gleichwertige und gleich¬ 
berechtigte höhere Schule aufbauen können. Für ihre Ausgestaltung scheinen 
mir maßgebend sein zu müssen a) der aus der Vergangenheit der Lehrer- 


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Aloys Fischer 


bildung zu bewahrende Gedanke der tätigen und fibenden Einführung in die 
Praxis der Schule; b) der aus den Diskussionen der Gegenwart wohl zu 
einstimmiger Annahme gelangte Gedanke eines wissenschaftlichen Studiums 
der Pädagogik, zu dem künftig Alter und Vorbildung durchaus gegeben sein 
werden, und c) der Gedanke des Studiums von mindestens einer Fachwissen¬ 
schaft, die mit den Lehr- und Erziehungsaufgaben der allgemeinen Pflicht¬ 
schulen in innerem Zusammenhang steht. 

Nach Pressenotizen') scheint mir die in Sachsen geplante Regelung als 
der bemerkenswerteste Vorschlag, wonach das wissenschaftliche Hoch¬ 
schulstudium der Volksschullehrer mindestens sechs Semester dauert und Päda¬ 
gogik, Philosophie und Staatsbürgerkunde als Pflichtfächer umfaßt, die prak¬ 
tische Ausbildung daneben in einem selbständig neben der Hochschule be¬ 
stehenden pädagogischen Institut erfolgen soll. Für Württemberg 2 ) hat der 
erziehungswissenschaftliche Ausschuß des württembergischen Lehrerbundes 
einen Entwurf Gustav Deuchlers vorgelegt, der, bis ins einzelne überlegt, 
eine dreijährige Studiendauer für erforderlich hält und auf der Kombination 
der theoretischen Arbeit in der Erziehungswissenschaft mit ihren Voraus¬ 
setzungen, praktischer Ausbildung und des Studiums einer Fachwissenschaft 
oder eines Sondergebietes beruht. 

Ohne auf die Berührungen mit diesen oder verwandten Plänen im einzelnen 
einzugehen, möchte ich einen auf drei Jahre berechneten Ausbildungsgang 
für Volksschullehrer vorlegen. 

Im ersten Halbjahr: 

1. Geschichte der pädagogischen Ideen und Zustände im Oberblick (4 Stunden), 

2. vertieft durch seminarische Übungen an einschlägiger klassischer Lite¬ 
ratur (2 Stunden). 

3. Grundzüge der Psychologie (4 Stunden). 

4. Pädagogischer und didaktischer Anschauungsunterricht: Einführung in 
die Erziehungs- und Bildungseinrichtungen am Hochschulort mit vorbereiten¬ 
den und anschließenden Erläuterungen und Besprechungen. 

5. Volkswirtschaftslehre. 

Im zweiten Halbjahr: 

1. Allgemeine Geschichte der Philosophie. 

2. Ethik und Kulturphilosophie. 

3. Fortsetzung des pädagogischen und didaktischen Anschauungsunterrichts, 
Schulbesuche in allen Klassen und Fächern einer vollausgebauten Volksschule. 

4. Pädagogische Psychologie mit angeschlossenem Praktikum. 

5. Staatsbürgerkunde. 

Vom dritten Halbjahr an tritt neben die Beschäftigung mit den er¬ 
ziehungswissenschaftlichen Fächern die Einführung in die Praxis der Volks¬ 
schularbeit an einem pädagogischen Berufsinstitut in Verbindung mit einer 
Obungsscbule unter reichlicher Heranziehung des Kandidaten zu versuchs¬ 
weiser eigener Lehrtätigkeit. 


') „Die deutsche Schule“ 1921 (Juniheft), die „Allgemeine deutsche Lehrerzeilung“ 1921 Nr. 28 
bringt Mitteilungen über ähnliche Pläne in Braunscbweig. 

*> Vgl. Gustav Deuchler, Ober Lehrerbildung. Leitsätze des erziehungs wissenschaftlichen 
Ausschusses des württembergischen Lehrerbundes (diese Zeitschrift 1921, S.843L). 


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Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik 


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An der Hochschule selbst werden die theoretischen Studien fortgesetzt, 
und zwar folgt auf die philosophisch-psychologische und historische Vor¬ 
bereitung jetzt 

1. Systematische Grziehungs- und Unterrichtslehre. 

2. Pädagogische Obungen. 

3. Geschichte der Volksschule. 

Im Institut wäre zu behandeln 

a) Lehrstoff- und Lehrmittelkunde des Volksschulunterrichts. 

b) Zuteilung an einen Obungsschullehrer zu genauerer Erkenntnis der 
stofflichen und methodischen Vorbereitung und Durchführung des einschlägigen 
Pensums, zu dauerndem Hospitieren in dessen Unterricht und zu gelegent¬ 
licher Mithilfe. 


Im vierten Halbjahr folgt im theoretischen Studiengang 

1. Die Methodik und Didaktik des Volksschulunterrichts. 

2. Wissenschaftliche Übungen zur Theorie des Lehrplans und zur Methodik. 

3. Schulgesundheitslehre. 

Im praktischen Teil der Institutsausbildung wird 

1. die Behandlung der Schulstoffe und Lehrmittel der Volksschule fort¬ 
gesetzt, besonders erweitert 

2. nach der Seite der. Heimat- und Volkskunde. 

3. In der eigenen Lehrtätigkeit hat der Übergang von der Rezeption und 
Mitarbeit zum eigenen Lehrversuch zu erfolgen: Ausarbeitung von Lektionen, 
Probelektionen, Ausarbeitung und pädagogische Verwertung gemachter Be¬ 
obachtungen und Erfahrungen. 

Das fünfte Halbjahr hätte im theoretischen Unterricht zu behandeln: 

1. Die Volksschulkunde (die Arten und Organisationsformen der heutigen 
Volksschule usw.) (Schulgesetzeskunde, Scbulverwaltungsrecht, Schulleitung). 

2. Überblick über das höhere Schulwesen, sowie das Fach- und Berufs¬ 
schulwesen zur Ergänzung. 

3. Die vertiefende Bearbeitung der allgemeinen Erziehungs- und Unterrichts¬ 
lehre. 

Im übrigen bliebe im fünften und sechsten Halbjahr Zeit für den gesam¬ 
melten Betrieb des gewählten Fachstudiums. 

In der praktischen Ausbildung (Meisterlehre) käme m. E. mit dem fünften 
Halbjahr die noch geleitete, im Dienst der Ausbildung stehende ganze oder 
teilweise Übernahme einer Schulklasse, das Schulpraktikantenjabr. 

Im sechsten Halbjahr könnte das theoretische Studium neben der Dienst¬ 
leistung als Praktikant vorzugsweise der Vorbereitung auf die als Abschluß 
nicht wohl vermeidliche Anstellungsprüfung ausgestaltet werden. 

Daß sich ein etwa in dieser Form aufgebauter Lehrerbildungsgang zweck¬ 
mäßig nur an einem Hochschulort verwirklichen läßt, liegt auf der Hand; 
sollte es in Deutschland aus materiellen oder politischen Gründen zu einer 
Teilung der theoretischen und praktischen Ausbildung kommen müssen, so 
wäre ra. E. das Hochschulstudium mit seinen theoretischen Zielen auf zwei 
Jahre zusammenzudrängen und mindestens von einem pädagogischen An¬ 
schauungsunterricht zu begleiten, die praktische Ausbildung in einer Art 
Meisterlehre an einem pädagogischen Institut oder an einer Übungsschule nach 
Abschluß der Studien in der Dauer mindestens eines Jahres durchzuführen. 


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Aloys Fischer 


Für die Berufsausbildung von Lehrern an höheren Schulen könnte 
an die bestehenden Einrichtungen angeknöpft werden. Nach meinem Dafür¬ 
halten trifft die bayrische Prüfungsordnung für das höhere Lehramt mit einer 
Forderung unbedingt das Richtige: mit der Forderung eines mindestens drei¬ 
jährigen Fachstudiums. Nun beträgt die gesetzliche Studienzeit im ganzen vier 
Jahre; es ist die Frage, ob das vierte Studienjahr (der Zeit nach wohl als das erste 
an der Hochschule zu betrachten) nicht zweckmäßig für Auslese und Vorbereitung 
auf die pädagogische Seite des künftigen Lehrberufs ausgenützt werden könne. 
Ich möchte dies jedenfalls vorschlagen und empfehlen, denn erfahrungsgemäß 
pflegt ein größerer Teil unserer Kandidaten sich heute ohne jede Orientierung 
auf den Gelehrten einzustellen und erlebt den Übergang von der Hochschule 
in die Schulstube des Gymnasiums oder der Oberrealschule als eine schwere 
und enttäuschende Umstellung. Die vielfach noch bestehende Vorschrift, die 
vom Lehramtskandidaten den Ausweis über eine gewisse Zahl außerhalb 
seiner Fächer liegender sogenannter philosophischer Vorlesungen verlangt, böte 
eine weitere Möglichkeit, hier stärker auf eine Richtung des Denkens und 
Wollens zum Erzieherischen hinzudrängen. Ich verkenne nicht, daß ein 
Altphilologe, Neuphilologe und Deutschphilologe nicht an der Geschichte der 
Philosophie Vorbeigehen kann, auch Logik und Methodenlehre, Ethik und 
Kulturphilosophie scheinen mir je nach Umständen zur Fundierung und Ver¬ 
tiefung der fachlichen Studien, zur Weitung des Horizonts schlecht entbehrlich. 
Aber wie ich aufgezeigt habe, stehen derartige Vorlesungen auch in einiger 
Wechselwirkung mit pädagogischen; eine Zersplitterung und Überlastung wird 
vermieden, wenn dieser Zusammenhang sorgfältig beachtet und ausgebaut wird. 

Aus solchen Erwägungen heraus möchte ich vorschlagen, daß auch der 
Kandidat für das höhere Lehramt im ersten Jahr Pädagogik studieren solL 
Wenn ich die wesentlichen für ihn empfehlenswerten Teilgebiete wieder 
einzeln und unter Verteilung auf die beiden Halbjahre bezeichne, so bitte 
ich dabei nicht zu übersehen, daß in dieser Zeit sowohl Vorlesungen zur 
allgemeinen Geistesbildung wie auch einführende Vorlesungen aus dem Ge¬ 
biet der Fachstudien entfallen sollen; ich beschränkte mich daher auf ein 
Minimum von Vorlesungen für die pädagogische Bildung. 

Im ersten Semester scheint mir a) Geschichte der Erziehung und Er¬ 
ziehungswissenschaft wünschenswert oder einer ihrer großen Abschnitte. Die 
Altphilologie wird dabei den Nachdruck auf die auch in den griechischen und 
römischen Privataltertümern und in der Geschichte der nationalen Literaturen 
von Hellas und Rom wichtige antike Pädagogik den Nachdruck legen oder — 
dies gemeinsam mit jedem Anwärter für das Lehramt an höheren Schulen — 
die pädagogische Entwicklung seit dem Beginn der neueren Zeit vorzugsweise 
betonen, in deren Mittelpunkt ja bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts die 
höhere Schule stand. Verbindet der Studierende diese pädagogische Vorlesung 
mit entsprechenden aus dem Gebiet der Geschichte der Philosophie, der Kultur-? 
Philosophie oder der Kulturgeschichte, so wird er sich eine hinlängliche 
Orientierung über die geschichtliche Seite der Erziehung erarbeiten können. 
Die Teilnahme an einer pädagogischen Seminarübung im ersten oder besser 
im zweiten Semester wird zur Vertiefung beitragen. Jedenfalls aber müßte 
mit den theoretischen Studien b) die Teilnahme an dem einführenden päda¬ 
gogischen Anschauungs- und Demonstrationsunterricht verbindlich sein, da¬ 
mit der Kandidat selbst einen Augenschein des pädagogischen Tuns und Klar- 


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Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik 


141 


heit Aber seine persönliche Eignung dafür gewinnt. Unter Umständen reichen 
diese Erfahrungen und Einsichten schon zu, eine Berufswahl zu korrigieren; 
jedenfalls tragen sie dazu bei, in den folgenden Zeiten überwiegenden oder 
ausschließlichen Fachstudiums das pädagogische Berufsziel nicht aus dem 
Auge zu verlieren. Im zweiten Semester käme a) eine systematisch-päd¬ 
agogische Vorlesung, entweder System der Pädagogik im Umriß oder mindestens 
allgemeine Didaktik in Betracht Wieder würde sich die eine und andere 
philosophische Disziplin, vor allem aber Psychologie, damit verbinden lassen, 
b) Eine Seminarübung mit Lektüre und Interpretation einer der großen Klas¬ 
siker der Pädagogik könnte für die Anregung zu kritischer Vertiefung und 
Selbständigkeit sorgen. Nach meiner Ansicht dürfte die Belastung durch die 
angezeigten Disziplinen nicht so groß sein, daß nicht auch schon einführende 
Vorlesungen aus dem Gebiet der späteren Fachstudien damit verbunden 
werden können. Der Student in den erstem Semestern pflegt mit großer 
Arbeitsfreude und Aufsaugungsfähigkeit sich beträchtlich viele Wochenstunden 
aufzuladen, im allgemeinen mehr, als er mit Erfolg zu hören und nachzu¬ 
arbeiten vermag. Nehmen wir an, daß ihn das pädagogische Studium in 
jedem Semester mit sechs Stunden belastet (vier Vorlesungsstunden, zwei 
Seminarstunden bzw. Anschauungsunterricht), so bleibt sicher Raum genug 
für die im Interesse seiner menschlichen Vertiefung, deren Notwendigkeit 
Theodor Litt so schön gezeigt hat, wünschenswerten philosophischen, 
aUgemein-geiBtesgeschichtlichen Studien und für eine erste, überblicksmäßige 
Orientierung auf dem gewählten Fachgebiet. Die künftigen Lehrer an 
höheren Schulen könnten in der grundlegenden pädagogischen Arbeit Seite 
an Seite mit den künftigen Lehrern der Volksschule stehen. 

In drei weiteren Jahren würde sich das Fachstudium anschließen; auch 
während derselben scheinen mir Zeit und Möglichkeit, das eine und andere 
Pädagogische zu treiben. Ich bin auch überzeugt, daß der Lehramtskandidat, 
wenn er einmal Interesse für das Erziehungsproblem gefaßt hat, von selbst 
sich weiter bilden will. Als Gebiete einer in der Zeit der Fachstudien noch 
zu pflegenden theoretisch-pädagogischen Ausbildung erscheinen mir wün¬ 
schenswert: 

1. Geschichte der höheren Schule. 

2. Pädagogik und Didaktik der höheren Schule in systematischer Behandlung. 

3. Spezialdidaktische Fragen im Zusammenhang mit den gewählten Fächern. 

Die der Übungsschule für Volksschullehrer entsprechende Einführung in 

die Praxis könnte nach der bisherigen Gepflogenheit, die aber künftig durch 
die pädagogische Einführung im ersten Studienjahr vorbereitet, verbessert 
und berechtigter wäre, in einem Seminarjahr nach Abschluß des Hoch¬ 
schulstudiums erfolgen. 

Die Ausbildung von Fachlehrern, technischen Lehrern und verwandten 
Speziallehrern, künftig wohl durch die veränderte Stellung der ausgebauten 
Berufs- und Fortbildungsschulen besonders wichtig, könnte nach Analogie 
geregelt werden: auch für sie wäre auf ein einführendes pädagogisches Jahr, 
das sie gemeinsam mit den künftigen Lehrern an Volksschulen und höheren 
Schulen verbringen, ein entsprechendes fachliches Studium an technischer 
Hochschule, Kunstgewerbeschule, Akademie der Tonkunst, Zentraltumanstalt, 
Akademie der bildenden Künste, Handelshochschule usw. in der erforder¬ 
lichen Dauer aufzubauen und eine Einführung in die Praxis des Unterrichts, 


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Aloys Fischer, Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik 


soweit sie noch nötig ist, in einem Probejahr, Seminarjahr, Übungsjahr oder 
wie man sonst sagen will, durch ältere schon amtierende Fachmänner emp¬ 
fehlenswert. 

Zum Schlüsse dieser Überlegungen mache ich noch darauf aufmerksam, 
daß es möglich und ökonomisch ist, die Veranstaltungen für das pädagogische 
Studium für alle Studierenden, sowohl jene mit wissenschaftlicher Endabsicht, 
wie für Lehramtskandidaten aller Art, mindestens im ersten Jahre einheitlich 
zu organisieren. Das im einzelnen aufzuzeigen, glaube ich nicht nötig zu 
haben; die vorher entwickelten Ratschläge lassen sich entweder unverändert 
oder — wie bei den Voikehrungen für die historische Pädagogik und für 
die Psychologie — unter Berücksichtigung des Unterschieds zwischen Gesamt¬ 
darstellungen und spezialisierender Behandlung miteinander verbinden. 


Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Adolph Stöhr f. Am 10. Februar des vergangenen Jahres starb im 
66. Lebensjahre der Wiener Universitätsprofessor Dr. Adolph Stöhr 
nach mehrjährigem Leiden, das er in bewundernswerter Weise ertragen 
hatte. Noch wenige Tage vor seinem Tode hielt er — im Hörsaale 
der Klinik Wenkebach — Vorlesungen und noch am 5. Tage vor dem 
Tode führte er Prüfungen seiner Hörer durch. Mit einer geradezu 
unglaublichen Willensenergie zwang er den siechen Körper, dem arbeits¬ 
willigen Geiste dienstbar zu sein, und so gab er noch vom Krankenbette aus 
zwei kleine überaus wertvolle Schriften heraus und bereitete die Herausgabe 
weiterer Werke vor. Stöhr war Professor für Philosophie und Psychologie. 
Er sollte (laut Lehrauftrages) experimentelle Psychologie dozieren, erhielt 
aber erst sehr spät einen Raum als Laboratorium zugewiesen, aber keine 
Lehrmitteldotation; er war also Experimentalpsychologe ohne Apparate hierzu. 
Die seinerzeit angestrebte Professur für Pädagogik erhielt er nicht. Trotz 
dieser mißlichen Umstände wurde er weder verbittert noch von der Arbeit 
abgehalten, aber dies erklärt es, warum wir von ihm Schriften über andere 
Gegenstände erhalten haben. Sein Hauptwerk, dessen Neuauflage er noch vor¬ 
bereitete, ist die 1917 im Verlage Braumüller erschienene Psychologie, ein 
Werk, das eine Fülle neuer Auffassungen enthält und zu den bedeutenderen 
Schriften über Psychologie, die in letzter Zeit erschienen sind, gerechnet 
werden muß. Stöhr geht vielfach eigene Wege, so z. B. stellt er eine 
neue Sehtheorie auf, er verlegt den Sitz der Empfindung in die 
Sinnesorgane selbst, also an die Peripherie, wo der Empfindungsreiz 
ist und bleibt, während in das Zentralorgan ein unempfindbarer Be¬ 
wegungsreiz weiterwandert, der die Reaktion auf das Empfundene besorgt. 
Den Empfindungsreiz denkt sich Stöhr als ein molekularphysikalisches Ge¬ 
schehen, den Bewegungsreiz als einen chemo-physiologischen Prozeß. Der 
Empfindungsreiz reicht nur soweit, als die besondere Struktur reicht „An 
der Peripherie ist allerlei möglich, was sich im Zentralorgan nicht vollziehen 
kann, weil dort die feinen Apparate fehlen.* „Operative Eingriffe in das 
Gehirn werden weder von Schmerz- noch von anderen Empfindungssymptomen 
begleitet, während für operative Eingriffe in die Peripherie das Gegenteil gilt.** 


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Die Bewegungsreize bewirken entweder Muskelkontraktion oder Drüsen- 
Sekretion oder eine Änderung des Blutdruckes, je nachdem, ob sie den Reiz 
an Muskeln, Drüsen oder an die feinen Muskeln der Blutgefäße abgeben. 
Bewegungsreize, die in den Sprachapparat eintreten, bewirken sprechmoto¬ 
rische Änderungen. Gehen später Bewegungsreize rückläufig durch den 
Hmterhauptslappen zum Sehorgan, so erleben wir, wenn sie in gleicher Stärke 
auftreten, wie seinerzeit bei der Aufnahme, eine Halluzination; ist die 
Stärke der rückläufigen Reizung geringer, dann haben wir ein optisches 
Traumbild; ist sie ganz gering, so entsteht eine optische Vorstellung. 
Die Reizleitung steht in einem Ventilverhällnis, erfolgt die Ausladung in 
motorischen Gebieten, so sinkt der Gemütsdruck; erzwunge Ruhe steigert 
den Gemütsdruck, weil die Reize hier enden. 

Stöhr, der zahlreiche Sprachen beherrschte, hat sich sehr eingehend mit 
Sprachpsychologie befaßt und auch hier Großes geleistet. 

Für die Pädagogik gewinnt Stöhr zunächst als Psychologe be¬ 
sondere. Bedeutung. Der frühere Herausgeber der Zeitschrift „Experi¬ 
mentelle Pädagogik“ Professor Dr. W. A. Lay hat dies in der neuen Auflage 
der Experimentellen Didaktik 1 ) besonders betont. Die Stöbr’sche Psycho¬ 
logie ist für den Lehrer in ganz besonderer Weise fruchtbar. Sie eignet 
sich zum Verständnis und zur theoretischen und praktischen Ausgestaltung 
unserer Pädagogik und Didaktik wie keine andere. Stöhr hat pädagogische 
und didaktische Fragen nicht häufig behandelt; in seinem Nachlasse finden 
sich aber Vorträge, die er seinerzeit am Wiener Pädagogium gehalten hat und 
die hoffentlich bald veröffentlicht werden können. Ebenso enthält der Nachlaß 
Vorlesungen über Ethik, deren Veröffentlichung ebenfalls für die Pädagogik 
bedeutsam wäre. 

In seinen beiden letzten Werken, die uns Stöhr als Erforscher der 
pathogonen Philosophie zeigen, liegt ebenfalls manche Anregung für den 
Pädagogen. Nach Stöhr, der ja als Metaphysiker, d. h. als Konstrukteur 
von Theorien, durch welche die Erfahrung im Sinne der Erfahrung aus¬ 
gebaut wird, ein besonderer Künstler war, gibt es zweierlei Philosophien. 
Die theorogonen suchen die Welt zu erkennen, die pathogonen das Leid 
der Menschen zu überwinden. 

Ein pathogoner Denker war Heraklit 2 ), dessen Aussprüche von Stöhr 
zu einem klaren Systeme geordnet worden sind. Die verschiedenen Wege, 
welche die Menschheit zur Überwindung des Leides durch Glaubenssysteme 
betreten hat, stellt Stöhr in seiner letzten, auf dem Krankenbette geschriebenen 
Schrift neutral vergleichend zusammen. Dieses kleine, 49 Textseiten um¬ 
fassende Heftchen 11 ), gehört wohl zu den eigenartigsten Schriften der deutschen 
Literatur. Es enthält eine ganz kurze Geschichte der Philosophie, soweit 
diese pathogone Richtung besitzt; der Leser muß aber die verschiedenen 
Wege denkend verarbeiten, und so kommt es, daß dies kleine Heftchen 
einen wochenlang fesselt, und sobald man es wieder in die Hand nimmt, 
zeigt es die alte fesselnde Kraft. Stöhr entwickelt schließlich noch „seinen“ 
Weg,* der allerdings ein sehr schwieriger ist, wird doch die 4. und 5. Dimen¬ 
sion „betreten“. 


t) Leipzig, Quelle & Meyer, 1920. — *) A. Stöhr: Heraklit Wien, Leipzig. E. Strache. 1920. 
*) A. Stöhr: Wege des Glaubens. Wien. Braumüller. 1921. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Den Glauben definiert St Öhr nicht als ein „minderes* Wissen; der Glaube 
ist die Reaktion des Gemütes oder der Handlungen auf Vorstellungen des 
Zukünftigen. Das Vergangene weiß man, an das Zukünftige glaubt man, 
indem man reagiert. Damit regt Stöbr den Pädagogen in fruchtbarer 
Weise zu neuen Gedanken an. 

Mit Rücksicht auf den zur Verfügung gestellten Raum muß ich es mir 
verwehren, mehr hierüber zu sagen. 

Stöhr hat keine „Schule* gegründet, denn er verlangte stets, daß seine 
Schüler ihre eigenen Wege gehen. Er sah seine Aufgabe als Lehrer darin, 
die Schüler zur selbständigen Erfassung und Lösung von Problemen vor¬ 
zubereiten. Aber zahlreiche Schüler fand er, und seine Schriften werden 
in ähnlichem Sinne noch weiterhin wirken. 

Mit ihm verliert die Wiener Universität nicht nur einen hervorragenden 
Philosophen, einen geliebten Lehrer, sondern auch einen einfachen, schlichten, 
grundgütigen, edlen Menschen. 

Wien. Karl C. Rothe. 

Ober Pädagogik und Philosophie stellt Rudolf Eucken in den Berliner 
Hochschulnachrichten die folgenden Sätze auf: 1. Die Pädagogik ist gegen¬ 
wärtig viel zu selbständig geworden, als daß sie sich als ein bloßer Anhang 
zur Philosophie behandeln ließe. 2. Die Pädagogik bängt so eng mit der 
Philosophie zusammen, daß sie sich unmöglich von dieser gänzlich trennen 
darf. 3. Es empfiehlt sich daher bei den Doktorprüfungen die Pädagogik 
wohl als ein selbständiges Fach anzuerkennen, aber zugleich zu verlangen, 
daß die Philosophie sich unter den Nebenfächern befinde. 4. In der Kon¬ 
sequenz dieser Überzeugung liegt die Forderung, daß alle Universitäten 
besondere pädagogische Lehrstühle, sowie auch Obungsschulen einrichten 
sollten. Diese Regelung der Streitfrage entspricht dem Verfahren, das sich in 
Jena seit einer längeren Reihe von Jahren vortrefflich bewährt hat. 

Kinder!ährten als Erziehungswerk. Nach nunmehr zweijähriger Erprobung 
und Bewährung der Kinderfahrten, nachdem sich eine schauensfreudige, 
bewegungsfröhliche, große Gemeinschaft von Menschen gefunden hat, nicht 
gegründet worden ist, darf heute ein Wort über diesen Versuch gesagt werden, 
in dessen Auswirkungen vor allem auch so vieles Verstehen zwischen klein 
und groß aus den verschiedenen Teilen unseres Volkes sich zeigt. Die 
pädagogischen wie sozialen Möglichkeiten im gemeinsamen Wandern — 
nicht Spazierengehen — von Menschen verschiedenen Alters, ungleicher 
Bildung, verschiedenen Besitzes, sind fast unbegrenzt, da immer neue Um¬ 
stände, sei es in der Landschaft, sei es durch das Wetter, Jahreszeit, durch 
Verkehr mit dem Landmann, vor allem durch Betonung der Leibesübung in 
frischem Spiel, Lagen von ungeahnter Fülle ergeben. Notwendig freilich und 
eine ganz wesentliche Grundlage ist: Suchen nach der Erschließung des 
ganzen Menschen. Nicht der die Heimat kennenlernende Schüler ist.unser 
Ziel, sondern das wache, das schauende und prüfende, lebhaft sich be¬ 
wegende, springende, laufende, gesunde Kind, der geistig und körperlich 
gleich regsame, lachende wie nachdenkliche junge Mensch. Wer es darum 
unternimmt, auf solchen Fahrten an Kindern wie Eltern die Bande der Kon- 


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*»tr 


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vention, der Vorurteile und der Kenntnis- und Gedankenlosigkeiten in tausend¬ 
facher Mannigfaltigkeit zu lösen, durch Natur, Schauen und Sinnen, Mar¬ 
schieren und Rasten, Helfen und Teilen lösen zu lassen, daß sie sich brüderlich 
erkennen, wer es unternehmen will, muß frei und ohne Vorurteile sein; 
Mensch. 

Nun die Darlegung der Durchführung aus der Erfahrung und manchem 
Fehler heraus, die wir in Leipzig auf unseren Wander- und Spielfabrten ge¬ 
sammelt und getan haben. Wir sind mit unseren Kinderscharen Sommer wie 
Winter jeden dritten Sonntag auf Fahrt gezogen. Es kamen im Sommer 
letzten Jahres bis 300, im Winter etwa 50 ganz Wetterfeste. In diesem 
Sommer ist die Zahl noch gestiegen. Doch bangt uns nicht davor: unsere 
ans solcher Menge hervorgewachsene Gruppenarbeit wird immer sicherer, 
und wir behalten den ganzen fröhlich tobenden Haufen doch fest in der Hand. 
Wir sind jetzt eine Gemeinschaft von fast 60, die sich zu einem Teil aus 
Mädels und Jungens der weiktätigen Jugend zusammensetzt,' die übrigen sind 
Seminaristinnen, Kindergärtnerinnen, Studenten und Studentinnen — alle 
Menschen, die Pünktlichkeit und Ordnung sich zu eigen gemacht haben, und 
die ein kleines Stück Volksarbeit durchzuführen hoffen. Nur triftigste 
Gründe können sie von einer Fahrt befreien, ebenso unbedingt verpflichtend 
ist die Teilnahme an den Besprechungen. Denn Führer und Grüppchen 
wollen zusammenwacbsen, und die Führerschar muß eine Gemeinschaft in 
immer gründlicherer Vertiefung werden. So wird von jedem vollstes Inne- 
halfcti seiner Verpflichtungen gefordert. 

Der Ausbau aller Fahrten, im Inneren wie im Äußeren, geschieht in den 
Besprechungen, wo regster Austausch der Meinungen kräftig zum Ausbruch 
kommt, denn die Summe der Erfahrung eines einzigen Wandertages, die dabei 
entstandenen erzieherischen Nöte, das Geschick hier, das Ungeschick da, 
sind riesengroß, und alles drängt nach Aussprache, um es das nächste Mal 
besser zu machen, mehr nach dieser, mehr nach jener Seite die Kücken zu 
beobachten oder anzuregen, oder sich hinzusetzen, die Frühlingsblumen zu 
studieren oder einmal etwas von Friedrich Wilhelm Förster zur Hand zu 
nehmen. So spürt jeder bald genug eine beängstigende Zahl von Möglich¬ 
keiten und Notwendigkeiten für seine eigene Durchbildung zum Führen von 
Kinderfahrten. Das Ziel ist: seinen Blick zu öffnen für die Vielseitigkeit des 
kindlichen Lebens und dann in sich die Fähigkeit zu suchen, bewußt die 
Kinder zu fördern, das Gute, Natürliche anzuregen zu kräftigem Wachstum, 
vom Schlechten und Gekünstelten wegzuführen, nicht nur für den Tag der 
Wanderung, sondern in starker erzieherischer Beeinflussung. Aber es gilt 
nicht, ja es ist lächerlich und verwerflich, kleine Wandervögel bilden zu 
wollen — es gilt vielmehr das Kind aus der körperlich wie seelisch es viel¬ 
fach hemmenden Umgebung des alten Lebensstils herauszulösen, ihm die 
Freude am Freisein an Körper und Geist einerseits, das Gefühl für die Not¬ 
wendigkeit des Einordnens in die Wandergemeinschaft andrerseits zu erwecken. 
Also kein bloßes Toben, keine zuchtlose Romantik, sondern Hineinwachsen 
in ein e Zusammengehörigkeit, die sich aufbaut auf gegenseitiger unbedingter 
Hilfsbereitschaft und freiem empfänglichen Sinn. Dies Ziel aber ist ein so 
hohes, daß es Kinderfahrten zu einer Arbeit werden läßt, an die sich nicht 
jeder, bloß weil er kurze Hosen und bunten Kragen trägt oder aber Aka¬ 
demiker ist, wagen soll. Allein die Schwierigkeit, das Elternhaus zu versöhnen 

Zeitschrift f. pBdagog. Psychologie. 10 

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Kleine Beitrüge and Mitteilungen 


und daB Kind, das zu uns drängt, aber nicht darf, uns zu erhalten, fordert 
Umsicht und Takt Das Führen ist ein fortgesetztes Arbeiten an sich und 
ein Zurücktrelen und Opferbringen 1 Den Kindern und unserer Idee zulieb 
sich selbst vergessen! 

Mit diesem Ziel vor Augen, ganz im Bewußtsein all der schweren Ver¬ 
pflichtungen, nur so soll dieser Versuch der Kinderfahrten begonnen werden, 
der allen, auch den jüngeren Helfern viel an innerer Reifung gibt. Hier ist 
eine der wenigen Möglichkeiten, schon produktiv zu sein, zu Zeiten, wo junge 
Menschen selbst noch nehmen müssen und empfangen wollen. So viel der 
Jugendringarbeit muß ja scheitern, weil unsere Jüngeren noch nichts geben 
und leisten können, sondern noch an sich zu denken haben in der kargen 
Zeit der Freiheit von ‘/i5 nachmittags oder '/* 7 abends an. Hier aber wird 
empfangen — denn das Kind gibt: es gibt Dank, leuchtende Augen, Fragen, 
Bitten. Und all diese Fragen wieder bewegen den jungen Menschen, der 
den Kleinen seine Zeit „opfert“, und er denkt nach, vergleicht eigene Jugend- 
erlebnisse, prüft, wählt Bücher aus, schaut und hört schärfer aufs Flüstern 
in Busch und Wald — erzieht sich und den jungen Menschen. 

Der Gedanke unserer Fahrten als Erziehungsarbeit wird fortgesetzt zum 
Gedanken der Volksarbeit dadurch, daß wir es versuchen — wir sagen 
versuchen! — Kinder aller Lebenskreise zusammenzuführen. Manches Vor¬ 
urteil ist schon gebrochen — aber Berge harren noch der Abtragung, und 
noch immer oft gibt die kleine „höhere Tochter“ ihr Butterbrot dem grauen 
Straßenbübchen und dem ungestrählten Straßenmädel als Almosen und mit 
den Fingerspitzen, statt eben als Wanderkamerad. Und eines Tages werden 
die Bürgerlichen wie Sozialisten uns verdächtig finden — dann dürfen viele 
Kinder nicht mehr mit. War aber die Gemeinschaft derer, die mit ihnen 
wanderten und still an ihnen wirkten, gut und treu, so wird bei vielen der 
Kleinen der Blick hell bleiben und der Haß wird ihn weniger leicht trüben. 
So ist auch unsere Gemeinschaft entwickelt worden, zuerst nur „zünftige 
Leut“, Jungens und Mädels vom Landfahrer, einer Gruppe der Jugendbewegung 
im werktätigen Volk, andre kamen von außen, und über die Kinder hin 
wuchsen wir zusammen. 

Die Fahrt selbst nun: so billig als es eben nur geht, und hinaus, frisch 
und frei, früh in Gruppen weithin zerstreut, jeder Führer mit seinem Häuflein; 
die mitgekommenen (und auch immer wieder eingeladenen) Eltern für sich 
vereint und den Kleinen fern. Je weiter der Führer in seiner Selbständigkeit: 
Ordnung halten, Strenge wie Güte, im Schöpferischen, desto freier gestaltet 
er die erste Hälfte des Wandertages, sei es im Naturbeobachten, Zeichnen, 
Heimatkunde, Märchenrast usw., Mittags aber ist das große, große Treffen, 
wo auch die Eltern fleißig hereingewirbelt werden. Und dann kommen die 
Dichter der Kleinen und zeigen, ganz durch Eigentätigkeit geschaffen, uns 
Märchen und Schnickschnack und Kasperspiele. Der Heimmarsch bringt den 
letzten fröhlichen Ausklang, und das hoffnungsvolle „Auf Wiedersehen in 
drei Wochen“. Und am Tag darauf die Feuerflammen oder dürren Wüsten 
der Besprechung, wo mancher einen Absturz tut, ein anderer sich Beines 
Vorwärtsarbeitens freut. 

An äußeren Hilfsmitteln gibt es nur Ordnung, gutes Beispiel der Gruppen¬ 
führer und -führerinnen, ein Tuthorn, ein paar Fähnchen für große Rasten, 
eine Reihe Handpuppen für Puppenspiele, eine durch freiwillige Beiträge 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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mehr als gedeckte Unfall* und Schadenversicherung, ein Postscheckkonto 
wie eine von den Eltern angeregte Bekleidungshilfe, die beide der gegen¬ 
seitigen Unterstützung dienen. 

Leipzig. Fedor Keusche. 

Eine Untersuchung Ober Schalerbegabung auf Grund des Lehrerurteils 
ist aus dem Institut für experimentelle Pädagogik an der Universität Leipzig 
hervorgegangen. Sie erfaßt die Fragen, wie der Maßstab, mit dem der Lehrer 
seine Begabungsurteile gewinnt, zustandekommt und angewendet wird und 
wie sich nach den Kriterien, nach denen die Schule urteilt, die Schüler auf 
einzelne Begabungsgruppen verteilen. Die Untersuchung fußt auf den Aus- 
kOnften, die auf eine Umfrage eingingen. Von den im Jahre 1913 ausge- 
sandten Stücken des sehr umfangreichen Fragebogens waren aus Leipzig, 
Breslau, Bautzen, aus einigen kleineren Orten und Dörfern 1375, das ist 
annähernd 40 "/o, ausführlich beantwortet eingegangen Ober die Verarbeitung 
dieses breiten Materials berichtet Dr. phil. Hermann Wilhelm auszugs¬ 
weise in der Zeitschrift f. angew. Psych., Bd. 19 (1921), S. 291 ff. Er bietet 
dort folgende Zusammenfassung seiner Ergebnisse: 

l. Generelle Ergebnisse. 

1. Die Forderungen der Volksschule werden im Durchschnitt von etwa 28 Proz. der Kinder 
nicht erfüllt, während nur 9 Proz. mehr leisten als gefordert wird. Die Forderungen der heutigen 
Volksschule stehen mit der mittleren Leistungsfähigkeit der Schüler nicht im Einklang. 

2. Das, was der Lehrer „mittelbegabt“ nennt, deckt sich nicht mit der zahlenmäßigen mittleren 
Begabung der Kinder. Es gibt mehr Schwachbegabte als hochbegabte Kinder, ln den gesamten 
Volksschulen der untersuchten städtischen Schulgemeinden gibt es etwa 

Kinder mit sehr hoher Begabung 2 Proz. 

„ „ guter „ 20 „ 

„ „ mittlerer „ 48 „ 

„ „ geringer „ 22 „ 

„ „ sehr schwacher ,, 8 „ 

3. Gleichwohl ist die Begabung, als biologisches Merkmal betrachtet, um den errechneten 
Mittelpunkt angenähert so verteilt, wie es die einfache „Gauß*sche Verteilungsfunktion“ angibt. 

4. ln den einzelnen Fächern stark von einander abweichende Leistungen zeigen sich bei 
7 bis 7 1 /* Proz der Zöglinge. 

5. Große Verschiedenheiten von Leistungen und Begabung finden sich bei etwa 7 Proz. der 
Schüler; meistens sind dabei die Leistungen schlechter, als es der Begabung entspricht 

II. Differentielle Ergebnisse. 

1. In den Unter- und Mittelklassen der Volksschule sind die Mädchen den Knaben an Be¬ 
gabung überlegen. Noch mehr Übertreffen sie hier die Knaben in den Leistungen; denn sie 
sind fleißiger und haben noch andere der Schularbeit günstige Eigenschaften den Knaben 
voraus. In den Oberklassen Übertreffen die Knaben die Mädchen in Begabung und Leistung; 
von Ursachen steht fest, daß der Pubertätseintrilt die Leistungsfähigkeit der Mädchen herabsetzt. 

2. Die Schüler der höheren Gattungen der Volksschule Übertreffen nach dem Lebrerurteil in 
den unteren Klassen (Schuljahr 1—4) an Begabung die Schüler der einfachen Gattungen, ln 
den oberen Klassen ändert sich das Verhältnis bei den Knaben, während es bei den Mädchen 
erhalten bleibt. Es ist festzustellen, daß ein großer Teil der Knaben von der 4. Klasse auf 
höhere Schulen übergeht. 

3. Von den höheren Schulen sind die Schüler der Vollanstalten den gleichaltrigen Schülern 
der Realschulen an Begabung überlegen, doch sind die untersuchten Zahlen hier kleiner. 

III. Das Lehrerurteil. 

1. Der Lehrer geht in seinem Urteil über die Schüler von deren Leistungen aus, vermag 
dieee Jedoch durch seine sonstigen Beobachtungen und Erwägungen von der Begabung zu 
scheiden. Eine genauere Analyse des Lehrerurteils muß Vorbehalten bleiben, doch vermag der 

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Kleine Beiträge and Mitteilungen 


Lehrer nach dem vorliegenden Material mit zureichender Sicherheit über die Schülerbegabung 
zu urteilen. 

2. Die Begriffe der Sprache von Begabungsgraden (hochbegabt usw.) sind eindeutig genug, 
um dem Lehrer ein bestimmtes Maß zu gestalten. Die Begriffe der Sprache beruhen nicht allein 
auf zahlenmäßiger Mittelbildung, sondern schließen noch andere Faktoren (vielleicht gewisse ob¬ 
jektive Zwecke usw.) ein. 

3. Der Lehrer versteht unter Begabung nicht eine rein angeborene Anlage, sondern eine ent¬ 
wickelte allgemeine geistige Leistungsfähigkeit, in der sich Angeborenes und Erworbenes mischen. 

4. Die Lehrerinnen urteilen ein wenig strenger als die Lehrer. 1 ) 

Erste internationale Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaft¬ 
licher Grundlage in Berlin vom 15.-21. Sept. 1921. Unsere Zeit ist unter 
anderem dadurch gekennzeichnet, daß sie versucht, von neuem zu einer Reihe 
bedeutsamer Fragen grundsätzlich Stellung zu nehmen, und daß sie sich 
dabei bemüht, möglichst voraussetzungslos und unvoreingenommen vorzu¬ 
gehen. Daß sie dabei auch auf den großen Fragenkomplex „Geschlecht¬ 
lichkeit" stößt, ist selbstverständlich, denn kein anderer ist noch so in Dunkel 
gehüllt, ist so in Widersprüche verstrickt wie dieser, und zwingt doch jeden 
einzelnen, sich mit ihm irgendwie abzufinden. Es heißt, die Wissenschaft 
sei frei. Ihr letzter Sinn sei: Erkenntnisse zu schaffen. Dabei beständen 
für sie keinerlei Schranken, Grenzen und Rücksichten. Naturalia seien nicht 
verächtlich. Wenn das wahr ist, dann haben sich zum wenigsten die Geistes¬ 
wissenschaften (ganz im besonderen aber die Psychologie) in bezug auf 
die Probleme der Sexualität mit ganz gewaltigen Scheuklappen ausgerüstet 
Die Folgen sind schlimm genug. Die ungeheure Literatur über die Fragen 
der Geschlechtlichkeit, die natürlich trotzdem entstanden ist (oder gerade des¬ 
wegen entstehen konnte), ist zum größten Teil unzulänglich und dilettantisch. 
Was damit zusammenhängt und schlimmer ist: wir haben in bezug auf die Sexu¬ 
alität noch kein einheitliches und geläutertes Kulturbewußtsein. Man kann 
ruhig behaupten: jeder bat in diesen Fragen eine offizielle und eine private 
Meinung. Dieser Zustand ist nicht nur unleidlich, er ist geradezu unwürdig. 
Und die Wissenschaft trifft hier die Schuld. 

Im Zusammenhänge damit habe ich schon kürzlich auf folgendes hinge¬ 
wiesen : Man verlangt von Elternhaus und Schule geschlechtliche Aufklärung 
und geschlechtliche Erziehung der Kinder. Dabei hat noch niemand ein 
irgendwie befriedigendes Verhältnis zu den allgemeinen Grundfragen der 
Geschlechtsmoral überhaupt. Ja, was geradezu grotesk wirkt: man kennt 
noch nicht einmal die sexualpsychologischen Voraussetzungen im Kinde, ob¬ 
wohl zahlreiche Ärzte auf Grund verschiedenster Erfahrungen immer und immer 
wieder behaupten, weit über 90 u /» aller Menschen betätigten sich zum we¬ 
nigsten in autoerotischer Form in ihrer Jugend, und obwohl eine ganze me¬ 
dizinisch-psychologische Schule beinahe jede zweite oder dritte Handlung 
schon des kleinen Kindes sexuell zu deuten sucht. Man schlage einmal die 
Register unserer bedeutendsten Bücher über Kinderpsychologie, Jugendkunde 
usw. auf. Die Stichworte Geschlecht, Sexualität usw. sind mit beinahe aber¬ 
gläubischer Scheu unterdrückt, oder die Ausführungen darüber sind von der¬ 
artiger Dürftigkeit und Allgemeinheit, daß sie besser unterblieben wären. 
Man findet auch wohl die sorgfältigsten Erörterungen über „psychische Ge- 

l ) Da Lehrerinnen im allgemeinen nur Mädchen unterrichten, gilt dies für Urteile von Lehrern 
und Lehrerinnen über Mädchen. 


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8chiechtsdifferenzen“, wobei etwa ausgeführt wird, wie verschieden sich 
Knaben und Mädchen zur Mathematik, zum Religionsunterricht usw. ein¬ 
stellen. Darüber, daß gar nicht so selten Kinder schon von dem Dämon 
Sexualität in die 'tiefsten Konflikte gestürzt, terrorisiert und zerbrochen 
werden — davon erfährt man nichts. Und dabei hätte doch wohl eine vor¬ 
urteilslose und zielklare Jugendpsychologie die Aufgabe, die seelische Ent¬ 
wicklungslinie von der ersten dunkeln Triebäußerung bis hin zum klaren 
Geschlechtsbewußtsein aufzuzeigen. Und eine psychologisch orientierte Päda¬ 
gogik könnte ihre erziehlichen Maßnahmen auf die gewonnenen Erkennt¬ 
nisse gründen. 

Da ist es immerhin erfreulich, feststellen zu können, daß unsere Zeit den 
ernsten Willen zeigt, Wandel zu schaffen. Natürlich sind es vorerst nur Ärzte, 
die das Eis zu brechen suchen. Einige freie Forscher gründeten in Berlin 
das „Institut für Sexualwissenschaft“, die Universität Königsberg schuf einen 
Lehrstuhl fQr Sexuallehre, die tschechoslowakische Universität Prag gründete 
ein sexualwissenschaftliches Institut im Rahmen ihrer medizinischen Fakultät. 
Die Mitarbeiter dieser Institute in Verbindung mit anderen deutschen und 
ausländischen Forschern brachten den ersten internationalen Kongreß für 
Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage in Berlin zustande. Es 
war zugleich der erste wirklich internationale wissenschaftliche Kongreß 
nach dem Kriege in Deutschland. Das Ausland war stark vertreten, selbst 
aus Japan und Südamerika waren Abgeordnete da. Unter den Hörem über¬ 
wogen Mediziner, Naturwissenschaftler, Juristen und ßulturreformer. Einen 
bekannten Psychologen oder Pädagogen haben wir weder gesehen noch 
gehört* Es wurden an die 40 Vorträge gehalten. Das war natürlich nicht 
ökonomisch und zweckmäßig. Immerhin wurde auf diese Weise die un¬ 
geheure Fülle der Probleme aufgezeigt. Wir müssen uns in unserm Berichte 
auf Andeutungen beschränken. Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld sprach als 
Präsident des Kongresses über den Stand und die Aufgaben der Sexual¬ 
wissenschaft Oberster Grundsatz auch der Sexualforschung müsse der un¬ 
bedingte Wille zur Wahrheit sein. Und die wissenschaftliche Erkenntnis 
wiederum muß zur Grundlage aller Sexualreform werden, ganz gleichgültig, 
ob die Konsequenzen unseren bisherigen Anschauungen zusagten oder nicht. 
Weitreichende Erörterungen schlossen sich an die Vorträge über „innere 
Sekretion und menschliche Sexualität“ an. Lipschütz-Dorpat verfocht im 
wesentlichen die Anschauungen Steinachs, Stieve-Halle griff diese an, während 
Biedl-Prag einen besonderen Standpunkt vertrat. Privatdozent Dr. Weil-Berlin 
wies interessante Zusammenhänge zwischen Körperproportion und Sexualität 
auf. Ein besonderes Ereignis des Kongresses war die Vorstellung von fünf 
durch Dr. Schmidt-Berlin nach Steinach operierten Männern, die sich nach 
völligem körperlichen Verfall wieder der blühendsten Gesundheit erfreuten. 
Dr. Stabel-Berlin mußte leider berichten, daß die Heilung einer Anzahl von 
Homosexuellen mit Hilfe Steinachscher Methoden (Transplantation) nicht 
gelungen war. Kulturphilosophische, ethische und eugenische Probleme be¬ 
leuchteten Prof. Dr. Frhr. von Ehrenfels und Dr. Helene Stöcker. Soweit die 
sexuelle Ethik im geltenden Recht normiert wird, erfuhr dieses eine scharfe 
Kritik durch Justizrat Dr. Werthauer und Staatsanwaltschaftsrat Dr. Dehnow- 
Hamburg. Die Vorträge zur allgemeinen Sexualwissenschaft berührten sehr 
anziehende Einzelprobleme: Psychoanalyse, völkerkundliche Fragen, Sagen- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


und Märchenforschung. Lebhafte Meinungsverschiedenheiten erzeugten natur? 
gemäß die Auseinandersetzungen über die Fragen der Geburtenregelung, 
künstlichen Schwangerschaftsbeendigung, künstlichen Befruchtung und künst¬ 
lichen Sterilisierung. Doch gelang es, sich auf einer mittleren Linie zu einigen. 
Aus den besprochenen Problemen zur allgemeinen Sexualreform seien hervor¬ 
gehoben: Sexualrecht der Frau, die sexuellen Minderheiten, Prostitutionsfrage, 
Ehescheidung, Geschlechtsberichtigung. Der letzte Abend war der Sexual¬ 
pädagogik gewidmet. Eine sehr zahlreiche Hörerschaft war erschienen. 
Dr. Kronfeld machte fein abgewogene und vorsichtige Ausführungen über die 
Sexualität des Kindes. Dr. Saaler ging die bisherigen Bestrebungen zur 
Sexualpädagogik kritisch durch. Frau Senator Kirchhoff hielt einen sehr 
warmherzigen und freisinnigen Vortrag über Erziehung zur sexuellen Ver¬ 
antwortlichkeit. Frau Dr. Uhlmann berichtete über Erfahrungen zur „Sexual¬ 
pädagogik in der Jugendfürsorge“. M. Döring-Leipzig sprach über „Jugendliche 
Zeugen in Sexualprozessen“. In der Frage der sexuellen Erziehung der 
Jugend beschloß der Kongreß folgende Kundgebung: Der Kongreß erblickt 
in der Erziehung des Nachwuchses zu geschlechtlicher Wahrhaftigkeit, 
Unbefangenheit und Verantwortlichkeit eine der wichtigsten Aufgaben 
der gesundheitlichen und sittlichen Hebung der Bevölkerung aller Kultur¬ 
nationen. Zum Studium der Wege, die zu diesem Ziele führen können, 
bildet die Tagung aus ihrer Mitte einen ständigen Ausschuß, bestehend aus 
Vertretern des „Institqtes für Sexualwissenschaft in Berlin“ (Dr. med. et phil. 
A. Kronfeld, Berlin) und des „Institutes für experimentelle Pädagogik und 
Psychologie des Leipziger Lehrervereins“ (Lehrer M. Döring, Leipzig) und 
solcher der Psychoanalyse (Dr. med. Saaler, Berlin und Dr. phil. C. Müller, 
Braunschweig). Der Kongreß ersucht, diesen Ausschuß bei seiner Arbeit, 
über welche er bei seiner nächsten Tagung in Rom Bericht erstatten soll, 
mit Material und Arbeitsbeiträgen zu unterstützen. Im Anschluß an den 
Vortrag von M. Döring-Leipzig faßte der Kongreß folgende Entschließung und 
gab sie an das Reichsministerium weiter: Der Kongreß erhebt für die Neu¬ 
gestaltung der Strafprozeßordnung die Forderung, daß besondere Bestimmungen 
in sie aufgenommen werden über die Verwendung von jugendlichen Zeugen 
im Rechtsgange besonders von Sexualprozessen. In diesen neuen Bestimmun¬ 
gen müssen folgende Grundsätze zum Ausdruck kommen: 1. Die erste Ver¬ 
nehmung jugendlicher Zeugen darf nur von pädagogisch-psychologisch ge¬ 
schulten und erfahrenen Personen erfolgen. 2. Die Zahl der Vernehmungen 
überhaupt und die Zahl der Vernehmenden ist im Interesse der Schonung 
der jugendlichen Zeugen möglichst zu beschränken. 3. Auf Antrag des An¬ 
geschuldigten und in Fällen, wo Jugendliche als alleinige Zeugen in Frage 
kommen, ist von seiten des Gerichtes ein pädagogisch-psychologischer Sach¬ 
verständiger und ein Sexualarzt als Gutachter hinzuziehen. Diese haben 
das Recht der Einsichtnahme in die Akten und dürfen die Zeugen schon 
während der Voruntersuchung prüfen. Auch dürfen sie Anträge zu notwen¬ 
digen Erhebungen in bezug auf die Zeugen und den Angeklagten stellen. 
4. In schwierigen Fällen hat sie schon die Staatsanwaltschaft vor Erhebung 
der Anklage zu hören. 

Es ist nicht schwer, an einem in mehr als einer Hinsicht gewagten ersten 
Unternehmen, wie es der Kongreß darstellte, Kritik zu üben. Wir unterlassen 
das. Die Bedeutung des Kongresses lag darin, daß er die große Fülle sexueller 


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Kleine Beiträge and Mitteilungen 


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Probleme aufzeigte, daß er mutig an die Lösung einer Reihe schwierigster 
Kulturfragen herantrat und zugleich den einzig möglichen Weg zu deren Lösung 
angab: den über die Erkenntnisse einer voraussetzungslosen, unvoreingenom¬ 
menen wissenschaftlichen Forschung hinweg. Wenn er ernsthafte Menschen 
bestimmt hat, in dieser Richtung mitzutun, dann hat er seinen Zweck erfüllt. 

Leipzig. Max Döring. 

Eine Hauptstelle für praktische Psychologie in Berlin-Spandau ist mit der 
Unterstützung des preußischen Ministeriums des Innern geschaffen worden. 
Das Institut soll der Allgemeinheit für kostenlose wissenschaftliche psycho¬ 
logische Beratung zur Verfügung stehen. Hand in Hand mit einigen Ärzten 
und Nervenärzten wird dort eine auf Fachpsychologie gestützte Untersuchung, 
Beratung und Behandlung erfolgen. Besonders soll der Berufsberatung und 
der wissenschaftlichen „Seelsorge“ gedient werden. Man gedenkt, das In¬ 
stitut im Sinne einer Poliklinik dem Gemeinwohle zu öffnen. Vom Ministerium 
wurden zunächst Räume in Spandau in der früheren Garde-Pionier-Kaseme 
(Schönwalder Straße) angewiesen. Die ehrenamtliche Leitung der Hauptstelle 
liegt in den Händen des praktischen Psychologen Dr. R. W. Schulte, der 
besonders durch seine berufspsychologischen Arbeiten und Vorlesungen sowie 
durch seine sport6pychologischen Untersuchungen als Abteilungsleiter der 
Deutschen Hochschule für Leibesübungen bekannt ist 

Nachrichten. 1. Prof. Dr. Paul Natorp, der Ordinarius für Philosophie 
an der Universität Marburg, tritt am 1. April 1922 von seinem Lehramt 
zurück. 

2. Zum Nachfolger des Geh. Rats Prof. Stumpf auf dem Lehrstuhl der 
Psychologie an der Universität Berlin ist der o. Professor Dr. Wolf gang Köhler 
von der Universität Göttingen berufen worden; zum Nachfolger Köhlers in 
Göttingen ist Prof. Dr. Erich Jaensch in Marburg ausersehen. 

3. Oberstudiendirektor Dr. Otto aus Berlin-Reinickendorf bat die Berufung 
auf den neu zu errichtenden Lehrstuhl für Pädagogik in Marburg erhalten. 

4. Der Tschechoslowakische Lebrerbund bat unter Mitwirkung des Päda¬ 
gogischen Instituts J. A. Comenius in Prag eine Forschungsstätte für ex¬ 
perimentelle Pädagogik mit Universitätskursen für Lehrkräfte aller Schul¬ 
gattungen gegründet. 

5. Eine Tagung für angewandte Psychologie in Berlin wird Ostern 
1922 von dem „Ausschiß für angewandte Psychologie“ innerhalb der „Ge¬ 
sellschaft für experimentelle Psychologie“ veranstaltet werden. Die Verhand¬ 
lungen sollen votnehmlkh dem Problem der Bewährungsfeststellung bei 
psychologischen Auslesen gewidmet sein. U. a. wird besprochen: Die Kon¬ 
stanz der Metbcden zur Eignungs- und Begabungsfeststellung (Einfluß von 
Übung, Dispositionsschwankungen,Versuchsumständen); der Symptomwert der 
Methoden (praktische Bewährung der Geprüften); Begriffsbestimmung und 
Kriterien der Tüchtigkeit in Schule und Beruf; Untersuchung von Arbeits¬ 
vorgängen. 

6. Der Dritte internationale Kongreß für ethische Erziehung 
findet vom 28. Juli bis 1. August 1922 in Genf 6tatt. (1908 London, 1912 
im Haag.) Zur Verhandlung stehen: 1. Der Geist für Weltbürgertum und 

. der Geschichtsunterricht 2. Das Gemeinschaftsgefühl und die Erziehung. 


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Literaturiiericht 


Literaturbericht 

Selbstanzeigen. 

Dr.Otto Tumlirz, Privatdozent für Pädagogik an der Universität Graz, Einführung in die 
Jagendkunde mit besonderer Berücksichtigung der experimentell-pädagogischen Forschungen. 
L Band Die geistige Entwicklung der Jugendlichen. 1920. 291 S. geb. 37,50 BL II. Band: 
Die geistige Bildsamkeit der Jugendlichen. Leipzig 1920 u. 1921. Klinkbardt. 262 S. Geb. 40 M . 

Die Jugendkunde hat eine doppelte Aufgabe zu lösen: als Zweig der allgemeinen Psycho¬ 
logie hat sie die seelische und, soweit die Beziehungen zwischen Körper und Geist bedeutungs¬ 
voll sind, auch die körperliche Entwicklung der Jugendlichen zu erforschen, die Eigenarten der 
verschiedenen Entwicklungsstufen vergleichend festzustellen und aus den Gesetzen der Ent¬ 
wicklung heraus zu erklären. Als Grundwissenschaft der Pädagogik hat sie zu untersuchen, ob 
and wie weit der Verlauf der natürlichen Entwicklung durch die Erwachsenen beeinflußt werden 
kann, wie weit also der jugendliche Geist bildsam ist und wer und was geeignet erscheint, 
einen Bildungseinfluß auszuüben. 

Aus dieser zweifachen Aufgabe ergibt sich von selbst die Gliederung des vorliegenden 
Werkes. Der erste Band beschäftigt sich mit der Entwicklungsfrage. Nach einer Begriffs¬ 
bestimmung des Forschungsgebietes und der Erörterung der Arbeitsweisen, deren sich die 
Jugendkunde bedient, wird in dem Hauptabschnitt die Entwicklung der allen Jugendlichen 
gemeinsamen geistigen Fähigkeiten behandelt (körperliche, geistige Entwicklung im allgemeinen, 
Entwicklungsgesetze, Sinnes Wahrnehmungen, produzierte Vorstellungen, Erinnerungsvorstellungen 
und Gedäcbtnisvorgänge, Denken, Fühlen, Begehren, Sprache, Zeichnen, Spiel). Den meisten 
Kapiteln gehen kurze allgemeinpsychologische Erörterungen voran, um den psychologischen 
Standpunkt des Verfassers zu klären. Gemäß der in dem Werke vertretenen Anschauung, daß 
das Experimsnt zur Erforschung der höheren Bewußtseinsvorgänge nicht ausreicht, sind auch 
die Ergebnisse nichtexperimenteller Beobachtung Jugendlicher verwertet, wobei auf die Dar¬ 
stellung der beiMeumann u. a. arg vernachlässigten höheren Denk- und Willensvorgänge sowie 
auf die Kennzeichnung der Geschlechtsreifezeit ein besonderes Gewicht gelegt wurde. (Jerade 
dadurch bietet aber das Buch trotz des viel bescheideneren Umfanges gegenüber Meumann 
manches Neue. Der dritte Abschnitt erörtert kurz die Frage der eigenpersönlichen Unterschiede 
und die Begabungsfrage. 

Vermochte der Verfasser im ersten Band die Ergebnisse zahlreicher Einzelunternehmungen 
zu verwerten, wenn auch die Forschung noch vielfach auf dem Gebiete der höheren geistigen Vor¬ 
gänge bisher versagt, so mußte mit dem zweiten Band, der sich mit der Bildsamkeitsfrage 
beschäftigt, gleichsam ein Neuland der Jugendkunde betreten werden. Denn zum erstenmal 
wurde der Versuch gemacht, die Bildsamkeit in den Mittelpunkt psychologisch-pädagogischer 
Untersuchungen zu rücken und die Kräfte, welche den naturgegebenen Eotwicklungaverlauf 
bedingen, zu bestimmen. Das Bestreben der Naturwissenschaft, die „Entwicklungsmechanik 
auch auf das Geistesleben anzuwenden und die dadurch drohende Vernichtung der geistigen 
Werte machte eine Auseinandersetzung mit der Entwicklungslehre notwendig, woraus sich eine 
Scheidung zwischen Entwicklung im Naturgeschehen und im Geistesleben ergab. Aus dem 
Wesen der geistigen Entwicklung folgt, daß ihr Ablauf durch drei Kräftegruppen bedingt ist, 
durch die ererbten Gattungs- und Einzelanlagen, durch die planmäßigen und zufälligen Ein¬ 
wirkungen der Umwelt, durch das selbsttätige Eingreifen des Einzelwesens in seine Entwicklung. 

Die Wirkung dieser drei Kräftegruppen wird nun in den drei folgenden Abschnitten „Erb¬ 
bildung 44 , „Fremibildung“ und „Salbitbildung“ untersucht. Der Abschnitt „Erbbildung 44 be¬ 
häufelt die VererbingTatsachen, wobei eine Auseinandersetzung mit der biologischen Ver¬ 
erbungslehre erforderlich wird, ferner das Wesen der Bildsamkeit und die Bildsamkeit der 
einzelnen geistigen Anlagen (letzteres das für die Pädagogik vielleicht wichtigste Kapitel). Unter 
„Fremdbildung“ werden die Einflüsse der häuslichen Umwelt, der Schule und der Lebens¬ 
gemeinschaften erörtert, unter „Selbstbtldung* 4 die Zielstrebigkeit der Persönlichkeit und die 
Möglichkeiten der Selbsterziehung. 

Das Werk will nicht allein eine Überschau über das bisher Erreichte, eine Zusammen¬ 
fassung der bisherigen Forschungsergebnisse sein, sondern will auch zeigen, welche Fragen 
noch ungelöst sind, welche Wege beschritten werden müssen, damit die Erkenntnis des jugend¬ 
lichen Seelenlebens vertieft und vervollständigt werde. Es wendet sich daher an alle Erzieher. 
Berufspädagogen ebenso wie an Eltern und fordert sie zur Mitarbeit an dem großen Forschungs¬ 
werk auf, deren Lösung die Voraussetzung für alle zielbewußte Erziehertätigkeit ist Da es 
nicht für einen engen Kreis von Fachpsychologen bestimmt ist, war es das Bestreben des Ve r - 


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Literaturbericht 


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fasse«, bei aller Wissenschaftlichkeit klar und deutsch zu schreiben. Denn das Kennzeichen 
eines wissenschaftlichen Werkes kann doch nicht in dem dunklen und unklaren Stil und einem 
Wust von Fremlwörtern bestehen. Das Qesamtwerk hofft somit einerseits , den Jugendkund- 
Ucbeo Forschern manche neue Anregungen zu gewähren, und will anderseits den Jüngeren 
Lehrern und den Eltern ein sicherer Führer sein auf dem Weg zur Erkenntnis der Jugendlichen 
Seelen. Zahlreiche Quellennachweise sollen eine weitere Vertiefung ermöglichen. 

Kretzschmar, Dr. Job., Das Ende der philosophischen Pädagogik. Ergebnisse 
einer Untersuchung zur Entstehungsgeschichte der Erziehungswissenschaft Leipzig 1921. 
Wunderlich. 60 S. 

Der Titel meiner Schrift hat vielfach, wie ich bisher feststellen konnte, den irrigen Eindruck 
erweckt, als ob ich es auf die voll ständige Trennung der Pädagogik von der Philosophie ab¬ 
gesehen hätte. Davon kann natürlich keine Rede sein. Ich sehe in meiner Untersuchung das 
Verhältnis beider Wissenschaften zueinander von den Bedürfnissen des praktischen Schulmannes 
ans, der wertvolle Fingerzeige für seine Maßnahmen braucht. Die Philosophie sollte bisher 
der Erziehung Ziel und Wege weisen; dies tut sie heute nicht mehr. Die Psychologie — ins¬ 
besondere auch die Jugendpsychologie — ist aus dem Bereich der Philosophie ausgescbieden 
and eine mit exakten Methoden arbeitende Tatsachenwissenschaft geworden. Die Ethik, deren 
Stellung zur Erziehungswissenschaft heute meist noch ganz falsch — nämlich im Sinne der 
Wertphilosophie — aufgefaßt wird, gilt schon längst nicht mehr als dasjenige Gebiet, dem der 
Schulmann das oberste logische Prinzip für die wissenschaftliche Begründung aller Einzelauf- 
gaben, aller Teilziele der Erziehung entnimmt. Schon Fr. Paulsen verfuhr anders, Kerschen- 
steiner verfährt anders, und bei Natorp ist die Ethik in Wirklichkeit keine pädagogische Grund¬ 
wissenschaft mehr. In dieser Hinsicht muß man heute vom Ende der philosophisch begründeten 
Pädagogik sprechen. Natürlich kann man das Verhältnis der Philosophie zur Erziehungs¬ 
wissenschaft auch vom Standpunkt des Philosophen aus betrachten. Dieser sieht kein Ende 
der beiderseitigen Beziehungen, wohl aber eine bedeutungsvolle Wandlung derselben. Die 
moderne Philosophie geht mehr und mehr dazu über, die Erziehung als gegebene Tatsache 
vorauszusetzen, an die Ergebnisse der pädagogischen Einzelforschung anzuknüpfen und dieselben 
wie bei Jeder Einzelwissenschaft in das allgemeine Weltbild einzugtiedern. Diesem Standpunkte 
suche ich dadurch gerecht zu werden, daß ich für eine den Abschluß der pädagogischen 
Wissenschaften bildende Erziehungspbilosophie eintrete, zu der bereits viele Ansätze vor¬ 
handen sind, so bei Th. Litt, E. Krieck u. a.; sie wird Wertvolles leisten, sobald ein 
sorgfältig aufgebautes Tatsachenmaterial vorliegt — augenblicklich ist dieses Material leider 
ooeh lückenhaft 


Besprechungen. 

Alois Riehl, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart Acht Vorträge. 
Sechste, fast unveränderte AufL Leipzig 1921. Teubner. 260 S. 14 M. 

Riehls Einführung in die Philosophie ist, seit sie 1902 erstmals erschien, so allgemein 
bekannt, daß sich eine Würdigung and Empfehlung bei ihrem nunmehr sechsten Erscheinen 
erübrigt Abweichend vom Stile der üblichen gelehrten and belehrenden Einleitungen in die 
Philosophie, wird sie als eine Schrift geschätzt, die im Ton der feinsinnigen Rede darauf aus¬ 
geht auf philosophisches Denken einzustimmen, und die dadurch, daß sie die großen Gestalten 
und 8ysteme an den entscheidenden Wendepunkten der Geistesgeschichte anregend vor Augen 
stellt, zu einem ersten Verständnis der philosophischen Bestrebungen der Gegenwart führt. 
Freilich geleitet sie nur bis zu Schopenhauer und Nietzsche und fügt dann nur noch 
eine Kritik des Pragmatismus an. Die großen geistigen Fragen and Bewegungen der Jüngsten 
Zeit bleiben anberührt. Tr. 

Dr. K. Girgensohn, Prof. a. d. Universität Greifswald, Der seelische Aufbau des religi¬ 
ösen Bewußtseins. Eine religions-psychologische Untersuchung auf experimenteller Grund¬ 
lage. Leipzig 1921. HirzeL 712 S. Geheftet 120 M., Gebunden 186 M. 

Die zunächst absurd anmutende Verknüpfung der Begriffe „Religionspsychologie* und „Experi¬ 
ment*, die der Titel enthält, erweist sich bei Betrachtung des Inhalts als durchaus sinnvoll, 
Ja als eine überaus wertvolle Bereicherung psychologischer Methodik und Einsicht Die ange¬ 
wandte Experimentalmsthole ist nämlich die der geleisteten Selbstbeobachtung, wie sie 
die Würzburger Schule unter Külpes Leitung aasgebildet hat 

Der Verfasser legt seinen „Beobachtern* — erwachsenen gebildeten and religions- 


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Literaturbericht 


interessierten Personen beiderlei Geschlechts — eine Reihe von Gedichten religiösen In¬ 
halts vor und läßt sie nach der Lektüre eines Jeden alle Erlebnisse, die sie während des 
Lesens hatten, genan zu Protokoll geben; des weiteren wurden auch einige Gespräche 
über bestimmte Themen (das Vertrauen, den Gottesbegriff) mit den Reagenten angeknüpft, 
ebenfalls mit genauer Protokollierung des Inhalts. Diese Protokolle — deren ausführliche 
Wiedergabe einen großen Teil des stattlichen Buches füllt — erweisen nun eine unerwartete Frucht¬ 
barkeit für die Klärung wichtigster psychologischer Fragen — und zwar nicht allein religionspsycho- 
logischer Insbesondere für die Psychologie des Gefühlslebens wird aufs Eindringlichste dargetan, wie 
dürftig und schematisch bisher fast alle Theorien gewesen sind. Der Verfasser entwickelt im 1 Hauptteil 
diese „Mannigfaltigkeit des Gefühlslebens nach der funktionellen und der inhaltlichen Seile unter 
ständiger Bezugnahme auf die verschiedenen psychologischen Theorien. Im 2. Hauptteil werden 
nun die Gefühle des spezifisch religiösen Erlebens analysiert Wir erfahren von der Bedeutung 
der Lust- und Unlustgefühle im Religiösen und von der eigentümlichen Rolle der Organempfin¬ 
dungen; das Wesentliche des spezifisch religiösen Erlebens ist aber nicht in diesen zu sehen, 
sondern in zwei anderen Momenten: einmal bestimmten „Ich-Funktionen“: Einfühlung des Ich 
in die zunächst fremden religiösen Gedanken, Hingabe an das religiöse Objekt, Erlebnis des 
Wachslums und der Erweiterung des Ichs — und andererseits in dem gedanklichen Objekt 
einer alles Begienzte und Gegebene überschreitenden Wirklichkeit, einem Objekt, das aber nicht 
sowohl als diskursiver Begriff, sondern als „Intuition“, als „konkretes Abstraktum“ auftritt. 
Weder das bloße drefühl noch das bloße Denkobjekt konstituiert Religiosität, sondern nur das 
Ineinander von beiden: „Setzung des Ichs und religiöser Gedanke werden im lebendigen reli¬ 
giösen Leben nicht als etwas verschiedenes empfunden, sondern das religiöse Leben ist stets 
beides zugleich: Gedanke und Beziehung des Ichs“. (So kommt hier die psycho¬ 
logische Analyse des Verfassers zu genau demselben Ergebnis, das der Personalismus als „In- 
trozeption“ bezeichnet und ebenfalls als Grundform des religiösen Verhaltens ansieht.) Gegen¬ 
über den genannten Momenten sind die vorstellungsmäßigen und willemmäßigen Erlebnisinhalte 
(die ebenfalls eingehend betrachtet werden) für das Wesen der Religiosität nur sekundär. Der 
Analyse der Protokolle ist die Betrachtung von Selbstbekenntnissen großer religiöser Persönlich¬ 
keiten angeschlossen Es finden sich hier dieselben Züge wieder. Im Scblußteil wird die an¬ 
gewandte denkpsychologische Methode kritischer gerechtfertigt und vor allem gegen die bekannten 
Einwände von Wundt verteidigt. Ihr Wert ist dur<h den Inhalt des Buches aufs Bündigste 
dargetan, ja sie ist durch die Arbeit des Verfassers über ihre, von Külpe und seinen Schülern 
gezogenen Grenzen hinaus erweitert worden; denn es sind ja nicht mehr Probleme der „Denk¬ 
psychologie“ im engeren Sinne, sondern das Problem einer alle seelischen Funktionen ins Spiel 
setzenden Verbaltungsweise, deren Erkenntnis durch das Verfahren der experimentellen Selbst¬ 
beobachtung um ein wesentliches Stück gefördert worden ist In Zukunft wird diese Methode 
neben den anderen bisher für die Religionspsychologie verwandten Methoden (der historischen, 
der völkerpsychologischen, der Erhebungsmethode) ihren gleichberechtigten Platz haben. 

Hamburg. William Stern. 

Dr. phil. et med. Georg Sommer, Leib und Seele in ihrem Verhältnis zueinander. 

Aus Natur und GeisteswelL Nr. 702. Leipzig 1920. Teubner. 128 S. 12 M. 

Den Zugang zu dem trotz seines Uralters ungelösten Probleme des menschlichen Denkens 
wie Leib und Seele zueinander stehen, nimmt Sommer durch Darlegungen zu der Frage: 
Was heißt psychisch? Eingehend und kritisch stellt er dann die großen Theorien dar, die sich 
als Versuche, das schwierige Köiper-Geistproblem zu lösen, in der Geschichte der Philosophie 
herausgebildet haben: die materialistische Deutung, die Lehre vom Parallelisn.us und die Wechsel¬ 
wirkungstheorie. Auf die große Wenduntr, ob es sich bei dem Denken über das Verhältnis von Leib 
und Seele nicht zuletzt um das unfruchtbare Bemühen an einem Scheinproblem handle — eine 
Wendung, die M. Schlick vom erkenntnistheoretiscben Standorte und W. Stern im Zuge eines 
eigenen philosophischen Systems wagt —, wird nur kurz verwiesen. Der Weisheit letzter Schluß, zn 
dem sich Sommer in seinen untersuchenden Erörterungen heranarbeitet, ist das Bekenntnis, 
daß die naturphilosophische These: man könne sich der Lösung nur unter Annahme eines nicht¬ 
energetischen Faktors nähern, immer mehr an Wahrscheinlichkeit und Anerkennung gewinne. 
„Der Mensch und das Organisch-Lebendige überhaupt steht in einem größeren Zusammenhänge, 
als der ist, welcher sich durch die bewährten und durch künftige Methoden der Naturforschung 
auflösen läßt.“ „Jedes Einzel-Ich, ja jegliche Regung eines Bewußtseins, welchen Grades und 
welcher Klarheit sie auch sei, ist beteiligt an der Lenkung des Geschebensstronies, den wir 
„Leben“ nennen. Das Bewußtsein, innigst mit diesem Strome verwoben, zieht ihn nach sich — 
ja noch mehr: es ist in seiner höchsten Form verantwortlich für die Richtung dieses Stromes .... 


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Literaturbericht 


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Im Laufe der ganzen organischen Entwicklung verschiebt sich der ganze Schwerpunkt des Ge¬ 
schehens allmählich von der Entfaltung und Erhaltung der Form und Funktionen des Leibes 
nach der Schaffung und Behauptung geistiger Werte, und diese wiederum adeln Form und Funk¬ 
tion des stofflichen Anteils. So tritt mit wachsender Deutlichkeit der Primat des Bewußtseins 
im Organischen hervor, und trotz aller Schwierigkeiten dürfte das Gesamtergebnis der bis¬ 
herigen Arbeit an unserem Problem heute der Annahme günstig sein, daß das Verhältnis 
zwischen Leib und Seele als ein kausales im Sinne der Wechselwirkungstheorie zu be¬ 
stimmen sei“. 

Leipzig. Richard Tränkmann. 

Dr. Th. Eris mann, Privatdozent an der Universität in Bonn, Psychologie III. Die Haupt¬ 
formen des psychischen Geschehens. Sammlung Göschen Nr. 833. Berlin und Leipzig 1921. 
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. 144 S. 9,00 M. 

Nachdem von uns das erste und zweite Bändchen der dreiteiligen Psychologie von Eris- 
mann ausführlicher gekennzeichnet worden ist (vergl. Jahrgang 1921, S. 270 und S. 350), 
bedarf es für den Abschlußteil nur des Hinweises, daß er in gedrängtester Darstellung und in 
dem überlieferten Aufbau, der von den Empfindungen, Wahrnehmungen und Denkleistungen 
za den Gefühlen und Affekten und von da zu den Willensvorgängen führt, einen kürzesten 
Abriß dessen gibt, was sonst nach der wissenschaftlichen Oberlieferung unter allgemeiner 
Psychologie verstanden wird. Es liegt in der Natur des Gegenstandes, daß hier nun weniger 
als in den ersten Bändchen, die sich mit den Grundlagen der Psychologie beschäftigen und 
das Gewebe seelischen Seins in der Persönlichkeit behandeln, eigene Forschungen und An¬ 
schauungen des Verfassers zur Geltung kommen. Was aber Erismann aus dem verfügbaren 
umfänglichen Lebrgute, schöpft und zu einer gut ausgeglichenen und wohlgeordneten Obersicht 
fügt, hält engste Fühlung mit den Ergebnissen der jüngsten empirischen Forschungen, besonders 
den experimentellen, und ist in das Licht der grundsätzlichen Betrachtungen gerückt, die in den 
ersten Teilen des Gesamlwerkes angestellt worden sind. Eigene Stellungnahme zeigt so vor 
allem die Behandlung des Denkens, und auch in die Lehre vom Gefühl und Affekt fließen Er¬ 
örterungen ein, die in ihren Grundlagen von überlieferten Auffassungen abweichen. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Ernst Kretzschmar, Privatdozent für Psychologie in Tübingen, Medizinische Psy¬ 
chologie. Ein Leitfaden für Studium und Praxis. Leipzig 1922. Georg Thieme. 365 S. 39 M. 

Unmittelbar auf die praktischen Aufgaben des ärztlichen Berufes eingestellt und dabei dem 
Bedürfnis entgegenkommend, über die Enge des Faches hinaus einen Ausblick auf erkenntnis- 
theoretische, ethische, volkspsychologiscbe und theoretische Fragen zu gewinnen, bewegt sich 
das Buch Kretscbmars nicht etwa, wie man nach dem Titel vermuten könnte, im Felde der 
physiologischen Psychologie, sondern bemüht sich, unter Verzicht auf eingehende anatomische 
und neurologische Darstellungen um eine Zergliederung der höheren seelischen Vorgänge. 
Dabei durfte mit Recht nicht eine Beschränkung auf psychopathologische Erscheinungen erfolgen, 
wenn diese selbstverständlich auch sehr vordringlich gegen die Beschreibung des normalen 
Seelenlebens sein mußten. Sorgfältiges Eingehen erfuhren so u. a. Traumleben, Hypnose, 
Suggestion, Neurose, Hysterie und die Verfassungen der psychopathischen Persönlichkeiten. Nach 
dem Maße ihrer Bedeutung sind vor allem auch — bei deutlicher, kritische! Zurückhaltung — 
die gesicherten psychoanalytischen Auffassungen dargestellt und gewürdigt worden. Eine besonders 
eingehende Behandlung erfährt der Sexualtrieb. Nicht ausreichend erscheint uns bei ihrer Be¬ 
deutung für den Arzt die Psychologie der Aussage berücksichtigt. In der Denkweise tritt, 
von einer medizinisch'orientierten Psychologie nicht anders zu erwarten, der naturwissen¬ 
schaftliche Zug hervor. Ein Einfluß von Jaspers, der die Psychiatrie durch Einführung der 
phänomenologischen Betrachtung befruchtet hat, ist unverkennbar. Auch die entwicklungs- 
psychologische Linie wurde eingebalten. Daß sich die Darstellung auf reichlich eingestreute an¬ 
schauliche Beispiele stützt, auch auf Bildbeigaben, statistisches Zahlenwerk, Krankenberichte, 
Versuchsmaterial usw., wird dem Buch, das die Kenntnis der allgemeinsten psychiatrischen 
Begriffe und der geläufigen Krankenbilder voraussetzt, zum Vorteil. — Große Teile des Buches 
erörtern psychologische Gebiete, die auch eine hohe pädagogische Bedeutung haben. Um 
das Buch aber für den Handgebrauch des Erziehers zu empfehlen, ist die Psychopathologie des 
Jugendlebens nicht ausgiebig genug herangezogen worden und werden an ausgesprochene 
medizinische Vorkenntnisse zu hohe Ansprüche gestellt. 

Leipzig. Otto Scheibner. 


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Literaturbericht 


Dr. med. Walter Gut, Nervenarzt in Hohenegg-Meilen, Vom seelischen Gleichgewicht 
und seinen Störungen. Vorträge, gehalten in den Zürcher Frauenbildungskursen 1920. 
Zürich 1921. Orell Füßli. 164 S. 30 M. 

Mit feinem didaktischen Geschick ist in dieser Schrift eine allgemeinverständliche Darstellung 
gegeben von den seelischen Unstimmigkeiten, Spannungen, Schwierigkeiten, die im täglichen 
Umgänge mit anderen und mit sich selbst das persönliche Leben störend bestimmen. Die aus¬ 
gesprochenen Geisteskrankheiten werden dabei nicht berührt oder nur mit flüchtigem Blicke ge¬ 
streift. An zahlreichen Beispielen bringt das erste Kapitel zunächst zum Verständnis, wie kör¬ 
perliche Unzulänglichkeiten sich in seelischer Störung spiegeln (Krüppelseele, Charakteränderung 
bei Lungenkranken, Wirkungen der Kinderlosigkeit, Folgen der Kurzsichtigkeit, seelische Ver¬ 
fassung der Taubstummen usw.). Wie auf Grund „nervöser Veranlagung“, durch die in be¬ 
stimmter Art Menschen und Dinge auf den „Belasteten“ wirken und das Bild des Wehleidigen, 
Haltlosen, Leidensseligen, Empfindlichen usf. ergeben, beschreibt und erörtert dann der folgende 
Abschnitt. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den „Entwicklungskonflikten“. Die Schrift 
bewegt sich hier vorsichtig, wie auch sonst durchweg, in psychoanalytischen Beobachtungen und 
Deutungen, ohne daß ausdrücklich diese Einstellung betont würde. Vor allem ist es die Psycho¬ 
logie des Trotzes, der Konflikt des Alterns, die Spannung zwischen Eltern und Kind, die Be¬ 
deutung der Jugenderlebnisse, die dabei — bezogen auf anschauliche Beispiele — behandelt 
werden. Auffällig ist, wie den Erscheinungen des Sexuallebens ausgewichen ist. Es folgen die 
Störungen, die ein „Leiden in der £eit“ ausdrücken. Diese Wendung führt zu massenpsycho¬ 
logischen Darlegungen hinüber und zu einer Zergliederung der gegenwärtigen Kulturlage. So 
werden — um einzelnes zu nennen — die modern chaotische Lebensstimmung, die romantische 
Überspanntheit, der idealistische Überschwang, der weltflücbtige Trieb als Spiegelungen der 
geistigen Krisis unserer Zeit betrachtet. Zuletzt nimmt das Buch den Aufstieg zu herzhaften 
Ausführungen Über die Gesundheit der Seele. Es warnt z. B. vor Übersteigerungen der Gefühle, 
fordert „Sachlich leben!“, predigt Ehrfurcht und spornt den Willen zum Gesundsein an. — Soweit 
rein ärztliche Erkenntnisse die Darstellungen stützen, wissen wir uns zu ihrer Beurteilung nicht 
zuständig. Was aber in ihnen an Psychologischem und vor allem Pädagogischem bewegt wird, 
hat nach unseren eindringenden Beschäftigungen und besonders gepflegten Beobachtungen im 
Gebieie einer „Seelenlehre des Alltags“ unseren vollen Beifall. Wir wünschen dem Buche, das 
fesselnd geschrieben ist und einen weiten Horizont seiner Betrachtungen hat — so greift es viel¬ 
fach auch Beispiele aus der Dichtung auf und wirft Blicke in größere philosophische Weiten —, 
daß es vor allem in die Hände der Eltern und beruflichen Erzieher komme. 

Leipzig. Rieh, Tränkmann. 

Dr. phiL et med. Erich Stern, Privatdozent an der Universität Gießen, Die krankhaften 
Erscheinungen des Seelenlebens. Allgemeine Psychopathologie. Aus Natur und Geistes¬ 
welt. 764. Bd. Leipzig 1921. Teubner. 116 S. 12 M. 

In der Auswahl und Formung des Stoffes richtet sieb das Bändchen darauf ein, daß sein 
Gegenstand weiteren Kreisen zugänglich werde; vor allem will es für die psychologischen Be¬ 
lehrungen, wie sie in Lehrerbildungsanstalten, Frauenschulen und in Volksbildungsstätten eifrig 
betrieben werden, eine Ergänzung bieten. So vermeidet Stern, soweit dies möglich wird, die 
facbwissenschaftlichen Ausdrücke, drängt das Praktische der seelischen Krankenbehandlung bis 
auf ein paar Andeutungen zurück, durchsetzt die schlicht dargebotenen psychopathologischeo 
Erscheinungen reichlich mit Beispielen und Krankenberichten und befleißigt sich eines durch¬ 
sichtigen und einfachen Aufbaues, der nach der Sicherstellung einiger grundlegenden Begriffe 
die Störungen des Wahrnehmens, des Gefühls, des Vorsteilens, der Intelligenz, des Wolleos 
und Handelns und schließlich des Ichlebens durchläuft 

Leipzig. Rieh. Tränkmann. 

Bastian Schmid, Von den Aufgaben der Tierpsychologie. (Heft 8 der «Abhandlungen 
zur theoretischen Biologie“). Mit 11 Abb. im Text. Berlin 1921. Borngräber. 42 S. 12 M. 

Bastian Schmid bat sich auf tierpsy dialogischem Gebiete zuerst in seinen Schriften „Das 
Tier und wir“ (1916) und „Das Tier in seinen Spielen“ bewegt. Er kündigt weitere Veröffent¬ 
lichungen, die nun ausgeprägt wissenschaftlichen Zweck haben, als Frucht eingehender Unter¬ 
suchungen an. Die vorliegende Abhandlung bringt vorerst methodische Erörterungen, ohne 
dabei an Kritischem oder Positivem wesentlich Neues vorzulegen. Bei seiner grundsätzlichen 
Anerkennung der psychischen Realität lehnt Schmid die rein-mechanischen Deutungen ab, 
wendet sich mit gleicher Entschiedenheit aber auch gegen die heute immer noch umlaufenden 


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Literaturbericht 


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Vermenschlichungen tierischen Seelenlebens, wie sie sich vorfinden, wenn sogar namhafte 
Zoologen die naiven Darstellungen vom Schlage einer Paula Möckel verteidigen. Was Schmid 
an Unzulänglichkeiten der tierpsychologisehen Forschung aufzählt, trifft heute bei weitem nicht 
mehr durchweg zu. Es darf freilich eine auf wissenschaftliche Beachtung rechnende Abhand¬ 
lung nicht an solchen bahnbrechenden Untersuchungen wie der von Köhler vorübergehen. An 
Problemkreisen, die künftig eifriger als bisher mit einwandfreien Methoden zu untersuchen 
wären, zeigt Schmid drei auch für die pädagogische Psychologie wichtige Gebiete auf: die 
psychische Entwicklung des Einzelwesens, die Ausdrucksformen des tierischen Körpers und die 
Sprache der Tiere. Was er hierzu ausführt, enthält einige wertvolle Anregungen zu neuen 
Fragestellungen und ist durchsetzt mit eigengesammelten BeobachtungBbefunden. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie. 8. AufL mit 8 Tab. Leipzig 1921. 

Barth. 98 S. 12 M. 

—, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung einer Wissenschaft vom 

Ausdruck. 2. wesentlich erweiterte Auflage. Mit 41 Figuren im Text. Leipzig 1921. 

Engelmann. 205 S. 24 M. 

—, Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriß der graphologischen Technik. 

Mit 137 Figuren und 21 Tab. 2. wesentlich erweiterte Auflage. Leipzig 1920. Barth. 

254 S. 28 M. 

Dr. Ludwig Klages zählt zu den wissenschaftlichen Schriftstellern, die ihre einmal be¬ 
bauten Felder nicht abgetan sein lassen, sondern sie immer erneut durcbpflügen. Die Neuauf¬ 
lagen seiner bekannten Bücher sind darum Werke mit ganz anderem Gesicht: ,,Ausdrucks¬ 
bewegung und Gestaltungskraft“ wurde weitgehend ausgestaltet und auf den doppelten Umfang 
erweitert; „Handschrift und Charakter 1 stellt sich als durchaus neues Buch vor, und wenn die 
„Prinzipien der Charakterologie* 4 unverändert erscheinen, so bedauert der Verfasser im Vorwort 
die notgedrungen unterlassene Umarbeitung und weist in redlicher Sachlichkeit auf die* schwer¬ 
wiegenden Unvollkommenheiten hin, die nach dem Fortschritt Beiner steten Forschungsarbeit 
in eingreifenden Umstellungen und Erweiterungen behoben sein müßten. 

Einer Würdigung bedürfen die drei innerlich verbundenen Schriften nicht mehr. Sie sind 
geschätzt als Werke, die ein psychologisches Gebiet, auf dem sich harmloser und gefährlicher 
Dilettantismus uneiträglich breit macht, in strenger Methodik und scharfem Denken wissenschaft¬ 
lich durchforscht und dabei — wenn mitunter freilich zu logifizierend und zu systemfreudig — 
zu sicheren und eigenen Auffassungen und Ergebnissen gelangt Es bietet diese Anzeige aber die 
Gelegenheit, besonders auch die Lehrerschaft auf die Schriften von Klages hinzuweisen. In dem 
Werden einer Beziehungsweise, die den BildungsVorgang ernster als bisher zu einem Gestalten 
von innen heraus zu erfassen und zu verwirklichen beginnt und die jungen Menschen in der 
Totalität ihres Wesens zu begreifen strebt, gibt Klages den Erziehern allerwertvollste Auf¬ 
schlüsse besonders über charakterologische Kennzeichnungen. Die praktisch - psychologischen 
Arbeiten, die beute in der Schule noch eben mehr versuchsweise betrieben, künftig aber sicher 
berufsamtlich verlangt werden, so u. a. die Führung von psychologischen Schülerbogen, die Aus¬ 
füllung von Listen zur Ermittelung der BeruLeignung, die Auslesen für bestimmte Schul¬ 
bahnen usf., erfordern eine psychologische Schulung, die im Rahmen der landläufigen syste¬ 
matischen Psychologien schwei lieh erworben werden kann. Nicht, daß wir meinten, gerade die 
Deutung^ausübung an der Handschrift, wie sie Klages als Eigenstes betreibt, wäre von be¬ 
sonderer Bedeutung für den Lehrer, wiewohl ja von beachtbarer Seite allen Ernstes die schul¬ 
pädagogische Ausbeutung der Graphologie — so von Prof. Schneider — empfohlen wird; es 
ist vielmehr ganz allgemein die psychologische Einstellung auf den Ausdruck und die Gestaltung 
und auf die cbarakterologischen Analysen, was vom Lehrer aus besehen die Schriften von 
Klages wertvoll macht. Schade aber, daß der Verfasser in den kritischen Auseinander¬ 
setzungen, wie sie z. B. in polemischen Fußnoten in den „Prinzipien* gegeben sind, mitunter 
durch einen galligen und schimpfigen Ton (vergl. etwa S. 81 u. 83) höchst peinlich berührt 

Leipzig. Rieh. Tränkmann. 

Kawerau, S., Soziologische Pädagogik. Leipzig 1921. Verlag von Quelle und Meyer. 
- 278 a 32 Bf. 

Das Buch von Kawerau ist eine außerordentlich wertvolle Zusammenfassung der Gedanken, 
die in den letzten Jahren zur Schulreform geäußert worden sind. Die Darstellung ist ungemein 
fesselnd, und sehr brauchbar ist zweifellos das reiche Tatsachenmaterial, das zur Kenntnis der 


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Literaturbericht 


Psyche des modernen Jugendlieben beigebracht wird, K. will die Schule der neuen Gesell¬ 
schaft auf die Soziologie gründen und tut dies in der Weise, daß er die sozialphilosophische 
Theorie von Müiler-Lyer auf die systematische Pädagogik anwendet. Nun ist Ja zwar heute 
die Ansicht weitverbreitet, daß die Soziologie mit in die Reihe der zielbestimmenden pädago¬ 
gischen Grundwissenschaften gehöre. Aber diese Ansicht ist nach meiner Anschauung nicht 
haltbar. Die Soziologie ist keine zielsetzende Grundwissenschaft der Pädagogik, sie ist lediglich 
eine Hilfswissenschaft im Dienste der pädagogischen Tatsachenforschung. Die Tat- 
ßnchei forschung ist heute innerhalb der Pädagogik unstreitig im Vordringen begriffen. Als ein 
höchst wichtiges Gebiet derselben wird beute allgemein diepädagogischePsychologie anerkannt, 
die mit exakten Beobacht ungsmethoden die seelischen Bedingungen der Erziehung untersucht 
und hierbei die genetische und die differentielle Jugendpsychologie als unentbehrliche Hilfs¬ 
wissenschaft betrachtet. Ein ebenso wichtiges Problem ist nun die Abhängigkeit der Erziehung 
von den gegebenen sozialen Bedingungen. Diese Bedingungen an dAr Hand sorgfältiger 
Einzeluntersuchungen festzustellen, muß die Aufgabe eines anderen Tatsachengebietes der Er¬ 
ziehungswissenschaft sein: der pädagogischen Soziologie. Diesem Forschungsgebiet dient 
die „reine* 4 Soziologie — wie oben die reine Psychologie — als Hilfswissenschaft, unter der 
Voraussetzung, daß hierunter nicht die Sozialpbilosophie, sondern die exakte Sozialwissenschaft 
verstanden wird, deren Kern und Rückgrat die Sozialgeschichte, insbesondere die deutsche 
SoziaIgeschicbte, bildet. Auf dieses wichtige pädagogische Arbeitsgebiet habe ich schon vor 
zehn Jahren in meinem Buche „Entwickelungspsycbologie und Erziehungswissenschaft 4 ' hinge¬ 
wiesen, ohne Beachtung zu finden. Dort habe ich auch den Nachweis geführt, daß Häckels 
biogenetisches Grundgesetz, auf das sich K. wiederholt beruft, für die Geisteswissenscbaften 
nicht gilt und in wesentlich anderem Sinne verstanden werden muß, als dies K. tut. 

Leipzig. Johannes Kretzschmar. 

Jonas Cohn, Geist der Erziehung. Pädagogik auf philosophischer Grundlage. Leipzig 
1919. Teubner. VI u. 381 S. 52 M. 

Der durch seine Werke Allg. Ästhetik (1901), Voraussetzungen und Ziele der Erkenntnis 
(1908), Der Sinn der gegenwärtigen Kultur (1914) bekannt gewordene Freiburger Gelehrte, 
der Windelband und Rickert nahesteht, versucht in einem umfangreichen Werke seine kultur¬ 
philosophischen Betrachtungen auf die Pädagogik auszudehnen. Er geht besonders den Grund- 
und Zielfragen der Erziehungswissenschaft nach. Der reiche Inhalt des Werkes kann hier nur 
angedeutet werden. Die Einleitung definiert den Begriff der Erziehung als die „fortgesetzte 
bewußte Einwirkung auf den bildsamen Menschen mit der Absicht, diesen Menschen auszu¬ 
bilden 4 *. Die Pädagogik als bloße Technik wird abgelehnt. Sie ist Wissenschaft und zwar 
wesentlich von der ganzen Philosophie abhängig, da die Ziele der Erziehung, die maßgebend 
für jede pädagogische Einzelfrage sind, von der gesamten Ansicht über Wert und Sinn des 
Menschenlebens abhängen. Der erste Teil versucht, wert philosophisch das Ziel der Erziehung zu 
konstruieren. Dies geschieht in doppelter Ableitung, vom Individuum und von der Gemeinschaft 
aus Als allgemeine Bestimmung des Menschen wird das „rechte Handeln 4 *, die Sittlichkeit 
(Autonomie) erkannt Nun ist aber der Mensch Glied einer Gemeinschaft und wird für eine 
solche erzogen. Zwei Formeln werden gewonnen: 1) „Erziehungsziel, vom Einzelnen her ge¬ 
sehen, ist die durch Teilnahme am geschichtlich kulturellen Gemeinschaftsleben erfüllte autonome 
Persönlichkeit 44 . 2) Von der Gemeinschaft her gesehen, heißt die Zielformel: „Der Zögling soll 
gebildet werden zum autonomen Gliede der historischen Kulturgemeinschaften, denen er ange¬ 
hören wird* 4 . Jede Forderung, Autonomie und Gliedschaft, soll erfüllt sein. Diese dialek¬ 
tische Natur des Erziehungszieles setzt die Erziehung in Bewegung. C. sieht die Notwendigkeit, 
seine abstrakte Formel mit Leben zu erfüllen. Von der Wertkonstruktion wendet sich die Methode der 
Betrachtung zur Sinndeutung der geschichtlichen Lage, zur Besonderung des Zieles durch Zeitlage 
und Deutschtum und durch den künftigen Beruf. Hier herrscht die empirische B’trachtung 
vor, wie in den folgenden Teilen. Der 2. Teil handelt vom Zögling und seiner Entwicklung, 
der dritte vom Erzieher und den erziehenden Gemeinschaften. Im 4. Teile werden schließlich 
die wesentlichen Seiten der Erziehung vom Einzelnen und von der Gesamtheit her konstruktiv 
abgeleitet. — Das Buch enthält viele wertvolle Gedanken und 'zeichnet sich durch besonnene 
Haltung aus. Doch ist es C. nicht gelungen, ein umfassendes System der Pädagogik aufzu 
stellen und die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken. Seine philosophische Grund» 
legung geht bei aller Eigenheit der Einkleidung bekannte Wege. Daß die Pädagogik sich auf 
eigene Prinzipien gründen könne, will C. nicht zugeben. Th. Litt (Kantstudien Bd. 25, 1920, 
S. 256) macht C. den Vorwurf, daß seine allgemeine Formel fast alles Wesentliche an den 


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Literaturbericht 


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Problemen des pädagogischen Denkes auf die Seite des bloß Empirischen hinüberschiebe. Dies 
könnte vielmehr im Sinne einer Pädagogik als Tatsachen Wissenschaft als Vorzug erscheinen, 
wenn C. bei der empirischen Betrachtung einen einheitlichen Gesichtspunkt festhielte. So zeigt 
sich nur, wie locker der philosophische Unterbau mfr-dem eigentlichen Gebäude der Pädagogik 
verbunden ist Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit, die Möglichkeit der Pädagogik als 
selbständiger Tatsachenwissenschaft genauer zu verfolgen als bisher. 

Leipzig. Erich Franke. 

Prof. Dr. W. Rein, Jena, Zur Gestaltung des Lehrplans der Grundschule. Langen¬ 
salza 1922. Beyer & Sö. 23 S. 

Das sachlich nicht allzu belangvolle Schriftchen sei nur angezeigt, weil es auf der mehr 
als dreißigjährigen Praxis in der Obungsschule des Pädagogischen Universitätsseminares zu Jena 
ruht und weil wir Re ins Bemerkung unterstreichen möchten, daß die Wirrnis im didaktischen 
Denken unserer Tage wohl nicht so arg wäre, wenn alle deutschen Universitäten ähnliche Versuchs¬ 
schulen besessen hätten. Es wären dann, so meinen wir, sicher auch andere untemcbtliche 
Anschauungen als die der Herbartschen Pädagogik, die in Jena mit außerordentlichem Eifer 
und Geschick gepflegt worden ist, so ausgebildet worden, daß die preußischen Richtlinien 
zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule — Richtlinien, die besonders in der For¬ 
derung des Gesamtunterrichtes eine Umstellung bedeuten — nicht auf so viel Hilflosigkeit stoßen 
mußten. Sch. 

Mgd. v. Tiling, M. d. pr. L., Oberin der Frauenschule zu Elberfeld, Psyche und Erziehung 
der weiblichen Jugend. 2. und 8. Aufl. Langensalza 1922. Beyer & Sö. 48 S. 4,50 M. 

Eine gehaltvolle und feinsinnige Schrift! ln sicheren, nur das Wesentlichste betonenden 
Linien zeichnet Mgd. v. Tiling das Total der zu unverkttmmertem, unverbogenem Frauenwesen 
heranreifenden weiblichen Seele. In die Tiefen aber, von denen aus hier werdendes Eigenleben 
erfaßt wird, konnte nicht mit den wissenschaftlichen Verfahrensweisen einer exakten differentiellen 
Psychologie vorgedrungen werden. Was erfaßt werden sollte, mußte auf die feine psychologische 
Witterung gestellt bleiben, die mit ihrer instinktiven Sicherheit selbst ein weiblicher Wesenszug 
ist, und konnte nur gelingen auf Grund einer langen Erfahrung inmitten der inneren Personen- 
gemeinschaft, in der eine berufene Erzieherin mit ihren älteren Schülerinnen lebt Eine solche 
auf Verstehen, Schauen, Einfiiblen hinausgehende Einstellung birgt freilich die Gefahr, auf All¬ 
gemeinheiten, Unklarheiten und Redereien hinauszutaufen. Der denkhafte Zug aber, den 
Mgd. v. Tiling in jedem ihrer Gedankengänge erweist und den sie auch in der deutschen Frauen¬ 
erziehung aufs deutlichste ausgeprägt wissen will, sicherte ihrem Unternehmen bestimmteste Sach¬ 
lichkeit und erbrachte so den Gewinn, daß schließlich die Fpchpsychologe aus ihrer Darstellung 
maochen Hinweis auf neue Problemstellung für strengere Untersuchungen entnehmen kann. 
Wertvoll erscheint mir besonders unt»*r den Ausführungen, die ganz bewußt das genugsam er¬ 
örterte Intellektualleben des Jungmädcbens nicht in den Vordergrund rücken, die Darlegungen 
Aber „Das Erleben der eigenen Seele* 4 (S. 23—28). So wird u. a ausgeführt: 
„Sehr viel Mädchen quälen sich mit einer Zweiteiligkeit ihres Ich. Sie können nie ganz frei 
and unbefangen sein, weil sie sich stets selbst beobachten, gleichsam das eine Ich das andere 
bei jeder Regung wie etwas Fremdes betrachtet. Andere Mädchen fangen leicht an, sich als 
Mittelpunkt za sehen, ihr eigenes Ich von der Umwelt zu sondern, alle Dinge auf ihr Ich zu 
beziehen, die Dinge nur danach abzuscbätzen, wie weit sie für ihr eigenes Ich Wert haben. 
Ihre Gedanken und Gefühle umkreisen beständig das eigene Ich. Die ganze Außenwelt wird 
völlig subjektiv beurteilt, weil das Mädchen sie nur in ihrer Beziehung zu seinem eigenen Ich 
za sehen vermag .... Auf Mädchen, die besonders stark ihre Seele in sich erleben, kann 
wissenschaftliche Arbeit eine ganz verschiedene Wirkung haben. Sie kann entweder zu einer 
bedeutenden Vertiefung führen und so dem Erleben der Seele reichen beglückenden Inhalt fürs 
ganze Leben geben. Sie kann aber auch bei anderen die Gefahr, sich einem solchen lchkult 
zo ergeben, noch vergrößern. Durch die Beschäftigung mit der Wissenschaft wird solchen 
Mädchen nicht die Wissenschaft, sondern ihr Ich immer nur wichtiger. Es gibt Mädchen, die 
aas dem, was sie lernen, immer das heraussuchen, was ihr Ichbewußtsein steigert. 44 Ich führe 
diese Stelle an, weil sie an einer immer wieder in den höheren Mädchenbildungsanstalten zu beob¬ 
achtenden Richtung, die darauf hinausgeht, die Schülerinnen sich selbst interessant zu machen und 
siedamit zu urteilslosen Jüngerinnen des „Meisters 44 zu gewinnen, das höchst Gefährliche solchen Tuns 
aafdeckt Mgd. v. Tiling gibt dem entgegen in ihren pädagogischen Folgerungen klar und bestimmt 
tu, was vor allem in der Erziehung der werdenden Frauenpersönlichkeit vonnöten ist (S. 43): es gilt. 


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Literaturbericht 


die Jungmädchen aus „seelischer Icbveimmkenheit zu gewinnen für eine Hingabe an die ob¬ 
jektive Welt da draußen“. „Dies gilt“, so sagt sie sehr richtig späterhin, „vor allem vom Unter¬ 
richt in der Psychologie und Pädagogik.“ — Soll neben der Anerkennung der vorzüglichen 
Schrift nicht unterschlagen bleiben, was wir außer mancher abweichenden Auffassung im 
einzelnen an durchgehenden Zügen kritisch sehen, so wäre hinzuweisen darauf, daß die 
Kennzeichnung der Jungmädcbenseele wohl allzu sehr beeinflußt ist von dem psychischen Ge¬ 
präge, das gerade die nach Herkommen und Bildungseinflüssen herausgehobenen Schülerinnen 
der Frauenschulen zeigen, daß ferner in dem psychischen Total doch wohl die intellekiuale Be- - 
stimmtheit zu wenig herausgearbeitet worden ist und daß schließlich psychologische und ethische' 
Betrachtungen nicht immer in der erforderlichen klaren Scheidung gehalten sind. 

Leipzig. {Otto Scheibner. 

Prof. Dr. med. et phil. F. Köhler, Friedrich Nietzsche. Bearbeitet nach 6echs Vorlesungen, 
gehalten an der Volkshochschule zu Köln im Winter 1920. Leipzig 1921. Teubner. 120 S. 12 M. 

Mit häufigen Beziehungen auf Raoul Richters bekannte Darstellung versucht Köhler In 
kurzer Oberschau ein leichtfaßliches Bild des Menschen und Denkers Nietzsche zu zeichnen« 
Von der Persönlichkeit und ihrem Schaffen ausgehend, folgt er dem Zuge der großen Werk», 
arbeitet aus ihnen die Kernprobleme heraus und gelangt schließlich zu einer Auseinandersetzung 
mit Nietzsches Philosophie und zu einer leider allzu kurz und wenig tief gehaltenen Würdi¬ 
gung ihrer Bedeutung. Der Rat, über Nietzsche zu lesen, bevor man zu seinen Werken 
greift, erscheint bei einem Denker von der sprachlichen Gestaltungskraft, wie sie an Nietzsche 
so stark fesselt, höchst fragwürdig. T. 

Deutsches Kulturlesebuch: Hoferbücherei. Herausgeber Stadtschulrat F. J. Nie mann 
und Rektor Walther Stein. Saarbrücken 1921. Gebr. Hofer. 

Die Hoferbücberei geht von der Tatsache aus, daß wir für ein größeres Stoffgebiet in 
den Üblic hen Lesebüchern oft nicht genügend Material finden, um im Sinne der modernen Arbeits¬ 
schulidee mit den Schülern tätig sein zu können. Hier will die Hoferbücberei helfen, indem sie 
in ihren einzelnen Heften Je eines der wichtigsten Sachgebiete, die für den Unterricht in Frage 
kommen, ausführlich darstellt, z. B. „Der Deutsche Bauer“ (das Bauerntum„Der Deutsche 
Bürger“ (Mittelalterliche Stadt), „Das Deutsche Handwerk“, „Der Deutsche Kaufmann“, „Das 
Wandern“, „Der Tod“, oder eine andere Gruppe: „Die Römer auf deutschem Boden“, „Griechischer 
Frühling“, „Die Gotik“, „Das Rokoko“, „Die Biedermeierzeit“, endlich eine dritte Gruppe: ,JMe 
Heide“. „Das Gebirge“, „Der Wald“ usw. Jedes einzelne Heft bat 5—7 Bogen Umfang und 
enthält eine reiche Fülle Erzählungen, epischer Stoffe, guter wissenschaftlicher Abhandlungen, 
Gedichte und Bilder, die sämtlic h in inniger Beziehung zu dem Thema des Helles stehen. Es 
gilt nun den didaktischen Versuch, die schmucken Hoferbücher den Schülern in die 
Hand zu geben. Es würde dann jeder Lehrer gleichsam das Lesebuch zusammensteilen, das 
er gerade für seinen Unterricht braucht. 

Leipzig. Johannes Prüfer. 


Mitteilungen. 

Eine eingehende Darstellung über das Leben und das Werk des am 5. Nov. 1920 verstorbenen 
Psychologen Theodore Flournoy gibt Ed. Claparöde im XVIII. Bd. (S. 1—126) des „Archive* 
de Psychologie“. 

Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin hat begonnen, im Berliner 
Verlage E. S. Mittler & Sohn eine zwanglos erscheinende Sammlung „Schule und Leben“ 
herauszugeben, die sich mit grundlegenden Fragen der theoretischen und praktischen Pädagogik 
sowie der für den Unterricht bedeutungsvollen Fachwissenschaften beschäftigen wird. 

Das „Pädagogische Zentralblatt“, herausgegeben vom Zenttalinstitnt für Erziehung 
und Unterricht, in Berlin erscheint vom 3. Jahrgange ab im Verlage von Hirt in Breslau. 

Die „Zeitschrift für soziale Pädagogik“ hat trotz reger sachlicher Teilnahme zunächst 
ihr Erscheinen eingestellt. 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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23. Jahrgang, Heft 5/6 


INHALT 


rum Begabungspcotttein Von pr M..VA£RTiNu in Berlin-Treptow-. 

P3ycbiscbe Ursachen des .Htotterrts. Von H. BURK HARDT in 
ufact <. Sa. 

Schulreform und Bilduogizwectf. Von Siodienrat Professor Dr. 
J. KRKT2äe.HMAR m Leipzig. # 

Kleine BeRräRe und Mitteilungen: VeFätsehasebularbeit in Öster¬ 
reich- ÄrföFatpimgdfer SexoslfcOt^lekfiing des Kindes. Auf reif gegen 
die AlJscdfOlgtj&hr SenUl.evt'fJfagvmg bei der Berufsberatung. 
StädiitoÄes psyehologiscbus tosmpt iw Hannover. NactwicHten. 

Literat brbericfilr 

Selbstartzeigtt:-. E>a*ä!uesprediutigeö 


von 


Q. SCHEIBNER und W. STERN 

: unterredakiioneiierMitvvirksxiiQ'ciom 

Ä.jPSCHERuND H.GAUDIG 











PIS 





Das Psychologische Laboratorfilm 
der Hamburgischen Universität. 1 ) 

Gesamtbericht über seine Entwicklung und seine gegenwärtigen 
* Arbeitsgebiete. 

Unter Mitwirkung von Martha Muohow, Godbersen, Klüver, Peter, 

Roloff, Schwärig, Werner 

erstattet von 

William Stern. 

-^ecbemerkung. 

vibrier Teil. Zehn Jahre Pädagogisches Laboratorium. 

,f . L Unter der Leitung Ernst Meumanns (1911—1915). 

1 IL Von Menmanns Tode bis zur Begründung der Universität (1915—1918) 

BL Das Laboratorium als Universitätsinstitut. (Seit 1919). 

Zweiter Teil. Die gegenwärtige Lehr-, Forschungs- und Prüftätigkeit 
des Laboratoriums. . 

L Allgemeine Psychologie. 

Grundfragen. — Experimentelle Untersuchungen zur allgemeinen Psychologie. 

IL Wtrtschaftspsychologie (insbesondere Berufseignung). 

Fliegerbeobachter. — Fahrerprüfungen. — Lehrlingsauslese. — Kaufmännische Psycho- 
technik. — Berufsberatung. — Lehrtätigkeit — Methodisches. — Zusammenfassung. 

9L Pädagogische Psychologie nnd Jugendkunde . . 

Art der Lehrtätigkeit — Begabungsforschung und Schülerbeobachtung. — Beteiligung 
an Schülerauslesen (Hamburg, Altona, Sachsen). — Zur Psychologie der Reifezeit. 

Vorbemerkung. 

Im Herbst 1911 ist das Philosophische Seminar in Hamburg errichtet und 
-damit auch der Grundstein für das Psychologische Laboratorium gelegt worden, 
.feo konnte diese Anstalt kürzlich ein lOjähriges Bestehen verzeichnen, das 
.Wohl einen Rückblick rechtfertigt; ihm wird ein zusammenfassender Bericht 
\ Ocngeschlossen, der die gegenwärtige Arbeit des Laboratoriums darstellt und 
-&amit zugleich dartut, welche Linien ihm für seine künftige Entwicklung 
Vorgezeichnet sind. Gerade das eben beendete Wintersemester 1921/22 ist 
' geeignet, als Grundlage einer solchen Gesamtdarstellung zu dienen, weil in 
Ihm das Laboratorium eine besonders intensive und vielseitige Tätigkeit ent¬ 
fettete und deutlicher als zuvor seine 3 großen Arbeitsgebiete — die allge¬ 
meine Psychologie, die pädagogische Psychologie und die Wirtschaftspsycho- 
. logie — hervortreten ließ. 

■" * J 

• *) Der Bericht wurde verfaßt und ausgegeben zur „Hamburger Woche für Erziehung und 
Bfoterricht Ostern 1922“. Eine Sonderveröffentlichung ist im Verlage Quelle & Meyer in Leipzig 
^Müenen. 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 

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William Stern 


Erster Teil. 

Zehn Jahre Psychologisches Laboratorium. 

L Untet der Leitung Ernst Menmanns (1911—1915). 

Der Name Emst Meumann wird stets mit der Geschichte des Laboratoriums 
aufs engste verknüpft bleiben trotz der verhältnismäßig kurzen Zeit seiner 
Direktionstätigkeit. Im Jahre 1911 entschloß sich Meumann, seihen großen 
Leipziger Wirkungskreis aufzugeben, um sich als Professor der Philosophie 
am Hamburgischen Vorlesungswesen einer von Amtspflichten weniger be¬ 
schwerten Lehr- und Forschungstätigkeit widmen zu können. Zugleich mit 
der neu geschaffenen Professur wurde ein „Philosophisches Seminar“ errichtet, 
welchem ein inmitten der Altstadt gelegenes ehemaliges Professoren-WohnhauB 
zugewiesen wurde. Hier begann Meumann eine Bibliothek für Philosophie, 
Psychologie und Pädagogik zu errichten; eine Anzahl von Apparaten und 
Demonstrationsmitteln bildeten die Anfänge eines Psychologischen Labora¬ 
toriums. Als erster etatsmäßiger wissenschaftlicher Hilfsarbeiter trat Dr. Gold¬ 
schmidt ein; ihm folgte Dr. Anschütz. Als freiwillige Mitarbeiter waren längere 
Zeit die Herren Dr. Kehr, Dr. Bischoff, Dr. Boden, Otto Wiegmann, Rudolf 
Peter, W. Hasserodt, S. Peine und andere tätig. 

Die Teilnehmer an den Übungen und Arbeiten des Laboratoriums waren, 
da es Studenten in Hamburg nicht gab, hauptsächlich Lehrer und Lehrerinnen, 
vereinzelt auch Angehörige anderer Berufe. Fast immer .waren, angezogen 
durch den wissenschaftlichen Ruf des Direktors, auch Ausländer am Labora¬ 
torium tätig. 

Als Arbeitsgebiete waren in jenen Jahren bevorzugt: Analyse des Zeichnens 
und der Bildbetrachtung, das Problem der visuellen und taktilen Raumwahr- 
nehmurg sowie die Untersuchung der Bewegungs-Geschicklichkeit (Nr. 1—14.) •) 

Die besondere Stellung des Instituts drückte sich von Anfang an darin aus, 
daß an ihm neben der theoretischen Psychologie auch die angewandte 
Psychologie behandelt wurde und zwar insbesondere nach der Seite der 
pädagogischen Psychologie hin. Hatte doch an der Berufung Meumanns die 
Hamburger Lehrerschaft großen Anteil gehabt. Allerdings unternahm es die 
Lehrerschaft, neben dem staatlichen Institut aus ihren eigenen Mitteln und 
Kräften ein „Institut für Jugendkunde“ zu begründen, für welches Meumann 
ebenfalls die Richtlinien zeichnete und als wissenschaftlicher Berater wirkte. 
Aber dieses Institut hat nie eine größere Wirksamkeit entfalten können, weil 
der bald beginnende Weltkrieg die Lehrerschaft anderweitig in Anspruch 
nahm; zudem wurde ja wenigstens der psychologische Teil der Jugendkunde 
in dem staatlichen Institut gepflegt. MeumannsVorlesungen zur experimentellen 
Pädagogik (Nr. 16) weisen an verschiedenen Stellen auf die im Laboratorium 
geleistete Arbeit hin. 

Nur 3*/2 Jahre konnte Meumann seine Schöpfung leiten und fördern; 
mehrfach mußte er schon innerhalb dieser Zeit seine Tätigkeit unterbrechen, 
da die ungeheure Arbeitsüberlastung zu nervösen Erschöpfungszuständen 


*) Die eingeklammerten Nummern beziehen sich au! das Literaturverzeichnis am Schlüsse. 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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geführt hatte. Am 26. April 1915 raffte eine akute Lungenentzündung den 
erst 53jährigen, auf der Höhe seines Schaffens stehenden Forscher dahin. 
Mit dem Philosophischen Seminar und dem großen Kreis seiner Hamburger 
Hörer und Freunde trauerte die deutsche psychologische Wissenschaft um 
einen ihrer bedeutendsten Fachgenossen, die deutsche Pädagogenwelt um den 
Begründer der experimentellen Pädagogik. 1 ) 

Im Seminar errichtete sich der Verstorbene ein sichtbares Erinnerungsmal 
durch das Vermächtnis seiner großen wissenschaftlichen Privatbibliothek, die 
mit einem Schlage die junge SeminarbUcherei auf eine beachtenswerte Höhe 
hob. Die Schwester des Verstorbenen, welche die Bibliothek schon im Hause 
des Bruders verwaltet hatte, Fräulein Meta Meumann, übernahm die Katalogi¬ 
sierung und Ordnung der erweiterten Seminarbibliothek und ist seitdem als 
Bibliothekarin dauernd im Seminar tätig. 

n. Von Meumanns Tode bis zur Begründung der Universität (1915—1918), 

Nach dem Tode Meumanns wurde das Seminar ein Jahr lang provisorisch 
verwaltet, zuerst von Dr. Georg Anschütz, dann, als dieser einem Rufe nach 
Konstantinopel folgte, von Dr. Theodor Kehr. 

Unter Dr. Anschütz wurde mit dem Physikalischen Laboratorium ein Ab¬ 
kommen getroffen, nach dem dessen Werkstatt auch für die Bedürfnisse des 
Psychologischen Instituts tätig war. 

Ostern 1916 wurde dem Unterzeichneten die Professur für Philosophie und 
Psychologie und die Leitung des Seminars und Laboratoriums übertragen. 
Dr. Kehr blieb als wissenschaftlicher Assistent Es erwiesen sich einige Neu¬ 
ordnungen und Erweiterungen als notwendig, deren Tempo und Umfang freilich 
durch die Kriegszeit stark beeinflußt winde. Der schon früher bestehende 
Plan, eine kleine „Abteilung für Jugendpflege“ anzugliedern, wurde nun aus¬ 
geführt; ihr Leiter wurde Walter Classen, der Begründer des Hamburger 
VolkBheims. Das Psychologische Laboratorium, das bis dahin eine unselb¬ 
ständige Abteilung des Philosophischen Seminars gewesen war, wurde diesem 
nebengeordnet, sein Etat, soweit es die Verhältnisse erlaubten, erhöht. Der 
Mitarbeit Dr. Kehrs am Seminar setzte leider ein schweres, durch den Krieg 
verschlimmertes Lungenleiden ein vorzeitiges Ende. Nach längerem Siechtum 
starb er am 21. Aug. 1917 in Arosa; das Seminar wird dem tüchtigen und 
gewissenhaften Mitarbeiter ein ehrendes Andenken bewahren. Während der 
Erkrankung war er vorübergehend von Dr. Benary vertreten worden. Als 
sein Nachfolger wurde im Herbst 1917 Dr. Heinz Werner aus Wien wissen¬ 
schaftlicher Hilfsarbeiter am Seminar. 

Der Stamm der Mitarbeiter erhielt ferner dadurch eine erfreuliche Ver¬ 
mehrung, daß zwei Lehrer von der Oberschulbehörde zu wissenschaftlicher 
Arbeit an das Seminar beurlaubt wurden: der Oberlehrer H. P. Roloff und 
der Volksschullehrer R. Peter. Als freiwillige Mitarbeiter stellten außerdem 
Herr Lehrer Otto Wiegmann und die Lehrerin Frl. Martha Muchow den größten 
Teil ihrer berufsfreien Zeit und Kraft dem Laboratorium zur Verfügung. 


*) Ein seinem Andenken gewidmetes Sonderheft der Zeitschrift für pädagogische Psychologie 
brachte außer dem Nachrufe von Scheibner ehrende Würdigungen seines Lebenswerkes von 
Wandt, Külpe, Aloys Fischer, Brahn und Deuchler. (Jahrgang XVI, S. 209—262.) 

11 * 

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William Stern 


Arbeiten. 

Den philosophischen Grundfragen der Psychologie waren die folgenden 
Bücher gewidmet: Th. Kehr, „Das Bewußtseinsproblem“ (1916), W. Stern, 
Die Psychologie und der Personalismus (1917) und „Die menschliche Persön¬ 
lichkeit“ (1917) (Nr. 20, 21 und 27). 

Die empirisch-psychologische Arbeit des Seminars war, wie schon 
früher, sowohl theoretischer wie angewandter Art; aber in der Art der Durch¬ 
führung traten bald wichtige Veränderungen ein. Die Kriegsverhfiltnisse 
stellten die Psychologie vor ganz neue und zum Teil sehr dringende Auf¬ 
gaben, so daß dahinter die der zeitlosen reinen Erkenntnis dienende Arbeit 
vorübergehend etwas in den Hintergrund gedrängt wurde. Teils waren es 
unmittelbare Kriegsprobleme, welche die Mithilfe der Psychologie erforderten, 
teils waren es neue pädagogische und wirtschaftliche Fragen, die in mehr 
oder minder direktem Zusammenhang mit der veränderten Zeitlage aufgetreten 
waren. Diesen neuen Aufgaben gegenüber nahm die angewandte Psycho¬ 
logie die unmittelbare Form der praktischen Psychologie an; d. h. die 
Psychologie untersuchte nicht nur gewisse Voraussetzungen der Anwendungs¬ 
probleme, sondern griff zum Teil mit ihrer eigenen Methodik verantwortlich in 
die praktische Kulturarbeit ein. Sie trat damit den praktisch-technischen An¬ 
wendungen der Naturwissenschaft zur Seite; und man begreift, daß sich hierfür 
(insbesondere für die wirtschaftliche Anwendung) der Ausdruck „Psycho- 
technik“ einbürgerte. *) Aber trotz der Dringlichkeit der praktischen Aufgaben 
ist es doch nie unterlassen worden, soweit nur irgend möglich die theore¬ 
tische Vor- und Nachprüfung der Methoden und die Bearbeitung der Ergeb¬ 
nisse zum Zwecke weiterführender psychologischer Erkenntnis vorzunehmen; 
deshalb steckt auch in den Laboratoriumsarbeiten aus den Anwendungs¬ 
gebieten ein gut Stück theoretischer Forschungsarbeit, was namentlich beim 
Begabungsproblera hervorgehoben werden muß. 

Theoretischer Natur waren die sehr gründlichen, leider nicht zum Abschluß 
gelangten, experimentellen Aufmerksamkeitsuntersuchungen von Dr. Kehr. 
Zur vollen Durchführung kamen dagegen die experimentellen Untersuchungen 
zur Raumwahrnehmung des Blinden, die von dem Studenten W. Steinberg aus 
Breslau 1916 veranstaltet und in einer Breslauer Doktorarbeit theoretisch ver¬ 
wertet wurden. (Siehe Nr. 40 des Lit.-Verz.) Ferner nahm Herr Lehrer R. Peter, 
der verwundet aus dem Kriegsdienst zurückkehrte, seine bereits zu Meumanns 
Zeiten begonnene Experimentaluntersuchung über die Bedingungen des per¬ 
spektivischen Sehens auf. 

Kriegspsychologischer Natur war die Anwendung der Kehr’schen Me¬ 
thodik der Aufmerksamkeitsprüfung bei Kriegsbeschädigten, um einen Anhalt 
für ihre dienstliche oder berufliche Arbeitsfähigkeit zu gewinnen, ferner die 
Vorarbeiten zu einer umfassenden Eignungsprüfung der Flieger, für welche 
zeitweilig ein besonderer wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, Dr. Benary, ein¬ 
gestellt wurde. Über diese Arbeit wird S. 176 ausführlicher berichtet. 

Desgleichen war auch für die Vorbereitung von Fahrer-Eignungsprüfungen 
vorübergehend ein eigener wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, Dr. Otto Bobertag, 
eingestellt. (Siehe den Bericht S. 176/77). • 

*) Der Ausdruck wird gewöhnlich auf Münsterbergs Buch dieses Namens [1914] zurückgeführt • 
er ist aber bereits im Jahre 1903 vom Unterzeichneten für gewisse Richtungen angewandt- 
psychologischer Tätigkeit vorgeschlagen worden. 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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Praktische Ziele verfolgte eine Erhebung über dieWirkung der „Sommer¬ 
zeit“, die im Jahre 1916 angestellt wurde; das eingegangene Material um . 
faßt Beantwortungen eines Fragebogens sowie 2000 Schüleraufsätze über das 
Thema „Sommerzeit". Aus dem vom Laboratorium erstatteten ausführlichen 
Gutachten (von S. Peine und W. Stern) ist nur ein kurzer Auszug veröffent¬ 
licht worden (Zeitschr. f. Päd. Psych. 1918, S. 57). 

Ein sehr bedeutender Teil der Institutsarbeit war der pädagogischen 
Psychologie und Jugendkunde gewidmet. Für dieses Gebiet hatte der 
Unterzeichnete bei Übernahme seiner Hamburger Stellung eine Programm¬ 
schrift „Jugendkunde als Kulturforderung" veröffentlicht; einige der dort ge¬ 
äußerten Forderungen und Anregungen konnten über Erwarten schnell in 
Wirklichkeit umgesetzt werden. 

Eine Wendung der Hauptinteressenrichtung innerhalb der pädagogischen 
Psychologie, die sich in Meumanns letzten Bestrebungen schon vorbereitet 
hatte, wurde nun endgültig vollzogen: von der „experimentellen Didaktik" 
hin zum Begabungsproblem. Theoretisch spiegelt sich hierin die Wieder¬ 
aufnahme des Begriffs der psychischen Dispositionen in die psychologische 
Betrachtungsweise. Praktisch wurde das Studium der Begabung nahegelegt 
durch das Bestreben, neue Schulformen und die Einschulung der Kinder in 
sie nach Fähigkeitsgesichtspunkten einzuführen. Die Aufgabe, die hilfsschul¬ 
reifen Schwachbefähigten festzustellen, hatte seinerzeit den Anstofi zu dee 
ganzen neueren Forschung über kindliche Intelligenz gegeben; nun trat dazu 
die neue Idee der Auslese der Höherbefähigten für Schulen, die über die 
Volksschule herausführen, und gab der Begabungsforschung eine andere 
Richtung. 

Unsere Forschungsarbeit erstreckte sich sowohl auf die Allgemein¬ 
begabung (Intelligenz), wie auf Sonderbegabungen. Bearbeitet wurden Be¬ 
griffsbestimmung und Analyse der Begabung, Varietätenbildungen der Br- 
gabung und deren Abhängigkeit von Alter und Geschlecht, schulischen und 
sozialen Bedingungen. (Nr. 22—24.) 

Bezüglich der Methodik war es uns von vornherein klar, daß hier das 
Experiment nicht allein herrschen dürfe. Denn das Wesen einer Begabung 
ist niemals auszuschöpfen durch die Art, wie ein Mensch auf bestimmte von 
außen gesetzte Anforderungen (Reize) reagiert; sondern sie bekundet sich 
auch in spontanen Verhaltungsweisen, die nur der Beobachtung zugänglich 
sind; eine wissenschaftliche Vertiefung und Systematisierung der natürlichen 
Beobachtung erschien uns daher ebenso notwendig wie ihre Ergänzung durch 
die experimentelle und statistische Methode. Der Beobachtungsmethode diente 
einerseits die Ausarbeitung von Beobachtungsbogen (Nr. 32—33), andererseits 
die Anleitung zu Intelligenzschätzungen (Nr. 29). 

Die Testmethode verfolgt in massenstatistischer Anordnung zunächst theore¬ 
tische Interessen, indem sie uns Einblicke in Entwicklung und Gruppen¬ 
differenzierung der Begabung gestattet; sie kann auch zur Aufklärung von 
Problemen der allgemeinen Psychologie (insbes. der Denkpsychologie) bei¬ 
tragen. Zugleich aber bilden solche Massenstatistiken die notwendige Vor¬ 
arbeit für die individualpsychologische Prüfung und Auslese; denn sie liefern 
ja erst die Eichungsmaßstäbe für die Methoden, die wir der Beurteilung 
der Einzelindividuen und der Entscheidung über ihre Auslese zugrunde legen. 


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Die bisherigen Testmethoden zur Intelligenzprüfung wurden von uns einer¬ 
seits gesammelt, andererseits erweitert. Angesichts der großen Buntscheckig- 
keit und teilweise schweren Zugänglichkeit der vielen für Intelligenzprüfungen 
Jugendlicher vorgeschlagenen Methoden war ihre möglichst vollständige und 
übersichtliche Zusammenstellung ein dringliches Erfordernis für alle Arbeiten 
auf diesem Gebiet. In dankenswerter Weise übernahm Herr Wiegmann die 
Durchführung der Sammlung und zugleich — gemeinsam mit dem Unter¬ 
zeichneten — die Vorbereitung ihrer Publikation. 

Zugleich wurde ständig an neuen Methoden und an der Umgestaltung 
älterer gearbeitet; insbesondere sollten „höhere Intelligenztests" gewonnen 
werden (Nr. 22). — ln diesen Zusammenhang gehören drei Spezialunter¬ 
suchungen: 1) Die Ausarbeitung eines von W. Minkus (f) in Breslau ver¬ 
anstalteten Massenversuchs zur Erforschung der geistigen Leistungsfähigkeit 
von Volks- und Fortbildungsschülem durch W. Stern. Hierbei wurden insbes. 
die Ergebnisse des Bindewort-Ergänzungstests („Minkustests“) ausführlich ver¬ 
wertet. 2) Die Intelligenzprüfungen von Kindergarten-Kindern mit Hilfe der 
verbesserten Heilbronnerschen Bilderserien-Methode durch G. u. A. Schober. 
3) Korrelationsuntersuchungen Roloffs über das Verhältnis von Intelligenz- 
Schätzung und Schulrangordnung. (Zu 1, 2, 3 vgl. Nr. 29). 


Sehr bald wurde nun das Laboratorium in die Lage versetzt, diese theo¬ 
retischen Arbeiten für die Praxis der Schülerauslese verwerten zu können. 

1918 wurde in Hamburg ein gehobener Zug der Volksschule, die sog.. 
„F-Klassen“ (Fremdsprachklassen) eingerichtet; fast 1000 Kinder des 4. Schul¬ 
jahrs (10jährige) sollten hier eingeschult werden. Die Oberschulbehörde trat 
wegen dieser Auslese mit dem Laboratorium in Verbindung; es wurde be¬ 
schlossen, sämtliche von den Volksschullehrem vorgeschlagenen Kinder 
(1355) einerseits von den abgebenden Lehrern an der Hand eines Beobach¬ 
tungsbogens charakterisieren zu lassen, andererseits sie einer Fähigkeits¬ 
prüfung zu unterwerfen, die möglichst genau vergleichbare Ergebnisse liefern 
könnte. Das Laboratorium unternahm die Ausarbeitung des Beobachtungs¬ 
schemas, die Vorbereitung der gesamten Testmethodik, die Durchführung des 
Massenversuchs, die Auswertung der vorliegenden Testergebnisse. Dagegen 
hielt es sich nicht für berufen, von sich aus auf Grund der gewonnenen Be¬ 
funde selbst die Entscheidung über Aufnahme und Abweisung zu fällen. Diese 
Entscheidung war vielmehr einer Kommission der Oberschulbehörde, der auch 
der Direktor des Laboratoriums angehörte, anvertraut; hier wurden in den 
. zweifelhaften Fällen alle vorliegenden Kriterien individualisierend abgewogen. 
Damit war von vornherein das mechanisierende Verfahren vermieden, das 
bei gleichzeitigen Auslesen anderer Städte nicht mit Unrecht Anstoß erregt 
hatte. 

Die Massenprüfung der 1355 Kinder war nur dadurch möglich, daß sich 
eine große Anzahl von Teilnehmern der psychologischen Vorlesungen als 
Prüfer und Helfer zur Verfügung stellte; so konnte gleichzeitig in 61 Gruppen 
nach einer für alle identischen und vorher eingeübten Instruktion geprüft 
werden. Ebenso mußte für die schnelle Auswertung der 1355X8 Testblätter 
eine regelrechte Organisation geschaffen werden. Das immerhin gewagte 
Experiment gelang: die Prüfung verlief ohne Störung und Zwischenfälle und 
lieferte durchweg verwertbare Ergebnisse. Daß die Ergebnisse auch im all- 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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gemeinen zutreffende Bilder der kindlichen Fähigkeiten gaben, zeigte später 
die überraschend günstige Bewährungsziffer der Aufgenommenen (S. 188/89). — 
Nach Erledigung des praktischen Teils der Aufgabe wurde eine theoretische 
Verarbeitung des Materials in Angriff genommen und zum Teil durchgeführt 
(Nr. 28). 

Die Auslese für die F-Klassen wurde noch einmal 1919 mit gewissen Ab¬ 
änderungen wiederholt. Der verbesserte Beobachtungsbogen wurde schon 
drei Monate vor dem Ablieferungstermin ausgehändigt und lieferte weit in¬ 
haltsreichere Ausfüllungen als 1918. Die Intelligenzprüfung erstreckte sich — 
wegen der zu großen Zahl der Kandidaten (1658) — auf die knappe Hälfte; 
die übrigen wurden lediglich auf Grund der Lehrerempfehlung als sicher ge¬ 
eignet aufgenommen. Von den 780 Prüflingen konnten noch 382 auf¬ 
genommen werden; die Entscheidung erfolgte wie im Vorjahre. Zu einer 
wissenschaftlichen Verarbeitung dieses Materials fehlte leider die Zeit 

An einer Auslese anderer Art hat das Laboratorium dreimal (1917/18/19) 
mitgewirkt, nämlich an der Aufnahme junger Mädchen (meist Volksschul¬ 
abgängerinnen) in das Lehrerinnenseminar. Hier trat die psychologische 
Prüfung nicht für sich auf, sondern wurde der üblichen Aufnahmeprüfung 
angegliedert. Der stets sehr große Andrang von Bewerberinnen erforderte 
eine sehr scharfe Siebung (so konnten z. B. 1917 von 198 nur 27 auf¬ 
genommen werden); diese sollte durch Heranziehung von Fähigkeitsproben 
zuverlässiger gestaltet werden. Das Laboratorium war bei der wissenschaft¬ 
lichen Vorbereitung der Tests und ihrer Auswertungsmethoden beteiligt; die 
Durchführung der Prüfung und ihre Verwendung für das Endurteil geschah 
unter Verantwortung des Lehrerinnenseminars. Die Seminarlehrer Melchior 
und Penkert und Oberlehrer Petersen stellten die Verbindung zwischen beiden 
Stellen her (Nr. 23 u. 29). 

Auch hier darf das Ergebnis als günstig bezeichnet werden; die Korre¬ 
lation zwischen den Testleistungen und den auf Grund der Gesamtprüfung 
ausgesprochenen Aufnahmen war hoch. Methodisch waren diese Unter¬ 
suchungen förderlich, weil sie zum ersten Male die Anwendbarkeit von In¬ 
telligenztests auf begabte Individuen höherer Altersstufen (14—15jährige) 
zeigten. 

In zwangloser Form waren am Laboratorium in dieser Zeit drei wissen¬ 
schaftliche „Arbeitsgemeinschaften“ tätig, an deren Beratungen auch 
Vertreter des praktischen Lebens teilnahmen. Die Arbeitsgemeinschaft für 
Psychologie der Berufseignung stand unter Leitung des Direktors, die Ar¬ 
beitsgemeinschaft für Religionspsychologie des Kindes unter der des Ober¬ 
lehrers Dr. Petersen. Die dritte verband das Seminar mit Berufsberatung und» 
Lehrerschaft und bearbeitete den psychologischen Teil der Schülerbogen, die 
für abgehende Schüler ausgefüllt werden. 


HI. Das Laboratorium als Universitätsinstitut. (Seit 1919) 

Als nach dem Zusammenbruch im November 1918 zahllose Studenten in 
die Heimat zurückströmten, machte der Unterzeichnete dem Professorenrat 
des Hamburgischen Vorlesungswesens den Vorschlag, man solle für die in 
Hamburg beheimateten Studierenden sofort eine Art Notuniversität errichten. 


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Dem Vorschläge wurde entsprochen, und am 1. Januar begannen bereits diese 
zunächst privaten „Universitätskurse“, deren unerwarteter Erfolg alsbald 
die — seit vielen Jahren geplante, aber heftig umkämpfte — Begründung 
der Hamburgischen Universität herbeiführte. 

Seit Ostern 1919 ist demnach das Psychologische Laboratorium ein Uni¬ 
versitätsinstitut Dadurch wurde eine wesentliche Erweiterung seiner Tätig¬ 
keit erforderlich. Der Teilnehmerkreis vergrößerte sich: zu den (nun als 
Studenten zugelassenen) Lehrern traten andere Studenten; die Unterrichts- 
kurse mußten vermehrt und systematisiert werden; Doktorarbeiten wurden 
vorbereitet. Die Promotionsordnung der Philosophischen Fakultät erkannte 
Psychologie als selbständiges Prüfungsfach an. 

Eine zweite philosophische Professur wurde errichtet und Ernst Cassirer 
übertragen. 

Am Laboratorium wurde die zweite wissenschaftliche Hilfsarbeiterstelle 
nun ständig. Für kurze Zeit trat in sie Frl. Dr. Hildegard Sachs zum Zweck 
berufspsychologischer Untersuchungen ein. Sodann wurde die langjährige 
Mitarbeiterin Frl. Martha Muchow mit ihr betraut; sie übernahm vor allem 
die Funktionen einer Unterrichtsassistentin. Der übrige Bestand an an- 
gestellten Kräften und sonstigen Mitarbeitern blieb dem Laboratorium er¬ 
halten; neue traten hinzu. Der erste wissenschaftliche Hilfsarbeiter Dr. Werner 
habilitierte sich Dezember 1920 als Privatdozent für Psychologie. 

Zur Bewältigung der mannigfaltigen technischen, büromäßigen, zeich¬ 
nerischen und experimentellen Arbeiten verfügt das Laboratorium im Hause 
über eine Schreibhilfe und einen Laboratoriumswart, der eine kleine Haus¬ 
werkstatt hat. Der Bau von Apparaten und größere Präzisionsarbeiten werden 
in der „Werkstatt der Hochschulbehörde“, die unter Leitung eines Fein¬ 
mechanikers steht, ausgeführt. 

Eine ständige Vermehrung erfuhr die psychologische Seminarbibliothek, 
die wohl jetzt zu den vollständigsten Büchereien unseres Faches in Deutsch¬ 
land gehören dürfte. Freilich macht sich die Unmöglichkeit, die ausländische 
Literatur angemessen zu berücksichtigen, sehr schmerzlich fühlbar; nur einige 
wenige ausländische Zeitschriften können im Austausch gegen unsere eigenen 
Veröffentlichungen fortgeführt werden. 

Die inzwischen unerträglich gewordene Raumnot wurde durch Hinzunahme 
des Nebenhauses (Domstr. 9) behoben; hier wurde ein großer Übungsraum, 
ein Bibliotheksaal und Sprechzimmer der Direktoren geschaffen. So konnte 
das bisherige Haus mit acht Räumen fast ausschließlich für die eigentliche 
Laboratoriumsarbeit benutzt werden. Auch das andere Nachbarhaus (Nr. 7) 
wurde für ein in der Entstehung begriffenes verwandtes Institut, das päda¬ 
gogische Universitätsseminar, bestimmt, aber noch nicht in Benutzung ge¬ 
nommen, da die neugeschaffene Pädagogik-Professur noch unbesetzt ist. 
Nur die pädagogische Seminarbibliothek, die auch künftig mit der philo¬ 
sophischen und psychologischen vereinigt bleiben soll, ist, soweit es die Mittel 
gestatteten, ausgebaut worden. 

Ein anderer Mißstand, der sich 'seit der Universitätsgründung bemerkbar 
macht, kann freilich nur durch eine viel radikalere Änderung beseitigt 
werden. Die Entfernung des Instituts von der Universität ist so groß, daß 
die Studenten stark an der Benutzung von Bibliothek und Laboratorium ge¬ 
hindert werden. Eine Verlegung ist deshalb aufs dringendste zu wünschen 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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Der psychologische Universitätsunterricht 
gestaltet sich jetzt in Hamburg folgendermaßen: 

Der Unterzeichnete wiederholt in zweijährigem Turnus die beiden Winter¬ 
vorlesungen „Allgemeine Psychologie“ und „Psychologie der Kindheit und 
des Jugendalters“. Im Sommersemester wird gewöhnlich eine Spezialvorlesung 
mit Demonstrationen gehalten (z. B. über „Begabungs- und Eignungspsycho¬ 
logie 0 ); gelegentlich findet ein Publicum statt (z. B. über „Psychologie und 
Leben“). 

Die Übungen sind in drei Stufen ausgebaut. Einen Vorkursus für Anfänger 
hält nach Bedarf Frl. Muchow im Aufträge des Direktors ab. Er selbst ver¬ 
anstaltet fast in jedem Semester Übungen zur allgemeinen oder zur päd¬ 
agogischen Psychologie und leitet psychologische Arbeiten für Fortgeschrittene 
aus dem Gebiet der Jugendkunde. (Beispiele hierzu aus dem letzten Se¬ 
mester s. S. 182 und 184). 

Dr. Werner hält Vorlesungen auf dem Gebiete der experimentellen Psycho¬ 
logie, der Psychologie der Kunst, der Völkerpsychologie. 

Neben Übungen über allgemeine theoretische Psychologie leitet er ein ex¬ 
perimental-psychologisches Praktikum, das sich über mehrere Semester er¬ 
streckt, und Arbeiten für Fortgeschrittene auf dem Gebiet der experimentellen 
Psychologie. 

Veröffentlichungen. 

Für die wissenschaftlichen Untersuchungen des Laboratoriums auf dem Ge¬ 
biete der Begabungspsychologie wurde 1819 eine eigene Schriftenreihe ins 
Leben gerufen. Diese „Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung“, 
die als Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie erscheinen, sind 
bisher zu 5 Heften im Gesamtumfang von etwa 60 Bogen gediehen und 
werden fortgesetzt (Nr. 28, 29, 36, 42 und 48). Heft I (herausgegeben von 
R. Peter und W. Stern), das die Schülerauslese 1918 ausführlich darstellt, 
und Heft HI (von W. Stern und O. Wiegmann), das ein Handbuch der uns 
bekannt gewordenen Methoden zur Prüfung der jugendlichen Intelligenz bildet— 
liegen bereits in 2. Auflage vor. Heft II vereinigt eine Reihe von Einzel¬ 
untersuchungen; Heft IV (von Erich Stern) behandelt die Methoden zur Fest¬ 
stellung der psychischen Berufseignung in der Schule; in Heft V schildert 
H.P. Roloff die massenstatistischen Ergebnisse seiner Definitionsuntersuchung. — 
Als Sonderdruck aus Heft I ist der psychologische Beobachtungsbogen für 
10jährige Schüler (bearbeitet von M. Muchow) in 3 Auflagen ausgegeben 
worden (Nr. 32). — In engem Zusammenhänge mit diesen Spezialarbeiten 
steht das zusammenfassende Buch von W. Stern: „Die Intelligenz der Kinder 
und Jugendlichen“ (Nr. 34). 

Kleinere Untersuchungen zur pädagogischen Psychologie sind in der „Ztschr. 
f. päd. Psychol.“, einige Arbeiten zur Berufseignung in den „Schriften zur 
Psychol. d. Berufseignung“ veröffentlicht worden. (Nr. 25, 26, 30 und 33.) 

Aus dem Gebiete der theoretischen Psychologie und aus dem der Psycho¬ 
logie der Jugendbewegung stehen Publikationen in verschiedenen Verlagen 
unmittelbar bevor. (Nr. 47, Nr. 50.) 

Die praktisch-psychologischen Arbeiten 
zeigten seit Eintritt des Friedens eine starke Vermehrung und eine veränderte 
Richtung. An die Stelle der kriegspsychologischen Anforderungen traten nun 


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die Fragen der zivilen Berufseignung und ihrer psychotechnischen Fest¬ 
stellung; obgleich Hamburg in dem Interesse für dieses Problem noch hinter 
anderen deutschen Wirtschaftszentren zurücksteht, wurde doch das Labora¬ 
torium, als einzige derartige Forschungsstätte am Orte, recht stark von den 
neuen Bedürfnissen der Wirtschaftskreise in Anspruch genommen. Ferner 
verlangte nach kurzer Pause das Problem der Schülerauslese wieder unsere 
Mitarbeit, und zwar sogleich in drei verschiedenen Formen. Endlich erwuchsen 
dem Laboratorium aus dem Umstande, daß einige seiner Mitarbeiter im Jugend¬ 
gefängnis tätig waren, neue kriminalpsychologische Probleme. 

Die praktisch-psychologischen Aufgaben brachten das Institut in ständige 
Beziehung und Arbeitsgemeinschaft zu Behörden, Betrieben und Körperschaften; 
von diesen seien genannt: Oberschulbehörde, Lehrervereine, Berufsberatung, 
Eisenbahndirektion, Detaillistenkammer, Ingenieurverein, Arbeitgeberverband, 
Baugewerkschule, Gefängnisverwaltung. Zwar war es nicht immer ganz leicht, 
gegenüber den wissenschaftsfremden Einstellungen dieser Institutionen die 
Forderungen wissenschaftlicher Methodik und die Anerkennung ihrer Be¬ 
deutung durchzusetzen; aber es gelang doch überall, ein gedeihliches Zu¬ 
sammenwirken durchzuführen und dadurch unserer Wissenschaft den Nach¬ 
weis zu ermöglichen, daß sie zu wertvoller Hilfe im Dienste praktischer 
Kulturaufgaben berufen ist. 

Auswärtige Besucher 

konnte das Laboratorium seit Friedensschluß in stark vermehrter Zahl be¬ 
grüßen. Teils handelte es sieh um kurzfristige Besuche von Gelehrten, Lehrern, 
Ingenieuren usw., von denen viele lediglich um des Laboratoriums willen 
nach Hamburg gekommen waren. Diese Besucher kamen aus anderen deut¬ 
schen Ländern und aus Schweden, Dänemark, Jugoslavien,Transvaal, Japan usw. 
Zum andern Teil handelte es sich um längere Studien; so waren Pädagogen 
aus Saarbrücken, Kassel, Prag auf je 1 Semester an das Laboratorium be¬ 
urlaubt. Im letzten Winter war eine ganze Gruppe auswärtiger Pädagogen 
anwesend, für die ein Sonderlehrgang veranstaltet war (s. S. 184). 


Der Inhalt der Laboratoriumsarbeit seit Begründung der Universität läßt sich 
nicht mehr gut in den historischen Rückblick einfügen, da er in unlösbarer 
Verbindung mit den zurzeit noch in der Entwicklung begriffenen Arbeiten 
steht; er findet daher im zweiten Hauptteil Besprechung. 


Zweiter Teil. 

Die gegenwärtige Lehr-, Forschung»- und Prüf-Tfitigkeit 

des Laboratoriums. 

Die Berichterstattung über den derzeitigen Stand unserer Arbeit wird sich 
zwar vorwiegend an die jüngste Vergangenheit halten, aber doch in vielen 
Punkten über das letzte Semester zurückgreifen müssen, um den Zusammen¬ 
hang nicht zu zerreißen. 

Die Gliederung erfolgt nunmehr nach den drei hauptsächlichen Betfitigungs- 
gebieten. 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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I. Allgemeine Psychologie. 

Grundfragen. 

Die allgemeinpsychologischen Oberzeugungen, die der theoretischen Arbeit 
unseres Kreises zugrunde liegen, haben — trotz mancher Verschiedenheiten 
im einzelnen — entscheidende Grundgedanken gemeinsam. 

Der eine ist die unauflösliche Zusammengehörigkeit der Psychologie mit 
der Philosophie. Zwar hat die Technik unserer Arbeit mit der Zeit eine rela¬ 
tive Verselbständigung des psychologischen Laboratoriums gegenüber dem 
philosophischen Seminar herbeiführen müssen; aber damit darf auf keinen 
Fall eine systematische Trennung beider Wissenschaftsgebiete gemeint sein. 
Eine solche Scheidung — wie sie in Amerika meist schon durchgeführt und 
auch in Deutschland von manchen angestrebt wird — müßte vielmehr ge¬ 
radezu als ein Unglück gelten, da die Psychologie in allen grundsätzlichen 
Fragen sowohl der Methodik wie der systematischen Oberzeugung auf philo¬ 
sophische Grundlegung unbedingt angewiesen ist. Mochte vielleicht eine 
Zeit lang, als die Psychologie in Nachahmung der naturwissenschaftlichen 
Einzeldisziplinen ganz und gar eine experimentelle Spezialwissenschaft zu 
werden schien, dieser Zusammenhang -mit der Philosophie weniger deutlich 
hervorgetreten sein — das letzte Jahrzehnt hat wieder so sehr alle ihre 
theoretischen Grundlagen in Frage gestellt, soviel neue Gesichtspunkte all¬ 
gemeiner Art auftauchen lassen, daß das Bedürfnis nach philosophischer 
Orientierung bedeutend erstarkt ist. Sowohl die erkenntnistheoretischen Vor¬ 
aussetzungen der Psychologie, wie auch die Abhängigkeit ihrer Auffassungs¬ 
und Erklärungskategorien von einem philosophischen System bedürfen der 
ständigen Bearbeitung. Der Unterzeichnete hat sich insbesondere um die 
zweite Frage bemüht und die Beziehung der Psychologie zur Theorie des 
„Personalismus“ herzustellen gesucht (in den bereits S. 164genannten Schriften); 
von einem kritisch verstandenen Personbegriff aus werden die Grundkate¬ 
gorien des psychologischen Denkens und Forschens abgeleitet. 

Die philosophische Auffassung des Personalismus liegt auch den systema¬ 
tischen Büchern des Direktors über Psychologie der frühen Kindheit, 
differentielle Psychologie, Intelligenz der Kinder und Jugendlichen zugrunde 
und wird insbesondere die demnächst erscheinende Schrift „Das Seelenbild 
der reifenden Jugend“ beherrschen. 

Die Verwandtschaft des Personalismus mit anderen neueren Strömungen 
trat hervor in den Seminarübungen des Wintersemesters 1921/22. Diese vom 
Direktors abgehaltenen 


Obungen zur theoretischen Psychologie 

hatten die Aufgabe, die große Wendung innerhalb der zeitgenössischen Psycho¬ 
logie in ihren typischen Hauptformen zu verfolgen. Es handelt sich um eine 
entschiedene Abkehr vo n der „impersonalistischen“ Psychologie, d. h. der¬ 
jenigen, welche in dem Nachweis der psychischen Elemente und ihrer asso¬ 
ziativen Verknüpfungen ihre Aufgabe erschöpft sieht. Gegen diese Auffas¬ 
sungen wenden sich nun verschiedene Theorien, welche das Wesen des 
Seelischen nicht in den Elementen, sondern in „Ganzheiten“, das Prinzip 
des seelischen Geschehens nicht in Assoziationsmechanismen, sondern in sinn- 


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haften Bedeutungs- und Zweckbeziehungen Buchen. Die Ganzheit des ein¬ 
zelnen seelischen Tatbestandes wird als „Gestalt“ oder „Struktur“, die Ein¬ 
heit des individuellen Lebens überhaupt als „Person“ oder „Lebensform“ 
gekennzeichnet; das Recht hierzu wird — auf rein theoretischem oder auf 
empirisch-experimentellem Wege — gegenüber einer bloß zerlegenden und 
summativen Psychologie erwiesen. 

Um diese Zusammenhänge herauszustellen, behandelten die Übungen in 
Referaten und Besprechungen: die Idee einer verstehenden, „geisteswissen¬ 
schaftlichen“ Psychologie in ihren Anfängen (die Polemik Dilthey-Ebbing- 
haus) und in ihrer neuesten Form (Spranger); die Struktur- und Gestalts¬ 
psychologie in ihren Vorstadien (Psychologie der Veränderungsauffassung, 
der Präsenszeit) und in der gegenwärtigen Durchführung bei Wertheimer, 
Köhler, Koffka; das Ichproblem; die psychologischen Theorien des Persona¬ 
lismus und der Psychoanalyse. 

Die spezielle Form, in welcher die neueren theoretischen Gesichtspunkte 
innerhalb der experimentellen Methodik und Forschungsweise zum Aus¬ 
druck kommen, ergibt sich aus dem 

Bericht über experimentelle Untersuchungen zur 
allgemeinen Psychologie. 

Von H. Werner. 

Die allgemeinpsychologische Arbeit, wie sie sich unter Verwendung ex¬ 
perimenteller Hilfsmittel im Hamburger Laboratorium vollzieht, ist, wie bereits 
hervorgehoben, auf die Voraussetzung gegründet, daß das psychologische 
Bild des Seelenlebens, das in Analogie zum atomphysikalischen Weltbild er¬ 
faßt ist, einen Widerspruch in Bich enthält, der nur durch eine vollkommene 
Umkehr der psychologischen Auffassungsweise und Methodik aufgehoben 
werden kann. So geht also die neuere Forschungsrichtung nicht mehr von 
Elementen, von seelischen Atomen, sondern von Ganzheiten aus, die sich 
innerhalb der Wahrnehmungssphäre als eigenartige Strukturen, als Ge¬ 
stalten darbieten. Dabei hat es sich weiter methodisch als fruchtbar heraus¬ 
gestellt, ganz allgemein, innerhalb der experimentellen Analyse der Gestalt¬ 
erfassung zu unterscheiden zwischen einem Strukturproblem im engem 
Sinn, das die unmittelbare und charakteristische Gegebenheit von Gestalten 
betrifft, und einem Problem der Gestaltgenese schlechthin, wo es sich um 
die allmähliche und stufenweise Entwicklung bestimmter Gestalten handelt, 
sei es im Sinne ontogenetischer oder phylogenetischer Erfahrung, sei es im 
Sinne verschiedener momentaner, einander übergeordneter Betrachtungsweisen. 
In den weiter unten angeführten experimentellen Arbeiten sind beide Frage¬ 
stellungen, die Frage nach der eigentümlichen Gegebenheit von Gestalten 
und die nach der stufenweisen Entwicklung von Gestalten als methodische 
Ausgangspunkte der Untersuchung maßgebend geworden. Umfaßt werden 
beide Teilprobleme,das Struktur- oder Gegebenheitsproblem, das Gegenstands¬ 
oder Entwicklungsproblem durch den übergeordneten Begriff der Gestaltung: 
indem nachweisbar jede gegebene Struktur nicht nur als ein eigenartig Seiendes, 
sondern auch (im Sinne psychischer Produktivität) als ein eigenartig 
Erfaßtes, Gestaltetes besteht. 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgiscben Universität 


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Damit rückt eine experimentelle Untersuchungsmethode in den Mittelpunkt, 
die weder eine rein „objektive" ist, wie etwa die psychologische Maßmethode, 
noch eine rein „subjektive“, wie die Methode der Introspektion in der so¬ 
genannten Phänomenalpsychologie. Es ist die Methode der vorschrifts¬ 
mäßigen Einstellung, welche, objektiv und subjektiv zugleich, die prin¬ 
zipielle Bedeutung der psychischen Konstellation für die Strukturierung der 
Wahrnehmungen im Experimente nachweist. So ist in den Einstellungsver¬ 
suchen die Möglichkeit geboten, neben der Feststellung der Struktur als eines 
in bestimmter, eigentümlicher Weise von der Psyche Erfaßten auch jenen 
Teil des genetischen Problems, welches dem Experiment zugänglich ist, im 
Laboratorium einer Lösung näher zu bringen. Denn wenn es beispielsweise 
eine Aufgabe der Entwicklungspsychologie ist, den Stufengang zu verfolgen, 
welchen die Psyche bei immer größer werdender Erfahrung, bei immer mehr 
fortschreitender Bestimmung und Bestimmtheit der erfahrungsmäßig gegebenen 
Umwelt allmählich durcheilt, dann ist uns durch die „Aufgabe“stellung im 
Experiment die Möglichkeit geboten, gewisse scharf abhebbare „Objektivations- 
stufen“ voneinander zu trennen. Das bedeutet: das Experiment sucht nach¬ 
zuweisen, daß ein bestimmter Gegenstand, z. B. die Farbe, die Bewegung, 
der Raum, je nach Einstellung eine Struktur zeigt, die in mehr oder weniger 
hohem Grad objektiv ist, mehr oder minder unabhängig ist von subjektiven 
Willkürlichkeiten, mehr oder minder eine relative Konstanz, eine relative 
Gesetzmäßigkeit der Umweltdinge erweist. — 

In dieser prinzipiellen Grundeinsicht und Grundmethodik vollziehen sich 
also die experimentellen Untersuchungen des Laboratoriums, soweit sie all¬ 
gemeinpsychologischer Natur sind. So ist die sich über mehrere Semester 
erstreckende Untersuchung .Heinz Werners über Grundfragen der In- 
tensitätspsychologie, deren Ergebnisse demnächst als Ergänzungs¬ 
band X der Zeitschrift für Psychologie erscheinen (Nr. 47), gestaltungs¬ 
problematischer Natur in dem oben angedeuteten Sinn. Die Untersuchung 
zerfällt in zwei in ihren äußeren Zielen getrennte Teile, von denen der erste 
die Erscheinungsweisen der Intensität, der zweite die Wirkungsweisen auf 
gewisse einfache phänomenale Gestalten zu bestimmen sucht. So wie oben 
ganz allgemein innerhalb des Gestaltproblems das Strukturproblem vom Ent¬ 
wicklungsproblem zu scheiden war, so führt schon die Untersuchung über 
die Erscheinungsweisen. von Intensitäten auf beide Fragestellungen hin. Es 
zeigt sich im Experiment, daß es verschiedene Arten von Intensiv-Erlebnissen 
gibt, die sich durch eigentümliche Strukturen voneinander unterscheiden. Die Ex¬ 
perimente suchen ferner zu erweisen, daß die Intensitätsgegebenheiten je nach 
der Einstellung verschiedenen Stufen der Objektivation angehören können. — 
Auch der zweite Teil der Experimentaluntersuchung stößt prinzipiell auf das¬ 
selbe Problem der Strukturgegebenheit und der genetischen Gestaltung. Denn 
wenn die Verstärkung und Abschwächung von Intensitäten sogenannte „Sinnes¬ 
täuschungen“ verursacht, dann tritt sofort die grundsätzliche Bedeutung dieser 
Sinnestäuschungen für das Strukturproblem hervor, in dem sich zeigen läßt, 
daß man von seiten der Wirkung auf Gestalten die Art der Gegeben¬ 
heit von Gestalten, ihre Struktur, herstellen kann. Es erhellt aber auch 
gleichzeitig die Bedeutung dieser Versuche für das genetische Problem der 
Objektivationsstufen, indem unter der Voraussetzung, daß „Schein“ eine relativ 
niedere Stufe der Objektivation ist, zu zeigen versucht wird, welcher Art die 


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Struktureigentümlichkeiten sind, die die Objektivation hemmen, beziehungs¬ 
weise fördern. 

Eine Untersuchung Rudolf Peters stellt sich die Aufgabe, das Raum¬ 
problem von der strukturtheoretischen Seite her experimentell zu fassen. 
Aus seiner bisherigen Arbeit hat er in einer Dissertation „Studien über 
die Struktur des Sehraumes" ein Teilproblem herausgelöst, welches sich 
um experimentelle Versuche über die Struktur des Scheinraumes im Bilde 
und bei der plastischen Erfassung perspektivischer Zeichnungen gruppiert 
(Nr. 49). Nach einer Einleitung über die Abgrenzung erkenntnis¬ 
theoretischer und psychologischer Fragestellungen und über das Verhältnis 
von Erkenntniskritik und Erkenntnispsychologie wird das Problem des Raumes 
als ein solches der zunehmenden bezw. abnehmenden Objektivation dar¬ 
gestellt. Die allgemeine Untersuchung zeigt für den Sehraum schlechthin die 
Notwendigkeit der Annahm e von Schichten verschieden hoher Objektivation 
auf. Der „Schein“ raum im Bilde wird als eine bestimmte Objektivations- 
schicht innerhalb des genetiscken Ganges, der schließlich zur Erfassung des 
„objektiven“ Raumes führt, erkannt und in seiner eigentümlichen Struktur 
festgelegt. Insbesondere wird der Grad der Bestimmbarkeit von Raum¬ 
relationen im Bildraume durch genauere experimentelle Analyse untersucht 
und dieser Grad der Bestimmbarkeit gegenübergestellt der exaktmathematischen 
Bestimmung des objektiven Raumes. 

Ebenfalls gestalttheoretischer Natur sind einige weitere unter Leitung 
Werners stehende Experimentaluntersuchungen, die teilweise schon durch 
einige Semester laufen, teilweise erst in diesem Wintersemester begonnen wurden. 

Die Arbeit von cand. phil. Meywerk beschäftigt sich mit der Frage, in 
welcher Weise getastete Größen gegeben sind; es wird versucht, auch 
hier wieder durch Einstellungsexperimente, die an normalen Erwachsenen, 
an Blinden und teilweise auch an Kindern vorgenommen werden, bestimmte 
Objektivationsschichten getasteter Strecken und Figuren zu erkennen und so 
an einem Sonderproblem den Stufengang fortschreitender Bestimmung von 
Tastdingen klarzulegen. 

Das Problem der Struktur und ihrer Genese erweist sich ferner besonders 
fruchtbar bei experimentellen Untersuchungen, die sich auf zeitlich Ge¬ 
staltetes beziehen, wie es der Rhythmus, die Sprache, die Bewegung ist. 
Eine Untersuchung Werners, welche er 1919 im Hamburger Laboratorium 
durchführte und deren Ergebnisse in der Zeitschrift für Psychologie unter 
dem Titel: „Rhythmik, eine mehrwertige Gestaltenverkettung“ erschienen 
sind, versuchte, das Wesen des Rhythmus auf eine eigentümliche Gestalt¬ 
gesetzlichkeit zurückzuführen (Nr. 31). Die noch später zu erwähnende 
Untersuchung der Arbeitsgemeinschaft für die Feststellung der rhythmischen 
Begabung will, indem sie das genetische Problem der Gestaltung aufgreift 
und sich mit der Entwicklung der rhythmischen Auffassung und Wiedergabe 
beschäftigt, zugleich an einem konkreten Beispiel dartun, in welcher Weise 
allgemeinpsychologische Untersuchungsergebnisse unmittelbar für praktisch- 
pädagogische Aufgaben, wie hier Aufstellung rhythmischer BegabungstestB 
und Bewertung der Leistung, bedeutsam sind. 

In diesem Semester begann das Psychologische Laboratorium nunmehr auch 
Probleme der Sprachpsychologie auf experimentellem Wege einer Lösung 
näher zu führen, wobei es in der Beschaffung der nötigen Apparate in der 


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dankenswertesten Weise durch das Hamburger Phonetische Laboratorium 
[Leiter: Professor Panconcelli-Calzia] unterstützt wird. Es handelt sich in einer 
ersten Untersuchung, die von Herrn Magister Lagercrantz durchgeführt wird, 
darum, gewisse allgemeine Gesetze der Sprachgestaltung an relativ einfachen 
Beispielen (z. B. sinnlosen Silben und Wörtern) experimentell zu erfassen, 
um schließlich zu ersehen, wie weit in dieser spezifischen •Strukturgesetzlich¬ 
keit allgemeine Gestaltsprinzipien wirksam sind. 

Weitere Untersuchungen über das Problem der Erfassung von Bewegungen, 
ferner von Tongestalten, sind in Vorbereitung. 

Eine — methodisch so sehr notwendige — Untersuchung über das Problem 
der Selbstbeobachtung unter Zuhilfenahme experimenteller Versuchsergebnisse 
ist in diesem Semester durch Herrn cand. phil. Brandes in Angriff genommen 
worden. 

Auch die völkerpsychologische Arbeit wird an unserem Laboratorium 
nicht vernachlässigt. Es werden Vorlesungen und Obungen über allgemeine 
Entwicklungs- und Völkerpsychologie durch Dr. Werner abgehalten. Die Ein¬ 
richtung einer besonderen ethnopsychologischen Abteilung am Psychologischen 
Laboratorium, in der neben allgemeiner Forschung und Lehre insbesondere 
die Ausarbeitung exakter Methoden zur psychologischen Untersuchung primi¬ 
tiver Menschen einen wichtigen Aufgabenkreis darstellen müßte, ist schon 
1917 in einem ausführlichen Gutachten als notwendig bezeichnet worden. 

■ i Üich wird es in absehbarer Zeit zur Einrichtung einer solchen Abteilung, 
für die gerade in der Welthafenstadt Hamburg günstige örtliche wie auch 
wissenschaftliche Bedingungen bestehen, kommen. 


n. Wirtschaftspsychologie (insbesondere Berufseignung). 

Von Hans Paul Roloff und W. Stern. 

Die gewaltige Erweiterung, die das Arbeitsgebiet der Psychologie durch 
Anwendung ihrer Methoden auf Probleme des Wirtschaftslebens, insbesondere 
der Berufseignung während des letzten Jahrzehnts erfahren hat, spiegelt sich 
naturgemäß auch in den Arbeiten des Laboratoriums wieder. Diese sollen 
hier im Zusammenhang dargestellt werden, wobei auch kurz auf frühere 
Jahre zurückgegriffen werden muß. 

Unsere sämtlichen Arbeiten auf diesem Gebiet — sowohl die kriegswich¬ 
tigen bis 1918 wie die dann einsetzenden rein wirtschaftspsychologischen — 
standen insofern unter erschwerenden Bedingungen, als das Laboratorium 
kein psychotechnisches Institut war und ist! Von seinem Begründer 
angelegt als Forschungs- und Lehrinstitut für reine und pädagogische Psycho¬ 
logie, hat es seine ganzen wissenschaftlichen Hilfsmittel und Einrichtungen 
bis zum Beginn des Krieges in der hierdurch vorgeschriebenen Richtung aus¬ 
gebaut. Den nun plötzlich eintretenden eignungspsychologischen Aufgaben 
gegenüber befand sich das Institut in schwieriger Lage: Einmal konnten die 
Apparate für das neue Arbeitsgebiet infolge Geldmangels nicht in der Weise 
vervollständigt werden, wie es wohl wünschenswert gewesen wäre, sodann 
war die Arbeitskraft der ständigen Mitarbeiter eigentlich dauernd durch die 
Anforderungen der anderen Arbeitsgebiete bis zur Grenze in Anspruch ge¬ 
nommen. Trotzdem ist es gelungen, eine ganze Reihe wichtiger Aufgaben, 


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William Stern 


die aus der Praxis des Wirtschaftslebens an das Institut herantraten, vor 
allem auch dank der Unterstützung durch eine Anzahl vorübergehender Mit¬ 
arbeiter, in Angriff zu nehmen und zum Abschluß zu bringen. Von den im 
Institut im Laufe der letzten Jahre auf diesem Gebiet durchgeführten Arbeiten 
sind zu erwähnen: 


1. Zur Eignungsprüfung von Fliegerbeobachtern. 

Auf Anregung des Kommandeurs der Fliegerschule Hamburg-Fuhlsbüttel 
arbeiteten im Herbst 1916 zunächst Prof. Stern und sein Assistent Dr. Kehr 
eineVersuchsanordnung zur Prüfung des für Fliegerbeobachter charakteristischen 
Leistungskomplexes aus. Nach dem Tode von Dr. Kehr übernahm Dr. Benary 
die Fortführung der Arbeiten. Nach Abschluß der Vorarbeiten gelang es 
dann, die Ausbildung von Dr. Benary als Fliegerbeobachter im Heeresdienst 
durchzusetzen. Die Frucht dieser praktischen Ausbildung war eine wesent¬ 
liche Umgestaltung der Prüfungsmethoden. Ihren Mittelpunkt bildeten nach 
wie vor Methoden zur Prüfung der Aufmerksamkeitsleistung in der für den 
Fliegerbeobachter charakteristischen Verteilung auf zwei getrennte Blickfelder: 
Gelände und Luftbeobachtung; sodann traten hinzu Prüfungen des Wieder- 
erkennens, des Wegegedächtnisses, der Unterscheidung ähnlicher Figuren aüs 
dem Gedächtnis, des Herauserkennens einer Gestalt aus einer komplexen 
Gesamtfigur und des Findens der Richtung. 

Die Bewährungsproben der zum dritten Male nach den Erfahrungen prak¬ 
tischer Prüfungen umgearbeiteten Methoden hatten auf dem Flugplatz von 
Hannover unter Leitung Dr. Benarys gerade begonnen, als das Kriegsende 
den Abbruch herbeiführte. Aber die Arbeit ist hoffentlich nicht umsonst 
gewesen; theoretisch hat sie wertvolle Beiträge zur Psychologie der Aufmerk¬ 
samkeit, der Gestaltauffassung, der Orientierungsfähigkeit geliefert; praktisch 
werden ihre Ergebnisse vielleicht noch einmal für das zivile Flugwesen nutz¬ 
bar gemacht werden können. Zwei ausführliche Veröffentlichungen Benarys 
über die Methode liegen vor (Nr. 30 u. 37). 


2. Fahrerprüfungen. 

Mit den Fliegerprüfungen war das große Gebiet der Eignung zum Fahr¬ 
zeuglenker betreten worden, das nun weiterhin vom Laboratorium bearbeitet 
wurde. Die Untersuchungen und Prüfungen erstreckten sich auf Führer der 
Straßenbahn, der Hochbahn und der elektrischen Vorortsbahn; in einer Reihe 
von Fällen ist es bereits zu praktischen Anwendungen gekommen. Gemeinsam 
ist allen diesen Prüfungen, daß die Feststellung einer bestimmten Funktions¬ 
weise der Aufmerksamkeit im Mittelpunkt steht; daneben werden andere 
Dispositionen (Geschwindigkeitsauffassung, Signalgedächtnis, Ermüdbarkeit 
usw.) geprüft. 

a) Straßenbahnführer. Schon 1917 hatte auf Anforderung der Altonaer 
Berufsberatung eine Auslese einiger Fahrerinnen durch W. Stern stattgefunden, 
bei der als provisorische Methode eine Abänderung der von Dr. Kehr ge¬ 
schaffenen Versuchsanordnung zur Prüfung der kontinuierlichen Aufmerk¬ 
samkeit benutzt wurde (Nr. 25). Im Jahre 1918 gelang es dann durch eine 
staatliche Sonderunterstützung, einige wissenschaftliche Hilfskräfte, zuerst 
Dr. O. Bobertag und nach ihm Fräulein Dr. H. Sachs, für die Untersuchung 


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der Eignung zum Straßenbahnführer vorübergehend einzustellen; sie Über¬ 
nahmen die Durchführung einer von Prof. Stern entworfenen neuen Versuchs¬ 
anordnung und deren Eichung an zahlreichen im Beruf stehenden Straßen¬ 
bahnfahrern, über deren Berufseignung die Direktion der Straßenbahngesell¬ 
schaft sich bereits ein festes Urteil gebildet hatte. Das Wesentliche dieser 
neuen Versuchsanordnung bestand in dem Prinzip des „Laufstreifens": der 
Prüfling hat in wechselnder und sinnvoll bestimmter Weise auf Reize („Fu߬ 
gänger“, „Fahrzeuge“) zu reagieren, die in einem endlosen, sich auf ihn zu¬ 
bewegenden schwarzen Streifen (der sich scheinbar auf ihn zubewegenden 
„Fahrbahn“) aufleuchten. Die Ergebnisse der Eichung stimmten recht be¬ 
friedigend mit den Urteilen der Straßenbahndirektion über die Berufseignung 
der untersuchten Fahrer überein; zur praktischen Auslese wurden die Me¬ 
thoden bisher nicht verwandt. 

b) Hochbahnfahrer. Zn gleicher Zeit wurde auch das Problem der Eignung zum Führer 
der elektrischen Hoch- und Untergrundbahn von Dr. Bobertag einer Untersuchung unterworfen. 
Die Versuchsanordnung bestand in der Hauptsache in einer Reiztafel, auf der farbige Lichter 
(„Signale“) aufleuchteten, auf die in verschiedener Weise durch Betätigung von Reaktionstastern 
zu reagieren war. Auch akustische Reize waren eingeschaltet Die Abberufung Dr. Bobertags 
vom hiesigen Institut unterbrach die in Angriff. genommene Eichung der Methoden] 

c) Triebwagenführer der Vorortsbahn. Die bei den Straßenbahner¬ 
untersuchungen gewonnen methodischen Erfahrungen konnten mm in weitem 
■Umfang nutzbar gemacht werden, als 1921 seitens der Eisenbahndirektion 
Altona das Ersuchen an das Laboratorium erging, ein Ausleseverfahren für 
die Triebwagenführer der elektrisch betriebenen Stadt- und Vorortsbahn zu 
entwickeln und durchzuführen. Der freiwillige Hilfsarbeiter Ingenieur Hall¬ 
bauer übernahm die Konstruktion des Hauptapparates. Der Grundgedanke 
war wiederum, daß die zu prüfende Aüfmerksamkeitsleistung mit der bei der 
Fahrpraxis erforderten eine strukturelle Ähnlichkeit besitzen und daß zwischen 
den Reizen und den Reaktionsbewegungen nicht eine beliebige assoziative 
Verknüpfung, sondern ein dem Prüfling verständlicher Sinnzusammenhang 
bestehen müsse. Als Reizfeld wurde deshalb wieder der auf den Beschauer 
sich zubewegende „Laufstreifen“ gewählt, als Reize die auf der Strecke üblichen 
Lichtsignale sowie Motorgeräusche, als Reaktionsbewegungen die im Fahrer¬ 
stand vorzunehmenden Griffe. 

Sodann konstruierte Dr. Werner einen „Geschwindigkeitsmesser“. Der 
Apparat besteht aus Streifen, die mit abstufbarer Geschwindigkeit gegen¬ 
einander laufen. An ihm wird die eigentliche Geschwindigkeitsschätzung, 
das Geschwindigkeitsgedächtnis und die Fähigkeit korrekten und ökonomischen 
Bremsens geprüft 

Beide Apparate sowie einige kleinere Tests sind im Lauf des .Winters 
1921/22 an schon im Dienst befindlichen Fahrern geeicht worden; sodann 
fand zu Auslesezwecken die Prüfung von Fahreranwärtern durch Herrn 
Hallbauer und Herrn Gewerbeschullehrer Voss statt. Im März besichtigte 

eine Gruppe auswärtiger höherer Eisenbahnbeamter die Versuchsanordnung, 
ser. 


3. Untersuchung technischer und verwandter Fähigkeiten. Prü¬ 
fungen von Lehrlingen und Fachschülern. 

Das neben der Fahrerprüfung bisher am meisten.ausgebaute psychotechnische 
Gebiet ist bekanntlich die Lehrlingsauslese für technische Betriebe; wir haben 

Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 12 


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William Stern 


sie auf Grund mannigfacher Anforderungen der Praxis auch unserer Arbeit 
eingefügt. 

An größeren Auslesen dieser Art sind hervorzuheben: die Auslese von 
Maschinenbauerlehrlingen für die Hamburger Schlosserinnung 1919 durch 
Erich Stern und Roloff und die Auslese von Maschinenbauerlehrlingen für 
die Eisenbahnwerkstätten in Hamburg, Harburg und Glückstadt 1920/21 durch 
William Stern und Roloff (Nr. 41). Auch bei diesen Auslesen wurde die bei 
Schülerauslesen erprobte methodische Eigenart des Hamburger Instituts ge¬ 
wahrt: man beschränkte sich nicht auf eine nur experimentelle Untersuchung 
der Lehrlinge, sondern zog auch die Beobachtungen der Lehrer, die die 
Bewerber im letzten Jahre unterrichtet hatten, mit Hilfe eines für diesen 
besonderen Zweck entworfenen Beobachtungsbogens in maßgebender Weise 
mit zur Entscheidung heran. Die experimentelle Untersuchung erstreckte sich 
auf Prüfung der Sinnestüchtigkeit von Auge und Ohr, Augenmaß, Tast¬ 
empfindlichkeit, Muskel- und Gelenkempfindlichkeit, Handgeschicklichkeit 
(Zusammenarbeiten von Auge und Hand), Reaktionsfähigkeit, Raumanschauung, 
technische Begabung und Allgemeinintelligenz; auch Selbstäußerungen der 
Schüler über häusliche Verhältnisse, Interessen, Neigungen, häusliche Betäti¬ 
gungen u. a. wurden neben den Schulzeugnissen mitberücksichtigt. Außer¬ 
dem geschah die endgültige Entscheidung über die schließliche Aufnahme 
stets in engster Zusammenarbeit von Psychologen und Vertretern der Werkstatt. 

Als Probe auf die Bewährung dieser Methode mag hier eine Mitteilung der 
Eisenbahndirektion Altona folgen, nach der die vom Institut ausgelesenen 
Lehrlinge alle jemals eingestellten Lehrlinge so stark an besonderer Berufs¬ 
eignung übertrafen, daß sie im ersten Halbjahr ihrer praktischen Aus¬ 
bildungszeit (Ostern-Herbst 1921) den gleichen Standpunkt erreichten wie ein 
normaler Jahrgang in anderthalb Jahren, also dreimal so schnelle Fortschritte 
aufwiesen als normale Lehrlinge. 

Ferner wurden im letzten Semester im Aufträge der staatlichen Bau¬ 
gewerkschule Buxtehude durch H. P. Roloff Methoden zur psychologischen 
Eignungsuntersuchung der in die Hoch- und Tiefbauabteilung dieser Schule 
eintretenden Schüler ausgearbeitet. Sie werden auf ihre Bewährung hin im 
kommenden Sommersemester von den Hamburger und Buxtehuder Bau¬ 
gewerkschulen durchgeprüft werden. 

Schließlich ist noch in der Frage der theoretischen Fundierung der 
Prüfmethoden für technische Begabung eine ständige Arbeitsgemeinschaft 
unter Leitung von Roloff tätig. Ihre gegenwärtige Arbeit erstreckt sich in 
der Hauptsache auf die Gewinnung von Normalleistungswerten für die 
verschiedenen im Laboratorium verwandten Apparate und Prüfmittel, auf die 
Untersuchung des Einflusses von Übung, Ermüdung, Monotonie auf 
den Ausfall der Prüfungsresultate, auf die Untersuchung des Zusammen¬ 
hanges zwischen diagnostischer Sicherheit und Umfang der einzelnen 
Prüfungsreihen. — Die an anderer Stelle genannte Arbeitsgruppe für „Methoden 
zur Prüfung der mathematischen Begabung“ steht mit dieser hier in einer 
gewissen Interessengemeinschaft. (S. 186.) 

4. Zur Psychotechnik kaufmännischer Berufe. 

Mit diesem Gebiet hat sich das Laboratorium bisher weniger beschäftigt. 
Es ist lediglich eine Untersuchung zu erwähnen, die bereits 1918 aus der 


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dem Laboratorium zwanglos angegliederten „Arbeitsgemeinschaft zur Psycho¬ 
logie der Berufseignung“ hervorgegangen war. 

Als Mitglied dieser Gruppe hat Dr. W. Heinitz Vorstudien angestellt über die psychologischen 
Arbeitsbedingungen des Maschinenschreibens (Nr. 26). Diese Arbeit sucht mittelst der 
Fragebogenmethode und durch Selbstbeobachtung empirisches Material beizubringen zur Beant¬ 
wortung der Fragen nach der zweckmäßigsten Art der Maschine, der Reizgebung, der Ausbildung 
des Maschinenschreibers und nach den psychologischen Anforderungen des Maschinenschreibens.*) 

Neuerdings beginnt sich aber auch in kaufmännischen Kreisen Hamburgs 
das Interesse für das Eignungsproblem zu regen, und es ist die Mitarbeit des 
Laboratoriums erbeten worden. Ende 1921 setzte sich die hiesige Detaillisten¬ 
kammer mit uns in Verbindung mit der Anregung, ihr Methoden zur psycho¬ 
logischen Auslese von Verkäufer- und Büropersonal auszuarbeiten. Indessen 
konnte das Institut diesen Wunsch vorläufig noch nicht erfüllen, da die 
Arbeitskraft sämtlicher Mitarbeiter zurzeit vollauf in Anspruch genommen 
ist. Die Möglichkeit einer psychologischen Bearbeitung besonders des noch 
fast gänzlich ungeklärten Verkäuferproblems wird nur bei einer Erwei¬ 
terung des Mitarbeiterkreises für das Gebiet der Wirtschaftspsychologie ge¬ 
geben sein. 

5. Berufsberatung und Eignungsfeststellung. 

Daß zwischen den beiden in der Überschrift genannten Aufgaben eine 
enge Beziehung bestehe, wird jetzt weitgehend anerkannt, und eine Reihe 
von großstädtischen Berufsämtern hat daraus auch schon die Konsequenz 
gezogen, Fachpsychologen haupt- oder nebenamtlich einzustellen oder ein 
am Ort befindliches psychologisches Institut mit den nötigen Untersuchungen 
und Prüfungen zu beauftragen. 

In Hamburg fehlen solche Einrichtungen noch so gut wie ganz; es blieb 
bei einigen gelegentlichen Arbeitsbeziehungen zwischen Berufsberatung und 
Laboratorium. So half, wie bereits erwähnt, das Laboratorium bei der Aus¬ 
arbeitung der „Schülerbogen“ der Berufsberatung; ferner stellte das Labora¬ 
torium die Prüfergebnisse technisch begabter (aber aus Platzmangel von der 
Eisenbahnwerkstatt nicht aufgenommener) Knaben der Berufsberatung zur 
Verfügung und konnte so zu deren sachgemäßer Unterbringung beitragen. 
In einigen vereinzelt gebliebenen Fällen hat das Laboratorium auch auf 
Wunsch der Berufsberatung Eignungsprüfungen vorgenommen. 

Dagegen wurde die theoretische Seite des Problems vom Laboratorium 
nach zwei Seiten hin bearbeitet: nach der pädagogischen und nach der 
soziologischen. 

Der schon mehrfach erwähnte Grundsatz des Instituts, daß, wo immer 
möglich, der Experimentalprüfung die Beobachtung nebenzuordnen sei, gilt 
insbesondere für die psychologische Berufsberatung. Hier hat also die Schule 
wichtige Vorbereitungsarbeit zu tun. Über dies Thema „Die Feststellung 
der psychischen Berufseignung und die Schule“ stellte nun Dr. Erich 
Stern, der von 1919—1921 als Mitarbeiter des Laboratoriums tätig war, eine 
vergleichende Untersuchung an Volksschulabgängern beiderlei Geschlechts an 
(Nr. 42). Er suchte zu ermitteln, inwieweit es angängig ist, aus den mit Hilfe 
der Fragebogenmethode erlangten Äußerungen von Lehrern und Eltern über 


*) Seiner ersten Veröffentlichung ließ Heinitz 1920 noch eine selbständige Untersuchung über 
die Fehlleistungen beim Maschinenschreiben folgen. (Schriften z. Ps. d. Berufseignung Heft 16). 

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die verschiedenen Fähigkeiten der Kinder Schlüsse über deren Eignung zu 
bestimmten Berufen zu ziehen, ja inwieweit Selbstäußerungen der Kinder 
(Beantwortung vorgelegter Fragen oder freier Aufsatz) gleiches ermöglichen, 
ferner wie die Resultate dieser Methode dann mit den Ergebnissen einiger 
an den gleichen Kindern vorgenommenen experimentellen Eignungsunter¬ 
suchungen übereinstimmen. 

Als Nationalökonomin und Sozialpolitikerin äußerte sich unsere zeitweilige 
Mitarbeiterin Dr. Hildegard Sachs „Zur Organisation der Eignungspsychologie“ 
(Nr. 38). Aus wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und vor allem sozialen 
Gründen tritt sie dafür ein, daß die Eignungsprüfungen nicht — wie bisher 
fast die Regel — von seiten der einzelnen Betriebe durchgeführt, sondern 
an „neutralen“ staatlichen Prüfstellen zentralisiert werden. 

6. Psychotechnische Lehrtätigkeit. 

Neben dieser wissenschaftlichen Forschungsarbeit und praktischen Prüf¬ 
tätigkeit des Instituts setzte nun in den letzten Semestern in organischer 
Fortentwicklung auch die Lehrtätigkeit auf wirtschaftspsychologischem 
Gebiet ein. Während W. Stern im Wintersemester 1920/21 eine Vorlesung 
über Wirtschaftspsychologie hielt, leitete Roloff während der letzten Semester 
im psychologischen Seminar für Fortgeschrittene die Arbeitsgruppen zur 
Untersuchung von Berufseignungen. Außerdem hält Roloff seit 1920 im 
Rahmen des Hamburger Technischen Vorlesungswesens in regelmäßigem 
Zyklus Vorlesungen, theoretische und praktische Übungen über das Gesamt¬ 
gebiet der industriellen Psychotechnik, die sowohl in die theoretischen Grund¬ 
lagen der Psychotechnik als auch in die praktische Anwendung der experimen¬ 
tellen Methoden zur Feststellung der Berufseignung einführen. Auch in das 
Programm des jüngst am Institut durchgeführten pädagogisch-psychologischen 
Lehrkurses für auswärtige Lehrkräfte war eine Arbeitsgruppe zur Einführung 
in diese Methoden aufgenommen. 

Dem Zweck der Belehrung und Aufklärung weiterer Kreise dienten die 
vielfachen Vorträge, die Stern und Roloff innerhalb und außerhalb Ham¬ 
burgs in Fachverbänden, Lehrervereinen usw. über Themen der Psycho¬ 
technik gehalten haben. 

Auf dem Anschauungswege winde eine solche Einführung in die Methoden 
erstrebt durch eine „Psychotechnische Sonderausstellung“, die im 
März 1922 in den Räumen des Laboratoriums stattfand. Sie winde veran¬ 
staltet aus Anlaß der gleichzeitigen betriebs- und psychotechnischen Wander¬ 
ausstellung des Vereins Deutscher Ingenieure. 

Zur Ausstellung gelangten Apparate und Prüfmittel zur Feststellung der 
Eignung zum Metallarbeiter, zum Straßenbahnfahrer, zum Trieb¬ 
wagenführer, sowie zur Untersuchung allgemeiner geistiger Funk¬ 
tionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Intelligenz. Achtmal wurden 
Führungen für das allgemeine Publikum und für geladene Körperschaften 
(insgesamt etwa 300 Personen) veranstaltet, bei denen die Methoden de¬ 
monstriert und erläutert wurden. 

7. Allgemeine.methodische Richtlinien 
für die psychotechnische Arbeit hat W. Stern aus den bisher im Laboratorium 
gemachten Erfahrungen abgeleitet und auf dem Marburger Psychologen-Kongreß 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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Ostern 1921 (Nr. 45) entwickelt. Behandelt werden folgende Gesichtspunkte: 
Prüfung und Beobachtung; Massen- und Einzelprüfung; Mosaik- und Struktur- 
Prinzip; Symptomwert der Ergebnisse; Leistungsänderung durch Übung und 
Surrogatfunktionen; Bewertungsmethoden; Bewährung und Eichung. 


8. Zusammenfassung. 

Überblickt man die genannten psychotechnischen Arbeiten und Veran¬ 
staltungen, so wird man verstehen, daß das unverhältnismäßige Anschwellen 
des neuen Tätigkeitsgebietes vom Standpunkt des Gesamtinteresses des 
Laboratoriums nicht mit ganz ungeteilter Freude begrüßt werden kann. 

Das Laboratorium hat selbstverständlich die Pflicht, das neue, volkswirt¬ 
schaftlich so wichtige Anwendungsfeld seiner Wissenschaft zu pflegen; es 
muß als einzige Hamburger Forschungsstätte nicht nur den von außen kom¬ 
menden Anforderungen nach Kräften zu genügen suchen, sondern darüber 
hinaus die bisher noch unorientierten oder uninteressierten Kreise, die es 
angehen sollte, auf die Wichtigkeit der Psychotechnik hinweisen und die 
Versuche einer dilettantischen Anwendung psychotechnischer Methoden be¬ 
kämpfen. 

Aber andererseits drohen diese wachsenden und oft an kurzfristige Termine 
gebundenen Aufgaben geradezu den Rahmen des Laboratoriums zu sprengen. 
Wenn auch die beteiligten Betriebe und Behörden für die nötigen Kosten 
aufkamen, auch Hilfspersonal und die Mitarbeit ihrer Werkstätten zur Ver¬ 
fügung stellten, so mußte doch der eigentlich wissenschaftliche Teil der Auf¬ 
gabe ausschließlich vom Laboratorium bestritten werden. Bei aller Anspan¬ 
nung der Kräfte des wissenschaftlichen und technischen Personals wäre die 
Durchführung nicht möglich gewesen, wenn sich nicht noch freiwillige wissen¬ 
schaftliche Hilfskräfte in selbstlosester Weise wochenlang zur .Verfügung ge¬ 
stellt hätten. 1 ) 

Es kommt hinzu, daß zwar die Vorbereitung, Eichung und Nachprüfung 
der Methoden eine dauernde Verbindung mit psychologischer Forschungs¬ 
arbeit verlangt, daß aber die eigentliche praktische Prüftätigkeit — sobald 
einmal die Methoden feststehen — nur geringere wissenschaftliche Ausbeute 
liefert. 

Da nun zu erwarten und auch zu wünschen ist, daß die Psychotechnik 
in Hamburg eine i mm er weitere Ausdehnung erfährt, so wird in naher Zu¬ 
kunft zweierlei nötig werden: 1. die Schaffung einer psychotechnischen 
Forschungsabteilung am Laboratorium, die mit Mitteln, Personal und 
Räumen so ausgestattet ist, daß die anderen Aufgaben des Laboratoriums da¬ 
neben unbehindert erfüllt werden können, 2. die Begründung einer 
staatlichen psychotechnischen Prüfstelle, an der die bereits be¬ 
währten Methoden ständig dem unmittelbaren Bedarf der Praxis nutzbar ge¬ 
macht werden. Sie müßte als neutrale Instanz zugleich dem Interesse der 
Betriebe und der Berufsuchenden dienen und unter fachpsychologischer 
Leitung stehen. 


*) Hier sei mit besonderem Dank der unermüdlichen Mitarbeit der Herren Ingenieur Hall¬ 
bauer, Gewerbeschullehrer Vo§s, Lehrer v. d. Mühlen und 6tud. phil. Wunderlich gedacht. 


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182 William Stern 

III. Pädagogische Psychologie und Jugendkunde. 

1. Die Art der Lehrtätigkeit. 

Bei dem lebhaften Interesse, das zur Zeit der pädagogisch-psychologischen 
Ausbildung des künftigen Lehrers entgegengebracht wird, sei hier die be¬ 
sondere Form geschildert, in der sich die Hamburger Lehrtätigkeit auf diesem 
Gebiet im letzten Semester vollzog. 

Prof. W. Stern hielt eine dreistündige Universitätsvorlesung über „Psycho¬ 
logie der Kindheit und des Jugendalters mit Berücksichtigung der pädago¬ 
gischen Anwendungen“. Im Seminar wurden von demselben geleitet: 

„Psychologische Arbeiten für Fortgeschrittene auf dem Gebiet 

der Jugendkunde“ 

und zwar nach folgenden Gesichtspunkten. 

Der große Andrang von studierenden Lehrern und Lehrerinnen wie auch 
von sonstigen Studenten zu jugendpsychologischen Arbeiten hat es seit 
einigen Semestern nötig gemacht, ein Gruppensystem auszubilden. Zu¬ 
gelassen werden nur solche, die die systematischen Vorlesungen und An¬ 
fängerübungen über Psychologie absolviert haben. 1 ) In Zukunft wird sogar 
der Nachweis einer eigenen psychologischen Arbeit als Zulassungsbedingung 
verlangt werden. 

Zu Beginn des Semesters wurden Arbeitsgruppen eingerichtet (teils neue, 
teils in Fortsetzung aus früheren Semestern), die unter Leitung von wissen¬ 
schaftlichen Hilfsarbeitern oder langjährigen Mitarbeitern des Seminars stehen; 
in ihnen wird ein Sonderthema mit allen gebotenen Methoden durchgearbeitet: 
über die Literatur wird referiert, experimentelle oder Beobachtungsmethoden 
werden vorbereitet oder durchgeprobt, die Ergebnisse verarbeitet. Hierbei 
wird fast immer über den schon vorliegenden Stand des Problems hinaus¬ 
gegangen. Zum Teil stellen sich auch die Gruppen direkt in den Dienst 
der praktisch-psychologischen Aufgaben des Laboratoriums, indem sie z. B. 
die Schülerauslese vorbereiten helfen. 

Zusammenkünfte der einzelnen Gruppen finden nach Bedarf statt. Der 
Direktor bleibt durch die Berichte der Gruppenleiter und durch gelegentliche 
Teilnahme an den Gruppensitzungen in ständiger Fühlung mit dem Fortgang 
der Arbeit. Außerdem werden 4—5 mal im Semester „Vollversammlungen“ 
für die Teilnehmer aller Gruppen abgehalten, in denen über die zu relativem 
Abschluß gekommenen Arbeiten einzelner Gruppen oder über sonstige im 
Laboratorium durchgeführte Untersuchungen berichtet wird. So ist trotz der 
notwendigen Arbeitsteilung doch dafür gesorgt, daß der Zusammenhang 
zwischen den verschiedenen pädagogisch-psychologischen Arbeiten des Labo¬ 
ratoriums aufrecht erhalten bleibt. 

Im Arbeitsjahr 1921/22 arbeiteten folgende Gruppen (G.-L. == Gruppenleiter!: 

1. Die Gruppe zur Untersuchung der mathematischen Begabung (G.-L.: Dr. Roloft) 
hat nach eingehenden theoretischen Erörterungen zunächst die praktische Bearbeitung eines 
Teilproblems in Angriff genommen; Methoden zur Erforschung des Anteils der räumlichen Vor¬ 
stellungsfähigkeit an der Leistungsfähigkeit in der Geometrie sind vorbereitet worden und werden 

*) Hiervon wird nur ausnahmsweise bei solchen Teilnehmern abgesehen, die, aus der Praxis 
kommend, für die Arbeit einer Spezialgruppe (z. B. Jugendfürsorge) besonderes Interesse und 
besondere Fachkenntnis haben. 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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z. Z. in umfangreichen Versuchen an Schülern verschiedener Schulgattungen und Altersstufen 
durchgeprüfh (Vgl. S. 186.) 

2. Die Gruppe zur Untersuchung der technischen Begabung (G.-L.: Dr. Rolofl) ist 
damit beschäftigt, Methoden zur Prüfung dieser Begabung in Versuchen an zahlreichen Schul¬ 
abgängern zu eichen. 

3. Die Gruppe zur Untersuchung der sprachlichen Begabung (G.-L.: F. Wickel) bat 
als Vorarbeit für die Aufstellung von Prüfungstests den Versuch gemacht, durch Analyse von 
Selbstbeobachtungen Erwachsener beim Erlernen fremder Sprachen die dabei in Frage kommenden 
typischen Verhaltungsweisen zu erforschen. Zurzeit ruht die Arbeit. 

4. Die Gruppe zur Untersuchung der rhythmischen Begabung (G.-L.: Dr. Werner) 
ist mit Vorabeiten für die Aufstellung von Tests für die Prüfung der rhythmischen Begabung 
von Kindern beschäftigt. (Vgl. S. 174.) 

5. Die Gruppe „Bilderordnungstest“ (G.-L.: Dr. Peter) hat die psychologischen Bedingungen 
dieses Tests eingehend untersucht und Fehleranalysen vorgenommen. Vergleichende Unter¬ 
suchungen an normalen, schwachsinnigen und taubstummen Kindern wurden veranstaltet. 

6. Die Gruppe „Ergänzungstest“ (G.-L.: O. Wiegmann) hat die statistische Verarbeitung 
des bei der Hamburger Auslese 1918 angewandten Lückenergänzungstests und anschließend 
daran Untersuchungen über den Schwierigkeitsgrad der verschiedenen grammatisch-logischen 
Verknüpfungen (Konjunktionen) sowie denkpsychologische Analysen vorgenommen. 

7. Die Gruppe zur Nachprüfung der Hamburger Auslese 1918 (G. L.: K. Friederichsen) 
untersuchte die Korrelation zwischen den Ergebnissen der psychologischen Ausleseprüfung und 
den Lehrerurteilen über die Eewährung der ausgelesenen Schüler. 

8. Die Gruppe „Beobachtungsbogen“ (G. L.: M. Muchow) bearbeitete das in den Beobach¬ 
tungsbogen von 1918 und 1919 vorliegende reiche Material unter differentiell-psychologischen 
Gesichtspunkten, verfolgte die Entwickelung des Problems der Schülerbeobachtung und machte 
besonders die psychologischen Voraussetzungen derselben beim Lehrer zum Gegenstand näherer 
Untersuchung. 

9. Die Gruppe „Hamburger Auslese“ (G. L.: M. Godbersen) bereitete Methoden zur 
psychologischen Prüfung 10 jähriger Schüler für die Aufnahme in die höhere Schule vor. — 
(VgL den Bericht S. 189.) 

10. Die Gruppe „Altonaer Auslese“ (G. L.: H. Klüver und F. Wickel) bereitete Methoden 
zur Differenzierung von Kindern des ersten Schuljahres bzw. Schulneulingen vor. — (Vgl. den 
Bericht S. 190.) 

11. Die Gruppe zur Untersuchung der Beziehungen von Intelligenz und Moral 
(G. L.: Dt. Boden) hat nach eingehenden theoretischen Erörterungen des Problems die Jacob- 
sohn'sche Ordnungsmethode für die Anwendung an Kindern bearbeitet, eine Reihe von ver¬ 
schieden zu bewertenden Lügenfällen aufgestellt und in umfangreichen Versuchen an Schul¬ 
kindern durchgeprüft. 

12. Die Gruppe „Psychologie des straffälligen Jugendlichen“ (G. L.: Dr. Bondy 
und Dr. Grünhut) verarbeitet das Beobachtungs- und Testmaterial, das an Sträflingen des Ham¬ 
burger Jugendgefängnisses durch den dort tätigen Gruppenleiter Dr. Bondy gewonnen wurde. — 
(Vgl. den Bericht S. 194.) 

In den Vollversammlungen des W. S. 1921/22 wurden folgende Themen behandelt: 

1. Besprechung der Winterarbeit. Konstituierung der Arbeitsgruppen für das Wintersemester. 

2. Zur Psychologie der psychographischen Methode. Referent: Dr. med. Langelüddeke. 

3. Bericht über eine Massenuntersuchung mit dem Definitionstest. Referent: Dr. Roloff. 

4. Psychologische und pädagogische Beobachtungen und Erfahrungen aus der Arbeit im Straf¬ 
vollzug. Referent: Dr. Bondy. 

5. Begabungsdifferenzierung siebenjähriger Schüler. Berichterstatter für die Altonaer Aus¬ 
lesegruppe: H. Klüver. — Vorbereitungen zur Auslese für sächsische Aufbauschulen. Referent: 
Studienrat Schwärig. 

Neben diesen für einheimische Studierende bestimmten Kursen veranstaltete 
das Laboratorium im verflossenen Wintersemester zum ersten Mal einen 

Sonderlehrgang für auswärtige Lehrer und Lehrerinnen 

aller Schulgattungen. 

Er war gedacht als Ausbildungskursus in Psychologie der Kindheit und 
des Jugendalters, mit besonderer Berücksichtigung der schulpsychologischen 


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William Stern 


Probleme (Schülerbeobachtung, Begabungsdiagnose, Schülerauslese, Feststellung 
der Berufseignung). 

Mit diesem Kursus sollte ein Versprechen eingelöst werden, das W. Stern 
schon 1916 in seiner Programmschrift „Jugendkunde als Kulturforderung“ 
gegeben hatte, dessen Erfüllung aber durch den Krieg unmöglich gemacht 
worden war. Dem Kurs liegt folgender Gedanke zugrunde: Außer der all¬ 
gemein anzustrebenden Vertiefung und Erweiterung der psychologischen 
Lehrerausbildung ist für einen kleineren Kreis von Pädagogen eine spezial¬ 
wissenschaftliche Schulung in der Jugendkunde nötig, damit sie einerseits 
die schulpsychologischen Aufgaben bearbeiten können, die aus der Schüler¬ 
auslese, Berufsberatung, Jugendpflege und -fürsorge usw. erwachsen, und 
damit sie andererseits die überall entstehenden psychologischen Arbeits¬ 
gemeinschaften von Lehrern sachverständig leiten können. Die bloße Be¬ 
schäftigung mit der Literatur genügt hierzu nicht; es ist vielmehr das Ein¬ 
dringen in die wissenschaftliche Arbeitsweise erforderlich, wie es nur an 
einer psychologischen Forschungsstätte vermittelt werden kann. Das* Ideal 
wäre eine mehrsemestrige Ausbildung; da aber eine so lange Abwesenheit 
vom Dienst unter den gegenwärtigen schwierigen Verhältnissen nicht erreich¬ 
bar war, mußte der Lehrgang in ein einziges Semester zusammengedrängt 
werden. Auch so war es noch zahlreichen Anmeldern unmöglich zu kommen, 
da die Schulbehörden sie gar nicht oder nur ohne Gehalt beurlauben wollten. 
Schließlich konnte aber der Kurs mit 16 Teilnehmern (darunter 5 Damen) 
eröffnet werden; sie stammten aus Mittel-, West- und Norddeutschland, je 
eine Teilnehmerin aus Dänemark und Jugoslawen. Dem Beruf nach waren 
vertreten: Volksschullehrer und -lehrerinnen, 1 Rektor, 1 Studienrat, 1 Re¬ 
gierungsbeamter aus der Jugendfürsorge und einige Studenten. 

Der Lehrgang setzte sich aus folgenden Veranstaltungen zusammen: 

1. Teilnahme an der Vorlesung über Psychologie der Kindheit und des Jugendalters. 

2. Übungskurs über Begabungspsychologie (mit Referaten, Demonstration und Besprechung 

von Methoden, Diskussionen), abgehalten von W. Stern. 

3. Arbeitsgruppen. 

a) Arbeitsgruppe zur Einführung in die methodische Durcharbeitung von Einzeltesls. 
(Leiter: Dr. Peter.) 

b) Arbeitsgruppe zur Einführung in die Methodik der Schülerbeobachtung und die Probleme 
des Beobachtungsbogens. (Leiterin: M. Muchow.) 

c) Arbeitsgruppe zur Einführung in die Methoden der Berufseignungsuntersuchung. (Leiter : 
Dr. Roloff.) 

d) Arbeitsgruppe zur Einführung in die Methodik größerer Ausleseunternehmungen. (Alto- 
naer Auslesegruppe. Leiter: H. Klüver und F. Wickel.) Vgl. S. 190. 

e) Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Auslese für sächsische Aufbauschulen. (Dr. Peters 
und Studienrat Schwärig.) VgL S. 191. 

4. Einzelvorträge über verschiedene Gebiete des hamburgischen Erziehungawesens und der 

pädagogischen Reformbestrebungen, gehalten von Praktikern und Fachmännern. 

Außerdem wohnten die Lehrgangteilnehmer verschiedenen Kursen und Vorlesungen der Uni¬ 
versität als Gasthörer bei. 


12. Begabungsforschung und Schülerbeobachtung. 

Die Gesamtdarstellung, die das Problem der jugendlichen Intelligenz in 
dem 1920 erschienenen Buch W. Sterns fand (Nr. 34), bildete zugleich 
die Zusammenfassung der bisher auf diesem Gebiet vorliegenden Unter¬ 
suchungen, wie die Grundlage für weiterführende Spezialarbeiten des Labo- 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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ratoriums. Die Forderung, neben den experimentellen Methoden die beobach¬ 
tenden zu pflegen, blieb nach wie vor richtunggebend. 

Experimentelle Untersuchungen. Ein großer Teil der experimentellen 
Begabungsforechungen stand in unmittelbarem Zusammenhang mit den weiter 
unten zu besprechenden Schülerausldsen. Im übrigen ist folgendes zu be¬ 
richten: Die Sammlung von Intelligenztests wurde ständig fortgesetzt und 
auch durch einige ausländische Tests vermehrt. Die Neuauflage der „Methoden¬ 
sammlung“ von Stern und Wiegmann (Nr. 36) gab Gelegenheit, diese Ergän¬ 
zungen in einem umfangreichen Nachtrag zu veröffentlichen. Eine Reihe 
von bewährten Tests des Hamburger Laboratoriums wurde der Firma Buth 
(Charlottenburg, Leibnizstr.) zum Druck übergeben, von der sie käuflich zu 
beziehen sind. Daneben wurde ständig an der Verbesserung und Umgestal¬ 
tung der bekannten Tests sowie an der Schaffung neuer gearbeitet; Eichungen 
und Korrelationsbestimmungen wurden vorgenommen. Genannt sei ins¬ 
besondere die Arbeit am Schematest, am Bilderordnungstest, am Analogie¬ 
test, am Definitionstest; der letztere winde von Herrn Roloff einer massen¬ 
statistischen Arbeit zugrunde gelegt, die soeben in Buchform unter dem Titel 
„Vergleichend - psychologische Untersuchungen über kindliche Definitions¬ 
leistungen“ veröffentlicht wird (Nr. 48). Der Verfasser berichtet darüber: 

Die Arbeit ist eine Alterseichung von Definitionstests im Massenversuch, in Beziehung ge¬ 
setzt za Intelligenzschätzungen und zur sozialen Herkunft der Versuchspersonen. Sie stellt einen 
Teil der Vorarbeiten dar, die am Hamburger Psychologischen Laboratorium für die Auswahl 
der Tests zu der großen Hamburger Begabtenauslese von 1918 geleistet werden mußten. Die 
gesamte männliche Jugend der Hamburgischen Stadt Bergedorf und ihres preußischen Vororts 
Sande (zusammen 25000 Einwohne ) zwischen 10 und 12 Jahren, sowie ein großer Teil der 
9- und lSjährigep (1037 Knaben aus 1 Gymnasium, 1 Realschule und 3 Volksschulen) wurde 
durchgeprüft. Zu definieren waren die Begriffe: Briefträger, Insel, U-Boot, Beute, Skalp, Onkel, 
Vetter (konkrete und Verwandschaftsbegriffe), Geiz, Mut, Lüge, Neid (abstrakte Begriffe), Miete, 
Manöver, Wehrpflicht (halbab6trakte Begriffe). 

Als Hauptergebnisse der Untersuchung sind anzuführen: 

Die allgemeine Fähigkeit zu definieren entwickelt sich in dem Intervall von 10—12 Jahren 
vollkommen stetig als lineare Funktion der Zeit ohne irgendwelche Rückschläge oder 
Stockungen. 

2. Die Definitionsleistungen stehen in hoher Korrelation zur Intelligenz: Die guten Schüler 
(25°/ 0 ) zeigen vor den schlechten Schülern (25°/ 0 ) auf den verschiedenen Altersstufen dieses 
Intervalls in bezug auf die Definitionsleistungen einen durchschnittlichen Entwicklungsvor¬ 
sprung von l 1 /) Jahren. 

3. Die Realschüler zeigen vor den Volksschülern in dem betrachteten Interwall in bezug 
auf die Definitionsleistungen einen Entwicklungsvorsprung von durchschnittlich etwa 
einem Jahr, die Gymnasiasten einen solchen von durchschnittlich etwa drei Jahren. 

4. Es besteht keine Korrelation zwischen Güte der Definitionsleistung und Lehrplan, 
Stundenverteilung, Klassenfrequenz oder Lehrerkollegium. 

Es besteht hohe Korrelation^ zwischen Güte der Definitionsleistung und Höhe des 
Schulgeldes, Wohnort und sozialer Schicht der Definierenden. 


Viel langsamer als die Erforschung der Intelligenz schreitet die der 
Sonderbegabungen vorwärts; hier liegen sehr bedeutende methodische 
Schwierigkeiten vor, die erst zum kleinsten Teil überwunden sind. Es ist 
dies nicht nur aus theoretischen Gründen bedauerlich; denn auch die Praxis 
der Schülerbeurteilung und -auslese hat ein starkes Bedürfnis nach einer 
Analyse und Diagnose der Sonderfähigkeiten. Bezüglich der fremdsprach¬ 
lichen Begabung haben mehrfache Ansätze noch nicht zu greifbaren Er- 


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gebnissen geführt (s. S. 183). Am weitesten ist bisher das Studium der 
technischen Begabung gediehen, über welches Roloff S. 177 berichtet hat. 

Seit einer Reihe von Semestern wird ferner das Problem der mathema¬ 
tischen Begabung des Kindes in einer Arbeitsgruppe behandelt; ihr haben 
zum Teil auch Mathematiker, die in der Schulpraxis steben, wertvolle Dienste 
geleistet. Die Arbeitsgruppe hat unter Leitung von Dr. Roloff nach voran¬ 
gehender theoretischer Arbeit zunächst Richtlinien zur Beobachtung der ver¬ 
schiedenen Seiten der mathematisch-geometrischen und mathematisch-arith¬ 
metischen Begabung während des Unterrichts aufgestellt. Sie hat sodann 
eine große Anzahl Einzeltests zur experimentellen Untersuchung der zahl¬ 
reichen in den Komplex der mathematisch-geometrischen Begabung ein¬ 
gehenden Einzelfunktionen sowie auch eine Reihe von Tests zur Unter¬ 
suchung der Struktur der arithmetischen Begabung ausgearbeitet und in 
zahlreichen Vorversuchen an mehreren hundert Kindern beiderlei Geschlechts 
und aller sozialen Schichten die Altersstufen ihrer Anwendungsmöglichkeit 
festgestellt, so daß in nächster Zeit in die in größerem Umfange anzustellenden 
Hauptversuche eingetreten werden kann. Hauptprobleme dieser Hauptunter¬ 
suchung sind: Aufhellung der Struktur der geometrischen und arithmetischen 
Begabung, Feststellung des diagnostischen Wertes der ausgearbeiteten Tests, 
der Beziehung der beiden erwähnten Seiten der mathematischen Begabung 
zueinander und zur Allgemeinintelligenz und des Einflusses von Geschlecht 
und sozialer Schicht. 

Die Studien Ober geometrische Begabung führten zur Herstellung eines einfachen Prüfinstru¬ 
mentes, des „Formvariators“, durch W. Stern. Der Formvariator besteht aus einem würfel¬ 
förmigen Gestell aus 12 Stäben, die durch elastische Eckverbindungen miteinander verknüpft 
sind. Die Gelenkigkeit ermöglicht die Herstellung der verschiedensten Flächen- und Raum- 
gestalten. Der Variatorwürfel dient zur Prüfung der dynamisch-geometrischen Anschauung, 
d. h. der Fähigkeit zur Vorstellung und Herstellung von Formwandlungen. Er ist zugleich als 
Lehrmittel für den geometrischen Unterricht verwendbar (Nr. 51). 

Die Beobachtungsmethode. Die hierher gehörigen Bestrebungen 
werden seit einiger Zeit von Martha Muchow geleitet, die teils allein, teils 
in Gemeinschaft mit einer Arbeitsgruppe tätig war. Bemerkenswert an dieser 
Arbeit ist, daß neben der Psychologie des zu beobachtenden Schülers immer 
deutlicher die Psychologie des beobachtenden Lehrers als ein gleich wichtiges 
Problem erkannt wurde.*) Martha Muchow berichtet über diesen Arbeitskreis: 

Bei allen praktischen Prüfungsuntemehmungen — Ausleseprüfungen von 
Schülern und Eignungsprüfungen von Schulabgängern —, die vom Labo¬ 
ratorium vorgenommen wurden, ist besonderes Gewicht darauf gelegt worden, 
daß neben den Ergebnissen der' experimentellen „Stichproben“ auch die 
wertvollen psychologischen Beobachtungen des Lehrers hinreichend zur Geltung 
kamen. Stets lag hei der endgültigen Entscheidung über die Eignung neben 
den Prüfungsbefunden ein ausführliches Lehrerurteil vor, das eingehend 
gewürdigt und berücksichtigt wurde. Unsere Erfahrungen haben die Berech¬ 
tigung der von Stern immer scharf betonten Forderung, das Lehrerurteil mit 
heranzuziehen, bestätigt. Die Sicherheit der Auslese für die höhere Schule 
wie für den Beruf wird dadurch, daß man an der Hand der Aufzeichnungen 

*) Auch auf anderen Gebieten hat uns unsere Arbeit mehr und mehr zu der Feststellung 
geführt, daß eine — erst zu schaffende — generelle und differentielle Psychologie des Lehrers 
und Erziehers die Psychologie des Kindes und Jugendlichen ergänzen muß. “ 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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des Lehrers individualisierend vorzugehen in der Lage ist, wesentlich erhöht. 
Andererseits hat aber auch die Erfahrung mit den mehreren Tausend aus¬ 
gefüllten Beobachtungsbogen, die hier im Laufe der Jahre zusammengekommen 
sind, gelehrt, daß wir noch weit entfernt sind von einer ausreichenden Schulung 
aller Lehrer für die erforderliche eingehende psychologische Beobachtung 
ihrer Schüler. Bei dem Entwurf neuer Beobachtungsbogen und ihrer An¬ 
wendung gilt es daher stets neben der Frage der Zweckmäßigkeit des Bogens 
für die Auslese auch die Frage nach der Möglichkeit seiner zweckentsprechenden 
Ausfüllung und die Aufgabe einer eingehenden Vorbereitung der Lehrerschaft 
auf die neue und recht schwierige Arbeit ins Auge zu fassen. Der Beobachtungs¬ 
bogen muß anregen und zugleich anleiten zur psychologischen Vertiefung 
in die Natur des Schülers. Um die in diesem Sinne beste Form des Personal¬ 
bogens zu erreichen, wird es noch vieler Arbeit bedürfen — und vieler Er¬ 
fahrungen. Das Hamburger Laboratorium arbeitet an der Erreichung dieses 
Ziels intensiv mit. Spezialbogen für die Auslese von zehnjährigen Begabten, 
für die Ergänzung von Berufseignungsuntersuchungen verschiedener Art und 
für die Beobachtung von Schulneulingen wurden hier entworfen. Eine Sammlung 
der bisher publizierten Beobachtungsbogen, die im Entstehen begriffen ist, 
und eine Zusammenstellung der Literatur zum Problem der Schülerbeobachtung, 
die bereits weit über 100 Nummern aufweist, erleichtern den Überblick über 
alle einschlägigen Fragen und erlauben, die auswärts gewonnenen Erfahrungen 
nutzbringend zu verarbeiten und zu verwerten. 


3. Beteiligung an Schülerauslesen, 
a) Hamburg. 

Die Mitarbeit der Psychologie an der Schülerauslese in Hamburg zeigt eine 
merkwürdige Wellenbewegung, die aber lediglich durch außerwissenschaftliche 
Momente bedingt ist. Nach einer längeren Pause brachte das letzte Semester 
wieder besonders starke Anforderungen an das Laboratorium. 

Die 1919 einsetzende Umwälzung der Schulorganisation bewirkte zunächst, 
daß die F-Klassen, für deren Auslese wir bis dahin tätig gewesen waren 1 ), 
nicht weiter erneuert wurden. Statt dessen aber erhob sich mit Einführung 
der Einheitsschule ein Problem von viel umfassenderer Bedeutung: die Aus¬ 
lese für den Übergang von der Grundschule zur höheren Schule. 
W. Stern hat in den letzten drei Jahren in Vorträgen und Aufsätzen, 
in dem Buch „Psychologie und Schülerauslese“ (Nr. 35) und in einer von 
zahlreichen Pädagogen unterschriebenen Erklärung auf der Reichsschulkonferenz 
folgende zwei Gedanken ausgeführt: 1) Es genügt nicht, die Forderung der 
Verfassung, daß die Einheitsschule lediglich nach Fähigkeiten und Neigungen 
gegliedert sein solle, organisatorisch auszubauen; alle neuen Schultypen mit 
ihren Lehrplänen und ihren Übergangsmöglichkeiten bleiben vielmehr so lange 
rein papieren, als es nicht auch gelingt, die richtige — d. h. psychologisch 
möglichst zutreffende — Zuweisung der Kinder in die ihren Begabungen 
gemäßen Schulen zu erreichen. „Das rechte Kind in die rechte Schule.“ 
2) Die Verantwortung bei der Überführung von Grundschülern in die höheren 
Schulen ist überaus schwer, da von ihr nicht nur das Lebensschicksal der 

*) Vgl. S. 166. 



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Individuen, sondern auch die soziale und berufliche Gliederung der nächsten 
Volksgeneration abhängt. Diese Schwere der Verantwortung fordert es, daß 
man alle verfügbaren Hilfsmittel, welche das Urteil über die Fähigkeiten der 
auszuwählenden Kinder zu sichern geeignet sind, heranziehe. Zu diesen 
Hilfsmitteln gehören auch die psychologischen Methoden. Es ist deshalb ein 
— nicht rein pädagogisches und nicht rein psychologisches, sondern — päda¬ 
gogisch-psychologisches Verfahren der Schülerauslese auszubilden. 

Diese Forderungen stießen zunächst teils auf Verständnislosigkeit, teils auf 
Widerspruch. Speziell in Hamburg glaubten weite Kreise der Lehrerschaft, 
schulfremde Helfer, wie es die Psychologen seien, von der Beteiligung an 
der Auslese femhalten zu sollen. Im Jahre 1920 wurden im wesentlichen nur 
die üblichen Aufnahmeprüfungen abgehalten. 1921 wurden um jede in Be¬ 
tracht kommende höhere Schule herum „Bezirksauslese-Ausschüsse“ gebildet, 
zu denen auch Vertreter der den Bezirken angehörigen Volksschulen gehörten. 
Diesen Ausschüssen war es überlassen, nach eigenem Ermessen die Gesichts¬ 
punkte der Auslese zu bestimmen. Die verschiedensten Verfahrungsweisen 
wurden angewandt: einfache Übernahme der von den Grundschullehrern 
empfohlenen Kinder, Aufnahmeprüfungen (Kenntnisprüfungen) durch die 
höhere Schule, Probeklassen von mehrtägiger Dauer, gegenseitiges Hospitieren 
usw.; auch Tests scheinen hier und da in nicht näher kontrollierbarer Weise 
zur Anwendung gekommen zu sein. 

Die Ergebnisse dieses Verfahrens traten bald hervor. Zunächst hatte jener 
Aufnahmemodus eine viel zu große Anzahl aufgenommener Schüler ergeben; 
es mußten für diese weit mehr Unterklassen der höheren Schulen eingerichtet 
werden, als dem bisherigen Bestand, den Finanzen des Staates und dem 
Bedürfnis nach Nachwuchs mit höherer Bildung entsprach. Es hatte sich 
ferner gezeigt, daß unter den Aufgenommenen ein verhältnismäßig großer 
Teil von Versagern war; mehr als 20°/o entsprachen nicht den Anforderungen, 
mußten sitzen bleiben oder an die Volksschule zurückgewiesen werden. Auch 
unter denjenigen, die ohne jegliche Prüfung lediglich auf Grund der Emp¬ 
fehlung des Grundschullehres aufgenommen waren, gab es zahlreiche Ent¬ 
täuschungen. Diesen unerfreulichen Ziffern konnten nun die inzwischen 
bekannt gewordenen Bewährungsziffern der psychologischen Auslese für die 
F-Klassen (s. S. 166) gegenübergestellt werden. Diese waren überraschend 
günstig; von den 1918 und 1919 ausgelesenen Schülern hatten nur 4—5°/o 
infolge mangelnder Begabung den Anforderungen der F-Klassen nicht genügt. 
Solche Erfahrungen hatten die Lage für 1922 wesentlich verändert und führten 
zu einer erneuten Beteiligung des Laboratoriums an der Auslese für die Unter¬ 
klasse der höheren Schulen. Als nämlich jetzt die Oberschulbehörde eine 
größere Schärfe und Vorsicht bei der Auslese forderte und den Bezirksaus¬ 
schüssen nahelegte, die Vorschläge der abgebenden Lehrer durch eine Nach¬ 
prüfung zu sichern, wurde aus diesen Ausschüssen selbst das Verlangen 
nach einer psychologischen Gestaltung dieser Prüfung laut. Das Labora¬ 
torium erklärte sich bereit, den Wünschen zu entsprechen; eine Arbeitsgruppe 
unter Leitung des Lehrers Godbersen und unter Teilnahme des Unterzeich¬ 
neten wurde eingesetzt, die während des Wintersemesters 1921/22 in inten¬ 
siver Arbeit die Vorbereitungen traf. Eine Reihe von Tests, die in Hamburg 
noch unbekannt waren, wurden ausgesucht, außerhalb Hamburgs durch¬ 
geprobt, für begabte 10 jährige geeicht und schließlich so hergerichtet, daß 


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ihre Anwendung auch den prüfenden Lehrern der Bezirksauslese-Ausschüsse 
anvertraut werden konnte. Ausdrücklich wurde ausgesprochen, dafi diese 
psychologische Prüfreihe nicht als alleinige Grundlage der Entscheidung an¬ 
gesehen werden dürfe, sondern daß sie dazu bestimmt sei, das aus Lehrer- 
urteil und sonstigen Prüfungen gewonnene Bild der Fähigkeiten zu ergänzen 
und zu sichern. 

Den Bezirksausschüssen war es seitens der Behörde völlig anheimgestellt, 
ob sie von dieser Möglichkeit psychologischer Prüfungen Gebrauch machen 
wollten oder nicht; um so erfreulicher war es, daß ein recht beträchtlicher 
Teil der Ausschüsse die Gelegenheit benutzte, so daß am 4. März 1922 im 
ganzen mehr als 1100 zehnjährige Anwärter für die höheren Schulen einer 
Intelligenzprüfung unterzogen wurden. Die vofi den Bezirksausschüssen 
benannten Prüfer wurden vorher über die Art des Prüfverfahrens auf das 
Genaueste instruiert und nachher mit dem Auswertungsverfahren für die Test¬ 
ergebnisse vertraut gemacht. Im übrigen wurde es den Ausschüssen selbst 
überlassen, in welcher Form sie diese psychologischen Befunde mit den 
sonstigen ihnen zur Verfügung stehenden Kriterien zu einem Gesamturteil 
Ober jedes Kind vereinigten. 

Die Prüfung wurde schriftlich in Gruppen vorgenommen; sie dauerte etwa 
4 Stunden. 

Die angewandten neun Tests beziehen sich auf die Fähigkeiten der Kombi¬ 
nation, der Kritik, der Definition, des Erfassens des Wesentlichen und des 
Gedächtnisses für sinnvolle Wortbeziehungen. Es sind zum Teil Um¬ 
bildungen von Tests des Leipziger Lehrervereins und des Londoner Schul¬ 
psychologen Burt. Als Beispiele seien einige bisher unbekannte Tests in 
verkürzter Form angeführt: 

L Ein Schema eines vierstöckigen Hauses wird vorgelegt. Daneben steht folgender Text: 

In diesem Hause wohnen vier Familien übereinander: Schneiders wohnen über Schröders, 
Schmidts wohnen über Lehmanns, und Schneiders wohnen unter Lehmanns, Schreibe die 
Namen der vier Mieter in der richtigen Reihenfolge in die Zeichnung. 

H. Text: Hans schreibt aus Lüneburg an seinen Bruder Fritz: „Gestern batte ich in Harburg 
Unglück; ich bin gefallen und habe mir was gebrochen. Heute bin ich nun hierher gewandert.“ 
Frage: „Kannst Du aus dem Briefe herausfinden, was sich Hans gebrochen hatte?“ Es wird 
auf die vier an der Tafel stehenden Möglichkeiten hingewiesen; „Rechter Arm, linker Arm, 
rechtes Bein, linkes Bein.“ 

ÜL Prüfer: Neulich habe ich in einer Klasse gefragt: „Warum sind die großen Städte immer 
ungesunder als das Land?“ Ich erhielt gute und schlechte Antworten. Ihr sollt aus den fol¬ 
genden Antworten die zwei guten herausfinden. 

I. Die Dorfstraßen sind fast immer schmutzig. 2. Krankheiten verbreiten sich, wo Leute 
dicht zusammenwohnen. 3. Die Häuser auf dem Lande haben sehr niedrige Zimmer und ganz 
kleine Fenster. 4. Es gibt in den Städten mehr Ärzte. 5. Der Rauch vieler Schornsteine und 
der Atem vieler Menschen machen die Luft schlecht, 

IV. Prüfer sagt: „Vor euch liegt eine Geschichte. Aus der sollt ihr ein Telegramm machen. 
Denkt daran, daß das Telegramm ganz kurz sein muß und nur wenig/Wörter darin stehen 
dürfen. Trotzdem muß alles Wichtige drin stehen. Also: Alle Hauptsachen — aber recht 
kurz. Die Adresse könnt ihr fortlassen. Ich will euch die Geschichte voriesen, lest mit! „Der 
Vater saß im Zuge nach Berlin. Da sehr nebliges Wetter war, übersah der Lokomotivführer 
das Haltesignal, und es erfolgte ein Zusammenstoß mit dem vorauffahrenden Güterzug. Dabei 
wurde der erste Wagen des Personenzuges stark beschädigt, einige Reisende wurden schwer 
und viele leicht verletzt Der Vater saß glücklicherweise im letzten Wagen, der ganz unbe¬ 
schädigt blieb. Wie froh war er, daß er bei dem Unglück so gut davongekommen war! Seine 
erste Sorge war, der Mutter Nachricht zu geben, ehe sie aus der Zeitung von dem Eisenbahn- 


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ungltick erfahren würde. Er schickte ihr ein Telegramm. Was wird der Vater der Mutter 
telegraphiert haben ?“ (An einem anderen Telegramm war den Kindern vorher der Sinn tele¬ 
graphischer Kürze klargemacht worden). 

b) Auswärtige Auslesen. 

Wie stark inzwischen auch anderwärts das Verständnis und Interesse für 
psychologische Auslesemethoden gestiegen war, zeigt die Tatsache, daß gleich* 
zeitig noch zwei Anregungen dieser Art an das Laboratorium herantraten: 
aus Altona und aus Sachsen. Beiden wurde entsprochen. Es handelt sich 
hier um ganz andere Organisationsprobleme und um andere Altersstufen als 
in Hamburg, so daß, gleichzeitig mit den Begabungsuntersuchungen an 10- 
jährigen, auch solche an 7 jährigen und an 13—14 jährigen von uns veran¬ 
staltet werden mußten. 

Über diese beiden Auslesen mögen die Berichte der Gruppenleiter folgen. 

Begabungsdifferenzierung von Schulneulingen in Altona. 

Im Wintersemester 1921/22 hat eine Arbeitsgruppe des Psychologischen 
Laboratoriums den Versuch gemacht, Methoden zur Begabungsfeststellung 
Siebenjähriger auszuarbeiten. Die pädagogische Praxis selbst drängte uns 
zu dieser Arbeit. Nachdem man jahrelang mit großem Eifer das Einheits¬ 
schulprogramm erörtert und die Theoretiker, in deren Konstruktionen bald 
mehr historische und aprioristische, bald mehr psychologistische Erwägungen 
im Vordergrund standen, zur Genüge gehört hat, ist gewiß jeder Versuch, 
die Praxis entscheiden zu lassen, zu begrüßen. Einen solchen Versuch hat 
man Ostern 1921 in Altona gemacht. Hier besteht seit diesem Termin an 
einer Knaben- und Mädchen-Volksscbule das sogenannte „Parallelklassen¬ 
system“. Rektor Julius Edert, der seit langem für dieses System eingetreten 
ist, hat in dem Schulblatt der Provinz Schleswig-Holstein (Febr. 1922) eine 
ausführliche Darstellung seiner Gedanken gegeben. Ostern 1921 wurden jeder 
der beiden Volksschulen etwa 120 Schulneulinge zugewiesen. Nach einiger Zeit 
wurden die Schüler mit Rücksicht auf ihre Begabung von den Lehrern dif¬ 
ferenziert und drei verschiedenen Klassen zugewiesen, so daß wir jetzt einen 
A-Zug mit begabten, einen B-Zug mit mittel- und einen C-Zug mit Schwach¬ 
begabten Schülern haben. Edert selbst tritt für Vierzügigkeit ein (also A-Zug 50, 
B 50, C 35, D 25 Schüler); aber die Schuldeputation hat bis jetzt nur das 
dreizügige P.-S. bewilligt. Es ist klar, daß die Scheidung der Kinder nach 
Begabungsrücksichten keine leichte Aufgabe darstellt. Als nun Prof. Stern ge¬ 
beten wurde, die von den Lehrern vorgenommene Differenzierung mit psycho¬ 
logischen Methoden nachzuprüfen, gab er seine Zustimmung. Wenn auch der päd¬ 
agogisch orientierte Betrachter dem P.-S. außerordentlich kritisch gegenüber¬ 
stehen mag, so wird doch der Psychologe die Gelegenheit gern ergreifen, 
1. ein in theoretisch-psychologischer Hinsicht sehr interessantes Material über 
die Welt der Siebenjährigen zu erhalten, 2. seine Untersuchung an den nach 
Lehrerurteil bereits differenzierten Kindern vornehmen zu können. 

Uns war sofort klar, daß wir in den Einzelversuchen das Binet-Simon- 
Verfahren nicht anwenden konnten, daß wir also zur Ausarbeitung und Zu¬ 
sammenstellung anderer Prüfmittel schreiten mußten. Im Laufe unserer Arbeit 
suchten wir eine Testzusammenstellung, die Ergebnisse differentieller Natur 
liefert, zu gewinnen. An etwa 450 Volksschulkindem Hamburgs und Berge- 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


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dorfs wurden Vorversuche gemacht; Prüfmittel, die, wie ein Vergleich mit 
der Intelligenzschätzung des Klassenlehrers zeigte, nicht differenzierend wirkten, 
wurden ausgeschaltet. Hier können nur kurz die Prüfmittel, die unter diesem 
Gesichtspunkt verwertbar erschienen, angegeben werden : Betrachten von drei 
Bildern, Ordnen einer Bilderserie, Ordnen von Gewichtskästchen, Ordnen von 
Kreisen nach der Größe und Helligkeit, Ergänzungstest, Prüfmittel zur Fest¬ 
stellung der räumlichen Vorstellungsfähigkeit (Zusammensetzen einer Kirche, 
Legen der Teilbilder auf ein Lotto), Tests für Konzentrations- (Sortieren von 
Schrauben) und Merkfähigkeit. 

Die psychologische Prüfung der 240 Kinder aus den Altonaer Parallelklassen 
fand am 11. März 1922 statt. Methodisch unterschied sich das Verfahren 
von allen früheren dieser Art dadurch, daß es individualisierend Vor¬ 
gehen mußte. Schriftliche Gruppenprüfungen sind ja bei Siebenjährigen nicht 
möglich. Es war ein Aufgebot von 30 genau instruierten Prüfern (Teilnehmern 
der psychologischen Übungen und Vorlesungen) nötig, um die Arbeit in lauter 
Einzelprüfungen an einem Vormittag zu schaffen. Jeder Prüfer übernahm 
eine Testgruppe, in der er nacheinander etwa 30 Kinder prüfte. 

Die Prüfung soll nicht nur als Überprüfung der bisher vom Lehrer differen¬ 
zierten Kinder dienen, sondern — falls sich die Methode bewährt — bei 
künftigen Differenzierungen mit herangezogen werden. Außerdem ist zu 
hoffen, daß das Verfahren für die Psychologie und Pädagogik der Sieben¬ 
jährigen auch anderweitige Ergebnisse liefert. Klüver. 


Auslese für sächsische Aufbauschulen. 

Im Freistaate Sachsen werden Ostern 1922 fünf Lehrerseminare in deutsche 
Aufbauschulen umgewandelt. Sie nehmen nach 7—8 jährigem Schulbesuch 
Volksschüler aller Schulgattungen auf und führen sie nach einem 6 jährigen 
Ausbildungsgange bis zur Universitätsreife. Die Aufnahmeprüfung in diese 
neue Art höherer Schule ist die „Begabtenprüfung“, wie sie in Berlin, Ham¬ 
burg und Dresden bereits mit Erfolg durchgeführt worden ist. Der Unter¬ 
zeichnete, der im Wintersemester 1921/22 teilnahm an dem für auswärtige 
Lehrkräfte bestimmten Lehrgang für pädagogische Psychologie am Hamburger 
Laboratorium, wurde von der sächsischen Behörde zum Leiter der Prüfungen 
bestimmt. Aus Mitgliedern dieses auswärtigen Kursus und unter Mitarbeit 
von Herrn Dr. R. Peter bildete sich Anfang Januar im Hamburger Psycho¬ 
logischen Institut nun die Arbeitsgemeinschaft „Sächsische Auslesegruppe“. 
Klarheit herrschte von Anfang an darüber, daß bei dem verschiedenartigen 
Schalermaterial, das aus allen möglichen Schulformen des reichgegliederten 
sächsischen Volksschulwesens sich meldete, eine Kenntnisprüfung alten Stils 
nicht in Frage kam. Man hätte mit ihr doch nur den mehr oder weniger 
reichhaltigen Lehrplan der betr. Schule oder den Lehrer geprüft und dann, 
wie früher, alle Schüler aus wenig gegliederten Schulen abweisen müssen. 
Eine Fähigkeitsprüfung auf Grund zahlreicher Testgruppen, die alle Anwärter 
gleichen Bedingungen unterwarf, war hier das Gegebene. Ebenso klar war 
nn« aber von vornherein, daß die Testprüfung nicht allein entscheidend sein 
durfte über Aufnahme oder Nichtaufnahme eines Schülers; denn eine Menge 
für das Fortkommen auf der höheren Schule außerordentlich wichtiger Mo¬ 
mente, die im Willens- und Gefühlsleben, im Fleiß usw. verankert sind, 


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William Stern 


werden von der Prüfung nicht erfaßt Darüber muß uns der Lehrer Aus¬ 
kunft geben aus dem Schatze seiner langjährigen Erfahrungen und Beobach¬ 
tungen. Um nun einen der zahlreichen, ausführlichen Beobachtungsbogen, 
etwa den Chemnitzer, Berliner, Hamburger, dem Lehrer zur Ausfüllung zu 
übergeben, dazu schien uns die Zeit zu kurz; nur sechs Wochen standen zur 
Verfügung, und außerdem fordert eine gewissenhafte Ausfüllung eine ein¬ 
gehende Einführung in die Technik psychologischen Beobachtens, die nicht 
mehr gegeben werden konnte. So einigten wir uns auf die Forderung eines 
psychologischen Schülerbildes, das uns gleichzeitig Material schaffen sollte für 
die Lösung des Problems: Beobachtungsbogen oder freie Schülercharakteristik. 
Folgendes Schema sollte dem Lehrer zeigen, welche Gesichtspunkte bei der 
Beurteilung eines Schülers uns besonders wichtig erschienen: 


Schema eines psychologischen Schülerbildes. 

I. Gefühlsleben: Temperament, Affekte, Selbstgefühl, Mitgefühl, Ehrgefühl 

II. Willensleben: Triebe, Willensstärke, Beharrlichkeit, Selbstbeherrschung, Geistes¬ 

gegenwart oder Kopflosigkeit. 

III. Verhalten in der Gemeinschaft: bei Spiel, Unterricht, Selbstverwaltung, Wanderung, 

in der Familie, bei praktischer Arbeit. Ein- oder Unterordnung, Führer, Außenseiter, 
soziales Pflichtbewußtsein. 

IV. Arbeitsart: schnell oder langsam, oberflächlich oder gründlich. Sind Tempo und 

Qualität gleichmäßig? Beeinflussung durch Prüfungen und Mitschüler. 

V. Auffassungsfähigkeit: schnell oder langsam, mehr phantasiemäßig oder logisch. 
VL Aufmerksamkeit: Stärke, Dauer, Ablenkbarkeit, Konzentrationsfähigkeit 

VH. Beobachtung: beobachtet es selbständig, gibt es Beobachtungen genau wieder, erfaßt 

es Gesamtzusammenhang oder nur Teile (Einzelheiten)? 

VIII. Gedächtnis: Lernt es schnell oder langsam, mechanisch oder sinngemäß? Ist das 
Gedächtnis dauerhaft, treu, schlagfertig? Besonderes Gedächtnis. 

IX. Phantasie: nüchtern oder phantasievpll. 

X. Denktätigkeit: selbständiges Urteilen oder kritikloses Hinnehmen, Finden des Wesent¬ 

lichen und Unwesentlichen. 

XI. Verhältnis von Fleiß und Begabung zu den Leistungen. 

XII. Besondere Begabungen und besondere Interessent Oben sie besondere Wir¬ 
kungen auf die angeführten Funktionen aus? 

XIIL Allgemeine Charakteristik. 

Bei der Aufstellung der Tests leitete uns die Erkenntnis, daß nur aus 
einer Vielheit der geprüften Anlagen und Fähigkeiten der Kern der einheit¬ 
lichen Persönlichkeit ersehen werden könne, daneben mußten natürlich die 
Begabungsrichtungen besonders getroffen werden, die dem Schüler ein gutes 
Fortkommen auf der höheren Schule erst möglich machen. So entstand fol¬ 
gender umfangreicher Prüfungsplan: 

I. Gedächtnis für sinnvolle Stoffe (15 Gruppen von je 3 in sinnvoller Beziehung stehenden 
Worten. — 3 lange Sätze). 

II. Freie Kombination (3 Beispiele nach Piorkowskischer Variationsmethode). 

III. Bildbetrachtung: „Das Wiedersehen“ (Beobachtung, Einfühlung: Darstellung — Finden 

einer Überschrift). 

IV. Analogien: 10 Beispiele (Ei — Schale, Buch—?). 

V. Sprachliche Tests (Gedächtnis für fremdsprachl. Stoffe: gotische Deklination. — Sprachlich¬ 
rubrizierendes Denken: Unterscheiden von bewirkten und erzeugten Akkusativen). 

VI. Finden des Wesentlichen (Herstellung eines Telegramms aus einein Brief. — Nieder- 

sch reiben der Bildgeschichte [Test III] in 5 Zeilen). 

VII. Definieren von Begriffen. 

vm. Kritikfähigkeit (Finden von Sinnwidrigkeiten in einem gegebenen Text). 

IX. Ordnungstests (Worte zu einer Geschichte ordnen. — Aufstellung eines Schemas). 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


193 


X. Mathematisches (Erkennen von Teilfiguren in einer Gesamtfigur. — Herstellen einer Ge¬ 
samtfigur aus Teilen. — Formvariator (beweglicher Würfel nach W. Stern) — 
Finden der Gesetzmäßigkeit einer Reihe). 

XL Beobachtungen am natürlichen Vorgang (Doppelpendelversuch). 

X1L Konzentration. 

Die Prüfungen fanden Anfang März statt; für jede Anstalt waren zwei Tage 
gerechnet. Ober die Ergebnisse wird berichtet werden. Schwärig. 


4. Psychologie der Reifezeit. 


Bis vor wenigen Jahren war die wissenschaftliche Arbeit der pädagogischen 
Psychologie fast ganz auf die frühe Kindheit und die Schulkindheit beschränkt; 
aber die große Bedeutung, die in letzter Zeit das „Jugendproblem“ in engerem 
Sinne gewonnen hat, fordert jetzt auch die Beteiligung der psychologischen 
Forschung. Jugendbewegung, Jugenderotik, Jugendkriminalität, Eintritt ins 
Berufsleben stellen neuartige psychologische Aufgaben. Die besondere Struktur 
des jugendlichen Seelenlebens macht eine Umstellung in den Forschungs¬ 
methoden notwendig. 

Unser Institut hat in den letzten Jahren einen ersten Anfang gemacht, sich 
mit diesen Fragen zu beschäftigen. 

Theoretisch hat der Unterzeichnete das „Seelenbild der reifenden Jugend“ 
in seinen Wesenszügen und in seiner typischen Unterscheidung von der 
Lebensform der Kindheit wie der der Erwachsenheit zu zeichnen versucht. 
Diese Darstellung, bisher in Vorträgen und im Schlußteil der Wintervorlesung 
entwickelt, wird noch in diesem Jahre als Buch erscheinen. 

Unsere empirische Speziaiarbeit hatte zunächst schon innerhalb derBe- 
gabungs- und Eignungsforschung über die Grenze der Schulkindheit hinaus¬ 
geführt; Lehrling6prüfungen, Aufnahmeprüfungen für das Lehrerinnenseminar, 
Beobachtungsbogen von Schulabgängern forderten durchweg die Berücksich¬ 
tigung jener geistigen Wandlungen und Differenzierungen, wie sie mit Be¬ 
ginn der Pubertät in die Erscheinung treten. Die Arbeit von Minkus und 
Stern über den Bindewortergänzungstest (Nr. 29) behandelt bereits neben 
Volksschülern auch Fortbildungsscbüler. Die Studien über die Beziehung 
zwischen Intelligenz und moralischer Reife, wie sie von der Arbeitsgruppe 
Dr. Boden mit Hilfe bestimmter Tests durchgeführt wurden (s. S. 183), be¬ 
zogen sich ebenfalls zum beträchtlichen Teil auf die Pubertätszeit. 

Endlich aber wurden auch solche psychische Tatbestände untersucht, die 
ganz spezifisch dem Jugendallerangehören: Jugendbewegung und Strafvollzug 
an Jugendlichen. Der Mitarbeiter des Instituts, Curt Bondy, ein genauer Kenner 
der Jugendbewegung in ihren verschiedenen Zweigen, unternahm es, die 
bisher am wenigsten studierte Form, nämlich die proletarische Jugend¬ 
bewegung, einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Als Methoden 
dienten ihm: Ausfüllungen eines an zahlreiche Jugendliche entsandten Frage¬ 
bogens, Sammlung von Dokumenten (Tagebüchern, Gedichten, Briefen), eigene 
Beobachtungen im Zusammenleben mit den Jugendlichen. Die auf Grund 
dieses Materials ausgearbeitete „Psychographie der proletarischen Jugend¬ 
bewegung“ umfaßt folgende Kapitel: Geschichte der proletarischen Jugend¬ 
bewegung in Hamburg; Form und Grundsätze der Lebensführung; das geistige 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 13 


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William Stern 


Leben, insbesondere Verhalten zu Kunst, Politik, Weltanschauung; Verglei¬ 
chung mit der bürgerlichen Jugendbewegung. (Kurze Mitteilungen hierüber: 
Nr. 43/44; die ganze Arbeit, eine Hamburger Doktordissertation, erscheint 
demnächst als Buch: Nr. 50.) 

In Beziehung zu dem Problem des Strafvollzugs an Jugendlichen trat 
das Institut dadurch, daß Dr. Bondy im Herbst 1921 in das Jugendgefängnis 
eintrat, um zunächst als Aufseher, dann zugleich auch als Sozialbeamter 
tätig zu sein. Ausgehend von dem Gedanken, daß die sehr dringliche Re¬ 
form des Jugendgefängniswesens ohne genauere Kenntnis der Psyche der 
jugendlichen Gefangenen nicht möglich sei, gründete er eine Arbeitsgruppe 
am Laboratorium, die er gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Hilfsarbeiter 
des kriminalistischen Seminars, Dr. Grünhut, leitete. Hier werden die von 
Bondy gesammelten Beobachtungen besprochen, Aufsätze der jugendlichen 
Gefangenen analysiert, Tests vorbereitet und verarbeitet. So beginnt sich 
allmählich ein bisher noch ganz verschlossenes Feld dem Auge des Psycho¬ 
logen zu öffnen; zurzeit läßt sich freilich noch nicht Voraussagen, wann und 
in welcher Form diese Einsichten zur Grundlage einer veränderten Behand¬ 
lung, vielleicht auch einer organisatorischen Differenzierung der jugendlichen 
Gefangenen werden können. 


Schlußbemerkung. 

Noch ist kein halbes Jahrhundert verflossen, seitdem Wilhelm Wundt in 
Leipzig das erste psychologische Laboratorium gegründet hat. Damals meinte 
Fechner in einer Mischung von Ernst und Scherz: wenn man es so im Großen 
treibe, dann werde das ganze Gebiet bald abgeackert sein. Fechner hatte 
sich geirrt. Heute wissen wir, daß wir erst in den Anfängen einer unab¬ 
sehbaren wissenschaftlichen Arbeit stehen. Der obige Bericht versuchte zu 
zeigen, wie gerade im letzten Jahrzehnt Gesichtspunkte, Problemstellungen 
und Methoden der Psychologie eine beträchtliche Erweiterung und eine durch¬ 
greifende Wandlung erfahren haben, daß ferner neben den theoretischen 
Fragen die früher ganz unbekannt gebliebenen praktischen Anforderungen 
die Kräfte eines psychologischen Laboratoriums in Anspruch nehmen. Das 
Hamburger Institut hat versucht, dieser Zunahme der Aufgaben gerecht zu 
werden, soweit es irgend seine begrenzten Hilfsmittel, Personalkräfte und 
Räume gestatteten. Den Behörden, welche die äußeren Bedingungen hierfür 
schufen, und den hauptamtlichen wie freiwilligen Mitarbeitern, die unermüd¬ 
lich und in nie getrübter Gemeinschaft am Werk halfen, sei herzlich gedankt. 

Trotz der schweren Zeiten hoffen wir auf eine weitere Entwicklung des 
Laboratoriums, damit es auch in Zukunft, wenn die Anforderungen noch 
mehr wachsen werden, der wissenschaftlichen Forschung, Lehre und An¬ 
wendung nach Gebühr dienen kann. 

Hamburg, Ende März 1922. William Stern. 


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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgiscbeo Universität 


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Wissenschaftliche Veröffentlichungen, 
die aus dem Psychologischen Laboratorium hervorgegangen sind 
(oder mit seiner Arbeit in Zusammenhang stehen). 

Abkürzungen: ArGsPs. = Archiv f. d. gesamte Psychologie. — ZPdPs. = Ztschr. f. pädagog. Psycho¬ 
logie. — ZAngPs. = Ztschr. f. angewandte Psychologie. — ZPs. = Ztschr. f. Psycho¬ 
logie. — SchrPsBer. = Schriften zur Psychologie der Berufseignung. 

1012 . 

1. E. Meamann, Ein Programm zur psychologischen Untersuchung des Zeichnens. ZPdPs. Xlll. 

2. E. Meumann, Beobachtungen über differenzierte Einstellungen bei Gedächtnisversuchen. 
ZPdPs. xm. 

3. E. Meumann u. R. H. Go Id Schmidt, Anleitung zu praktischen Arbeiten in der Jugend- 
kunde und experimentellen Pädagogik. ZPdPs. XIII. 

4. W. Hasserodt, Das Institut für experimentelle Psychologie in Hamburg. ZPdPs. Xin. 

1013. 

5. W. Hasserodt, Gesichtspunkte zu einer experimentellen Analyse geometrisch-optischer 
Täuschungen. ArGsPs. XXV11L 

6. O. Hasserodt, Bilderunterricht. ZPdPs. XIV. 

7. E. Meumann, Die soziale Bedeutung der Intelligenzprüfungen. ZPdPs. XIV. 

1014. 

8. Imre u. Bischoff, Experimentelle Untersuchungen über die Bewegungsgeschicklichkeit und 
Zieltreffsicherheit. 0. Beiheft zum Jahrbuch der Hambg. Wissenschaftlichen Anstalten. XXXI* 

9. Ernst Bischoff, Experimentelle Untersuchungen über die Bewegungsgeschicklichkeit und 
Zieltreffsicherheit mit Berücksichtigung des Arbeitsproblems. Ebda. 

10. F. Boden, Untersuchungen über den Einfluß des Fehlerwissens auf Arbeiten aus dem Gebiet 
der Bewegungsgeschicklichkeit und Zieltreffsicherheit. Ebda. 

11. Wassil Petkoff, Ober die Auffassung und Wiedergabe geometrischer Formen bei normalen 
und anormalen Menschen. Ebda. 

12. F. Boden, Ein zivilprozessualer Aussageversuch. ArGsPs., XXXII, S. 257. 

13. R. Peter, Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung. ZPdPs. XV. 

14. O. Hasserodt, Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis. ZPdPs. XV. 

15. G. Anschütz, Zwei neue Ergographen. ZPdPs, XV, 

1011/14. 

16 . E. Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psycho¬ 
logischen Grundlagen (Bd. I, 2. AuH, 1911; Bd. II, 2.Aufl., 1913; Bd.HI, 1914). 

1015. 

17. Th. Kehr, Allgemeines zur Theorie der Perzeption der Bewegung. ArGsPs. XXXIV, 

18. R. Peter, Untersuchungen über die Beziehungen zwischen primären und sekundären Fak¬ 
toren der Tiefenwahrnehm ung. ArGsPs. XXXIV« 

_ 1016. 

19. Theodor Kehr, Versuchsanordnung zur experimentellen Untersuchung einer kontinuierlichen 
Aufmerksamkeitsleistung. ZAngPs. XI. 

20. Theodor Kehr, Das Bewußtseinsproblem. 

1017. 

21. W. Stern, Die Psychologie und der Personalismus. Leipzig, Barth. 

1018. 

22. W. Stern, Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher, In: Das psychologisch-päda¬ 
gogische Verfahren der Begabtenauslese. Eine Sammlung von Beiträgen, herausgeg. von 
W. Stern. Leipzig, Quelle und Meyer. Zugleich ZPdPs. XIX. 

23. O. Melchior u. A. Penkert, Über die Anwendung zweier psychologischer Methoden bei 
der Aufnahme in ein Lehrerseminar. Ebda. 

24 m W. Stern, Die Methoden der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. Ebda. 

25. W. Stern, Über eine psychologische Eignungsprüfung für Straßenbahnfahrerinnen. SchrPsBer. 
Heft 2# Leipzig, Barth u. ZAngPs. Xlll. 

13* 


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William Stern, Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität 


26. W. Heinitz, Vorstudien über die psychologischen Arbeitsbedingungen des Maschinen¬ 
schreibens. SchrPsBer. Heit 4 u. ZAngPs. XIII. 

27. W. Stern, Die menschliche Persönlichkeit. Leipzig, Barth. 

1919. 

28. Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. Bericht über das psychologische Verfahren. 
In Gemeinschaft mit 0. Bobertag, L. Heit sch, H. Meins, M. Muchow, A. Penkert, H. P. Roloff, 

G. Schober, H. Werner und O. Wiegmann herausgegeben von R. Peter und W. Stern. Ham¬ 
burger Arbeiten zur Begabungsforschung Nr. I. (Beiheft 18 zu ZAngPs.) Leipzig, Barth. 

29. Untersuchungen über die Intelligenz von Kindern und Jugendlichen. Von W. Minkus, W. Stern, 

H. P. Roloff, G. u. A. Schober, A. Penkert. Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung 
Nr. II. (Beiheft 19 zu ZAngPs.) Leipzig, Barth. 

30. W. Benary, Kurzer Bericht über Arbeiten zu Eignungsprüfungen für Fliegerbeobachter. I. 
SchrPsBer. Heft 8 u. ZAngPs. XV. 

31. Heinz Werner, Rhythmik, eine mehrwertige Gestaltenvcrkettung. ZPs. Bd. 82. 

32. M. Muchow, Psychologischer Beobachtungsbogen für Schulkinder. Sonderdruck aus Nr. 28 
des Verzeichnisses. 

33. M. Muchow u. W. Höper, Beobachtungsbogen und Schülerauslese. ZPdPs. XX. 

1920. 

34. W. Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen. (Anstelle einer 3. Auflage des 
Buches: Die Intelligenzprüfungen an Kindern und Jugendlichen.) Leipzig, Barth. 

35. W. Stern, Die Psychologie und die Schülerauslese. (Sonderdruck aus Nr. 34 dieses Ver¬ 
zeichnisses). 

36. Otto Wiegmann und William Stern, Methodensammlung zur Intelligenzprüfung von 
Kindern und Jugendlichen. Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung Nr. Hl (Beiheft 20 
zur ZAngPs.). 

37. W. Benary. Kurzer Bericht über Arbeiten zu Eignungsprüfungen für Fliegerbeobachter. IL 
SchrPsBer. Heft 12, und ZAngPs. XVI. 

38. Hildegard Sachs, Zur Organisation der Eignungspsychologie. SchrPsBer. Heft 14. 

39. Hildegard Sachs, Studien zur Eignungsprüfung der Straßenbahnführer. 1. Abhandlung. 
Methode zur Prüfung der Aufmerksamkeit und Reaktionsweise. Ebenda, Heft 15, und 
ZAngPs. XV1L 

40. W. Steinberg, Die Raumwahrnehmung der Blinden. München, Reinhardt. 

1921. 

41. H. P. Roloff und W. Stern, Psychologische Auslese der Lehrlinge für deutsche Eisenbahn¬ 
werkstätten. ZPdPs. XXH, 1, 2. 

42. Erich Stern, Die Feststellung der psychischen Berufseignung und die Schule. Nr. 4 der 
„Hamburger Arbeiten zur Begabungsforscbung*. (Beiheft 26 zu ZAngPs.) Leipzig, Barth. 

43. Curt Bondy, Methodische Hilfsmittel zur Psychographie von Jugendorganisationen. 
ZPdPs. XXII, Heft 11/12. 

44. W. Stern, Zur Psychographie der proletarischen Jugendbewegung. ZPdPs. XXII, Heft 11/12. 

45. W. Stern, Richtlinien für die Methodik der psychologischen Praxis. In: Vorträge zur ang. 
Psychologie, gehalten auf dem Marburger Psychologischen Kongreß. Beiheft 30 zur ZAngPs. 

46. Thea Heinrich, Die Rolle des Umweltfaktors in der Entwicklung der Lebensform des 
jugendlichen Rousseau. (Diss.) 

Ferner: 2. Auflage von Nr. 28. 2. stark vermehrte Auflage von Nr. 34. 

1922. 

47. H. Werner, Grundfragen der Intensitätspsychologie. Ergänzungsband X der ZPs. Leipzig. 
Barth. 

48. H. P. Roloff, Vergleichend psychologische Untersuchungen über kindliche Definitions- 
leistungen. Nr. 5 der „Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung 41 . (Beiheft 27 zu ZAngPs.) 
Leipzig, Barth. 

49. R. Peter, Studien über die Struktur des Sehraumes. I (Dissert.) 

50. C. Bondy, Die proletarische Jugendbewegung in Deutschland. Mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Hamburger Verhältnisse. Lauenburg a. d. E., Verlag Saal. 

51. W. Stern, Der Formvariator. ZPdPs. XXHI, Heft 3/4. 


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M. Vaörting, Aufmerksamkeit niederer u. höh. Ordnung u. ihre Bezieh, zum Begabungsproblem 197 


Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre 
Beziehung zum Begabungsproblem. 

Von M. Vaerting. 


Fast bei allen Begabungs- und Berufseignungsprüfungen spielt heute die 
Ermittlung der Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit eine große 
Rolle. Infolgedessen hat die Experimental-Psychologie bereits eine ganze 
Anzahl von Methoden zur Untersuchung dieser Fähigkeit ausgebildet. 

Bei den heutigen Methoden lassen sich deutlich zwei Gruppen unterscheiden. 
Die Aufmerksamkeitsproben der ersten Gruppe sind vor allem dadurch ge¬ 
kennzeichnet, daß sie vom Prüfling eine möglichst mechanische, zumeist so¬ 
gar eine völlig sinnlose Tätigkeit verlangen. Die Leistung knüpft sich vor 
allem an Gedächtnis- und Sinnesfähigkeiten, also an Fähigkeiten niederer 
Ordnung. Die Denkleistung hingegen wird nach Möglichkeit ausgeschaltet, 
auf ein Minimum beschränkt. Dadurch wird gerade das Mechanische der 
Tätigkeit möglichst vollkommen hergestellt. 

Ein typisches Beispiel dieser Gruppe ist z. B. der Bourdon-Test in allen 
Beinen verschiedenen Abänderungen, der heute sowohl bei Begabungs- als auch 
bei Berufseignungsprüfungen mit Vorliebe verwandt wird. Bei dem Versuch 
wird eine Durchstreichung bestimmter festgesetzter Buchstaben in einem 
vorgelegten Text gefordert. Bei der ersten Berliner Begabtenprüfung 1 ) kam 
er z. B. in folgender Form zur Anwendung: Den Kindern wurden gleiche 
Texte vorgelegt und die Verabredung getroffen, in einer gegebenen Zeit alle 
a, e und n durchzustreichen, die dem Kinde beim Durcheilen der Druckzeilen 
aufstießen. Gewertet wurde Menge und Richtigkeit der Leistung. Bei einer 
Berufseignungsprüfung 2 ) wurde der Versuch z. B. dadurch kompliziert, daß 
nur alle gesprochenen a und e in einem Texte durchstrichen werden sollten 
und zwar derart, daß die a von links nach rechts und die e von rechts nach 
links markiert werden sollten. Nicht durchgestrichen werden durften hin¬ 
gegen alle stummen e, sowie alle a und e in Doppellauten. Gewertet wurde 
bei der Probe die Anzahl der richtig durchgestrichenen Buchstaben sowie 
die Zeit, in der die Leistung vollbracht wurde. 

Auch die anderen Proben, welche bei der gleichen Gelegenheit zur An¬ 
wendung kamen, verlangten alle eine Leistung ohne Zweck und Sinn. So 
wurde bei der Begabtenprüfung ferner gefordert, Worte hinzuschreiben, die 
sich auf Gegenstände des Zimmers bezogen, zweisilbige Dingworte waren 
und kein gesprochenes a, e und n enthielten. Eine andere Prüfung bestand 
darin, auf ein Stichwort hin in einer gegebenen Zeit alle Worte hinzu¬ 
schreiben, die ebenfalls mehreren materialen und formalen Bedingungen ge¬ 
nügten, ebenfalls Reaktionen auf das Reizwort waren und keine a, e und n 
enthielten. Bei den Bourdon-Tests spielt Gedächtnis und Sinneswahmehmung 
eine große Rolle, ohne daß ihr Einfluß im Ergebnis eliminiert würde. 

Eine ganze Anzahl von Tests, welche heute zur Untersuchung der Auf¬ 
merksamkeit verwandt werden, setzen ein außerordentlich starkes Gedächtnis 


') Moede-Piorkowski-Wolf: Die Berliner Begabtenprüfung 1918. 

*) Piorkowski: Ober eine Angestelltenprüfung bei der Auerlicht-Gesellscbaft, Prakt. Psycho¬ 
logie 1920. 


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198 


M. Vaörting 


voraus. Diese Tests werden bezeichnenderweise als besonders schwere 
Proben bezeichnet, welche die Konzentrationsfähigkeit besonders scharf er¬ 
fassen und Höchstleistungen auf diesem Gebiete erfordern. 

Z. B. verwandte Piorkowski *) bei einer Angestelltenprüfung für die Auer- 
licht-Gesellschaft folgende Aufgabe. Sämtlichen Prüflingen wurden drei 
Zahlen gesagt und ihnen dann aufgegeben, zugerufene Zahlen zu den drei 
Grundzahlen im Kopfe jeweils hinzuzuaddieren oder abzuziehen, wobei sie 
die einzelnen Reihen streng auseinanderhalten mufiten. Das Endresultat 
mußte für jede Reihe richtig angegeben werden. 

Bei dieser Probe wird an erster Stelle nicht die Konzentrationsfähigkeit, 
sondern das Gedächtnis, besonders das Zahlengedächtnis, geprüft. Alle Prüf¬ 
linge mit weniger starker Gedächtnisfähigkeit mußten von vornherein selbst bei 
ganz außerordentlicher Konzentrationsfähigkeit zum Versagen verurteilt sein. 

Ebenso ist es bei den Prüfungen der sogenannten disparaten Aufmerk¬ 
samkeit. Bei den Berliner Begabtenprüfungen wurde z. B. ein gleichzeitiger 
Vollzug mehrerer geistiger Leistungen gefordert. Die Kinder mußten fort¬ 
laufend im Kopfe multiplizieren und die Lösungen der Aufgaben in ein Heft 
eintragen, gleichzeitig eine Geschichte anhören und nach Beendigung der 
vorgelesenen Erzählung diese möglichst genau niederschreiben. Die hierbei 
erzielte Leistung wurde als Maß der Konzentrationsfähigkeit gewertet 

Unzweifelhaft wird aber die Höhe der Leistung hier nicht nur vom Grade 
der Aufmerksamkeit bestimmt, sondern mindestens in gleichem Maße von 
der Fähigkeit des momentanen Behaltens. Der Konzentrationseffekt wird 
vor allem vom Gedächtniseffekt überdeckt. Der Versuch, den Grad der 
Gedächtnisfähigkeit zu eliminieren, wurde nicht gemacht. 

Bei anderen Konzentrationsproben der ersten Gruppe spielt außer der 
Stärke der Aufmerksamkeit die Sinneswahrnehmung eine Hauptrolle. Kehr 2 ) 
hat eine tachistoskopische Abänderung des Bourdontests ersonnen, bei welchem 
die Sinneswahmehmung von ausschlaggebender Bedeutung für die Aufmerk¬ 
samkeitsleistung ist Piorkowski 3 ) hat eine Anzahl derartiger Versuche für 
jedes Sinnesgebiet zusammengestellt. Bei dem Moedeschen Tastsinnprüfer 
wird z. B. die Aufgabe gestellt, zwei Platten derart genau in eine Ebene zu 
bringen, daß zwischen den beiden Platten auch nicht mehr der geringste 
Höhenunterschied besteht, sondern sie absolut ineinander übergehen. Ferner 
beschreibt Piorkowski einen von ihm selbst konstruierten Apparat mit fünf 
Quecksilberröhrenpaaren, daran Steigen und Fallen vom Prüfling nach be¬ 
stimmten Vorschriften auf mechanischem Wege reguliert werden muß. Pior¬ 
kowski will durch Vergleich der Resultate verschiedener Methoden den 
Einfluß der Sinnesqualität eliminieren, um den reinen Effekt der Konzentra¬ 
tionsfähigkeit zu erhalten. 

Die Methoden der ersten Gruppe haben lange Zeit allein die experimentelle 
Aufmerksamkeitspsychologie beherrscht. Sie nehmen auch heute noch in der 
Theorie und besonders in der Praxis den breitesten Raum ein. 

Die Methoden der zweiten Gruppe haben sich erst jüngst auf Grundlage 

•) «. a. O. S. 34. 

’) Versuchsanordnung zur experimentellen Untersuchung einer kontinuierlichen Aufmerksam- 
keiUleistung. Ztschr. f. angew. Psych., Bd 11. 

Ober Methoden zur Erkennung und Schulung der Konzentration. Prakt. Psychologie 1920. 


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Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungsproblem 199 


der Kritik an den Methoden der ersten Gruppe herauszubilden angefangen 1 ). 
Die Methoden der zweiten Gruppe sind vor allem dadurch gekennzeichnet, 
daß bei ihren Proben im Gegensatz zu denen der ersten Gruppe zwischen 
Reiz und Reaktion eine sinnvolle Beziehung hergestellt wird. Um die Aus¬ 
bildung und Einführung dieser Methoden bei Berufseignungsprüfungen hat 
sich besonders W. Stern große Verdienste erworben 2 ). Auch durch Kritik 
an den Methoden der ersten Gruppe hat Stern versucht, den Methoden der 
zweiten den Weg zu ebnen. In einem Bericht über die Schrift von Schack¬ 
witz „Über psychologische Berufseignungsprüfungen für Verkehrsberufe“ 
weist Stern ausdrücklich darauf hin, daß der sinnvolle Zusammenhang 
zwischen Reiz und Reaktion eine wesentliche Bedingung des psychischen 
Fahrverhaltens ist 3 ). Die Lebensfremdheit und Sinnlosigkeit der Versuche 
wird besonders als Nachteil gegenüber dem Hamburger Verfahren stark be¬ 
tont. „Ferner besteht zwischen den Reizen und den geforderten Reaktionen 
ein absolut willkürlicher, an sich sinnloser Zusammenhang, der nur rein 
mechanisch eingeprägt werden kann. Ein solches Reagieren aber ist ein 
völlig anderes Verhalten als das Ausführen von Bewegungen, die zum Reiz 
eine in sich einleuchtende sinnvolle Zweckbeziehung haben.“ 

Lob sie n 4 ) hat ebenfalls eine Methode der Aufmerksamkeitsprüfungen 
ausgebaut, welche eine „natürliche Lebensnähe des Versuchs* erstrebt unter 
Vermeidung der „künstlichen d. h. stark lebensfernen Voraussetzungen“ der 
älteren Methoden. 

In diesem Zug der Anpassung des Aufmerksamkeitsversuches an die Wirk¬ 
lichkeit der Berufsanforderungen besteht der wesentliche Fortschritt der 
Methoden der zweiten Gruppe gegenüber der ersten. 

Die Konzentrationsfähigkeit, welche durch beide Arten von Methoden er¬ 
faßt wird, ist aber immer noch nicht die Konzentrationsfähigkeit schlechthin, 
wie durchweg angenommen wird. Es ist eine Konzentrationsfähigkeit be¬ 
stimmter Art, welche wir als Aufmerksamkeit niederer Stufe bezeichnen 
wollen und welche nur einen Teil der allgemeinen Konzentrationsfähigkeit 
ausmacht. 

Dies soll im Folgenden eingehend begründet und zugleich nachgewiesen 
werden, daß es außer der bisher experimentell untersuchten Aufmerksamkeit 
niederer Stufe noch eine solche höherer Ordnung gibt, die besonders für das 
Begabungsproblem von großer Bedeutung ist. 

Bei dem psychologischen Vorgang der Konzentration können wir ein doppeltes 
unterscheiden, nämlich erstens den psychologischen Antrieb, welcher als vor¬ 
herrschender Faktor die Aufmerksamkeit spannt und zweitens das Objekt 
oder die Tätigkeit, auf welche sich die Aufmerksamkeit konzentriert 


*) Alfred Mann, Zur Psychologie und Psycbograpbie der Aufmerksamkeit, Ztschr. f. angew. 
Psych. BdL 9, hat vor Jahren darauf hingewiesen, daß gegenüber der experimentellen Untersuchung 
der Aufmerksamkeit Skepsis am Platze ist, weil diese Experimente hfiufig nicht die Aufmerk¬ 
samkeit. sondern andere psychische Faktoren berühren. 

*) Vgl. u. a. H. Sachs, Studien zur Eignungsprüfung der Straßenbahnführer, I. Methode zur 
Prüfung der Aufmerksamkeit und Reaktionsweise. Mit einer Einleitung von W. Stern, Ztschr. 
f. angew. Psych. Bd. 17. 

a) Ebenda Bd. 16. 

4 ) Prüfung der Aufmerksamkeit an Kindern mit der Mün st erb erg sehen Schlittenmethode, 
Zeitschr. f. angew. Psychol. 13 und 14. 


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Was den Antrieb zur Konzentration anbelangt, so haben wir zwei 
Hauptkräfte zu unterscheiden, den Willen und das Interesse. Wenn der Wille 
der bestimmende Faktor der Aufmerksamkeit ist, so ist die Konzentration 
mehr äußerer Art. Auf der Verbindung des Individuums mit der geistigen 
Tätigkeit lastet in diesem Falle der Zwang des Willens. Der Wille drängt 
sich wie ein fremdes Element zwischen Individuum und Leistung, sobald 
die Leistung auf dem Gebiete der höheren Geistestätigkeit wie Denken und 
Phantasie liegt. Die Tätigkeit wächst nicht frei und organisch aus der gei¬ 
stigen Eigenart, aus den individuellen Geisteskräften hervor, sondern wird 
dem Denken aufgezwungen und bleibt deshalb Fremdkörper im höheren 
Geistesorganismus. 

Ganz anders ist es, wenn der Antrieb zur Aufmerksamkeitsspannung aus 
der Leistung erfolgt, aus der Sache, der Tätigkeit als solcher. Dieser Antrieb 
aber geht von der Sache, der Tätigkeit, nur dann aus, wenn diese das In¬ 
teresse des Individuums nicht nur zu wecken, sondern auch dauernd zu 
binden vermag. Bei dieser inneren Aufmerksamkeit dominiert das Interesse 
als Motor der Konzentration und verbindet das Individuum mit seiner Tätig¬ 
keit zu einer vollkommenen Einheit. Bei der inneren Aufmerksamkeit ist 
das Individuum und seine Kräfte in Harmonie mit seiner Tätigkeit und Lei¬ 
stung, bei der äußeren Aufmerksamkeit ist diese Harmonie durch die außer¬ 
halb der höheren geistigen Tätigkeit selbst stehenden Willensanstrengungen 
gestört Denn nur das Interesse vermag einen natürlichen, der Eigenart des 
Individuums aufs feinste entsprechenden Kontakt zwischen der Sache, der 
Tätigkeit und dem Individuum herzustellen. Bei einer Konzentration, die 
aus äußerem Zwang oder Selbstzwang heraus erfolgt, kann der Kontakt nur 
künstlich sein. Die Tätigkeit entspricht nicht dem Wesen und der Eigenart 
des Geistes. 

Es ist nun unzweifelhaft, daß die Konzentration aus Interesse eine höhere 
Stufe darstellt als die Konzentration, deren bestimmender Faktor der Wille 
ist. Denn die Intensität der Konzentration und ihre Dauer ist um so 
größer, je inniger der Kontakt zwischen dem Individuum und seiner Tätig¬ 
keit ist. Diese aber wird am vollkommensten durch eine Aufmerksam¬ 
keit aus Interesse hergestellt. Die Willenskonzentration kann selbst bei 
höchster Intensität diese Vollkommenheit nie erreichen, weil sie ihrer Art 
nach im Äußeren haften bleiben muß, weil sie dem Geiste etwas Wesens¬ 
fremdes aufgenötigt. Dem Willen fehlt seiner Natur nach die Macht, die 
Verschmelzung des Individuums mit einer höheren Geistestätigkeit zu einer 
vollkommenen Einheit zu vollziehen. Der Kontakt, den Willenskonzentration 
zwischen Individuum und seiner Tätigkeit zu knüpfen vermag, ist um so 
lockerer und äußerlicher, je höher die geistige Tätigkeit; Intuition, schöpfe¬ 
rische Tätigkeit ist durch Willenskonzentration überhaupt nicht zu erzwingen. 

Die Konzentration, die auf dem Willen ruht, steht auch deshalb der Kon¬ 
zentration aus Interesse nach, weil bei der ersteren das Interesse nicht ge¬ 
bunden, also frei ist und, soweit vorhanden, nach Auswirkung strebt. Aus 
diesem Grunde wirkt das Interesse als innerer Widerstand gegen die Willens- 
konzentration, ein Umstand, der große Beachtung verdient. Die Konzentra¬ 
tionsfähigkeit aus Interesse ist nun zweifellos anderer Art als eine Fähig¬ 
keit zur Aufmerksamkeitsspannung, die hauptsächlich auf dem Willen ruht. 
Es gibt Individuen, die ein hohes Maß von Fähigkeit zur inneren Aufmerk- 


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Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungsproblem 201 


samkeit, zur Konzentration aus Interesse, besitzen, die aber bei Anforde¬ 
rungen an die äußere Aufmerksamkeit, an die Konzentration aus dem Willen 
heraus, versagen. Liebig z. B. konnte und wollte sich als Schüler überhaupt 
nicht auf den Unterricht konzentrieren, der sein Interesse offenbar nicht zu 
erwecken vermochte. Dabei besaß er eine gewaltige Konzentrationsfähigkeit, 
die sich während des Unterrichts in Privatbeschäftigungen aus seinem Inter¬ 
essegebiet auswirkte. Bei Aufgaben, welche organisch aus der Eigenart der 
Begabung hervorwuchsen, entfaltete sich hier eine gewaltige Konzentrations¬ 
fähigkeit, bei aufgezwungener Tätigkeit war überhaupt keine Aufmerksamkeit 
vorhanden. Ähnlich war es bei Helmholtz, ist es bei vielen anderen Schülern 
gewesen, und ist es noch heute. Wir kommen darauf bei der Untersuchung 
über die Schulaufmerksamkeit noch eingehend zurück. 

Andererseits gibt es Individuen, die eine ausgesprochene Fähigkeit zur 
äußeren Aufmerksamkeit haben, die sich mit Hilfe des Willens auf jede Auf¬ 
gabe zu konzentrieren vermögen, die das Leben ihnen zuwirft, denen aber 
eine Aufmerksamkeitsspannung aus Interesse, eine innere konzentrative Ver¬ 
schmelzung mit einer Tätigkeit, so gut wie unbekannt ist. 

Der Fähigkeitstypus, bei welchem das Interesse das ausschlaggebende Moment 
der Konzentration ist, kann je nach der Eigenart seiner Begabung vorwiegend 
Konzentrationsfähigkeit für mehr mechanische Tätigkeit besitzen oder vor¬ 
wiegend für Leistungen in der höheren geistigen Sphäre. Eine scharfe 
Trennung der Typen ist hier sehr häufig zu beobachten, jedoch können 
natürlich auch Mischtypen Vorkommen. Bei den Willenstypen hingegen fällt 
diese Scheidung der Typen im allgemeinen fort. Ausgeprägte Willenstypen 
bei der Konzentration greifen zumeist jede Tätigkeit mit der gleichen Auf¬ 
merksamkeitsspannung an. Die Leistung kann natürlich von mehr oder 
weniger Erfolg zeugen, aber die Leistungsunterschiede sind hier zumeist nicht 
auf eine verschiedene Stärke der Konzentration zurückzuführen. Sehr hänfig 
aber zeigen sich bei den Willenstypen so gut wie keine Leistungsunterschiede 
auf den verschiedensten Gebieten. Der Musterschüler ist durchweg der voll¬ 
kommenste Vertreter des Willenstypus bei der Konzentration. Der Interessen¬ 
typus kommt bei dieser Art von Schülern gar nicht oder nur als Ausnahme vor. 

Um Mißverständnisse zu vermeiden, mag schon hier ausdrücklich bemerkt 
werden, daß wir unter Interesse nur das unmittelbare Interesse ver¬ 
stehen, das aus der Sache selbst hervorgeht, hingegen das von Herbart so¬ 
genannte mittelbare Interesse, das aus Nebenzwecken und Nebenrücksichten 
entspringt, ausgeschlossen wird. Eine Konzentration, bei welcher das un¬ 
mittelbare Interesse als Antrieb dominiert, wollen wir als innere Aufmerk¬ 
samkeit, eine Konzentration, bei welcher der Wille vorherrscht, als äußere 
Aufmerksamkeit bezeichnen. 

Außer dem psychischen Antrieb zur Aufmerksamkeitsspannung haben wir, 
wie bereits erwähnt, zweitens das Objekt oder die Tätigkeit zu unterscheiden, 
auf welche sich die Aufmerksamkeit konzentriert. Wir wollen hier zwei 
Tätigkeiten unterscheiden. Steht Sinneswahmehmung und Gedächtnis im 
Mittelpunkt, so wollen wir sie als niedere oder mechanische Tätigkeit be¬ 
zeichnen, spielen Denken und Phantasie die Hauptrolle, hingegen als höhere 
Geistes tätigkeit. 

Wir wollen mm eine Einteilung der Aufmerksamkeit vornehmen, welche 
gleichzeitig beide Gesichtspunkte berücksichtigt, sowohl den Antrieb der Auf- 


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merksamkeit als ihr Objekt oder ihre Tätigkeit Da wir beim Antrieb Wille 
und Interesse, bei der Tätigkeit eine solche niederer und höherer Art zu 
berücksichtigen haben, so ergeben sich dementsprechend vier Arten der Kon¬ 
zentration. 

Erstens Konzentration auf eine vorwiegend mechanische Tätig¬ 
keit, deren Hauptantrieb der Wille ist. Zweitens Konzentration 
auf eine Tätigkeit höherer Art, deren Motor ebenfalls der Wille 
ist. Drittens Konzentration auf eine mechanische Tätigkeit aus 
Interesse. Viertens Konzentration in der Sphäre der höheren In- 
tellektualität aus Interesse. Auf der untersten Stufe steht zweifellos die 
erste Art. Die zweite und dritte Art können ungefähr als gleichwertig be¬ 
trachtet werden, so daß wir beide Arten als zur zweiten Stufe gehörig be¬ 
zeichnen wollen. Die vierte Art nimmt als höchste die dritte und letzte 
Stufe ein. Bei der Konzentration der dritten Stufe müssen also die höheren 
Geisteskräfte die Tätigkeit beherrschen, und gleichzeitig muß die Aufmerk¬ 
samkeit aus dem Interesse gespeist werden. 

Wir können jetzt auch entscheiden, welche Art der Konzentrationsfähigkeit 
man bisher in den psychologischen Prüfungen erfaßte. 

Bei den Aufmerksamkeitsproben der oben genannten ersten Gruppe steht 
Gedächtnis und Sinneswahrnehmung im Mittelpunkt der Tätigkeit Als Motor 
der Konzentration kommt fast ausschließlich der Wille in Frage, da die Auf¬ 
gaben ihrem Inhalt nach vorwiegend sinn- und zwecklos waren. Interesse für 
Sinnlosigkeiten aber kann nur in den seltensten Fällen erwartet werden. 
Die Konzentrationsfähigkeit, die man bisher mit den Methoden der ersten 
Gruppe prüfte, war also die niedrigste Stufe der Konzentration, getragen vom 
Willen und gerichtet auf eine mechanische Tätigkeit. 

Bei den Methoden der zweiten Gruppe ist vor allem die Art der Tätigkeit 
bei den Proben anders. Die Tätigkeit ist nicht mehr sinnlos, sondern zu¬ 
meist sinnvoll. Gedächtnis und Sinneswahmehmung werden zwar auch hier 
stark in Anspruch genommen, jedoch wird der Mitwirkung der höheren 
Geisteskräfte zweifellos ein größerer Spielraum gewährt. Lobsien z. B. hat 
festgestellt, daß seine Aufmerksamkeitsprobe (Schlittenversuch) von den 
Schülern Gedächtnis-, Phantasie- und Intelligenzleistungen erfordere. Jedoch 
stehen die intellektuellen Anforderungen auf einer ziemlich niederen Stufe. 
Lobsien schreibt zwar: „Der Versuch stellt die Schüler vor eine für sie durch¬ 
aus neue intellektuelle Aufgabe, die in einem fortlaufenden Prüfen, Ober¬ 
legen, Absondern besteht, kurz vor eine Aufgabe der Intelligenz.“ In der 
Tat aber zieht der Versuch der Betätigung der Intelligenz sehr enge Grenzen, 
da die Tätigkeit sich nach ganz genauen Angaben, man kann fast sagen 
sklavisch vollziehen muß. Für Entfaltung geistiger Selbständigkeit, höherer 
Geisteskräfte, ist kein Raum. Lobsien hat denn auch selbst die Erfahrung 
gemacht, daß zwischen der Aufmerksamkeitsleistung und dem Grade der 
Intelligenz der Prüflinge anscheinend keine Beziehung bestand. 

Der beherrschende Antrieb zur Konzentration ist auch bei den Methoden 
der zweiten Gruppe ausnahmslos der Wille. Lobsien sagt, daß die Prüflinge 
mit einem möglichst hohen Arbeitswillen von vornherein an den Versuch 
herantreten müssen. Allerdings will er auch das Interesse nach Möglichkeit 
erwecken, auf Grund einer „möglichst lustbetonten geistigen Gesamtlage“. 
Jedoch handelt es sich hier um das mittelbare Interesse, welches durch Neben- 


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Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungsproblem 203 


rücksichten und Nebenzwecke hervorgerufen wird, nicht durch die Sache 
selbst. Lobsien will nämlich Wille und Interesse durch den Wettbewerb der 
Prüflinge unter sich anspornen und wach erhalten. Dominierend ist bei allen 
diesen Versuchen der Wille selbst dann, wenn dieses mittelbare Interesse 
vorhanden ist Denn gerade darin besteht der Unterschied zwischen dem 
mittelbaren und dem unmittelbaren Interesse, daß bei dem ersteren der Wille 
stets der beherrschende und bestimmende Antrieb der Aufmerksamkeit ist 
und bleibt. 

Die Aufmerksamkeit, welche durch die Methoden der zweiten Gruppe er¬ 
faßt wird, gehört also teils der unteren, teils der mittleren, in keinem Falle 
wohl aber der höchsten Stufe an. . • 

Die experimental-psychologischen Prüfungsmethoden der Konzentration sind 
bisher sowohl bei Begabungs- als auch bei Berufseignungsprttfungen in der Praxis 
zur Anwendung gekommen. Ebenso wurden sie zum Teil zur Schulung der 
Konzentration empfohlen. Es bedarf nach unseren voraufgegangenen Dar- 
legungen wohl kaum noch eines ausführlichen Nachweises, daß die Fähig¬ 
keit zu einer Konzentration der niederen Stufen mit der Hoch¬ 
begabung überhaupt nichts zu tun hat. Wenn diese Fähigkeit vor¬ 
handen ist, so beweist das nichts für das Vorhandensein einer überdurch¬ 
schnittlichen Begabung, und wenn sie nicht vorhanden ist, so kann trotzdem 
recht wohl eine Hochbegabung vörliegen. Die Fähigkeit zur Konzentration 
der niederen Stufen ist für eine Hochbegabung nicht notwendig. Das Kenn¬ 
zeichen der Hochbegabung ist im Gegenteil eine Fähigkeit zur 
Konzentration der höchsten Stufe. Diese Fähigkeit ist zur Aus¬ 
wirkung der Begabung unbedingte Voraussetzung. Sie erst 
ermöglicht es, daß das Individuum ganz in seiner Tätigkeit auf¬ 
geht, so innig mit ihr verschmilzt, daß die Leistung über die 
alltägliche Norm hinausgeht. 

Die Konzentrationsfähigkeit der beiden ersten Stufen ist nun für die Hoch¬ 
begabung nicht nur nicht notwendig, sondern auch nicht einmal vorteil¬ 
haft. Ja sie kann im Gegenteil, wenn sie durch Übung entwickelt wird, 
der Entfaltung der Hochbegabung gefährlich werden und sie in ihrer Aus¬ 
wirkung zu Leistungen stark beeinträchtigen. Denn in einem Individuum 
können nicht beide Konzentrationsfähigkeiten, die vom Willen 
und die vom Interesse getragene, sich gleichzeitig nebeneinander 
gleichmäßig entfalten. 

Denn die Konzentration aus dem Willen heraus steht der Konzentration 
aus Interesse entgegen. Da, wo das Interesse bei einer aufgenötigten Tätig¬ 
keit als der natürliche Motor der Aufmerksamkeit versagt, tritt der Wille als 
Antrieb ein. Wie wir bereits erwähnten, bleibt das Interesse unter diesen 
Umständen frei und wirkt als Antrieb der Aufmerksamkeit in einer von der 
Willenskonzentration abweichenden Richtung. Die Willenskonzentration ist 
also stets der Störung durch das Interesse ausgesetzt, solange das Individuum 
noch Interesse besitzt. Dadurch wird die Willenskonzentration darauf ein¬ 
gestellt, die die Aufmerksamkeit ablenkende Interessenkonzentration immer 
wieder von neuem zu überwinden. Wird deshalb die Konzentration aus 
dem Willen heraus geübt, so bedeutet jede Übung auf dieser Seite eine Ab¬ 
stumpfung und Vergewaltigung der Fähigkeit, sich aus Interesse zu kon¬ 
zentrieren. 


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Die Entwicklung und Ausbildung der beiden Fähigkeiten, der Konzentration 
aus Interesse und dem Willen heraus, stehen sich also entgegen. Jede Aus¬ 
bildung und Übung der einen Fähigkeit bedeutet einen Rückgang 
deranderen. Diesen besonders auch für die Pädagogik wichtigen Zusammen¬ 
hang hat man bisher nicht erkannt. Wird die Konzentrationsfähigkeit, die 
auf dem Willen ruht, geschult, sinkt die Fähigkeit, sich aus Interesse zu 
konzentrieren, und umgekehrt. Die Entwicklung der einen Fähigkeit schwächt 
die Kraft der anderen. Fast in jedem Individuum finden wir das Maß beider 
Fähigkeiten deshalb in umgekehrter Proportion vor. Ob dieses Verhältnis 
angeboren ist oder ob es sich nur mit psychologischer Notwendigkeit bei der 
Übung im Leben nach diesem Gesetz entwickeln muß, soll an dieser Stelle 
nicht untersucht werden. 

Die bisherigen psychologischen Untersuchungsmethoden der Konzentrations¬ 
fähigkeit sind auch nicht geeignet, die Größe der Konzentrationsfähigkeit 
niederer Ordnung in diesem Verhältnis zu ermitteln. Das Prüfungsergebnis 
ist deshalb kein sicherer Maßstab dieser Fähigkeit, weil die Prüfung sich nur 
über Tage, meistens nur über Stunden erstreckt. Der wichtige Faktor der 
sich über lange Zeiträume erstreckenden Ausdauer in der Konzentration kann 
nicht erfaßt werden. Ein Teil der Prüflinge wird gerade in der Prüfung aus 
Ehrgeiz gute und beste Leistungen in der Konzentrationsfähigkeit niederer 
Ordnung erzielen, obschon gar keine besondere Fähigkeit zu dieser Konzen¬ 
tration vorhanden ist. Unter Hochdruck des Willens werden eben zeitweilige 
Höchstleistungen erzielt, die von der allgemeinen Leistungsfähigkeit ein ganz 
falsches Bild geben. 

Es besagt deshalb, wie gesagt, weder etwas für noch etwas gegen die Höhe 
der Begabung, wenn bei den heutigen Methoden der Konzentrationsprüfungen 
Höchstleistungen erzielt werden. Die Konzentrationsprüfungen von 
heute sind als Bestandteil der Begabungsprüfung durchaus ab¬ 
zulehnen. 

Anders liegt die Sache bei den Berufseignungsprüfungen. Während 
für die Hochbegabung die Konzentrationsfähigkeit niederer Ordnung keine not¬ 
wendige noch vorteilhafte Eigenschaft ist, gibt es eine ganze Anzahl Berufe, 
für welche sie eine ausschlaggebende Bedeutung hat. Dahin gehören alle 
Arbeiten, welche Rein 1 ) z. B. als „ausführende“ bezeichnet, Berufe, bei 
denen die Tätigkeit vorwiegend mechanischer Art und die Anforderungen an 
die höheren Geisteskräfte gering sind. Für diese Berufe ist eine Prüfung 
der Konzentrationsfähigkeit niederer Ordnung berechtigt und vorteilhaft. Bei 
allen Berufen hingegen, bei welchen die Selbständigkeit eine ausschlag¬ 
gebende Bedeutung hat, wären Prüfungen der Konzentrationsfähigkeit nie¬ 
derer Ordnung ein Mißgriff. Hier gilt es, das Maß der Konzentrationsfähig¬ 
keit höherer Ordnung zu ermitteln. 

Es ist sehr schwer, gerade die Konzentrationsfähigkeit in einer experi¬ 
mental-psychologischen Prüfung zu untersuchen. Denn wie gesagt, man 
erfaßt—wenigstens bei den bisherigen Methoden — mehr eine zeitweilige Span¬ 
nungsfähigkeit der Aufmerksamkeit unter einem besonderen Hochdruck des 
Willens, angestachelt durch Prüfungsehrgeiz. Die dauernde Konzentrations¬ 
fähigkeit, welche den täglich immer wiederholten Anforderungen der Berufs- 


l ) Pädagogik in System. Darstellung Bd. II, Seite 151. 


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Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre* Beziehung zum Begabungsproblem 205 


tätigkeit gegenüber standhält und nicht versagt, ist aber gerade für den Beruf 
wichtig. Diese Dauertätigkeit kann voll und ganz nur durch längere Be¬ 
obachtungsreihen erfaßt werden'). Deshalb bietet die Schule z. B. weit 
bessere und sicherere Möglichkeiten zur Feststellung der Konzentrationsfähig¬ 
keit als das psychologische Experiment. Diese Möglichkeiten aber werden 
überhaupt nicht ausgenutzt. Denn die Pädagogik macht immer noch einen heute 
ähnlichen Fehler wie die Experimentalpsychologie. Die Pädagogik kennt 
nur eine Aufmerksamkeit schlechthin und bewertet deshalb alle 
verschiedenen Stufen in gleicher Weise. 

Die Schule bewertet die Aufmerksamkeit des Schülers sehr hoch; sie bringt ja 
diese Wertung auch in jedem Zeugnis durch eine besondere Nummer zum 
Ausdruck. Diese Zensur aber gibt durchaus kein richtiges Bild 
von der Konzentrationsfähigkeit des Schülers. Die Zensur für Auf¬ 
merksamkeit ist der Durchschnitt aus den Einzelurteilen aller Lehrer, welche 
an dem Unterricht des betreffenden Schülers beteiligt sind. Bei einem Teil 
der Schüler zeigen die Lehrerurteile nun eine gewisse Übereinstimmung, bei 
einem anderen Teil kommen große Unterschiede vor. Nehmen wir einmal 
an, ein Schüler hat eine I in der Aufmerksamkeit. Wir können dann an¬ 
nehmen, daß er mit keiner oder höchstens einer Ausnahme in allen Unter¬ 
richtsstunden sehr aufmerksam ist Hat ein Schüler eine II, so sind schon 
verschiedene Fälle möglich. Entweder ist seine Aufmerksamkeit in allen 
Unterrichtsstunden gleichmäßig gut; die Lehrerurteile gehen in derselben 
Richtung, oder sie stehen sich entgegen. Der Schüler ist bei einem Lehrer sehr 
aufmerksam, bei einem anderen hinwieder unaufmerksam oder sogar sehr 
unaufmerksam. Das „gut“ ist ein Ausgleich zwischen Maxima und Minima 
der Aufmerksamkeit. Ebenso ist es bei einem „genügend“, nur mit dem Unter¬ 
schied, daß entweder die Aufmerksamkeit bei Gleichheit des Lehrerurteils 
im allgemeinen tiefer liegt oder daß sie bei Verschiedenheit des Lehrerurteils 
mehr oder stärkere Minima als Maxima hat wie bei dem Schüler mit dem 
Prädikat „gut“. Bei einem „mangelhaft“ endlich kann ebensowohl ein gleich¬ 
mäßiges Versagen der Aufmerksamkeit vorliegen als eine sehr gute Nummer, 
die in der überwältigenden Mehrheit von schlechten völlig untergegangen 
ist. Die Aufmerksamkeitsprädikate sind also durchaus nicht so eindeutig, 
wie sie heute im allgemeinen erscheinen. 

Betrachten wir z. B. einmal die Schüler mit dem Prädikate „sehr gut“ in der 
Aufmerkamkeit. Diese Schüler bringen allen Unterrichtsstunden die gleiche 
Aufmerksamkeit entgegen. Diese eine Tatsache läßt einige Rückschlüsse auf 
die Art der Aufmerksamkeit zu. Vor allem können wir annehmen, daß der 
Motor der Aufmerksamkeit vorwiegend im Wollen und nicht im Interesse zu 
suchen ist. Jedenfalls ist der Wille das entscheidende Moment. Denn bei 
der Verschiedenheit des Unterrichtstoffes auf der einen Seite und der ebenso 
großen Verschiedenheit der Lehrerqualität auf der anderen kann man wohl 
kaum annehmen, daß der Schüler in jeder Unterrichtsstunde sich aus Interesse 
in so hohem Maße konzentriert. Es soll damit nicht gesagt werden, daß es 
für ihn nicht auch vielleicht Unterrichtsstunden gibt, in welchen sein Interesse 
erweckt wird. Aber das entscheidende Moment seiner Aufmerksamkeits- 


*) Alfred Mann hat ein Schema entworfen, am die Aufmerksamkeit auf psychographischem 
Wege za erfassen. 


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206 M. VaÖrting, Aufmerksamkeit niederer u. höh. Ordnung u. ihre Bezieh, zum Begabungsproblem 


Spannung ist der Wille. Jedes persönliche Interesse, welches nicht mit den 
Schulforderungen im Einklang steht, wird von dem Willen zur Schulaufmerk¬ 
samkeit ohne weiteres niedergekämpft. 

Betrachten wir demgegenüber einen Schüler mit dem Prädikate „gut“ oder 
sogar „genügend“, das sich aus unterschiedlichen Lehrerurteilen zusammensetzt, 
nämlich aus sehr guten und geringen Einzelzensuren. Hier dürfen wir mit 
Sicherheit schließen, daß das Interesse die Aufmerksamkeit trägt und der 
Wille als bestimmender Faktor durchaus zurücktritt. Liegen die Maxima der 
Konzentration in Fächern, welche an Denken und Phantasie große Anforderungen 
stellen, wie z. B. in Mathematik, so liegt eine starke Konzentrationsfähigkeit 
höchster Stufe vor. Eine Konzentrationsfähigkeit höchster Ordnung wird also 
von der Schule mit dem Prädikat „gut“ oder sogar, wenn eine einseitige 
Interessenrichtung vorliegt, mit „genügend“ bezeichnet. Hingegen wird eine 
gleichmäßige Konzentration der beiden niederen Stufen mit dem* höheren 
Prädikat gewertet. 

Es kann aber sogar noch eine starke Konzentrationsfähigkeit höchster 
Ordnung vorhanden sein, wenn selbst kein einziges Lehrerurteil auf „sehr 
gut“ lautet. Denn erstens kann der Unterricht gerade in den Fächern, welche 
die besonderen Interessengebiete des Schülers sind, von einer so geringen 
Qualität sein, daß das Interesse latent bleibt oder sogar abgestoßen wird 
und damit der Antrieb zur Konzentration ausfällt. Zweitens hat der Stoff 
fast auf allen wissenschaftlichen Unterrichtsgebieten mehr oder minder große 
Teile, deren Bewältigung weniger Anforderungen an die höheren als die 
niederen Geisteskräfte stellt. Der Schüler, welcher sich auf Willenskonzen¬ 
tration eingestellt und eingeschult hat, bringt allen Teilen des Stoffes das 
gleichhohe Maß von Aufmerksamkeit entgegen. Bei den Schülern aber, bei 
welchen eine Konzentrationsfähigkeit der höchsten Stufe stark entwickelt ist, 
werden je nach der Art des Stoffes Schwankungen in der Aufmerksamkeit 
zu verzeichnen sein. Die Konzentrationsfähigkeit erscheint wenig konstant, 
wenn wir wie heute nur eine allgemeine Konzentration annehmen. Be¬ 
trachten wir sie aber unter dem Gesichtswinkel der hier gegebenen Ein¬ 
teilung, so sehen wir, daß die besondere Art der Konzentrationsfähigkeit, 
welche gerade in diesem Falle vorliegt, keineswegs schwankend, sondern im 
Gegenteil konstant ist 

Nehmen wir z. B. die Mathematik. Du Bois Reymond •) sagt von diesem 
Unterricht: „Es gibt Köpfe, denen bei tieferer Begabung und mehr philo¬ 
sophischer Anlage die untergeordnete Art von Aufmerksamkeit abgeht, welche 
nötig ist, um eine weitläufige trigonometrische Rechnung durchzuführen und 
denen analytische Geometrie viel leichter wird.“ 

Die Schule bildet hinsichtlich der Konzentration im allgemeinen drei ver¬ 
schiedene Typen aus. Bei dem einen Typus steht die vom Willen getragene 
Aufmerksamkeit im Mittelpunkt. Dieser Typus kann als Fleißtypus bezeichnet 
werden. Bei dem zweiten wird die Konzentration vorwiegend vom Interesse 
bestimmt. Bei dem dritten tritt so gut wie keine Aufmerksamkeit in Er¬ 
scheinung. Das sind die Schulfaulpelze. Bei dem Fleißtypus wird die Eigen¬ 
art der Begabung, soweit sie vorhanden war, durch die dauernde Willens¬ 
konzentration auf Nichtinteressengebiete vergewaltigt und zumeist dauernd 


^Reden, Bd. I, Seite 613. 


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Heinz Bnrkhardt, Psychische Ursachen des Stotterns 


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zerstört Bei dem Interessentypus wird die Eigenart der Begabung geschont. 
Bei den typisch unaufmerksamen Schülern ist nicht ohne weiteres zu ent¬ 
scheiden, ob ein angeborener Mangel an Konzentrationsfähigkeit vorliegt oder 
ob der Unterricht eine vorhandene Anlage zur Konzentration aus Interesse 
nicht zur Entwicklung zu bringen vermochte. Sicher ist wohl nur, daß die 
Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsspannung aus dem Willen heraus in ver¬ 
schwindend geringem Maße ausgebildet ist. Ehe man nun versucht, die 
schwache Willenskonzentration zu schulen, sollte man vorher untersuchen, 
ob nicht vielleicht eine Eigenart und mit ihr ein Sonderinteresse vorliegt, 
welches in der Schule nicht zur Auswirkung kommen konnte. Man sollte 
die Lieblingsbeschäftigung des Kindes erforschen und es bei derselben auf 
den Grad seiner Konzentration hin beobachten. Ist eine Lieblingsbeschäftigung 
nicht durch Fragen zu ermitteln, so kann man das Kind nacheinander mit 
den verschiedensten Dingen beschäftigen und das Maß der Aufmerksamkeit 
feststellen. Zeigt sich bei irgendeiner erhöhte Aufmerksamkeit, so verfolgt 
man diese Spur weiter. Es ist immerhin möglich, daß man auf einem be¬ 
stimmten Gebiete eine intensive Aufmerksamkeitsspannung antrifft. Mit 
diesem Gebiete ist dann das Kind vorwiegend zu beschäftigen, um seine 
Konzentrationsfähigkeit auszubilden. Erst wenn alle Ermittelungen nach einer 
Konzentrationsfähigkeit aus Interesse vergeblich sind, sollte man versuchen, 
den Willen zur Aufmerksamkeit zu üben und zu schulen. 

Zur Schulung dieser ersten Art von Aufmerksamkeit wählt man je nach 
der Begabung des Individuums mehr mechanische Aufgaben, wie sie z. B. in 
der bereits erwähnten Arbeit von Piorkowski zusaramengestellt sind, oder 
Denkaufgaben. Zu diesem ersten Zwecke sind mathematische Aufgaben 
besonders geeignet. 

Ein folgender Aufsatz soll ausführliche Methoden zur Schulung der Kon¬ 
zentration, vor allem aber zur Ermittelung der verschiedenen Arten der Kon¬ 
zentrationsfähigkeit, im besonderen auch in der Schule, bringen. 


Psychische Ursachen des Stotterns. 

Von Heinz Burkhardt. 

Das Stottern hat als eine hauptsächlich nervöse Erkrankung neben Ver¬ 
erbung und physischen Störungen auch psychische Einwirkungen zur Ur¬ 
sache. Man hat ihnen seit der ersten Beschäftigung mit diesem Leiden immer 
größere Beachtung zugewandt. Sollte sie nach Gutzmanns und anderer 
Ansicht auch theoretisch nicht berechtigt sein, so muß man ihr praktisch 
durchaus zustimmen, denn psychischen Einflüssen ist verhältnismäßig leicht 
zu begegnen auch von Nichtärzten und besonders Erziehern, und solche Ur¬ 
sachen des Stotterns sind daher prophylaktisch sehr bedeutungsvoll. 

Die auffallendste psychotische Erscheinung bei Stotterern ist eine gemüt¬ 
liche Depression. Sie wird deshalb auch von vielen Seiten als wesentlicher 
Faktor bei der Entstehung des Leidens angesprochen (Kußmaul, Denhardt). 
Dementgegen betont Gutzmann, daß sie oft nicht vorhanden ist und in 
manchen Fällen sogar günstig wirkt, sicher aber erst sekundär als Folge des 
Stotterns entstanden ist. Jedenfalls ist es Tatsache, daß diese deprimierenden 


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Heinz Burkliardt 


Affekte häufig mit den bei nervösen Menschen und besonders auch neurasthe- 
nischen Kindern vorkommenden Minderwertigkeitsgefühlen identisch sind und 
schon vor dem Stottern vorhanden waren (Adler, Furtmüller). Auch 
können bei geheilten Stotterern niederdrückende Erlebnisse die Krankheit 
wieder erwecken (Denhardt), wie überhaupt die jeweilige Stimmung auf 
den Grad des Stotterns von großem Einfluß ist; so bewirkt das mit schönem 
Wetter fast bei allen Menschen verbundene Wohlbehagen Besserung, ebenso 
die auf Alkoholgenuß folgende Euphorie (Gutzmann, Denhardt), während 
die Beeinflussung durch die Jahreszeit wohl einer Zwangsvorstellung des 
Kranken entspringt, der einmal eine Änderung des Leidens beobachtet hat 
und nun dieselbe Änderung jedes Jahr wieder erwartet, und sie stellt sich 
denn auch prompt ein (Gutzmann). Die durch das Gefühl der Lächerlich¬ 
keit oder der Unfähigkeit, seine Gedanken ordentlich auszudrücken, auf das 
Stottern folgende Depression verstärkt ihrerseits wieder das Stottern, wodurch 
auch die Depression vertieft wird und so fort in einer langen Spira vitiosa 
(Treitel). Besonders im Kindesalter, das ja meist die Entstehungszeit der 
Krankheit ist, findet man an Stelle der anhaltenden Depression die rasch 
kommende und gehende Angst, der daher z. B. Stekel, Frank, Laube, 
Fröschels, Höpfner, Nickel und andere eine große ätiologische Bedeutung 
zuerkennen; das Stottern wird von manchem Autor deshalb geradezu als 
Angstneurose, Lalophobie oder Glossophobie bezeichnet, während Gutzmann 
auch die Angst als primäre Erscheinung nicht anerkennt. Sie kann ver¬ 
schiedene Objekte haben. Fällt dem Kinde die Wortfindung schwer, so stottert 
es an der betreffenden Stelle ähnlich wie der Erwachsene in Verlegenheit. 
Das ist eine durchaus normale Erscheinung. Durch falsche Behandlung 
seitens der Eltern und Erzieher, die das Kind das Wort, bei dem es stockte, 
noch einmal sprechen lassen, an Stelle durch Erzählen und Nacherzählenlassen 
seinen Wortreichtum zu heben, entsteht in ihm die Furcht vor „schwierigen“ 
Worten und Silben, die sich jedesmal einstellt, wenn ein solches auftritt, und 
das Stottern erregt. Um ihnen zu entgehen, überschaut das Kind das, was 
es sprechen will, im voraus, die angeblichen Schwierigkeiten erscheinen ihm 
unüberwindbar, und infolgedessen bleibt es auch wirklich bei ihnen stecken. 
In diesem Falle erstreckt sich die Angst auf das Sprechen selbst (Höpfner, 
Fröschels, Denhardt, Nickel). Durch das Sprechen werden Vorstellungen 
geweckt. Gehören diese einem Komplexe an, der an eine schreckenerregende 
Vorstellung angeknüpft ist, z. B. an einen Unfall, so stellt sich auch die mit 
der Vorstellung assoziierte Angst ein, die sich in Erröten, Heiß werden, Schwei߬ 
ausbruch und vor allem im Stottern äußert. Hier ist das Stottern die Angst 
vor dem Ausdrücken eines Gedankens (Freud, Stekel, Nickel). An dritter 
Stelle kann das Objekt der Angst eine Person sein. Dieses Stottern findet 
man häufig bei von Natur ängstlichen und schüchternen Menschen, sobald 
sie mit jemand sprechen, der ihnen irgendwie überlegen erscheint oder 
unsympathisch ist (Legel). Dagegen läßt es bei der Unterhaltung mit geistig 
unterlegenen Personen nach und verschwindet auch meist mit der wachsen¬ 
den Selbständigkeit des reiferen Mannesalters (Denhardt). Aus diesen 
Tatsachen erklärt es sich, daß der Kranke nicht oder nur wenig stottert, 
wenn er allein oder im Finstern spricht (Gutzmann, Denhardt). Eine 
störende Persönlichkeit fehlt, der Kranke beobachtet nicht ängstlich seine 
Sprache und kommt bo über Stellen, gegen die er sonst eine heftige Idio- 


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Psychische Ursachen des Stotterns 


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synkrasie bat, glatt hinweg. Allerdings gibt Gutzmann zu bedenken, daß 
diese Angabe oft auf Selbsttäuschung des Kranken beruhen mag und auch 
die anscheinend normale Sprache nicht fehlerfrei ist. Der Wegfall der Nöti¬ 
gung, den Angesprochenen anzusehen, bedingt auch beim Lesen und beim 
Gehen ein Nachlassen des Leidens, während scharfes Fixieren es verstärkt 
(Legel, Denhardt). Neben der Depression und Angst stehen die erregenden 
Affekte: Zorn, Schreck, auch sie können Stottern erzeugen, und gerade 
ihnen schreibt die allgemeine Meinung auch in vielen Fällen das Leiden zu, 
obgleich sicher sehr oft nachträglich die Verbindung erst konstruiert wird. 
Gutzmann glaubt, daß sie meiBt nur vorübergehendes Stottern bewirken. 

Er fand die Angabe, daß das Leiden durch Fall oder Schreck entstanden 
sei, bei 40°/ 0 seiner Patienten, Ssikorski sogar bei 70°/o. Allerdings ist 
hier nicht ersichtlich, was davon auf Kosten einer organischen Läsion durch 
den Fall kommt. Verstärkung von bestehendem Stottern durch erregende 
Affekte haben Denhardt, Gutzmann u. a. beobachtet. 

Lagen die bisher erwähnten Faktoren auf dem Gebiete des Gefühlslebens, 
so ist auch dem Willen ein unverkennbarer Einfluß einzuräumen. In der 
Initialperiode ist das Stottern willentlich ohne weiteres zu beseitigen. Erst 
später wird der Wille mehr oder weniger ausgeschaltet, und die Versuche 
des Kranken, sich selbst zu heilen, scheitern an seiner Willensschwäche 
(Nickel). Allerdings ist das nicht der einzige Grund. Es gelingt Leuten 
mit großer Energie, das Stottern zu unterdrücken, das führt aber nicht zur 
Beseitigung des Leidens, sondern zu einem für den Betreffenden äußerst 
peinlichen Zustand, den Coön als inneres Stottern bezeichnet. Aus diesem 
Grunde hat auch die Hypnose zur Behandlung dieser Krankheit keinen Wert, 
was Forel, der sich anfangs sehr viel davon versprach, später selbst bekannt 
bat. Jedoch ist eine Konzentrierung des Willens auf den Sprechakt, also ein 
bewußtes Sprechen von großem Einfluß. Lautstottern hört nach Fröschels 
meist sofort beim Anlegen eines RegiBtrierapparates auf, dasselbe beobachtete 
Gutzmann an Vokalstotterern bei laryngoskopischer Untersuchung. Beide¬ 
mal vereinigten sich Aufmerksamkeit und Willen auf den Sprechvorgang. 
Unter Taubstummen, die in langer bewußter Übung eineArtikulationsbewegung 
nach der andern gelernt und zur Lautbildung koordiniert haben, gibt es keine 
Stotterer. Auch die schon erwähnte Besserung des Stotterns im Mannesalter 
ist mit auf die wachsende Selbstbeherrschung zurückzuführen. Beim Singen, 
wo auch mehr auf das Wie als das Was gesehen wird, fehlt bei vielen Kranken 
das Anstößen (Denhardt, Gutzmann). War oben auf die Besserung des 
Stotterns durch geringe Alkoholaufnabme hingewiesen worden, so gehört hier¬ 
her, daß die bald darauf einsetzende Energielosigkeit die Schwierigkeiten 
verstärkt. Das weibliche Geschlecht, das mehr auf das Vermeiden äußerer 
Fehler achtet als das männliche, hält auch seine Aussprache unter dauernder 
Kontrolle; außerdem steht die bei ihm überwiegende Kostalatmung mehr unter 
dem Willen als die Abdominalatmung des Mannes. Diese beiden Gründe 
tragen auch mit zur Erklärung der rätselhaften Erscheinung bei, daß die 
Zahl der männlichen Stotterer zehnmal so groß ist als die der weiblichen 
(Colombat, Gutzmann, Denhardt, Chervin). 

Alle genannten Erscheinungen: Willensschwäche, Neigung zu Affekten, 
Angst, Depression sind Symptome der Nervosität, und so kann man diese in 0 
vielen Fällen als Grundursache annehmen (Legel). Die meisten stotternden 

Zeitschrift f. ptdsgog. Psychologie. 14 


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Heinz Burkhard, Psychische Ursachen des Stotterns 


Kinder weisen Merkmale von Neurasthenie, wie Mangel an Aufmerksamkeit, 
Erregbarkeit, Depression auf, und fast jeder erwachsene Stotterer ist neuro- 
pathisch (Qutzmann). Ebenso ist das schon angeführte Überwiegen der 
Männer über die Frauen unter den Stotterern zum Teil mit auf die größere 
Belastung der Knaben in der Schule und die größere Neigung des Mannes 
zur Neurasthenie zurückzuführen (Graupner). Auch das Sexualleben scheint 
nicht ohne Einfluß auf däs Stottern zu sein, ganz abgesehen davon, daß es 
ja zumeist mit Affekten verbunden ist. Sigmund Freud glaubt, daß es 
immer durch sexuelle Einflüsse bewirkt würde; er erblickt z. B. im Anstoßen 
bei dem Worte „zwei“ eine verdrängte Co'itusvorstellung u. ä. Ebenso nimmt 
St ekel an, daß Vorstellungen, durch deren Auf tauchen stottemerregende 
Angst eintritt (s. o.), sexueller Natur seien. Entsprechend den Anschauungen 
der analytischen Psychologie soll dieses sexuelle Trauma zu allermeist in der 
Jugend liegen. Dementgegen hatGutzmann ein solches noch nie bei Stot¬ 
terern gefunden. Die Heilung muß nach dieser Anschauung durch Psycho¬ 
analyse erfolgen. Bis jetzt ist aber noch kein Fall absoluter Heilung durch 
diese Behandlung bekannt. Außerdem ist die Psychoanalyse im Fre ud’sehen 
Sinne durch ihr Bewußtmachen der'unbewußten Sexualität bei Kindern abzu¬ 
lehnen (Stern, Nickel). Eine Revolution auf körperlichem und geistigem 
Gebiete ist der Eintritt der Pubertät. Auch in der Sprache kann sie sich 
äußern. Statistische Aufnahmen zeigen im 7. und 8. Schuljahr ein Steigen 
der Stottererzahl um das 2—3 fache, das der Geschlechtsreife zuzuschreiben ist 
(Kußmaul, Gutzmann, Schultheß). Masturbation scheint direkt keinen 
Einfluß zu üben, kann aber indirekt durch den damit verbundenen Mangel an 
Energie, durch die Verstimmung, Selbstverachtung, Schüchternheit zum Stottern 
disponieren (Liebmann, Nickel). Es ist wahrscheinlich, daß ein Nerven¬ 
gift wie der Alkohol auch bei dieser nervösen Erkrankung als Erreger in 
Betracht kommt. Seine sofortige Wirkung ist schon gestreift worden; viel 
wesentlicher ist aber die chronische, besonders bei Kindern. Brendel, Gutz¬ 
mann und Legel erwähnen, daß durch dauernden Alkoholgenuß von Kin¬ 
dern Stottern ausgelöst wurde, das bei Entziehung des Giftes sofort verschwand. 

Eine interessante Erscheinung beim Stottern ist die psychische Ansteckung 
(moral contagon). Gutzmann konnte sie bei 9,5°/o der Kranken nachweisen. 
Bei Kindern, die in ihrem geringen Selbstbewußtsein besonders leicht an¬ 
gesteckt werden, kommen als Orte der Infektion das Haus (Schultheß, 
Gutzmann) und die Schule (Legel, Gutzmann) in Betracht. Die erstere 
wird leicht mit Vererbung verwechselt, um der anderen vorzubeugen, fordert 
Baginsky die Entfernung der Stotterer aus dem Kreise der gesunden Kinder. 

Neben dem Fühlen und Wollen spielt auch das Denken in der Ätiologie 
des Stotterns eine Rolle. Blume führt es auf ein Mißverhältnis zwischen 
Denkgeschäft und Sprachgeschäft zurück. Entweder vollzieht sich das Denken 
zu schnell, so daß die Wortbildung nicht folgen kann und aus dem Zwie¬ 
spalt das Stottern entspringt, oder es vollzieht sich zu langsam. Gegen letzte 
Behauptung wendet sich Haase, dem sich Schrank, Coön, Colombus, 
Gutzmann, Legel anschließen. Man kann nicht sprechen, ohne zu denken. 
Das wird durch die Feststellungen Pipers belegt, daß unter Idioten nur3°/o 
stottern, während 16°/o stammeln, dasselbe fand Scholz, der sogar 50°/o 
Stammler feststellte. Damit hängt zusammen, daß Choleriker mehr zu dem 
Leiden neigen als Phlegmatiker (Gutzmann, Legel). 


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Johannes Kretzscbmar, Schulreform und Bildungszweck 


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Das Stottern ist demnach kein Zeichen geistiger Minderwertigkeit, sondern 
nervösen Charakters. Seine Vorbeugung und Heilung muß unter diesem Ge¬ 
sichtspunkte geschehen. 

Einschlägige Literatur. 

Denhardt, Das Stottern eine Psychose. Leipzig 1903. 

Gutzmann, A., Das Stottern und seine gründliche Beseitigung. Berlin 1920. 

Gutzmann, H., Das Stottern, eine Monographie. Frankfurt a. M. 1898. 

Gutzmann, H., Sprachheilkunde. Berlin 1912. 

Legal, Die Sprache und ihre Störungen. Potsdam 1905. 

Nickel, Die menschliche Sprache. Leipzig 1910. 


Schulreform und Bildungszweck. 

Von Johannes Kretzschmar. 


Nach einem Wort von Fr. Schleiermacher ist die Erziehung anzusehen 
als die Realisierung der sittlichen Idee, und nach einem ähnlichen Ausspruch 
von Th. Waitz erzeugt die Ethik von sich aus die Pädagogik. Hier haben 
wir deutlich den Standpunkt vor uns, den der Fachwissenschaftler der 
Pädagogik gegeqüber einnimmt. Der Theologe sieht in der Erziehung die 
Möglichkeit, das göttliche Gesetz zur Erfüllung zu bringen, und sucht sie mit 
dem Geiste seiner Kirchenlehre zu durchdringen; der Mathematiker — ebenso 
der Naturwissenschaftler und der Philologe — faßt sie auf al9 Übermittlung 
von wissenschaftlichen Erkenntnissen an den Schüler. Der Fachwissen schaftler 
wird hierbei dem Pädagogen gern zugestehen, daß psychologische Erwägungen 
bei der Übermittlung der Kulturgüter eine sehr wichtige Rolle zu spielen 
haben und daß nicht nur die Volksschule, sondern auch die höhere Schule 
bei der Auswahl des Lehrstoffes auf die jeweilige geistige Fassungskraft und 
das Interesse des Schülers die größte Rücksicht nehmen muß. 

Nun ist vom Standpunkt der pädagogischen Wissenschaft aus zunächst 
zuzugeben, daß in der Tat das methodische Verfahren eine wesentliche Seite 
der pädagogischen Funktion und die Methodik der Erziehung einen wesent¬ 
lichen Teil der Erziehungswissenschaft darstellt. Die Schulreform der Gegen¬ 
wart bewegt sich sehr stark in den Bahnen methodischer Erwägungen, 
und die wertvollste Erkenntnis, auf der sie fußt, ist eben die Einsicht von 
der Notwendigkeit der Anpassung an die jugendliche Psyche. Hierher gehört 
zu einem erheblichen Teil die Arbeitsschulbewegung; der darstellende Unter¬ 
richt benutzt die Handbetätigung des Schülers, um klare und deutliche Vor¬ 
stellungen zu erzeugen; von der Blüte oder der Frucht, die der Knabe während 
der naturkundlichen Unterrichtsstunde in Plastilina nachbildet oder die er 
nach der Natur zeichnet, erhält er ein weit vollkommeneres Anschauungsbild 
als von dem bloß betrachteten Objekt. Der Geschichtsunterricht sucht innigere 
Fühlung mit der Heimat zu gewinnen. Im fremdsprachlichen Unterricht 
bürgert sich mehr und mehr die direkte Methode ein. Im Lateinunterricht 
kommt allmählich die Strömung zur Herrschaft, welche die alte Sprache nicht 
bereits in Sexta, sondern erst in Untertertia beginnen will; schon Fr. Paulsen 
hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß für die Fassungskraft des Neun¬ 
jährigen die lateinische Grammatik zu schwierig ist, und das Reformgym¬ 
nasium sowie das Reformrealgymnasium zieht aus dieser Feststellung die 

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Joba'nnes Kretzschmar 


notwendigen Folgerungen. Da beide Anstalten auf der Unterstufe eine moderne 
Fremdsprache treiben, ähnlich wie die Realschule und die Oberrealschule, so 
ist fQr alle höheren Lehranstalten die Möglichkeit eines gemeinsamen drei¬ 
jährigen Unterbaues gegeben. Für denselben ist noch eine andere psycho¬ 
logische Erwägung maßgebend. Die Entscheidung der Eltern und des Schülers 
für eine bestimmte Berufsgattung war bisher zu früh angesetzt, und die Rück¬ 
sicht auf die geistige Entwicklung zwingt dazu, diese Entscheidung so weit als 
möglich hinauszuschieben. Ein sehr wichtiges methodisches Kapitel zur Schul¬ 
reform ist auch die bessere innere Verbindung der einzelnen Fächer, die so¬ 
genannte Konzentration; sie wird in Zukunft noch von großer Wichtigkeit 
werden. Während der Geograph auf der Unterstufe von der Heimat und 
dem engeren Vaterlande ausgeht und erst später zu Europa und den fremden 
Erdteilen übergeht, setzt der Altphilologe in Sexta bereits die Kenntnis von 
Südeuropa, der Religionslehrer die Bekanntschaft mit Vorderasien voraus, 
ln Latein und Französisch treibt schon die unterste Klasse die Grammatik 
der fremden Sprache, während der Deutschlehrer erst am Ende der Quarta 
mit der Wahrscheinlichkeit rechnet, daß die Grammatik der Muttersprache 
einigermaßen geläufig geworden ist. In allen diesen Dingen wären wir 
sicherlich bereits viel weiter vorwärts gekommen, wenn der Lehrer an den 
höheren Schulen mit der psychologischen Pädagogik und der Jugendpsycho¬ 
logie ebenso vertraut wäre wie der Volksschullehrer. Aber leider gibt ihm 
die Universität nicht das notwendige Rüstzeug mit. Die Zahl der Universitäten, 
an denen Vorlesungen und Übungen zur genetischen und differentiellen 
Jugendpsychologie abgehalten werden, ist leider noch nicht sehr groß, und 
wo für den Studierenden die Bildungsgelegenheit vorhanden ist, da wird er 
zur Benutzung derselben nicht genötigt 1 )* Die Teilnahme an den psycho¬ 
logischen Vorlesungen und Übungen ist nicht verbindlich für ihn; er wird 
nicht gezwungen, bei dem Verlassen der Hochschule in einer besonderen 
theoretisch-pädagogischen Prüfung ausreichende Kenntnisse auf diesem Ge¬ 
biet nachzuweisen. Der Staat begnügt sich mit der sogenannten „praktischen 
Erfahrung“. Die preußische Verordnung von 1917 sieht vor, daß der Kandidat 
nach Beendigung seines fachwissenschaftlichen Studiums einer Schule zu¬ 
gewiesen und unter der Leitung „bewährter“ Schulmänner pädagogisch aus¬ 
gebildet wird. Nach der sächsischen Verordnung von 1912 ist diese Aus¬ 
bildung am besten „älteren“ Lehrern zu übertragen. Hier haben wir das 
bekannte mittelalterliche System vor uns, nach welchem der „Schulgehilfe“ 
beim „Schulmeister“ in die Lehre geht und die notwendigen Handgriffe ihm 
abguckt. Die Volksschule hat dieses System auch einmal gehabt; sie hat es 
aber seit mehr als einem halben Jahrhundert überwunden und zur Seite 
geschoben. Die höhere Schule wird ihrem Beispiel folgen müssen; die Reform 
der Schule fordert gebieterisch die Reform der Lehrerbildung, und diese wird 
hoffentlich durch die Neugestaltung der Volksschullehrerbildung in die richtige 
Bahn gelenkt werden. 

Die Auffassung des Fachwissenschaftlers, von der wir oben ausgingen, 
ist also bis zu einem gewissen Grade berechtigt: die pädagogische Technik 
besteht in der Tat zu einem wesentlichen Teile in der Übermittlung fach¬ 
wissenschaftlicher Erkenntnisse, in der Übermittlung von Kulturgütern an den 


*) Vergl. auch W. Stern, Jugendkunde und Pbilologenscbaft (Dtsch. Phil.-Bl., 1921, S. 436). 


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Schulreform und Bildungszweck 


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jugendlichen Menschen. Vom Standpunkte des Fachwissenschaftlers aus ist 
es deshalb auch leicht zu verstehen, daß hier und da der Vorschlag aufge- 
getaucht ist, das Gesamtgebiet der pädagogischen Theorie aufzulösen und 
jedem Fachgebiete anhangsweise eine Summe von unterrichtstechnischen 
Anweisungen beizugeben. Aber solche Vorschläge zeigen doch eben, wie 
fremd der Fachwissenschaftler dem eigentlichen Wesen der Pädagogik gegen¬ 
übersteht. Erbegeht einen sehr groben Denkfehler: er setzt als selbstver¬ 
ständlich voraus, daß sein Fachgebiet in den Erziehungsplan als Bildungsgut 
aufgenommen und ohne weiteres in der Psyche des Zöglings wirkungs¬ 
voll wird, sobald es — unterstützt durch die lebensvolle Persönlichkeit des 
Lehrers — im Klassenpensum auftritt. Der Fachwissenschafller sieht nicht 
die Gebundenheit aller pädagogischen Maßnahmen an den Gesamtzweck 
der Erziehung. Der Zweckgedanke ist es, der die Aufnahme irgendeines 
Kulturgutes in den Erziehungsplan Oberhaupt erst möglich macht; und wenn 
es zugelassen ist, dann muß es in allen seinen Teilen dem Zweckgedanken 
dienstbar gemacht werden. In dem Augenblick, da der Fachgelehrte in 
das Schulzimmer und an den Zögling herantritt, begibt er sich in den Dienst 
des Erziehungszwecks, und seine Wissenschaft ist von diesem Augenblick an 
nur Mittel zum Zweck, ist nur ein reiches Magazin von Forschungsergebnissen, 
aus dem er als Erzieher dasjenige Material auswählt, das ihm hierbei als 
wertvoll erscheint. Als Erzieher muß er sich der Einsicht fügen, daß die 
gesamte Schularbeit zielbewußt und der Aufbau des Lehrplanes zweck¬ 
mäßig sein muß. Gerade fQr die Schulreform ist die Frage nach dem Wozu? 
von ganz hervorragender Bedeutung; gerade hier zeigt sich mit besonderer 
Klarheit, daß der erste und wichtigste Teil der pädagogischen Funktion in 
der Erkenntnis und Feststellung dessen besteht, was im Hinblick auf den 
Zweck der Erziehung f ür den Zögli ng notwendig oder wenigstens wünschens¬ 
wert ist. Eine große Menge von Fragen taucht heute auf, die gebieterisch 
nach Antwort rufen. Soll das Latein ein verbindlicher oder ein wahlfreier 
Unterrichtsgegenstand sein? Soll die englische oder die französische Sprache 
an erster Stelle stehen ? Wieviel Fremdsprachen sollen vom Schüler gefordert 
werden? Darf die Chemie im Gymnasium fehlen? Soll der Handfertigkeits- 
Unterricht der Unterklassen wahlfrei oder verbindlich sein? Auf alle diese 
und noch viele andere Fragen läßt sich eine sichere Antwort nur auf Grund 
pädagogischer Zweckerwägungen geben; der Zweckgedanke beherrscht die 
ganze Pädagogik. In der höheren Schule ist diese Einsicht leider noch wenig 
verbreitet, obgleich ihre Entstehung bis auf das Zeitalter Kants zurückgeht. 
An diesem Mangel trägt wiederum die Universität einen großen Teil der 
Schuld. Der künftige Lehrer wird auf der Universität planmäßig an fach¬ 
wissenschaftliches, nicht aber an pädagogisches Denken gewöhnt. Man be¬ 
kennt sich hier meist noch zu der Auffassung von Fr. Paulsen, der es als 
völlig verfehlt erklärt hat, für das Studium des Lehrers an den höheren 
Schulen die Pädagogik in den Mittelpunkt zu stellen. Aus dem Geiste 
Paulsens ist auch die preußische Prüfungsordnung geboren. Sie rechnet 
nicht damit, daß der Studierende bei seinem Eintritt in die Schultätigkeit 
sich ganz anders einstellen, daß er von Grund aus umdenken und um¬ 
lernen muß. 1 ) Auf der Universität war er nur Fachgelehrter und trieb die 

') Vgl. J. Kretzschmar, Die Pädagogik in der neuen preufl. Oberlehrerprüfung (Ztsctar. f. päd. 
Psychol., 1918, S. 45); Entwickiungapsychologie u. Erziehungswissenschaft (Leipzig 1912), S. 195 f. 


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Johannes Kretzschmar 


Fachwissenschaft lediglich um ihrer selbst willen; jetzt soll er auf einmal 
Erzieher sein, soll sie in den Dienst pädagogischer Zweckerwägungen stellen 
und sich mit der Tatsache vertraut machen, daß selbst in Oberprima, wo 
scheinbar die Fachwissenschaft unbeschränkt herrscht, doch der Bildungs¬ 
zweck der bestimmende Faktor ist. Diese innere Umstellung kommt nach 
dem Studium viel zu spät; die Universität vermag sie offenbar deshalb nicht 
vorzubereiten, weil sie sich allzu sehr als Pflegstätte der Fachwissen¬ 
schaften fühlt. Wie sehr sie noch in einseitig fachwissenschaftlicher Denkweise 
befangen ist, zeigt deutlich die Kundgebung zur Frage der Lehrerbildung, 
die im Frühjahr 1920 von der Berliner Universität ausging und der sich 
zahlreiche Universitäten und technische Hochschulen angeschlossen haben. 
In dieser Kundgebung ist man vor allem um die Erhaltung und Pflege der 
Fachwissenschaften besorgt; im Lehrer an der höheren Schule sieht man in 
erster Linie den Fachgelehrten und bloß ganz nebenher den Erzieher; in der 
höheren Schule sieht man weniger die auch allgemein bildende Erziehungs¬ 
anstalt als vielmehr die für das fachwissenschaftliche Studium vorbereitende 
Gelehrtenschule. Mit erschütternder Klarheit zeigt diese Kundgebung, wie 
fremd heute noch die Universität der. Erziehungswissenschaft gegenübersteht 
und wie wenig die letztere in der Lage ist, mit Festigkeit den Fachwissen¬ 
schaften gegenüber sich zu behaupten und ihren Standpunkt durchzusetzen. *) 
Hoffentlich bringt auch hier das pädagogische Studium der Volksschullehrer 
den notwendigen Fortschritt! 

Wie heißt nun dieser Zweck, der die ganze Erziehung beherrscht — in 
Familie, Volksschule und höherer Schule — und' von dem auch die päda¬ 
gogische Reformbewegung abhängig ist? Liefert die Erziehungswissenschaft 
auch hier, wie bei der Frage der Methode, das unentbehrliche Rüstzeug? 
Leider müssen wir gestehen, daß uns bei dieser so ungemein bedeutungs¬ 
vollen Frage die wissenschaftliche Forschung völlig im Stich läßt und ver¬ 
sagt. Was in den letzten Jahren hier Wertvolles auf dem Gebiete der 
Schulreform geleistet worden ist, was getan worden ist, um gewisse Unter- 
ricbtsgegenstände in den Hintergrund und andere in den Vordergrund zu 
schieben, ist im wesentlichen rein gefühlsmäßig und auf Grund des ge¬ 
sunden Menschenverstandes geschehen: die jugendliche Psyche, an die wir 
methodisch anknüpfen, kennen wir heute einigermaßen — den Gesamtzweck 
der Erziehung, dem alle pädagogischen Einzelmaßnahmen unterzuordnen sind, 
kennen wir noch nicht! 

Früher zeigte die Philosophie den höchsten und den ganzen Zweck. 
Die Kantianer und auch Herbart zogen den Begriff der menschlichen Be¬ 
stimmung heran, um mit seiner Hilfe den Zweckbegriff mit Inhalt zu füllen. 
Aus diesem Grunde hat bereits Gr.eiling 1793 die Pädagogik als Tochter 
der Ethik bezeichnet — nicht also deshalb, weil sie die Wissenschaft von 
den wertvollsten Idealen ist, sondern lediglich deshalb, weil sie den Begriff 
der Bestimmung enthält. Die Kantianer suchten zunächst die wichtigste 
Bestimmung des Menschen und leiteten aus ihr den Hauptzweck der Er¬ 
ziehung ab, dem die Nebenzwecke und die Entwicklung der Anlagen an¬ 
gepaßt werden. Herbart suchte die eine und ganze Bestimmung des 
Menschen, leitete aus ihr den einen und ganzen Zweck der Erziehung ab 


! ) Vgl. auch F. Krieck, Erziehung und Entwicklung (1921), S. 69 f. 


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Schulreform und Bildungszweck 


215 


und deduzierte aus ihm Unterricht und Zucht als Teilziele. 1 ) Leider 
ist es ihm nicht gelungen, in der Charakterstärke der Sittlichkeit den all¬ 
umfassenden Zweck nachzuweisen, auf den sich ausnahmslos alle Gegen¬ 
stände der Erziehung streng logisch zurückführen lassen. Die Erwerbs¬ 
geschicklichkeit hat er aus der eigentlichen Pädagogik ausgeschieden, weil 
sie nichts darüber aussagt, ob der Mensch besser oder schlechter wird; aus 
dem gleichen Grunde rechnet er die körperliche Ertüchtigung nicht zur eigent¬ 
lichen Erziehung. Die Sittlichkeit bedeutet also nicht den pädagogischen 
Gesamtzweck, sondern nur einen — wenn auch besonders wertvollen — 
Teilzweck. Natorp hat diesen Fehler Herbarts erkannt; statt jedoch auf 
die Quelle des Denkfehlers zurückzugehen, tut er einen Schritt rückwärts: 
er betont neben der Ethik die Ästhetik und die Logik als zielsetzende Grund¬ 
wissenschaften und fordert, daß die seelische Entwicklung -des Kindes mit 
Hilfe dieser drei Wertgebiete gelenkt und geleitet werde. Den bedeutungs¬ 
vollen Gedanken Herbarts, daß die pädagogische Funktion demjenigen Zweck¬ 
inhalt praktisch untergeordnet werden muß, auf den sie sich auch logisch 
zurückführen läßt, gibt er preis und begnügt sich mit dem Standpunkte, der 
vor Herbart eingenommen wurde. 2 ) Von einer befriedigenden philosophischen 
Grundlegung der praktischen Pädagogik kann also hier keine Rede sein. In 
den letzten Jahren ist auch die Soziologie oft als zielsetzende Grund¬ 
wissenschaft genannt worden; sie stellt sich jedoch bei näherer Betrachtung 
lediglich als eine rein theoretische Hilfswissenschaft heraus, welche die sozialen 
Bedingungen der Erziehung mit untersuchen hilft und ähnliche Dienste 
leistet wie die Jugendpsychologie für die Erforschung der seelischen Be¬ 
dingungen der Erziehung. Auch aus ihr läßt sich also kein Gesamtzweck 
gewinnen, und da die Psychologie heute fast allgemein als exakte Tatsachen¬ 
forschung treibende Einzelwissenschaft anerkannt wird, so muß man wohl 
vom Endederphilosophisch begründeten systematischen Pädagogik sprechen. 3 ) 
Man redet zwar seit 0. Willmann, Fr. Paulsen und Natorp viel von der kultur¬ 
philosophischen Begründung; es handelt sich aber hierbei weniger um 
die wissenschaftliche Begründung der praktisch-pädagogischen Maßnahmen 
als vielmehr um die Einreihung der Erziehung in die Weltanschauung; man 
stellt die Tatsache fest, daß durch die Erziehung die Kultur fortgepflanzt 
wird, daß die Erziehung die Übermittlung von absoluten Werken an das 
jugendliche Individuum ist, und kommt über die Feststellung dieser Tatsache 
nicht hinaus. 

W. Münch hat gelegentlich einmal die Bemerkung gemacht, daß unsere 
wissenschaftliche Pädagogik außerordentlich weltfremd sei; auf die philo¬ 
sophisch begründete Erziehungslehre, deren letzter Ausgangspunkt die mensch¬ 
liche Bestimmung — d. h. der Wille der Gottheit — ist, trifft diese Bemerkung 
zweifellos zu. Münch selbst bekennt sich nun als Anhänger einer anderen, 


*) Vgl. Kretzschmar, Die Vorläufer der Herbartschen Pädagogik (Jhrb. d. V. f. wiss. Päd. 
1917, S. 149 f.); Das Ende der pbilos. Pädagogik iLeipzig 1921, S. 7 f.), 

*) Ähnlich auch M. Frischeisen-Köhler: „Pädagogik u. Ethik“ (Archiv f. Päd, l.Jahrg. 
1912, S. 21 f) u. Leitsätze zur Pbilos. u. Päd. (Vierteljabrsscbr. f. pbilos. Päd., 1921, 2. Heft). 
Diesen Standpunkt teUt heute auch der Verein f. wiss. Päd. auf Grund der a. a. O. von G. Weiß 
vorgelegten Leitsätze. — 

*) In diesem Sinne ist mein „Ende der philos. Päd.“ gemeint; S. 57 wird dort die neue 
Aufgabe einer besonderen Erziehungsphilosophie angedeutet. 


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Johannes Kretzschmar 


von Paulsen und Willmann ausgehenden Richtung, welche der Erziehung 
die Aufgabe stellt, das jeweils geltende Bildungsideal der Volksgemein¬ 
schaft im Zögling zu realisieren. Zweifellos besitzt diese Zielfestlegung eine 
weit größere Wirklichkeits- und Lebensnahe. Bekanntlich hat Paulsen gezeigt, 
wie im Mittelalter das kirchlich-lateinische, späterhin das realistisch-welt¬ 
männische, zu Beginn des 19. Jahrhunderts das humanistische Bildungsideal 
die Volksgemeinschaft beherrscht hat und wie in der Gegenwart das Ideal 
volkstümlich-demokratische und wieder realistische Tendenzen erkennen läßt 
Aber gegen eine pädagogische Zwecksetzung auf dieser Grundlage müssen 
doch ebenfalls ernste Bedenken geltend gemacht werden. Einerseits ist der 
Zweck hier noch weniger wissenschaftlich fundiert als bei der philosophischen 
Pädagogik; Willmann hat in seiner „Didaktik“ zugegeben, daß das Ideal 
nicht sowohl der Reflexion als vielmehr einer Intuition entstammt, die mit 
der künstlerischen Verwandtschaft hat. Andererseits stellt die Realisierung 
des Bildungsideals keinen umfassenden Zweck dar, aus dem sich ohne 
Ausnahme sämtliche pädagogischen Teilzwecke deduzieren lassen. Paulsen 
selbst hat erklärt, daß beim Auftreten eines neuen Bildungsideals das alte 
nicht ganz außer Kurs gesetzt werde, sondern noch erhalten bleibe; alle in 
der Vergangenheit jeweils erreichten Gestaltungen wirken also auch in der 
Gegenwart nach, und die neue Form steht nur weiter im Vordergründe. Daß 
hier der wissenschaftlich empfindende Erzieher auf höchst unsicherem Boden 
steht, kann keinem Zweifel unterliegen; keine einzige von den vielen bren¬ 
nenden Fragen der Schulreform kann mit Sicherheit entschieden werden, 
und niemand kann ein klares Urteil darüber fällen, ob irgendein Gegenstand 
grundsätzlich in den Lehrplan gehört oder nicht. Nicht viel weiter kommen 
wir mit der Auffassung, welche von der sogenannten Sozialpädagogik 
vertreten wird. Die Anhänger dieser Richtung sehen als umfassendes Er¬ 
ziehungsziel die'Hingabe der Persönlichkeit an die Gemeinschaft 
an, und viele von ihnen legen großes Gewicht darauf, zu betonen, daß in 
dieser Zielsetzung auch alle möglichen Teilziele enthalten sind. NachP. Berge¬ 
mann liegt in ihr „alles beschlossen“; nachNatorp ist die Sozialpädagogik 
nicht ein abtrennbarer Teil der Erziehungslehre neben der Individualpädagogik, 
sondern „die konkrete Fassung der Aufgabe der Pädagogik überhaupt“; nach 
G. Kerschensteiner müssen in der Hingabe an die Gemeinschaft als dem 
obersten und höchsten Zweck „alle niedrigeren Zwecke notwendig enthalten 
sein“; nach Paulsen schließt mindestens „der soziale Charakter der Er¬ 
ziehung das individuelle Moment nicht aus“. Bei näherer Betrachtung muß 
man auch hier mißtrauisch werden. So berechtigt die Forderung der sozialen 
Erziehung zweifellos ist, die umfassende Gesamtaufgabe des Pädagogen kann 
sie unmöglich bezeichnen. Die Fixierung dieser eben genannten Gesamt¬ 
aufgabe beruht nicht, wie im Herbartschen Zeitalter, auf wissenschaftlichen 
Gründen, sie ist nicht das Ergebnis eines streng logisch aufgebauten Er¬ 
kenntnisaktes; dieses Gesamtziel wird nicht erkannt, sondern gesetzt — 
es ist mehr oder weniger ein Ergebnis der Willkür. Bedenklich stimmen 
muß auch die Tatsache, daß viele Stimmen gegen diese Zielbestimmung laut 
geworden sind. Schon Kant hat die Erziehung „zum Menschen und zum 
Bürger zugleich“ gefordert, und seine Schüler haben diese Forderung über¬ 
nommen. In neuerer Zeit hat sich R. Hochegger mit Nachdruck für die 
gleichmäßige Berücksichtigung der sozialen und der individuellen Seite der 


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Schulreform und Bildungszweck 


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Erziehung eingesetzt; R. Lehmann stellt Goethe und Bismarck als gleich¬ 
wertige Erziehungsideale hin ')• Es ist ja schließlich auch aus mancherlei 
Gründen kaum denkbar, daß die ganze Erziehung im Gemeinschaftsgedanken 
restlos aufgehen soll. Das Individuum ist — geschichtlich betrachtet — früher 
dagewesen als die Gemeinschaft, die Familie früher als Volk und Staat. Und 
das Gemeinschaftsleben stellt doch immerhin nur eine Bedingung des 
individuellen Lebens dar, hervorgebracht durch den sozialen Trieb als ererbte 
Anlage. Auch die Kultur ist nicht Selbstzweck, sondern sie soll den vielen 
Einzelmenschen dienen und nützen; das Individuum ist nicht bloß um der 
Gemeinschaft willen da, sondern es hat auch eigene Daseinsberechtigung. 
Ohne eine gewisse logische Vergewaltigung läßt sich also die Erziehung nicht 
in vollem Umfange der sozialen Zweckbestimmung subsumieren. Sieht man 
bei Kerschensteiner genauer zu, so kommt man schließlich bald zu dem 
Eindruck, daß bei ihm weniger die logische Subsumtion als vielmehr die 
praktische Unterordnung, weniger ein Erkennen als vielmehr ein bestimmtes 
Handeln in Betracht kommt. Er gibt zu, daß die Betätigung der künst¬ 
lerischen Kräfte, daß das Bedürfnis nach religiöser Erhebung in der mensch¬ 
lichen Natur begründet ist; er deduziert die Entwicklung und Pflege dieser 
Anlagen also nicht aus den Notwendigkeiten des Gemeinschaftslebens heraus — 
die Gemeinschaft soll lediglich die Möglichkeit zur Entwicklung der Natur¬ 
anlagen gewähren. Und diese Entwicklung wird nur insoweit gutgeheißen, 
als sie sich mit dem allgemeinen Zweck verträgt; die niedrigeren Zwecke 
„müssen" im höchsten Zweck enthalten sein, d. b. sie sollen sich ihm beugen, 
sollen sich ihm fügen und anpassen 2 ). So kommt Kerschensteiner schließlich 
nicht weiter als Natorp; er fordert Unterordnung aller Maßnahmen unter 
einen obersten Zweck und vergißt dabei den unentbehrlichen Nachweis, daß 
sich die Pflege und Übung der jugendlichen Anlagen auch mit logischer 
Folgerichtigkeit aus eben diesem obersten Zweck ableiten läßt. So führt 
auch sein Versuch auf ein totes Gleis, und die Schulreform auf dieser Grund¬ 
lage bringt bedenkliche Einseitigkeiten. 

Wir müssen also nochmals hervorheben: einen wissenschaftlich begrün¬ 
deten Gesamtzweck der Erziehung, auf den sich ausnahmslos alle Maßnahmen 
als Teilzwecke logisch einwandfrei zurückführen lassen, besitzen wir augen¬ 
blicklich noch nicht. Wir ahnen ihn vorläufig nur und vermögen aus An¬ 
deutungen, die hier und da in den pädagogischen Untersuchungen auftauchen, 
einigermaßen zu ersehen, wie er beschaffen ist. Richtig ist da zweifellos die 
Erkenntnis, daß die erfahrungsmäßig gegebene Erziehung einerseits Entwick¬ 
lung der Anlagen, andererseits Übermittlung von Kultqrgütern ist; nur 
wird das erstgenannte Moment zu sehr von der Volksschule, das letztgenannte 
zu sehr von der höheren Schule in den Vordergrund gerückt. Meist stimmt 
man auch darin überein, daß beide Seiten der pädagogischen Funktion der 
künftigen, selbständigen Lebensgestaltung des Zöglings dienen sollen. 
Dies hat Herbart im Sinne, wenn er von den Zwecken spricht,, die sich der 
Knabe einst als Mann setzen soll; dies meint auch von ihrem Standpunkt 
aus die Sozialpädagogik, wenn sie das Kind zur Mitarbeit am Gemeinschafts¬ 
leben heranbilden will. H. Gaudig tritt in seinen Sbhriften in ähnlichem 

') Vergl. »Ende usw.“, S. 58. 

*) Kerschensteiner, Begriff der Arbeitsschule. 4. Aull. 1920, S. 8f.; ähnlich A. Messer, 
Weltanschauung u. Erziehung, 1921, S. 12. 


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Johannes Kretzscbmar 


Sinne für die Erziehung zur Persönlichkeit ein, und M. Frischeisen-Köhler 
spricht ausdrücklich von dem Werte der Kulturgüter für die Gestaltung des 
Daseins. 1 ) Strittig ist nur die Richtung dieser Lebensgestaltung. Man wird 
wohl im Gegensatz zu den Vertretern der Sozialpädagogik annehmen dürfen, 
daß sie vom Erzieher nicht nur bestimmt wird durch die Rücksicht auf die 
Wohlfahrt der Gemeinschaft (der „anderen"), sondern auch durch die. 
Rücksicht auf das Wohlergehen des Zöglings selbst Man kann aber auch 
noch weitergehen. Für das Wohl der ganzen Volksgemeinschaft sorgt die 
ungeheure Menge der Eltern und Lehrer in ihrer Gesamtheit. Wir gelangen 
logisch zu demselben Ergebnis, wenn wir fordern, daß der einzelne Er¬ 
zieher das Wohl des Individuums und die Gesamtheit der Erzieher das 
Wohl der Gemeinschaft im Auge behalten soll. Nun hat es die Päda¬ 
gogik mit dem einzelnen Erzieher und der einzelnen Zöglingsindivi¬ 
dualität, also mit einem Bruchteile der Gemeinschaft zu tun; deshalb ist es 
logisch zulässig, zu sagen, daß der einzelne Erzieher auf eine Lebensgestaltung 
hinzielt, die der Wohlfahrt des ihm persönlich anvertrauten Zöglings dient. 
Der von uns gesuchte Gesamtzweck der Erziehung würde also hiernach rein 
formal darin bestehen, das heran wachsende Indivfduum zu der für 
sein Wohlergehen notwendigen Lebensgestaltung zu befähigen. 
Diese Festlegung würde durchaus den beiden weiter oben aufgestellten An¬ 
forderungen entsprechen: sie ist umfassend und läßt hinreichend wissen¬ 
schaftlich begründen. Umfassend ist dieser Zweck, weil sich auch die 
kleinste pädagogische Maßnahme streng logisch auf ihn zurückführen läßt; 
er schließt auch die Mitarbeit des Zöglings an den Aufgaben des Gemein¬ 
schaftslebens in sich, da dieselbe letzten Endes ihm selbst wieder zugute 
kommt: sie gewährt ihm materiellen Nutzen und gibt seinem Leben einen 
Inhalt. Wissenschaftlich begründen läßt sich dieser Zweck insofern, als er 
auf den sicheren Ergebnissen der pädagogischen Tatsachenforschung auf¬ 
gebaut werden kann. Die philosophische Pädagogik ist metaphysisch be¬ 
gründet; sie geht auf die menschliche Bestimmung, d. h. auf den Gottheits¬ 
willen, zurück. Die soeben gewonnene Zweckformulierung hingegen besitzt 
die denkbar größte Lebensnähe; sie ergibt sich auf Grund der Erfahrung als 
unabweisbares, dringendes Bedürfnis der menschlichen Natur. Auf jeder 
Stufe der Kultur braucht der Mensch bestimmte Seelenkräfte und bestimmte 
Kulturgüter, einmal, um sein Leben zu erhalten, um nicht Hungers sterben 
zu müssen und im Armenhause oder Krankenhause oder im Gefängnisse zu 
enden; zum anderen, um seinem Dasein über den bloßen Lebensunterhalt 
hinaus einen Inhalt zu geben. Mit dieser feststehenden Tatsache muß auch 
die Pädagogik der Gegenwart und Zukunft rechnen. 2 ) 

Nun wird freilich die hier gegebene allgemeine Zweckfestsetzung der päd¬ 
agogischen Praxis noch nicht ganz genügen. Wir wollen ja nicht bloß wissen, 
ob ein Kulturgut überhaupt und grundsätzlich zur richtigen — d. h. der 
Wohlfahrt des Zöglings entsprechenden — Daseinsgestaltung notwendig ist, 
sondern wir müssen auch erkennen, inwieweit und in welchem Grade 
es dazu erforderlich ist. Hier ist folgendes zu erwägen: Es ist oben hervor¬ 
gehoben worden, daß die pädagogische Funktion in der Entwicklung von 

') Frischeisen-Köhler, Kultur und Bildungsideal (Dtscb. Phil.-Bl., 1921, S.426f.). Ähnlich 
dort auch A. Messer, Fachwissenschaft und Pädagogik (S. 429f.). 

*) Vgl. „Entwicklungspsychologie usw.“, S. 165f., 183f.; „Ende usw.“, S. 51. 


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Schulreform und Bildungszweck 


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Anlagen und der Übermittlung von Kulturgütern besteht. Das Ergebnis der 
erziehenden Tätigkeit bezeichnen wir als Bildung. Wir verstehen darunter 
nicht bloß, wie dies z. B. bei W. Rein der Fall ist, den Intellekt, sondern 
auch das Fühlen und Wollen, mithin den seelischen Gesamtzustand, der 
im Hinblick auf den pädagogischen Gesamtzweck erstrebt wird. Diesem 
Zweck gegenüber kommt die Bildung in doppelter Hinsicht in Betracht: der 
Zögling braucht irgendein Kulturgut entweder als Bestandteil der Fachbil¬ 
dung oder als Bestandteil der Allgemeinbildung. Der Begriff der All¬ 
gemeinbildung ist von Kerschensteiner heftig bekämpft worden und zwar, 
wie man zugeben muß, zum großen Teil mit Recht Aber trotzdem können 
wir auf ihn nicht verzichten; es kommt nur darauf an, ihn einer kritischen 
Prüfung zu unterziehen und mit einem wertvolleren Inhalte zu füllen. Un¬ 
brauchbar ist zweifellos der Begriff der allgemeinen Bildung im Sinne der 
konventionellen Überlieferung, wonach es z. B. selbstverständlich ist, daß 
jemand die vier großen und die zwölf kleinen Propheten des Alten Testa¬ 
ments aus dem Kopfe aufsagen kann; auch die Forderung der französischen 
Sprache fällt vielfach unter diese Auffassung. Einseitig ist sodann jener Be¬ 
griff von allgemeiner Bildung, der darunter bloß die Totalität des seelischen 
Lebens verstanden wissen will und damit die Vorstellung von der harmo¬ 
nischen Ausbildung aller Seelenkräfte verbindet. Die richtige Auffassung ge¬ 
winnen wir, wenn wir an gewisse geschichtliche Tatsachen anknüpfen. Im 
8. und 9. Jahrhundert gehörten Lesen und Schreiben zur Fach- oder Spezial¬ 
bildung, nämlich zur Bildung der künftigen Geistlichen, d. h. der Gelehrten; 
sie waren Fertigkeiten, die der Klosterschüler nur mit einzelnen wenigen 
Volksgenossen teilte. Heute gilt es bei uns für ausgemacht, daß jedes 
Glied der Gemeinschaft — also auch jeder Zögling — im Besitze dieser 
Fertigkeiten sein muß: Lesen und Schreiben gehören zur allgemeinen Bil¬ 
dung. Umgekehrt war in der germanischen Urzeit die Kenntnis des Waffen¬ 
gebrauchs für jeden Jüngling notwendig, während sie heute nur noch vom 
künftigen Berufssoldaten verlangt wird; dieses Kulturgut ist aus der allge¬ 
meinen Bildung in die Fachbildung hinübergewandert Aus dieser Gegen¬ 
überstellung ersehen wir, daß die Fachbildung für den Beruf und die Be¬ 
friedigung von besonderen, individuellen Anlagen und Neigungen bestimmt 
ist; die allgemeine Bildung gilt der übrigen Lebensgestaltung, sie geht auf das, 
was der Zögling nicht als Berufsmensch und Fachmann, sondern als Glied 
der Volksgemeinschaft und der Menschheit tut und wozu er im wesentlichen 
denselben geistigen Besitz braucht wie alle anderen auch; man kann dies 
als allgemeine Lebensgestaltung bezeichnen. Wir müssen also sagen: 
die Fach- oder Spezialbildung dient dem künftigen Beruf oder 
dem individuellen Interesse des Zöglings, die Allgemeinbildung 
dient seiner allgemeinen Lebensgestaltung. 

Für die Frage der Schulreform dürfte diese Unterscheidung von nicht ge¬ 
ringem Werte sein. Aus ihr ergibt sich zunächst, daß die höhere Schule im 
Hinblick auf den eben dargelegten Gesamtzweck der Erziehung die künftige 
Lebensgestaltung ihrer Zöglinge im vollen Umfange vorbereiten und aus 
diesem Grunde auf beide Richtungen der Bildung binarbeiten muß: sie muß 
allgemeine und fachliche Bildung vermitteln. Die höhere Schule ist von der 
Volksschule graduell verschieden: sie will solche Menschen erziehen, die nach 
der Seife des Intellekts und des Willens besonders begabt sind und an die 


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Johannes Kretzschmar 


sie strengere Anforderungen als an den Durchschnittsmenschen zu stellen 
vermag. Deshalb zielt sie auf einen höheren Grad von allgemeiner und von 
fachlicher Bildung hin und beurteilt von diesem Gesichtspunkte aus alle 
Kulturgüter, die au ihren Grziehungsplan herantreten. Sie unterscheidet ver¬ 
bindliche und wahlfreie Unterrichtsgegenstände und prüft bei solchen 
Gegenständen, die beiden Bildungsgebieten angehören können, bis zu welchem 
Grade sie zur Allgemeinbildung und von welchem Grade an sie zur Spezial¬ 
bildung zu rechnen sind. Für die allgemeine Lebensgestaltung sind hier u. a. 
zweifellos notwendig und deshalb auch als verbindliche oder Pflichtfächer 
anzusehen: Gesundheitslehre und Körperpflege, Religion, Gesang, Kunst- und 
Musikgeschichte, Vertrautheit mit der deutschen Muttersprache, ferner Geschichte 
und Erdkunde, philosophische Propädeutik. Von besonderer Wichtigkeit ist 
die staatsbürgerliche Bildung. Im absoluten Staate war politisches Wissen 
und Können Sache der Fachbildung, deren nur die wenigen Regierenden 
bedurften. Im modernen Volksstaate, der jedem Bürger, auch dem weiblichen 
Geschlecht, aktives und passives Wahlrecht gewährt, gehören politische Ur¬ 
teilsfähigkeit und politisches Verantwortlichkeitsgefühl naturnotwendig zur 
allgemeinen Volksbildung. In die Staatsbürgerkunde muß jeder Schüler ein¬ 
geführt werden, und mit dieser Einführung muß die planmäßige Erziehung 
zur Selbstverwaltung innerhalb der Schulklasse und der ganzen Schulgemein¬ 
schaft — also die planmäßige Willensbildung — Hand in Hand gehen. Deutlich 
erkennbare Vertreter der Fachbildung und deshalb als wahlfreie Gegen¬ 
stände zu behandeln sind die griechische und die hebräische Sprache. Auf 
strittiges Gebiet gelangen wir beim Latein und den modernen Fremd¬ 
sprachen. In der Gegenwart spielt die Frage eine große Rolle, wieviel und 
welche Fremdsprachen für die Allgemeinbildung als notwendig anzuerkennea 
sind. Im Hinblick auf die Entwicklung der Realwissenschaften im 19. Jahr¬ 
hundert und die dadurch bedingte Ausdehnung des Bildungsgebietes muß 
heute als richtig angenommen werden, daß drei oder vier Sprachen, wie sie 
das Gymnasium aufweist, entschieden zuviel sind, und mit Recht ist der 
Vorwurf des Philologismus erhoben worden. Andererseits aber ist eine ein¬ 
zige Fremdsprache für die höhere Schule ohne Zweifel zu wenig. Die Kenntnis 
der neueren Sprachen ergibt sich in der Gegenwart als dringende Notwen¬ 
digkeit aus der staatsbürgerlichen Erziehung heraus; die Nation als Ganzes 
muß heute diejenige Sprache an erster Stelle pflegen, die für unsere Be¬ 
ziehungen zum Ausland die größte Wichtigkeit besitzt: das Englische. 
Daneben aber muß noch eine von den Sprachen verlangt werden, die den 
anderen wichtigen Nachbarländern angehört: Französisch, Russisch, Schwe¬ 
disch, Italienisch. Für eine von diesen Sprachen muß sich der Schüler auf 
jeden Fall entscheiden. Was das Latein betrifft, so ist es früher lange ein 
unangefochtener Bestandteil der Allgemeinbildung gewesen. Seit dem Augen¬ 
blick jedoch, wo die Oberrealschule ins Leben trat und es wahlfreier Unter¬ 
richtsgegenstand wurde, ist es in die Fachbildung hinübergewandert. Und 
auch für den Gelehrten ist es nicht mehr in demselben Maße erforderlich 
wie früher; er kann auf die Übersetzung aus dem Deutschen ins Lateinische 
vollständig verzichten und muß nur noch die Fähigkeit besitzen, schwierigere 
altsprachliche Texte — auch aus dem Mittelalter — fließend ins Deutsche 
übersetzen zu können. Aus der Allgemeinbildung wird man freilich die alten 
Sprachen nicht gänzlich entfernen können; in die deutsche Sprache ist — 


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Schulreform und Bildungszweck 


namentlich durch den wissenschaftlichen Sprachgebrauch — so viel antikes 
Kulturgut übergegangen, daß es als unabweisbare Pflicht erscheint, dem äl¬ 
teren Schüler zum Verständnis der zahlreichen Fremdwörter uud feststehenden 
Redensarten zu verhelfen und wenigstens die lateinisch-griechische Wort¬ 
kunde als Pflichtfach einzuführen. Strittig ist auch das Gebiet der Mathe¬ 
matik. Hier kann aber wohl nach unseren Darlegungen keinerlei Zweifel 
darüber bestehen, daß analytische und darstellende Geometrie, Differential- 
und Integralrechnung der Fachbildung zuzuzählen und als wahlfreie Gegen¬ 
stände anzusehen sind, während Algebra und euklidische Geometrie zur All¬ 
gemeinbildung zu rechnen sind und als verbindliche Fächer betrachtet werden 
müssen. Eingehendere Erwägungen wird man schließlich noch bei den Natur¬ 
wissenschaften darüber anzustellen haben, inwieweit ihr Stoffgebiet für die 
beiden Richtungen der Lebensgestaltung in Betracht kommt. Daß im Gym¬ 
nasium die Chemie bisher vollständig gefehlt hat, kann unmöglich richtig 
sein; andererseits müssen wohl alle schwierigeren Spezialfragen von der All¬ 
gemeinbildung ferngehalten und der Fachbildung zugewiesen werden. 

Herrscht nun volle Klarheit darüber, ob und inwieweit ein Kulturgut in 
den Lehrplan aufzunehmen ist, so muß noch die andere wichtige Frage 
geklärt werden, wie die Scheidung zwischen allgemeiner und fachlicher 
Bildung im Aufbau des Lehrplanes sichtbar wird. Kerschensteiner macht 
einen scharfen Unterschied zwischen der alten und der neuen Schule. Nach 
seiner Auffassung will das alte Schulsystem den Zögling über den allgemein¬ 
gebildeten Menschen zum Berufsmenschen führen, das neue hingegen über 
den beruflich erfaßten und vertieften zum allgemeingebildeten Menschen. 1 ) 
Wir treffen wohl auf Grund unserer Darlegungen das Richtige, wenn wir 
fordern, daß grundsätzlich die Fachbildung neben der Allgemeinbildung 
im Erziehungsplane ihren Platz hat und in methodischer Hinsicht so bald 
als möglich im Bildungsgänge des Zöglings auftritt. Dieses Auftreten kann 
freilich nicht eher erfolgen, als bis volle Klarheit über die individuelle An¬ 
lage gewonnen ist. Bis zu einem gewissen Grade ist diese Klarheit erreicht, 
wenn der Knabe oder das Mädchen nach dem Besuche der vierjährigen Grund¬ 
schule als hinreichend begabt erkannt wird, um der höheren Schule zugeführt 
zu werden. Aber die Beobachtung des Schülers muß hier zunächst weitergehen. 
Die Erziehung muß mit seinen sämtlichen seelischen Kräften Fühlung 
gewinnen und diese zu allen Seiten der Kultur in Beziehung setzen; die 
Entscheidung darüber, welcher Zweig der höheren Bildung dem Schüler an¬ 
gemessen ist, wird erst zu fällen sein, wenn sich das Urteil über ihn noch 
weiter geklärt hat. Der Schüler wird sich deshalb nicht bloß im Unterrichts¬ 
zimmer, im Zeichen-, Sing- und Turnsaal, sondern auch in der Werkstatt und 
im Schulgarten betätigen müssen; in den Unterklassen der höheren Schule 
müssen Werkunterricht und Gartenpflege verbindliche, nicht wahlfreie, 
Lehrfächer sein. Wann soll nun die Entscheidung fallen? Die Reform¬ 
bewegung von heute steht auf dem Standpunkt des dreijährigen gemeinsamen 
Unterbaues für alle höheren Schulen; das Reformgymnasium sowie das 
Reform realgymnasium fordern die Entscheidung also von Untertertia an. Wenn 
auf dem Wege der Gesetzgebung diese Einrichtung allgemein durchgeführt 
und auch auf die noch bestehenden alten Gymnasien und Realgymnasien 


*) Kerschensteiner, Das Grundaxiom des Bildungsprozesses (1917), S, 88; 42. 


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Johannes Kretzschmar, Schulreform und Bildungszweck 


angewandt würde, dann wäre schon sehr viel erreicht. Dann könnten von 
Untertertia an auch Werkunterricht und Gartenpflege wahlfrei werden, und 
die Kurzschrift könnte ebenfalls als wahlfreies Fach hinzutreten. Aber bei 
näherer Betrachtung erscheint auch diese Klasse für die Spaltung der höheren 
Schule noch zu früh. Wir hatten früher im Gymnasium die höhere Ein¬ 
heitsschule, heute sehen wir ein höchst kompliziertes System vor uns: 
altes Gymnasium, Reformgymnasium, Realgymnasium, Reformrealgymnasium, 
Oberrealschule, Oberschule mit zwei Fremdsprachen, Oberschule mit einer 
Fremdsprache — dazu noch die mannigfachen Gabelungen. Wir müssen so 
rasch als möglich wieder aus dieser verwirrenden Fülle heraus und so weit 
als möglich wieder zu einem einheitlichen Organismus gelangen. Diese 
Möglichkeit besteht: wir sind in der Lage, einen fünfjährigen gemeinsamen 
Unterbau zu fordern. Sieht man sich nämlich z. B. den kürzlich vom 
Sächsischen Philologenverband aufgestellten Entwurf an — derselbe hat einen 
dreijährigen gemeinsamen Unterbau, einen etwas differenzierten zweijährigen 
Mittelbau und einen gegabelten vierjährigen Oberbau 1 ) — so sieht man in 
den fünf unteren Klassen soviel Gemeinsames, daß eigentlich nur das Latein 
als Hindernis für die noch weitergehende Vereinheitlichung erscheint. Da 
nun auch vom Standpunkte der Fachbildung aus heute geringere Anforde-'- 
rungen an die Kenntnis des Lateinischen gestellt werden dürfen, so müßten 
hier eigentlich die vier Jahre des Oberbaues vollständig genügen; der Latein¬ 
unterricht käme dann also auch für die Mittelklassen nicht mehr in Betracht. 
Auch nicht in Betracht kommen würde für diese Stufe die zweite moderne 
Fremdsprache. Der Zeitpunkt ihres Auftretens wird durch methodische Er¬ 
wägungen gegeben: Die erste Fremdsprache — in Zukunft das Englische — 
wird von Sexta an getrieben; die zweite Fremdsprache kann offenbar erst 
dann auf den Plan gesetzt werden, wenn in der anderen eine gewisse Sicher¬ 
heit erreicht ist. Diese Sicherheit ist aber am Ende der Quarta zweifellos 
noch nicht da — zumal ja bis dahin selbst die Muttersprache noch gewisse 
Schwierigkeiten bereitet. In der Untertertia ist sie also zu früh angesetzt, 
und so dürfte mit Untersekunda auch hier der geeignete Zeitpunkt gegeben 
sein. Die bisherige Realschule und die höhere Mädchenschule müßten sich 
also mit einer einzigen Fremdsprache begnügen; ihr sechstes Jahr, die auf 
den fünfjährigen gemeinsamen Unterbau besonders aufgesetzte Abschlußklasse, 
beginnt nicht erst noch mit einer zweiten Sprache, sondern bringt mit Staats¬ 
bürgerkunde und Literaturgeschichte — vielleicht auch mit Kunstgeschichte 
— den Bildungsgang zu einem leidlichen Abschluß. Was nun den vier¬ 
jährigen Oberbau betrifft, so wird man wohl gut tun, auf das System der 
Gabelung zu verzichten. Mit Recht mehren sich die Stimmen, die es 
verurteilen und die Spaltung in einen philologisch-historischen und einen 
naturwissenschaftlich-mathematischen Zweig für wenig wertvoll halten; auch 
aus der Schülerschaft und Elternschaft heraus meldet sich der Widerspruch. 
Man sollte dem Schüler in der Zusammenstellung der freien Fächer keinerlei 
Zwang auferlegen, sondern ihn zunächst zur Teilnahme an den Pflicht- oder 
Kernfächern anhalten und ihn im übrigen ganz nach Interesse und Begabung 
entscheiden lassen; Bedingung sollte nur sein, daß die Zahl der Vormittags¬ 
stunden nicht überschritten werden darf; die Nachmittage müssen für Spiel, 
Sport und Wanderungen freibleiben. 

•) Vgl. Dtsch. Philol.-Bl., 1922, 1. Heft. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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So führt die richtige Abgrenzung der Allgemeinbildung gegenüber der Fach¬ 
bildung zu einem für die Gegenwart sicherlich sehr wertvollen Aufbau des 
höheren Schulwesens; sie ermöglicht es auf der einen Seite, die so not¬ 
wendige Einheit der höheren Schule bis zu einem hohen Grade durchzu¬ 
fahren; andererseits ermöglicht sie die ebenso notwendige Differenzierung 
der Bildung. Und indem diese Abgrenzung beide Möglichkeiten schafft, hilft 
sie mit ein Problem lösen, dessen Lösung um so dringlicher wird, je reicher 
die Fachwissenschaften an Forschungsergebnissen werden: das Problem der 
geistigen Überbürdung, das gerade für die höhere Schule von der größten 
Bedeutung ist. 


Kleine Beitrage und Mitteilungen. 

Eine Stadiengemeinschaft für wissenschaftliche Pädagogik soll im Rahmen 
des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin ins 
Leben treten. Sie stellt sich die Aufgabe, wissenschaftlich bereits vorgebil¬ 
dete Lehrer und Lehrerinnen zu einer pädagogischen Arbeitsgemeinschaft zu 
vereinigen. Den Anlaß zu dieser Gründung hat die Beobachtung gegeben, 
daß es an geeignetem Nachwuchs für wissenschaftliche Pädagogik durchaus 
fehlt Dieser Mangel stellt nicht nur die Weiterleitung des pädagogischen 
Lehrguts in Frage, sondern er erschwert auch jede schöpferische Lösung 
wichtiger organisatorischer Aufgaben, vor die unser. Schulwesen zurzeit ge¬ 
stellt ist. An einzelnen deutschen Universitäten wird zwar der wissenschaft¬ 
lichen Pädagogik bereits eine sorgsame Pflege zuteil; es fehlt jedoch an 
einem Mittelpunkt, an dem sich die nach dieser Richtung Führenden ver¬ 
einigen und durch gemeinsame Arbeit den allseitigen Ausbau des Forschungs¬ 
gebietes selber fördern können. Eine solche Studiengemeinschaft einzurichten, 
soll in Berlin versucht werden, und zwar in enger Verbindung mit der Uni¬ 
versität, mit ihren Dozenten, ihrem Pädagogischen Seminar und ihren wissen¬ 
schaftlichen Hilfsmitteln. Das „Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht", 
das die in seinem Namen ausgesprochene Aufgabe sachlich und geographisch 
immer vollständiger zu lösen bestrebt ist und nach der neuen Fassung seiner 
Satzungen seine Tätigkeit auf das ganze Deutsche Reich erstreckt, wird den 
organisatorischen Mittelpunkt der Neugründung bilden. 

Die „Studiengemeinschaft“ soll nicht der Vorbereitung für den Lehrberuf 
überhaupt dienen; sie ist vielmehr als Fortbildungsstätte gedacht für alle, die 
es sich zur Aufgabe machen wollen, forschend und lehrend auf dem Gebiet 
der wissenschaftlichen Pädagogik tätig zu sein. 

Die Zulassung zu dieser Studiengemeinschaft ist an den Nachweis der 
geeigneten Vorbildung gebunden; dieser soll aber auf freiem Wege geführt 
werden können und nicht an bestimmte Schulzeugnisse oder Studienzeug¬ 
nisse geknüpft sein. Als Maßstab hat zu gelten, daß der Bewerber bereits 
einige Zeit ein ernsthaftes Studium von akademischer Höhenlage (auf be¬ 
liebigem Gebiete) getrieben habe und mit den allgemeinen wissenschaftlichen 
Forschungsmethoden vertraut sei. Außer Studienräten, -assessoren und 
-referendaren, Seminarlehrern, Doktoren, älteren Studenten kommen also 
auch Gewerbelehrer, Volksschullehrer, Frauenschullehrerinnen, die privatim 
wissenschaftlich weitergearbeitet haben, als Teilnehmer in Betracht. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Hinsichtlich der Entlastung der im Schulamte stehenden Teilnehmer der 
Studiengemeinschaft, gegebenenfalls auch ihrer Beurlaubung, hat der Preußische 
Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung durch Erlaß vom 18. Fe¬ 
bruar ds. Js. eine entgegenkommende Prüfung von Fall zu Fall zugesagt 
und sich bereit erklärt, soweit es sich um Mitglieder von Gemeindeanstalten 
handelt, dem Patronat zu empfehlen, Anträge auf Beurlaubung oder Ent¬ 
lastung in gleicher Weise zu behandeln. 

Die Vorlesungen und Übungen sollen aber nach Möglichkeit so gelegt 
werden, daß in Berlin wohnende Lehrer auch ohne Beurlaubung, evtl, nur 
mit teilweiser Dienstentlastung, daran teilnehmen können. Die Zahl der 
ordentlichen Mitglieder soll im Interesse der Erreichung des Zieles 50 nicht 
überschreiten. Sie müssen ihre Absicht kundgeben, eine geschlossene Arbeits¬ 
zeit von etwa zwei Jahren durchzuführen. Zu den Vorlesungen — nicht 
jedoch zu den Übungen — können auch außerordentliche Teilnehmer gegen 
Zahlung des Honorars zugelassen werden. 

Die Dozenten, die sich zur Durchführung des Planes vereinigt haben, 
sind überwiegend theoretisch und praktisch voll dürchgebildete Fachmänner. 
Sie hoffen, durch ihre Lehrtätigkeit selbst immer tiefer in das Gebiet hinein- 
zuwachsen und erwarten von der Arbeitsgemeinschaft mit ihren Teilnehmern 
dafür wesentliche Förderung. Sie werden aber auch unter sich eine Arbeits¬ 
gemeinschaft mit regelmäßigen Zusammenkünften bilden, bei denen sie sich 
gegenseitig Vorträge halten, um die Fühlung zwischen ihren Forschungs¬ 
gebieten herzustellen und sich durch die Mannigfaltigkeit der Behandlungs¬ 
weise anregen zu lassen. 

Die in Aussicht genommenen Vorlesungen und Übungen enthalten manches 
Gebiet, für das im Anfang die geeigneten Dozenten noch nicht zur Verfügung 
stehen. Diese Fächer können erst später eingerichtet werden. Da auch die 
Teilnehmer kaum mehr als 15—18 Stunden wöchentlich bewältigen werden, 
so wird angenommen, daß sie eine bestimmte Studienrichtung bevorzugen 
werden. Vermutlich wird sich eine historische, eine philosophisch-ethische 
und eine psychologische Gruppe von selbst herausbilden. 

Die äußeren Angelegenheiten der Studiengemeinschaft leitet ein Verwal- 
tungsrat, der aus Vertretern der Regierung, der Universität und des ge¬ 
schäftsführenden Vorstandes der Jubiläumsstiftung für Erziehung und Unter¬ 
richt gebildet ist. Die inneren (wissenschaftlichen) Angelegenheiten regelt 
das Dozentenköllegium in ständiger Fühlungnahme mit den ordentlichen 
Mitgliedern, wofür die Formen nach Errichtung der Studiengemeinschaft ge¬ 
funden werden müssen. Die Entscheidung über die Zulassungsgesuche trifft 
eine Kommission von 5 Mitgliedern, die aus dem Verwaltungsrat und dem 
Dozentenkollegium zusammengesetzt ist. 

Die Einteilung des Studienjahres fällt mit dem der Universität un¬ 
gefähr zusammen, jedoch mit dem Unterschiede, daß es in drei Abschnitte 
ungefähr gleichen Umfangs zerlegt wird: 1. Trimester: 24. April bis 15. Juli, 
2. Trimester: 16. Oktober bis 22. Dezember, 3. Trimester: 8. Januar bis 15. März. 

Für das Sommersemester 1922 sind folgende Veranstaltungen in Aussicht 
genommen: 

Prof Dr. Spranger: Geschichte der Pädagogik vom Altertum bis zu Rousseau (3ständig); 
Prof. Dr. Spranger: Sokrates als Pädagoge (Übungen, 1 ständig) (Kenntnis dea Griechischen 

nicht Bedingung); 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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Dr. Müller-Freienfels*: Die philosophischen Grundlagen der Pädagogik (3 ständig mit 
Colloquium); 

Dr. Birkemeier, Allgemeine philosophische Didaktik mit Obungen (3st&ndig); 

Dr. Bobertag: Allgemeine Entwicklungspsychologie als Grundlage der Erziehung (2ständig); 
Dr. Wert he im er: Einführung in die experimentelle Psychologie (2 ständig). 


Über die Aufgaben und die Organisation der Versuchsschularbeit in Öster¬ 
reich erstattet Th. Steiskal im 1. Hefte der „Schulreform“ einen kurzen Bericht. 
Es ergibt sich daraus, daß dem Umfange nach die österreichischen Einrich¬ 
tungen und Bestrebungen den ähnlichen Unternehmungen in Deutschland 
überlegen sind. Ermöglicht wurde die Begründung von Versuchsarbeit durch 
einen Erlaß des Unterrichtsministeriums aus der Mitte des Jahres 1919. Es 
begann dann bald das Einsetzen mit Versucbsklassen für alle Altersstufen in 
Stadt und Land. In Wien allein sind im Schuljahre 1919/20 nicht weniger 
als 108 Versuchsklassen an Volksschulen und 14 Versuchsklassen an Bürger¬ 
schulen, teilweise für Knaben, teilweise für Mädchen, teilweise gemischt, er¬ 
richtet worden. Als voll ausgebaute Versuchsschulen gelten die Staats¬ 
erziehungsanstalten in Wien, Traiskirchen und Liebenau (Erprobung des 
Lehrplanes der deutschen Mittelschule). 

Die Absicht dieser großangelegten Versuchstätigkeit ist: 1. der Lehrerschaft 
Gelegenheit zu geben, den Weg von der Theorie zur Praxis der Arbeitsschule 
zu gehen, die theoretisch einwandfreien Grundsätze der Arbeitsschule in der 
Praxis zu erproben, 2. von der Durchführbarkeit des neuen arbeitsunterricht- 
lichen Verfahrens durch das Beispiel zu überzeugen und 3. auch die Eltern¬ 
schaft für die moderne Unterrichtspraxis zu gewinnen und sie zum Eintreten 
für eine zeitgemäße Unterrichtsrefoim im Interesse ihrer Kinder zu gewinnen. 

Dem von der Lehrerschaft geäußerten Wunsche entsprechend, wurde das 
Hospitieren in den Versuchsklassen an zwei oder vier Tagen im Monat 
gestattet. Man bestimmte dazu in Wien an Volksschulen 92 und an Bürger¬ 
schulen 34 Hospitierklassen. In Wien wurde weiter mit Erlaß des Bezirks¬ 
schulrates vom 30. August 1920 den Lehrkräften der Hospitierklassen, die 
den Fragen der pädagogischen Psychologie und der Didaktik besonderes 
Interesse entgegenbringen, die Bearbeitung eines selbstgewählten Themas 
empfohlen. Aus der großen Fülle der sich anbietenden psychologischen 
und didaktischen Fragen wurden genannt: 


1. Beziehungen zwischen dem körperlichen Befund und der geistigen Leistungsfähigkeit der 
Kinder. 

2. Beziehungen zwischen der Schärfe der Sinne und der geistigen Leistungsfähigkeit der Schüler. 

3. Beobachtungen über das Verhalten der Schäler auf Lehrausgfingen und Lehrwanderungen. 

4 . Wie lernen die einzelnen Schäler der Klasse am leichtesten (sehend, hörend, laut oder 
leise sprechend)? 

5 Wieviele Lesungen sind bei den einzelnen Schülern zur Beherrschung eines bestimmten 
Stückes notwendig? 

6. Untersuchungen a) über die zweckmäßigste Art der Erlernung der Rechtschreibung, b) über 
die häufigsten Rechtschreibfehler der Schüler, c) über Wort und Begriffsschatz der einzelnen 
Altersstufen, d) über die Entwicklung der sprachlichen, zeichnerischen, plastischen und musi¬ 
kalischen Ausdrucksfähigkeit, e) über originelle Rechen weisen der Schüler, f) über die Ent¬ 
wicklung einer individuellen Handschrift. 

7. Beobachtungen über das Verhalten der Schüler bei den verschiedenen Arbeiten in der 
Schule: wie die Schüler die Arbeit beginnen, wie sie sich zu den verschiedenen Schultätigkeiten 
stellen, ob sie ausdauernd in der Arbeit sind, ob sie gegen Ende der Arbeit auffällig nachlässig 
werden, ob sie rasch ermüden, ob sie die Lust an einer oft recht frisch angegriffenen Arbeit 
bald verlieren. 


Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 

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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


8. Beobachtungen über den Einfluß der Witterung» des Barometerstandes, der Temperatur usw. 
auf die Leistungsfähigkeit der Klasse. 

9. Untersuchungen über Spezialbegabungen und ihr Verhältnis zu den Leistungen auf 
anderen Arbeitsgebieten. 

10. Untersuchungen über Lieblingsbeschäftigungen der Schüler. 

11. Untersuchungen über den Wert von Lehr- und Lernmitteln, von organisatorischen Ma߬ 
nahmen und Einrichtungen. 

Die Erfahrungen in den zwei Jahren Versuchsklassenarbeit veranlaßten die 
Reformabteilung, der Unterrichtsverwaltung eine Regelung des Versuchs¬ 
schulwesens vorzuschlagen. Hatten die früheren Erlasse die Errichtung 
von Hospitier-, bezw. Versuchsklassen immer nur für ein Schuljahr anordnet, 
so wurde durch einen neuen Versuchsklassenerlaß (8. Oktober 1921, 
ZI. 19.374) das österreichische Versuchsschulwesen ohne Befristung ge¬ 
regelt. Dieser Erlaß unterscheidet: 1. Hospitierklassen, 2. Versuchsklassen, 
in denen Lehrkräfte wirken, die durch Versuche und besondere Studien an 
dem Fortschritte der pädagogischen Psychologie und Didaktik mitwirken, 
und 3. Versuchsschulen in den Bundeshauptstädten. 

Um Mißverständnissen und unberechtigten Vorwürfen von seiten der Schul- 
reformgegner vorzubeugen, wird in dem neuen Erlasse ausdrücklich erklärt, 
daß die Versuchsklassenlehrer ihre besonderen Aufgaben (denn ihre Haupt¬ 
aufgabe ist und bleibt die Erreichung des vorgeschriebenen Lehrzieles) — wie 
Ausgestaltung der Erziehungs-, Unterrichts-, Beobachtungs- und 
Prüfungsmethoden, die Ausprobung neuer Lehr- und Lernmittel 
und ähnliches mehr — derart durchzuführen haben, daß der Unterricht keine 
Beeinträchtigung erfahre und die Schüler keine Schädigung erleiden. Also 
nicht etwa ein planloses Experimentieren soll nun anheben, sondern es soll 
von kundigen Lehrkräften 1. das arbeitende Schulkind beobachtet und 
2. nach den besten Lehr- und Lernwegen planmäßig gesucht werden. Ober 
die Durchführung der Versuche im einzelnen wird in eigenen Konferenzen 
gründlich verhandelt werden. Zur Beratung der pädagogisch-didaktischen, 
der pädagogisch-psychologischen und der organisatorischen Fragen teilt sich 
die Wiener Versuchsklassenlehrerschaft in drei Arbeitsgruppen. Um den 
Lehrkräften Gelegenheit zu geben, sich über Einzelfragen der Versuchsarbeit 
unterrichten zu können, wurde eine Beratungsstelle errichtet. Von ganz be¬ 
sonderem wissenschaftlichen Werte werden Versuche sein, die einheitlich von 
der Versuchsklassenlehrerschaft eines oder mehrerer Schulbezirke durchgeführt 
werden; ähnlich wie Kerschensteiner im Massenversuch die zeichnerische 
Begabung der Münchener Schuljugend feststellen ließ und untersuchte. Als 
allgemein durchzuführende Versuchsarbeit wurden von der Wiener Versuchs¬ 
klassenlehrerkonferenz die Themen 1 und 9 gewählt. Von den Ergebnissen 
dieser Studien werden die Versuchsklassenlehrer die Lehrerschaft durch Vor¬ 
träge, Referate, Aufsätze zu unterrichten haben. Ihre planmäßig geleitete 
Arbeit soll vor allem Material für künftige Erziehungs- und Unterrichts¬ 
reformen liefern. 


Zur Erforschung der Sexualentwicklung des Kindes nach seiner körper¬ 
lichen und seelischen Seite hin haben sich das Institut für Sexualwissenschaft 
in Berlin und das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie in 
Leipzig zu einer Arbeitsgemeinschaft vereinigt. Man gedenkt so, mit Hilfe 
spezifisch medizinischer Methoden auf der einen Seite, auf der andern vor- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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wiegend mit Hilfe psychologischer Verfahren das bisher noch sehr ungeklärte 
Problem der kindlichen Sexualität zu bearbeiten. An dem Ausfall solcher 
Untersuchungen sind heute außer der häuslichen und öffentlichen Erziehung, 
der Jugendpflege, Jugendfürsorge und der Rechtspflege eine ganze Reihe von 
Wissenschaften stark interessiert, so Psychologie, Psychiatrie, Kriminologie, 
Rechtswissenschaft, Soziologie u. a. Wenn es gelingen soll, einen genauen Ein¬ 
blick in den typischen und in den möglichen Verlauf der geschlechtlichen Ent¬ 
wicklung von der ersten dunklen Triebäußerung bis zum klaren Geschlechts¬ 
bewußtsein beim heranwachsenden Jugendlichen zu erhalten, so muß auch 
die sogenannte Sammelforschung herangezogen werden. Eltern, Erzieher, 
Ärzte u. a. würden sich ein nicht geringes Verdienst erwerben, wenn sie 
beiden genannten Instituten Material an eigenen Beobachtungen, an Erhebungen, 
Befragungen, Bekenntnissen, Eigenberichten, Dokumenten, Niederschriften, 
Tagebüchern, kindlichen Dichtungen, Briefen, Zeichnungen, plastischen Dar¬ 
stellungen u. dgl. zuschickten. Ihr Autorenrecht bleibt gewahrt. Auf Wunsch 
werden Auslagen gern vergütet. Einsendungen werden erbeten an das 
Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie in Leipzig, Kramerstr. 4 II. 


Ein Aufruf, von der Jugend aus der Alkoholgefahr zu begegnen, ergeht 
an die Lehrerschaft aller deutschen Schulen. Es heißt in ihm: „Am ernstesten 
für die Schule und ihre Arbeit aber wird die Frage, wenn wir die Ergebnisse 
vielfacher rassehygienischer Forschungen Überblicken, nach denen der Rausch¬ 
trank die kindlichen Anlagen schon im väterlichen und mütterlichen Keime 
zu schädigen vermag. Und wenn wir bedenken, wie durch den leider auch 
heute durchaus noch nicht beseitigten kindlichen Alkoholgenuß die Leistungs¬ 
fähigkeit unserer Schüler herabgesetzt wird, wie das körperliche und geistige 
Wachstum in gleicher Weise ungünstig beeinflußt wird, wie der Alkoholismus 
des Elternhauses auch unsere Erziehungsarbeit aufhebt, oft genug das 
Gegenteil von dem Erstrebten bewirkt, so kann über unsere Aufgabe kein 
Zweifel bestehen. 


Alle unsere heute so dringend nötige Bildungs- und Erziehungsarbeit, 
unsere Anstrengung zu körperlicher, geistiger und sittlicher Förderung unserer 
Jugend, zu kultureller Hebung unseres Volkes wird durch den Rauschtrank 
geschädigt. Kein Lehrer darf sich daher von dem Kampf gegen einen der 
stärksten Feinde der Neugeburt unseres Volkes ausschließen. Wo mit jeder 
Million gerechnet werden muß, dürfen nicht Milliarden verschwendet werden; 
wo Millionen der tüchtigsten Menschen verloren gingen, dürfen die Reste 
der Volkskraft nicht leichtsinnig vergeudet werden. 

Nur durch unsere Jugend kann hier Besserung erzielt werden. Beachtens¬ 
werte Kreise derselben stehen bereits in scharfer Gegnerschaft zum heutigen 
Genußleben, auch zum Rauschtranke. Jetzt gilt es, die noch nicht von der 
Bewegung ergriffene Jugend zu gewinnen und die Eltern von der Wichtigkeit 
des Ziels zu überzeugen. Dies ist möglich durch ernste, sachkundige Be¬ 
handlung der Alkoholfrage in allen Schulen — auch den Hochschulen — 
und vor den Kreisen der Elternschaft, durch Verbreitung geeigneter Auf¬ 
klärungsschriften in allen Volksschichten, durch Förderung der Vereine, die 
dieses Sondergebiet in enger Fühlung mit den Jugenderziehem bearbeiten, 
durch Pflege all dessen, was zu höheren Freuden führt. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Unterzeichnet ist dieser Aufruf, der das pädagogische Gewissen für eine 
nicht minder schwere wie segensreiche Aufgabe schärft, von 

Emmy Beckmann, Vors. d. Allgera. D. Lehrerinnenvereins. E. Beyer, Bezirksschulrat, Leipzig. 
Gertrud Bäumer. Dr. Paul Barth, Prof. a. d. Univ. Leipzig. Prof. Dr. K. Bühler, Dresden. 
Prof. Dr. Leo Burgerstein, Wien. O. Gleißberg, Vors d Sächs. Lehrervereins. Osk. Hof¬ 
heinz, Obmann des Badischen Lehrervereins. Ottilie Klein, Vors. d. Ver. bad. Lehrerinnen. 
Anny von Kulesza, Vors. d. Reichsverb, dtsch. Volksschullehrerinnen. Helene Lange. 
Alfred Leuschke, Dresden. Friedrich Lorentz, Vors. d. Vergg. f. Schulgesundheitspflege. 
F. Ohnesorge, Vors. d. Sächs Lehrervereins. Oberstudienrat Dr. Prüfer, Vors. d. Deutschen 
Gesellschaft z. Förderung häusl. Erziehung Prof. W. Rein, Jena. Schwärzei, Vors. d. Preuß. 
Lehrervereins. Geh. Hofrat Dr. Sickinger, Stadtschulrat in Mannheim. Dr. Seyfert, Min. 
a. D. Helene Sumper, Vors. d. Bayr. Lehrerinnenvereins.' Joh. Tews, Geschähst, d. Geselisch, 
f. Volksbildung. D. Winkle, Vors, des Bayr .Volksschullehrervereins. Prof. Th. Ziehen, Halle a. S. 


Eine Verwendung der Schülerbefragung bei der Berufsberatung führt 
Alfred Bogen durch. Er hat dem 3. Hefte des Realienbuches für Berlin 
einen Abschnitt eingefügt, in dem er die Schüler an eine Reihe von Fragen 
nach einer allgemeinen Aufklärung über die Berufswahl vorsichtig heranführt. 
Es heißt dort: 

Überlege einmal, was dir am leichtesten fällt und was dir recht viel Ver¬ 
gnügen bereitet Ich will dich bei den Überlegungen unterstützen. Ich habe 
hierunter eine Reihe von Fragen aufgestellt. Jede einzelne mußt du gut 
durchdenken. Das soll nicht an einem Tage geschehen. Für dein ferneres 
Leben wichtige Überlegungen beanspruchen Ernst, Ruhe und Zeit Nimm 
ein Blatt Papier und die Feder zur Hand und beantworte dir selbst jede 
Frage schriftlich so ausführlich wie möglich. Sei beim Schreiben ehrlich 
gegen dich selbst! 

Hast du Vater oder Mutter schon bei der Arbeit geholfen ? — Welche Arbeit gelang dir dabei 
schnell und gut? An welcher Tätigkeit hattest du den größten Gefallen, oder hast du an keiner 
dieser Tätigkeiten Vergnügen gehabt? — Welche Arbeiten konntest und mochtest du nicht? — 
Hast du schon schwere körperliche Arbeit verrichtet? Welche? — Erschien sie dir zu schwer 
für dich oder konntest du sie bewältigen? — Welchen Schulunterricht magst du sehr gern? — 
Was lernst du in der Schule am leichtesten? — Welche Werkzeuge gebrauchst du am liebsten? 
(Bleistift, Feder, Zirkel, Hammer, Säge, Spaten, Häkelhaken, Nähnadel, Besen oder andere.) — 
Welchen Arbeitsstoff benutzt du meist und am liebsten? (Papier, Pappe, Holz, Draht, Plastilin, 
Leinewand, Stickgarn, Wolle oder andere.) — Bastelst du gern zu Hause, auf euerm Feld oder 
an deinen Spielsachen herum, um zu reparieren oder Neues anzufertigen? — Was arbeitest du 
gern und gut? — Welche Schultätigkeiten magst du gar nicht leiden? — Welche fallen dir am 
schwersten? — Turnst du gern? — Glaubst du, daß du gewandt bist beim Turnen? — Welche 
Übungen und Turnspiele hast du gern, welche nicht? — Treibst du Sport? — Welche größte 
Leistung hast du dabei vollbracht? — Schildere den Vorgang! — Was spielst du gern in deiner 
schulfreien Zeit? (zu Hause, auf der Straße, auf dem Spiel- und Sportplatz?) — Spielst du am 
liebsten mit jüngeren, gleichaltrigen oder älteren Kameraden? — Liest du gern? — Nenne einige 
Titel von Büchern, die du gern gelesen hast! — Womit beschäftigst du dich sonst, wenn du 
nicht spielst, liest oder deinen Eltern hilfst? — Zu welcher von all den Beschäftigungen, nach 
denen du hier gefragt worden bist, glaubst du das größte Geschick zu haben? — Was siehst 
du dir am liebsten in den Schaufenstern an? — In welches Museum würdest du später häufiger 
gehen, wenn du freie Zeit haben solltest? — Liebst du bei Spiel, Lesen oder bei deinen sonstigen 
Beschäftigungen Abwechslung, oder kannst du dich lange Zeit mit der gleichen Sache beschäf¬ 
tigen? — Wirst du leicht ärgerlich und ungeduldig, wenn dir etwas nicht gleich glückt, oder 
fängst du dasselbe immer wieder von neuem an, bis es doch glückt? — Mußt du dich beim 
Spieleu oft ausruhen, oder kannst du lange spielen oder arbeiten, ohne zu ruhen? - Bist da 
in den letzten Stunden in der Schule oft sehr müde und abgespannt, oder könntest da noch 
mehr Stunden vertragen, ohne müde zu werden? — Bist du gern für dich allein oder lieber 
unter viel Kameraden? — Gehörst du einem Verein an? — Welchem? — Hältst du dich lieber 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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in der Wohnung oder im Freien, auf der Straße auf? — Welchen Beruf möchtest du am liebsten 
ergreifen? — Warum glaubst du, daß er für dich paßt? — Welche Berufe möchtest du auf 
keinen Fall erlernen? 

Wenn du- noch mehr von dir und von dem erzählen willst, was du gut 
kannst, gern arbeitest und gern möchtest, so tue das. Je mehr, desto besser! 
Bedenke aber immer wieder, daß alles, was du aufschreibst, sich auch wirk¬ 
lich so verhält, wie du es aufschreibst! 

Überprüfe alle Antworten noch einmal recht genau und frage dich, ob du 
für den Beruf, den du zu ergreifen dachtest, wohl geeignet bist, oder ob 
nicht ein anderer Beruf für dich besser wäre. Dazu müßtest du erfahren 
können, welche Eigenschaften für jeden Beruf in Betracht kommen. Das 
kannst du natürlich nicht wissen, auch dein Lehrer vermag dir darüber keine 
Auskunft zu geben. — Es gibt aber Personen, die darüber Bescheid wissen. 
Es sind die Berufsberater beim Städtischen Berufsamt. Geh dort¬ 
hin! Nimm das mit, was du über dich selbst aufgeschrieben hast! Sprich 
dort mit dem Berufsberater! 

Das Institut für Jugendkunde in Bremen erstattet seinen Jahresbericht 
für das Jahr 1921. Es hat sich erfreulicherweise weiterentwickelt. Im Mittel¬ 
punkt standen wie bisher die praktischen und wissenschaftlichen Arbeiten 
auf dem Gebiete der Jugendpflege und Jugendkunde. 

Die Jugendschriftenkommission des Instituts für Jugendkunde und des 
Lehrervereins haben in der Zeit vom 1. bis 15. Dezember 1921 an 23 bre¬ 
mischen Schulen Ausstellungen veranstaltet. Meistens wurden die Ausstel¬ 
lungen mit einem Elternabend verbunden und durch Vorträge über die Ge¬ 
fahren der Schundliteratur eröffnet. Dieser erste große Versuch in Bremen, 
möglichst allen Teilen der Stadt die segensreiche Einrichtung von Jugend¬ 
schriftenausstellungen mit Verkauf guter Bücher in gleicher Weise zugute 
kommen zu lassen, ist über Erwarten gut ausgefallen. Es sind im ganzen 
für 88200 Mark Bücher verkauft worden. 

Weiter wurde die Jugendschriftenbibliothek durch Ankauf erweitert und wurden 
alle Vorbereitungen für den Ausleihdienst getroffen. In nächster Zeit können 
alle die Jugendlichen, die zur psychologischen Untersuchung in das Institut 
kommen, leihweise Bücher aus der Institutsbibliothek erhalten. Es wird 
hoffentlich bald möglich sein, den Kreis zu erweitern und allen Kindern, 
die es wünschen und sonst wenig Gelegenheit dazu haben, die Schätze un¬ 
seres guten Jugendschrifttums zugänglich zu machen. Außerdem steht der 
gesamten Lehrerschaft die Benutzung der Jugendschriftenbibliothek des In¬ 
stituts frei. Den Lehrkräften wird hier Gelegenheit geboten, nicht bloß die 
gute, sondern auch die schlechte Jugendschrift kennen zu lernen und sich 
so zu sachkundigen Führern der Jugend auch auf diesem schwierigen Ge¬ 
biet heranzubilden. 

In hochherziger Weise haben eine Reihe bremischer Bürger den Betrag 
von 30000 Mark dem Institut gestiftet. Zunächst werden die Zinsen dieses 
Fonds mithelfen, den hier genannten Aufgaben zu dienen. Sollte es ge¬ 
lingen, den Fonds auf eine noch bedeutendere Höhe zu bringen, so soll eine 
größere Aktion, zu der die Pläne schon fertig vorliegen, vom Institut aus in 
die Wege geleitet werden, die noch mehr als die erwähnten Einrichtungen 
dazu dienen wird, die gute Jugendschrift in der Bremer Jugend zu verbreiten. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Dem Zwecke, die wissenschaftliche und praktische Arbeit auf dem Gebiete 
der Jugendkunde zu fördern, dienten eine Reihe von Vorträgen und Vor¬ 
führungen im Institut für Jugendkunde. Es seien besonders die von Dr. E. Stern, 
Gießen, über Psychoanalyse erwähnt Dank der Anregung des Instituts hatte 
das wissenschaftliche Vorlesungswesen diesen Dozenten zu vier Doppelvor¬ 
trägen nach Bremen berufen, die besonders auch in den dem Institut nahe¬ 
stehenden Kreisen der Bürgerschaft reges Interesse fanden. Zur Vorfüh¬ 
rung neuerworbener Apparate ergingen gelegentlich Einladungen an die 
Schuldeputation, an den Philologenverein, an den Lehrer- und Lehrerinnen¬ 
verein, sowie an eine große Zahl interessierter Persönlichkeiten. Auch den Se¬ 
minaristen und den Seminaristinnen wurde Gelegenheit gegeben, einige be¬ 
sonders zur Einführung in die experimentelle Psychologie dienenden Appa¬ 
rate kennen zu lernen. 

Die schon in den Vorjahren begonnenen Arbeiten auf dem Gebiete der 
Begabungsforschung wurden fortgeführt. Der vom Institut zusammengestellte 
Beobachtungsbogen, der nun schon seit drei Jahren für die Kinder geführt 
wird, die zur höheren Schule wollen, kam auch in diesem Jahre wieder zur 
Verwendung. Das Institut wurde von der Schulbehörde beauftragt, 2000 
Bogen sowie 55 Erläuterungsschriften zu dem Bogen für die einzelnen Schulen 
zu liefern. Auch nach auswärts mußte eine größere Anzahl Bogen geliefert 
werden, da verschiedene Städte den Bogen einführen. 

Die Verhandlungen, die zwischen dem Institut und dem Industrierat über 
vorzunebmende Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge geführt wurden, 
kamen im November 1921 zum Abschluß. Es wurden dem Institut für Jugend¬ 
kunde nach einem von den Vertretern des Instituts ausgearheiteten Plan für 
das Rechnungsjahr 1921/22 die Mittel zur Verfügung gestellt, die für den 
ersten Versuch der Einrichtung von Eignungsprüfungen erforderlich waren. 
Die Verwaltung dieses Fonds, der zur Anschaffung von Apparaten und der 
sonst benötigten Prüfmittel, zur Anstellung einer Assistentin und für Hilfs¬ 
kräfte usw. bestimmt ist, wurde den Herren Senator Feuß und Dr. Valen- 
tiner übertragen, die sich beide in diesem Jahre der Aufgabe der Eignungs¬ 
prüfung der dem Institut zugesandten industriellen Lehrlinge ehrenamtlich 
widmen. Nach den von Dr. Valentiner bearbeiteten Methoden wurden unter 
seiner Leitung die Eignungsprüfungen von mehr als 300 Lehrlingen ausge¬ 
führt. Außer den für Ostern angemeldeten Lehrlingen wurden an einem 
Tage 11 ältere Lehrlinge von den Hansa-Lloyd-Werken durchgeprüft. Diese 
Prüfung hatte den erfreulichen Erfolg, daß die Ergebnisse, wie das Werk 
mitteilte, „durchweg eine auffallend gute Übereinstimmung mit der Beurteilung 
durch die Meister zeigten, die die Lehrlinge seit Jahren kennen“. Wertvolle 
Dienste leistete bei den Eignungsprüfungen das von den Atlaswerken dankens¬ 
werterweise gelieferte vorzügliche Prüfmaterial. Über die Prüfung wird dem¬ 
nächst ein Sonderbericht erscheinen. 

Von dem Jugendamt erhielt das Institut für Jugendkunde einen Betrag von 
3000 M, von dem ein Teil dazu diente, das Jugendheim im Neuenlander Felde 
mit guten Jugendschriften zu versorgen, während der übrige Teil die der 
Jugendpflege dienenden Aufgaben des Institutes fördern soll. Die Berufs¬ 
beratungsstelle überwies dem Institut 1000 M, wofür das Institut es über¬ 
nommen hat, in besonderen Fällen, in denen ein psychologischer Rat erforder¬ 
lich ist, sich gutachtlich zu äußern. Der Staat unterstützte das Institut durch 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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Überlassung der 3 Räume Birkeustraße 12 1 sowie durch Überweisung von 
4000 M zur Förderung erziehungswissenschaftlicher Arbeiten. 

Ein städtisches psychologisches Institut wurde in Hannover errichtet. 
Dem erweiterten Geltungsbereiche des heutigen Begriffes der Pädagogik ent* 
sprechend, liegt seine Arbeit zunächst auf scbulpsychologischem Gebiete und 
dem der Berufseignungsprüfung. Jährliche Auslesen der Hoch* und Schwach¬ 
begabten sollen ihnen die entsprechende unterrichtliche Versorgung gewähr¬ 
leisten. Der sachgemäßen pädagogischen Förderung beider Gruppen sollen 
regelmäßig wiederholte psychologische Prüfungen, fortlaufende psychologische 
Beobachtungen und pädagogisch-methodische Untersuchungen («psychologische 
Methodik“) zugute kommen. Das Institut bietet ferner den Lehrern reichliche 
Gelegenheit zu selbständiger Durchführung experimenteller Arbeiten. Weiter 
wird durch Vorträge, Kurse, Arbeitsgemeinschaften usw. die Ausbildung von 
Lehrern und Lehrerinnen in der pädagogischen Psychologie gepflegt Das 
Material, das bei dieser ausgedehnten schulpsychologischen Wirksamkeit ge¬ 
wonnen wurde, soll bei der Berufsberatung Verwendung finden. Besondere 
Berufseignungsprüfungen gesellen sich dazu. Die erforderliche Apparatur ist 
vorhanden. Das Institut, soweit es pädagogische Forschungsstätte sein soll, 
will auch psychotechnisch rein wissenschaftlich arbeiten. Es wendet sich dabei 
der Ausbildung neuer Prüfverfahren, der Rationalisierung der Arbeitsmethoden, 
der Ausbildung zweckmäßiger Anlemverfahren, ferner Fragen der Objektpsycho- 
technik usf. nach dem auftretenden Bedürfnisse zu. Schöpfer der umfassen¬ 
den Idee ist der Stadtschulrat Senator L. Grote; mit der Einrichtung und 
Leitung wurde der Fachpsychologe W. Hi sc he beauftragt. 

Eine Sonderausstellung «Die deutsche Schule“ wird sich im Rahmen der 
Mitteldeutschen Ausstellung in Magdeburg — Juni bis September 1922 — 
befinden. Sie ist geleitet von dem ^Gedanken, daß an dem Wieder¬ 
aufbau des deutschen Vaterlandes die deutsche Schule an erster Stelle 
mitzuwirken hat. In den Erziehungsstätten soll ja dem deutschen Vaterlande 
das neue Geschlecht herangebildet werden, das Deutschland im Wettbewerbe 
der Nationen wieder ebenbürtig unter den Völkern auftreten läßt. Darum 
darf die Schule auf einer Ausstellung, die sich die Aufgabe stellt, den schlum¬ 
mernden Lebenskräften des deutschen Volkes neuen Antrieb zu geben und 
den Strebenden neue Wege zur Weiterentwicklung zu weisen, nicht fehlen. 
Geplant ist vor allem, in Gestalt einer großzügigen Lehrmittelausstellung alles 
Wesentliche auf dem Gebiete des Unterrichts und der Erziehung zur Dar¬ 
stellung zu bringen. Da sich in der deutschen Schule vielenorts neue Kräfte 
regen und vielfach neue Wege zur Erreichung des hohen Erziehungszieles 
begangen werden, soll besonders auf die neuzeitlichen Hilfsmittel, die die 
Lehrmittelindustrie zu bieten imstande ist, Gewicht gelegt werden. In Ver¬ 
bindung damit werden durch eine Reihe von Lehrerverbänden und Schul¬ 
fachvereinigungen in Sondergruppen einzelne Abteilungen aus den verschie¬ 
densten Gebieten durch Arbeiten aus der Schule zur Darstellung gelangen. 
Durch dieses innige Zusammenarbeiten von Lehrmittelindustrie und Lehrer¬ 
schaft wird es möglich sein, das Schulwesen auf der Mitteldeutschen Aus¬ 
stellung so zxun Ausdruck zu bringen, wie es seiner Bedeutung entspricht. 
Die Lehrerschaft bekundet an der Veranstaltung ein lebhaftes Interesse. Es 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


ist neben einer Reihe von Tagungen, die einen großen Zustrom erwarten 
lassen, eine vom Preußischen Lehrerverein vorbereitete „Schulpolitische und 
pädagogische Woche“ in Aussicht genommen. In ihr werden die namhaf¬ 
testen Führer auf dem Gebiete der Schulpolitik und der neueren Pädagogik 
zu Worte kommen. 

Der Gliederungsplan zeigt folgende Abteilungen: 

A. Allgemeine Lehrmittelausstellung durch die Lehrmittelindustrie. 

B. Schulausstellung durch die Lehrerverbände und Schulfachvereinigungen. 

1. Gruppe: Historische Ausstellung: Sammlung wertvoller Lehr-und Lernmittel aus aller Zeit. — 
2. Gruppe: Kindergarten: Ausstattungsgegenstände, Modelle bestehender Kindergärten, Kinder¬ 
gartenliteratur, Uas Kindergärtnerinnenseminar — 3. Gruppe: Die Volksschule: Die Grundschule, 
neuzeitlicher Grundschulunterricht. — 4. Gruppe: Das Hilfsschulwesen. — 5. Gruppe: Die Fort¬ 
bildungsschule. — 6. Gruppe: Die Berufsschule. — 7. Gruppe: Die Höheren Schulen. — (Zu 
Gruppe 3—7: Moderne Schulhäuser in der Großstadt und auf dem Lande. Schulausstattungen. 
Künstlerischer Wandschmuck. Die Jugendbücherei. Der Werkunterricht. Der Handarbeits¬ 
unterricht. Der Haushaltungsunterricht) — 8. Gruppe: Die Volkshochschule. — 9. Gruppe: 
Die Universität. — 10. Gruppe: Spiel und Sport. — 11. Gruppe: Jugendwandern und Jugend¬ 
herbergen. — 12. Gruppe: Ausstellung des städtischen Schulwesens. 


Nachrichten. 1. Der a. o. Professor Dr. Hans Henning an der Universität 
Frankfurt a. M. hat einen Ruf auf den neugegrtindeten Lehrstuhl für Philo¬ 
sophie, Psychologie und Pädagogik an der Technischen Hochschule in Danzig 
erhalten. 

2. Geheimer Rat Dr. Wilhelm Ostermann in Berlin, auf erziehungs¬ 
wissenschaftlichem Gebiete bekannt durch seine Schriften: „Lehrbuch der 
Pädagogik“, „Die Irrtümer der Herbartschen Psychologie“, „Das Interesse“, 
ist am 31. Januar im Alter von 72 Jahren gestorben. 

3. Ende Februar d. Js. starb Dr. Alois Hofier, Professor der Philosophie 
und Pädagogik an der Universität Wien, dessen Wirksamkeit besonders der 
Didaktik der naturwissenschaftlich-mathematischen Fächer galt. 

4. Eine Ausstellung japanischer Schulkinderzeichnungen hat das 
Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin veranstaltet. Ange¬ 
schlossen ist eine deutsche Sammlung, die aus Schulen in Berlin, Essen, 
Düsseldorf und Hamburg stammt und als Austauschgabe für Japan bestimmt ist. 

5. In der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität 
Frankfurt a. M. sind dem Stadtschulrat Dr.-Ing. Barth zur Vertretung der 
Gewerbepädagogik und dem Studienrat Dr. Wagner zur Vertretung der 
Jugendkunde Lehraufträge erteilt worden. 

6. Zum 1. Vorsitzenden der Jubiläumsstiftung für Erziehung 
und Unterricht wurde Staatssekretär Prof. Dr. Becker (Preußisches 
Ministerium f. Wissenschaft, Kunst u. Volksbildung), zum stellv. Vorsitzenden 
Staatssekretär Schulz (Reichsministerium des Innern) gewählt Mit der 
Geschäftsführung des Vorstandes wurde Geh. Oberregierungsrat Prof. Dr. Pallat 
betraut, dem auch die Leitung des Zentralinstituts für Erziehung und Unter¬ 
richt auf weiterhin übertragen wurde. 

7. In der ersten Augustwoche wird an 4—5 Tagen in München, voraus¬ 
sichtlich in den Räumen der psychiatrischen Klinik, ein heilpädagogischer 
Kongreß stattfinden. Diese Veranstaltung, deren Wiederkehr in regelmäßige n 
Zeiträumen — etwa alle zwei Jahre — geplant ist, soll über den neuesten 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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Stand der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gesamtgebiet der Heil- 
pädagogik orientieren. Voranmeldungen von Heilpädagogen (Hilfsschullehrern, 
Taubstummenlehrern usw.), Ärzten, Psychologen, Lehrern, Fürsorgeerziehem, 
Geistlichen, Jugendrichtern, insbesondere auch zu Vorträgen, Demonstrationen 
und Forschungsberichten, werden schon jetzt an Hans Göpfert, Lehrer am 
Versorgungs-Krankenhaus für Hirn verletzte, München, Kaulbachstraße 63 a, 
erbeten. Die Tagung steht außerhalb jeder Standesvereinigung und will die 
Interessenten aus den verschiedenen Berufen zusammenführen. Gegenstände 
dieses ersten Kongresses werdfen die Aufgaben der „Ausbildung der Heil¬ 
pädagogen“, sowie die „Einführung der Volksschullehrer in heilpädagogische 
Fragen im Rahmen der künftigen Lehrerbildung“ sein. 

8. Nach dem Vorgang anderer deutscher Großstädte beabsichtigt auch 
Magdeburg bei seiner Schulverwaltung von Ostern 1922 ein wissenschaft¬ 
liches Institut für Jugendkunde zu errichten, das den Lehrern aller 
städtischen Schulen Gelegenheit bieten soll, sich unter fachmännischer Leitung 
in die Probleme der modernen Psychologie einzuarbeiten. 

9. Das Institut für Kulturforschung in Berlin hat zusammen mit 
dem Comenius-Film eine Filmfolge „Kind und Welt* vorbereitet, die päda¬ 
gogische Ziele verfolgt. Sie will. Kinderleben, Kinderarbeit, Kinderspiel in 
städtischer und ländlicher Umwelt im Lichtbild auffangen. Als erster Film 
wurde in der Urania „Das Großstadtkind und die Gartenarbeitsschule“ vor¬ 
geführt. 

10. Das Fürsorgeseminar der Universität Frankfurt a. M. (Leitung: 
Prof. Klumker) veranstaltet auch in diesem Jahr wie 1920 und 1921 einen 
Kursus über Jugendfürsorge, der Akademiker aller Fakultäten für die 
soziale Arbeit schulen will. Während des Universitätssemesters von Mai bis 
Juli wird eine theoretische Einführung in die Probleme der Fürsorge und 
ihre wissenschaftliche Behandlung gegeben; ein praktisches Halbjahr (August 
bis März) mit Arbeit in Jugendämtern, Erziehungsanstalten ‘und bei Organi¬ 
sationen der freien Wohlfahrtspflege gibt lebendige Anschauung von den Auf¬ 
gaben der Fürsorge. Für Philologen ist die Teilnahme am Kursus empfehlens¬ 
wert, besonders für solche, die bei der Überfüllung des Lehrerberufes an 
einen Berufswechsel denken; aber auch für diejenigen, die im Beruf verbleiben 
wollen, bedeutet die Erörterung pädagogischer und psychologischer Einzel¬ 
fragen im Rahmen des Jugendfürsorgekursus eine Neuorientierung und wert¬ 
volle fachliche Weiterbildung. — Nähere Auskunft über den Kursus geben 
das Fürsorgeseminar der Universität Frankfurt a. M. (Stiftstr. 30) und das 
Berufsamt für Akademiker Frankfurt a. M. (Universitätsgebäude). 

11. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin 
veranstaltet vom 24. April bis 15. Mai d. Js. eine Vortragsreihe über die 
Psychischen Grundlagen der Jugendpflege; es behandeln: Ministerial¬ 
rat Dr. Ziertmann, Berlin: „Die Soziologie der Jugendlichen“; Privatdozent 
Dr. Charlotte Bühler, Dresden: „Willensentwicklung der Mädchen“; Pfarrer 
Mennicke, Berlin: „Die Bildung der Jugendlichen als sozial-psychologisches 
Problem“; Dr. Ernst Lau, Berlin: „Die Jugendlichen und ihr Beruf“; 
Dr. Walter Hoffmann, Leipzig: „Das Pathologische in der Entwicklung der 
Jugendlichen“. 

12. Eine Hochschulwoche findet zu Pfingsten d. Js. (1.—7. Juni) an 
der Universität Frankfurt a. M. statt. Die Vorlesungen gliedern sich in die 


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Literaturbericht 


vier Gruppen: Jugendkunde, Verfassung und Wirtschaftsordnung, Praktika, 
Ergänzende Veranstaltungen. 46 Redner werden in 110 Stunden Ober ihre 
Sondergebiete berichten. Den mit der Berufsberatung zusammenhängenden 
Problemen ist, da sich die deutsche Gewerbeschultagung anschließen soll, ein 
angemessener Raum zugewiesen worden. Unter anderem sprechen: Ministerial¬ 
rat Dr. Kühne über Jugend und Beruf; Studienrat Dr. Wagner über die 
Psychologie des Jugendlichen; Prof. Dr. Henning über die Psychotechnik 
der Arbeite- und Lernvorgänge; Alex Menne über die Organisation der Be¬ 
rufsberatung und die Aufgabe der Berufsämter; Emma Loewe über Probleme 
der weiblichen Berufsberatung; Prof. Dr. v. Düring über die seelischen Ent¬ 
artungen, ihre Erkennung und erzieherische Behandlung; Dr. Rosenstock 
über die Akademie der Arbeit und die Arbeiterbildung. 

Die auf Veranlassung des Städtischen Berufsamts der Tagung angegliederte 
Ausstellung über Berufsberatung und Eignungsprüfung wird fünf 
Gruppen umfassen: 

,1. Darstellung der historischen Entwicklung der Berufsberatung in Deutschland, besonders 
der Frauenbernfsberatung. 

II. Darstellungen aus der praktischen Arbeit der Berufsämter. 

1. Organisation der Berufsfimter. 

2. Formulare. 

3. Tätigkeitsberichte (statistisch und graphisch). 

4. Zusammenarbeit mit Schulen, soz. Fürsorge usw. (Mappen). 

6. Spezielle berufskundliche Beurkundungen. 

III. Darstellungen aus der wissenschaftlichen Arbeit der Forschungsinstitute. (Kurven, 
Berufsanalysen, Begabungsforschung). 

VI. Psychotechnik und Eignungsprüfung (Apparate, berufskundliche Filme). 

V. Die gesamte Literatur zur Berufsberatung und Eignungsprüfung. 

Auskünfte erteilt das Städtische Berufsamt, Frankfurt a. M., Klapperfeld¬ 
straße 10. 


Literaturbericht. 

Selbstanzeigen. 

Dr. Walter Hoffmano, Die Reifezeit, Probleme der Entwicklungspaychologie 
und Sozialpädagogik. Leipzig 1922. Quelle & Meyer. 256 S. Geb. 60 M. 

Inhal t: 1. Das Prinzip der seelischen Resonanz, 2. Zergliederung des Voretellungslebens, 
3. Die Kindheit, 4. Die geistige Reifung, 6. Die geschlechtliche Reifung, 6. Die soziale Reifung, 
7. Jugendkultur, 8. Literaturnachweis. 

Aus einer Vortragsfolge, die ich im Wintersemester 1919/20 un Institut für Erziehung, Unter¬ 
richt und Jugendkunde an der Universität Leipzig gehalten habe, ist »diese Arbeit entstanden. 
Man wollte von mir wissen, wie ich mich als Jugendrichter und Berater größerer Kreise der 
Jugend mit den mannigfachen Problemen abgefunden hätte, die gerade der Reifezeit eigentümlich 
sind. Das sind Fragen, die nicht allein den Erzieher angehen, sondern fast auf alle Lebens¬ 
gebiete übergreifen, an denen namentlich der Arzt und der Jurist, der Sozialhygieniker und 
Sozialpolitiker in gleicher Weise Anteil nehmen. Die Hauptschwierigkeit der mir gestellten Auf¬ 
gabe lag darin, daß uns vorläufig eine abgeschlossene Entwicklungspsychologie als wissen¬ 
schaftliche Grundlage fehlt, so daß irgendwie diese Lücke ausgeglichen werden mußte. Ferner 
mußten die Verbindungslinien zwischen der Normalpsychologie und der Psychopathologie auf¬ 
gesucht werden, da diese kritische Entwicklungszeit regelmäßig auf einem Grenzgebiete ver¬ 
läuft. Um außerdem zu einem tieferen Verständnis der Verwahrlosung und Kriminalität zu ge¬ 
langen, waren selbst kulturphilosophische Fragen allgemeiner Art zu berühren. Auf dem sechsten 
Kapitel über „Die soziale Reifung“ mit seinen Ausführungen über die historische und soziale 
Bedingtheit der Seelenstruktur ruht geradezu das Schwergewicht der ganzen Arbeit, doch ist es 
zu seinem Verständnisse notwendig, die Entwicklung der Gedanken von Anfang an zu ver- 


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Literaturbericht 


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folgen. — Also eine Fülle von Problemen, die alle au! einmal zu behandeln waren 1 Aber 
vielleicht ist es ihre Eigentümlichkeit, daß sie nur als Ganzes genommen zu einer Lösung ge¬ 
führt werden können. Als ersten Schritt hierzu habe ich den Versuch unternommen, sie aus 
ihrer Zersplitterung in Einzel Wissenschaften herauszuheben, um gerade die Zusammenhänge 
zwischen der Reifezeit und ihren Problemen mit der Gesamtkultur klar zu beleuchten. Denn, 
das eine ist sicher: Das, womit unsere beranreifende Jugend ringt und woran sie leidet, sind 
die letzten großen Fragen des Menscbendaseins überhaupt. Zunächst nur unklar geahnt, oft falsch 
gedeutet, in der äußeren Form wechselnd, tauchen sie bei jedem mit dem erwachenden Be¬ 
wußtsein der Individualität auf und erschüttern tief das Ich in dem Gefühle der seelischen Ein¬ 
samkeit So beschränkt das Denken, so verfehlt die Lebensführung auch geraten sein mag, in 
irgendeiner Variation klingt dieses tragische Motiv immer wieder durch. Der Schlüssel zum 
Verständnisse der Jagend liegt eben darin, daß wir sie durchaus „ernst nehmen“. 

Dr. Charlotte Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und 
Theorie der psychischen Pubertät. Jena 1922. Fischer. VI u. 108 S. Geb. 22 M. 

Dieses Buch will zeigen, wie man das Wesen der psychischen Pubertät aus ihrem 
biologischen Sinn heraus verstehen kann. Biologisch ist der Sinn der Pubertät der, daß sie die 
PaarungBmöglichkeit entwickelt. Hieraus ergibt sich als psychologischer Grundzug der Pubertät 
-die Ergänzungsbedürftigkeit, die Sehnsucht. Das Gefühlsleben des Jugendlichen wird aus 
dieser Wurzel heraus verstanden und analysiert, der Entwicklungsgang, den der Jugendliche über 
Freundschaft, Schwärmerei und Liebe zur Erfüllung seines Ergänzungsbedürfnisses nimmt, aufgezeigt. 
Wie die mit der Pubertät neu auftretenden Instinkte verschiedene Züge des jugendlichen Gefühls¬ 
lebens erklären, 'so bilden sie auch die Grundlage zum Verständnis des jugendlichen Willens¬ 
lebens. Die neu einschießenden Triebe der Pubertät zerstören das geordnete Wollen des Kindes 
und erfordern einen Neuaufbau des Willenslebens in der Pubertät, der dem Aufbau des kind¬ 
lichen Willenslebens parallel geht. Der Aufbau vollzieht sich beide Male in vier Stadien: nach¬ 
einander treten das Triebbegehren, das Wollen als inhaltsleere Funktion, das Zielsetzen und das 
Werterleben auf. Im Willensleben zeigt sich besonders charakteristisch die Wendung in der 
gesamten Lebenseinstellung, die der Jugendliche von der Pubertät zur Adoleszenz hin vollzieht, 
nämlich von der Verneinung des Lebens zur Bejahung. Bei der Behandlung des jugendlichen 
Intellektes werden die neuen Forschungen von Jaensch über die optischen Anschauungsbilder 
verwertet, und es wird diese Eigentümlichkeit des jugendlichen Intellektes dabin erklärt, daß in der 
Pubertät vermutlich eine starke Abtrennung des dialektischen und abstrakten Denkens von der 
Anschauung erfolgt, so daß beides zum ersten Mal stark isoliert und gesteigert auftritt. Einige 
prinzipielle Grundgedanken zur Ethik und Religiosität, zum Kunst und Literaturverständnis des 
Jugendlichen sowie eine nach Möglichkeit vollständige Literaturübersicht über das Gebiet be¬ 
schließen das Buch. 

Oberstudiendirektor Prof. Dr. H. Gaudig, Freie geistige Schularbeit in Theorie und 
Praxi8. Im Aufträge des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht herausgegeben. 
Breslau 1922. F. Hirt 291 S. 50 M. 

Unser Buch gibt die Vorträge und die Lektionen wieder, die unsere Arbeitsgemeinschaft der 
n. höheren Schule für Mädchen und des Lehrerinnenseminars zu Leipzig während der Päda¬ 
gogischen Woche (vom 81. Januar bis 3. Februar 1921) gehalten hat. Der letzte Zweck der 
Veranstaltung war die Einführung einer neuen Form der Darstellung und des Austausches 
pädagogischer Anschauungen. Dem starken Trieb unserer Zeit nach persönlichem Meinungs¬ 
austausch und unmittelbarer, anschaulicher Erkenntnis pädagogischer Tatsächlichkeit sollten die 
in der Leipziger Woche angewandten Verkebrsformen dienen. Demselben Zweck diene auch 
unser Buch. 

In unserem Buche spricht sich eine Lebensgemeinschaft aus, die von der Wahrheit eines 
pädagogischen Grundprinzips, des Prinzips der freien geistigen Arbeit, Überzeugt ist und 
nach diesem Prinzip ihr Bildungswirken gestaltet. Was unsere Gemeinschaft unter freier geistiger 
Arbeit verstanden haben will, legt sie in Vorträgen dar; die unterrichtliche Verwirklichung 
sollen die Lektionen zeigen. 

Die Vorträge wollen kein Dozieren ex cathedra; keine Mitteilung pädagogischer Dogmen mit 
einem „anathema esto“ für Andersgläubige und Andersdenkende. Vor allem sollen sie Unter¬ 
lagen für Aussprachen sein; eine Absicht, die leider auf der Pädagogischen Woche nicht voll 
verwirklicht wurde. Vielleicht regen die gedruckten Vorträge nachtiäglich noch an zu geistigem 
Meinungsaustausch über Berg und Tal hinweg. Fruchtbarer als die Aussprachen nach den Vor- 


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Literaturbericht 


trägen erwiesen sich die Besprechungen der Lektionen; der konkrete Stoff gab dem 
Meinungsaustausch klare und bestimmte Ansatzpunkte und dem gesamten geistigen Verkehr 
eine erfreuliche Blutwärme. Die Leser unseres Buches erfahren hoffentlich an den allerdings 
sehr knappen Darstellungen der Lehrstunden den Anreiz zu pädagogischer Fragestellung. 

Unsere theoretischen Darlegungen und unsere Lektionen standen in bewährter und ge¬ 
wollter Wechselbeziehung; wir batten aber doch die Schwierigkeit des Hin- und Herbeziehens 
unterschätzt. Nun bietet unser Buch die Möglichkeit ruhigen Hiniiberscbauens von Theorie za 
Praxis und von Praxis zu Theorie. Fast das gesamte Kollegium unserer Schule ist an der Ab¬ 
fassung des Buches beteiligt. „Ein schriftstellerndes Kollegium das“ — könnte man meinen. 
Aber wir wollen uns nicht in einer geschlossenen Einheit der Meinungen darstellen. Weder in 
der Theorie noch in der Praxis sind wir einheitlich; hoffentlich fehlt es unserem Buche dann 
auch nicht an „Unstimmigkeiten“. Aber es dürfte nichts in Unserer Gesamtarbeit zu finden sein, 
woraus man nicht die starke Wirkung jenes einheitlichen Grundprinzips zu erkennen vermöchte, 
das unserem Buche Inhalt und Titel gegeben hat. 

Die organisierende Kraft unseres Arbeitsprinzips kann man in unserem Buche einmal in 
radialer Betrachtungsweise auf allen einzelnen Fachgebieten studieren, anderseits in den Sektoren 
der Arbeit am anschaulichen Objekt, am Schrifttext, der gesamten entwickelnden Arbeit lm 
Mittelpunkt aller Betrachtungen aber steht der „Arbeitsvorgang 41 , in dessen Gestaltung sich 
die freie geistige Arbeit auswirkt. 

Bisher hat die literarische „Publikation“ einseitig den geistigen Verkehr auf pädagogischem 
Gebiet beherrscht; wir würden glauben, dem Fortschritt des pädagogischen Lebens ein wenig 
gedient zu haben, wenn wir diesem Verkehr durch die „Publizität“ dienten, mit der wir die 
Theorie und Praxis unserer freien geistigen Arbeit dargestellt haben. Pädagogik ist scientia 
ad praxin; es müßte darum eigentlich von Nutzen sein, wenn die Theorie der Praxis und die 
Praxis selbst dargeboten würde. 


Einzelbesprechungen, 

Dr. Georg Hagemann, Psychologie. Ein Leitfaden für akademische Vorlesungen, sowie 
zum Selbstunterricht. Vollständig neu bearbeitet von Dr. Adolf Dyroff, Professor an der 
Universität Bonn. Neunte und zehnte verbesserte Auflage. Mit 27 Abbildungen. Freiburg L Br. 
1921. Herder. 348 S. 60 M. 

Durch völlige Umarbeitung eine überalterte Psychologie zu modernisieren, ist für den Heraus¬ 
geber eine wenig dankbare Aufgabe, mit der weder einem Werke, das seinen festen Platz in 
dem geschichtlich gewordenen Schrifttum gewonnen hat, gedient ist, noch der zeitgemäßen 
Fachliteratur, die ja an psychologischen Lehrbüchern keinen Mangel hat. Wenn Dyroff die 
„Psychologie“ Georg Hagemanns, die den 1868 gegründeten Elementen der Philosophie zu¬ 
gehört, auf einen Stand zu bringen versuchte, daß sie auch weiterhin noch ein ausreichendes 
Bild des in starker Bewegung begriffenen Gebietes gewährt, so drängte er mit geschickter Hand ganze 
Teile, in die heute nur in ausführlichen Darstellungen Einsicht zu gewinnen ist, knapp zusammen und 
gewann damit Raum für den Einbau neuerer Forschungsergebnisse. Der Grundstil des Buches 
blieb dabei gewahrt; die neueren Wendungen der Psychologie beunruhigen es nicht So hat es 
auch seine Dreiteilung in psychologische Analyse, psychologische Synthese, psychologische 
Spekulation gewahrt. Durchweg ist ferner der Begriffsbestand der älteren Psychologie bei¬ 
behalten worden. Soll ein Vorzug des Buches genannt sein, so sei verwiesen auf die klaren 
Auseinandersetzungen über die philosophischen Fragen und Theorien, an die das psychologische 
Denken heranführt. Die Erörterungen des Für und Wider geschehen dabei* vom Standorte 
katholischer Weltanschauung aus. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Th. Zell, Das Gemütsleben in der Tierwelt. Erlebnisse und Beobachtungen. Dresden 1921. 
Carl Reißner. 234 S. 

Wir nennen dieses Buch nur, um diejenigen vor einer schlimmen Enttäuschung zu bewahren, 
die etwa — vom Titel irregeführt — in ihm eine wissenschaftliche Gabe vermuten könnten. 
Denn Th. Zell stellt ein Beispiel dafür dar, wie ein gefühlvoller Naturfreund mit unbekümmerter 
Naivität tierisches Seelenleben naiv vermenschlicht. Dabei stützt sich Zell in aller Harmlosigkeit, 
ohne auch nur die geringste Quellenkritik, vielfach auf älteste Tiergeschicbtchen und auf nied¬ 
liche, unterhaltsame Erzählungen von allerlei Tierfreunden. Abschnitte wie „Gibt es mitleidige 
Tiere?“ und „Haben Tiere ein Gottesbewußtsein?“ könnten fast nicht geschickter geschrieben 


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werden, wenn man absichtlich die anthropomorphisierende Tierpsychologie des warmherzigen 
Laien karikieren wollte. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

E. Study, Denken und Darstellung, Logik und Werk, Dingliches und Mensch¬ 
liches in Mathematik und Naturwissenschalten. (Sammlg. Vieweg, H.59). 43S. 

St. entwickelt in angenehmer, nach Gerechtigkeit strebender, gar nicht anmaßender Polemik 
gegen Pasch (Mathematik und Logik, Leipzig 1919) seine Anschauung, die sich freihölt von Eukli¬ 
discher Starrheit und die aus Unkenntnis so oft verlästerte Mathematik — auch im Schulbetriebe — 
zu dem machen will, was sie ihrem innersten Wesen nach ist: zu einer lebendigen, fröhlichen 
Wissenschaft. Das kleine Büchlein vermag dem Mathematiker und Naturwissenschaftler jeder 
Schattierung eine Fülle wertvoller Anregungen zu geben, vor allem auch dem Pädagogen und 
Psychologen (Intuition, Geschichte der Mathematik, Eigenwert der Persönlichkeit). 

Leipzig. Woldemar Voigt 

Marie Coppius, Pflanzen und Jäten in Kinderherzen. Erlebtes und Erfahrenes für 
Mütter und Erzieherinnen. 3. Aufl. Leipzig 1919. Teubner. 139 S. 2,20 M. 

Diese liebenswürdige Erziehungsschrift, die meines Wissens auch gern in Frauenscbulen 
zur Belebung des Unterrichts benutzt wird, ist vornehmlich aus Kindergarten-Erfahrungen heraus¬ 
gewachsen — aus Erfahrungen, die mit einer „verstehenden Psychologie* pädagogisch aus¬ 
gebeutet werden. Daß solche Darstellungen mit ihren anmutigen Bildern aus dem Kinder- und 
Hausleben und ihrem unterhaltsamen Geplauder für die deutsche Mutter ein Bedürfnis sind, 
beweist — wenn man es sonst nicht schon wüßte — der schnelle Vertrieb der ersten und 
zweiten Auflage des Buches. Man übersehe indessen nicht, wie die Elternschaft mehr und mehr 
auch pädagogische und psychologische Belehrungen von wissenschaftlichem Gepräge verlangt. 
Es scheint eben doch, daß man in weiteren Kreisen erkennt, welche weittragende Bedeutung 
für alles erziehliche Tun in Haus, Schule und Leben der neueren kinderpsychologischen Forschung 
innewohnt. So sollten darum auch die Erziehungsbücher von der Art des vorliegenden den 
Erkenntnisertrag gelehrter Untersuchung in ihre volkstümlichen Darstellungen einzuschmelzen 
versuchen. Dieser Hinweis nur nebenbei als Randbemerkung zu einer etwas konfusen Äußerung 
im Vorwort der von mir seit dem ersten Erscheinen geschätzten Schrift. 

Leipzig. Otto Scheibner. 


R. Gürtler, Triebgemäßer Erlebnisunterricht. Ein Beitrag zur Praxis der Heilpäda¬ 
gogik und der Arbeitsschule. Halle a. S. 1921. Marhold. 80 S. mit 39 Abbildungen. 8 M. 

Die Schrift vereinigt drei Kongreßvorträge, die auf den Grundgedanken einer entwicklungs¬ 
getreuen Erziehung eingestimmt sind und eine Gestaltung des Schullebens im vertieften Sinne 
der Arbeitsschule vertreten, beides vornehmlich am Beispiele des gesinnungsbildenden Unter¬ 
richts darlegend. Dabei wird nicht übersehen, daß alle Erziehung keineswegs einzig vom Kinde 
aus seine Rechtfertigung empfängt, sondern auch kulturellen Forderungen genügen muß. Be¬ 
wegt sich das Buch vor allem im Gebiete der Heilpädagogik, so ist aus seinen echten Grund¬ 
stimmungen und seinen Leitgedanken doch auch Wesentliches für allgemeines erziehliches 
Denken und Wirken zu gewinnen. Sch. 


Wilhelm Raatz, Dein Sorgenkind. Sein Wesen und seine Rettung. Volkstümliche Vor¬ 
träge. Halle a. S. 1921 Marhold. 48 S. 4M. 

Ein ansprechender Versuch, die Elternschaften der Hilfsschulen auf verständnisvolle Mit¬ 
arbeit am heilpädagogischen Werke einzustellen. Müßten aber die Erörterungen über das 
Wesen körperlicher und seelischer Untüchtigkeit doch nicht etwas tiefer führen? Man soll das 
Aufklärungshrdürfnis und das Verständnis' der Schuleltern, die ja vor dem Lehrer eine viel in¬ 
timere Kenntnis ihrer Kinder aus jahrelanger Beobachtung voraushaben, nicht unterschätzen! 

Sch. 

Franz Frenzei, Leiter der städt Hilfsschule zu Stolp, Wesen und Einrichtung der 
Hilfsschule. Halle 1920. Marhold. 128 S. 5.50 M. 

Bei der Bedeutung, die im Gesamtbilde der Hilfsschule dem Bestimmungsstück „Schüler" 
zukommt, hätten wir gewünscht, den Abschnitt, der diesem gewidmet ist, noch weiter ausgebaut 
zu sehen. Es sei aber anerkannt, daß Frenzei mit Geschick im Rahmen seines Buches aus.der 
Hilfsschülerkunde ausgewählt und inhaltlich gut dargestellt hat, was psychologisch-praktischer 


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Literaturbericht 


Art ist. So sind es besonders die beiden Gebiete der „Schüleraaswahl und der Schülerbeobach¬ 
tung 41 , die er unter der Oberschrift „Der Hilfsschüler 41 behandelt Daß er dabei Beispiele für 
Testreihen zu Intelligenzprüfungen, für Fragebogen und Personallisten in die Darstellung auf¬ 
nimmt, war angebracht und ist mit glücklicher Auswahl geschehen. 

* Das Bach ist der 2. Band eines „Handbaches des Hilfsschulwissens 41 . Sein Vordermann 
gibt die Geschichte des Gebietes; der 3/Band soll der inneren Pädagogik gewidmet sein, and 
für den Schlußteil ist die Lehre von den sprachlichen Erscheinungen in Aussicht genommen. 
Es fehlt also auch im Gesamtwerke eine geschlossene Darstellung über die Verfassung de» 
Hilfsschülers — seine Anthropologie, Psychologie und Soziologie. Damit genügt das Handbuch, 
nicht völlig seiner Aufgabe, eine „Darreichung* für die Zwecke der Hilfsschullehrerprüfung zu 
werden. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. phil. E. Dickhoff, Stadt- und Kreisschulinspektor in Berlin, Das Problem des Krüppels 
und Richtlinien für die Erziehung des Krüppelkindes. Heft 138 der Beiträge zur 
Kinderforschung und Heilerziehung. Langensalza. Beyer & Sö. 29 S. 0,60 M. 

Auf diese Abhandlung, die ihrem Gegenstände nach allen Seiten — auch der geschicht¬ 
lichen — nachgeht, sei hier aus einem doppelten Grunde hingewiesen: einmal, weil Dickhoff als 
Voraussetzung einer gedeihlichen Krüppelpädagogik nachdrücküchst die exakte psycho¬ 
logische Untersuchung der bresthaften Stiefkinder der Natur verlangt (S. 18—20) und be¬ 
stimmte experimentelle Forschungen unter eigener Leitung in Sicht rückt (S. 22), und sodann» 
weil die Ausführungen der Schrift unserem Volke helfen können, starkherzig und opferwillig 
seinen Kriegsversehrten zu begegnen. Sch. 

Prof. Dr. J. Trumpp, Kleinkinderpflege. Körperliche Entwicklung und Körperpflege 
des Kindes im zweiten bis siebenten Lebensjahre. Mit 84 Abb. und 2 Tabellen. Stuttgart o. J. 
J. Moritz. 171 S. 

Das Buch gehört der bekannten Sammlung „Bücherei der Gesundheitspflege 41 an. Zu ihr 
hat Trumpp schon früher ein Bändchen „Säuglingspflege 11 und ein anderes „Körper- und Geistes- 
pflege im schulpflichtigen Alter 11 beigesteuert. Sein neuer Beitrag schließt also eine Lücke. Da 
Trumpp sich nur auf die körperliche Pflege beschränkt, genügt hier die einfache Anzeige seiner 
gut ausgestatteten und den beiden Vorgängern in nichts nachstehenden Schrift. Er stellt aber 
in einem weiteren Bande eine Darstellung der geistigen Entwicklung und Erziehung in Aussicht. 

Tr. 

Geheimrat Prof. Dr. Peiper, Direktor der Universitätsklinik in Greifswald, Wandbilder 
zur Säuglingspflege. Leipzig 1917. R. Schick. 18,00 M. 

Für den Unterricht in der Säuglingspflege bieten die uns vorliegenden Wandbilder nicht nur 
ein stofflich und methodisch wertvolles, sondern zugleich auch ein ausgesprochen schönes Lehr¬ 
mittel. Sie behandeln auf vier großen Tafeln das Ankleiden, Tragen und Baden. Was aus den 
Bildern in geschickter unterrichtücher Verwertung herauszoheben ist — viel mehr als es beim 
ersten Zuschauen scheinen mag — zeigt ein Begleitwort von Else Jamler. Sch. 

Dr. K. Finkenrath, Die Zensurfrage vom Standpunkte der Sexualpädagogik. 
Zeitschr. f. Sex.-Wiss. Bd. VHI. 1921. S. 161. 

Das Seelenleben der Jugend im Übergangsalter kann durch Darstellungen, die auf sinn¬ 
liche Leidenschaften hinzielen, schwer geschädigt werden. Die Gefahr der Unterdrückung viel¬ 
leicht künstlerischer Werte ist gering gegen die der Gefährdung der Jugend. Deshalb ist in 
einerVolksgemeinschaft, die die Absicht zu Jugendfürsorge und -schütz hat, Zensur Pflicht und Gebot. 

Ilse Spagunn, Sexuelle Erziehung der weiblichen Jugend durch die Schule. 
Zeitschr. f. Schulgesundheitspflege, 1920. S. 254. 

Die Schule muß die Familie in der sexuellen Erziehung der Kinder unterstützen. Dazu 
dienen Elternabende, Beiehrungsvorträge durch Lehrer oder Schularzt, Aussprachen unter vier 
Augen, Moralunterricht und Unterricht in Sozialethik. 

Dr. Kurt Finkenrath, Aufklärung. Eine Bewertung ihrer bisherigen Form. Zeitschr. 
f f Sexualw. VHI Bd. 1921. 

Die Aufklärung auf hygienischem und sexuellem Gebiete in der heute gepflogenen Form 
ist unzulänglich. Sie vermittelt nur Wissen. Ihr muß eine Erziehung des Willens und das 


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Literaturbericht 


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Schaffen eines sittlichen Wertgefühls zur Seite treten. Soll die Aufklärung Zweck haben, muß 
sie Denken, Fühlen und Wollen gleichmäßig beeinflussen. 

Prof. Dr. H. Scheit, Unsittliches Benehmen von Schulknaben. Ein Beitrag zur 
Frage der Koedukation. Zeitschr. f. Sozialwissenschaft. Bd. VIII. Heft 1. S. 19. 

Sch. betont anschließend an einen Fall, da die Pubertätsdummheiten einiger Knaben wegen 
der Anwesenheit von Mädchen als sitttliche Delikte aufgefaßt wurden, daß bei solchen Unge- 
zogenheiten das Sexuelle meist noch im Unterbewußtsein ruht, und er wendet sich gegen die Ko¬ 
edukation. Sie ist sowohl vom sittlichen als auch vom pädagogischen Standpunkte aus zu verwerfen. 

Lübau L Sa. Heinz Burkhardt. 

C. Rosenkranz, Rektor in'Kassel, Bevölkerungsfrage und Schule. Halle 1917. SchroedeL 
16 S. 0,60 M. 

Die Arbeit ist u. a. durch zwei Lehrplanentwürfe, der eine den Unterricht in der Säuglings¬ 
pflege als Ergänzung des naturkundlichen Unterrichts in einer Mädchenschule, der andere die 
Ausbildung von Lehrerinnen für dieses Fach behandelnd, einer Beachtung wert. Sch. 

Dr. Robert Drill, Die neue Jugend. Flugschriften der Frankf. Zeitung. Frankfurt a. M. 16 S. 

Das Heftchen berichtet, mit wärmerer Anteilnahme geschrieben, über die Verbände der 
deutschen Jugendbewegung nach ihrem Wollen und Wirken. Was über den Wandervogel, die 
Freideutschen und die sozialistische Jugend an Geschichtlichem und Gedanklichem vorgebracht 
wird, bietet dem Kundigen kaum Neues. Wohl aber dürfte manchem willkommen sein, daß 
Drill ausführlicher 'mit der Jungen protestantischen Bewegung der Neuwerker (— Sektiererei und 
kein Endel —) bekannt macht! Sch. 

Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Hochschulsonderkursus für Jugend¬ 
gerichtsarbeit. Heft 3 der Schriften des Ausschusses für Jugendgerichte und Jugend¬ 
gerichtshilfen. Berlin 1919. Zentrale für Jugendfürsorge. 71 S. 

Um zur Bekämpfung der Kriminalität der Jugendlichen auszurüsten, hatten das Kriminali¬ 
stische Institut der Berliner Universität und der Ausschuß für Jugendgerichte und Jugend¬ 
gerichtshilten im April 1918 einen Hochschulkursus abgehalten, dessen wesentliche Darbietungen 
in der vorliegenden Schrift der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Es handelt in ihr 
Prot Dr. Delaquis-Frankfurt über „Strafrecht“, Prof. Dr. Liepmann-Kiel über „Gerichtsverfassung 
und Strafrecht“, Amtsgerichtsrat Dr. Friedeberg-Berlin über „Jugendgerichtswesen“. Angefügt 
ist ein kurzer Oberblick von Prof. Dr. Kramer-Berlin über die Psychiatrie in der Jugendgerichts¬ 
arbeit, vorangestellt ein Nachruf für Franz von Liszt, der von seinen Anschauungen über die 
Verursachung und die Bekämpfung der Kriminalität aus als einer der ersten die Jugendgerichts^ 
barkeit aufgenommen hat. Tr. 

F. Fehr, Stimmen aus 'dem Schacht! Bergmanns Urteile über Erziehung und 
Schule. Arbeiterstimmen aus dem Ruhrtal. Fichtenau 1921. Verlag Gesellschaft und Er¬ 
ziehung. 55 S. 4M. 

Leider bietet das Schriftchen nicht viel mehr als eine interessante Materialsammlung. Es 
reiht an verbunden die Äußerungen aneinander, die erhalten wurden, als der Verfasser, früher 
Lehrer im Berggebiet, beim vertrauten Umgänge mit Bergmännern das Gespräch auf Erziehungs¬ 
fragen lenkte und als er andermal weit über 100 Fragebogen ausgegeben hatte. Unter den sieben 
Gedankengruppen, um die sich die Urteile bewegen, finden sich z. B.: „Was halten Sie für das 
Wichtigste in der Kindererziehung? Was haben Sie an den bestehenden Schuleinrichtungen 
auszusetzen? Wie denken Sie sich einen Lehrer, der das Vertrauen der Arbeiterschaft erhalten 
wül? Was gefiel Omen an Ihrer eigenen Schulzeit?“ Die Antworten geben wertvollste Auf¬ 
schlüsse — weniger in ihrem pädagogischen Gehalt als nach den lebensanschaulichen Bekennt¬ 
nissen, in denen sie wurzeln. So wird — um nur weniges zu nennen — eine tiefe, religiöse 
Sehnsucht offenbar, mag sich gleichwohl im Gebrauche eines verfügungsbereiten Schlagwort¬ 
besitzes — behaftet mit einem überstarken gefühlsmäßigen Werttone der Verachtung — vielfach 
eine grimme Feindschaft gegen die Kirche bekundet; so fällt der Wunsch auf nach einer tieferen 
Naturkenntnis; so will bemerkt sein, daß nahezu kein inneres Verhältnis zur Kunst besteht. Was 
über Schule und Lehrer im grundsätzlichen und einzelnen vorgebracht wird, erhebt sich wohl 
zumeist nicht über Naivitäten, Selbstverständlichkeiten, Nebensächliches und könnte fast als eint 


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Literaturbericht 


Zeugnis gegen die so schöne Forderung, die Gestaltung des Schullebens ii> die tätige, entscheidende 
Mitwirkung des ganzen Volkes zu bringen, benutzt werden. Indessen: inmitten belangloser Äuße¬ 
rungen leuchten doch hier und da auch allerfeinste pädagogische Gedanken auf, die schon 
durch ihre mitunter fast dichterische Prägung erkennen lassen, daß sie aus tiefem Grieben und 
nicht aus parteidoktrinärer Lehre entstanden sind. In den Abschnitten über die eigene Schulzeit 
ein Stück Kulturgeschichte des Lehrers und Pfarrers zu sehen, wie es der Sammler mit be- 
denklich unwissenschaftlichem Sinne in seiner „Einführung“ andeutet, wäre ein recht frag* 
würdiges Unternehmen. Wohl aber läßt sich einiges aus den Selbsterinnerungen kinder¬ 
pädagogisch auswerten. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Wetekamp, W., Selbstbetätigung und Schaffensfreude in Erziehung und Unter¬ 
richt. 4., vermehrte Aufl. Leipzig 1919. B. G. Teubner. VI u. 119 S., sowie 20 Tafeln. 

3 M., dazu die Teuerungszuschläge. 

Die in der modernen Pädagogik Gemeingut gewordenen Gedanken der Arbeitsschule and 
des Werkunterrichtes werden auf den praktischen Unterricht, vor allem auf den Lese-, Schreib» 
und Rechenunterricht im ersten Schuljahr angewendet, das Formen mit Ton und Plastulin, daa 
Zeichnen und der Handfertigkeitsunterricht in den Mittelpunkt des Unterrichtsverfahrens gestellt. 
In einem Anhang gibt Paul Borchert einen ausführlichen Lehrplan nach den Grundsätzen dea 
Werkunterrichtes in den ersten drei Schuljahren. 

Eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verfassers würde als Kritik des Werk¬ 
unterrichtes überhaupt zu weit führen. Es möge nur darauf hingewiesen werden, daß Kerschen- 
eteiner, einer der Führer der Arbeitsschulbewegung, sich gegen die Auffassung wendet, das Arbeit*» 
prinzip erschöpfe sich in der Handbetätigung, in Formen, Basteln und Zeichnen. Vom Stand¬ 
punkt der experimentellen Pädagogik müssen wir eines besonders betonen: Ober die Vor- and 
Nachteile des Werkunterrichtes ist wahrlich genug gestritten worden. Bedeutsamer als theore¬ 
tische Auseinandersetzungen sind die praktischen Versuche. Ich weiß nun nicht, welche Er¬ 
fahrungen anderwärts gemacht wurden. Tatsache ist, daß in den Grazer höheren Schulen seit 
der Einführung des Werkunterrichtes an den Grazer Volksschulen die Klagen Über die völlig 
unzureichende Vorbildung der Kinder nicht aufhören, daß in den beiden untersten Klassen der 
Gymnasien schon verschiedene Maßnahmen getroffen werden mußten, um die argen Versäum¬ 
nisse der Volksschule wettzumachen. Und das allgemeine Urteil der Elternschaft: Früher wurde 
in der Schule gelernt und zu Hause gespielt, heute müssen die Eltern mit den Kindern zu Hause 
lernen, da in der Schule nur gespielt wird. 

Diese Erfahrungen geben zu denken. Man darf natürlich das Kind nicht mit dem Bade 
ausschütten. Der Arbeitsschulgedanke, besonders in der Kerscbensteinerschen Prägung der 
selbstlätigen Arbeit ist unanfechtbar, eine Durchführung, die nebensächliche Spielereien mit 
der Hauptsache verwechselt, aber anfechtbar. Es wäre nun eine dankbare Aufgabe der ex¬ 
perimentellen Forschung, die Erfahrungen und Ergebnisse des didaktischen Experimentes zu 
sammeln, psychologisch zu untersuchen und nach Erfolg und Mißerfolg zu werten. Einer auB 
Volks-, Mittelschul- und Oberlehrern zusammengesetzten Arbeitsgemeinschäft müßte es gelingen, 
die für die Pädagogik so wichtige Frage des Werkunterrichtes endgültig zu klären. 

Graz. OttoTumlirx. 

Dr. Willy Schulz, Direktor des Althoff-Realgymnasiums zu Nowawes. Innerliche Schul¬ 
reform. Johannes Müllers Gedanken über Erziehung und Unterricht. Nach seinen Heden 
und Schriften dargestellt. München 1920. 111 S. 

Der schulpädagogische Gehalt in den Gedankengängen Johannes Müllers erscheint uns — 
entgegen der Meinung des Verfassers — so wenig neu und für die Entwicklung unseres Sehul¬ 
lebens so belanglos, daß wir die Veröffentlichung in einer Zeit, in der nur Zeit zum Allerdring- 
lichsten ist, lür entbehrlich halten müssen, wiewohl man es verstehen mag, wenn ein begeistertes 
Mitglied der Gemeinde Johannes Müllers sich einer Sammlung der Scbulgedanken de*«Meisters 
persönlich widmet. »IY # 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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Pädagogische Typenlehre. 

Von Rudolf Lehmann. 

I. 

Wilhelm Dilthey hat bekanntlich die philosophischen Weltanschauungen, 
die in der Geschichte des spekulativen Denkens hervorgetreten sind und den 
großen Systembildungen zugrunde liegen, nach bestimmten Typen zusam¬ 
mengefaßt und geordnet. Er fand, daß die auf dem induktiven Wege der 
geschichtlichen Erkenntnis festgestellte Typenreihe zugleich eine systema¬ 
tische Ordnung bildet, die einem bestimmten Einteilungsprinzip entspricht 
Die erreichte Induktion ist Bomit eine vollständige und mit den tatsächlich 
gefundenen ist zugleich der Kreis der möglichen Einstellungen erschöpft 
Daher ist mit dem typisierenden Verfahren nicht bloß eine Ordnung der ver¬ 
schiedenen Weltanschauungen geschaffen, sondern es ist damit auch ein 
Standpunkt erreicht, der, indem er aus dem geschichtlichen Flusse der wech¬ 
selnden Anschauungsweisen die bleibenden Grundformen hervorhebt, eine 
Synthesis der systematischen und der historischen Betrachtungsweise zu¬ 
stande bringt und damit für beide neue Grundlagen schafft. Die einzelnen 
Weltanschauungen stehen als geschichtliche Erscheinungen gleichberechtigt 
nebeneinander, keiner von ihnen kommt der Vorzug notwendiger Allgemein¬ 
gültigkeit zu; aber zusammengenommen vermitteln sie dem Systematiker eine 
erschöpfende Einsicht in die Lösungsmöglichkeiten der Probleme, die der 
philosophischen Spekulation die Richtung weisen, dem Historiker einen Zu¬ 
sammenhang von systematischen Gesichtspunkten, der ihm für Forschung 
und Darstellung eine Regulative zu geben vermag. 

Dem Schöpfer dieser Weltanschauungslehre hätte es nun — so sollte 
man denken — nahe liegen müssen, die typisierende Methode auch auf die 
pädagogischen Grundanschauungen und Systembildungen zu übertragen, 
um so mehr als die Pädagogik, wenigstens eine Zeit lang, zu seinem Inter¬ 
essengebiete gehörte. Es erscheint fast befremdlich, daß sich keine Andeu¬ 
tung dahin bei ihm findet, auch in der bekannten Akademieabhandlung 
nicht, in der er einen Entwurf zur Neugestaltung der pädagogischen Wissen- 
• schaft in großen Zügen Umrissen hat. 1 ) Das Verdienst, eine solche Typen¬ 
lehre auf pädagogischem Gebiete zum erstenmal angestrebt zu haben, kommt 
vielmehr E. Vowinckel zu, der in seinen beiden Büchern Pädagogische 
Deutungen (1908) und Beiträge zur Philosophie und Pädagogik 
(1912) versucht hat, in einem der Diltheyschen Methode verwandten Sinne 
die pädagogischen Theorien auf bestimmte Grundtypen zu bringen. Einen 
glücklichen Ansatz dazu hat er besonders in dem ersteren Buche genommen, 
wo er zwischen einer geschichtlich und einer naturwissenschaftlich orientierten 


*) Über die Möglichkeit einer aligemeingttltigen pädagogischen Wissenschaft. Sitzungsberichte 
der Kgl. preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1888. 

Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie. 16 


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RudoU Lehmann 


Erziehungslehre unterscheidet, eine ebenso sachliche wie fruchtbare Ein¬ 
teilung, die allerdings nicht erschöpfend ist, und er zwei Richtungen als 
zwei bestimmte Typen hervorhebt. In den späteren „Beiträgen“ hat Vowinckel 
denn auch diesen Gedanken umgebildet und die Gesichtspunkte für seine 
Unterscheidungen beträchtlich verschärft. Er gelangt nun zu 5 Typen des 
pädagogischen Denkens. 

Allerdings gehört der erste derselben, der „autoritativ-historische“ 
Typus, genau genommen dem Gebiete des historischen Denkens nicht an; 
denn seine Vertreter erstreben nichts, als die junge Generation unter die 
starre Macht der Überlieferung zu beugen. „Gedankenbildung irgendwelcher 
Art ist von ihnen nicht zu erwarten.“ Diesem starren Autoritätsprinzip stellt 
V. zunächst den „empirisch-psychologischen“ Standpunkt gegenüber. Die 
Bezeichnung ist nicht ganz glücklich gewählt, denn sie deckt eigentlich nur 
die Tendenz der streng psychologischen Erziehungslehre, während V. die 
gesamte Aufklärungspädagogik, ja selbst — freilich nicht zu Recht — Herbarts 
System mit darunter begriffen wissen will. Es ist die rationalistische 
Auffassung des Erziehungsgeschäfts, die er im Auge hat. „Man will eine 
rationelle Welt und in ihr rationelle Menschen. Die Geschichte mit ihren 
widersprechenden und verwirrenden Bildern wird beiseite geschoben und 
die Gegenwart an ihre Stelle gesetzt.“ Dieser Auffassung und besonders der 
experimentellen Psychologie steht der Verfasser nicht durchaus ablehnend, 
aber doch mit starken kritischen Einschränkungen gegenüber. Den 3. Typus 
bezeichnet er als „sozial-psychologischen“: gemeint ist im wesentlichen die 
soziale Richtung der Pädagogik, wie sie am reinsten in Fichtes Reden, aber 
auch etwa in Deweys „wild schweifenden Hoffnungen“ hervortritt; der Zusatz 
„psychologisch“ soll offenbar nur den Gegensatz zur kritischen Behandlung 
der Sozialpädagogik bezeichnen, die den letzten und höchsten Typus bildet. 
Sie entsteht aus rein philosophischer Einstellung und geht auf das Ziel aus, 
„die Logik des pädagogischen Denkens“ durchzuführen. Durch die kritische 
Behandlung der übrigen typischen Standpunkte bahnt er sich den Weg, um 
nun direkt zu den pädagogischen Problemen vorzudringen. Ehe der Verfasser 
aber zu dieqpm letzten und höchsten Typus der pädagogischen Theorie gelangt, 
kennzeichnet er noch einen vierten, den ästhetischen Typus, der zwar 
„nirgends in Reinkultur vorhanden ist“, aber durch Namen wie Ellen Key, 
Ludwig Gurlitt und Berthold Otto charakteristisch veranschaulicht wird. Das 
wesentliche dieser Richtung ist nach V., daß sie spielend erziehen und 
„das Kind von den Normen und Idealen der Erwachsenen erretten will“. 
Sie ist in letzter Linie aus dem Begriff der naturgemäßen Erziehung, wie ihn 
Rousseau faßte, hervorgegangen, aber in ihrer Weiterentwicklung verfluchtet 
sie sich notwendigerweise in Stimmung und Phantasie. Bei diesem Urteil, 
das für die genannten Namen wohl zutrifft, ist freilich der originellste und 
bedeutendste Vertreter dieses Typus, Fröbel, auffallenderweise nicht berück¬ 
sichtigt. 

Diese Typen der Erziehungstheorie 'führtVowinckel auf ebenso viele psychische 
Einstellungen der Erziehenden zurück, und seine Charakteristiken zeigen tiefe 
und lebensvolle Einblicke in die Zusammenhänge des erzieherischen Denkens. 
Trotzdem ist nicht zu verkennen, daß sein Versuch einer Typenlehre nur 
unvollkommen ist. Ein einheitliches Einteilungsprinzip tritt nicht hervor; die 
Standpunkte sind nicht immer logisch zureichend gegeneinander abgegrenzt — 


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Pädagogische Typenlehre 


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eine autokrati8ch-histori8che Richtung z. B. kann sehr wohl 'zugleich sozial 
bestimmt sein, wie das in gewissen religiösen Bestrebungen der Gegenwart 
deutlich der Fall ist Psychologische, theologische und erkenntnistheoretische 
Gedankenreihen laufen bei Vowinckel mehrfach ungesohdert durcheinander oder 
unverbunden nebeneinanderher. Er legtauf den transzendentalen, also über¬ 
empirischen Charakter seiner Typenbildung einen starken Ton: er will „Reihen 
von Erscheinungen unter den Typus beugen,“ und doch drängt sich der 
empirische Ursprung überall auf. Kurz, zu durchsichtiger Klarheit ist er noch 
nicht gelangt, so viele wertvolle Ansätze und Gedanken die beiden angeführten 
Arbeiten auch enthalten. 

So entspricht es denn einem wissenschaftlichen Bedürfnis, wenn in jüngster 
Zeit Max Frischeisen-Köhler, der unter den Schülern Diltheys in erster 
Reihe steht, aufs Neue und zwar in systematisch ausführlicher Weise unter¬ 
nommen hat, der noch unerledigten Aufgabe gerecht zu werden. Sein Buch 
„Bildung und Weltanschauung“ (Charlottenburg, Mundusverlagsanstalt 1921) ist 
eine der tüchtigsten Leistungen, die aus dem Diltheyschen Gedankenkreise hervor¬ 
gegangen sind; es ist nach der pädagogischen Seite durchaus selbständig, da 
Dilthey selbst, wie schon bemerkt, nach dieser Richtung hin nicht den Weg 
gezeigt hat; auch ein Einfluß Vowinckels ist nicht erkennbar. Der Versuch, die 
pädagogischen Theorien in eine typische Reihe zu bringen, die den Charakter 
einer aus der Sache selbst entsprechenden Notwendigkeit trägt, ist hier im 
Wesentlichen gelungen. 

Zwei Züge sind für den Gedankengang der Arbeit bestimmend. Zunächst 
die streng induktive Methode der Untersuchung, die durchaus vom geschicht¬ 
lich Gegebenen ausgeht; selbst das Einteilungsprinzip, nach dem die Typi¬ 
sierung vorgenommen wird, entwickelt sich in seiner inneren Notwendigkeit 
vor unsern Augen, statt daß es aus irgendwelchen Allgemeinbegriffen ab¬ 
geleitet würde. In die allgemeinen regulativen Begriffe ist das historisch¬ 
empirische Element von vornherein mit aufgenommen, sie tragen somit 
keinen „transzendentalen“ Charakter. „Die logische Einheit und Reinheit der 
Betrachtung läßt sich“, bemerkt der Verfasser ebenso richtig wie bedeutungs¬ 
voll, „nur durch eine Einseitigkeit erkaufen, durch die sie entwertet wird. 
Eine wirkliche apriorische Wertlehre im Sinne des transzendentalen Idealis¬ 
mus“ (wie sie Natorp und Vowinckel anstreben) „würde sich selbst zur Ohn¬ 
macht verurteilen. Denn die Doppelheit von empirischer und ideeller Be¬ 
trachtungsweise ist aus der Erziehungswissenschaft ebensowenig auszu¬ 
scheiden wie aus dem Bildungswesen selber der Gegensatz oder vielmehr 
die Wechselbeziehung des praktischen Lebens und der Forderung eines 
reinen Idealismus.“ So kann denn eine fruchtbare und zugleich wissen¬ 
schaftlich erschöpfende Erkenntnis nur gewonnen werden, wenn die Unter¬ 
suchung, von den geschichtlich gewonnenen Theorien ausgehend, mit ihrer 
pädagogischen Bedeutung zugleich ihren philosophischen Gehalt erschließt 
und sie damit bestimmten Weltanschauungen zuordnet. Denn dieses ist nun 
der Hauptgesichtspunkt des Buches, wie er ja auch auf dem Titel zum Aus¬ 
druck kommt: was die einzelnen pädagogischen Theorien voneinander 
scheidet, ist zwar zunächst die Verschiedenheit der konkreten Bildungsideale 
und Förderungen, aber diese weisen durchweg auf eine tiefer liegende Dif¬ 
ferenz der Weltanschauungen hin, denen sie entstammen, ja deren Bestand¬ 
teile sie sind. Und nicht nur ihren charakteristischen Gehalt empfangen 

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Rudolf Lehmann 


die verschiedenen Bildungslehren von hier aus, sondern auch die Methoden 
des pädagogischen Denkens sind durch diesen Zusammenhang bestimmt. 
Sie haben durchweg ihre Wurzeln in sittlichen und religiös metaphysischen 
Anschauungen, ja selbst die ihrer Tendenz nach naturalistisch und empirisch 
gerichteten Systeme stehen in deutlicher Abhängigkeit von einer gleich¬ 
gerichteten antimetapbysischen Denkweise und Weltansicht. 

Die Typen der pädagogischen Theorie, zu denen Frischeisen-Köhler gelangt, 
entsprechen im wesentlichen denen, die Dilthey für die philosophische 
Weltanschauung aufgestellt hat, und schon hierin zeigt sich das Abhängig¬ 
keitsverhältnis, das nachgewiesen werden soll. Dem positivistischen oder 
naturalistischen Typus tritt die idealistische Einstellung gegenüber, 
und diese weist wie bei Dilthey zwei verschiedene Typen auf. Die prinzi¬ 
pielle Forderung, die Theorie der Erziehung ausschließlich auf Erfahrung zu 
begründen, führt notwendig zu der Idee einer „naturgemäßen Bildung“, die 
jede metaphysische Grundlegung und Ableitung von Erziehungsidealen aus 
erkenntnistheoretischen Erwägungen ablehnt. Methodisches Prinzip ist hier 
die von der Philosophie losgelöste selbständige Stellung der Pädagogik, welche 
die übrigen Fachwissenschaften schon erreicht haben. Der pädagogische 
Naturalismus tritt in jeder aufklärerischen Kulturbewegung hervor, so 
schon in der antiken Sophistik und, wie der Verfasser mit etwas zweifel¬ 
haftem Recht findet, auch in der Stoa. Seine moderne Gestalt hat er aus 
der gewaltigen. Entwicklung der Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhun¬ 
dert geschöpft; die neuen Begriffe von Natur und Erfahrung, die für das 
rationalistische System der Wissenschaften maßgebend waren, sind es auch 
für ihn. In seiner Weiterentwicklung nimmt er teils die Psychologie (Comte 
und seine Nachfolger), teils die Biologie (Bain und Herbert Spencer) zur 
natürlichen Grundlage. Aber auch die verschiedenen Richtungen der ge¬ 
schichtlich begründeten Betrachtungsart, wie sie hauptsächlich in Deutschland 
vertreten wird (Beispiele unter anderen P. Barth, 0. Willmann, Ed. Spranger) 
rechnet Frischeisen-Köhler hierher, während er in Kerschensteiners Arbeiten 
den bedeutungsvollen Versuch sieht, den geschichtlichen Standpunkt zugunsten 
eines überhistorischen zu überwinden. 

In der idealistischen Pädagogik unterscheidet der Verfasser eine kri¬ 
tische und eine spekulative Richtung. Die erstere nimmt ihren Aus¬ 
gangspunkt „von den reinen Ideen oder Geltungsarten, aus denen unabhängig 
von allen Seinsbehauptungen das Ziel der Erziehung entwickelt werden 
kann“. „Es gilt der Entwicklung eines autonomen Systems, das in Ver¬ 
nunftnormen gegründet und von allen empirischen Gesetzmäßigkeiten unab¬ 
hängig ist.“ Für den zweiten Typus handelt es sich um die Einordnung 
„in das Ganze einer Weltansicht, durch welche der Bildungsprozeß selber 
einen metaphysischen Gehalt gewinnt“ Die kritische Theorie beruht stets 
auf einer dualistischen Gesamtansicht: sie zielt auf eine Überwindung des 
natürlichen Menschen durch den geistigen hin. Die spekulative Pädagogik 
dagegen wurzelt „in der Sehnsucht des Menschen, über den Zwiespalt seines 
Lebens, über den Gegensatz von Welt und Seele, Natur und Geist hinaus 
zu gelangen“. Daher wird Bildung hier stets als ein Prozeß erfaßt, „durch 
welchen das einzelne Individuum in den Einigungsvorgang des Göttlichen 
und Natürlichen, den die Kultur darstellt, eintritt.“ 

Anfechtbar erscheint mir in dieser Klassifizierung, daß unter den Begriff 


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Pädagogische Typenlehre 


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des naturalistischen Positivismus zu viele und verschiedene Standpunkte zu- 
sammengefaßt werden, als daß sich wirklich noch ein scharf umrissener Typus 
ergäbe: Comenius und Meumann, Rousseau und Dilthey, Spencer und Will- 
mann haben schließlich herzlich wenig miteinander zu tun, wenn schon für 
sie alle die Erfahrung den Ausgangspunkt bildet Hier erscheint eine weitere 
Differenzierung unerläßlich, und vielleicht konnte Vowinckels Unterscheidung 
einer naturwissenschaftlich und einer geschichtlich orientierten Pädagogik eine 
fruchtbare Ergänzung ergeben. Es würden dann zwei Typen der empirischen 
Pädagogik den beiden idealistischen gegenüberstehen, und das Ganze gewönne 
dadurch an Natürlichkeit und Anschaulichkeit. Auch die Einordnung der 
einzelnen geschichtlich hervorgetretenen Theorien unter die verschiedenen 
Typen bietet zu mancherlei Einwänden und Zweifeln Anlaß. Ich übergehe 
sie, da es sich hier nur um die prinzipielle Würdigung der Gesamtleistung 
Frischeisen-Köhlers handelt, und diese, denke ich, muß man rückhaltlos an¬ 
erkennen. Nicht nur, daß die Arbeit im Einzelnen viel Feines und Kluges 
enthält, daß sie Zusammenhänge aufdeckt und Fernblicke eröffnet, die bisher 
allzu wenig beachtet wurden: sie Schafft auch tatsächlich die Grundlage zu einer 
systematischen Klassifizierung der Erziehungstheorien und damit zu einer päd¬ 
agogischen Typenlehre überhaupt. 

n. 

Die Typisierung der erzieherischen Theorien kann grundlegend für die 
Orientierung über das Gesamtgebiet der Pädagogik werden, allein sie vermag 
weder noch beabsichtigt sie, den konkreten Inhalt desselben zu erschöpfen. 
Gleichwohl ist es denkbar, ja es ergibt sich als notwendige Forderung, das 
typisierende Verfahren nun auch auf diesen Inhalt selbst anzuwenden, die 
Erscheinungen, die sich auf dem Gebiete der historischen wie der praktischen 
Erfahrung darbieten, in entsprechender Weise nach typischen Gruppen zu 
ordnen und sie hierdurch zu anschaulichem Verständnis zu bringen. Auf 
diese Weise würden sich auch für die einzelnen Probleme Lösungsmöglich¬ 
keiten ergeben, von denen zwar keine an sich notwendige Allgemeingültigkeit 
in Anspruch nehmen könnte, deren Aufreihung aber einem systematischen 
Charakter zustreben und damit dds bloß Empirische in seiner Zufälligkeit 
überwinden würde. Daß die Typenreihen selbst nur auf induktivem Wege 
gefunden und nicht durch Ableitung aus allgemeinen Oberbegriffen gewonnen 
werden können, ist auf dem konkreten Erziehungsgebiet noch deutlicher als 
da, wo es sich um allgemeine Grundanschauungen und Einstellungen handelt. 
Wie weit es möglich sein wird, eine systematisch umfassende Gesamtordnung 
des ganzen Gebietes zu erreichen, kann erst die Zukunft lehren. Eine solche 
würde offenbar das erzieherische Leben nach drei Gesichtspunkten hin zu 
behandeln haben, den drei konstituierenden Bestandteilen entsprechend, die 
in jedem Erziehungsvorgang überhaupt zutage treten: Charakter des Er¬ 
ziehungsziels, Einstellung des Erziehers, Natur des Zöglings. Es soll im fol¬ 
genden mit einigen anschaulichen Zügen verdeutlicht werden, wie sich die^ 
typisierende Behandlung in den drei entsprechenden Hauptabschnitten etwa 
gestalten würde. Ich greife dabei zunächst auf ein paar eigene ältere 
Arbeiten zurück 1 )» uni mich zum Schluß wieder einer bedeutsamen Neu¬ 
erscheinung zuzuwenden. 

*) Erziehung: und Unterricht, Kap. IX, S.’226H — Die Prinzipien der Erziehungsgeschichte 
in der Zeitschr. „Die Geisteswissenschaften“ 1 , 119 ff. 


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In der Geschichte der Erziehung ist es eine bisher zu wenig beachtete 
Tatsache, daß die einzelnen praktisch bedeutsamen Zielsetzungen und Rich¬ 
tungen durchweg nicht bloß einmal hervortreten, sondern in verschiedenen 
Zeitaltern und Volksgemeinschaften wiederkehren. Bisweilen beruhen solche 
Wiederholungen auf einer mehr oder weniger bewußt festgehaltenen Kontinuität 
der Entwicklung, auf den Nachwirkungen einer Epoche in die andere, weit 
öfter jedoch wachsen sie ohne Zusammenhang miteinander aus der Gleichheit 
sozialer, wirtschaftlicher, geistesgeschichtlicher Bedingungen hervor. Diese 
Wiederkehr zeigt sich am deutlichsten da, wo ein bestimmter Stand mit seinen 
Interessen und Anschauungen das Erziehungswesen beherrscht. Liegt es 
doch im Wesen solcher sozialen Gebilde, daß ihre innere Struktur zu den 
verschiedensten Zeiten und unter den verschiedensten äußeren Verhältnissen 
die gleiche , bleibt. Aus dieser Struktur gehen notwendigerweise sowohl 
praktische Bedürfnisse wie ideale Forderungen hervor, die, miteinander ver¬ 
flochten, charakteristische Wertbegriffe und Zielsetzungen auch für die Er¬ 
ziehung hervortreiben. Die soziologischen Grundlagen der Erziehungsge¬ 
schichte treten hier deutlich in die Erscheinung. 

Der erste deutlich erkennbare Typus dieser Art ist das aristokratische 
Ideal der ritterlichen Erziehung, die auf der Grundlage körperlicher Durch¬ 
bildung ethische und ästhetische Werte entwickeln will, intellektuelle Bildungs¬ 
ziele dagegen zurückstellt. Kraft und Gewandtheit, Schönheit und anmutende 
Lebensformen, Festigkeit und Vornehmheit der Gesinnung sind es, die diese 
Erziehung anstrebt; Erkenntnis und Wissen aber sind ihr von untergeordneter 
Bedeutung. Dies ist das Ideal, das die ältere hellenische Jugendbildung 
von dem kriegerischen Heerlager der Dorer an bis zum Höhepunkte atheni¬ 
scher Kultur und Macht bestimmt hat. Es tritt mit fast völlig gleichen Grund¬ 
zügen in der höfischen Zucht des 11. und 12. Jahrhunderts wieder hervor. 
Auch für die Erziehung des Adels im Quatro- und Cinquecento und die päda¬ 
gogische Theorie der Renaissance in Italien ist ein nahe verwandtes Ideal 
maßgebend. In der Erziehung „des jungen Engländers vom Stande“, für die 
Locke das Programm geschrieben hat, zuletzt in der Corpserziehung der 
preußisch-deutschen Offiziere, entdeckt man unschwer dieselben Grund¬ 
züge, wenn auch nach Volks- und Zeitverbältnissen im Einzelnen mehr oder 
weniger bedeutsame Abweichungen und Zusätze hervortreten. 

Dem aristokratischen Persönlichkeitsideal stellt seit den Anfängen alles 
Kulturlebens ein priesterliches gegenüber. Hier sind es gerade die dort 
gering geachteten intellektuellen Werte, auf die sich die Erziehung richtet: 
eine tiefere und umfassendere Erkenntnis, die nicht nur über das Wissen 
des Einzelnen und Uneingeweihten, sondern über alle bloß praktischen Er¬ 
fahrungen hinausreicht, die Aneignung einer aus Offenbarung und Überlieferung 
geschöpften Weisheit, die hieraus hervorgehende Überlegenheit, die Kraft, Seelen 
zu lenken und Schicksale zu bestimmen, die zunächst in der Beherrschung 
des eigenen Selbst, in bewußter Lebensgestaltung und persönlicher Haltung 
zum Ausdruck kommt. Im letzten Grunde ein Ideal geistigen Herrechertums. 
Eine gewisse Entfernung trennt den Priester vom Volke, und so vollzieht sich 
auch seine Erziehung in Abgeschiedenheit und Tempelstille, ja es liegt wenig¬ 
stens in den älteren Epochen zumeist ein Geheimnis über den priesterlichen 
Überlieferungen. Daher haben wir denn, auch nur beschränkte Einblicke in 
ihren Gehalt und ihre Methoden. Im Laufe der späteren Entwicklung aber 


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Pädagogische Typenlehre 


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löst sich nicht selten aus der religiösen Bildungssphfire eine philosophische 
heraus wie im nachveda’schen Brahmanismus oder, für uns von unmittel¬ 
barer Wichtigkeit, im griechischen Geistesleben, und hier tritt uns nun in 
hellem Lichte ein neues, rein intellektuelles Bildungsideal entgegen, das in 
seinen Grundzügen gleichwohl dem priesterlichen verwandt bleibt. Es ist - 
ein geistiger Adel, der den ritterlichen ersetzt; die Absonderung vom Volke, 
vom Bedürfnis des Tages wird Erfordernis durch die Zuwendung zum Gött¬ 
lichen, Ewigen als dem einzig wahren Werte auch des irdischen Daseins. 
Das ist das Ideal der philosophischen Erziehung, das Plato in seinem Staat 
entworfen, das er in seiner Akademie verwirklicht hat. Die Klosterschule des 
Mittelalters bringt es auf dem Höhepunkt der kirchlichen Weltanschauungen 
in seinen wesentlichen Zügen noch einmal hervor. Ein abgeschwächter Nach¬ 
klang des philosophischen Typus ist die gelehrte Bildung, wie sie im 
späteren Altertum und dann wieder seit der Entstehung des Humanismus bis 
auf die Gegenwart in charakteristischen Grundzügen auftritt. 

Dem aristokratischen und dem priesterlich-philosophischen Er¬ 
ziehungstypus muß als dritter notwendigerweise einbürgerlichesBildungsideal 
entsprechen. Aber es ist eine sonderbare Tatsache, daß das Bürgertum erst 
sehr spät, kaum vor mehr als einem Jahrhundert, den Ansatz dazu genom¬ 
men hat, einen seinem Wesen entsprechenden Bildungstypus zu entwickeln. 
Zwar die praktische Eingewöhnung und Unterweisung der Jugend, die auf 
die unmittelbaren Bedürfnisse des Lebens und der Berufsarbeit gerichtet ist, 
war der Zeit nach zweifellos die erste und bleibt die verbreitetste von allen 
Erziehungsweisen; aber die geschlossene Form eines ausgeprägten Bildungs¬ 
typus fehlt ihr, da sie immer nur in unmittelbarer Anlehnung an Leben und 
Umwelt verläuft. Selbst da, wo das gesteigerte und verwickeltere Bedürfnis 
besondere Lehreinrichtungen hervorruft, bleiben diese, wie die Grammatisten- 
schulen der Römer oder die deutsche Volksschule vor Pestalozzi, ganz am 
einzelnen Bedürfnis haften und von dem Bewußtsein inhaltlich leitender 
Allgemeinwerte unberührt. Im wesentlichen ist die bürgerliche Jugend stets 
durch Teilnahme an der religiösen, der gelehrten, gelegentlich auch der ari¬ 
stokratischen Bildung für ihr späteres Leben vorbereitet worden. Bei Pesta¬ 
lozzi in Lienhard und Gertrud, bei Goethe besonders in den pädagogischen 
Abschnitten der Wanderjahre, tritt mit dem Ideal der bürgerlichen Tüchtig¬ 
keit zum ersten Mal auch ein Bildungsideal auf, das dem produktiven Bür¬ 
gertum in seiner Besonderheit gilt. Aber erst in unserer Zeit zeigt sich ein 
allgemein bewußtes und entschiedenes Streben in dieser Richtung, am deut¬ 
lichsten in der Herausarbeitung der Idee der staatsbürgerlichen Erziehung, 
wie sie etwa Kerschensteiner vertritt. 

Von den objektiven Bildungsidealen aus greift die Typenlehre auf die 
persönlichen Faktoren des Erziehungsverhältnisses über, also auf Erzieher 
und Zögling. 

Den verschiedenen Bildungstypen entspricht eine Verschiedenheit des Er¬ 
ziehertypus, die nicht minder scharf hervortritt wie sie selbst. Dieses Abhängig¬ 
keitsverhältnis ist ebenso notwendig wie natürlich: es ist eine Vorbedingung 
aller erzieherischen Wirkung, daß der Erzieher die Werte, die er übermitteln 
soll, irgendwie und sei es auch nur unvollkommen in seiner Person verkör¬ 
pert Die aristokratische Gesellschaft freilich vermag diese Forderung am 
wenigsten durchzuführen: das Standesbewußtsein des Adels drückt den Er- 


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zieherberuf, wie jede nutzbringende oder erwerbsmäfiige Tätigkeit, leicht 
auf eine untergeordnete Stufe herab, auf welcher eine Persönlichkeitsbildung 
höherer Art nicht möglich ist. Das zeigt sich schon in Hellas, wo die Auf¬ 
gabe des Jugenduiiterrichts untergeordneten Mietlingen und Sklaven über¬ 
lassen blieb. Allerdings eben nur der Unterricht, die Ausbildung der einzel¬ 
nen Fähigkeiten und Kenntnisse; die Persönlichkeitsbildung selber wurde 
nicht von der Tätigkeit des Berufslehrers, sondern von dem Einflüsse älter« 
, Standesgenossen, wie er sich besonders in den erotischen Verhältnissen zwischen 
Männern und Jünglingen entfaltete, erwartet. Auf die unmittelbare und vor¬ 
bildliche Einwirkung der Standesgenosaen lief auch die höfische Zucht der 
ritterlichen Gesellschaft hinaus, und auch Locke fordert für die Erziehung 
1 der jungen Edelleute „einen verständigen Weltmann“ d. h. einen Erzieher, 
der, wenn auch nicht von Geburt, so doch durch Lebenshaltung und Sitte 
den aristokratischen Kreisen angehört. 

Von geschichtlicher Bedeutsamkeit ist vor allem derjenige Erziehertypus, 
der dem priesterlichen und dem damit verwandten philosophischen Bildungs- 
ideal entspricht: in der Gestalt des priesterlichen Lehrers erscheint der Men¬ 
schenbildner zuerst in der Geschichte. Seine Tätigkeit gilt zunächst dem 
jungen Nachwuchs seines heiligen Berufs, doch mittelbar und unmittelbar 
erstreckt sich sein bildender Einfluß aus dem Tempel oder dem Kloster auf 
weitere Kreise. Bei den Hellenen geht dann der Charakter des priesterlichen 
Erziehers in die Würde des philosophischen Lehrers und Schulhauptes über, 
und im Mittelalter ist der Geistliche, der Mönch, der Lehrer der gesamten 
Epoche und bleibt es bis in das Reformationszeitalter hinein: erst allmähli ch 
entsteht, in den protestantischen Landen statt des geistlichen Erziehers, in 
den katholischen neben ihm, ein weltlicher Lehrerstand. 

Wie die bürgerliche Erziehung selbst in ihrer typischen Bestimmtheit, so 
entwickelt sich auch der ihr gemäße Typus des bürgerlichen Lehrers und 
Volkserziehers erst langsam und allmählich; noch in unserer Zeit ist diese 
Entwicklung nicht abgeschlossen, aber es zeigt sich immerhin mit zunehmender 
Deutlichkeit das Idealbild, dem sie zustrebt, von zwei verschiedenen Aus¬ 
gangspunkten aus zustrebt: auf der einen Seite der Mann aus dem Volke, 
der dessen Mühen und Leiden, seine Bedürfnisse und seine Sehnsucht aus 
eigenem Erlebnis kennt, aber sich durch Bildung und Wissen darüber er¬ 
hoben hat und nun den Lehrerberuf als eine soziale Aufgabe ergreift, um 
die Schäden zu heilen (Pestalozzi); auf der anderen Seite der Gelehrte, in¬ 
sonderheit der gelehrte Humanist, der auf der Höhe des geistigen Lebens 
die Begabteren unter der Jugend zu sich und seinen Erkenntnisfreuden her- 
aufziehen will (Herder, Friedrich August Wolff). Der Lehrertypus der 
Zukunft wird die Vereinigung beider darstellen müssen und sich damit einem 
neuen Höhepunkt in der Geschichte menschlicher Bildung annähem. 

Was nun, abgesehen von der äußeren Gestalt und der Lebensstellung, das 
innere Wesen dieser verschiedenen Erziehertypen ausmacht, das habe ich in 
meinem vorhin genannten Buche eingehend dargestellt. Ich begnüge prich 
hier damit, einige wenige Sätze anzuführen, in denen die Summe jener Be¬ 
trachtungen gezogen wird. 

Das erste Kennzeichen des priesterlichen Erziehers ist eine gewisse 
Weihe und Würde, die ihn von den übrigen Menschen, auch von seinen 
Schülern entfernt. Die Berührung mit dem Göttlichen, sei es die Religion, 


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Pädagogische Typenlehre 


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sei es die Philosophie, verleiht ihm diese Weihe, die denn auch schon 
in seinem äußeren Auftreten, in der Ruhe und Gemessenheit der Haltung, 
oft auch schon in der Kleidung zum Ausdruck kommt. Wesentlicher sind 
die Eigenschaften innerer Natur. Der Priester, der Weise, wenn sie wirklich 
das sind, was diese Namen sagen, kennen die Seelen der Menschen und 
wissen sie zu lenken. Es eignet ihnen ein Zug von Herrschergabe und 
Herrschergröße, — einer Herrschergröße, die nicht von dieser Welt ist, denn 
das ist schließlich das entscheidende: der Weise wie der Priester, beide stehen 
in freiwilliger Entsagung dem Leben fern, und dieses hat kein praktisches, 
kein persönliches Interesse für sie; der Erzieher verlangt nichts als der Idee 
zu dienen, der er angehört, Männer zu bilden, die ihr dermaleinst dienen 
sollen; er muß ein Vorbild selbstlosen Idealismus sein. Hierdurch erweckt 
er verehrende Hingabe, die zugleich einer erhabenen Sache und der Per¬ 
sönlichkeit ihres Vertreters gilt. 

An die Stelle des priesterlichen oder philosophischen Erziehers stellt die 
geschichtliche Bewegung den gelehrten Lehrer. Dieser Typus, am reinsten 
etwa durch die großen deutschen Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts, 
einen Agricola, Reuchlin, Melanchthon verkörpert, erfuhr seine Wiedergeburt, 
als der Humanismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts seinen neuen Auf¬ 
schwung nahm, in der Wirksamkeit Herders, Wolffs und einer Reihe ihrer 
Nachfolger seinen Gipfel erreichte und von da aus auf den Philologen¬ 
stand gestaltend einwirkte. Die Höhe und Würde des Priestertums tritt 
zurück; nicht immer, aber doch oft genug prägt sich eine gewisse Enge und 
Kleinlichkeit im Auftreten des Gelehrten aus. Seine Weltabgeschiedenheit 
ist nicht selten mit Unkenntnis des Lebens verbunden: es fehlt die über¬ 
legene Kraft, welche die Seelen durchdringt und sie zu lenken weiß. Alles 
das muß durch die Überlegenheit ersetzt werden, die ihm sein Wissen und 
seine Arbeit verleihen. Die Strenge der Selbstzucht, die Treue und Gewissen¬ 
haftigkeit wirkte vorbildlich, selbst da, wo Geist und Phantasie nicht zur 
vollen Höhe entfaltet erscheinen. Kommen aber im glücklichen Falle, wie 
bei jenen großen Führern, noch die Eigenschaften eines überlegenen Geistes 
kommt Kraft der Phantasie und der Empfindung, Weite des Gesichtskreises 
hinzu, so ergibt sich ein Bild, das dem des priesterlichen Erziehers an Wert 
nicht nachsteht. — 

Man bemerkt, wie die Einsicht in die soziologische Bedingtheit der Er¬ 
ziehertypen zum Verständnis ihrer Eigenart und ihrer Erscheinungsformen 
beiträgt. Dennoch ist nich\ zu verkennen, daß das innere Wesen der er¬ 
zieherischen Tätigkeit durch diesen Einblick nicht eigentlich erreicht wird. 
Tiefer führt es, wenn wir die persönliche Willensrichtung des Erziehers ins 
Auge fassen, wie sie sein Verhältnis zum Erziehungsziel bestimmt. Auch 
hier kann uns geschichtliche Betrachtung die Wege weisen. Suchen wir 
nämlich die letzte und innerste Absicht zu erfassen, aus der die Werke der 
großen Pädagogen hervorgegangen sind, so finden wir einen dreifachen 
Unterschied. Der Erzieher will entweder in dem Zögling sein eigenes Wesen 
erneuern, höher vielleicht und vollkommener, aber wesentlich in den gleichen 
Zügen, oder der Trieb schlägt die entgegengesetzte Richtung ein: er geht 
aus dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, der Unzufriedenheit mit sich 
selber, hervor; das junge Geschlecht soll anders, stärker, gesünder werden 
als der Erzieher. Im Gegensatz zu diesen beiden subjektiv eingestellten 


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Rudolf Lehmann. 


steht der objektive Typus. Hier kommt die eigene Persönlichkeit nicht in 
Betracht. Keine Erinnerung trübt dem Erzieher den Blick oder färbt ihm 
das Gefühl: er sieht nur den Zögling selbst vor sich und will zur Vollendung 
bringen, was die Natur in diesem angelegt hat. Den geschichtlichen Typus 
der ersten Art verkörpert Plato, dessen letzter Zweck es ist, den Philosophen 
zu erziehen, wie er selbst sich nach dem Beispiel seines Meisters Sokrates 
erzogen hat. Den zweiten zeigt uns Pestalozzi, der „träumende Tor“, der 
„ein immer und immer nur zertretenes Leben“ in den Dienst des Erziehungs¬ 
zweckes stellte, der seinem Gott dankte, daß er ihn ins Elend gestoßen habe, 
weil er- nur so das Elend des Volkes erkennen und heilen lernen konnte 
Nicht minder auch Rousseau, dem aus einer unsteten und verwahrlosten 
Jugend ein unheilbarer innerer Zwiespalt ins Leben folgte: eben aus diesem 
erwuchs ihm das Bildungsideal seines Emile, des vernünftigen und natür¬ 
lichen, des freien, klaren und starken Menschen, ebenso aber auch das 
Ideal eines zielbewußten Erziehers und Freundes, und einer Bildung, die zu 
gleicher Zeit natur- und vernunftgemäß ist und ihr Ziel nicht verfehlen kann. 
Den Typus des objektiven Erziehers verkörpert Goethe. In einem höheren 
Sinne noch als Rousseau sieht er in dem Erzieher den Vollstrecker der Natur: 
aus seiner Eigenart heraus soll jeder Zögling gebildet werden zu dem, was 
die Natur mit ihm gewollt. In jedem sind persönliche Werte im Keim an¬ 
gelegt: sie zur Entfaltung zu bringen ist Aufgabe und Ziel der Erziehung. 
Diese Überzeugung, die Goethe als praktischer Erzieher wie als Dichter ver¬ 
trat, bildet Fröbel in seiner „Menschenerziehung“ zur systematischen Theorie 
weiter, er begründet auf sie das System des Kindergartens. 

Der Unterschied dieser Typen ist, wie die Beispiele zeigen, auch für die 
geschichtliche Entwicklung der Pädagogik von Bedeutung. Ohne ihn zu be¬ 
rücksichtigen, wird es niemals gelingen, das Wesen eines der originalen er¬ 
zieherischen Denker restlos zu erfassen. Gleichwohl sind diese Typen selber 
nicht geschichtlich bedingt, vielmehr führen sie auf eine Verschiedenheit der 
persönlichen Willensrichtung zurück, die nur psychologisch erfaßbar ist und 
sich zu allen Zeiten in jeder erziehenden Generation wiederholt Dem der 
offne Augen hat, tritt sie im Leben oft genug entgegen: wir alle kennen den 
Typus des mit sich und seiner Lebensgestaltung zufriedenen Vaters, der die 
Entwicklung seines Sohnes der seinen möglichst gleich zu gestalten suchte, 
wie den des Unzufriedenen, der durch die Erziehung das Gegenteil von dem 
erreichen will, was er selbst ist. Und wir finden, freilich seltener, auch jenen 
höchsten Typus, den objektiven Erzieher, der nichts will, als die Natur seiner 
Kinder ihren eigenen Gesetzen gemäß, sich entfalten lassen 1 )« 

Ist somit die typisierende Befrachtung der Erzieherpersönlichkeit nur teil¬ 
weise durch historische Gesichtspunkte beherrscht, so verlieren diese ganz 
ihre Bedeutung, wenn es sich um die Betrachtung des Zöglings handelt 
Die Jugend, die erzogen werden soll, trägt zu allen Zeiten und überall im 
wesentlichen die gleichen Züge. Die besondern Eigenschaften der Rassen und 
Nationen treten in den Jahren vor der Pubertät und während derselben noch 


*) Der verbreitetste unter diesen Typen ist wahrscheinlich der zweite. Jedenfalls ist er derjenige, 
der für das Verständnis geschichtlicher wie praktischer Erscheinungen den tiefsten Aufschluß 
gibt. Alfr. Adlers Lehre von der Minderwertigkeit und die daran geknüpften Ansätze zu einer 
psychologischen Begründung der Pädagogik, über die C. Russo im 22. Jahrgang dieser Zeitschrift 
S. 355 ff. eingehender berichtet, gehören ganz und gar hierher. 


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Pädagogische Typenlehre 


251 


zurück, typisch erscheinen überall (be gleichen Entwicklungsstufen, grundlegend 
sind die Eigenschaften,' die diese voneinander, wie von der Verfassung der 
Erwachsenen trennen. Noch entschiedener sind wir für das Verständnis des 
einzelnen jugendlichen Wesens in seiner Besonderheit auf psychologische 
Gegebenheiten und Zusammenhänge angewiesen. Kurz, eine Aufreihung von 
Zöglingstypen, möge sie nun mehr oder weniger systematisch angelegt sein, 
kann nur auf rein psychologischem Boden erwachsen. Die Jugendkunde der 
Gegenwart ist denn auch bestrebt, ein typisierendes Verfahren auszubilden, 
das dem der beschreibenden Naturwissenschaft nahe verwandt ist. Besonders 
der Begriff des Begabungstypus tritt als zentral und richtunggebend hervor. 
Allein man wird nicht verkennen, daß dieser Begriff sich von den oben be¬ 
handelten Typen der Erziehungssysteme und selbst der Erzieher seinem Wesen 
wie seiner methodischen Bedeutung nach unterscheidet Ersetzt ein analytisches 
Verfahren voraus, durch welches aus dem gegebenen Komplexe von Anlagen 
eine oder einige einzelne als die hervorstechenden und maßgebenden heraus¬ 
gehoben werden. Jene dagegen erfassen die Gesamterscheinung unter einem 
harschenden Gesichtspunkt, der intuitiv und unmittelbar aus der Betrachtung 
geschichtlicher oder praktischer Zusammenhänge gewonnen wird. Die typisierende 
Betrachtung der letzteren Art will Gesamtbilder entwerfen, die psychologische 
Begabungslehre hält sich mit bewußter Absicht ans Einzelne. Diese Notwendig¬ 
keit ist ihr durch den naturwissenschaftlichen Charakter der neueren Psychologie 
überhaupt auferlegt, und es ist daher nicht wahrscheinlich, daß sie jemals 
darüber hinaus zu einer konstruktiven Darstellung jugendlicher Persönlich¬ 
keiten in ihrer Gesamterscheinung gelangen wird. 


Vor kurzem hat Vowinckel seine älteren Bemühungen um die pädagogische 
Typologie wieder aufgenommen und in einer besonderen Richtung weiter¬ 
geführt. Das Buch, in dem dies geschieht, soll das »gesamte pädagogische 
Bewußtsein“ untersuchen. ‘) Der Titel ist analog etwa einer Psychologie der 
Religion oder auch »der Mode“ gemeint. Es handelt sich also nicht etwa bloß 
um eine Unterrichtslehre auf psychologischer Grundlage. Eine solche bildet 
vielmehr nur den zweiten Abschnitt der Schrift. Der dritte aber ist es, der 
unter dem Titel »Psychologie der Schulgemeinschaft“ die Untersuchungen 
zusammenfaßt, die uns hier besonders angehen: eine Typologie der Schüler, 
der Klassengemeinschaften und endlich der Lehrer. 

Vorangeschickt ist ein grundlegendes Kapitel, das die Probleme der Charak¬ 
terologie im allgemeinen behandelt. Von der Einheit des Ichs im Bewußtsein 
geht die Betrachtung hier, wie in dem ganzen Werke aus: in diesem Sinne 
knüpft V. an die Einstellung der Denkpsychologie an und lehnt für die 
typisierende Betrachtung die Leistung der erklärenden, das heißt der natur¬ 
wissenschaftlich eingestellten Psychologie ab (S. 94). Er stellt eine Reihe von 
herrschenden oder, wie er es ausdrückt, zentrierenden Funktionen auf, in denen 
die Einheit des Ich sich als individuelle Besonderheit der Anlage ausspricht 
und damit zugleich der Erziehung ihre besondere Aufgabe stellt. Die Persönlich¬ 
keit, darin stimmt V. mit dem Verfasser der Sozialpädagogik überein, gestaltet 
sich nur in der Gemeinschaft und zu Zwecken, die aus der Idee des Gemein- 


') E. Vowinckel, Psychologie der Pädagogik. Berlin, F. A. Herbig, 1921. 


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schaftslebens hervorgehen. Daher hat eine Psychologie der Schulgemeinachaft 
biologische und teleologische Gesichtspunkte, individuelle Grundlagen und 
allgemeine Ziele der Persönlichkeitsbildung miteinander zu verknüpfen. Die 
biologisch gegebenen zentrierenden Funktionen treten nach V. hervor im 
Temperament, im „Rhythmus“ der Individualität, in den Besonderungen der 
intellektuellen Richtung, endlich in der Stärke und Richtung des Willenslebens. 
Wie weit diese Aufreihung logisch und psychologisch haltbar ist, braucht hier 
nicht nachgeprüft zu werden, umso weniger als die nunmehr folgenden typischen 
Gruppierungen sich nicht auf den hiermit gegebenen Gesichtspunkten aufbauen, 
sondern sie nur nebenbei zu gewissen Unterteilungen benutzen. Vs. Typen¬ 
bildung selber vollzieht sich vielmehr auf einem anderen m. E. klareren, und 
selbstständigeren Grundriß, als er von Begriffen wie Rhythmus und Temperament 
abgeleitet werden kann. 

V. geht, wie bei der Betrachtung des Schullebens natürlich, von der intellek¬ 
tuellen Einstellung der Schüler aus und findet bereits im Kindesalter zwei 
in dieser Hinsicht deutlich geschiedene Typen, die Tatsachen- und die Phantasie- 
Intellekte. Diese letzteren erscheinen wieder in zwei Unterarten: als lebhaft 
bewegliche oder als stille „verträumte“ Phantasiekinder. In lebendigen, von 
Anschauung gesättigten Farben treten diese kindlichen Typen bei V. hervor; 
ihre Werte, ihre Aussichten für die spätere Entwicklung werden mit erzieherischem 
Feingefühl abgewogen. Eingehendere Unterscheidungen der intellektuellen 
Typen aber macht erst die Zeit der beginnenden Reife möglich. Nun treten 
deutlich sichtbar drei Arten von jugendlichen Geistern auseinander :Gedächtnis- 
menschön, logische Intellekte, künstlerische Naturen. Dieersteren 
sind die bloß rezeptiven Geister, welche die große Masse der Durchschnitts¬ 
schüler bilden. Sie sind wesentlich zur Aufnahme fertig überlieferter Begriffe 
und Anschauungen veranlagt, und ihre Leistung besteht darin, das willig Auf¬ 
genommene mit Hilfe des Gedächtnisses sich einzuprägen. Die geistige 
Aktivität fehlt ihnen; die Kraft, neue Eindrücke denkend zu durchdringen, 
eine eigene Welt in sich aufzubauen, ist verkümmert „Jeder Lehrer kennt 
die gedächtnistreuen Schüler, denen nie etwas zum Erlebnis wird.“ Das 
bestimmende Merkmal des zweiten Typus ist die Unterscheidungskraft, das 
kritische Vermögen; es zeigt sich in der Art der theoretischen Aufnahme ebenso 
wohl, wie gegenüber den Eindrücken des praktischen Lebens: „die Materie 
ist ziemlich gleichgültig. Die Fähigkeit kann sich überall entfalten.“ Der Typus 
der Phantasiebegabten endlich wird nicht näher veranschaulicht. V. begnügt 
sich mit dem Hinweis, daß die künstlerische Anlage ein Danaergeschenk für 
das Leben wie für die Schule sei. Diese letztere habe sich immer feindlich 
zu ihr verhalten und zwar aus einer Notwendigkeit heraus. Die höheren 
Lehranstalten wenigstens könnten ihrer Eigenart nach nur die Gedächtnis¬ 
naturen und die logischen Intellekte wirklich brauchen. Hiermit ist nun frei¬ 
lich ein Problem nur eben berührt, das nach seiner praktischen wie theoretischen 
Bedeutsamkeit einer eingehenden Behandlung und befriedigenden Lösung 
dringend bedarf. 

Diese Einteilung nach 1 der Art der intellektuellen Anlage wird nun gekreuzt 
durch die Besonderungen des Gefühls- und Willenslebens. V. unterscheidet 
hier zwei große Gruppen, die er „die Empfänglichen und die Eigenkräftigen“ 
nennt. Die Empfänglichen geben sich innerhalb der Schulgemeinschaft ent¬ 
weder „durch frohe und naive Einschmiegung“ oder durch innerliche Ver- 


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Pädagogische Typenlehre 


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arbeitung des Aufgenommenen zu erkennen, diese letzteren zeigen eine stille 
Tiefe, die bis zur Melancholie gehen kann. Die Eigenkräftigen, das heifit 
die aktiven und zugleich selbstvertrauenden Naturen, teilt V. in die lauten und 
herrschsüchtigen und die „bescheidenen“, das heißt die zugleich ihrer Fähig¬ 
keiten und ihrer Orenzen bewußten, ruhig tüchtigen Charaktere. Diese letzteren 
sind die Führernaturen, „das Salz der Schulgemeinschaft“. 

Diese Typen hat V. nur in kurzer Formulierung gekennzeichnet, nicht mit 
ihren Einzelzügen zu plastischer Darstellung gebracht. Er legt, seinem be¬ 
sonderen Thema entsprechend, den Hauptton auf ihre Bedeutung für die 
psychologische Struktur der Schülergemeinschaft und nicht eigentlich auf die 
Erkenntnis der Zusammenhänge in der Einzelseele. Ja, was er in der letzteren 
Hinsicht beibringt, ist nicht durchweg einwandfrei, besonders die Art, wie er 
seine Schülertypen an dichterischen Schöpfungen zu veranschaulichen sucht, 
wirkt zuweilen geradezu absurd. Aber es wäre durchaus der Mühe wert, 
und V. wäre wohl der Mann dazu, die entworfene Typologie nach der 
individualpsychologischen Seite zu vertiefen und in klaren und festen Um¬ 
rissen hinzustellen. Den Reichtum an Gesichtspunkten wie an praktischen 
Anschauungen, die die Aufgabe verlangt, besitzt er. Das literarische Material 
freilich müßte nicht in Kleists und Hebbels Tragödien, sondern etwa bei 
Gottfried Keller, Hermann Hesse, H. Federer gesucht werden. Den letzten 
Band der Buddenbrooks zieht V. mit Recht heran. 

An die Typologie der Schülerindividualitäten schließt V. eine typisierende 
Beschreibung der Klassengemeinschaften: er unterscheidet drei Formen der¬ 
selben, die er als demokratische, als.Führer- und als Freundschafts¬ 
klasse bezeichnet. Die Idee ist sehr interessant, der Ausblick auf eine 
Soziologie des Schullebens eröffnet sich, die zu tiefen Einsichten in das Wesen 
der Jugendgemeinschaften wie des Gemeinschaftslebens überhaupt führen 
kann. Gelungen ist der Versuch m. E. noch nicht. Daß die typischen Ver¬ 
hältnisse, die dem Verf. vorschweben, Bedeutung für das Schulleben haben, 
ist gewiß; daß aber in der Wirklichkeit gegebene Schulklassen in ihrer Ge¬ 
samtgestaltung den einzelnen dieser Typen entsprechen, dürfte doch wohl 
der Ausnahmefall sein. Inhaltlich ist zwar der Gegensatz von demokratischer 
und Führerklasse verständlich und verwendbar, dagegen erscheint mir die 
Auffassung V.s von Schülerfreundschaften und ihrer Bedeutung für die Ge¬ 
meinschaft unzulänglich und verfehlt. 

Sehr bedeutsam dagegen, vielleicht das wertvollste in dieser gesamten 
Typologie ist die psychologische Betrachtung der Lehrerpersönlichkeit, wie 
sie denn auch am eingehendsten ausgeführt ist. Man muß dabei freilich im 
Auge halten, daß, was hier gegeben wird, nicht in einer Reihe mit der Auf¬ 
stellung der Erziehertypen steht, wie ich sie oben entwickelt habe. Der 
Verf. bleibt auch hier im engeren Rahmen des Schullebens; es handelt sich 
für ihn um den Klassenlehrer und die typisch verschiedene Art, wie dieser 
seine Aufgabe anfaßt, nicht um den pädagogischen Denker, noch um den 
in rein persönlichem Verhältnis sich betätigenden Erzieher. (Freilich könnte 
der Zusammenhang zwischen beiden Typenreihen leicht deutlich gemacht 
werden.) V. scheidet zwischen dem sachlich und dem persönlich ein¬ 
gestellten Lehrer. In der ersten Gruppe tritt zunächst der „nur sachliche“, 
d. h. der am Stoff klebende Schulmeister hervor, den der überlieferte Sprach¬ 
gebrauch als „Pauker“ bezeichnet. Er entspricht dem Typus des rein auf 


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Rudolf Lehmann, Pädagogische Typenlehre 


das Gedächtnis gestellten Schülers: wie diesem die Aufnahme, so bedeutet 
ihm die Überlieferung fertig geformten Materials alles, sie deckt sich nach 
seiner sehr unzulänglichen Auffassung mit dem Gesamtkreis seiner Aufgabe. 
In beträchtlichem Abstand erhebt sich über ihn der „vergeistigt sachliche“ 
d. h. der im rechten Sinn wissenschaftliche Lehrer. Ihm steht die er¬ 
kenntnismäßige Formung des Lehrstoffs, die intellektuelle Leistung, nicht die 
bloße Überlieferung im Vordergründe und damit doch schon ein wirkliches 
Ideal geistiger Tätigkeit. Allerdings läuft auch er Gefahr, sich auf Abwege 
zu verirren: die beiden Sondertypen des einseitigen Fachmenschen und des 
„Methodenreiters“ zeigen das. Die zweite Hauptgruppe nun unterscheidet 
sich von der ersten dadurch, daß für sie vpn vorbeherein die Persönlichkeit des 
Schülers, nicht der Lehrgegenstand im Mittelpunkte steht und mithin weder 
gedächtnismäßige Einprägung noch wissenschaftliche Methode, sondern die un¬ 
mittelbare Einwirkung des reifen auf den werdenden Menschen als der Kern 
der bildenden Tätigkeit aufgefaßt wird. Hierbei scheiden sich als Unteriypen 
der „naiv persönliche“ und der „bewußt persönliche“ Lehrer. Dererstere 
gibt sich ganz subjektiv aus unmittelbarem Gefühl und Antrieb heraus; er 
kann damit Wirkungen erzielen, die dem bloß sachlich eingestellten versagt 
bleiben, aber freilich, diese Subjektivität schützt nicht vor schiefen Ziel¬ 
stellungen, und die menschliche Liebenswürdigkeit, die unmittelbare Zu¬ 
neigung zur Jugend nicht vor Geistesarmut und Leere. Daher ist der höchste 
Typus derjenige, der die Gleichgewichtslage zwischen subjektiver uüd objek¬ 
tiver Einstellung wahrt, der das persönliche Lebendige ebenso wohl wie das 
sachlich Wertvolle im Auge hat und in der Vereinigung beider Ziel und Rich¬ 
tung seiner Tätigkeit sieht. Er allein vermag seinen Schülern Ideale aufzu¬ 
richten, die ihrer Individualität entsprechen und doch über diese hinaus all¬ 
gemeine Geltung haben. Er allein ist im letzten und höchsten Sinne des 
Wortes nicht nur Lehrer, sondern auch Erzieher. 

Von besonderem Interesse ist es, wie hier aus der typologischen Betrach¬ 
tung ungesucht und schier ungewollt Werturteile hervorwachsen, denen man 
den objektiven Charakter nicht absprechen kann; ein Beitrag zur Lösung 
der methodischen Schwierigkeit, die aus der Doppelseitigkeit der Pädagogik 
als Tatsachen- und als Wertwissenschaft hervorgeht. Überhaupt wird man 
sich am Abschluß unserer Betrachtung ein Bild von der Bedeutung machen 
können, die einer umfassenden pädagogischen Typologie, einer Erziehungs¬ 
wissenschaft, die ganz als Typenlehre gestaltet wäre, innewohnen muß. Sie 
ist gewiß nicht die einzig mögliche und erschöpfende Form, in der eine 
wissenschaftliche Pädagogik wird auftreten können. Aber dennoch k ann 
sie ein methodisches Verfahren und zugleich einen systematischen Zusammen¬ 
hang entwickeln, die nicht nur zu tiefen Einsichten auf dem Gebiete der 
Erziehungswissenschaft selbst führen, sondern darüber hinaus auch für andere 
Geisteswissenschaften vorbildlich zu werden vermögen. 


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iber, Die Bedeut, des Ach’schen Begriffes der Determination für die Erziehungslehre 255 


Die Bedeutung des Ach’schen Begriffes der Determination 

für die Erziehungslehre. ' 

Von Andreas Hillgruber. 

Für die Beurteilung des Seelenlebens, das sich an den Willensakt an¬ 
schließt, ist der von N. Ach 1 ) eingeführte Begriff der Determination von ent¬ 
scheidender Bedeutung. Er besagt folgendes: durch den Willensakt wird der 
Ablauf des Seelenlebens in der durch die Zielvorstellung charakterisierten 
Weise festgelegt, und die Realisierung der Zielvorstellung erfolgt im gegebepen 
Augenblick automatisch. Die Nachwirkung des Willensaktes, die Deter¬ 
mination, ist im allgemeinen unmittelbar nach dem Akt am stärksten und 
verblaßt mit zunehmender Zeit, kann aber unter Umständen lange Zeiträume, 
ja die ganze Lebenszeit zu spüren sein. 2 ) Die determinierende Wirkung 
des Willensaktes und der Abfall der Stärke der Determination sind abhängig 
von der Eigenart des Menschen, seinem Temperament. Sind die Wider¬ 
stände, die sich der Verwirklichung der Zielvorstellung entgegenstellen, so 
groß, daß anders gehandelt wird, als man gewollt hat, so entsteht ein Ge¬ 
fühl der Unlust, das einen verstärkenden Willensakt hervorruft. Dies gilt 
jedoch nur im allgemeinen und ist von der Eigenart des Temperaments ab¬ 
hängig. Bei manchen Menschen ist die Gefühlsreaktion sbhr lebhaft, bei 
anderen stumpf, so daß die objektiv gleiche Handlung eine ganz verschiedene 
Rückwirkung auf den Willen nach sich ziehen kann. 

Diese Ergebnisse sind unter Zugrundelegung intellektueller Prozesse erzielt 
worden; man kann ihre Wirksamkeit aber auch auf dem Gebiet des Sitt¬ 
lichen verfolgen. Die Forderung, die Wahrheit zu reden, ist für den sitt¬ 
lichen Menschen so in sein ganzes Wesen eingedrungen, daß er es für 
selbstverständlich ansieht, die Wahrheit zu reden; er kann gar nicht anders; 
sein Seelenleben ist in dieser Richtung festgelegt oder, um den Ausdruck zu 
gebrauchen, determiniert. Im einzelnen Falle ist gar kein besonderer 
Willensakt notig. Es kommt dem Menschen gar nicht zum Bewußtsein, daß 
er etwas Besonderes leistet. Man nehme folgendes an: Solch ein Mensch 
habe das Unglück, im Kriege in Gefangenschaft zu fallen. Ihm ist ein¬ 
geschärft, nichts auszusagen, und er verweigert tatsächlich jede Aussage; 
aber Hunger und Gefängnis lassen ihn den Ausweg finden, daß er sich ent¬ 
schließt, eine Aussage zu machen, aber dem Ausfragenden etwas vorzulügen. 
Bald zeigt es sich, daß er sich mehr vorgenommen hat, als er ausführen 
kann. Jedes wahre und jedes gelogene Wort kann ihm vom Gesicht ab¬ 
gelesen werden. 3 ) Er bestätigt durch sein Verhalten, daß der Begriff der 
Determination auch auf sittlichem Gebiet begründet ist. Wer kennt nicht 
das unbehagliche Gefühl, das den Wahrheitsliebenden beim Aussprechen 
einer Lüge überkommt? Wir nennen es „Gewissen“; es ist aber nichts 
anderes als die auf dem Gebiete der intellektuellen Prozesse beobachtete 


*) Vgl. N. Acta, .Über die Willenstätigkeit und das Denken*. .Über den Willensakt and das 
Temperament*. 

*) Man betrachte unter diesem Gesichtspunkte die Bekehrung des Apostels Paulus. 

*) So erküre ich mir in vielen Pillen den Verrat militärischer Geheimnisse durch Kriegs¬ 
gefangene. 


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256 


Andreas Hillgruber 


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’i 


gefühlsmäßige Reaktion, wenn die Determination nicht stark genug war, um 
die entgegenstehenden Hindernisse überwinden zu können. 

Wir wenden uns nunmehr den Aufgaben der Erziehung zu. Bei seiner 
Arbeit wird der Erzieher bald merken, daß er der Eigenart des Temperaments 
der Zöglinge Rechnung tragen muß. Bei manchen ist die gefühlsmäßige i 
Motivation so lebhaft, daß die Ehrfurcht vor dem Sittengesetz einen WillenBakt 
auslöst, der dauernd die Lebensführung beeinflußt. Bei anderen wird wohl 
noch ein starker Willensakt ohne besondere Einwirkung des Erziehers ein- 
setzen, aber die resultierende Determination fällt in ihrer Stärke rasch ab, 
und der Erzieher wird zu seinem Bedauern Verfehlungen feststellen, die er 
nach der beobachteten begeisterten Aufnahme der sittlichen Forderung nicht 
erwartet hätte. Der ungeschulte Erzieher sieht bösen Willen und richtet 
seine Maßnahmen dementsprechend ein, und doch liegt nur Schwäche der 
determinierenden Veranlagung vor. Bei einer solchen Willensveranlagung 
genügt eine milde Erinnerung, um wieder sittliche Bereitschaft zu erreichen. 
Andere haben eine stumpfe Motivation; sie sind gefühlsmäßig schwach 
veranlagt. Es bedarf entschiedener Einwirkung des Erziehers, um überhaupt 
den erwünschten Willensakt zu erzielen. 

Bei diesen notwendigen Eingriffen in das Willensleben des ZöglingB ist 
es sehr wichtig, daß der Erzieher sich vor Augen hält, worin seine Aufgabe 
besteht. Er soll nicht Vergehen aburteilen oder strafen, sondern dem Zögling 
helfen, einen Willensentschluß zu fassen; dann wird es ihm leicht sein, seine 
Menschenwürde zu achten. Er muß sich des Beispiels des Reiters erinnern, 
der ein Hindernis nehmen will; wenn er seinem Pferde dabei Peitsche oder 
Sporen gibt, so spricht er nur von „Hilfen“, aber niemals von Strafen. 1 ) 

Das Ziel der Erziehung ist die sittliche Reife des Zöglings, womit die 
Fähigkeit zu selbständiger Entschließung in sittlicher Hinsicht und eine an¬ 
gemessene Kräftigung der sittlichen Determination gemeint ist. Die eben 
erwähnten Maßnahmen, die Eingriffe ins Willensleben, wird der Erzieher 
nur ausnahmsweise anwenden, sie bewirken wohl Willensakte, aber es fehlt 
das Moment der Selbständigkeit des Zöglings. 

Es muß darauf hingewiesen werden, daß die sittlichen Willenshandlungen 
nur eine besondere Art der Willenshandlungen überhaupt sind, und daß 
man eine formale Schulung der Sittlichkeit erreicht, wenn man das Willens¬ 
leben im allgemeinen kräftigt. Spiel und Sport bieten sich dem Erzieher 
in dieser Hinsicht zunächst als hochwertige Erziehungsmittel dar. Man ist 
sich noch nicht überall bewußt, wie gerade die Entschlußfähigkeit durch 
diese beiden Formen der Betätigung der Kinder- und Jugendjahre geübt 
wird. Ich denke an das einfache Greifchenspiel. Interessant ist es, dabei 
die einzelnen Phasen des Willenslebens zu verfolgen. Der Entschluß zum 
Angriff auf der einen, der Entschluß zur Rettung auf der anderen Seite, 
dann nach dem Schlag vollständige Umkehrung der Einstellung. Der Flüchtling 
wird zum Angreifer und dieser zum Flüchtling; so reiht sich in rascher 
Folge Willensakt an Willensakt. Beim Schlagballspiel, das auf der Grenze 
zwischen Spiel und Sport steht, sind die Verhältnisse schon komplizierter: 
Hier gilt es, die ganze Situation zu überblicken und im günstigsten Augen- 


l ) Objektiv kommt es ja au! dasselbe hinaus. In der Erziehung spielen jedoch die subjek¬ 
tiven Momente eine wichtige Rolle. 


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Die Bedeutung des Ach’schen Begriffes der Determination für die Erziehungslehre 257 


blick den Entschluß zum Mallauf zu fassen. Der Augenblick des Abwerfens 
einer Partei ist psychologisch noch höher zu bewerten, weil eine vollständige 
Umstellung des Willens von der Verteidigung zum Angriff erfolgt. 

Wir wenden uns nunmehr zur erzieherischen Pflege der vom Willensakt 
ausgehenden Determination. Sie soll im gegebenen Augenblick zur Ver¬ 
wirklichung der Zielvorstellung führen. Wenn wir vom Sittlichen im engeren 
Sinne absehen, so finden wir den Fortschritt von der Absicht zur Verwirk¬ 
lichung der Absicht am ausgeprägtesten in der Beschäftigung, die man Arbeit 
nennt. Das ist der Unterschied zwischen Spiel und Arbeit, daß diese sich 
von einer bestimmten Absicht leiten läßt und ein Ergebnis erzielen will, 
während bei jenem davon keine Rede ist. Pflege der Arbeit bedeutet Pflege 
des Willenslebens, im besonderen Pflege der ihrer Aufgabe gewachsenen 
Determination. Wir müssen scheiden zwischen der-Arbeit als einfacher Be¬ 
schäftigung und Arbeit als einer zielstrebigen Beschäftigung, die ein be¬ 
absichtigtes Ergebnis zeitigen will. Nur dieser wohnt der große erziehliche 
Wert inne, weil nur der in diesem Sinne arbeitende Mensch sein Willens¬ 
leben in derselben Weise ablaufen läßt, wie es bei einer sittlichen Handlung 
geschieht. Nur der Schulmann, der sich dieser fundamentalen Einsicht er¬ 
schlossen hat, wird die Schularbeit bewußt erziehlich gestalten. Als Ziel 
wird ihm vorschweben: Die Arbeit muß ein Ergebnis zeitigen. Er wird die 
Arbeit angemessen der Kraft des Zöglings auswählen, nicht zu leicht, sonst 
würde das fördernde Moment 1 ) der Schwierigkeit der Aufgabe fehlen, nicht 
zu schwer, sonst würde sie ergebnislos sein. 

Die Form der Schule, die man Arbeitsschule nennt, hat als wertvollen 
erzieherischen Faktor aufzuweisen, daß sie von Anfang an den Schüler vor 
Aufgaben stellen will, die er selbsttätig lösen soll. Im ersten Schuljahr z. B. 
ist das Märchen vom Rotkäppchen erzählt worden. Der Lehrer wirft den 
Gedanken auf: Könnten wir nicht einmal das Haus der Großmutter malen 
oder Rotkäppchen in Ton kneten? Der Anregung folgt der Entschluß und 
die Ausführung. Mit der Vollendung einer jeden dieser Aufgaben vollzieht 
sich der Ablauf einer Willenshandlung, und darin liegt ihr erziehlicher Wert 

Besondere Erwähnung in erziehlicher Hinsicht verdienen die Aufsätze. 
Um den entschließenden Akt nach Möglichkeit in die Seele des Schülers 
zu verlegen, empfiehlt es sich, mehrere Aufgaben zur Auswahl zu geben. 
Die an die Wahl des Schülers sich anschließende Willenshandlung findet in 
der Abgabe der fertig eingeschriebenen Arbeit ihren Abschluß. 

Zum Schluß soll noch auf die erzieherische Bedeutung der Prüfungen 
eingegangen werden. Es sind Stimmen laut geworden, die die Berechtigung 
der Prüfungen bestreiten. Die Überlastung der Schüler wird auf die Prüfung 
geschoben. In der Tat kann nicht geleugnet werden, daß eine Prüfung, die 
die Präsenz des im Unterricht vermittelten Wissens voraussetzt, verhängnisvoll 
für die geistige Entwicklung der Schüler werden kann. Wenn aber die 
Prüfung in dem Sinne aufgefaßt wird, daß sich in ihr die Persönlichkeit 
des Schülers in jeder Hinsicht zugleich mit dem Maß seiner formalen 
Schulung zeigen soll, so ist jede Gefährdung ausgeschlossen, und nur die 
durch kein anderes schulmäßiges Mittel in dem Maße zu erreichende Willens- 


! ) Vgl. die Ergebnisse meiner Arbeit: „Fortlaufende Arbeit und Willensbetätigung“ in N. Achs 
Psychologischen Arbeiten (Quelle & Meyer). 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 17 


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258 A. Hillgruber, Die Bedeutg. des Ach’sehen Begriffes der Determination für die Erzieht 


bildung bleibt übrig. Man vergegenwärtige sich die Größe der Willens- 
handlung, die in der Prüfung ihren Abschluß findet: Der sie einleitende 
Willensakt liegt oft Jahre zurück und hat eine zum Schluß immer stärker 
werdende Determination zur Folge. Die Vorbereitung auf eine Prüfung ist 
das Höchste, was die Schule hinsichtlich der Willenserziehung leisten kann. 

Wir haben bei den letzten Erörterungen die Sittlichkeit ganz aus dem 
Auge verloren, und es scheint so, als ob sich Willensbildung und Erziehung 
zur Sittlichkeit decken. Das hat in gewissem Sinne seine Berechtigung. 
Die Willensbildung ist die Voraussetzung der Sittlichkeit; der „starke“ Wille, 
der das Ergebnis der Willenserziehung ist, verschafft erst dem „guten“ Willen 
die Herrschaft über die widerstrebenden Triebe. Dieses Stadium der seelischen 
Entwickelung ist die sittliche Reife; sie ist das Ziel der Erziehung. 


Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schülern. 

(Aus dem Göttinger lAstitut für angewandte Psychologie.) 

Von Adolf Michaelis. 

Die im folgenden mitgeteilten Untersuchungen behandeln zwei im Göttinger 
Institut für angewandte Psychologie im Juli 1920 und Januar 1921 angestellte 
Versuche, deren Material mir von dem Institutsleiter Herrn Professor 
Dr. W. Baade zur Bearbeitung überlassen wurde. Zur Verwendung 
gelangte der bekannte Bourdon-Test in der Form, daß die Vpn. instruiert 
wurden, in einem sinnvollen Text eine möglichst große Anzahl gewisser 
vorher angegebener Buchstaben zu durchstreichen. Die textliche Unterlage 
war in beiden Versuchen dieselbe, ein durch Fortlassen aller Absätze, Sperr¬ 
drücke, Anführungsstriche usw. vorbereiteter Zeitungsartikel, der dem Ver¬ 
ständnis der Vpn. nicht expreß angepaßt war, ihnen aber auch keinerlei 
besondere Schwierigkeiten bereitete; er war im gebräuchlichen Zeitungssatz 
und deutschen Lettern in zwei getrennten Abschnitten von nahezu gleicher 
Länge gedruckt, weitere drei Zeilen am Kopf des Bogens dienten zur In¬ 
struktion und ersten Einübung. 

Vpn. waren in beiden Versuchen die Schüler der 2a-Knabenklasse der 
Westlichen Volksschule in Göttingen im Alter von 10,8 bis 14,8 Jahren; das 
Altersmittel war beim ersten Versuch 12,5, beim zweiten 12,7 Jahre 1 ); zur 
Auswertung gelangten beim ersten Versuch die Ergebnisse von 36 Vpn., beim 
zweiten die von 30 Vpn.; 25 Vpn. nahmen an beiden Prüfungen teil, so daß 
für sie ein Vergleich ihrer Leistungen im ersten Versuch mit denen des 
zweiten möglich war. — 

Zur Technik des Experiments sei bemerkt, daß die Durchstreichung der 
Buchstaben mit Bleistift ausgeführt wurde; einige Studierende waren in der 
Klasse verteilt, um bei der ersten Anleitung der Vpn. durch gelegentliche 
Hinweise behilflich zu sein und während des Versuchs durch Ersetzen der 
abgenutzten und abgebrochenen Bleistifte und andere kleine Hilfen den un¬ 
gestörten Fortgang des Versuchs zu gewährleisten. 

') Die Verschiebung des Mittelwertes um einen geringeren Betrag als den Zeitunterschied 
zwischen den beiden Versuchen erklärt sich dadurch, daB einige Vpn. wegen Krankheit an 
dem ersten bezw. zweiten Versuch nicht teilnehmen konnten. 


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Original fru-m 

UMIVERSITY OF MICHIGAN 



Adolf Michaelis, Der Boordon-Test bei 12 jährigen Schülern 


259 


Die beiden Versuche wurden in genau derselben Weise angestellt, nur 
wurde der Januarversuch dahin vervollständigt, daß die Vpn. instruiert wurden, 
bei dem nach Ablauf jeder Minute erfolgenden Befehl „Strich!“ die Textstelle, 
an der sie sich gerade befanden, durch einen senkrechten Strich zu bezeichnen, 
der dann bei der Auswertung als Zeitmarke dienen konnte. 

Die unten angeführten Korrelationen sind sämtlich Rangkorrelationen, die 

62? d* 1_ o 1 

nach der Spearmanschen Formel q = 1 — n ^ n i _ jy + 0,706 - -- berechnet 

wurden. Trotz der von Deuchler 1 ) hervorgehobenen durchaus berechtigten 
schweren Bedenken, die in vielen Fällen gegen die Anwendung dieser 
Methode sprechen, erschien ihre Verwendung hier, wo nur in wenigen Aus¬ 
nahmefällen unbeträchtliche Häufungen auf derselben Rangstufe auftraten, 
doch am Platze, zumal sie noch immer die einfachste aller derartigen Be¬ 
rechnungsarten ist. — Auf den bekannten Streit über den prinzipiellen Wert 
der Korrelationsrechnung für die Probleme der angewandten Psychologie 
will ich an dieser Stelle nicht eingehen; trotz aller gegen den Korrelations¬ 
koeffizienten erhobenen Angriffe erschien es mir doch von Wichtigkeit, diese 
Berechnungen, zu denen das vorliegende Material geradezu herausfordert, 
hier an einem konkreten Fall durchzuführen. 

Jeder Versuch umfaßte zwei durch eine Pause von 5 Minuten getrennte 
Prüfungen — im folgenden unter I und II (Juli 1920), III und IV (Januar 1921) 
aufgeführt —, die sich durch Art und Zahl der anzustreichenden Buchstaben 
unterschieden. Es waren zu unterstreichen bei I alle e und i (zwei Vokale), 
wofür 15,3 Min. gewährt wurden, bei II r, s, t (3 Konsonanten), Versuchs¬ 
dauer 16,0 Min., bei HI n, s (2 Konsonanten), Versuchsdauer 12,0 Min., bei IV 
a, i, o (3 Vokale), Versuchsdauer 11 Min. Die Buchstaben waren so gewählt, 
daß die durchschnittliche Anzahl der anzustreichenden Buchstaben jeder Zeile 
bei den beiden unmittelbar aufeinanderfolgenden Versuchen möglichst gleich 
war; sie betrug für den Juliversuch bei I 11,9, bei II 10,8, für den Januar¬ 
versuch bei III 7,9, bei IV 7,8 Buchstaben in jeder Zeile. 

Für die Verrechnung wurden berücksichtigt die Anzahl der richtig an¬ 
gestrichenen (r) und die der übersehenen (o) Buchstaben; Durchstreichungen 
falscher Buchstaben traten in so geringer Zahl auf, • daß ihre Verwertung 
nicht in Frage kommen konnte; sie scheinen nur bei niederen als den unter¬ 
suchten Altersstufen eine größere Rolle zu spielen 2 ). 

Die Versuche ergaben zunächst die folgenden charakteristischen Werte: 

In den angegebenen Zeiten betrug die Anzahl der richtig angestrichenen 
plus der übersehenen Buchstaben S = r + o 


Tabelle 1. 



Maximum 

Minimum 

Mittel 

I 

730 

202 

460 

II 

672 

219 

359 

III 

443 

176 

313 

IV 

550 

188 

316 


’) Deuchler, Ober die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik und Psycho¬ 
logie. Zeitscbr. f. päd. Psych. 15, 1914. 

*) In diese Richtung deutet vielleicht der Befund eines mit Test I an einer beträchtlich 
jüngeren Vp. (Eva C„ 8,4 Jahre) angesteUten Einzelversuchs mit dem Ergebnis: 314 r, 59 o, 
dazu falsch angestrichen 4 Buchstaben (2 r, 1 n, 1 d), wobei hervorgehoben werden muß, daß 
im Hauptversuch bei I keine Vp. fatsche Durchstreichungen machte. 

11 * 


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260 


Adolf Michaelis 


Die Tabelle gibt an, dafi beispielsweise bei I die am schnellsten arbeitende 
Vp. in der gewährten Zeit bis zum 730ten der anzustreichenden Buchstaben 
gekommen war, wobei sowohl die durchstrichenen als die übersehenen Buch* 
staben gezählt sind. 

Die bezüglichen S-Werte je Minute berechnen sich daraus so: 



Maximum 

Minimum 

Mittel 

I 

41,2 

13,6 

30,1 

II 

42,0 

13,6 

22,4 

in 

36,9 

14,7 

26,1 

IV 

60,0 

17,1 

30,5 


Die Prozente R der richtig durchstrichenen Buchstaben (R =■= 10 ^ r ) sind 



Maximum 

Minimum 

Mittel 

i 

100 

80,4 

96,1 

ii 

99,9 

81,3 

92,2 

in 

93,6 

63,6 

83,1 

IV 

98,9 

66,7 

91,3 


die Prozentwerte O der Auslassungen (0 =» —ergeben 



Maximum 

Minimum 

Mittel 

I 

19,6 

0 

3,9 

n 

18,7 

0,1 

7,8 

in 

36,4 

6,4 

16,9 

IV 

33,3 

1,1 

8,7 


die Anzahl der richtig durchstrichenen Buchstaben (r-Zahlen) je Minute ist 



Maximum 

Minimum 

Mittel 

I 

46,0 

13,1 

28,9 

II 

41,9 

13,3 

21,7 

m 

32,4 

13,8 

21,3 

IV 

46,9 

16,4 

27,5 


Die Mittelwerte dieser Tabellen zeigen übereinstimmend, daß die beiden 
Vokaltests „leichter“ sind als die Konsonantenversuche. Die durch S ge¬ 
messene Arbeitsgeschwindigkeit ist bei I und IV größer als bei II und m, 
und zwar ist sie bei I um 30 v. H. größer als bei II; bei IV, wo die anzu¬ 
streichenden Buchstaben (3 Vokale) eine größere Mannigfaltigkeit zeigen als 
bei III (2 Konsonanten), ist dieser Unterschied geringer, doch übertrifft der 
Mittelwert von SIV den von SIU immerhin noch um 15 v. H. Ursache hier¬ 
von kann nicht die Anzahl der zu durchstreichenden Buchstaben je Zeile 
sein, da diese bei I und II einerseits, III und IV andererseits annähernd die¬ 
selbe ist, ebenso kann auch die Zeitlage der Versuche nicht dafür verant¬ 
wortlich gemacht werden, denn in der Sommerprüfung stand der Vokaltest I 
an erster, in der Winterprüfung dagegen der Vokaltest IV an zweiter Stelle. 


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Original from 

UNIVERSfTY OFMICHiG, 



Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schülern 


261 


Die Versuche zeigen also, daß die Arbeitsgeschwindigkeit weniger von der 
Anzahl als von der Art der Buchstaben (Vokale oder Konsonanten) abhängt. 
Dasselbe gilt auch ftir die Genauigkeit, wie das Verhalten der Mittelwerte 
von O beweist, die für die Vokaltests I und IV nur halb so groß sind wie 
fflr den gleichzeitigen Konsonantenversuch II bezw. III. Und desgleichen 
ersieht man aus Tab. 5, daß auch die absoluten r-Werte je Minute bei den 
Vokaltests stets größer sind als bei den andern, und zwar ebenfalls unab¬ 
hängig von der Zeitlage der Versuche. 

Treffen diese Verhältnisse nun nur auf die Durchschnittswerte einer größeren 
Anzahl von Vpn. zu oder gelten sie auch für das Individuum? Wenn letzteres 
der Fall ist, so muß z. B..eine Vp., die in 1 bezüglich der S-Zahlen zu den 
.besten“ gehörte, auch in II einen ähnlichen Platz einnehmen. Man muß 
also die Rangordnungen der Vpn. hinsichtlich ihrer Leistungen in den ein¬ 
zelnen Prüfungen untersuchen; wenn das eben gegebene Beispiel-zutrifft, so 
müssen die Rangordnungen eine nähere Verwandtschaft erkennen lassen, 
andernfalls sind sie mehr oder weniger unabhängig. Das Maß für eine 
solche Beziehung ist der Korrelationskoeffizient; will man also über die oben 
gestellte Frage Aufschluß erhalten, so muß man die Korrelationen für die 
betreffenden Werte berechnen. Man erhält dann folgende Zahlen: 

g (SI: SU) = 0,81 ± 0,04; g (Ol: OII) — 0,29 + 0,11 
g (SRI: SIV) = 0,51 ± 0,09; g (OUI: OIV) = 0,55 ± 0,09. 

Hierbei bedeutet z. B. g (SI: SII) den Koeffizienten, der sich für die Korre- 
lierung der Rangordnung nach den S-Werten bezüglich des Versuchs I mit 
denen des Versuchs II ergibt. 

In allen Fällen zeigt sich genügend deutlich positive Korrelation, was 
dahin gedeutet werden darf, daß die in Frage kommenden Variationen der 
Versuchsbedingungen bei den Vpn. eine Änderung der Leistung in gleichem 
Sinne hervorrufen. 

Die oben aus den S- und O-Zahlen gefolgerte größere „Schwierigkeit“ der 
Konsonantentests II und III gilt mithin nicht nur für den Durchschnitt, sondern 
auch für jede einzelne Vp. — Im Vergleich zu den übrigen Korrelationen 
ist g (01:011) auffallend niedrig, jedoch ist dem nicht sehr große Bedeutung 
beizumessen, da die F-Zahlen in allen Versuchen starken Schwankungen 
unterworfen sind. 

Es liegt nun nahe, für die in beiden Versuchen geprüften Vpn. die Be¬ 
ziehungen zwischen den Prüfungen I und II einerseits, RI und IV anderer¬ 
seits zu untersuchen. Auch hierfür erhält man bei der Berechnung der 
Korrelationskoeffizienten durchweg positive Ergebnisse: 

g (SI: SRI) — 0,57 + 0,09; g (Ol: OIII) — 0,28 + 0,13 

g (SII: SRI) — 0,51 + 0,10; g (OH : ORI) = 0,00 + 0,14 

g (SI: SIV) — 0,37 + 0,12; g (Ol: OIV) — 0,22 ± 0,13 

g (SR : SIV) — 0,54 + 0,10; g (OII: OIV) = 0,13 ± 0,14. 

Im Durchschnitt erreichen diese aber, obwohl bei ihnen im Gegensatz zu 
den oben hier mitgeteilten stets eine der beiden Variablen (Buchstaben¬ 
zahl oder -Typus) konstant ist, nicht dieselbe Höhe wie die vorigen, was aber 
nicht sehr verwunderlich ist, da zwischen den korrelierten Versuchen ein 
Zeitraum von 6 Monaten liegt, der sicherlich für eine Beeinflussung der Er¬ 
gebnisse durch intra-individuelle Veränderungen genügt 


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262 


Adolf Michaelis. 


Die Korrelationen bezüglich der S-Werte schließen hier sich den oben für 
je zwei aufeinanderfolgende Versuche berechneten — g (SI: SH, g (Sin: SIV) — 
im Mittel gut an, dahingegen sind die zuletzt angegebenen O-Korrelationen 
durchschnittlich sehr viel niedriger als g (01:011) und g (Oül: OIV). 

Weitere Schlüsse, etwa solche auf den Einfluß der Art oder Anzahl der 
zu durchstreichenden Buchstaben auf die Größe der einzelnen Korrelationen, 
lassen diese Ergebnisse nicht zu. 

Um zu sehen, ob und in welchem Sinne sich die Arbeitsgeschwindigkeit 
mit dem Alter ändert, wurden die Korrelationen der S-Zahlen zum Lebens¬ 
alter (LA) berechnet; diese sind: 

g (LA: SI) — 0,20 + 0,11, g (LA: SH)*= 0,26 + 0,11 
g (LA : SDI) = 0,47 + 0,10, g (LA : SIV) — 0,29 + 0,11. 

Sie zeigen eine zwar schwache, aber immerhin deutliche Beziehung zwischen 
höherem Alter und größerer Arbeitsgeschwindigkeit. 

Ein ganz anderes Bild bieten dagegen die Korrelationen zwischen Lebens¬ 
alter und Genauigkeit, besonders durch das Auftreten negativer Werte: 
g (LA: Ol) — + 0,23 + 0,11; g (LA : OH) = — 0,29 + 0,11 
g (LA: OIII)-0,01 + 0,13; g (LA : OIV) = + 0,29 + 0,11. 

Wie diese in mancher Hinsicht merkwürdigen Befunde zu deuten sind, 
muß aber dahingestellt bleiben. Aus verschiedenen Gründen erscheint es 
nicht ausgeschlossen, daß sie bedingt sind durch ein von dem der übrigen 
Vpn. abweichendes Verhalten der „Sitzenbleiber“, die hier aus technischen 
Gründen nicht ausgeschaltet werden konnten und die zum großen Teil eine 
starke Differenz zwischen Lebens- und Intelligenzalter aufwiesen; es ist dem¬ 
nach nicht unwahrscheinlich, daß man bei Prüfung von Vpn. mit normalem 
Klassenalter wesentlich andere Resultate erhalten würde. — Sehr deutlich 
aber zeigen diese Korrelationen — und, wenn auch weniger stark aus¬ 
geprägt, ebenfalls die voranstehende Gruppe der Korrelationen zwischen 
LA und S — in Übereinstimmung mit den Mittelwerten der S- und O-Zahlen 
und auf ganz anderem Wege, daß die Änderungen im Verhalten der Vpn. 
vor allem durch die Verschiedenheit der Buchstaben typen (Vokale oder 
Konsonanten) und erst in viel geringerem Grade durch die verschiedene 
Buchstabenanzahl hervorgerufen werden, denn nach dem oben Gesagten 
ist es sicher, daß die Zeitlage der Versuche auf die Ergebnisse keinen merk¬ 
lichen Einfluß hat. 

Um ein Maß für die Gesamtleistung (G) einer Vp. in einer Prüfung zu 
erhalten, wurde nach der Rangplatzmethode verfahren: die Rangplatz¬ 
nummern jeder Vp. hinsichtlich ihrer Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit 
(R) wurden addiert und die Vpn. sodann nach diesen Zahlen rangiert Auf 
diese Weise erhält man für jeden Versuch je eine neue Rangordnung; werden 
diese untereinander korreliert, so ergibt sich 

g (Gl: GH) — 0,48 ± 0,09, g (Gm : GIV) = 0,40 ± 0,11. 

Diese Zahlen liefern nichts neues. Denn da der G-Wert einer Vp. sich 
aus ihren Rangplätzen bezüglich S und R additiv zusammensetzt, sind die 
Korrelationen der Rangordnungen nach den G-Werten abhängig von der 
Korrelation bezüglich der S- bzw. O-Werte (denn die R-Rangordnung ist ledig¬ 
lich die Umkehrung der O-Rangierung); für die Sommerprüfung ist das 
Ergebnis daher zum wesentlichen bedingt durch die Höhe von g (SI: SH), 


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Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schälern 


263 


für die Winterprüfung durch die hohen Korrelationen der S- bezw. O-Werte. 
Etwas jedoch läßt sich aus diesen Zahlen schließen: Wären nämlich die 
Korrelationen bezüglich der G-Zahlen sehr hoch, etwa ebenso hoch oder 
hoher als die größte der Korrelationen bezüglich der S- und O-Werte, aus 
denen sich die G-Zahlen ableiten, so würde man einen starken Zusammen¬ 
hang dieser Größen vermuten können. Hier aber stellen sich die Q-Korre¬ 
lationen erheblich niedriger als die letztgenannten und weisen somit auf 
einen nur schwachen Zusammenhang zwischen S und O hin. In der Tat 
ist denn auch 

q (SI: 01) — 0,12 + 0,12; q (SH: OH) — 0,10 ± 0,12 

q (Sin: Offl) = 0,33 + 0,11; q (SIV: OIV) — 0,23 + 0,12. 

Was man eigentlich erwarten sollte, eine deutliche und regelmäßige Stei¬ 
gerung der Fehlerzahl bei den höheren S-Werten, mithin eine hohe Korre¬ 

lation, trifft hier nicht zu; die sprichwörtliche Regel, daß im allgemeinen 
eine höhere Arbeitsgeschwindigkeit von größerer Flüchtigkeit begleitet sei, 
findet hier also kaum eine Bestätigung, im Gegenteil zeigen sich Arbeits¬ 
geschwindigkeit und „Flüchtigkeit“ als verhältnismäßig stark voneinander 
unabhängige Größen. — 

Die leichte Anwendbarkeit des Tests, mit dem eine große Anzahl von 
Personen gleichzeitig geprüft werden kann, sowie der Umstand, daß das Er¬ 
gebnis einer solchen Prüfung sogleich zahlenmäßig festgelegt ist, lassen den 
„Bourdon“, rein technisch betrachtet, für Intelligenzprüfungen sehr geeignet 
erscheinen. Es fragt sich aber, ob durch diesen Test wirklich solche Lei¬ 
stungen erkennbar werden, die durch die größere oder geringere Intelligenz 
des Individuums bedingt sind. Um hierüber einige Aufschlüsse zu erhalten, 
wurden die Rangordnungen der Vpn. hinsichtlich der Summe ihrer durch 
Zensuren festgelegten Schulleistungen (Klassenplatz) mit den Rangordnungen 
der Testleistungen korreliert. Wenngleich der Klassenplatz durchaus kein 
exaktes Maß für die Intelligenz ist, könnte er hier doch hinreichen, um an 
Hand der Korrelationsberechnungen eine Beziehung des „Bourdon“ zur 
Intelligenz feststellen zu lassen, (zumal allgemein in der Volksschule sämtliche 
Intelligenzleistungen des Schülers gleichmäßig berücksichtigt werden und 
nicht, wie z. B. an Gymnasien oder Realanstalten auf Grund ihrer ganzen 
Zielsetzung und der darauf beruhenden Stoffverteilung im Lehrplan, bestimmte 
geistige Fähigkeiten des Schülers stärker hervortreten und außerdem bei der Ge¬ 
samtbeurteilung unter Vernachlässigung anderer höher bewertet werden), im vor¬ 
liegenden Fall besonders auch deswegen, weil einmal die Korrelation zwischen 
den Klassenplätzen der Vpn. zur Zeit des Sommerversuchs und denjenigen 
zur Zeit des Winterversuchs stark positiv ist (g *■*> 0,54 + 0,11), und anderer¬ 
seits keine Beziehung zwischen Klassenplatz (P) und Lebensalter besteht 
(g (LA: P) = — 0,12 + 0,13 für den Sommerversuch, 0,03 + 0,12 für den 
Winterversuch), welche die Korrelationen zwischen Klassenplatz und Leistungen 
verfälschen würde, indem dann in den letzteren das Vorhandensein oder Nicht- 
vorbandensein von Korrelationen zwischen Lebensalter und Leistungen zum 
Ausdruck gebracht würde. Steht also die Intelligenz unserer Vpn. in engerem 
Zusammenhang mit den Testleistungen derselben, so wird man eine wenigstens 
im Durchschnitt deutlich positive Korrelation zwischen Klassenplatz und Test¬ 
leistung erwarten können. 


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264 


Adolf Michaelis 


Die Durchführung dieser Rechnungen ergibt 


für den Sommerversuch: 

ß (P: RI) = + 0,12 + 0,13 
q (P: SI) — — 0,01 + 0,13 
ß (P: Gl) — - 0,06 + 0,13 

Q (P : G) — 


ß (P: RU) = + 0,08 + 0,13 
ß (P : SH) — + 0,14 + 0,12 
ß(P:GII) = + 0,11 ±0,12 

+ 0,04 ± 0,13 ‘), 


für den Winterversuch: 

ß (P: Rm) = —0,40 ± 0,11 
ß (P : SRI) — + 0,29 + 0,12 
ß (P : GDI) = — 0,21 ± 0,12 

Qi P:G) = 


ß (P : RIV)-0,30 + 0,12 

ß (P: SIV) — + 0,39 ± 0,11 
ß (P : GIV) = — 0,06 ± 0,13 

— 0,13 + 0,12. 


Für den Sommerversuch liegen die Korrelationen so nahe an Null, daß 
sich nicht einmal über ihre Richtung etwas ausmachen läßt, im Winter¬ 
versuch sind sie höher, jedoch lassen beide Gruppen zusammengenommen 
keine gemeinsamen Merkmale erkennen. Die Versuche liefern also in dieser 
Hinsicht ein durchaus negatives Resultat, eine Beziehung zwischen den Test¬ 
leistungen und dem Klassenplatz der Vpn. ist daraus nicht ersichtlich. Ob 
und wie weit dies allgemein für den Bourdon in seinen mannigfachen 
Variationen zutrifft, bleibe dahingestellt; es wäre nicht Unmöglich, daß eine 
andere Abart des Tests wesentlich andere Ergebnisse zeigte. 

Betrafen die obigen Ausführungen die Gesamtergebnisse des Versuchs bei 
den einzelnen Vpn., so handelt es sich nunmehr darum, diese Leistungen 
näher zu analysieren. Zunächst erhebt sich hierbei die Frage, ob sich inner¬ 
halb derselben Prüfung ein Einfluß der Übung oder Ermüdung geltend macht. 
Diesem Zweck sollten die beim Winterversuche angebrachten Zeitmarken 
dienen, welche es ermöglichen, die Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit 
einer Vp. in den einzelnen Zeitabschnitten eines Versuchs zu bestimmen. 

Diese „Fraktionierung der Arbeitstrakte“ wurde hier für Intervalle von 
2 zu 2 Minuten an 12 beliebig herausgegriffenen Vpn. ausgeführt. Daß 
dies Material nicht irgendwie einseitig von dem Gesamtmaterial abweicht, 
geht aus dem Verhalten der Mittelwerte hervor. Berechnet man nämlich für 
die 12 Vpn. dieselben Mittelwerte wie in den Tabellen 2 und 4 (S. 260), 
so erhält man Sm = 26,0; OIII = 17,5; SIV = 13,5; OIV — 10,8. 

Der Vergleich zeigt, daß diese Werte sich gut an die Gesamtheit an¬ 
schließen, man wird daher auch das übrige Verhalten dieser Vpn. als typisch 
ansprechen können. 

Als Beispiel für die Leistungen der Vpn. in den einzelnen Zeitabschnitten 
mögen hier die Zahlen für die ersten 3 Vpn. ausgeführt werden (Tab. 6), 
welche ein ziemlich charakteristisches Bild liefern. 


*) G bedeutet die Gesamtresultante der Versuche I und II und ist aus G I und G II auf die¬ 
selbe Weise hergestellt, wie diese aus Sl und RI bzw. SII und RII; das entsprechende gilt für 
den Winterversuch. 


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Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schülern 265 


Tabelle 6. 


0 Min. 2 Min. 4 Min. 6 Min. 8 Min. 10 Min. 12 Min. 



Vp. 

s 

R 

S 

R 

s 

R 

S 

R 

S 

R 

S 

R 


r 

16 

43 

92,8 

69 

83,1 

50 

96,0 

36 

91,7 

42 

92,9 

58 

89,7 


Versuch HI \ 

19 

39 

87,2 

37 

86,2 

40 

92,0 

42 

95,3 

30 

96,7 

54 

92,6 


{ 

a 

46 

69.5 

57 

98,2 

52 

82,7 

31 

93,5 

53 

96,2 

56 

78,6 


i 

16 

42 

95,2 

67 

98,5 

49 

100 

46 

100 

40 

76,5 

56 

100 


Versuch IV 

19 

76 

71,0 

78 

92,3 

63 

87,3 

76 

85,6 

68 

88,2 

84 

92,9 


l 

a 

46 

80,4 

50 

88,0 

66 

94,7 

47 

97,9 

57 

80,7 

94 

84,0 



Während bei allen 12 Vpn. die Änderungen der S-Werte ungefähr parallel 
gehen, zeigen die R-Werte ziemlich unregelmäßige Schwankungen; ihre 
Mittelwerte liefern aber ganz brauchbare Zahlen, wie nachstehende Tabelle 7 
zeigt, die in Spalte a die Mittelwerte für S und R für die Zeitintervalle von 
2 Minuten enthält. Setzt man, um die Zahlen miteinander vergleichen zu 
können, den Anfangswert in jeder Zeile gleich 100 und rechnet die übrigen 
danach um, so erhält man Spalte b der Tabelle. 

Tabelle 7. 


0 Min. 2 Min. 4 Min. 0 Min. 8 Min. 10 Min. 12 Min. 



a 

b 

a 

b 

a 

b 

a 

b 

a 

b 

a 

b 


sm... 

47 

100 

51 

108,5 

51 

108,5 

49 

104,3 

53 

112,8 

61 

129,8 


R111 ... 

80.4 

100 

81,3 

101,1 

80,2 

99,9 

80,1 

99,8 

83,4 

103,9 

84,1 

105,0 


SIV . . . 

66 

100 

68 

103,0 

65 

98,5 

65 

98,5 

66 

100,0 

75 

113,6 


RIV . . . 

83,6 

100 

91,5 

109,4 

87,5 

104,8 

88,5 

105,7 

86,6 

103,6 

90,0 

107,7 



Werden die Werte der Spalte b in ein Koordinatennetz eingetragen, dessen 
Abszissenachse die Zeit ist, so ergeben ihre Verbindungslinien vier Kurven, 
die die Änderungen von S und R der Vpn. im Verlaufe der beiden Prüfungen 
veranschaulichen. (Siehe S. 266.) 

Diese Kurven stimmen insofern überein, als sie sämtlich steigende Tendenz 
zeigen: der Anfangs wert ist bei SIII und RIV zugleich Minimum, bei SIV und RIII 
wird er im mittleren Teil nur wenig unterschritten, der größte Wert liegt bei 
allen Kurven am Ende, mit Ausnahme von RIV, wo das Maximum bei 3 Mi¬ 
nuten liegt, jedoch am Schluß wieder annähernd erreicht wird. Zwischen dem 
ersten und zweiten Zeitintervall erfolgt bei S ID, SIV und RIII deutliche 
Steigerung, der in den nächsten Minuten ein allmählicher Abfall folgt. 
Letzterer ist wahrscheinlich bedingt durch die von der Anstrengung der 
Hand-und Armmuskeln beim Durchstreichen herrührende körperliche Ermüdung, 
welche von einem Nachlassen der Aufmerksamkeit begleitet ist, wie das 
gleichzeitige Sinken der R-Kurven anzeigt. Für die Erklärung des Fallens 
der S-Kurven infolge körperlicher Ermüdung spricht der Umstand, daß bei 
IV, wo in der Zeiteinheit eine größere Anzahl von Durchstreichungen aus¬ 
geführt wurden als bei IR und wo die Ermüdung also schneller eintreten 
dürfte, der Abfall tatsächlich eher stattfindet; außerdem verweisen darauf 
eigene Beobachtungen und die Aussagen einiger Vpn., wonach gerade in 

') Da Versuch IV nur 11 Minuten dauerte, wurden die Werte von S IV der letzten Minute 
verdoppelt. 


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266 


Adolf Michaelis 


diesem Zeitraum ein starkes Ermüdungsgefühl im Arm konstatiert wurde. 
—| Dem Sinken der S-Kurven folgt sodann ein rascher Anstieg, der bis zum 
Ende des Versuchs anhält. An der großen Steigerung der Leistungen im 
letzten Intervall könnte vielleicht bei beiden Versuchen der Umstand mit- 
gewirkt haben, daß die Vpn. Anzeichen für den Abbruch des Versuchs be¬ 
merkten 1 ) und deshalb ihren Eifer vermehrten („Schlußantrieb“); demgegen¬ 



über ist aber bemerkenswert, daß dieser Anstieg eine Fortsetzung des 
zwischen 8 und 10 Minuten erfolgten ist, wo derartige Störungen noch nicht 
stattgefunden hatten. 

Man wird also annehmen können, daß die große Höhe des Endwertes 
nicht ausschließlich diesen Umständen zuzuschreiben ist, sondern daß wesent- 

') Bei beiden Versuchen hatten 2 Vpn. den ganzen Text schon innerhalb des letzten Intervalls 
erledigt, und die von ihnen gebrauchte Zeit wurde sogleich protokolliert. (Diese Vpn. wurden 
natürlich nicht unter die 12 näher analysierten aufgenommen.) 


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Der Bourdon-Test bei 12jfihrigen Schülern 


267 


lieh andere Faktoren dabei mitspielen, und zwar hauptsächlich die Über¬ 
windung dar Müdigkeit durch irgendwelche Antagonisten und die Verbesserung 
der Arbeitsmethode (Übung). 

Die R-Kurven laufen den S-Kurven annähernd parallel; es zeigt sich an 
ihnen also zunächst ein Nachlassen der Aufmerksamkeit und darauffolgende 
-starke Steigerung. 

Es ist interessant, dafi hier, wo es sich um intra-individuelle Variationen 
von Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit handelt, die Genauigkeit mit stei¬ 
gender Arbeitsgeschwindigkeit wächst und sich bei langsamerem Anstreichen 
vermindert; anders ausgedrückt besagt dies positive Korrelation zwischen 
Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit, d. h. negative Korrelation zwischen 
S und 0, während im Gegensatz dazu oben (S. 5) für die int er-individuellen 
Variationen sich das Gegenteil ergeben hatte.') 

Bei Versuchen mit ähnlichen Testmethoden ergab sich häufig 2 ) in der 
ersten Minute eine höhere Leistung als in den folgenden, und es war zu 
erwarten, daß dieser „Anfangsantrieb“ auch hier nicht fehlen würde. Um 
dies für alle 30 Vpn. feststellen zu können, begnügte ich mich mit Aus¬ 
zählung der je Minute „durchstrichenen“ Zeilen. Die folgende Tabelle gibt 
in Zeile a die so ermittelte mittlere Zeilenzahl je Minute (auf 1 Dezimale 
abgerundet) und in Zeile b die Zahlen, die man daraus erhält, wenn wie 
oben der Anfangswert gleich 100 gesetzt wird. 


Tabelle 8. 


1 23456780 10 11 12 Min. 


Versuch m 

a 

3,3 

2,6 

3,2 

3,3 

3,4 

3,2 

3,3 

3.3 

3,6 

3,3 

3,6 

3,5 


b 

100 

77,9 

98,6 

101,4 

104,2 

96,3 

100,2 

102,3 

105,6 

101,9 

106,6 

105,6 


Versuch IV 

a 

7,6») 1 

3,8 

3,6 

3,6 

3,9 

3,8 

3,9 

4,0 

3.8 

4,1 

— 


b 

100 

101,1 

95,2 

95,7 

103,2 

100,0 

103,3 

106,0 

101,8 

110,5 

— 



Die in das Koordinatennetz eingetragenen Werte der Zeilen b ergeben 
die beiden Kurven ZIU und ZIV (der Übersichtlichkeit wegen wurde 130 
statt 100 als Ausgangspunkt genommen), von denen wenigstens die erste 
den Anfangsantrieb sehr gut erkennen läßt. Abgesehen davon liefern sie 


i) Mit diesen Ergebnissen stimmen die Befunde von zwei unabhängig hiervon angestellten 
Versuchen, bei denen der Test in den Formen I und II zur Verwendung gelangte, gut überein: 

Vp. I. Lotte L., 14 Jahre; 11:103 (9); 104 (8); 103 (0); 126 (2). 

Vp. 2. Herbert G., 13 Jahre: 1:204 (32); 136 (4); 154 (2); 182 (1). 

H: 103 (11); 120 (8); 99 (4); 107 (9). 

(Zeitmarken alle 4 Minuten; die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fehleranzahl, die anderen 
die S-Werte). Die Zeitintervalle sind hier zu groß gewählt, um den Verlauf der S-Kurven genau 
verfolgen zu können, immerhin zeigt sich auch hier am Schluß eine Steigerung der S- Zahlen, 
die nur im ersten Fall davon herrühren könnte, daß der Vp. die Dauer des Versuchs bekannt 
war; die O-Werte in den beiden ersten Vierteln übersteigen die der letzten Hälfte erheblich. 

*) Siehe unter andern W. Baade, Experimentelle und kritische Beiträge zur Frage nach den 
sekundären Wirkungen des Unterrichts, 1906, S. 68 f. 

3 i Hier wurde der Befehl „Strich* leider versehentlich unterlassen. 


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268 


Adolf Michaelis, Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schülern 


nichts wesentlich Neues gegenüber den S-Kurven; bemerkenswert erscheint 
nur ein gewisser Rhythmus, an gedämpfte Schwingungen erinnernd, dem beide 
— von der sechsten Minute an sogar synchron — gehorchen. Zeichnet 
man die Z-Kurven für die einzelnen Vpn. gesondert, so bemerkt man auch 
bei diesen fast durchgängig einen ähnlichen Verlauf, und ihre Verschieden¬ 
heit liegt hauptsächlich in der Länge der einzelnen „Schwingungen", wobei 
das Verhalten innerhalb der ersten vier Minuten maßgebend für den weiteren 
Verlauf der Kurven zu sein scheint 

Daß sich diese Kurven unter wenige Typen gruppieren lassen, ist bei 
näherer Betrachtung derselben kaum zweifelhaft; das vorliegende Material 
ist jedoch zu klein und die Versuchsdauer zu kurz, als daß man bestimmte 
Angaben darüber machen könnte. — 

Von einer näheren qualitativen Analyse der Auslassungsfehler wurde Ab¬ 
stand genommen; erwähnt sei nur, daß bei 1, wo e und i auszustreichen 
waren, häufig die kaum gesprochenen „e“ der Endungen übersehen 
wurden, während bei II (r, s, t) vielfach Auslassungen an den Stellen vor¬ 
kamen, wo sich die anzustreichenden Buchstaben häuften (z. B.: zerstreut), 
vielleicht deutet ersteres auf vorwiegend akustischen, letzteres auf visuellen 
Typus hin 1 ). Für die Versuche III und IV kommen diese Gesichtspunkte 
kaum in Betracht, höchstens insofern, als bei III häufig die „n“ der unbe¬ 
tonten Endungen ausgelassen wurden. Daneben erscheint noch bemerkens¬ 
wert, daß bei I und III, wo zwei Buchstaben zu durchstreichen waren, fast 
durchgängig die Tendenz bestand, den einen, meistens i bzw. n, auf Kosten 
des anderen stärker zu beachten; bei II und IV trat solche „Einseitigkeit" 
niemals in so ausgesprochenem Maße hervor. 


Zusammenfassung: 

Der „Bourdon" ist in hohem Grade von der Art der Buchstaben (Vokale 
oder Konsonanten) abhängig, die Leistungen sind bei Verwendung von Vokalen 
wesentlich bessere als bei Konsonanten. Der Einfluß der Buchstabenanzahl 
tritt demgegenüber stark zurück; bei Verwendung von 3 Buchstaben fallen 
die Ergebnisse nur wenig schlechter aus als bei 2 Buchstaben derselben Art. 

Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit sind in weitem Maße vonein¬ 
ander unabhängig. 

Eine Beziehung der Leistungen zum Klassenplatz zeigte sich nicht. 

Für einen Zeitraum von 10—12 Minuten war ein günstiger Einfluß der 
Übung auf Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit gut zu konstatieren. 


*) Ein gutes Beispiel für den ersten Fall ist die schon erwähnte Lotte L., die in I folgende 
Auslassungsfehler brachte: Handels, Aufführungen, fassen. Wagnerischen, heftige, Händels, die 
also nur solche Buchstaben ausließ, welche beim Sprechen verschluckt werden, abgesehen von 
dem „e“ in „heftige“, das aber auch in einer unbelonten Silbe liegt. — Bei einer daraufhin 
angestellten Prüfung zeigte sie stark akustischen Vorstellungstypus. 


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Paul Schäfer, Beobachtungen und Versuche an einem Kinde usw. 


269 


Beobachtungen und Versuche an einem Kinde 
in der Entwicklungsperiode des reinen Sprachverständnisses. 

Von Paul Schäfer. 

Wenn man in der neueren kinderpsychologischen Literatur über das kind¬ 
liche Sprachverständnis in der Entwicklungsperiode des reinen Sprachverständ¬ 
nisses nachliest, so ist man mit Recht erstaunt darüber, wie wenige grund¬ 
legende und ausführlich dargestellte Beobachtungen vorhanden sind. Bis in 
die neueste Zeit hinein müssen in den wissenschaftlichen Darstellungen 
kindlicher Entwicklung die vor vielen Jahrzehnten gemachten Beobachtungen 
eines Lindner (80er Jahre), einesTaine (70er Jahre) und eines Siegesmund 
(50er Jahre) als „Musterbeispiel“ 1 ), als „berühmte Beobachtung“ 2 ) als Er¬ 
kenntnisgrundlagen verwendet werden, obwohl doch seit jenen Zeiten die 
Beobachtungsmethodik vor allem durch den Fortschritt der Tierpsychologie 
ganz wesentlich gewonnen hat. Jetzt weiß man z. B. — um nur einen Fort¬ 
schritt anzuführen —, daß das Auftreten einer solchen Entwicklungstatsache 
nicht nur einfach festgestellt werden darf, sondern daß es unbedingt er¬ 
forderlich ist, ihre Vorgeschichte und weitere Entwicklung aufs genaueste 
zu verfolgen und darzustellen. Am meisten mangelt es in dieser Beziehung 
in Siegesmunds Bericht 3 ). Dagegen ist es Lindners Verdienst, in seinem 
Ticktackversuch das „Sprachverständnis“ auf einer sehr frühen kindlichen 
Entwicklungsstufe festgestellt und auf seine Vorgeschichte, die Einübung der 
Assoziation, wenigstens hingewiesen zu haben 4 ). 

Allgemeine und methodische Vorbemerkungen 
zu meinen Beobachtungen und Versuchen. 

Das Versuchskind. Die folgenden Beobachtungen machte ich an meinem 
Sohne H. Er ist am 14. März 1919 geboren und körperlich und geistig 
normal entwickelt. 

Das Versuchsalter. Von den bisherigen Feststellungen der ersten kind¬ 
lichen Verständnisbewegungen stammen die von Lindner, wie gesagt, aus 
der frühesten kindlichen Entwicklungszeit (0;4 und 0;4'/2). L. beobachtete 
vor dem Auftreten des ersten Sprachverständnisses, daß das 18 Wochen alte 
Kind „mit besonderem Wohlgefallen den Bewegungen der kräftig pendelnden 
Wanduhr zuschaute“. Siegesmund berichtete die gleiche Tatsache — das 
Kind beobachtet „mit ernsthaftester Aufmerksamkeit das sich bewegende 
Pendel einer Uhr“ — von seinem 19 Wochen alten Sohne 5 ). H. zeigt 0;5 
und 0;6 ein ähnliches Verhalten. Er hält seinen Badeschlaf am Vormittag 
im Juli und August im ruhigsten und kühlsten Zimmer unserer Wohnung, 
drei Meter vor der Wanduhr und blickt vor seinem Einschlafen und ebenso 
nach seinem Erwachen längere Zeit auf das mattsilberne Zifferblatt oder 
verfolgt die Pendelbewegungen mit seinen Augen (deutliches Bewegen des 

*) Bühl er, K., Die geistige Entwicklung des Kindes. Jena 1918, S. 112. 

*) Me um an n, E., Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. Leipzig 1908, S. 26. 

3 ) Siegesinund. B., Kind und Welt. Braunschweig 1856, S. 111. 

4 ) Lindner, G., Beobachtungen und Bemerkungen über die Entwicklung der Sprache des 
Kindes. 12. Jahresbericht über das königliche Schullehrerseminar zu Zschopau. Zschopau 1882, 
S. 10, und Lindner, G., Aus dem Naturgarten der Kindersprache. Leipzig 1898, S. 10. 

B ) Siegesmund, a. a. O., S. 20. 


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Augapfels). Man darf wohl annehmen, daß sowohl in Siegesmunds als 
auch in meinem Falle ein ähnliches Sprachverständnisexperiment, wie es 
Lindner durchführte, geglückt wäre. Aus zwei Gründen unterließ ich aber 
auf dieser Entwicklungsstufe noch die Einübung: einesteils, um H.s Verhalten 
in dieser Hinsicht weiterhin ohne Einwirkung meinerseits beobachten zu 
können — die Beobachtung ergab jedoch keine besonderen Momente mehr —, 
andernteils wartete ich eine spätere Entwicklungsstufe ab, um die Entstehung 
des Sprachverständnisses nicht nur in bezug auf einen, sondern zu ungefähr 
derselben Zeit in bezug auf mehrere Sprachkomplexe erkennen zu können. 
Zu diesem Zwecke wartete ich bis zum Alter von 0;9. Bis zur Einübung 
zeigen sich nur „undifferenzierte Wirkungen" gehörten Sprechens (es kommt 
dabei nicht darauf an, was gesprochen wird) 1 ). Die Beobachtung seines 
Verhaltens in bezug auf die Wanduhr 0;5 und 0;9 ergab einen Unterschied 
von allgemeiner Bedeutung für das erste Sprachverständnis des Kindes. 
0;9 liegt er nicht mehr die ganze Zeit ruhig da und betrachtet, sich fast 
unbeweglich verhaltend, die Uhr, sondern er ist beweglicher geworden; das 
passive Aufnehmen von Eindrücken gefällt ihm nicht lange. Jetzt ist es ihm 
lieber, die Uhr anzusehen, ihr Gehäuse abzutasten, mit seinem rechten Händ¬ 
chen dranzuschlagen, das Türchen auf- und zuzumachen, also seine Erfah¬ 
rungen aktiv zu erwerben. Nur stärkere Eindrücke, z. B. das klangvolle 
Schlagen der Uhr oder das starke Ticktackgeräusch des Metronoms erregen 
jetzt noch längere Zeit sein Interesse. H. Th. Woolley 2 ) erkannte diese 
für das erste Sprachverständnis wichtige verschiedene Beschaffenheit der 
kindlichen Bewußtseinsstruktur als bedeutsam für die Farbenauffassung. 
Seine Darstellung der Änderung der Bewußtseinsstruktur sei hier wieder¬ 
gegeben. 0;7 nimmt er als Grenze zwischen beiden Entwicklungsstufen an. 
Vor dieser Zeit ist das Kind „absorbed in sensory experiences, ® or if the 
word sensory involves the psychological fallacy, in a largcly passive ex- 
periencing of the world“. (Das Kind geht auf in der Aufnahme von Sinnes¬ 
eindrücken, in einem passiven Erfahren seiner Umgebung.) Von der Zeit 
nach 0;7 sagt W. the centre of interest seemed to shift quite rapidly 

from the passive to the active aspect of experience .... She had discovered 
her capacity to act and had ceased to be a mere spectator“. (Das Interesse 
schien sich schnell von der passiven zur aktiven Seite der Erfahrung zu ver¬ 
schieben .... Sie hatte ihre Fähigkeit zu handeln entdeckt und hörte nun 
auf, ein bloßer Beobachter zu sein.) 

Die Versuchsreihe. 

I. Obersicht über die Versuche und Beobachtungen. 

An erster Stelle werden Versuche mit neun Sprachkomplexen s ) gemacht, 
die H. in Beziehung auf das damit Gemeinte eingeübt werden und deren 
„Verständnis“ untersucht wird (vom 25. 12.19 bis 29. 1. 20). Das „Sprach- 

*) Bühler, K., Die geistige Entwicklung, S. 111. 

2 ) Woolley, H. Th., Some Experiments on the Color Perception of on Infant and thelr Inter¬ 
pretation. The Psychological Review 6, 1906. 

*) Das Versuchsmaterial wurde auf Grund der in der kinderpsychologischen Literatur nieder¬ 
gelegten Erfahrungen früherer Beobachter und auf Grund von Beobachtungen in der Kleinkinder- 
stube meiner und befreundeter Familien zusammengestellt. In der Hauptsache wurden schon 
erprobte Sprachkomplexe in gleicher Form übernommen. Manche erfuhren eine kleine Änderung. 
Nur das Wort Schrank ist bisher noch nicht beim beginnenden Sprachverständnis angewandt worden. 


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Beobachtungen u. Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 


271 


Verständnis“ wird nachgeprQft am 19. 2. und 19. 3. 20. Während H.’s Ent¬ 
wicklungsperiode des reinen Sprachverständnisses (31. 12. 19 bis 24. 3. 20) 
kann das Auftreten des „Verständnisses“ von drei weiteren von mir nicht 
absichtlich eingeübten Sprachkomplexen beobachtet werden. Ich kann hier 
mangelnden Raumes halber nur einige Beispiele aus diesem umfangreichen 
Beobachtungs- und Versuchsmaterial geben. Weiter wird die Einübung der 
sprachlichen Bedeutung von Bittebitte (das Wünschen, Verlangen, Haben¬ 
wollen) in bezug auf einen Gegenstand vorgenommen (4. 2. bis 7. 2. 20). 
Vom 12. 2. an kann diese Bedeutung in bezug auf andere begehrte Gegen¬ 
stände und andere Wünsche beobachtet werden. Zahlreiche Tatsachen 
liefern in dieser Beziehung die Aufzeichnung der Bittebewegung am 25. 2., 
10. 3. und 24. 3. 20. 

n. Die neun Sprachkomplexe. 

Bei der Auswahl des sprachlichen Versuchsmaterials muß zweierlei in 
Rücksicht gezogen werden: seine Schallmasse und das in ihm Gemeinte. 

1. Das in den neun Sprachkomplexen Gemeinte. 

In den neun Sprachkomplexen sind erstens Bewegungen des Kindes 
(Zurückwerfen des Oberkörpers ins Federkissen des Wagens, Zusammen¬ 
schlagen der Hände in einem gewissen Rhythmus, seitliches Hinundher- 
bewegen des rechten Arms mit der Klapper, damit das Klappeigeräusch 
entsteht, mit rechter Hand auf das Wasser im Bade schlagen, so daß es 
auf spritzt, mit rechter Hand an den Schrank schlagen), zweitens Gegen¬ 
stände (Metronom, Uhr, brennende elektrische Nachttischlampe, Stoffhund) 
gemeint. Die angeführten Bewegungen sind H. im Anschluß an spontan 
sich zeigende Ausdrucks- und Spielbewegungen eingeübt worden (Dressur). 
Sie werden gern ausgeführt. Die Gegenstände sind durch eine hervortretende 
Eigenschaft besonders eindrucksfähig. (Das laute Ticktackgeräusch, der laute 
klangvolle Schlag, der helle Lichtstrahl, die besondere Form des Hundes.) 

2. Die Schallmasse. 

Jeder einzelne der neun Sprachkomplexe (1. Mache bäuz! 2. Mache bitte, 
bitte! 3. Mache päntsche, pantsche! 4. Mache kläpper, klappert 5. Wo ist 
das Gückelichtl? 6. Wo ist die Ticktack? 7. Wo ist die Bimbim? 8. Wo ist 
der Wäuwau? 9. Wo ist der Schrank?) ist in Hinsicht auf seine Schall¬ 
masse ein „Sprechtakt“. Nach E. Sievers 1 ) ist ein Sprechtakt „eine Sprech¬ 
gruppe, die durch eine Starksilbe zusammengehalten wird“. Sievers hält 
den Ausdruck „Druckgruppe“ für die bessere Bezeichnung, weil das Wort 
Takt zu sehr an musikalische Verhältnisse erinnert. Von den englischen 
Phonetikern wird die Bezeichnung „stress group“ allgemein verwendet. Die 
Grenzen der durch den Sinn zusammengeschlossenen Redeteile fallen nicht 
immer mit den Grenzen der Sprechtakte zusammen; die rhythmische Grenze 
k ann eine andere als die Sinnesgrenze sein. In den neun Sprachkomplexen 
treffen beide zusammen. In meinen Worten 2 ): „Ei, £i, ei (= Sinngrenze), 
der (= Sprechtaktgrenze) schone Brief!“ zeigen sich verschiedene Grenzen. 

Innerhalb des einzelnen Sprechtaktes ist natürlicherweise die Starksilbe 
” * 

*) Sievers, E., Vorlesungen über Phonetik. S. S. 1920. 

*) Vgl. S. 12. 


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272 


Paul Schäfer 


(sie ist durch ' bezeichnet) in bezug auf das Kind eines der eindrucksfähigsten 
Elemente. In den Sprechtakten „Mache bauz!“ und „Wo ist der Schrank?“ 
bildet die Starksilbe mit dem Wort, das der Träger des Hauptsinnes ist, eine 
Einheit. Dabei unterscheidet sich die Starksilbe bauz von der Starksilbe 
Schrank durch ihren ausdrucksvolleren Stimmlaut (Diphthong). In den 
übrigen Sprechtakten ist die Starksilbe nur ein Teil des Wortes, das der 
Träger des Hauptsinnes ist. Im Zusammenhang mit ihr finden wir aber als 
besonders eindrucksfähige Elemente erstens einen besonderen Rhythmus 
(-iw; Ticktack, Bimbim, Wauwau oder — w ' w: Guckelichtl, Bitte bitte, 
Klapper klapper, Pantsche pantsche) (der Rhythmus wird, in den meisten 
Fällen künstlich durch Wiederholung des betreffenden Wortes erzeugt), zweitens 
besonders hervortretende Unterschiede im musikalischen Akzent der rhyth¬ 
misch so zusammengebundenen Sprachteile, besonders große Intervalle in 
der Tonführung und eine etwas höhere Stimmlage. 

ID. Die Methode. 

1. Die Frage der Einübung. 

Prey er ist Gegner der „üblichen Dressuren“ ■)• Lindner will kleine Kinder 
auch nicht derartig als „Versuchskaninchen“ benutzt wissen 2 ). Er selbst führt 
darum nur „wenige Experimente“ 3 ) aus. Die anderen Berichterstatter von 
Verständnisbewegungen aus der Entwicklungsperiode des reinen Sprech¬ 
verständnisses stellen ihr Auftreten fest, erzählen aber von Einübungseinflüssen 
wenig oder in der Hauptsache gar nichts. Tatsächlich können aber solche 
ersten Verständnisbewegungen aus der Periode des reinen Sprachverständ¬ 
nisses nur nach mehr oder weniger absichtlichen Einübungen entstehen. 
Mancher Beobachter hat diese vielleicht gekannt, sie aber in ihrer Bedeutung 
für unsere richtige Auffassung unterschätzt und darum nichts davon berichtet 
Andere haben sie wohl gar nicht gekannt; dann stammen sie von Kinder¬ 
wärterinnen oder kleinen Geschwistern. Aus dieser Überlegung heraus er¬ 
gibt sich als notwendige Methode zur Beobachtung der ersten Verständnis¬ 
bewegungen die der Einübung, der Dressur. Dabei gilt es aber, jeden Zwang 
oder gar Quälereien (in der Tierdressur sind Entziehung der Nahrung oder 
Züchtigungen die gewöhnlichen Mittel) vollständig zu vermeiden. Die Ein¬ 
übungen werden als gern geübtes Spiel nach Art der Ammen, Kinderwär¬ 
terinnen und Mutter vorgenommen. Durch die strenge Durchführung der 
Einübungsmethode für eine kurze Zeit ist es möglich, Einwirkungen anderer 
Personen der Umgebung auszuschalten oder zu kontrollieren. In dieser Zeit 
war ich beinahe dauernd um das wachende Kind 4 ), was mir bei einer Be- 

*) Prey er, W., Die Seele des Kindes. 8. Aufl. Nach dem Tode des Verfassers bearbeitet 
und herausgegeben von K. L. Schaeler. Leipzig 1912, S. 20 u. 21. 

2 j Lindner, G., Neuere Forschungen und Anschauungen über die Sprache des Kindes. 
Zeitschr. f. Pädag. Psychol. usw., Jhrg. 7, 1906, S. 348. 

*) Lindner, G., a. a. 0., S. 349. 

4 ) Prey er macht auf die Schwierigkeit einer solchen Beobachtung aufmerksam. Er sagt ln 
seiner Abhandlung „Die Psychologie des Kindes“, Zukunft 1896, herausgegeben v. M. Harden, 
S. 478: „Dieses Beobachten, z. B. das stundenlange Betrachten des schreienden, dann spielenden, 
dann schlafenden, dann erwachenden, dann saugenden Säuglings, meistens in der Kinderstube, 
ist nicht jedermanns Sache. Ich kann aus eigener Erfahrung versichern, daß es viel schwieriger 
ist als irgendeine lange Vorbereitungen erfordernde, physiologische oder psychologische Experi¬ 
mentaluntersuchung in einem leidlich eingerichteten Laboratorium mit guten Präzisionsinstrumenten.“ 


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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 


obachtung, die auf das zufällige Eintreten irgendeiner Verständnisbewegung 
wartet und die sich deshalb auf einen weit größeren Zeitraum erstrecken 
kann, nicht möglich gewesen wäre. Vor allem durfte das Schwesterchen 
oder Dienstmädchen niemals ohne Kontrolle beim Kinde sein. Verfrühung 
der sprachlichen Entwicklung tritt selbstverständlich durch die Einübung ein; 
aber da keine andere Möglichkeit da war, die ersten Verständnisbewegungen 
in einem größeren Zusammenhänge erkennen zu können, muß mit ihr ge¬ 
rechnet werden. Sie ist in H.s Falle (Alter 0;9 und 0;10) im Gegensatz 
zu den Versuchen Lindners (0;4) nicht bedeutend. 


2. Die Einübung der neun Sprachkomplexe als Grundlage zur 
Erforschung der Entstehung des Sprachverständnisses. 

Durch die Einübung der neun Sprachkomplexe in Beziehung auf das in 
ihnen Gemeinte versuche ich eine umfangreiche Grundlage zur Erforschung 
der Verständnisbewegungen zu gewinnen. Dadurch, daß ich die Einübung 
bis ins einzelne verfolge, daß ich die in Beziehung zu den Verständnis¬ 
bewegungen stehenden Momente, die bereits vor der Einübung liegen, auf¬ 
decke, gelingt schon eine gewisse Klärung ihres Wesens. Bei der Darbietung 
der Sprachkomplexe wird der „Ammenton“ in Anlehnung an die tatsächlichen 
Verhältnisse der Kleinkinderstube angewandt, d. h. der Rhythmus (dynamische 
und zeitliche Quantität) und der melodische Akzent (größere Intervalle in 
der Tonführung) treten durch affektvolles liebevolles Sprechen besonders aus¬ 
drucksvoll und eindringlich hervor. Die Anwendung dieser Sprachelemente 
kann aber nicht von einer ganz bestimmten Konstanz sein. Es muß für 
unsere Zwecke genügen, zwischen dem „Ammenton“ und dem „gewöhn¬ 
lichen Sprechton“ zu unterscheiden und den gewöhnlichen Sprechton als 
eine Sprechart ohne die besondere Hervorhebung jener Sprachelemente auf¬ 
zufassen. Ebenso fehlt ein genaues Maß bei den zeitlichen Verhältnissen 
der Versuche. Die Einübungsdauer ist nach Tagen genau angegeben. Aber 
schon die täglich zweimal stattfindende Einübung bei den meisten Kom¬ 
plexen ließ sich nicht bei allen ermöglichen. Die Pantscheeinübung muß 
sich nach dem Bade richten (täglich einmal); die Einübung von „Guckelichtl“ 
wird, da H. abends sehr zeitig schlafen geht, nur früh — H. ist Frühauf¬ 
steher — vorgenommen. Ebenso ist die von „Bimbim“ und „Wauwau“ 
unregelmäßig. Die jeweilige Einübungsdauer ist niemals konstant. Beim 
geringsten Anzeichen von Unlust, von „Widerwillen“ wird die „Dressur“ 
abgebrochen. Sie dauert manchmal nur einige Sekunden, manchmal mehrere 
Minuten. Beim Feststellen des „ersten Verständnisses“ muß mit besonderer 
Vorsicht vorgegangen werden. Als „erstes Verständnis“ wird hier das erste 
Auftreten der Verständnisbewegung bezeichnet, d. h. die Ausdrucksbewegung 
erfolgt nur auf Grund des betreffenden sprachlautlichen Gehörseindrucks 
ohne Mitwirkung anderer Sinneseindrücke (Hilfssinneseindrücke). Diese sind 
gerade im ersten Stadium des entstehenden Sprachverständnisses beim Zu¬ 
standekommen der Ausdrucksbewegung wirksamer als der sprachlautliche 
Gehörseindruck, was sich notwendigerweise aus der Art der Einübung er¬ 
gibt, aber bei Feststellung des ersten Verständnisses — und ebenso bei den 
weiteren Versuchen — zu großen Täuschungen über das Sprachverständnis 

Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 18 


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274 


Paul Schäler 


des Kindes führen kann. Neben den Hilfssinneseindrficken ist weiter die 
Bedeutung der „Einstellung“ für das Auftreten der Verständnisbewegung zu 
beachten. Dabei wird zwar die Ausdrucksbewegung durch den sprachlaut- 
lichen Gehörseindruck hervorgerufen, aber die VerBtändnisbewegung erfolgt 
nicht, wenn er nicht eine für ihr Auftreten günstige, bereits auf sie hin¬ 
weisende Bewußtseinsrichtung vorfindet. Letzteres ist der Fall, wenn z. B. die 
Einübung kurz vorher stattgefunden hat oder wenn H. die Klapper in die 
Hand bekommt (beim Klapperversuch). In allen diesen Fällen können die 
betreffenden Wahrnehmungen des Kindes auch als Hilfssinneseindrücke 
wirken, d. h. sie erzeugen nicht nur die auf die Verständnisbewegung hin¬ 
weisende Bewußtseinsrichtung, sondern die Ausdrucksbewegung selbst. Prak¬ 
tisch läßt sich das daran erkennen, daß die Ausdrucksbewegung ohne Dar¬ 
bietung des Sprachkomplexes erfolgt. Schwerer oder fast gar nicht läßt sich 
die vorhandene Bewußtseinsrichtung feststellen, also entscheiden, ob Ein¬ 
stellung oder keine da ist. Hier sind auch viele Abstufungen, von der 
stärksten Tendenz auf die Ausführung der Bewegung hin bis zum schwächsten 
Grade, anzunehmen. Mit dem Begriff Einstellung sind hier nur die stärkeren 
Grade gemeint, wie sie nach kurz vorher stattgefundener Einübung oder 
wenn H. die Klapper in die Hand bekommt usw., bestehen. Praktisch ist 
diese Unterscheidung insofern wichtig, als bei jedem Versuch zuerst die 
Alleinwirkung der Hilfssinneseindrücke abgewartet werden muß. Ebenso 
muß beim Feststellen des „ersten Verständnisses“ durch Ablenkung des 
Kindes vom Versuchsobjekte die Einstellung verringert oder aufgehoben 
werden. Beim Nichtauftreten der Verständnisbewegung werden stets acht 
Darbietungen des Sprechkomplexes gegeben, um zu vermeiden, daß das nicht 
sofortige Auftreten der Verständnisbewegung als Nichtverstehen gebucht 
wird. Ebenso wird bei jeder Verständnisbewegung ein Kontrollversuch ge¬ 
macht. Bei der „weiteren Beobachtung“ der Verständnisbewegungen achte 
ich auf ihr Ausbleiben und dessen Ursache und versuche, durch Änderung 
der Versuchsbedingungen beim Auftreten der Verständnisbewegungen — der 
allgemeinen Bedingungen in bezug auf die kindliche Bewußtseinslage und 
auf das in den Sprachkomplexen Gemeinte und der spezielleren in bezug 
auf den sprachlautlichen Gehörseindruck — einen tieferen Einblick in das 
Sprachverständnis zu gewinnen. Nach einer gewissen Zeit der Nichtübung 
stelle ich das noch vorhandene Sprachverständnis fest. 


3. Ich stelle das Auftreten von drei weiteren Verständnis¬ 
bewegungen fest. 

4. Die sprachliche Bedeutung des Bitteausdrucks. 

Sie wird in bezug auf einen gewünschten Gegenstand eingeübt und ihre 
Weiterentwicklung in Beziehung zu anderen Objekten durch genaueste Be¬ 
obachtung in den folgenden Tagen festgestellt Ihre späteren Entwicklungs¬ 
stufen werden bis zum Ende der Entwicklungsperiode des reinen Sprach¬ 
verständnisses durch Aufzeichnung sämtlicher Bittebewegungen während des 
ganzen Tages am 25. 2., 10. 3. und 24. 3. zu erkennen versucht. 


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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 275 


Das Beobachtungs- und Versuchsmaterial. 

I. Die neun absichtlich eingefibten Sprachkomplexe.') 

a) Vor der Einübung, die Einübung, erste» Verständnis und weitere Beobachtung der 
Verstlndnisbewegung bei jedem Komplex bis Ende Januar 1020. 

1. „Mache bauz!“ 

Vor der Einttbung: Seit dem 20. 12. 1919 (0;9 l /4) zeigt H. eine besondere 
Ausdrucksbewegung in freudiger Stimmung: in sitzender Stellung — im Wagen 
oder auf dem Schoß — bewegt er ziemlich schwungvoll seinen Oberkörper 
bis zu fünfmal vor und zurück. Einübung (Beginn 25.12.19, zweimal täg¬ 
lich, vor- und nachmittags je einmal): H. sitzt in zufriedener Stimmung im 
Wagen. Ich lasse ihn ins Kissen zurückfallen und sage: „bauz“ (Ammen¬ 
ton). Er stemmt sich sofort wieder hoch. Der ganze Vorgang macht ihm 
große Freude. Er wird zweimal wiederholt. Während H. zurückfällt und 
während der kurzen Pause des Liegens lächelt er; manchmal lacht er sogar 
laut auf. Bei der zweiten Einübung brauche ich ihn nur das erste Mal zurück¬ 
fallen zu lassen; dann läßt er sich zweimal von selbst zurückfallen. Am 
nächsten Tage setzt er die Bewegung solange fort, bis ich ihn anhalte. Nach 
drei Tagen zeigt er bei einer Einübung deutlich seine Unlust, die Bewegung 
auszuführen; er sträubt sich dagegen. Ich gebe ihm seine Klapper, mit der 
er spielt Nach einigen Minuten macht er plötzlich zu meiner Überraschung 
spontan die Bewegung. Bei jedem Zurückfallen sage ich: „Bauz“. Vor jeder 
neuen Einübung wird ihm dreimal „mache bauz!“ zugerufen. Es erfolgt bis 
31.12. keine Verständnisbewegung. Erstes Verständnis (31. 12. nachmittags): 
H. hat nach seinem Bade zwei Stunden fest geschlafen und anschließend 
seine Flasche mit großem Appetit getrunken. Er sitzt, als ich nach Hause 
komme, in zufriedener, munterer Stimmung im Wagen und zeigt Freude bei 
meinem Anblick. (Er hat mich seit der Einübung am Vormittag nicht ge¬ 
sehen.) Ich rufe ihm „mache bauz!“ zu, worauf er die betreffende Bewe¬ 
gung gegen fünfmal ausführt. Weitere Beobachtung der Verständnisbewegung: 
Die Aufforderung „mache bauz!“ wird H. von nun an täglich zweimal, so¬ 
bald er in behaglicher Stimmung ist, zugerufen. Die Verständnisb.ewegung 
erfolgt ständig. Wenn nur der ausdrucksvolle Stimmlaut des Sprachkom- 
plexes („au“) gegeben wird, erfolgt die Ausdrucksbewegung nicht. Am 3.1.20 
spreche ich die Aufforderung, als er sich in liegender Stellung befindet. Auch 
hier erfolgt sie und zwar so, daß er, die Wagenränder fassend, sich kurz 
faochzieht und wieder fallen läßt. Am 6. 1. zeigt er ausgesprochene Unbe¬ 
haglichkeit und Unlust. Er hat stark mit Zahnen zu tun, war schon in der 
vorhergehenden Nacht sehr unruhig und sieht jetzt blaß und angegriffen aus. 
Bei der Aufforderung zeigt er keine Verständnisbewegung (achtmal). Ver¬ 
schwinden der Verständnisbewegung: Da sich H. etwas zu forsch hintenüber¬ 
wirft und infolgedessen zu befürchten ist, daß er sich an den Kopf stoßen 
kann, wird die Aufforderung von jetzt ab unterlassen. Nach 14 Tagen er¬ 
gibt eine genaue Prüfung — die Aufforderung wird bei günstiger Stimmung 
achtmal gegeben — vollständiges Fehlen des Verständnisses. 


*) Von dem umfangreichen Versuchsmaterial werden nur drei Beispiele angeführt. 

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276 


Paul Schäler 


2. „Mache bitte bitte!“ 

Vor der Einübung: Längere Zeit vor seinen ersten bewußten Greif bewe- 
gungen (0;5) spielt er in behaglicher Stimmung bereits mit seinen Händen. 
Dabei kann man größere und kleinere Armbewegungen beobachten: Die 
Händchen schnellen ab und zu auseinander und werden wieder zusammen¬ 
gebracht. Bei Unluststimmung kann dieses Spiel niemals beobachtet werden. 
Einübung: An diese Spielbewegung, die er jetzt (26. 12.1919, 0;9 V<) noch 
lebhafter ausführt als am Anfang, schließe ich die Einübung der Bittebewe¬ 
gung. Ich fasse seine Arme und führe sie mehrere Male gegeneinander, wo¬ 
bei sich die Handflächen berühren (Rhythmus x ^ A. ^). Dabei sage ich: 
„Bitte bitte!“ (Ammenton, Rhythmus x^_i_<). Bald macht H. die Bewegung 
auch allein, sobald Einstellung dazu da ist (ich brauche ihm nur das erste 
Mal die Arme zu führen oder mein Töchterchen macht es ihm vor. 1 ) Auf 
Aufforderung erfolgt die Bewegung nicht Erstes Verständnis (7.1.20 früh): 
H. ist nach gesundem Schlaf erwacht. Ich fahre ihn in seinem Wagen 
wie gewöhnlich nach seinem Erwachen und rufe ihm dann einige Male die 
Aufforderung „mache bitte bitte!“ zü. Jetzt erfolgt die erste Verständnis¬ 
bewegung. Weitere Beobachtung der Verständnisbewegung: In den folgenden 
Tagen achte ich besonders auf die Art der Ausführung der Verständnis¬ 
bewegung. Bei den zweimal täglich vorgenommenen Versuchen rufe ich H. 
stets den vollen Sprachkomplex „Mache bitte bitte!“ zu. Daraufhin wird die 
Verständnisbewegung gut, mittelmäßig, flüchtig, andeutungsweise oder gar 
nicht ausgeführt. Gut ausgeführt nenne ich die Bewegung dann, wenn sie 
mehrere Male lebhaft und kräftig gemacht wird, wenn dabei die Armmuskeln 
angespannt, die Handflächen richtig geöffnet sind und Gesichtszüge und Blicke 
einen lebhaften, interessevollen, freudigen Ausdruck zeigen. Bei mittelmäßiger 
Ausführung tritt die Verständnisbewegung einmal, höchstens zweimal und 
dazu etwas matter auf, Blick und Gesichtszügen fehlt der oben erwähnte Aus¬ 
druck. In der flüchtigen Verständnisbewegung berühren sich die Hände an 
den Fingerspitzen nur einmal und flüchtig oder werden gar nur einander 
genähert. Hierbei merkt man am Blick und Gesichtsausdruck, daß H. die 
Bewegung nicht machen will, daß er keine Lust dazu hat. Dieses Nicht¬ 
machenwollen kommt in der andeutungsweisen VerständniBbewegung noch 
deutlicher zum Ausdruck. Arme und Hände bleiben in ihrer Lage, z. B. auf 
dem Deckbett. Man kann aber ein kurzes Aufspreizen der Finger, eine 
kurze zuckartige Streckbewegung der Arme beobachten. Die Verständnis¬ 
bewegung bleibt aus: erstens bei starker Unlust. So gibt er am 8.1. durch 
Schreien, Sichwinden seine Unlust zu erkennen, weil er seine vor ihm stehende 
Flasche nicht sofort erhält, und am 14. 1. macht er sich steif, zieht am Deck¬ 
bett und laUt ärgerlich, weil er aus dem Wagen herausgenommen werden 
wiU. In beiden Fäüen macht er auf Aufforderung keine Bittebewegung. 
Zweitens bei Müdigkeit. Am 9. 1. liegt er träge und verträumt nach dem 
Badeschlafe im Wagen. H. macht keine Verständnisbewegung. Drittens bei 
Bewegungen, die sein ganzes Interesse in Anspruch nehmen. Am 14.1. sitzt 
er behaglich in seinem Stühlchen und tastet und patscht ganz vertieft auf 
dem vor ihm befestigten Brett herum. Die Bittebewegung wird auf Auf- 

*) Die erste Nachahmung einer Bewegung — Schlagen mit rechter Hand auf den Tisch — 
erfolgte am 20.12. 19. 


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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 277 


forderung nicht gemacht Die letztere Art des Versagens in bezug auf die 
Verständnisbewegung tritt nicht häufig auf, da er gewöhnlich auf Vorgänge 
in seiner Umgebung sehr achtet. Unlust und Müdigkeit treten in den mei¬ 
sten Fällen zusammen auf: große Müdigkeit verursacht Unlust. Das zeigt 
sich namentlich vor seinem täglichen Bade am späten Vormittag. Unlust ist 
also die Hauptursache des Ausbleibens der Verständnisbewegung. Die Be¬ 
dingung für die gute Ausführung ist die gegenteilige Gefühlslage: zufriedene, 
behagliche, freudige Stimmung. Sie tritt am häufigsten am frühen Morgen 
nach ruhigem Schlaf und während oder kurz nach der Mahlzeit auf. Zwischen 
beiden extremen Gefühlslagen liegen die verschiedenen Stimmungsabstufungen, 
die eine mittelmäßige, flüchtige und andeutungsweise Ausführung der Ver¬ 
ständnisbewegung verursachen. Weitere Versuche zeigen die Wirkung von 
Hilfssinneseindrücken auf das Ausführen der Bittebewegung. Im Anschluß 
an den Versuch am 9. 1., der das Nichtauftreten der Verständnisbewegung 
bei Müdigkeit zeigt, lasse ich H.s Hände sich berühren und sage dabei die 
Aufforderung. Er macht die Bewegung gut. Nach dem Versuch am 14. 1., 
bei dem sich bei voller Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit keine Ver¬ 
ständnisbewegung zeigt, fasse ich H.s Arme an der Stelle an, wo ich sie bei 
der Einübung gewöhnlich hielt; — Arme und Hände bleiben aber in der vor¬ 
herigen Lage — indem ich dazu „mache bitte bitte!“ sage. Er macht die 
Bewegung. Am 18.1. erfolgt auf acht Aufforderungen keine Reaktion (Müdig¬ 
keit nach dem Bade). Die Bittebewegung zeigt sich, als mein Töchterchen 
sie Vormacht und ich ihn dabei auffordere. Die beiden ersten Hilfssinnes¬ 
eindrücke lösen aber für sich nicht die Reaktion aus. Dagegen erfolgt sie 
auf Vormachen ohne den lautlichen Gehörseindruck. Bei Unlust wirken auch 
die Hilfssinneseindrücke nicht. Ärgerlich wehrt er sich gegen Hilfen. Nach¬ 
dem ich festgestellt habe, daß in zufriedener, behaglicher Stimmung die Ver¬ 
ständnisbewegung auftritt, kann ich Versuche machen, in denen der laut¬ 
liche Gehörseindruck nach bestimmten Gesichtspunkten geändert wird. 

a) Zuerst (26. 1.) wird in der Aufforderung das Wort „mache“ weggelassen. 
H. macht die Verständnisbewegung in guter Ausführung, b) Die Aufforde¬ 
rung „bitte bitte“ wird im „gewöhnlichen Sprechton“ gegeben. Am 17. 1. 
zeigt sich daraufhin keine Verständnisbewegung. Am 27. 1. wird der Ver¬ 
such wiederholt. Jetzt tritt sie auf. c) Ich fordere H. mit einem dem „bitte 
bitte“ ähnlich klingenden Sprachkomplex („kippe kippe“) im Ammenton auf. 
Er macht die Bewegung (28. 1. vormittags), d) Die Melodie und der Rhyth¬ 
mus des Sprachkomplexes werden auf lä la lä la gegeben. Die Verständnis¬ 
bewegung zeigt sich nicht (28. 1. nachmittags). 

3. „Wo ist die Ticktack?“ 

Vor der Einübung: Der Versuch sollte ursprünglich nach dem Vorbilde 
Lindners u. a. mit einer Wanduhr ausgeführt werden. Zu diesem Zwecke 
wird unsere Wanduhr (75 cm lang und 30 cm breit, das mattsilberne Ziffer¬ 
blatt und Pendel heben sich deutlich von dem dunklen Gehäuse ab) am 
20.12. 19 aus dem Eßzimmer, wo H. seinen Badeschlaf im Sommer hielt, 
in das er aber seit drei Monaten der Kälte wegen nicht mehr gekommen ist, 
ins Wohnzimmer gebracht und gegenüber dem gewöhnlichen Standort von 
H.s Wagen (2 1 /2 m entfernt) an der Wand aufgehängt. An den folgenden 


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278 


Paul Schäfer 


Tagen kann ich ohne jede Einwirkung meinerseits auf ihn beobachten, daß 
sowohl der Gegenstand als auch das Ticktackgeräusch kein besonderes Inter¬ 
esse in ihm erregen. Die ersten Tage sieht er ab und zu flüchtig hin. Der 
einzige lustbetonte von der Uhr ausgehende Eindruck wird durch ihren schönen 
vollen Klang hervorgerufen. Bei ihrem Schlagen sieht er mich an und lacht 
Erst einige Tage nach dem 26.12. sucht er ab und zu die Schallquelle beim 
Klange auf. Vom 3. 1. an führe ich den Versuch mit einem 25 cm hohen 
Metronom durch, welches das Ticktackgeräusch mit gleichem Zeitintervall wie 
die Uhr, aber etwas lauter, erzeugt. Ich stelle es am erwähnten Tage auf 
den Tisch, 1 */a m halblinks von H.s Wagen entfernt, und setze es in Gang. 
Er zeigt dafür größeres Interesse als für die Wanduhr. Als ich es auf den 
Tisch gestellt habe, sieht er sofort hin (ungefähr 20 Sek.) und lacht einige 
Male laut „häj“. Er blickt kurz auf mich, darauf wieder 20 Sekunden auf 
das Metronom. Ich kann ein deutliches Hinundherhewegen des Augapfels, 
ein Verfolgen des Metronompendels feststellen. H. schwingt seinen Ober¬ 
körper vor und zurück und „kräht“ dazu (beides Ausdrücke der Freude). 
Einübung: Am Nachmittage des gleichen Tages sage ich im Rhythmus des 
tickenden Metronoms zwei Minuten lang „Ticktack“. Schon bei dieser ersten 
Einübung ist eine Blickrichtungsreaktion zu beobachten. H. sieht zunächst 
ungefähr 25 Sekunden hin, dann wendet er sich ab. Als ich mit Ticktack¬ 
sagen aufhöre, horcht er und sieht wieder hin. Einige Kontrollversuche 
zeigen die gleiche Tatsache. Die Blickrichtungsreaktion kann nur darin ihre 
Ursache haben, daß, wenn das Ticktackgeräusch mit dem Sprachlaute nicht 
mehr zusammenklingt, es als stärkerer Reiz H.s Aufmerksamkeit auf sich 
lenkt. Am 4. 1. stelle ich zunächst fest, ob H. etwa durch die gestrige Ein¬ 
übung schon das „Verständnis“ des Wortes Ticktack erlangt hat, indem ich 
am tickenden Metronom dreimal frage: „Wo ist die Ticktack?“ (Ammenton). 
Die Verständnisbewegung bleibt aus. Darauf mache ich mehrere Versuche, in 
denen ich je fünfmal „Ticktack“ im Rhythmus des tickenden Metronoms sage. 
Ich beobachte die Blickrichtungsreaktion dreimal nach dem vierten Male, 
zweimal nach dem fünften Male und einmal nach dem zweiten Male Sagen. 
Diese Art des „Verständnisses“ beleuchten folgende zwei Kontrollversuche. 
Erstens poche ich mehrere Male in gleichem Rhythmus je fünfmal mit dem 
Finger kräftig auf einen Holzstuhl: H. sieht auf das Metronom dreimal nach 
dem ersten Male, zweimal nach dem zweiten Male und einmal nach dem 
vierten Male Doppelpochen. Zweitens mache ich den gleichen Versuch mit 
dem Anschlägen des eingestrichenen d auf dem Klavier. H. blickt auf das 
Metronom viermal nach dem zweiten Mal und je einmal nach dem dritten 
und vierten Mal Doppelanschlagen. Diese Versuche, bei denen das Metronom 
selbstverständlich tickte, zeigen, daß der gleiche Rhythmus die Beobachtungs¬ 
reaktion auslöst. In den folgenden Tagen wird die Einübung zweimal täg¬ 
lich fortgesetzt, nachdem jedesmal vorher das Verständnis durch die Frage 
„Wo ist die Ticktack?“ geprüft worden ist. Dabei ist zu beobachten, daß 
das große Interesse der ersten Tage am Metronom etwas schwächer geworden 
ist, daß er nur ab und zu nach dem tickenden Metronom hinsieht. Sein 
Verhalten ist dasselbe, wenn ich nicht ticktack sage. Um ihn bei der Ein¬ 
übung zum regelmäßigen Hinsehen zu veranlassen, zeige ich mit dem Finger. 
Erstes Verständnis: Am 17. 1. zeigt sich zum ersten Male die Verständnis¬ 
bewegung, auf die Frage blickt H. nach dem Metronom (Kopf- und Augen- 


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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 279 


bewegung). Weitere Beobachtung der Verständnisbewegung: Bei Unlust, 
Müdigkeit und Betätigungen, die sein ganzes Interesse in Anspruch nehmen, 
ist die Verständnisbewegung flüchtiger, aber sie tritt im Gegensatz zu der 
oben erwähnten Verständnisbewegung 1 ) doch in den meisten Fällen auf. 
Über die Bedeutung des Ticktackgeräusches (Hilfssinneseindruck) für die 
Auslösung der Blickrichtungsreaktion belehren uns folgende Versuche: Am 
23. 1. erfolgte die Verständnisbewegung beim tickenden Metronom. Nach 
kurzer Zeit mache ich den Versuch am nichttickenden Metronom. Die Ver¬ 
ständnisbewegung zeigt sich in gleicher Weise. Darauf stelle ich das tickende 
Metronom auf einen anderen Tisch hinter ihm. Bei der Frage sieht H. auf 
die alte Stelle. Dann zeige ich ihm das Metronom auf dem neuen Platze. Jetzt 
blickt er bei der Frage aufs Metronom, ob es tickt oder nicht Folgende 
Versuche zeigen die Wirkung des veränderten lautlichen Gehörseindrucks. 
Am 26. 1. lasse ich „Wo ist die?“ in der Frage aus. Die Verständnis¬ 
bewegung erfolgt in der gleichen Art. Am 27. 1. sieht er auf das ähnlich 
klingende Wort „kipkap“ nach dem Metronom. Ebenso erfolgt die Blick¬ 
richtungsreaktion auf lä la (gleiche Melodie und gleicher Rhythmus). Da¬ 
gegen unterbleibt sie auf la lä. 2 ) 

b) Nachprüfung des Verständnisses am 19. 2. und 19. 3.1920. 

Vom 30. 1. an werden die eingeübten Sprachkomplexe außer „bittebitte“ 3 ) 
von uns nicht mehr erwähnt. H. bekommt auch während dieser Zeit das 
Metronom, den Stoffhund und die Klapper nicht mehr zu sehen und ist 
selten in dem Zimmer, wo sich der Bücherschrank und die Uhr befinden. 
Wegen eines Schnupfens kann er auch selten gebadet werden. Die Ver¬ 
ständnisbewegungen zeigen sich am 19. 2. bei „Mache bitte bitte!“, „Mache 
klapper klapper!“, „Wo ist die Ticktack?“, „Wo ist der Schrank?“, „Wo 
ist das Guckelicht?“ Sie treten nicht auf bei „Mache pantsche pantschet“, 
„Wo ist der Wauwau?“, „Wo ist die Bimbim?“ Bei der Darbietung des 
letzten Komplexes macht er bei der ersten Frage eine flüchtige Bittebewe¬ 
gung. Die Sprachkomplexe werden im Ammenton und im gewöhnlichen 
Sprechton gegeben. Am 19. 3. fehlen außer denen am 19. 2. noch die Ver¬ 
ständnisbewegungen bei „Wo ist der Schrank?“ und bei „Wo ist die Tick¬ 
tack?“, als das Metronom wohl auf dem Tische steht, aber nicht tickt. H. 
sieht es vorher flüchtig an, scheint es aber nicht mehr zu kennen. Ich 
lasse es dann ticken. H. sieht sofort hin und lauscht. Bald blickt er aber 
wieder weg und will vom Schoß der Mutter herunter, um auf dem Fußboden 
zu stehen. Ich frage: „Wo ist die Ticktack?“ Die Verständnisbewegung erfolgt. 

II. Das Auftreten des Verständnisses von drei weiteren nicht absichtlich 

eingeübten Sprachkomplexen. 

1. „Wo ist die Flasche?“ 

H. hat bei einer ausgezeichneten Eßlust natürlich das größte Interesse an 
der gefüllten Flasche. Sein Hungergeschrei sucht die Mutter gewöhnlich mit 


*) Vgl. S. 28. 

*) Die übrigen Protokolle können des beschränkten Raumes halber hier nicht wiedeigegeben 
werden. Die ans ihnen hervorgehenden Folgerungen sollen aber im folgenden verwendet werden. 
*) Vgl. die Entstehung der sprachlichen Bedeutung von Bittebitte. 


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Paul Schäfer 


den Worten: „Jetzt kommt die Flasche!“ und „Da hast du die Flasche!“ 
etwas zu beschwichtigen. Am 20. 1. sagt sie mir, daß er die Frage „Wo 
ist die Flasche?“ verstehe. Er macht, wie ich beobachten kann, aufsuchende 
Bewegungen nach einem bestimmten Platze hin, wo die Flasche gewöhnlich 
steht Weiter kann ich bemerken, daß sein Hungergeschrei sich bei den 
Worten der Mutter einigermaßen beruhigt. 

2. „Mache heizi!“ 

Mutter, Schwesterchen und Dienstmädchen haben ihren Kopf mit dem von 
H. in Berührung gebracht und dabei „heizi“ gesagt. Kurz vor dem 1. 3.1920 
bringt H. auf die Aufforderung „Mache heizi!“ seinen Kopf an den der 
sprechenden Person. 


3. Mache kribbel krabbel!“ 

H. ist manchmal leicht gekitzelt worden, wobei „kribbel krabbel“ gesagt 
wurde. Am 6. 3. macht er die Bewegung selbst mit und wiederholt sie auf 
die Aufforderung „Mache kribbel krabbel!“ Nach einigen Tagen sagt er 
lächelnd die Lautverbindung „grrr . . .“ (Gaumenlaute) dazu.*) 

m. Die Entstehung der sprachlichen Bedeutung von Bittebitte (des Wflnschens, 
Verlangens, Habenwollens) im kindlichen Bewußtsein. 

In einer zweiten Beobachtungs- und Versuchsreihe (vom 3. 2. bis 24. 3.) stellte 
ich die Entwicklung des besonderen Sinnes von Bittebitte, des Wünschens, 
Verlangens, Habenwollens bei H. fest. Bis zum 3. 2. ist der Bitteausdruck 
eine Verständnisbewegung ohne diese besondere Bedeutung, ohne dieses 
Meinen. Versuch: H. zeigt, sobald er eine Semmel sieht, großes Verlangen, 
sie mit seinen Händen zu fassen und zum Munde zu führen. Wird ihm sein 
Wunsch nicht sofort erfüllt, so verstärkt sich der Ausdruck seines Haben¬ 
wollens. Es verhält sich dann ähnlich wie bei der vor ihm stehenden ge¬ 
füllten Flasche: Er windet sich, streckt die Arme nach der Semmel aus und 
stößt ärgerliche Laute aus, die manchmal ins Weinen übergehen. Seine 
Stimmung ist deutlich erkennbare Unlust. Am 3. 2. rufe ich ihm in einem 
solchen Falle zu: „Mache Bittebitte!“ Er reagiert nicht darauf. Dann gebe 
ich ihm die Semmel. Sein Gesichtsausdruck zeigt Befriedigung. Jetzt macht 
er mit der Semmel in der Hand auf Aufforderung die Verständnisbewegung. 
Hauptversuchsreihe: Einübung der Bittebewegung als Ausdruck des Ver¬ 
langens nach der Semmel. Vom 4. 2. an übe ich täglich dreimal, früh, 
mittags und abends, die Bittebewegung in der Weise ein, daß die Semmel 
entweder ihm vorgehalten oder — bei Führung seiner Arme — vor ihn 
auf den Tisch gelegt wird. Dabei sage ich stets: „Bitte bitte!“ Am 6. 2. 
macht er die Bittebewegung auf Vorhalten und Sagen noch nicht. Ich 
lege die Semmel auf den Tisch, um seine Hände führen zu können. Schon 
als sie auf dem Tisch liegt, macht er, ohne geführt zu werden, die Bewegung. 
Am 7. 2. macht er die Bewegung auf Vorhalten und Sagen. An den folgen- 

') Diesen Gaumenlautkomplex spricht er l;5'/ t spontan auch beim Zeigen und Hinblicken 
nach dem Licht auf die Frage: „Wo ist das Guckelichtl?“ Die dem grrr ähnlichen Laute gkll 
erinnern ihn wahrscheinlich an sein grrr. So kommt es zur Bezeichnung des Lichtes durch 
seinen Lautkomplex grrr. 


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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 281 


den Tagen erfolgt die Bewegung beim Anblick der Semmel in irgendeiner 
Lage und beim Erblicken vieler Semmeln. Dabei achte ich darauf, daß er 
nach seiner Bewegung die Semmel stets erhält. In Beziehung auf andere 
begehrte Gegenstände macht er die Bewegung nicht. Am 12. 2. vormittags 
bekomme ich einen Brief. Ich lese ihn der Mutter, die H. auf dem 
Schoß hat, vor. H. langt danach. Ich sage: „Ei ei ei der schöne Brief!“ 
(jl ^ ^ | ^ — Ammenton). Darauf macht H. überraschenderweise 

die Bittebewegung, worauf er den Brief erhält. Von jetzt ab macht er 
auch beim Vorhalten einiger begehrter Gegenstände die Bewegung (ohne 
Sagen). Am 15. 2. will er eine Blechschachtel haben, die auf dem Tische 
liegt. Die Bittebewegung zeigt sich nicht. Ich halte ihm den Gegen¬ 
stand hin. Sofort macht er die Bittebewegung. Das gleiche Verhalten zeigt 
er am selben Tage beim Anblick einer Schnur. Am 18. 2. lese ich in einem 
mit der Hand hochgehaltenen Buch. H. macht „bitte bitte!“, indem er darauf 
sieht. Am Nachmittag hatte ich den Hut auf, mit dem er manchmal gerne 
spielt Bei seinem Anblick macht er die Bittebewegung. Er zeigt eine befriedigte 
Miene, als er ihn bekommt. Am 19. 2. wirft er Spielzeug aus dem Wagen 
und macht dann „bitte, bitte“, indem er ihm nachsieht. An den folgenden 
Tagen führt er die Bittebewegung öfter aus, ohne daß man weiß, was er 
will. So z. B. nach dem Schlaf, wenn jemand an sein Bettchen tritt. Er 
ist befriedigt, sobald er herausgenommen wird oder die Flasche oder das 
Spielzeug bekommt. Am 23. 2. macht er beim Tragen die Bewegung, wenn 
er vom Dienstmädchen zur Mutter oder zu mir will. Am folgenden Tage 
zeigt er, als er getragen wird, die Bewegung beim Anblick eines fremden 
Besuchers. H. ist befriedigt, als dieser ihn auf den Arm nimmt. l ) Die feste 
Assoziation zwischen Bewegung und lautlichem Gehörseindruck und dessen 
große Wirksamkeit in bezug auf Auflösung der Bewegung zeigt folgende 
Tatsache: Ich sage zur Mutter im gewöhnlichen Sprechton und im Zu¬ 
sammenhang unserer Unterhaltung: „Er macht jetzt immer Bittebitte“. So 
fort macht H. die Bewegung. Aufzeichnung der Bittebewegungen am 25. 2., 
10. 3. und 24. 3.: H. wendet den Bitteausdruck derartig oft an, daß die 
Protokolle zu umfangreich sind, um hier wiedergegeben werden zu können. 
Es werden alle Bittebewegungen, die unter gleichen Bedingungen erfolgen, 
hier nur einmal aufge^chnet. H. macht am 25. 2. „bitte bitte“ (er erwacht 
7,45 Uhr), als die Mutter an sein Bettchen kommt, als sie ihn zu mir hin¬ 
bringt, als sie nach zehn Minuten wieder zur Tür hereinkommt, als er 8,30 Uhr 
seine gefüllte Flasche sieht, als die Flasche leer ist, als sie ihm weggenommen 
wird (er bekommt sie daraufhin wieder), als er mein Geldtäschchen in meiner 
Hand sieht (vor dieser Bittebewegung .schiebt er die Flasche von sich), als 
er mir beim Lösen des Knotens einer Schnur zusieht, als er meine Kopf¬ 
wasserflasche in meiner Hand sieht, als ihm die Bauklötzchen weggenommen 
werden (er hat an einem geleckt), als er 1 Uhr nach dem Badeschlafe im 
Wagen liegend nach dem Vorhang langt, den er nicht erreichen kann 
(dabei weiß er nicht, daß jemand im Zimmer ist, ich beobachte ihn unbe¬ 
merkt), als er mich 3,30 Uhr mit dem Hute sieht, als ich 5,45 Uhr zu ihm 
komme und ihm Spielzeug gebe (er schiebt dieses beiseite und macht die 
Bittebewegung), als ich ihn umhertrage und mich mit ihm hinsetze (er ist 


‘) Im ersten Halbjahre zeigte er Furcht vor Fremden, die sich ihm nähern.^ 


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Paul Schäler 


befriedigt, als ich aufstehe und wieder umhergehe), als ich vom Spiegel, in 
den wir beide hineingeblickt haben, weggehe, als ihn die Mutter zum Schlafen¬ 
gehen holt, indem er wieder zu mir will. Am 10. 3. und 24. 3. erfolgen 
ähnlich viele Bittebewegungen. Ich hebe nur die heraus, die unter anderen 
Bedingungen erfolgen. H. hat im Wagen geschlafen (10. 3.) und ist 5,45 
Uhr erwacht. Er macht die Bittebewegung, als er zehn Minuten „genörgelt“ 
und sich niemand seinem Wagen genähert hat (er richtet sich dazu in 
sitzende Stellung auf und blickt sich suchend um), als ich ihn zur Tfir hin¬ 
trage, indem er auf diese blickt, als er mit der Puppe spielt und ich ihm 
einen Löffel zeige (er schiebt die Puppe beiseite), als er den Schlüsselbund 
am Wäscheschrank stecken sieht, als ich mit ihm vom Fenster weggehe, 
durch das wir das Leben und Treiben auf der Straße beobachtet haben. Am 
24. 3.: als ich — H. steht, sich am Gitter festhaltend, in seinem Bettchen; 
ich habe ihm, auf einem Stuhl daneben sitzend, längere Zeit zugesehen — 
vom Stuhl aufstehe, als sein Schüsselchen mit Brei vor ihm auf den Tisch 
gesetzt wird, als ich vom Ofen weggehe, den er mit seinem rechten Händchen 
abgeklatscht hat. 

Das Ergebnis der Beobachtungen und Versuche. 

Die vor der Einübung der neun Sprachkomplexe sich zeigende Wirkung 
der menschlichen Rede auf H. ist kein Sprachverständnis. Der beruhigende 
Effekt der Worte der Mutter ist an die liebevolle, begütigende Art des 
Sprechens geknüpft; denn dabei können die allerverschiedensten Worte 
gebraucht werden. Auf die einzelnen Sprachkomplexe kommt es auch nicht 
an, wenn H. den Sprechenden mit den Augen aufsucht. Diese Ausdrucks¬ 
bewegung ist zu beobachten, wenn er plötzlich recht lautes Reden hört 
(auch bei anderen lauten Geräuschen sucht er die Schallquelle zu entdecken), 
oder wenn er plötzlich die Stimme einer Person vernimmt, die bis dahin 
noch nicht gesprochen hat (Unterscheidung der Klangfarbe). H. erlangt erst 
eine gewisse Art von Sprachverständnis auf Grund einer absichtlichen 
systematischen Einübung von neun Sprachkomplexen (Beginn 0;9) und einer 
nicht absichtlichen Einübung von drei weiteren Sprachkomplexen. Ferner 
lernt er die sprachliche Bedeutung des Bitteausdruqg} verstehen. 


I. Die Verständnisbewegungen. 

Die durch sprachliche Einwirkung ausgelösten Ausdrucksbewegungen (Ver¬ 
ständnisbewegungen) sind in bezug auf ihre Ausführung zweifacher Art: 
erstens bestimmte eingeübte Bewegungen (Dressurleistungen), zweitens Blick¬ 
reaktionen (Kopf- und Körperdrehung) nach benannten Gegenständen. In 
ihrem Auftreten zeigt sich ein bedeutsamer Unterschied. Die erstere Art 
wird in bezug auf ihr Auftreten stark von Unlust, Müdigkeit und Beschäfti¬ 
gungen, die H.s Interesse stark in Anspruch nehmen, beeinflußt. Daß H. 
aber dabei die Sprachkomplexe auffaßt, beweist die andeutungsweise aus¬ 
geführte Bittebewegung und sein Verhalten in den erwähnten Bewußtseins¬ 
lagen bei Benennung der bekannten Gegenstände. Die Blickreaktionen er¬ 
folgen hier fast immer, allerdings ohne Kopf- und Körperdrehung und 
manchmal äußerst flüchtig. 


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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Kntwicklungsperiode usw. 283 


Es mag sein, dafi sie leichter und bequemer auszufahren sind. Die Blickrich- 
tuugsreaktionen treten auch zeitlich bedeutend früher in der kindlichen Ent¬ 
wicklung auf. Lindner stellte sie auf einer Entwicklungsstufe fest, wo das Kind 
noch nicht fähig ist, irgendwelche Dressurleistungen zu erlernen. Meumanns *) 
Meinung, dafi „ein etwas höheres Stadium des Sprachverständnisses“ als bei 
den Blickrichtungsreaktionen vorliegt, „wenn das Kind auf Aufforderungen 
und Befehle. des Erwachsenen mit den entsprechenden Bewegungen reagiert“, 
ist nicht richtig. Es ist ferner immer die gleiche Bewegung, wenn 
auch nach verschiedenen Richtungen hin. Endlich ist sie von frühester 
Entwicklungszeit eingeübt: Das Kind richtet stets seine Aufmerksamkeit auf 
das Interessante. 2 ) Im Gegensatz dazu werden die eigentlichen Dressur¬ 
bewegungen — und zwar unter starker Beteiligung von Gefühl und Willen 
— besonders eingeübt. Selbstverständlich ist auch bei den Benennungs- 
Übungen das Gefühl beteiligt, aber hier scheint die intellektuelle Seite des 
Interesses am Gegenstände mehr hervorzutreten. Es ergibt sich aus allen 
den Tatsachen eine größere Unabhängigkeit von Gefühl und Willen im Auf¬ 
treten der Blickreaktion gegenüber der eigentlichen Dressurbewegung. Man 
ist demnach wohl berechtigt, die Blickrichtungsreaktionen als von unwill¬ 
kürlicher Art zu charakterisieren. In bezug auf die bei ihrer Auslösung 
hervortretenden intellektuellen Ursachen können wir die Verständnisbewe¬ 
gungen in 1. scheinbare, 2. solche, die auf Grund von besonderen Ein¬ 
stellungen entstehen, und 8. reine einteilen. Die scheinbare Verständnis¬ 
bewegung: Ehe der sprachlautliche Gehörseindruck dem Kinde etwas 
„leistet“, werden sehr oft Ausdrucksbewegungen, die auf Grund von Hilfs- 
sinneseindrücken entstehen, für Verständnisbewegungen gehalten. Dieses 
scheinbare Sprachverständnis wird deshalb für wirkliches angesehen, weil 
die Wirkung der Hilfssinneseindrücke, die sehr oft unbemerkt bei der Dar¬ 
bietung der Sprachkomplexe auftreten, kritiklos den letzteren zugeschrieben 
wird. Besonders auffällig machen sich die Hilfssinneseindrücke im Pantsche¬ 
beispiel, wo zuerst jedes geringste Plätschern im Wasser die eingeübte Be¬ 
wegung eher .auslöst als der eindrucksvollst gesprochene Sprachkomplex. 
Äußerst wichtig ist in dieser Hinsicht eine scharfe Trennung der Wirkung 
des Ticktackgeräusches von der des sprachlautlichen Gehörseindrucks. Zuerst 
löst nur ersteres die Blickrichtungsreaktion aus. Die Verständnisbewegung 
auf Grund von besonderer Einstellung: Diese Art ist kurz vor dem ersten 
Verständnis des betreffenden Komplexes zu beobachten. In jedem der Bei¬ 
spiele wird durch die Einübung — falls sie schon weit vorgeschritten — eine 
besondere Bewufitseinseinstellung (frische Gedächtnisspuren, die Tendenz, den 
lusterzeugenden Vorgang zu wiederholen usw.) erzeugt, welche die erste 
Leistung des sprachlautlichen Gehörseindrucks ermöglicht. Beim Eigreifen 
der Klapper tritt die Tendenz zur Ausführung der Bewegung mit auf. Ähn¬ 
lich ist es, wenn H. ins Bad gesetzt wird, wenn er kurz vor dem Versuch 
auf die Uhr, das elektrische Licht, das Metronom, den Hund geblickt hat, 
wenn sich beim Hinstellen von H.s Wagen an den Schrank sofort die Auf¬ 
merksamkeit des Kindes auf diesen richtet. Die reine Verständnisbewegung: 
Wenn der sprachliche Gehörseindruck für sich selbst und ohne Mithilfe einer 


') Meumann, E., Die Entstehung. S. 24. 

*) Stern, W., Psychologie der frühen Kindheit. S. 59fg. 


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284 


Paul Schäler 


besonderen Einstellung die Ausdrucksbewegung auslöst, dann kann diese als 
erste reine Verständnisbewegung aufgefaßt und damit das erste Sprachver¬ 
ständnis festgestellt werden. 


n. Das Sprachverständnis. 

a) Das Schallstttck, das die Verständnlsbewegang auslöst. ' 

Für uns Erwachsene *) tritt der Sinn der Sprachkomplexe (der Aufforderungs¬ 
und Fragesätze) derartig in den Vordergrund, daß man fast darüber vergißt, 
daß bei' ihrem Auffassen durch ein Kind auf der Entwicklungsstufe von H. 
allein ihre phonetische Beschaffenheit in Frage kommen kann. 2 ) Dabei darf 
man nun allerdings nicht nur an die „Töne und Geräusche des Wortes“ 
denken. 3 ) Schon der Versuch Tappolets, 4 ) wo die gleiche kindliche Ver¬ 
ständnisbewegung auftrat, oh die Frage: „Wo ist das Fenster?“ deutsch oder 
französisch gesprochen wurde, wies die Kinderpsychologen darauf hin, daß 
noch ganz andere phonetische Merkmale in Betracht kommen. An welche 
phonetischen Elemente der Sprechtakte sind die Verständnisbewegungen ge¬ 
knüpft? In der Einübung — ob absichtlich oder nicht absichtlich — werden 
nur die phonetisch ausgezeichneten Elemente der Sprachkomplexe gegeben,- 
entweder nur die Starksilben für sich (Bauz, Schrank) oder die durch be¬ 
sondere phonetische Elemente zu einem in sich abgeschlossenen größeren 
Komplex erweiterten Starksilben (Ticktack, Flasche, Bimbim, Wauwau, Gucke- 
lichtl, Kribbel-krabbel, Bittebitte, Pantsche-pantsche, Klapper-klapper), oder 
es wird bei der Prüfung des Verständnisses (dreimal) (Nebeneinübung) vor 
jeder neuen Haupteinübung der ganze Sprechtakt dargeboten. Im letzteren 
Falle treten die nebentonigen Satzelemente („Mache“ und „Wo ist der [die]“) 
fast ganz zurück. Zeigt schon diese Überlegung, daß nur die phonetisch aus¬ 
gezeichneten Elemente der Sprechtakte für die Auslösung der Verständnis¬ 
bewegungen bedeutsam sein können, so wird diese Tatsache auch durch 
Versuche bestätigt: Es zeigt sich bei einer Darbietung des ganzen Sprech¬ 
taktes oder nur seiner hervortretenden Elemente nicht der geringste Unter¬ 
schied in bezug auf die Verständnisbewegung. Mag nun auch bei andern 
Kindern die mehr oder weniger absichtliche Einübung der ersten Verständnis¬ 
bewegungen in einer andern Weise erfolgen, darin gleichen sich jedenfalls 
alle, daß die Sprechtakte — wenn auch schon von Anfang an nur immer 
Aufforderungs- und Fragesätze gegeben werden — mit dem Bemühen ge¬ 
sprochen werden, bestimmte Teile phonetisch besonders hervortreten zu lassen 


*) Natürlich gilt das auch für die Kinder und Jugendlichen, die entwickeltes Sprachverständnis 
haben. 

*) Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, erklärt sich auch die eigentümliche Tatsache, 
daß ein solches Kind im Vergleich zum Erwachsenen Schallzusammenhänge, die von laut reden¬ 
den Personen von der Straße oder von anderen Zimmern her zu ihm hintönen, mehr beachtet 
als der Erwachsene. Dessen Aufmerksamkeit ist in dieser Hinsicht stets auf den Sinn gerichtet. 
Er beachtet Sprachklänge nicht, deren Sinn er nicht verstehen kann. 

3 ) W. Oltuscewsky sagt in seiner Abhandlung „Die geistige und sprachliche Entwicklung des 
Kindes“ Berlin 1897, S. 31: „Die hörbare menschliche Sprache besteht aus Tönen (Vokalen) und 
Geräuschen (Konsonanten), welche einen Klang haben oder klanglos sind. 11 

4 ) Mitgeteilt von Meumann, Die Entstehung usw., S. 35. 


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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 285 


(Ammenton), und mit ihnen verknüpft sich die Ausdrucksbewegung. Nur sie 
werden also vom Kinde „verstanden"; die übrigen Satzteile haben für das 
Auftreten der Verständnisbewegung keine Bedeutung; sie werden nur vom 
Sprechenden kritiklos für das kindliche Verständnis für notwendig gehalten. 
Vergleichen wir die Schallstücke, die zuerst Träger des Verständnisses in 
unseren Komplexen sind, in bezug auf ihre phonetischen Eigentümlichkeiten, 
so erkennen wir Unterschiede, die nicht ohne Einfluß auf ihre Eindrucks¬ 
fähigkeit auf das Kind sein können. Gegensätze bilden in dieser Hinsicht 
die Einsilber Bauz und Schrank und die Zweisilber Heizi und Flasche. Der 
Unterschied in der Einübungszeit bei Bauz und Schrank ist ein ganz be¬ 
deutender, und wenn auch die Ursache des Zeitunterschiedes in anderen 
Momenten, z. B. in der verschiedenen Dauer in der Erlernung der Bewegung 
(Einübung des Lautkomplexes und der Bewegung konnte nicht getrennt 
durchgeführt werden) mit gefunden werden kann, so ist doch wohl der 
ausdrucksvollere Stimmlaut in Bauz das wesentlichere, wenn nicht das 
hauptsächlichste Moment. Ähnliches können wir bei den nicht absichtlich 
eingeübten Sprachkomplexen Heizi und Flasche beobachten. „Flasche" ist 
lange vor dem Verständnis regelmäßig bei H.s Mahlzeiten gesprochen 
worden; bei „Heizi" sind es nur wenige Wochen, und außerdem zeigt sich 
die Eindrucksfähigkeit von dem Stimmlaut dieses Wortes dadurch, daß H, 
es zwei Tage nach seinem ersten Verständnis nachahmt. Im Vergleich von 
Bauz und Wauwau bemerken wir beim letzteren außer dem eindrucksvollen 
Stimmton ein zweites phonetisches Element, das die Eindrucksfähigkeit erhöht 
(in einer Familie hörte ich bauz auch mit dem Rhythmus Bäuze bäuze), einen 
besonderen Rhythmus - ^ (in mancher Kinderstube wird Wauwau w ± 
gesprochen), der durch Wiederholung des betreffenden Wortes ermöglicht 
wird. Wir finden nun zwar bei Wauwau wieder eine kürzere Einübungszeit 
als bei Bauz, dürfen von ihr aus aber nicht ohne weiteres auf den Rhythmus 
als Ursache schließen, da die anderen Bedingungen in bezug auf die zwei 
Sprachkomplexe zu verschieden sind; z. B. wird Wauwau viel später als 
Bauz eingeübt; es ist also die allgemeine Übung im Verstehen von Sprach¬ 
komplexen schon bedeutend weiter vorgeschritten. Dieses phonetische Ele¬ 
ment, den Rhythmus, finden wir aber jedenfalls auch in den anderen Sprach¬ 
komplexen, in den meisten künstlich ermöglicht durch Wiederholung des 
betreffenden Wortes oder scharf ausgeprägt in besonders gebildeten Kinder¬ 
worten: Ticktack (gebildet in Nachahmung des Uhrpendelgeräusches), Gucke- 
lichtl und Kribbel-krabbel. Diese phonetischen Besonderheiten der ersten 
verstandenen „Wörter", der besondere Rhythmus, der ausdrucksvolle Stimm¬ 
laut und im ganzen ein besonderes Geeignetsein, den speziellen musi¬ 
kalischen Akzent des Ammentons zum Ausdruck zu bringen, unterscheiden 
diese von den Wörtern der Umgangssprache, und mit feinem pädagogischen 
Instinkt werden von Müttern, Geschwistern, Ammen usw. aus der Umgangs¬ 
sprache geeignete Wörter ausgewählt, Umbildungen oder Neubildungen ge¬ 
schaffen (Tradition der Kinderstube), um dem Kinde die schwierige Geistes¬ 
arbeit des ersten Spracherwerbs auf einer frühen Entwicklungsstufe zu 
ermöglichen. 

Als besonders geeignet zum Einüben auf dieser Entwicklungsstufe werden 
die sogenannten Onomatopoetika (in unseren Beispielen haben Ticktack und 
Wauwau diesen Charakter) empfunden. Tatsächlich zeigen sie besonders 


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286 


Paul Schäfer 


ausgezeichnete phonetische Elemente. Es liegt der Gedanke nahe, daß die 
Verständnisbewegungen an die herrortretenden phonetischen Elemente geknüpft 
seien. Die Versuche mit der Darbietung des Rhythmus (und musikalischen 
Akzents) auf la belehren uns in bezug auf die Alleinbedeutung dieses Ele¬ 
ments über das Gegenteil. Wenn bei dem Ticktackversuch die Ausdrucks¬ 
bewegung auf lä la erfolgt, so ist das nur ein Beweis für die hohe Bedeutung 
des Ticktackgeräusches in bezug auf Auslösung der Verständnisbewegung; 
beim Klapperversuch ist die Verständnisbewegung nur infolge der ganz be¬ 
sonderen Einstellung auf die Bewegung durch lä la lä la ausgelöst worden. 
Auch an den ausdrucksvollen Stimmlaut allein ist die Verständnisbewegung 
nicht geknüpft. Der Versuch Preyers 1 ), der die Auslösung der Ausdrucks¬ 
bewegung („Wie groß ist das Kind?“) schon beim Sprechen „oo“ feststellt, 
beweist nicht das Gegenteil, sondern zeigt nur, daß bei fortgeschrittener 
Entwicklung eine mechanische Einübung zwischen dem Stimmlaut und der 
Bewegung leicht möglich ist. Daß aber auf der anderen Seite wiederum 
beim „Verständnis“ die Wörter nicht deutlich aufgefaßt werden, zeigen die 
Versuche mit dem ähnlich klingenden Worte und die Beobachtung über Ver¬ 
wechslung der Ausdrucksbewegungen durch das Kind. Wenn die Pantsche¬ 
bewegung bei im übrigen gleichen Bedingungen auf tanke tanke nicht er¬ 
folgt, so darf man wohl mit Recht auf die große Bedeutung der Lautver¬ 
bindung t mit stimmhaftem sch für das „Verständnis“ schließen. Bei der 
hohen Bedeutung, die den phonetisch ausgezeichneten Elementen im Wort¬ 
zusammenhang zukommt, liegt die Frage nahe, ob die betreffenden Wörter 
auch im gewöhnlichen Sprechton verstanden werden. Versuche mit dem 
Bittesprachkomplex am 17. 1. und mit Pantsche pantsche am 18. 1. fallen 
negativ aus. Bei einer zweiten Prüfung mit beiden Sprachkomplexen treten 
die Verständnisbewegungen auf. Ebenso ist es der Fall bei den anschließen¬ 
den Versuchen mit den übrigen sieben Sprachkomplexen. Ein weiterer Fort¬ 
schritt ist es, wenn der Sprachkomplex aus der Unterhaltung der Personen 
der Umgebung aufgefaßt wird. Eine zufällige Beobachtung eines derartigen 
Verständnisses von Bittebitte mache ich am Ende der Einübung der sprach¬ 
lichen Bedeutung des Bitteausdrucks. 2 ) 

b) Assoziation und Dissoziation, Leistung des sprachlautlichen Gehörseindrucks, Dressur 

Gedächtnis. 

Das in unseren Beispielen sich zeigende Sprachverständnis beruht auf der, 
Assoziation eines bestimmten von H. als undeutliche Gesamtform aufgefaßten 
sprachlautlichen Gehörseindrucks mit der betreffenden eingeübten Bewegung 
oder eines derartigen Gehörseindrucks mit dem Erinnerungsbilde (Komplex¬ 
qualität) von dem im Sprachkomplex gemeinten, das besondere Interesse des 
Kindes erregenden Gegenstände. Den Assoziationen gehen „Dissoziationen“ 
voraus: 3 ) Das Kind ist fähig, aus seinem „wirren Gesamtzustand ein Einzel¬ 
phänomen herauszulösen, zu isolieren“. Am frühesten geschieht das ohne 
Einwirkung der Erwachsenen mit den Eindrücken von Gegenständen, die 

*) Preyer, W., Die Seele des Kindes. 8. Aufl. S. 289. 

*) Vgl. Lindner, G., Ans dem Naturgarten. S. 82. Beobachtung über das Wort Napoleons* 
butterbime. 

*) Stern, W., Die Psychologie der frühen Kindheit. S. 59. 


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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 287 


durch eine Eigenschaft besonders eindrucksfähig sind. Bei weiterer Ent¬ 
wicklung wird das Kind fähig, besondere Dressurbewegungen zu erlernen, 
deren Bewufitseinskoirelate durch die Einübung eine besonders isolierte 
Stellung erlangen. Schon in jener Entwicklungszeit, wo das Kind durch 
seine länger auf einen Gegenstand gerichtete Aufmerksamkeit beweist, daß 
es einen isolierten Eindruck hat, ist es auch fähig, einen mit besonderen 
phonetischen Eigenschaften ausgestatteten Sprachkomplex isoliert aufzufassen. 
Durch diese Dissoziationen ist die Voraussetzung für die Verknüpfung und 
Verflechtung der betreffenden Bewußtseinsinhalte geschaffen. Sie vollzieht 
sich, wenn die Inhalte im Bewußtsein gleichzeitig auf treten. Daß das Kind 
genau so wie das Tier ganz besonders für derartige Erfahrungsassoziationen 
befähigt ist, dafür lassen sich tausende von Beispielen aufzählen. Der Be¬ 
griff Assoziation ist dabei vorsichtig aufzufassen. Eine Andeutung in dieser 
Hinsicht geben die Worte Thorndikes *): „The word association may cover 
a multitude of essentially different processes, and when a writer attributes 
anything that an animal may do to association, his Statement has only the 
negative value of elimating reasoning . . . .“ Das Wort Assoziation deutet 
dabei zugleich in sprachlicher Hinsicht den Zusammenhang an, in welchem 
der sprachlautliche Gehörseindruck zu dem in ihm Gemeinten steht, kann 
aber auch nicht annähernd das Verhältnis zwischen den beiden, wie es für 
uns Erwachsene besteht, zum Ausdruck bringen. Dieses Bedeutungsverhält¬ 
nis auch nur in seinem kleinsten Anfang zu erfassen, ist für ein Kind auf 
dieser Entwicklungsstufe ausgeschlossen. Hierbei kämen logische Funktionen 
und Formen in Betracht, auf deren Fehlen man durch den Begriff Asso¬ 
ziation — Meumann spricht von „Assoziationen elementarster Art“ 2 ) — 
gerade hinweisen will. In unseren Beispielen leistet der lautsprachliche 
Gehörseindruck im Kinde etwas: erstens, er reproduziert den mit ihm assozi¬ 
ierten Bewußtseinsinhalt des in ihm Gemeinten; zweitens, er löst eine be¬ 
stimmte Ausdrucksbewegung aus, die entweder das äußere Korrelat des 
reproduzierten Bewußtseinsinhaltes ist oder sich auf das transsubjektive 
Korrelat des betreffenden Bewußtseinsinhaltes richtet. Die Festigkeit der 
Verbindung zwischen Bewußtseinsinhalt und Ausdrucksbewegung beruht 
jedenfalls nur auf mechanischer Einübung, so daß also der Begriff Dressur 
nicht nur in bezug auf die Entstehung der Komplexbewegung der eigent¬ 
lichen 3 ) Dressurbewegung, sondern auch in bezug auf den Zusammenhang 
der Blickreaktion mit dem betreffenden Bewußtseinsinhalt gebraucht 
werden muß. Dann fallen die Blickreaktionen mit unter die Dressur¬ 
leistungen: Sie stellen Dressurleistungen in einem besonderen Sinne dar. 
Neben der Fähigkeit der Assoziationsbildung, die zum Teil schon auf Ge¬ 
dächtniswirkungen beruht, kommt beim Sprachverständnis, wie es sich in 
unseren Beispielen zeigt, das Gedächtnis in einer allgemeinen Form als Vor¬ 
aussetzung in Betracht, wie aus dem Sprachverständnis auf Grund von be¬ 
sonderen Einstellungen und aus dem Verschwinden fast aller Verständnis¬ 
bewegungen nach einer gewissen Zeit der Nichtübung hervorgeht. 


s ) Thorndike, Animal Intelligence, New York 1911. S. 21.. 

*) Menmann, E., Die Entstehung usw. S. 23. 

*) Ich bezeichne sie so, weil die Bewegung für sich selbst eine besondere Ablichtung, Dressur 
erfordert. 


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288 P- Schäfer, Beobachtungen and Versuche an einem Kinde in der EntwicklungBperiode usw. 


c) Die Bedeutungen, der Sinn der kindliehen sprachlautlichen Gehörseindrficke. 

Als. erste Bedeutungen, ersterSinn der kindlichen sprachlautlichen Gehörs¬ 
eindrücke sind die mit ihnen assoziierten Bewußtseinsinhalte aufzufassen. In 
bezug auf die in einigen Sprachkomplexen gemeinten Gegenstände sind es deren 
Erinnerungsbilder (mit ihnen ist als besonderes Bewußtseinserlebnis ein leb¬ 
haftes Interesse verknüpft), die den Sinn der betreffenden kindlichen sprach¬ 
lautlichen Gehörseindrücke darstellen. Die Wahrnehmung der gemeinten 
Gegenstände scheint ähnlich undeutlich zu sein wie die Auffassung der 
Worte. Es sind also nur primitive Erinnerungsbilder, in denen neben her¬ 
vortretenden Eigenschaften des Gegenstandes nicht zu diesem gehörige Ele¬ 
mente, z. B. die Ortsvorstellung, eine Rolle spielen, mit den sprachlautlichen 
Eindrücken verknüpft. Man vergleiche hierzu den Ticktackversuch, wo das 
tickende Metronom auf einem anderen Platz steht! Doch diese ganze Frage 
der ersten kindlichen Komplexqualitäten bedarf einer eingehenden Unter¬ 
suchung für sich. Zu denken gibt in dieser Beziehung der Klapperversuch, 
wo sich das Kind durch die hölzerne Streifen unterläge, die ihm anstelle der 
Klapper in die Hand gegeben wird, nicht täuschen läßt, und jener Schrank¬ 
versuch, in welchem H. die Verständnisbewegung an der Tür genau so aus¬ 
führt wie am Schrank. Ein Fortschritt in der genaueren Auffassung der 
gemeinten Gegenstände ist auch als Fortschritt des Sprachverständnisses auf¬ 
zufassen. Was als Bewußtseinsinhalt in bezug auf die eigentlichen Dressur¬ 
bewegungen anzunehmen ist, läßt sich äußerst schwer sagen. Ein Bewußt¬ 
seinskorrelat zu ihnen ist entschieden als vorhanden zu denken. Jeden¬ 
falls muß man sich hüten, die bestimmte sprachliche Bedeutung, die in 
unseren Fällen z. B. der Heizi- oder Bitteausdruck für uns Erwachsene 
hat („heizi“ ist Ausdruck der Zuneigung und „bitte“ der Ausdruck des 
Wünschens, Verlangens, Habenwollens), schon im Kinde zu suchen. 
H. muß erst diese sprachliche Bedeutung von Bittebitte — wie die Ver¬ 
suche beweisen — zur Dressurspielbewegung hinzulemen. Die Beob¬ 
achtungen darüber dürfen vielleicht — da sie die ersten über das Er¬ 
fassen einer bestimmen sprachlichen Bedeutung in der Entwicklungsperiode 
des reinen Sprachverständnisses sind — als wesentlich bezeichnet werden. 
Ihr Ergebnis soll kurz dargestellt werden. Nachdem durch Beobachtungen 
in einem besonderen Vorversuch festgestellt worden ist, daß der Bitte¬ 
bewegung die sprachliche Bedeutung des Wünschens usw. vollständig 
fehlt, lernt H. durch besondere Übung innerhalb einiger Tage die Beziehung 
zwischen dem Ausdruck und dem Erlangen der begehrten Semmel und macht 
in den folgenden Tagen die Bittebewegung, wenn er eine wahrgenommene 
Semmel haben will. Er weiß noch nicht, daß er auch andere begehrte 
Gegenstände durch diese Bewegung erhalten kann. Wahrscheinlich wird er 
durch den zufällig in meiner Rede auftretenden, dem Bittesprachkomplex 
ähnlichen Rhythmus — es darf vielleicht auch eine gewisse Einstellung auf 
die Bittebewegung angenommen werden — veranlaßt, den Ausdruck in be¬ 
zug auf einen anderen begehrten Gegenstand kurz darauf auszuführen. Es 
genügt ferner jetzt auch, begehrte Gegenstände in der bestimmten Stellung 
wie bei der Einübung vor ihn hinzuhalten, um die Bittebewegung auszulösen. 
Durch den immer eintretenden Erfolg wird er bestimmt, sein Haben wollen 
eines Gegenstandes, später alle seine Wünsche — darunter sind auch solche, 
die man nicht erraten kann — mit Ausführung der Bittebewegung zu äußern. 


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Irene Kaufinan und Franz Schmidt, Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit usw. 289 


d) Zusammenfassung. 

Die Verständnisbewegungen, die auf Grund der Einübung von 12 Sprach- 
komplexen auftreten, lassen Bich in Blickrichtungsreaktionen und eigentliche 
Dressurbewegungen einteilen. Erstere werden unwillkürlicher ausgeführt als 
letztere. Ausdrucksbewegungen, die infolge der Wirkung von Hilfssinnes¬ 
eindrücken entstehen,, können, falls dabei die Sprachkomplexe gegeben 
werden, leicht als Verständnisbewegungen aufgefaßt werden. Kurz vor dem 
ersten Sprachverständnis löst der sprachliche Gehörseindruck auf Grund 
einer besonderen Einstellung schon die Verständnisbewegung aus. Nach 
weiterer Übung tritt dann die reine Leistung des sprachlautlichen Gehörs¬ 
eindrucks auf. Eine Assoziation zwischen diesem und bestimmten anderen 
Bewußtseinsinhalten — der Assoziation sind Dissoziationen vorausgegaugen — 
bildet die Grundlage für das Sprachverständnis auf H.s Entwicklungsstufe. 
Der sprachlautliche Gehörseindruck leistet dem Kinde insofern etwas, als er 
jene Bewußtseinsinhalte reproduziert und eine bestimmte Ausdrucksbewegung 
auslöst. Nicht nur die eigentliche Dressurbewegung, sondern auch die Blick¬ 
richtungsreaktion beruht — freilich in einem besonderen Sinne — auf Ab¬ 
richtung. Das Gedächtnis spielt bei allen diesen Vorgängen eine Hauptrolle. 
Beim Sprachverständnis auf H.s Entwicklungsstufe zeigt sich der phonetisch 
hervortretende Teil eines Sprechtaktes — und zwar in seiner vom Kinde 
undeutlich aufgefaßten Gesamtform — mit den betreffenden Bewußtseins¬ 
elementen verknüpft Nach kurzer Zeit täglicher Übung werden die Sprach¬ 
komplexe auch im gewöhnlichen Sprechton verstanden. Als erste „Wort¬ 
bedeutung“, als erster Sinn der Sprachkomplexe sind die mit den Gehörs¬ 
eindrücken assoziierten Bewußtseinsinhalte aufzufassen: Bei den Blickrich¬ 
tungsreaktionen undeutliche Gesamtformen von Erinnerungsbildern, an denen 
ein lebhaftes Interesse haftet: bei den eigentlichen Dressurbewegungen schwer 
zu bestimmende Bewußtseinsinhalte. Sprachlautliche Bedeutungen, die für 
uns Erwachsene — namentlich in Beziehung zu den Dressurbewegungen — 
vorhanden sind, müssen vom Kinde erst besonders als Sinn der Ausdrucks¬ 
bewegungen hinzugelernt werden. 


ZurPrüfungder rechnerischen De nkfähi gkeit im Schulkindes¬ 
alter von 9—12 Jahren. 

Mitteilung aus dem königl.-ung. heilpädagogischen und psychologischen Laboratorium. 

Leiter: Univ.-Prof. Dr. Paul Ranschburg. 

Von Irene Kaufman und Franz Schmidt. 

L Zur experimentellen Prüfung der Rechenfähigkeit hatte Ranschburg vor 
etwa 17 Jahren ein Material aus 20 unbenannten Subtraktionen aus dem 
Zehner-, später auch aus dem Zwanzigerzahlenkreise zusammengestellt. Die 
mit diesem ständigen Test unternommenen Prüfungen bewiesen vollständig 
die Verwendbarkeit und Verläßlichkeit der Methode bei der Feststellung der 
Fälle der normalen und pathologischen Rechenschwäche. Die 
individuelle Prüfung nahm ungefähr 3—4 Minuten in Anspruch. 1 ) Obwohl 

VgL Ranschburg, Die Leseschwäche und Rechenschwäche der Schulkinder usw. Berlin. 
Verlag J. Springer 1916. 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 1® 


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290 


Irene Kaufmann und Franz Schmidt 


nun die Werte der besseren Rechner den Durchschnitt überragten und ob¬ 
wohl insbesondere die Bestimmung der mittleren Dauer des Subtraktions¬ 
prozesses auch ziemlich feine individuelle Unterschiede der guten rechnerischen 
Fähigkeit nachzuweisen geeignet schien, war die Methode zur Feststellung 
des Grades der Rechenfähigkeit bei guten Rechnern im Alter von 9—12 
Jahren nicht mehr ausreichend. Hierzu war. das Aufgabenmaterial 
bereits viel zu leicht, so daß Umfangswerte von 100 Prozent durchaus keine 
Vorzüglichkeit bedeuteten, ja selbst die mittlere Rechendauer von 1,0 Sekunde 
nicht für rechnerische Hervorragenheit beweisend war. Auch zur Prüfung 
der rechnerischen Unversehrtheit bei Erwachsenen erwies sich das Material 
des Tests als zu leicht. Dieser Umstand veranlaßte Ranschburg dazu, daß 
er diese Methode als eine vornehmlich zur Feststellung von Defekten geeig¬ 
nete Minimalmethode bezeichnete, gegenüber seiner im Kindes- und jugend¬ 
lichen Alter zur Feststellung der besonderen rechnerischen Begabung dienen¬ 
den neueren Maximalmethode, mit der wir uns in dieser Abhandlung be¬ 
schäftigen wollen. 

Zu diesem Behufe hat Ranschburg anfangs kompliziertere arithmetische 
Aufgaben benützt. Mit der methodischen Ausarbeitung seines neueren Tests 
begann er aber erst — im Anschluß an sonstige Maximaltests der höheren 
geistigen Vorgänge*) — in den letzten Jahren, als er eben für die Zwecke der 
Maximalmethode nicht die Rechenfertigkeit, sondern die eigentliche rechnerische 
Denkfähigkeit wählte. 

Der Prüfungstest. 

H. Der von Ranschburg zusammengestellte, ebenfalls absichtlich höchst 
einfache Prüfungstest besteht aus vier Aufgaben aus dem Gebiet des Tausender¬ 
zahlenkreises, welche das geprüfte Kind innerhalb einer bestimmten Frist 
zu lösen hat. Alle vier Aufgaben sind so zusammengestellt, daß der Schüler 
gegen Ende der vierten Volksschulklasse im Besitze jener Wissenselemente 
sein muß, welche zur Lösung dieser Aufgaben erforderlich sind. 2 ) Da aber 
die Selbständigkeit des rechnerischen Denkens zu dieser Zeit W. Voigts 
Untersuchungen nach 3 ) überhaupt nicht, Ranschburgs Annahme nach in der 
Mehrzahl der Fälle weder psycho-phy Biologisch noch auch pädagogisch genügend 
entwickelt ist, werden diese Aufgaben auf der Altersstufe von 9—12 Jahren, 
vielleichtauch noch 1—2 weitere Jahre, vornehmlich zu einer Probe der 
ihrer inneren, rechnerischen Anlage nach, speziell der rechnerischen Denk¬ 
fähigkeit nach, trotz ihrer Jugend schön gut entwickelten, d. h. der bezüglich 
ihres Rechenvermögens Hervorragendsten. 

Die Aufgaben sind — wie wir es später sehen werden — von ungleicher 
Schwierigkeit Ihre spezifische Schwierigkeit wechselt aber mit der Alters¬ 
stufe und auch je nachdem wir die Erfassung und Lösung der Aufgabe schrift- 

*) Ranschburg, Die hervorragend begabten Kinder und das Kindesalter der hervorragenden 
Talente. Drei Vorträge in der Ungar. Gesellsch. f. Kinderforschung, A Gyermek, 1921, ungarisch. 
Derselbe, Die Untersuchung der höheren geistigen Vorgänge an Gesunden und Kranken mittels 
experimenteller Methoden. Vortr. in der neurol.-psychiatrischen Sektion des Ärztevereins zu 
Budapest, 1920. 

*) Bei uns in Ungarn ist die elementare Volksschule meist vierklassig, und die vierte ist die 
abschließende, oberste Klasse, aus der die befähigteren und insbesondere die Kinder, speziell die 
Knaben der besseren Stände wenn irgend möglich in die Mittelschule eintreten. 

s ) Archiv f. gss. Pädagogik, I. Jahrg., Teil II, S. 129—197. 


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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 291 


lieh oder im Kopfe fordern. Die Beispiele A, B und D sind Aufgaben, bei 
welchen hauptsächlich das richtige Auffassen derselben, gleichwie das ent¬ 
sprechende Zugreifen wichtig sind. Dies letztere gilt besonders für das vierte 
Beispiel, welches eigentlich mehr eine sogenannte Vexieraufgabe ist und bei 
welchem die Schwierigkeit nur in der großen Anhäufung des Stoffes besteht. 
Wer aber diese Aufgabe D bloß ruhig durchliest, muß bemerken, daß sich 
die Lösung aus den am Ende der Aufgabe befindlichen Daten sozusagen von 
selbst ergibt. Die wirkliche Schwierigkeit ihrer Lösung entsteht beim Kopf¬ 
rechnen, wo die Lösung außer der geringen Inanspruchnahme der Denkfähig¬ 
keit hauptsächlich eine Frage der Auffassungsschwelle ist. Sie wurde ab¬ 
sichtlich gewählt, um eben auch die Bezwingung dieser Art der Schwierig¬ 
keiten, verursacht ausschließlich aus der Quantität des Stoffes, einer Prüfung 
zu unterwerfen. 

Die einzige, tatsächlich benannte Aufgabe C erfordert nebst einer gewissen 
Vertrautheit mit den Größen des Metermaßes und im Rechnen mit runden 
Bruchteilen der Tausend — 1000:20 — auch die Fähigkeit des Denkens in 
Proportionen, das im Alter von 9—12 Jahren bloß bei denjenigen zur tat¬ 
sächlichen Fertigkeit wird, die eben rechnerisch vorzüglich veranlagt sind. 

Der Test der rechnerischen Denkfähigkeit besteht nun aus fol¬ 
genden vier Aufgaben: 

Aufgabe A: Welches ist die Zahl, zu der man 79 geben muß, um den fünften 
Teil von 1000 zu erhalten? 

Aufgabe B: Welches ist die Zahl, deren Dreifaches mit 10 multipliziert gleich 
dem dreiviertel Teil von 1000 ist? 

Aufgabe C: Wieviel Schritte lang ist ein Korridor, dessen Länge 10 m und 
ein Zwanzigstel dieser Länge beträgt, wenn ein Schritt 75 cm lang ist? 

Aufgabe D: Welches sind die zwei Zahlen, die zueinander addiert, noch 
einmal soviel ergeben, als wenn wir die kleinere von der größeren sub¬ 
trahieren, und von denen die größere dreimal soviel ausmacht als die kleinere, 
die kleinere aber der vierzigste Teil von 1000 ist? 

Nebst dieser Aufgabenreihe steht uns ein gleichwertiger Paralleltest zur 
Verfügung für den Fall, daß bei ein und demselben Kinde aus welchem 
Grunde immer eine neuere Prüfung vorzunehmen ist. 

Das Schülermaterial. 

IQ. Nachdem Ranschburg im Frühjahr 1920 mit diesem neueren Prüfungs¬ 
test Vorversuche im Einzelversuch an durchschnittlichen, teils auch an 
hervorragenden Kindern und an Erwachsenen, gleichwie an mehreren 
Arten von Kranken vollzogen hatte, wurden wir mit der 'Aufgabe betraut, 
die Verwendbarkeit des Tests zur Diagnose der Sonderbefähigung im 
rechnerischen Denken innerhalb der Altersstufen von neun Jahren auf¬ 
wärts an einer größeren Anzahl normaler Kinder im Massenversuch zu er¬ 
proben. 1 ) Dies geschah denn auch in den Jahren 1920 und 1921 an insgesamt 


*) Ursprünglich hatten wir auf Anregung Ranschburgs mit einem leichteren Test an 
den 8;6—9;6 alten Schülern der dritten und mit dem oben mitgeteilten Test an denen der 
vierten Volksschulklasse auch Untersuchungen über das Gedächtnis für Wortpaare mit ferner- 
liegender logischer Verwandtschaft durchgeführt. (S. Kaufmans ausführliche Mitteilung in 
A Gyermek, 1921, Heft 6-12 Bd. XV.) 

19 * 


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292 


Irene Kaulman und Franz Schmidt 


841 Schülern der Altersstufe 8;6—15;6 gegen oder knapp am Ende des Schul¬ 
jahres, bzw. bei einem geringen Teil zu Beginn desselben. Diese letzteren 
wurden zu der eben absolvierten Klassenstufe gerechnet Im Nachfolgenden 
wird aber bloß von denVersuchen der Altersstufe 9;6—12;6 die Rede sein, 
da bloß innerhalb dieser für jede Stufe eine größere Anzahl, und zwar mehr als 
je 200, insgesamt 781 Schüler mit dem nämlichen Test geprüft worden waren. 
Sämtliche Untersuchungen wurden in den Vormittagsstunden nicht vor 9 und 
keinesfalls nach 12 Uhr, d. h. weder in der ersten noch in der letzten Unter¬ 
richtsstunde vorgenommen. 

Den Herrn Fach- bzw. Klassenschullehrern und Professoren, besonders auch 
den Leitern der betreffenden Lehranstalten, Herrn Dr. G. v. Finäly, Direktor 
des staatlichen Gymnasiums des VI. Bezirkes, den Herren Dr. B. Heller und 
K. Wirth, Direktoren des israelit. Gymnasiums, ferner Herrn S. Birö, Direktor 
der kommunalen Volksschule in der ßrsekutca, die uns die Durchführung 
unserer Untersuchungen ermöglichten, sei hier herzlichst gedankt 

Die Herren Lehrer und Mittelschulprofessoren waren so freundlich, die 
Schulzensuren der geprüften Kinder im Rechnen, gleichwie in den übrigen 
Lehrgegenständen abzugeben, bevor die Ergebnisse der Prüfungen mit dem 
oben mitgeteilten Material ihnen Vorlagen. 


Zweck der Untersuchung. 

IV. Die Untersuchung bezweckte: 

1. Die Erprobung der beschriebenen Aufgabenreihe im schriftlichen Massen- 
versuch als Maximaltest zur Feststellung des Grades besonderer rechnerischer 
Denkfähigkeit — HR=experimentell festgestellte hervorragende rechnerische 
Denkfähigkeit. 

Ein Test von derartiger Methode entspricht nur dann seinem Zwecke, wenn: 

a) er nur einen ganz geringen Teil der Kinder als hervorragend auswählen 
wird, da angenommen werden kann, daß die Sonderbegabung im Gebiete 
des rechnerischen Denkens ebenso selten ist, wie überhaupt jede höhere 
Leistungsfähigkeit; 

b) die mittels dieser Methode als hervorragend erkannten Kinder auch der 
Pädagoge unter die vorzüglich klassifizierten reiht oder — falls dies aus 
Gründen anderer Natur, so z. B. wegen sonstiger Fehler des Schülers nicht 
der Fall wäre — sie wenigstens als sehr gute Rechner anerkennt; 

c) Kinder, welche im Laufe einer längeren Beobachtung in der Schule, 
gegebenenfalls auch im Hause als wirklich hervorragend im rechnerischen 
Denken anerkannt sind, den Test entsprechend den Bedingungen der Methode 
oder unter noch strengeren Bedingungen tatsächlich bewältigen. 

2. Ein weiteres Ziel der Untersuchung war die Klärung der von psycho¬ 
logisch-pädagogischem Gesichtspunkte so wichtigen Frage: wie sich die Scbul- 
zensur aus Rechnen (PRZ => pädagogische Rechenzensur), gleichwie die Zensur 
des allgemeinen Schulfortschrittes (PAZ = pädagogische allgemeine Zensur) 
zu der auf Grundlage unseres Versuches sich ergebenden Leistung (ERZ = 
experimentelle Rechenzensur) der Kinder verhält. 

3. Schließlich ist die Frage zu beantworten, wie die hervorragenden Rechner 
sich nach der Alters- und Klassenstufe (AS, KS), sowie nach dem 
Geschlechte verteilen? 


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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 293 


Der Verlauf der Prüfung. 

V. Die Prüfungen erfolgten gruppenweise. In jeder Gruppe nahmen 20 
bis 40 Kinder teil, gewöhnlich eine ganze Klasse, wobei wir ein ganz be¬ 
sonderes Augenmerk darauf legten, daß die Kinder selbständig arbeiten und 
nichts voneinander abschreiben können. Wir sagten zu den Kindern: 
„Paßt gut auf, ich will euch eine Rechenaufgabe vorlesen. Vielleicht 
wird sie euch schwer erscheinen, wer aber gut acht gibt und ein wenig 
nachdenkt, der wird sie lösen können. Jetzt lese ich euch das Beispiel vor, 
nachher lest ihr es selbst Ihr habt ja das Papierblatt, wo das Beispiel 
aufgeschrieben ist, vor euch. Vor allem muß man die Frage gut verstehen, 
erst nachher beginnt mit dem Ausrechnen. Gin jeder rechnet, wie er will. 
Alles eins, ob im Kopfe oder auf dem Papier. Die Lösung selbst ist aber jeden¬ 
falls aufzuschreiben. Also aufpassen und zugreifen! Eins, zwei!“ Kurz: 
die Kinder waren in der Lage, die Aufgabe erst akustisch aufzufassen, dann 
aber schriftlich dauernd vor sich zu sehen. 

Zur Ausarbeitung der einzelnen Beispiele standen für jede Aufgabe den Kindern 
drei Minuten zur Verfügung. 

Ergebnisse über die Schwierigkeit der einzelnen Aufgaben. 

VI. Vor allem wollen wir Zusehen, inwiefern die einzelnen Beispiele der 
Aufgabenreihe ihrem Zwecke entsprochen haben, d. h. wie viele von den 
9—12 jährigen normalen Kindern sie lösen konnten. Zur Beantwortung dieser 
Frage dient die 

Tabelle 1 

Ans den Beispielen A—D haben gelöst: 


Schüler der 

Beispiel A. 

Beispiel B. 

Beispiel C. 

Beispiel D. 

IV. Volksschulkl. 
n —240 

22,9% 

6,8% 

2,5% 

6,4 % 

I. GymnasialkL 
n —277 

«5,7% , 

19,9% 

6,5% 

26,0% 

n. Gymnaaialkl. 
n — 214 

78,8% 

24,8 % 

8,9% 

43,6% 

Zusammen: 
n —73t 

54,0 % 

16,6% 

5,9% 

24,4% 


Versuchen wir nun auf Grundlage dieser Tabelle die Stufenreihe der 
Schwierigkeit der einzelnen Aufgaben festzustellen und gehen wir hierbei 
von der leichtesten ansteigend zu der am schwierigsten lösbaren Aufgabe 
aufwärts, so finden wir folgendes: 

1. Als leichteste bewährte sich die erste Aufgabe. Sie wurde von mehr 
als der Hälfte (54,03 Proz.) der Kinder richtig gelöst. Sie entspricht dem¬ 
nach ihrer Aufgabe als einleitendes, zum rechnerischen Denken anregendes 
Beispiel. 

2. An zweiter Stelle scheint die Aufgabe D zu stehen. Doch wurde sie 
nur mehr von etwa einem Viertel der Kinder (24,35 Proz.) gelöst. Allein in 
der vierten Volksschulklasse erfolgte die Lösung etwas seltener als die der 
Aufgabe B. Die verwirrende Masse ihrer Bestandteile hatte eben bei den 
jüngsten Kindern trotz mündlicher und schriftlicher Darbietung störend gewirkt, 
kn zweiten Gymnasium erfolgt ihre Lösung schon fast doppelt so häufig, als 
die der drittenAufgabe. Der Altersfortschritt vom zehnten bis zum zwölften Jahre 


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Irene Kaufman und Franz Schmidt 


ist ein ganz bedeutender; er beträgt im zweiten Gymnasium das Achtfache der 
Erfolgszahl der zehnjährigen Volksschüler. 

3. Die Aufgabe B wurde bloß von einem Sechstel (16,6 Proz.) der Kinder 
gelöst. 

4. Die Lösung der Aufgabe C war nicht einmal 6 Proz. der Kinder gelungen. 
Gegenüber der ersten Aufgabe, deren Lösungszahl zwischen 23 und 74 Proz. 
variierte, war hier der Spielraum ein absolut unvergleichlich geringerer und 
relativ mit 2,5 bis 8,9 Proz. fast derselbe, indem die Zahl der Lösungen im 
Alter von zwölf Jahren das ungefähr Dreifache derjenigen im Alter von zehn 
Jahren beträgt. Diese Aufgabe ist demnach im schriftlichen Versuch auf allen 
Altersstufen die weitaus schwierigste. 

5. Die Häufigkeitszahl der Lösungen der einzelnen Aufgaben wächst von 
Klasse zu Klasse, das heißt von Jahr zu Jahr schrittweise, jedoch mit ziemlich 
großen Schritten. Das Tempo scheint zwischen der vierten Volksschul- und 
der ersten Gymnasialklasse etwas rascher zu sein als zwischen der ersten 
und zweiten Gymnasialklasse. Dies ist — abgesehen vom Altersfortschritt, 
mit dem auch die Zunahme der abstrakten Denkfähigkeit, aber auch die der 
Übung mit einhergeht, — einerseits darauf zurückzuführen, daß ein bedeutender 
Teil der schwächeren Schüler nach Absolvierung der vierten Volksschulklasse 
nicht in das Gymnasium Übertritt, ferner daß von den schlechteren Schülern 
der ersten Gymnasialklasse wieder ein Teil abfällt und nicht in die zweite 
Klasse kommt. Aub dem vereinten Wirken all dieser Faktoren erklärt es 
sich wohl, daß der Häufigkeitssatz der Lösung der einzelnen Aufgaben 
von der vierten Normalklasse bis zur zweiten Gymnasialklasse, also während 
der kurzen Periode von zwei Jahren, sich um das 3,5- bis 8 fache verbessert 


Die Wertung des Erfolges mittels der experimentellen 
Rechenzensur (ERZ). 

VII. Die Bewertung der Leistung erfolgte vorerst auf Grund der prozentuellen 
Anzahl der richtig gelösten Aufgaben. U. z. bezeichneten wir mit der ex¬ 
perimentellen Rechenzensur, das heißt: 


ERZ 1 diejenigen Schüler, die alle 4, 
„2 „ . bloß 3, 

»3 » „ » » 2 , 

4 1 

^ n » » v - L » 


v 


keine der Aufgaben lösen konnten. 


Auf eine eingehende, psychologisch und pädagogisch wohl sehr interessante 
Analyse der falschen, fraglichen, halben und Nichtlösungen muß hier, da uns 
dies von unserem eigentlichen Ziele ablenken würde, verzichtet werden. Eine 
praktische Bedeutung kam denselben in unseren hier mitgeteilten Berech¬ 
nungen nicht zu. 


Die Diagnose der besonderen Befähigung im rechnerischen 

Denken (HR). 

VQI. Es erhebt sich nunmehr die Frage: ist die ERZ zugleich der MaBstab 
des Hervorragens? Ferner: Welche sind diejenigen Zensuren, welche 
innerhalb je einer AS und KS die Diagnose der HR gestatten? Die Tatsache, 
daß den vier Aufgaben unseres Tests eine stufenweise anwachsende, innerhalb 


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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 295 


der AS wechselnde, - spezifische Schwierigkeit zukommt, entscheidet schon 
an und für sich, daß die ERZ mit ihrer rein quantitativen Beurteilung der 
Leistungsgröße ohne gewisse Beschränkungen nicht das Maß des Hervorragens 
abgeben kann. ERZ 1, also die Lösung sämtlicher Aufgaben kann als 
sicheres Maß der HR auf allen Altersstufen dienen, wo es die wahrscheinliche 
Prozentzahl der Hervorragenden nicht fiberschreitet Als solche betrachtet 
Ranschburg auf Grund der Untersuchungen von Hartnacke, Binet, Goddard, 
Bobertag und Eltes die Häufigkeitsziffer von höchstens fünf Prozent, während 
er die Zahl der eigentlichen Talente im strengeren Sinne des Wortes auf eine 
noch bei weitem geringere schätzt. Ob also eventuell auch ERZ 2 als Note 
der HR anzusehen ist, wird z. T. auch davon abhängen, wieviel Prozent der 
geprüften Schüler insgesamt die Note ERZ ergeben? Doch erhebt sich hier 
schon die Möglichkeit, die ERZ 2, d. h. Lösung von drei Aufgaben auch 
qualitativ abzustufen, d. h. bloß diejenige derartige Lösung als hervorragend 
zu bezeichnen, die eine oder vielleicht richtiger beide schwierigeren Aufgaben 
in sich enthält und dies auch nur innerhalb der jüngeren Altersstufen. 

Auf Grundlage unserer auch qualitativen, hier der Raumersparnis halber 
nicht mitgeteilten Berechnung der Häufigkeitszahl derjenigen, die die Auf¬ 
gaben A+B+C, A+B-f-D, A-fC-f-D, B-fC+D, ferner A+B, A-fC . . usw. 
gelöst hatten, bestimmten wir sodann die Bedingungen der Verwendung 
des Ranschburgschen Testes zur Diagnose der besonderen rech¬ 
nerischen Befähigung auf den verschiedenen Altersstufen des Schul¬ 
kindesalters in folgender Weise: 

Falls wir die Schüler der vierten Volksschulklasse zu Jahresschluß sämt¬ 
liche als 9,6—10,6, die erste Gymnasialklasse als 10,6—11,6, die zweite als 
11,6—12,6 alt betrachten, was den Verhältnissen nahezu aufs genaueste 
entspricht, eine jede der beiden leichtesten Aufgaben A und D mit dem 
Buchstaben 1 bezeichnen, so gilt 

für die AS von 9,6—10,6 als HR die ERZ 1 und 2; 

„ „ AS „ 10,6—11,6 „ HR „ ERZ 1 und 2 (B+C+l); 

„ „ AS „ 11,6—12,6 w HR * ERZ 1. 

Auf der jüngsten AS genügt daher die Lösung welcher drei Aufgaben immer, 

auf der ersten Stufe der Mittelschule die Lösung von drei Aufgaben bloß, 
wenn beide schwierigeren Aufgaben unter denselben sind, während die dritte 
eine beliebige leichtere Aufgabe sein kann, auf der dritten Altersstufe hin¬ 
gegen bloß die Lösung aller vier Aufgaben. 1 ) 


’) Für die nachfolgenden Altersstufen erschwert Ranschburg die Bedingungen da¬ 
durch, daß anfangs bloß die leichteren, später auch die schwierigeren Aufgaben im Kopfe zu 
lögen sind, wobei die Aufgabe C und D, spater blofi D dem Prüfling in Druckschrift vorliegt, 
er aber dieselben ohne Bleistift zu lösen hat Auch die Zeit, die für das Rechnen zur Verfügung 
steht, wird mit zunehmendem Alter herabgesetzt 

Am wenigsten läfit sich die Prüfung im Massenversuch an der Altersstufe zwischen 14—18 
Jahren verläßlich durchführen, da hier schon die algebraische Lösungsart mit der arith¬ 
metischen konkurriert und die Schüler allzusehr geneigt sind, die Lösung im Wege von 
Gleichungen zu suchen. Anstatt sich die Aufgabe zu überlegen und auf die einfachste Art 
rechnerisch zu lösen, wird die algebraische Rechenfertigkeit in Anspruch genommen und nicht 
eigentlich gedacht, bloß gerechnet. Es handelt sich sodann um die richtige Aufstellung der 
Gleichung, was bei .einiger Routine gegenüber unseren Aufgaben recht wenig Denkarbeit er¬ 
fordert, sodann um das rechnerisch richtige Durchführen der Lösung. Es läßt sich dies bloß 
vermeiden, wenn wir nur das Aufschreiben des Endresultates gestatten und entsprechend zu 


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Irene Kaufman und Franz Schmidt 


Nun haben wir also zur gröberen Wertung des Erfolges der rechnerischen 
Denkfähigkeit unsere einfachere ERZ, die auch die negative Entfernung von 
der Höhe der Hervorragenheit angibt, ferner die eigentliche, engbeschränkte 
Zensur der rechnerischen Hervorragenheit, HR, in den eben mitgeteilten 
Auswahlsbestimmungen zu unserer Verfügung. 

Gruppierung der Kinder auf Grund des Ergebnisses der experi¬ 
mentellen Prüfung. 

IX. Wir wollen also schauen, wie sich auf Grund der ERZ, ferner der HR 
die untersuchten 731 Schüler bzw. Schülerinnen der IV. Normal—DL Gym¬ 
nasialklassen verteilen. Der leichteren Übersichtlichkeit sollen die Tabellen 
II—VI dienen. 

Tabelle n. 

Verteilung der ERZ nach Schulklassen (Altersklassen): 


ERZ 

t 

2 

3 

4 

5 

a) AS — 9;6—10;6 
n — 240 

0,42 

1,25 

6,25 

16,66 

75,42 

b) AS — 10;0—11 ;6 
n —277 

1,80 

9,39 

24,55 

38,63 

25,63 

c) AS — 11;6—12;6 
n —214 

3,27 

12,16 

32,24 

35,61 

16,82 

AS — 9;6—12;6 
n — 781 

1,77 

7,52 

20,79 

30,50 

39,39 

Also: bloß 1,77 Prozent 

— in absoluten 

Zahlen 13 

— der 

untersuchten 


731 Kinder von 9,6—12,6 Jahren waren imstande, alle vier Aufgaben 
richtig zu lösen, und sogar die ERZ 2 konnte bloß von 7,52 Prozent er¬ 
reicht werden. 

Für eine Auswahl der Hervorragenden wäre ERZ 1 in den jüngeren Alters¬ 
klassen unvergleichlich strenger, als in den oberen (0,42 bzw. 3,27), hin¬ 
gegen ERZ 1 plus 2 schon auf der zweiten Altersstufe allzumild, da sich hier 
schon 11,2 Proz., auf der dritten AS gar schon 15,4 Proz. Hervorragende er¬ 
geben würden. 

Demgegenüber ergibt die Auswahl auf Grundlage unserer HR: 

in der AS 9;6—10,6 insgesamt 4, d. h. 1;67 Proz. Hervorragende, 

v , AS 10;6—11,6 „ 9, „ „ 3;25 „ 

» » AS 11;6 12,6 , 7, „ „ 3;27 „ » 

Unter sämtlichen 731 Schülern von 9,6—12,6 Jahren findet un¬ 
sere Auswahl demgemäß insgesamt zwanzig, d. h. 3,73 Proz. rech¬ 


kontrollieren imstande sind, daß nicht auf besonderem Papier schriftlich gerechnet wird. Im 
iSinzel^versuch läßt sich dies unschwer durchführen. 

Nach Abgang von der Mittelschule nimmt der Hang zur Lösung auf algebraischem Wege bei 
denjenigen, die sich nicht mit mathematischen Studien befassen, wieder ab, insbesondere, wo 
gute rechnerische Denkfähigkeit vorhanden ist. 

An Erwachsenen verwendet Ranschburg diese nämlichen Aufgaben — selbstredend aus¬ 
schließlich im Einzelversuch — als Test der Unversehrtheit der rechnerischen Denk¬ 
fähigkeit bei rechnerisch Gebildeten bzw. Ungebildeten unter den obigen ähnlich abgestuften 
verschiedenen Bedingungen. Er wird über seine bezüglichen Untersuchungen an Nervenschwachen, 
Gehirn- und Geisteskranken noch berichten. 


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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 297 


nerisch hervorragend Denkfähige. Diese Zahl ist noch ziemlich inner¬ 
halb unserer erlaubten Grenzzahl der Häufigkeit der Hervorragenden. Sie 
spricht daher für die Gerechtigkeit unserer HR. 

Verhältnis der experimentellen Rechenzensur (ERZ) und der 
hervorragenden Rechenbegabung (HR) zur pädagogischen 

Rechenzensur (PRZ). 

X. Es fragt sich nun weiter, inwiefern unsere ERZ im allgemeinen, gleichwie 
unsere HR mit der Schulzensur aus Rechnen, erteilt vom Pädagogen zum 
Schluß des Schuljahres, also mit PRZ übereinstimmt. 

Vorerst interessiert uns überhaupt die Verteilung der geprüften 731 Schul¬ 
kinder rein nach ihrer PRZ.') Wir geben sie in Prozentzahlen der folgenden 


Tabelle DI 



PRZ 

1 

2 

3 

4 

5 

a) AS 

9;6—10;6 

31,7 

22,6 

25,4 

15,0 

5,4 

b) AS 

10;6—11;6 

20,2 

32,9 

40,8 

6,1 


e) AS 

11;6—12;6 

17,3 

22,0 

56,1 

5,6 

— 

AS 

9;6—12;6 

28.1 

26,3 

39,9 

8,9 

1,8 


Von den Kindern also, deren keine 10 Proz. die ERZ 1 und 2, ja keine 
3 Proz. die HR erreicht hatten, hatte die Schule nahezu 50 Proz. mit der 
PRZ = 1 bzw. 2 bedacht, demnach als im Rechnen ausgezeichnet bzw. vor¬ 
züglich gekennzeichnet. 

Schon dieser auffällige Umstand allein spricht deutlich dafür, daß unsere 
Bewertung der rechnerischen Leistung von derjenigen des Päd¬ 
agogen grundsätzlich verschieden ist. Würde ferner z. B. die 
Auswahl der Befähigtesten aus irgendeiner pädagogischen oder didaktischen 
Ursache, z. B. zur Entscheidung des Eintrittes in die Mittelschule oder bei 
der Wahl, ob Realschule oder Gymnasium, auf Grundlage der Befähigungs¬ 
note des Pädagogen erfolgen, so würden laut der PRZ der ersten AS min¬ 
destens 31,7, eventuell aber 54,2 Proz. der Schüler der absolvierten vierten 
Volksschulklasse als Bestbefähigte im Rechnen auserwählt werden. Unsere 
gröbere ERZ 1 würde laut Tabelle II auf dieser AS nicht ein halbes Prozent, 
die Zusammenfassung von ERZ 1 und 2 insgesamt 1,67 Proz. und die eigent¬ 
liche HR auf dieser AS die nämlichen 1,67 Proz. ergeben. 

Wir hielten es schon auf Grundlage der Art unseres Tests von Anfang an 
für wahrscheinlich, daß unsere Zensur nebst der rechnerischen Fertigkeit 
hauptsächlich die rechnerische Denkfähigkeit beurteilt, wogegen die Note 
des Lehrers zumindest auf diesen Altersstufen die rechnerische Fertig¬ 
keit allein bewertet Es sei hier bloß erwähnt, daß die gleichen Resultate 
sich ergeben, wenn wir die Werte der einzelnen gleichen Klassenstufen der 
verschiedenen von uns untersuchten Schulen, oder auch die von verschie¬ 
denen Lehrern unterrichteten Parallelklassen der nämlichen Schule mit unseren 
Versuchszensuren vergleichen. 

Daß unsere Wertung zumindest 90,7 Proz. der Schüler der geprüften AS 
mit der ERZ 3, 4 und 5 als vom Gesichtspunkt der HR minderwertigere von 


') Eins bedeutet in all unseren Schulen die beste, fünf in der Volksschule, vier in der 
Mittelschule die schwächste, d. b. minderwertigste Schulnote. 


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Irene Kaufinan und Franz Schmidt 


vornherein ausschließt, dabei mit der ERZ 4 und 5 fast 70 Proz. direkt als 
von diesem Standpunkt aus beurteilt rechendenkschwach ausschaltet, während 
die Schule von ihrem Standpunkt aus bloß 10,7 Proz. als rechnerisch schwach 
mit den Zensuren 4 und 5 bedenkt, ist eine weitere Frage, die für sich be¬ 
urteilt werden muß. 1 ) 

Obereinstimmungsgrad der experimentellen Rechenzensur und 
hervorragenden Rechenbegabung mit der pädagogischen Rechen¬ 
zensur. 

XI. Wir können uns jetzt der näheren Beantwortung der Frage zuwenden, wie 
es im einzelnen um die Größe der Übereinstimmung der ERZ, ferner der 
HR mit der ERZ steht? Eine eigentliche Berechnung der Korrelations¬ 
oder Koordinationsgröße ist in diesen Fällen nicht möglich, da es sich bloß 
um die Zuordnung von fünf zu fünferlei Größen handelt. Trotzdem läßt sich 
die Größe der Korrelation mittelst der tabellarischen Zuordnung 
der ERZ-Werte zu den PRZ-Werten mit einer Deutlichkeit kennzeichnen, 
die eigentlich derjenigen einer r oder q mindestens gleichwertig ist, — bloß 
sind es immer zwei Zahlen statt einer, auf die sich die Aufmerksamkeit 
richten muß. 

Tabelle IV. 

ERZ 


Zensur 

1 

2 

3 

4 

5 

Zusammen 

1 

6 

22 

52 

40 

49 

169 

2 

4 

14 

51 

70 

63 

192 

PRZ 3 

3 

17 

56 

98 

118 

292 

4 

— 

2 

3 

13 

47 

65 

5 

— 

— 

— 

2 

11 

13 

Zusammen: 

13 

56 

152 

223 

288 

731 


Von den dreizehn Schülern also, die insgesamt aus 731 die ERZ 1 erhalten 
hatten, waren zehn, d. h. 77 Proz. auch vom Pädagogen mit der Note 1 oder 2, 
drei, d. h. 23 Proz. mit der Note 3, keiner mit der Note 4 oder 5 im Rechnen 
klassifiziert worden. Auch von den fünfundfünfzig mit ERZ 2 bewerteten 
Schülern hatte der Pädagoge bloß zwei, d. h. 3,6 Proz. mit 4, keinen mit 5 
klassifiziert. 

Betrachten wir bloß diejenigen zwanzig Schüler, die unsere Auswahl als 
HR diagnostiziert hatte, so stellt sich ihre Zahl aus den oben schon be¬ 
sprochenen dreizehn Schülern mit der ERZ 1, sowie aus weiteren sieben Schülern 
mit der ERZ 2, die aber den Bedingungen unserer HR entsprochen hatten, 
zusammen. Bei diesen zwanzig Hervorragenden war 
in 9 FäUen, d. h. 45 Proz., die PRZ 1, 

, 5 „ „ „ 25 „ v v 2, 

„6 „ „ „ 30 „ „ „ 3. 

') Ran sch bürg hält im allgemeinen seine Maximaltests bloß in positivem Sinne für ge¬ 
nügend verläßlich, fordert aber von ihnen nicht das nämliche Maß der Verläßlichkeit in 
negativem Sinne. Im Jugendlichen Alter ist daher die experimentelle Feststellung fehlender 
Sonderbefähigung und der Grad der Entfernung von dieser Stufe nicht mit derselben Sicherheit 
als verläßlich zu betrachten als die positive Feststellung des Vorhandenseins besonderer Begabung. 
Das nämliche gilt bei der Anwendung dieser Tests an Erwachsenen zur Feststellung der Un¬ 
versehrtheit einer geistigen Funktion. Auch hier ist der positive Ausfall als beweisend, der 
negative als bloß mit einem geringeren Wahrscheinlicbkeitsgrade zu verwerten. Für die Fest¬ 
stellung des Negativums, des Nichtkönnens, sind eben die niederen Teile der Testskala der 
Fähigkeiten, die Minimaltests, zu verwenden. 


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Zur Prüfung der rechnerischea Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 299 


Siebzig Prozent der HR waren also pädagogisch ebenfalls als aus Rechnen 
sehr gut, die restlichen 30 Prozent als mittelmäßig zensuriert worden. 

In der vierten Volksschulklasse hatten die Lehrer sämtliche von uns als 
hervorragend Beurteilte mit der Note 1 beurteilt. Die drei Schüler, die wir 
oben trotz unserer ERZ 1, die ja auch stets zugleich HR bedeutet, als mit 
der PRZ 3 bedacht bezeichneten, waren sämtlich Schüler des zweiten Gym¬ 
nasiums. Über alle drei äußerten sich ihre nachträglich befragten Fach¬ 
professoren dahin, daß sie dieselben für ganz vorzügliche Rechner halten 
und daß die minder gute Note mehr als Rüge ihrer vielen Versäumnisse, 
Nachlässigkeit, Unordentlichkeit usw., denn als eine Beurteilung ihrer eigent¬ 
lichen Kenntnisse und Fähigkeiten erfolgte. 

Unter den weiteren vier Schülern, die nach den festgestellten Bestimmungen 
im ersten Gymnasium trotz ihrer ERZ 2 ebenfalls als hervorragend zu gelten 
haben, da unter ihren drei gelösten Aufgaben sich die beiden schwierigsten, 
B und C befanden, waren klassifiziert 

mit der PRZ 2 ein Schüler, 
n v v 3 drei „ 

Unter den 55 Schülern mit der ERZ 2 befanden sich, nach Tabelle II 
nicht weniger als 26 Schüler der zweiten Gymnasialklasse, die nach 
unseren Bestimmungen der HR selbstredend nicht als hervorragend gelten 
konnten. 

Hätten wir sämtliche Schüler mit ERZ 1 oder 2 als HR bezeichnet, so 
hätten aus den 68 Schülern mit ERZ 1 oder 2 noch immer 2,04 Proz. die 
minderwertige Note PRZ 4. Die Übereinstimmung mit PRZ wäre also 
gering. Wäre hingegen ausschließlich die strengere Bestimmung HR = 
ERZ 1 gültig, so wäre auch die Übereinstimmung mit PRZ ebenfalls 
besser, indem aus insgesamt 13 in diesem Sinne Hervorragenden drei, d. h. 
15 Proz. die PRZ 3 erhielten, wogegen von den tatsächlich hervorragenden 
20 Schülern im Sinne unserer Zensur der HR auf sechs, d. h. 30 Proz., die 
PRZ 3 entfiel. 

Prüfen wir nun umgekehrt die Übereinstimmung der PRZ mit unserer ERZ, 
so ergibt sich bei 52,7 Proz. der PRZ 1 und ebenso bei 69,3 Proz. der PRZ 2, 
also bei der Mehrzahl der in der Schule als besten bezeichneten Rechnern 
die ERZ 4 und 5, d. h. die schwächste Zensur der rechnerischen Denkfähig¬ 
keit. Hingegen entfielen aus insgesamt 361 Schülern mit der PRZ 1 und 2 
bloß 46, d. h. 12,7 Proz. mit der ERZ 1 oder 2. Bloß 14, d. h. 3,9 Proz. 
der pädagogisch vorzüglichen (PRZ —= 1 und 2) waren auch unserem Test 
gemäß tatsächlich Hervorragende. Es ist dies in erster Linie eine notwen¬ 
dige Folge der schon weiter oben behandelten Tatsache, daß die Schule eine 
ganz andere Art der rechnerischen Befähigung klassifiziert als unser Test. 

Kurz zusammengefaßt: 

a) Wer nach unserem Test als hervorragend sich bewährt, ist 
in der Schule auf Grundlage mindestens einjähriger Beobachtung 
in der Mehrzahl der Fälle als sehr guter oder guter, nie als 
schwacher Rechner bekannt. 

b) Eine sehr gute oder gute Schulnote aus Rechnen entspricht 
innerhalb der Altersstufe von 9;6—12;6 bloß ausnahmsweise 
einer tatsächlichen Hervorragenheit der rechnerischen Denk- 


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Irene Kaufinan und Franz Schmidt 


fähigkeit. Im Gegenteil, sie geht sehr häufig anscheinend mit einem recht 
großen Mangel an derartiger selbständiger Denkfähigkeit einher. 

Die rechnerische Denkfähigkeit anerkannt hervorragend begabter 

Kinder. 

XII. Schließlich bedürfen wir noch des letzten Beweises der Brauchbarkeit 
des Testes, nämlich, ob jemand, den wir auf Grund längerer Beobachtung 
auf dem Gebiete des Rechnens als für hervorragend kennen, den Forderungen 
des Testes entspricht. Diesbezüglich unternahm Ranschburg Untersuchungen 
mit einem als ausgezeichneten Rechner anerkannten Knaben von acht Jahren 
und zehn Monaten, ferner mit einem anderen in jeder Hinsicht für hervor¬ 
ragend anerkannten Knaben im Älter von 12; 9. Der erste löste alle vier 
Aufgaben während einer minimalen Zeit aus dem Kopfe, und zwar nach ein¬ 
maligem Anhören der Aufgaben ohne Vorlage, erreichte also die ERZ = 1 
unter unvergleichlich schwierigeren Bedingungen. Der zweite löste drei Auf¬ 
gaben ebenfalls richtig, spontan aus dem Kopfe, die vierte aber nur schrift¬ 
lich, viel rascher als in drei Minuten. 

Rechnerische Höherbegabung und allgemeine Schulzensur. 

XIII. Wir kommen nun zur Frage des Verhältnisses zwischen der im Ver¬ 
suchswege feststellbaren rechnerischen Denkfähigkeit und der all¬ 
gemeinen Schulzensur. Ranschburg betrachtet diese letztere (PAZ) als 
Ausdruck dessen, was er als Schulintelligenz bezeichnet. 

Vor allem wollen wir eine Statistik bloß vom Gesichtspunkte der PAZ aus 
aufstellen. 

Tabelle V. 

Verteilung der Schüler gemäß ihrer 


PAZ 

1. 

2. 

3. 

4, 

6. 

a) AS— 9;6—10;6 

32 t 5 

18,8 

16,3 

13,7 

18,7 

b) AS *= 10;6—11;6 

19,5 

22,7 

22,4 

30,3 

5,1 

c) AS — 11; 6—12; 6 

13,5 

13,1 

45,5 

30,4 

7,6 

Insgesamt: 

22*0 

18,5 

24,2 

24,9 

10,3 


40,5 Proz. der Gesamtzahl der Kinder gehören demnach zu den vorzüg¬ 
lichen, bzw. sehr guten Schülern, die übrigen 59,5 Proz. zu den mittel¬ 
mäßigen und schlechten. Es ist interessant, wohl auch sehr richtig, daß in 
dieser Hinsicht, insbesondere was die Zensur 5 betrifft, die IV. Volksschul¬ 
klasse, von welcher aus bei uns der Obertritt in die Mittelschule normaler¬ 
weise erfolgt, bedeutend strenger klassifiziert ist, als die I. oder gar die 
H. Gymnasialklasse. 

Was nunmehr das Verhältnis zwischen ERZ und PAZ anbelangt, ist 

a) in den vierten Volksschulklassen die PAZ der auf dem Gebiete der 
rechnerischen Denkfähigkeit im Versuchswege mit 1 oder 2 zensurierten Kinder 
ohne Ausnahme 1; 

b) in den ersten Gymnasialklassen die PAZ der im Versuchswege mit 1 
zensurierten Schüler in 80 Proz. 1, 20 Proz. 2, die PAZ der im Versuchs¬ 
wege mit 2 Zensurierten in 70 Proz. 1 oder 2, und in 30 Proz. 3 oder 4. 

c) In den zweiten Gymnasialklassen erhielt noch immer fast die Hälfte der 
im Versuchswege mit 1 zensurierten Kinder auch die PAZ 1, etwas mehr 


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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 301 


als die Hälfte erhielt 1 und 2 und ungefähr 43 Proz. die PAZ 3 bzw. 4. 
Die PAZ der von uns mit ERZ 2 Zensurierten verteilt sich auf alle Arten 
der Schulzensur 1—5, und zwar fällt der überwiegende Teil auf die PAZ 3, 
ungefähr gleich teilen sie sich in den PAZ 1, 2 und 4, und ein ganz kleiner 
Teil gehört zur PAZ 5. 

Was nun die Übereinstimmung unserer Diagnose der HR mit PAZ 
anbelangt, so war sie recht hochgradig. 60 Proz. unserer Hervorragenden 
hatten zu Klassenschluß die beste Durchschnittsnote 1, 10 Proz. die PAZ 2, 
je 15 Proz. die Note 3 oder 4. 

Aus der hervorragenden rechnerischen Denkfähigkeit können 
-wir daher in der vierten Volksschulklasse und auch noch im ersten 
Gymnasium mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit einen sehr 
guten oder vorzüglichen, durchschnittlichen Schulfortschritt 
folgern. 

Da die rechnerische Denkfähigkeit keineswegs bloß das Rechenwissen, son¬ 
dern nach Ranschburg auch die intellektuelle Aufmerksamkeit, die Auffassung, 
den Willen, gleichwie die kombinatorische, schlußfolgernde und urteilende 
Tätigkeit des Geistes in Anspruch nimmt, die nämlichen Faktoren aber auch 
unentbehrliche Grundlagen der Schulintelligenz sind, so kann uns die hoch¬ 
gradige Übereinstimmung zwischen rechnerischer Denkfähig¬ 
keit — zumindest derjenigen in unserem Sinne — mit der Güte des all¬ 
gemeinen Schulfortschrittes nicht besonders wundemehmen. 1 ) 

Rechnerische Denkfähigkeit und Geschlecht. 

XTV. Nun wollen wir unsere Aufmerksamkeit auch noch der Frage wid¬ 
men, wie sich die Fähigkeit des rechnerischen Denkens zwischen Knaben 
und Mädchen verteilt. 

Tabelle VI. 

Die ERZ nach Geschlechtern. 


ERZ 

i 

2 

8 

4 

5 

Knaben n*=478 

2,1 

8,7 

22,2 

32,6 

34,3 

Mädchen n » 258 

1,1 

5,1 

18,2 

26,5 

49,0 

Insgesamt n = 781 

1,8 

7,6 

20,8 

80,5 

39,4 


An der Prüfung haben 478 Knaben und 253 Mädchen teilgenommen, deren 
Zahl sich zwischen der vierten Volksschulklasse und der ersten und zweiten 
Gymnasialklasse ziemlich gleichmäßig verteilte. Wenn wir nunmehr auf Grund 
der Tabelle VI die Differenzen zwischen den Leistungen der Knaben und 
Mädchen betrachten, so ergibt sich folgendes: 

1. Von den Knaben erreichten eine ERZ 1, d. h. lösten alle vier Aufgaben 
richtig 2,1 Proz.; von den Mädchen hingegen bloß 1,1 Proz., also ungefähr 
die Hälfte der Prozentzahl der Knaben. 


l ) Nach Uoebiua (Ob. die Anlage z. Mathematik) lehrt die psychologische Erfahrung, dafi kein 
direktes Verhältnis zwischen .der mathematischen Fähigkeit* und .der geistigen Tüchtigkeit 
überhaupt“ besteht. Die von ihm angeführten Fälle sprechen aber überwiegend bloß dafür, 
dafi es unter den geistig Hervorragenden häufig mathematisch Unbegabte gibt. Sein nachfolgender 
Abschnitt bringt an einer großen Reihe von Beispielen der Entwicklung bedeutender Mathe¬ 
matiker den schlagenden Beweis der allgemeinen geistigen Tüchtigkeit der meisten hervor¬ 
ragenden Mathematiker. 


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Irene Kaufman und Franz Schmidt 


2. Auch die ERZ 2 wurde noch von einem viel höheren Prozent der 
Knaben (8,7) als der Mädchen (5,1) erreicht. 

8. Dieses Übergewicht behaupten die Knaben auch bei den ERZ 3 und 4, so daß 

4. eine Ausgleichung erst bei der ERZ 5 eintrifft, indem 34,3 Proz. Knaben 
gegenüber 49 Proz. Mädchen kein einziges der Beispiele zu lösen imstande 
waren. 

Die Verteilung unserer zwanzig tatsächlich als hervorragend befundenen 
Schüler nach Geschlechtern ergab 

17, d. h. 85 Proz. Knaben gegenüber 3, d. h. 15 Proz. Mädchen. 

Hier war demnach der Vorteil der männlichen Schuljugend gegenüber der 
weiblichen noch wesentlicher, als bei der Gegenüberstellung derselben 
nach ERZ, wo die Häufigkeit der guten Zensuren der Knaben zu denen der 
Mädchen sich ungefähr wie 2:1 verhielt. 

Diese Tatsache ist um so bedeutender, da im Gegensatz dazu die Schul¬ 
zensur der Mädchen, sowohl im Rechnen, wie auch im allgemeinen, wesent¬ 
lich besser ist als die der Knaben. 

Es waren durch die Schule 17 Proz. der Knaben, 35 Proz. der Mädchen 
mit der RPZ 1 und 21 Proz. Knaben, dagegen 35 Proz. Mädchen mit PRZ 2 
beurteilt worden. Die schlechte Note PRZ 4 oder 5 hatten hingegen die Knaben 
etwas häufiger als die Mädchen erhalten. — Ferner entfielen auf die Durch- 
schnittsnote PAZ 1 oder 2 von den Knaben 31, von den Mädchen hingegen 
59 Proz. 

Also: Die rechnerische Denkfähigkeit ist bei den Knaben im 
Alter von 9;6—12;6 vielfach häufiger eine hervorragende als bei 
den Mädchen, trotz des Umstandes, daß die Schulnote aus Rech¬ 
nen, gleichwie auch die des durchschnittlichen Schulfort¬ 
schrittes bei den Mädchen bedeutend häufiger eine vorzügliche 
ist als bei den Knaben. 

Bedeutung der Zensuren geringer rechnerischer Denkfähigkeit. 

XV. Es sei noch der schon gestreiften Frage gedacht, ob unsere Proben 
auch sämtliche rechnerisch hervorragend Denkenden gefunden haben. Eis 
kann dies auf Grund unseres Versuches nicht bestimmt beantwortet werden, 
um so weniger, als wohl dem negativen Erfolge im Massenversuche noch 
weniger die entscheidende Bedeutung zukommt als im Einzelversuch. Vor¬ 
läufig müssen wir daher sagen, daß der negativen Erfolg unseres Versuches 
noch keinen entschiedenen Beweis gegen die Rechenbefähigung liefert, obzwar 
zahlreiche Argumente dafür sprechen, daß es unter denen, welche unter den 
gegebenen Bedingungen zumindest dreiviertel der Aufgaben nicht lösen konnten, 
wirklich Hervorragende überhaupt nicht oder nur ganz ausnahmsweise gibt. 
Als Beweis hierfür möge das von Ranschburg untersuchte, bereits erwähnte 
hervorragende Kind von nicht ganz neun Jahren erwähnt werden, welches 
die Aufgaben auf einmaliges Hören auch ohne Vorlage, also rein im Kopfe 
löste, und zwar alle binnen einer viel kürzeren Zeit, als in den vor¬ 
geschriebenen drei Minuten. Wir können daher ruhig sagen, daß im Falle 
wirklicher, absoluter Sonderbefähigung die Aufgaben des Ransch- 
burgschen Tests, schriftlich aufgegeben, eher zu leicht als zu 
schwer sind. Wer daher — innerhalb der in Frage stehenden AS — diese 


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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 303 


unter den von uns gegebenen Bedingungen, trotz welcher äußeren oder inneren 
Hemmung immer, innerhalb je drei Minuten nicht lösen kann, dürfte in Hin¬ 
sicht der rechnerischen Denkfähigkeit kaum absolut hervorragend sein. 

Stflnden jedoch die Daten der einmaligen experimentellen Prüfung bezüg¬ 
lich einzelner Kinder mit dem Urteil des Pädagogen in Widerspruch, so wird 
es sicherlich immer geboten und auch möglich sein, solche Kinder mittels 
paralleler Tests im Wege eines individuellen Versuches und auch im Wege 
sonstiger Prüfungen einer neueren eingehenden Untersuchung zu unterwerfen. 

Übung und Lösbarkeit des Tests. 

XVI. Auch die, wohl insbesondere dem Pädagogen naheliegende Frage sei 
aufgeworfen, ob die richtige Lösung unseres Tests im Falle einer geänderten 
Didaktik, also mehr einer darauf hinarbeitenden, intensiveren Übung des 
eigentlichen rechnerischen Denkens auch mittelmäßigen Rechnern 
der Altersstufen von 9;6—12;6 erreichbar würde? Es ist dies eine Frage, 
über die sich streiten ließe. Unsere Erfahrungen — besonders diejenigen 
am Schulmaterial des einen der oben erwähnten Gymnasien, wo es sich zu¬ 
meist um Kinder aus kaufmännischen Familien handelte, und wo auch gerade 
der Rechenunterricht sehr intensiv und mit besonderer Betonung der Er¬ 
ziehung zum rechnerischen Denken betrieben wurde, — sprechen dagegen. 
Auch an diesem Institut blieb die Zahl der unserem Test nach Hervorragenden 
unverändert äußerst beschränkt. 

Gegen die Möglichkeit einer erfolgreichen Erziehbarkeit zum eigentlichen 
rechnerischen Denken auf diesen früheren Altersstufen sprechen aber auch die 
Untersuchungen W. Voigts, die einzigen, die wir in der Literatur der ex¬ 
perimentellen Pädagogik über dieses Thema vorfanden, 1 ) deren Ergebnisse 
aber scheinbar in allen Punkten alldem, was wir eben ausführten, wider¬ 
sprechen. Trotz alledem möchten wir uns bezüglich dieser Frage nicht auf 
den Standpunkt der Unmöglichkeit der erfolgreicheren Erziehbarkeit des 
rechnerischen Denkens auch schon auf den frühesten Stufen versteifen. 
Umsoweniger, als ein gewisser Prozentsatz der schwachen Ergebnisse bei 
unseren Versuchen jedenfalls dem Umstand beizumessen ist, daß in den 
Revolutionsjahren 1918 und 1919, aber auch noch 1920 äußere und innere 
Ursachen, in all diesen Jahren aber die sog. Kohlenferien die Gründlichkeit 
und Nachhaltigkeit des Schul- und insbesondere daher des Rechenunterrichts, 
bedeutend trübten. Der Mangel an guter Rechenfertigkeit vermindert auch 
die Energie des rechnerischen Denkens. Allerdings gilt dies alles kaum 
oder gar nicht für die wirklich hervorragend Begabten, die eines 
4—6 jährigen Unterrichtes zur Lösung unseres Tests überhaupt nicht bedürfen. 

Widerspruch oder Übereinstimmung mit den Ergebnissen 

W. Voigts. 

XVII. Waldemar Voigt hat schon 1913 eine sehr interessante Arbeit 
„Über die Anlage zum Rechnen“ veröffentlicht, die wir umsomehr erwähnen 
müssen, als sie sich hauptsächlich mit der Entwicklung der rechnerischen 
Fähigkeit im Schulkindesalter von 10—14 Jahren befaßt. Voigt sucht zu 


*) Es stand uns blofi die entsprechende Literatur bis 1914 in genügendem Maß zur Verfügung. 


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304 Irene Kaufman und Franz Schmidt, Zar Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit ubw. 


den zu lösenden Aufgaben einen Stoff, der „für zehnjährige Kinder nicht zu 
schwer, für vierzehnjährige nicht zu leicht“ ist, bei dem auch die Einflüsse 
des Volksschulrechenunterrichts nur dann nicht als störend anzusehen sind, 
wenn sie automatisiert sind, d. h. für alle Vp-en möglichst übereinstimmen. 
Voigt hält daher alle „Rechenbuchaufgaben“ von vornherein für völlig ungeeignet 
und wählt als Stoff seiner Aufgaben Rechnungen mit fremden Systemen, die 
als gänzlich neu den Kindern vorher an Beispielen recht deutlich erörtert 
werden. So sind in den Untersuchungen Voigts an 10—14jährigen Volks¬ 
und Bürgerschiilern statt des dekadischen das hexadische und oktadische 
System gewählt, in welche drei- bis sechsstellige Zahlen unseres Zehnersystems 
lungeformt, ferner ein- bis fünfstellige Zahlen addiert werden sollen, als ob 
es die Rechnungen von „Achtfinger-“ oder „Sechsfingermenschen“ wären. 

Daß nun die Ergebnisse dieser Arbeit sich zum mindesten scheinbar in 
keinem Punkte mit denen der unsrigen decken, wird seine Erklärung eben 
in den abweichenden Intentionen und der infolgedessen abweichenden Methodik 
der letzteren haben. 

Voigt bietet eine psychologische Untersuchung der Entwicklung der Rechen¬ 
fähigkeit und bedient sich hierzu einer Methode, die als pädagogisch-psycho¬ 
logisches Prüfungsverfahren der Lösung der obigen Frage dienen soll. 

Wir suchen und prüfen einen Test zur raschen Auswahl der auf dem 
Gebiete der rechnerischen Denkfähigkeit besonders Begabten bzw. Hervor¬ 
ragenden. Daß der Ranschburgsche Test mit seinen Aufgaben, die in 
letzter Linie doch „Rechenbuchaufgaben“, höchstens in etwas ungewohnter 
Fassung und auf einer früheren AS geboten sind, als solcher seine Aufgabe 
erfüllt, glauben wir für das Alter von 9;6—12;6 oben nachgewiesen zu haben. 

Voigt findet die Entwicklung der rechnerischen Anlage stark beeinflußt 
durch den Eintritt in die Pubertät. Wir könnten nun uns damit bescheiden, 
festzustellen, daß unsere Untersuchungen in größerer, also verläßlicher Anzahl 
bisher bloß bis zum Alter von 12; 6 reichen. Doch ergänzt V. diesen seinen 
zweiten Satz auch mit der Behauptung, nach welcher Kinder vor dem Ein¬ 
tritt in die Pubertät nur mechanisch, „nach Vorlage zu rechnen imstande 
sind“. Er kommt auf diesen Punkt in seinem Satz 6 ausführlicher zurück 
und sagt wörtlich: „Die Anlage zum Rechnen ist bei zehn- bis vier¬ 
zehnjährigen Kindern individuell außerordentlich verschieden; 
ihre Entwicklung aber insofern für alle Versuchspersonen gleich, 
als vor Beginn der Pubertät von keiner selbständige rechnerische 
Leistungen ... zu erwarten sind.“ 

Dies hieße also, wir prüfen mit dem R.schen Test eine Fähigkeit, die eben 
in der von uns untersuchten AS noch nicht vorhanden ist. Nim wurde aber der 
Ranschburgsche Test eben auf Grundlage dieser nämlichen Annahme ge¬ 
bildet Unsere Ergebnisse, nach denen aus 731 Neun- bis Zwölfjährigen 
bloß 20 sich fanden, die eben auf dem Gebiete des selbständigen rechnerischen 
Denkens tatsächlich mit Erfolg sich zu betätigen vermochten, die also eben 
Ausnahmen, Hervorragende sind, sind zugleich auch ein Beweis der 
Richtigkeit des Wesens des W. Voigt sehen Satzes. 

Nun findet aber Voigt die rechnerischen Leistungen der Mädchen im Alter 
von 10—14 Jahren für wesentlich besser, als die der gleichaltrigen Knaben. 
Wehl setzt er vorsichtigerweise hinzu, daß sich dies auf die Prüfungen unter 
den Bedingungen seines besonderen Experiments bezieht. Doch meint er. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


305 


diesen seinen Befund gegen Möbius ins Feld führen zu dürfen, der be¬ 
kanntermaßen die mathematische Begabung des weiblichen Geschlechtes 
gegenüber derjenigen der männlichen für rückständig hält. Hier stehen nun 
unsere Erfahrungen — allerdings bloß für das Alter von 9;6—12;6 — den¬ 
jenigen Voigts entgegen. 

Daß es sich bei der Lösung unserer Aufgaben in den geprüften Altersstufen 
um das rechnerische Denken und nicht um mechanisierte Fertigkeiten han¬ 
delt, wird wohl nicht bestritten werden können. Auch wir Erwachsenen 
haben zur Lösung in erster Reihe unser Denkvermögen und bloß in letzter 
unser Rechenwissen zu verwenden. Allerdings ist es nicht die nämliche Art 
des Denkens als diejenige, die zur Lösung der Voigt’sehen Aufgaben be¬ 
nötigt ist. Unseres Erachtens handelt es sich bei denselben in erster Reihe 
um die Einfühlung in eine fremde Denkweise (hexadisches, oktadisches 
System) und ein unablässiges Festhalten an derselben während der 
ganzen Dauer der Berechnung. Wurde die Erklärung des Rechnens des Sechs¬ 
oder Achtfingermenschen vollauf verstanden, so kommt es kaum mehr zu 
eigentlichen selbständigen,* kombinatorischen Denkleistungen, sondern bloß 
zur Anwendung des elementaren Rechenwissens in der unbeirrbar festgehal¬ 
tenen neuen Denkweise. Geprüft wird mittels der Voigt sehen Aufgaben 
eigentlich mehr der Wirkungsgrad einer Fremdsuggestion, der sich die 
Geprüften mehr oder minder freiwillig unterordnen, die determinierende Kraft 
einer Obervorstellung, einer Aufgabe im Wattschen Sinne, die genügend 
kräftig sein muß, um der Übungsenergie des zu Fleisch und Blut gewordenen 
Denkens im dekadischen System die Wage zu halten. 


Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Über eine Begabungsprflfung beim Schuleintritt berichtet H. W. Witthöft. 
Sie ist über ein Jahrzehnt angewendet worden an einer Seminarschule, an 
der die Anmeldungen jedesmal die Zahl der verfügbaren Plätze überschritten 
und so eine Auslese erforderten. Geleitet wurde diese von dem Ge¬ 
danken, die Unbegabten fernzuhalten. Es wurde also das Verfahren der 
negativen Auslese angewendet, bei der die Untersuchung nicht nach der ge¬ 
wöhnlichen Weise auf die Ermittelung der Begabten, sondern der Unbegabten 
eingestellt ist Über die sehr einfache Gestaltung der Prüfung teilt Witthöft mit: 

„Wie aber die Unbegabten erkennen beim Schulantritt? Eine langjährige 
Beobachtung hat mich überzeugt, daß an der Sprache der Schulanfänger 
die Begabung nicht zu erkennen ist, weder an der Sprachrichtigkeit, noch 
an der Sprachgewandtheit, noch an dem Sprachreichtum oder der Sprach- 
form. Die Sprache der Kleinen ist in höchstem Maße ein Widerhall ihrer 
sprachlichen Umgebung; sie heißt mit Recht die Muttersprache; die Sprache 
der Kleinen ist Gedächtnisleistung, bezeugt aber nicht einmal ein gutes Ge¬ 
dächtnis bei guter Leistung, weil oft, bei guter Kinderstube nämlich, eine 
überwältigende Übungsmenge ein gutes Ergebnis selbst bei schlechtem Ge¬ 
dächtnis einfach erzwingt. Es ist noch lange nicht genug beachtet, daß 
selbst der dümmste „Gebildete“ z. B. richtig spricht, während ein kluger 
„Ungebildeter“ Sprachfehler macht. Sprachtests sind keine Intelligenztests, 
sondern Umwelttests. Wollte ich nicht von vornherein die Begabten aus den 

Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 20 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


sprachunreinen Schichten ausschließen, so durfte ich nicht mit Sprachtests 
arbeiten. Es würde eine Auswahl nach Stand und Bildung der Eltern werden. 
Langjährige Beobachtungen an Stadt- und Landkindem, wie an Kindern aller 
Stände und Schichten, besonders auch genaue Beobachtungen an den eigenen 
Kindern, überzeugten mich, daß die mathematischen Fähigkeiten wohl eine 
geeignete Prüfungsgrundlage abgeben könnten. Sie unterliegen nur sehr 
wenig dem Übungsfaktor der Kinderstube und scheinen eine gute Parallel¬ 
entwicklung zum Lebensalter zu nehmen, so daß hier ein Intelligenzquotient 
festgestellt werden könnte. Der Begabte wird demnach einen Intelligenz¬ 
vorsprung auf weisen, der Unbegabte einen Intelligenzrückstand. Das soll 
aber vorsichtshalber nur vom vorschulpflichtigen Kinde behauptet werden. 
Das Schulkind ist wieder einer so verschiedenen Übungsmenge und -güte 
ausgesetzt, daß das Urteil über Begabung wieder unsicherer wird. Trotzdem 
ist Rechnen und Mathematik auch auf der Schule mit Recht ein viel be¬ 
nutztes Mittel, Begabung zu erkennen. Ich habe es mir aber versagt, bei 
Aufnahmen in höhere Klassen solche Begabungsprüfungen vorzunehmen, 
sondern habe mich stets in solchen Fällen ausschließlich auf das Lehrer¬ 
urteil verlassen, das mir im Zeugnisbuch oder gar im besonderen Bericht 
vorlag. Ich würde auch für die Aufnahme der Sechsjährigen das Lehrer¬ 
urteil, das ich als Grundlage für die Schülerauslese seit zehn Jahren beharr¬ 
lich verlangt habe, benutzen, wenn es da wäre. So erscheint die Begabungs¬ 
prüfung bei den Sechsjährigen als eine durch die Verhältnisse erzwungene 
Maßnahme; es sei aber gleich hinzugefügt, daß sie mir viel Freude bereitet, 
manchen Einblick in die Kinderseele gestattet und auch wohl einige 
pädagogische Werte geschaffen hat. Es müßte jetzt das Verfahren dar¬ 
gestellt werden; das soll so kurz wie möglich geschehen. Nachdem durch 
ein paar Kunstgriffe die Unbefangenheit gesichert ist (nur 1—2 Proz. zeigen 
sich befangen, gewöhnlich durch Schuld der Mutter), müssen die Kinder 
zählen, und zwar Sachen abzählen: Finger, Rockknöpfe, Körperteile, Schnür- 
löcher u. dgl. Dann folgt das Zuzählen von 2, zunächst an Sachen, dann 
ohne sie, wenn nötig unter Vormachen, indem ich die folgende Zahl leise, 
die darauffolgende Zahl laut sage, also: 6 „und noch 2“ 7 8 und dies Zählen 
mit entsprechend betonter Bewegung begleite, die ich mit der Hand der 
Kleinen ausführe. Diese Reihe wird fortgesetzt durch stets wiederholte Auf¬ 
forderung „und noch 2“, zunächst in der Reihe der Geraden, dann in der 
Reihe der Ungeraden. Darauf wird mit 3 entsprechend verfahren. Die ganze 
Prüfung darf 5—7 Minuten dauern. Der Verlauf im einzelnen hängt natür¬ 
lich von der Leistung und dem Benehmen des Kindes ab und ist nicht in 
feste Formen gepreßt. Begabte Kinder steigen auf diese Weise mit 2 fast 
beliebig weit auf, bis 50 und höher, zur großen Freude, ja zum Erstaunen 
der Mutter. Auch mit 3 kommen sie nicht selten bis 50, mit entsprechender 
Hilfe natürlich. Unbegabte können nicht bis 20 zählen, fühlen nicht, daß 
sich jm zweiten Zehner der erste wiederholt, oder können nicht ihre Finger nicht 
abzählen, also Zahlenreihe und Sachreihe nicht verbinden, oder verstehen 
nicht, 2 zuzuzählen. Sie kennen niemals die Uhr oder können ihre Haus¬ 
nummer lesen, während Begabte zum mindesten lebhaftes Interesse dafür 
zeigen, nicht selten aber von sich aus die Uhr gelernt haben und selbst drei¬ 
stellige Zahlen lesen, z. B. an Straßenbahnwagen. Doch ist nicht die er¬ 
reichte Höhe Maßstab für die Leistung, sondern die Leichtigkeit und Sicher- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


307 


heit, mit der das Ergebnis erzielt wird, besonders aber die Fähigkeit, meine 
Hilfen sich zunutze zu machen. Die meisten Kinder gehen auf meine An¬ 
regungen so gut ein, dafi die Sicherheit gegeben ist, daß sie nicht unbegabt 
sind. Immer sind aber die Meldungen so zahlreich, daß nicht alle Kinder 
aufgenommen werden können, die als geeignet befunden worden sind, so 
daß die Nichtaufnahme keineswegs bedeutet, daß das Kind für unbegabt 
gehalten worden ist." 

Einige allgemeinere Erfahrungen, von denen Witthöft Mitteilung gibt, sind: 

1. Die Kleinen fühlen nicht die 10 als Grenze, sondern die 12; sie fühlen 
11 und 12 nicht als Zusammensetzung, sondern als einfache Namen und 
zählen demnach auch 29, 10 und 20, 11 und 20, 12 und 20, aber nicht 
13 und 20. 

2. Alle zählen in der Reihe der Geraden leichter 2 zu als in der Reihe 
der Ungeraden. 

3. Wer einigermaßen begabt ist, fühlt im 2. Zehner die Zusammensetzung 
und zählt unter Anlehnung an den 1. Zehner. Die Begabtesten zählen mit 
3 von 33 zu 36 zu 39 merklich leichter als z. B. von 21 zu 24 zu 27, wohl 
in Anlehnung an 3, 6, 9. 

4. Die Kleinen kommen leicht von der Einer- in die Zehnerreihe; 29, 30, 
40, 50. Es fehlt die Vorstellung des Zahlenraums. 

5. Die Zahlen 22, 33, 44, 55 werden oft in der Reihe ausgelassen; sie y 
werden wohl wegen des Anklangs an den Zehner als schon gezählt 
empfunden; 11 dagegen fehlt nie. Fehler wie unter Nr. 4 und 5 sind ein 
sicherer Beweis, daß das Kind ungeübt ist; es braucht aber nicht unbegabt 
zu sein.“ 

Witthöft hat die Ergebnisse seiner Auslesen, weil er die Schulbahnen der 
Schüler verfolgen konnte, vielfach nachprüfen können. Die Auswahl hat 
sich im allgemeinen dabei als zuverlässig erwiesen. Selbst die späteren Rang¬ 
ordnungen stimmen im großen und ganzen zu dem Ergebnis der Prüfung. 1 ) 

Zur Frage der Befähigung und Eignungsprüfungen für den Musikerberuf 
gibt der Kunstwart des Deutschen Musikerverbandes Arthur Jahn in der 
Absicht, die Öffentlichkeit aufzuklären, folgende Ausführungen: „In keinem 
andern Beruf kann man wohl so häufig Selbsttäuschungen über die Ge¬ 
eignetheit begegnen wie im Berufe des ausübenden Musikers. Im Leben 
fast jedes Menschen gibt es Zeiten, wo die Fähigkeit zum musikalischen Er¬ 
leben besonders stark wird, und häufig steigert sich die Erlebniskraft so Behr, 
daß der WunBcb, sich ganz der Musik ergeben zu können, für die Berufs¬ 
wahl ausschlaggebend wird. Aber ein anderes ist die Fähigkeit, subjektive 
Erlebnisse zu objektivieren, sie ,darzustellen‘. Beide Fähigkeiten sind 
keineswegs immer in einer Person vereinigt, und so sind gerade bei uns 
,viele berufen, aber wenige auserwählt'. Bei der Wahl der Musik als 
Lebensberuf ist also zwar die Fähigkeit zum Erleben und der Drang zur 


l ) „Der Aufbau*, Wochenschrift für Elternhaus und Schule, Nr. 14/16. 1922. Wenn Witthart 
schreibt, daß ähnliche Veranstaltungen nirgends im Gebrauch zu sein scheinen, so trifft dies 
nicht zu. Es sei u. a. verwiesen auf Scheibner, Die Untersuchung der Schulneulinge als 
pädagogische Übung im Seminarunterrichte („Die Arbeitsschule'*, 29. Jahrg., 1914, S. 273 ff.) 
und auf die Hilfsmi ttel, die das Institut für experiment. Pädagogik im Leipziger Lehrerverein 
herausgegeben hat 

20 * 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


musikalischen Äußerung selbstverständliche Voraussetzung. Die Berufseignung 
ist damit aber noch nicht gegeben: Das Vorhandensein gewisser sensorischer 
und motorischer Fähigkeiten ist unerläßliche Bedingung. Diese festzustellen, 
würde eine dankbare Aufgabe für die angewandte Psychologie sein, und 
manches verfehlte Leben würde bei rechtzeitiger Beratung in dieser Hinsicht 
in die rechte Bahn zu lenken gewesen sein, wenn geeignete Prüfungs¬ 
methoden vorhanden gewesen wären. Eine solche Prüfungsmethode auszu¬ 
arbeiten, ist der Deutsche Musikerverband bemüht, der mit Rücksicht auf 
seinen beruflichen Nachwuchs das allergrößte Interesse an dieser Frage hat. 
Er findet reiche Unterstützung von seiten des Berufsamtes der Stadt Berlin, 
dessen Direktor, Dr. Liebenberg, sich wieder der Hilfe der Psychologen an der 
Universität versichert. Zwei Serien von Schülern der der Staatlichen Aka¬ 
demischen Hochschule für Musik angegliederten Orchesterschule Bind bereits 
auf Grund der in gemeinsamer Arbeit hier zusammengestellten Eignungs¬ 
prüfung aufgenommen worden, und man kann mit dem bisherigen Erfolge 
sehr zufrieden sein, wenn auch mit wachsender Erfahrung die Methode immer 
weiter verbessert werden muß. Die Prüfung erstreckt sich zunächst auf 
allgemeine musikalische Fähigkeiten, sodann aber auf das Unterscheidungs¬ 
vermögen und Gedächtnis für Tonhöhen und Zeitmaße, auf die Intelligenz, 
Beobachtungsgabe und Konzentrationsfähigkeit, auf die Zeit, die von der 
Einwirkung eines Licht-, Gehör- oder Tastreizes bis zur Reaktion in Form 
einer einfachen Bewegung verläuft, und endlich auf die Zahl einfacher gleicher 
Bewegungen, die der Prüfling in einer Zeiteinheit auszuführen vermag. Wenn 
man sich davor hütet, die Ergebnisse der psychotechnischen Prüfung in 
ihrer Bedeutung zu überschätzen, sie vielmehr als das Sekundäre betrachtet, 
das erst durch das Vorhandensein der musikalischen Vitalität als des Pri¬ 
mären Wert gewinnt, so kann mit dieser Prüfungsmethode jedenfalls viel 
Schaden verhütet und Nutzen gestiftet werden, zum Segen der Menschheit 
und der musikalischen Kunst.“ (Voss. Ztg. vom 21. Mai 1922.) 

Die Koinstruktion in psychologischer Beleuchtung untersucht der Frank¬ 
furter Stadtschulrat Heinrich Schüßler in einer Abhandlung des Pharus 
(13. Jahrg., 1922, S. 229 ff.). Er kommt zu folgenden Hauptergebnissen: 

1. In der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen lassen sich deutlich 
drei Phasen unterscheiden: Die Zeit vor der Pubertätskrisis, die Pubertäts¬ 
jahre und die darauf folgende Zeit. 

2. Vor der Pubertätskrisis sind im allgemeinen die Mädchen den Knaben 
überlegen. In der Pubertätszeit bereitet sich bei starker Differenzierung der 
Geschlechter eine Umkehr vor. Nach den Pubertätsjahren sind die männ¬ 
lichen im Durchschnitt den weiblichen Jugendlichen überlegen. 

3. Daraus ergibt sich vom psychologischen Standpunkt aus bei Aufrecht¬ 
erhaltung der vollen Gleichwertigkeit der beiden Geschlechter und des ge¬ 
meinsamen Endziels wenigstens für die Pubertätszeit eine Verschiedenartigkeit 
in der Verteilung der Jahrespensen und damit eine Preisgabe des Koinstruk- 
tionsprinzipes für diese Zeit oder eine Auflösung der Altersklassen in reine 
Begabungs- oder Leistungsklassen. 

4. Vor und nach der Pubertätszeit sind gegen die Koinstruktion vom 
psychologischen Standpunkte keine Bedenken zu erheben, da die vorhandenen 
Unterschiede bedeutend geringer sind. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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5. Ein bemerkenswerter psychischer Unterschied auf verschiedenen Ge¬ 
bieten zwischen der erwachsenen Frau und dem erwachsenen Manne ist 
nicht wegzuleugnen. 

6. Er besteht nach der Ansicht maßgebender Psychologen nicht in einer 
Verschiedenheit der Intelligenz, sondern der Intellektualität und Emotionalität, 
woraus folgt, daß das Unterrichtsziel (siehe Satz 31) vom psychologischen 
Standpunkte aus nicht das gleiche sein soll. 

Die belgische Fürsorgeerziehung beschreitet neue Bahnen, ähnlich wie sie 
Dr. Karl Wilker im Lindenhof gegangen ist. In der Schrift L’observation 
des enfants de justice hat M. Rouvroy, der Leiter des Beobachtungshauses 
Moll (bei Antwerpen), seine Grundsätze und Erfahrungen niedergelegt. 
Optimistische, verständnisbereite Liebe zu den gefährdeten Kindern, ein un¬ 
erschütterlicher Glaube an die guten Keime jedes menschlichen Wesens sind 
die Vorbedingungen für jeden Erzieher. In Moll bekommen die jugendlichen 
Gefährdeten eine Umgebung, die nach Möglichkeit sich dem Leben nähert. 
Werkunterricht, Spiele, Spaziergänge lassen Freiheit zum Selbstausdruck. Die 
Kinder, die nach Vor-Geschlechtsreifen, Geschlechtsreifen und Nach-Ge- 
scblecbtsreifen eingeteilt sind, spüren das Vertrauen, das der Leiter ihrer 
Gruppe in sie «etzt, und sie lohnen es. Ein Briefkasten nimmt Wünsche 
der Zöglinge auf, namentlich das Verlangen nach einer persönlichen Aus¬ 
sprache mit dem Oberleiter, dem Arzt oder Geistlichen. Sogar das Recht, 
am Essen zu kritisieren, ist zugelassen. Nur während der ersten Tage 
wird der Neuankommende in einer Sonderzelle abgeschlossen, damit er nicht 
mit seinen Streichen von draußen sich vor den anderen brüsten kann. Gegen¬ 
über von der Zelle werden die Zeichnungen und Handarbeiten der künftigen 
Kameraden ausgestellt; der Neuling bekundet Verlangen, dies oder jenes auch 
zu tun. Er bekommt mannigfache Gelegenheit dazu. Seine Neigungen und 
Fähigkeiten werden offenbar, die Berufswahl für ihn ist so erleichtert, ein 
gesundes Fortkommen meist gesichert. Schülerräte verhandeln mit den 
Lehrern über die Organisation und die Zucht der Anstalt, und noch immer 
sind die Würdigsten von ihren Kameraden mit der Vertretung betraut worden. 
Kleine Arbeiten für die Anstalt werden mit Geld gelohnt, das in der Schul¬ 
kantine sofort in Zuckerwerk, Zigaretten usf. umgesetzt werden kann. Wer 
es aber spart, erhält von der Anstalt einen Zuschuß von 20 v. H. Ein 
Theatersaal, Musikinstrumente usw. stehen zur Verfügung, und die Ausübenden 
widmen sich den unverhofft beschiedenen Betätigungsmöglichkeiten am Guten 
und Schönen. Der Psychologe und der Arzt sind die Führer der Jugend¬ 
lichen. 

Die Genfer Sonderklassen (classes faibles) sind jüngeren Ursprungs als die 
Hilfsklassen für Anormale (classes spöciales). Sie nehmen Schüler auf, die 
dem ihrer Altersstufe entsprechenden Unterricht nicht folgen können, sei es 
infolge einer geringen intellektuellen Zurückgebliebenheit, sei es infolge 
Krankheit oder mangelnder Familienerziehung. Sie erstrecken sich nur auf 
die Kinder von 7—10 Jahren und werden von Lehrerinnen geführt. Die 
Auswahl der Sonderschüler beginnt schon im Kindergarten (obliga¬ 
torische öcole enfantine), und zwar mit Hilfe von Tests, die zu diesem 
Zwecke dauernd vervollkommnet werden. Zeigen sich in der achten bis 


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Kleine Beitrfige und Mitteilungen 


sechsten Klasse auffällige Lücken und Mängel bei schwachen Schülern, so 
werden diese dem Inspektor der Sonderklassen, einem erfahrenen Psycho¬ 
logen, vorgestellt, der eine Prüfung vomimmt und über die Aufnahme in die 
Sonderklasse entscheidet. Einen festen Plan gibt es hier nicht; Richtpunkt 
ist der geistige Stand der Klasse. Erziehliche Spiele sind das Hauptmittel, 
um Kenntnisse beizubringen und zu üben. Die unterste Sonderklasse darf 
nicht über 18, die beiden andern dürfen nicht über 25 Schüler haben. Ober 
jedes Kind wird ein psychologischer Beobachtungsbogen geführt. Die 
Lehrerinnen haben regelmäßig Besprechungen mit dem leitenden Psycho¬ 
logen, der auch eine Spezialbücherei verwaltet und Versuche durchführt. 
Nach Ablauf des dritten Schuljahres haben etwa 2 /3 der Sonderschüler ihre 
Kameraden in den Normalklassen eingeholt. Das letzte Drittel wird in das 
3. Normaljahr übergeführt. 

Die Frage des Lehrfilms, dessen Gestaltung und pädagogische Verwertung 
mehr, als es bisher geschehen ist, der psychologischen Untersuchung bedarf, 
haben seit Jahren die Arbeitsgemeinschaft, die Leiter der amtlichen 
Bildstellen (Alab) im Reiche und die Film- und Bild-Arbeitsgemeinschaft 
Groß-Berlin in der Stille bearbeitet, um vorerst von sich aus mit allen 
Lagen des erziehlichen Films und Lichtbildes vertraut zu werden und um 
dann allmählich immer weitere Kreise mit ihren Erfahrungen beraten zu 
können. Die Alab hat sich nun im Oktober 1921 zum Deutschen Bild¬ 
spielbund erweitert, um auch allen denen, die nicht Leiter amtlicher Bild¬ 
stellen sind, aber dem gleichen Ziele in kleineren Kreisen dienen, Gelegen¬ 
heit zum Anschluß zu geben. Der Bund arbeitet eng zusammen mit der 
Berliner Arbeitsgemeinschaft, die durch ihren Sitz am Hauptort der Lehr- 
filmherstellung zur Vermittlung besonders berufen ist. Beide Vereinigungen, 
denen ein Heim im Friedrichs-Werderschen Gymnasium gewährt worden 
ist, geben eine Zeitschrift „Das Bildspiel" heraus. Sie trägt den 
Untertitel „Eine Zeitschrift für Lehrende“, um damit Ziel und Leser¬ 
kreis anzudeuten. Die Arbeitsgemeinschaft unterhält ferner ein Filmseminar 
zur Ausbildung Lehrender in Filmfragen und Filmgebrauch, das zurzeit nur 
für Berliner in Betracht kommt, und eine für das ganze Reichsgebiet arbei¬ 
tende Bestellanstalt, die gemeinsamen Filmbezug zu billigeren Preisen ver¬ 
mittelt. 

Die Arbeitsgemeinschaften für praktische Psychologie in Westfalen und 
Lippe, eingerichtet von der Provinzialabteilung für praktische Psychologie, 
sind einheitlich in folgender Weise eingestellt: „Jede Arbeitsgemeinschaft ist 
möglichst so auszubauen, daß aus jeder Schule, gleichgültig welcher Art, 
mindestens ein Vertreter Mitglied der Arbeitsgemeinschaft ist, um deren An¬ 
regungen und Arbeiten im Kreise der eigenen Mitarbeiter bei geeigneten 
Gelegenheiten eingebend besprechen zu können. Die psychologischen 
Personalbogen sind möglichst zur Verbreitung und Bearbeitung zu bringen. 
Eingehende Beobachtungen in Anlehnung an den Personalbogen sind zunächst 
in Einzelfällen und allmählich in weiterer Ausdehnung in Angriff zu nehmen. 
Für die verschiedenen seelischen Gebiete ist die Unterrichtspraxis sorgfältig 
auf geeignete Beobachtungsgelegenheiten hin zu verfolgen. Aus der prak¬ 
tischen Beobachtung in Einzelfällen und aus der Suche nach guten Beob- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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achtungsgelegenheiten heraus ist die äußere Anlage der Personalbogen nach 
der Art der Einteilung und nach Ausdehnung, Form und Inhalt der Fragen 
einer ständigen kritischen Betrachtung zu unterstellen, da nur aus der Be¬ 
währung in der Praxis sich die richtige Beurteilung und Gestaltung des 
Personalbogens in allen Einzelheiten ergeben kann. In gegenseitigem Aus¬ 
tausch der Erfahrungen kann die Förderung der einzelnen Mitglieder in der 
Vertiefung der psychologischen Beobachtung weitergefflhrt werden. Als ge¬ 
eignete Form dieses Gedankenaustausches empfiehlt es sich, über einzelne 
seelische Gebiete zunächst in einem Referat die wissenschaftlichen Begriffe 
zu klären, die Beobachtung bzw. Prüfung der Funktionserscheinungen zu 
erörtern, Beobachtungsgelegenheiten aus der Unterrichtspraxis innerhalb der 
verschiedenen Schulfächer zusammenzutragen und die Fragengestaltung der 
psychologischen Personalbogen kritisch zu besprechen. Am Ende einer ge¬ 
wissen Beobachtungszeit sind die Ergebnisse zusammenzufassen und zu einem 
psychologischen Gutachten zu verarbeiten. Aus diesen psychologischen Gut¬ 
achten kann bei besonderer Einarbeitung einzelner Mitglieder der Arbeits¬ 
gemeinschaft ein Gutachten über die allgemeine Berufsgruppeneignung heraus¬ 
gearbeitet werden. Dieses Gutachten kann bei Schulabgängern in gemein¬ 
samer Besprechung mit dem Berufsberater des Berufsamtes oder durch Be¬ 
teiligung an dessen Beratungsstunden für die in der Schule beobachteten 
Jugendlichen im Sinne praktischer Berufsberatung nutzbar gemacht werden.“ 
Gleichzeitig werden den Arbeitsgemeinschaften Sammelmappen mit den 
wichtigsten psychologischen Beobachtungsbogen und den zugehörigen Er¬ 
läuterungsschriften zwecks Durcharbeitung seitens der einzelnen Mitglieder 
leihweise zur Verfügung gestellt. Arbeitsgemeinschaften für praktische Psycho¬ 
logie bestehen bereits in Minden, Detmold, Lage, Buer, Gladbeck, Gelsen¬ 
kirchen, Recklinghausen, Witten, Siegen, Hagen, Iserlohn, Herne, Dortmund; 
sie sind in der Bildung begriffen in Lüdenscheid, Arnsberg, Bochum, Bottrop, 
Münster; sie sind in Vorbereitung in Herford, Bielefeld, Gütersloh, Waren¬ 
dorf, Hamm, Unna, Paderborn, Lippstadt, Soest, Rheine, Schwelm. 

• 

Ein Institut für Jugendkunde in Magdeburg ist auf Anregung des Lehrer¬ 
vereins vom Magistrat eingerichtet worden. Dem Verein ist die folgende 
Mitteilung zugegangen: Der Magistrat hat die Absicht, von Ostern 1922 ab 
bei der Schulverwaltung ein wissenschaftliches Institut für Jugendkunde unter 
der Leitung eines Fachpsychologen zu begründen, in dem die Lehrkräfte der 
hiesigen Schulen Gelegenheit haben, sich in die Probleme der modernen 
Psychologie einzuarbeiten. Der Arbeitsplan, der zunächst einmal versuchs¬ 
weise auf vier Halbjahre verteilt ist, sieht Vorlesungen, Seminararbeiten und 
Obungen vor und behandelt folgende Stoffe: A. Geschichte der Psychologie 
mit besonderer Berücksichtigung der psychologischen Begriffe, Einführung in 
psychologische Beobachtungen an der Hand von Sachbild- und Inversions¬ 
versuchen nebst Besprechung der Methoden psychologischer Forschungen. 
B. Raumwahmehrtmngen des Auges und des Tastsinnes. C. Psychologie des 
Lesens, Gedächtnis, Tierpsychologie, das Leib-Seele-Problem, massenpsycho¬ 
logische Fragen. D. Denkpsychologie und das Problem der Intelligenz¬ 
prüfung, Psychologie und Psychotechnik, Übung und Ermüdung, das Problem 
des Tests, das Problem der Vererbung geistiger Eigenschaften, Psychologie 
der Sprache und ihrer Störungen, Kinderpsychologie, Assoziationspsychologie 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


und die Gestalttheorie, Aufmerksamkeitstheorie. — Neben den Vorlesungen 
und Übungen sollen zusammenfassende Vorträge auswärtiger Universitäts¬ 
lehrer stattfinden. Die Vorlesungen, Übungen und Vorträge sind frei, doch 
wird von den Teilnehmern zur Deckung der Verwaltungskosten ein Semester¬ 
beitrag von 25 M. erhoben. 

Der Hamburger Lehrgang zur pädagogischen Psychologie, den Prof. William 
Stern-Hamburg für Lehrer und Lehrerinnen aller Schulgattungen eingerichtet 
hatte, ging mit dem Winterhalbjahr zu Ende. Studienrat Schwärig berichtet dar¬ 
über: „Der Lehrgang war besucht von Hörern aus ganz Deutschland und dem Aus¬ 
lande. In Vorlesungen und Übungen wurden die Teilnehmer bekannt gemacht 
mit den Problemen der Kinder- und Jugendlichen-Psychologie. Durch selbstän¬ 
dige Arbeiten in Laboratorium und Schule wurden sie vertraut mit der Praxis 
der Schülerbeobachtung, der Begabtenauslese und der Feststellung der Be¬ 
rufseignung. William Stern selbst führte in einem Sonderkursus ein in die 
Methoden und Ergebnisse der Begabungs- und Eignungspsychologie. Einzel¬ 
vorträge und kurze Vortragsfolgen, gehalten von Hamburger Fach- und 
Schulmännern, umspannten das gesamte Gebiet des Schul- und Bildungs¬ 
wesens dieser reformfreudigen Großstadt, die man wohl mit Recht als die 
Keimzelle großzügiger pädagogischer Neuerungen bezeichnen darf: Landes¬ 
schulrat Prof. Umlauf sprach über Organisation des Hamburger Bildungs¬ 
wesens; Peter Petersen über Reformideen und Bestrebungen im höheren 
Schulwesen; Schulrat Götze berichtete über die Hamburger Arbeits- und 
Gemeinschaftsschulen, Dr. Riebesell, Direktor des Jugendamtes, über Jugend¬ 
pflege und Jugendfürsorge. Dr. Bondi führte ein in die Ziele und Bestre¬ 
bungen der bürgerlichen und proletarischen Jugendbewegung. Der bekannte 
Heilpädagoge Dr. Bischof behandelte das weite Gebiet der Psychologie und 
Erziehung geistig und körperlich Defekter (Psychopathen, Blinde, Taubstumme). 
Lehrer Zimmermann sprach über die psychologischen Grundlagen der Didak¬ 
tik des ersten Lesens. Die Fragen der Berufsberatung und die Organisation 
des Hamburger Berufsberatungsamtes schilderte eine Mitarbeiterin dieser Be¬ 
hörde. — Ergänzt wurden diese Vorträge durch Besibhtigungen: Von dem 
Kindergarten nach Fröbel und Montessori über die meist verkannten und 
falsch beurteilten Hamburger Gemeinschaftsschulen und die Heimschule für 
Schulmüde, über Blinden- und Taubstummenanstalten, Reformschulen des 
höheren Schulwesens bis zu den Volkshochschulkursen und den Vorlesungen 
der Universität erstreckte sich der Arbeitskreis des Lehrganges. Reichste 
Erfahrungen nehmen alle mit hinweg, und Prof. Stern hat sein Versprechen 
eingelöst, den Teilnehmern, die beabsichtigen, in ihren Kreisen die Aufgaben 
der Schulpsychologie und die psychologische Schulung der Lehrerschaft zu 
fördern, das Rüstzeug zu liefern." (Sächs. Schulzeitung.) 

Nachrichten. 1. Studienrat Dr. Ernst Hoffmann am Mommsen-Gymnasium 
in Charlottenburg ist an ein etatmäßiges Extraordinariat für Philosophie 
und Pädagogik der Universität Heidelberg berufen worden. 

2. Stadtschulrat Dr. ing. Barth in Frankfurt a. M. erhielt innerhalb der 
wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt 
einen Lehrauftrag für Gewerbepädagogik. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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3. An der Frankfurter Universität ist Studienrat Dr. J. Wagner mit 
einem Lehrauftrag für Jugendkunde betraut worden. 

4. Der Ministerialrat im Sächsischen Kultusministerium Geh. Schulrat 
Dr. Schmidt, dem die Leitung des neubegründeten praktisch-pädagogischen 
Seminars bei der Technischen Hochschule zu Dresden übertragen wurde, er¬ 
hielt die Ernennung zum Honorarprofessor. 

5. Dr. Otto Braun, o. Prof, der Pädagogik in Basel, ist gestorben. 

6. Ein psychologisches Institut für das amerikanische Wirt¬ 
schaftsleben haben der bedeutendste Psychologe New Yorks, J. M. Cattell, 
und der Präsident der Yale-Universität, J. B. An gell, ins Leben gerufen. 

7. Die Lehrerschaft in Nürnberg wird mit Hilfe der Stadt ein Institut 
für Jugendkunde einricbten, für das als wissenschaftlicher Leiter der 
Prof. Dr. Baege, der Vertreter der Philosophie, Psychologie und Pädagogik 
an der Handelshochschule in Aussicht genommen ist. 

8. Von Lehrern der Volksschule, der höheren SchuleD und der Hochschule 
ist in Mannheim eine pädagogische Gesellschaft gegründet worden, 
die in gemeinsamer Arbeit die Zeitfragen des pädagogischen Lebens auf 
wissenschaftlicher Grundlage und in ihren Beziehungen zu den sozialen 
und kulturellen Erscheinungen untersuchen will. 

9. In Dresden wurde vom Unterrichtsminister eine staatliche höhere 
VerBUchsschüle eröffnet. 

10. Im Sommer 1922 soll an der Technischen Hochschule in Dresden ein 
Psychotechnisches Institut errichtet werden, das die Aufgabe haben 
soll, nach wissenschaftlichen Grundsätzen die Fragen der Berufseignung und 
Berufsberatung zu untersuchen und von dem man hofft, daß es vielleicht 
der Ausgang für die Begründung eines staatlichen allgemein-pädagogischen 
Laboratoriums werden wird. 

11. In Berlin ist unter Leitung von Dr. Piorkowski das Orga-Institut, 
eine Untersuchungs- und Forschungsanstalt für Arbeitswissen¬ 
schaft und Psychotechnik, gegründet worden. Das Institut hat vier 
Abteilungen: 1. Kaufmännische Eignungsprüfungen zur Feststellung der Be¬ 
rufseignung und Anlern verfahren; 2. Objekts-Psychotechnik, d. h. psycho- 
technische Untersuchungen an Arbeitsgeräten und Bureauhilfsmitteln; 
3. Wissenschaftliche Betriebsführung; 4. Reklameberatung. 

12. Der neugegründete Verein für Moralpädagogik wendet sich an 
die Erzieher und die Jugend- und Volksfreunde mit einem Aufruf, in dem 
er seine Ziele darlegt und um Mitarbeit und Mitgliedschaft wirbt. Anmel¬ 
dungen und Beiträge (20 M.) nimmt Lehrer Johannes Keilhack, Leipzig- 
Schleußig, Oeserstr. 22II, entgegen. 

13. Der Hessische Lehrerverein hat dem Psychologischen Institut 
in Marburg eine 35000 M.-Spende aus freiwilligen Gaben seiner Mitglieder 
überreicht. 

14. Der Hauptausschuß im Preußischen Landtage hat die folgenden Anträge 
zum Ausbau des psychologischen und pädagogischen Studiums an den Hoch¬ 
schulen angenommen: „An allen Universitäten und technischen Hochschulen 
sind Lehrstühle für Erziehungswissenschaft zu errichten, soweit solche nicht 
vorhanden sind.“ „In allen Fällen, wo keine besonderen Vertreter für 
Pädagogik an einer Universität vorhanden sind oder wo diese nicht experi¬ 
mentelle Pädagogen sind, ist für die Vertretung der experimentellen Pädagogik 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


vorläufig wenigstens in der Weise Sorge zu tragen, daß geeignete Privat- 
dozenten einen Lehrauftrag für experimentelle Pädagogik erhalten, daß außer¬ 
dem in Zukunft bei Besetzung von pädagogischen Professuren die experi¬ 
mentellen Pädagogen eine stärkere Berücksichtigung erfahren.“ (Antrag 
Dr. Gottschalk-Hoff.) 

15. Ein Lehrgang über Stottern, Stammeln und Stimmstörungen in der 
Schule fand unter Leitung von Professor Dr. Fla tau vom 19.—24. Juni in 
der Phonet. Abteilung der Universitätsklinik statt. 

16. Die diesjährige Generalversammlung der Kant-Gesellschaft wurde 
als allgemeiner deutscher Philosophenkongreß vom 6.-8. Juni in Halle ab¬ 
gehalten. Gleichzeitig tagte unter Führung ihres Begründers Geheimrat 
Vaihinger der Kongreß der Freunde der Philosophie des Als-Ob. 

17. Das Institut für praktische Psychologie in Dortmund, Ab¬ 
teilung „Wirtschaftspsychologie“, veranstaltete am 29., 30. und 31. Mai 
1922 einen Psychotechnischen Kursus zur praktischen Einführung in die 
Aufgaben und Arbeitsmethoden der wirtschaftlichen Psychotechnik. Es wurden 
an Vorträgen geboten: Dr. J.Weber: „Aufgaben, Möglichkeiten und Leistungen 
der Psychotechnik“. Dr. Th.Valentiner, Leiter des Instituts für Jugendkunde 
in Bremen: „Erfahrungen bei der psychotechnischen Auslese industrieller 
Lehrlinge in Bremen“. Rektor Beyer, Eickel i. W. (Mitarbeiter von Prof. 
W. Stern, Hamburg): „Die Lehrlingsauslese nach dem Hamburger Ver¬ 
fahren“. Dr. J. Weber: „Aus der Praxis psychotechnischer Eignungs¬ 
feststellungen im rhein.-westf. Industriebezirke“. Ingenieur Dr. Gottschalck, 
Berlin: „Aufbau, Eichung und Kontrolle psychotechnischer Apparate“. 
Dr. J. Weber: „Vorbereitung, Durchführung, Auswertung und Bewährung 
psychotechnischer Eignungsfeststellungen“. An den Nachmittagen wurden 
von den Vortragenden praktische Übungen abgehalten. 

18. Das pädagogisch-psychologische Institut München veranstaltet 
im Sommerhalbjahr 1922 folgende Vorlesungen und Übungen: Praktische 
Übungen in den Berechnungsmethoden der pädagogischen Psychologie (Huth), 
18stündig. — Neue Wege der Jugendpsychologie: die eidetische Anlage 
(Dr. Riekel), 4stündig. — Einführung in die Charakterkunde auf lebens¬ 
wissenschaftlicher Grundlage (Dr. Klages) 8stündig. 

19. Für die diesjährigen Ferienkurse in Jena, die vom 2. bis 15. August 
abgehalten werden, sind unter anderen die folgenden Vorlesungen und 
Übungen angezeigt worden: Physiologische Psychologie (Prof. Dr. Berger- 
Jena), Bildungsprobleme der Gegenwart (Prof. Dr. W. Rein-Jena), Kernfragen 
der Pädagogik (Geh. Studienrat Dr. A. Rausch-Königsberg), Spezielle Didaktik 
mit praktischen Übungen (Oberlehrer A. Höhne-Jena), Arbeitsunterricht und 
Arbeitsschule (Prof. Dr. G. Weise-Jena), Die praktischen Grundlagen der 
Arbeitsschule (Lehrer H. Denzer-Worms), Stoffe und Probleme des Religions¬ 
und Moralunterrichts (Prof. D. Weinel-Jena), Die Sprachentwicklung des 
Kindes und die Methode des deutschen Sprachunterrichtes (Prof. Lic. Dr. Sell- 
mann-Hagen), Fragen der Kunsterziehung (Dr. W. Flitner-Jena), Unterricht 
in plastischer Gestaltung der Entwicklung des räumlichen Sehens und Vor¬ 
stellens (Martha Bergemann-Könitzer-Jena), Seelisch-abnorme Kinder- und 
Jugendfürsorge (Prof. Dr. W. Strohmayer-Jena), Gehörleidende Kinder 
(Direktor K. Braukmann-Jena), In welchem Umfange und in welcher Weise 


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Literatur bericht 


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unterscheiden sich Unterricht und Erziehung beim geistig minderwertigen und 
normal begabten Kinde ? (Rektor M. Breitbarth-Halle), Sprachentwicklung und 
Sprachstörungen beim Kinde (Sprachheillehrer J. Hecker-Jena). 


Literaturbericht. 

Selbstanzeigen. 

Dr. Richard Müller-Freienfels, Psychologie des deutschen Menschen und seiner 
Kultur. München 1922. Beck. 228 S. 61,50 M. 

Dieses Buch unternimmt den tiicht leichten Versuch, einen Volkscharakter in wissen¬ 
schaftliche Begriffe einzufangen. Methodisch hatte es sich den Weg durch wenig be¬ 
bautes Gelände zu bahnen, denn soviel auch geredet und geschrieben wird über die Charaktere 
der Völker, ganz selten, in Deutschland überhaupt nicht, sind solche Urteile auf systematischer 
Basis erwachsen. Und doch ist es so unendlich notwendig, daß die Völker einander und auch 
sich selber kennen lernen. Nicht nur politisch und kulturell im allgemeinen, auch die Pädagogik 
braucht eine Kenntnis des Bodens, auf den sie säen solL Und wir haben es ja in der Beziehung 
nicht mit einem klischeehaften Noimalmenschen, sondern mit jungen Deutschen in ihrer Besonderheit 
zu tun. So hofft das Buch, ohne direkt pädagogische Ziele zu verfolgen, doch auch für die 
Pädagogik fruchtbar werden zu können. 

Es deckt zunächst die seelische Grundstruktur des deutschen Menschen auf und leitet 
aus diesen Grundtatsachen die Komplexe der Erfahrungen: z. B. den deutschen Individualismus, 
die Vielfältigkeit und Entwicklungsfähigkeit, die Formlosigkeit und den metaphysischen Stand 
des deutschen Menschen ab. ln den Resultaten weicht es zum Teil stark ab von den land¬ 
läufigen Meinungen. Es glaubt jedoch für jede Darlegung reiches Beweismaterial aus Geschichte 
und Leben erbracht zu haben. So hofft es ein Buch zu sein, das gerade in unserer Zeit der 
wirtschaftlichen und politischen Überfremdung eine Notwendigkeit für unser Volk ist 

Dr. Richard Müller-Freienfels, Bildungs- und Erziehungsideale in Vergangen¬ 
heit, Gegenwart und Zukunft. Leipzig. Quelle & Meyer. 1921. 103 S. 24 M. 

Dies Büchlein möchte nicht sowohl ein fertiges Bildungsideal präsentieren, als zunächst 
einmal die ganze Problematik des Bildungsbegriffs in psychologischer und philosophischer 
Hinsicht aufrollen. Indem es den mannigfachen Wandlungen der Bildungsideale nachgeht, indem 
es die zeitlichen, völkischen, ständischen Gegensätze auf psychologische Formeln bringt, will es 
ein Verständnis erschließen für die pädagogischen Notwendigkeiten der Gegenwart. Es zeigt, 
wie wir weit davon entfernt sind, alle Funktionen der Seele gleichmäßig auszubilden in 
unseren Schulen, es deckt vielmehr die Mängel des Intellektualismus, der Abstraktheit und Un¬ 
freiheit auf, ohne allerdings auch die Aktiva der Bilanz zu verschweigen. Auf Grund einer 
Prüfung des Erreichten und des Möglichen sucht es dann Ausblicke auf dasjenige Bildungsideal 
zu gewinnen, das nach der historischen und völkischen Konstellation heute bei uns als das 
notwendige erscheint. 

Franz Weigl, Bildung durch Selbsttun. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis der Arbeits¬ 
schule. 3. Aufl. München 1922, Kösel-Pustet. 20 M. 

—, Wesen und Gestaltung der Arbeitsschule (Bd. 1 der Handbücherei der Erziehungs¬ 
wissenschaft für Lehrer, Lehrerinnen und ihre Arbeitsgemeinschaften von Dr. Schneider). 2. Aufl. 
Paderborn 1922. Ferd. Schöningh. 20 M. 

Beide Bücher sind aus meiner psychologisch orientierten Praxis herausgewachsen. 
In dem ersten Buch, das 1912 erstmals erschien, dann während des Krieges liegen 
bleiben mußte, nunmehr rasch zwei weitere Auflagen nötig machte, habe ich eine um¬ 
fassende psychologische Grundlegung besonders vom Standpunkt der Sinnespflege aus gegeben, 
den Begriff der Arbeitsschule auf die Erziehungsaufgaben auszuwirken versucht und für 
jedes Fach mich bemüht zu zeigen, wie seine psychologische Begründung nach allseitiger 
Sinnesbetätigung, auch jener der Hand, und nach geistiger Selbsttätigkeit ruft. Die Aus¬ 
führungen über Religionsunterricht und die erziehlichen Maßnahmen der Schule sind auf das 
Wirken einer katholischen Bekenntnisschule eingestellt; es wurde mir aber wiederholt auch von 
Andersdenkenden bekundet, daß ich z. B. zur Heiligenverehrung allgemeine Gesichtspunkte ge- 


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Literaturbericht 


geben hätte, die für Idealauswirkung in der Schule von durchgreifender Bedeutung wären. Be¬ 
sonders freundlich wurden auch aufgenommen die für verschiedene Fächer durchgeführten Jahres¬ 
pläne mit praktischer Anweisung, was hierbei für Beobachtungsunterricht, für Zeichnen, für 
Handbetätigung, für geistige Selbsttätigkeit an Material anfüllt. Die Folgerungen für die Schal - 
Organisation (Herabsetzung der Klassenfrequenzen, Reform des Prüfungswesens, Personalbogen, 
Sondereinrichtungen für manuell besonders begabte Kinder) sind seit der Erstauflage teilweise erfüllt 

Im zweiten Buch, das nach wenigen Wochen im 3. und 4. Tausend ausgegeben werden 
mußte, habe ich die Wesensmerkmale der Arbeitsschule dahin erläutert: manuelle Arbeit im 
Sachunterricht für Begründung der einschlägigen Vorstellungen, geistige Selbsttätigkeit, wo iipmer 
möglich, religiös-sittliche Taterziehung statt des Maulbrauchens für sittliche Fragen. Hier war 
besonders bei Begründung dieser Wesensmerkmale Gelegenheit gegeben, auf die psychologischen 
Ursachen als Unterbau der didaktischen Arbeit einzugehen. Es war mir dann darum zu tun, 
zu zeigen, wie im Einzelfall der Beobachtungsunterricht, Schulübungen, Zeichnen, Stäbchenlegen, 
Formen in Ton, Plastilin und Sand, Papier- und Kartonarbeiten, Bau an einfachen Apparaten, 
einem wirklich anschaulichen Unterrichtsverfahren dienen können, wie Lehrerfrage und Schüler¬ 
frage im Unterrichtsverlauf abwechseln, wie sich Aktivität des Kindes bei Stoffen seelischen 
Erlebens wecken läßt, wie freie Übungsreihen der geistigen Selbsttätigkeit dienen können, wie 
endlich tätiges religiöses Leben an die Stelle von bloßem Katechismuswort, Kindertugend und 
Kindervollkommenheit an die Stelle der Tugend Erwachsener, sittliche Selbsterziehung an Stelle 
des bloßen Redens treten können. 

ln beiden Büchern sollen keine pädagogischen Rezepte für mechanische Nachahmung ge¬ 
geben werden. Ich wollte zeigen, wie ich es gemacht habe, und damit andere anregen, es ähnHch 
zu versuchen. 

Hylla, Die Bedeutung der Begabungsforschung für die Berufsberatung. Langen¬ 
salza 1922. 45 S. 12 M. 

Das Buch ist die auf Anregung einer Reihe von Hörern vorgenommene Niederschrift 
eines Vortrages, der hier und da allerdings erweitert wurde. Wie dieser es wollte, so soll 
auch das Büchlein nicht Lösungen geben, nicht angeblich „gesicherte“ Forschungsergebnisse 
darstellen, sondern vielmehr die Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit der Aufgaben zeigen, die 
noch der Bewältigung harren, sowie allgemeinverständlich und in Kürze die Wege andeuten, 
auf denen man ihre Lösung gesucht hat. Der Verfasser hält dies für die einzige Möglichkeit, 
bei der gegenwärtigen Sachlage vor Nichtfachleuten diese Dinge zu behandeln. Eine solche 
Behandlung an sich scheint ihm aber auch unbedingt notwendig, wenn die Lehrerschaft für 
verständnisvolle Mitwirkung an der Berufsberatungsarbeit gewonnen werden soll, und ohne ihre 
Mitwirkung wiederum ist diese Arbeit an ihrer wichtigsten Stelle, nämlich bei den zur Schul¬ 
entlassung kommenden Jugendlichen, nicht durchführbar. Daß auch allgemeinere Fragen 
der Begabungsforschung etwas eingehender behandelt sind, glaubt der Verfasser dadurch gerecht¬ 
fertigt, daß er in der Bekanntschaft bloß mit diesem oder jenem Einzelverfahren der Begabungs¬ 
feststellung, wie sie in letzter Zeit in steigendem Maße auch durch Tageszeitungen und Unter¬ 
haltungszeitschriften aller Art vermittelt wird, geradezu eine Gefahr erblickt. Er meint übri¬ 
gens annehmen zu dürfen, daß dabei auch Gedankengänge berührt werden, die wohl selbst 
in der wissenschaftlichen Begabungsforschung noch nicht allgemein geworden sind, jedenfalls 
aber im psychotechnischen Gewerbe — die von Lipmann vorgenommene Scheidung dieser beiden 
Arbeitsgebiete sollte man streng festhalten! — kaum berücksichtigt werden, obwohl doch auch 
dies wissenschaftlich begründet sein will. 

F. Reinkemeyer, Förderung der Begabten. Richtlinien und Vorschläge zur Neugliederung 
der Volksschule. Köln 1921. M. du Mont-Schaubergsche Buchhandlung. 32 S. 5.50 M. 

Die vorliegende Schrift, die ich hier auf besondere Anregung der Schriftleitung anzeige, 
verfolgt praktische Ziele. Aus der genauen Kenntnis des Kölner Volksschulwesens erwachsen, 
kommt sie zu einer scharfen Verurteilung der bestehenden Abschlußklasse, um sodann — 
im bewußten Verzicht auf eine eingehendere psychologische Grundlegung — Notwendigkeit und 
Möglichkeit des Neubaues nachzuweisen. Ihren Schwerpunkt sieht sie, läßt man die praktische 
Herausarbeitung außer Betracht, in dem besonderen pädagogischen Standpunkt, von dem 
aus die Neuordnung erfolgen soll. Hintergrund jeder Organisation ist der Erziehungsgedanke, 
der bloße intellektuelle Höherzüchtung als Grundlage einer Differenzierung von sich aus 
abweist. Für diese ist nicht eine Einzeleigenschaft entscheidend (Intelligenz ist ein nicht scharf 
genug umgrenzter Begriff), sondern die Gesamtverfassung des Schülers, namentlich die 
Willenssphäre, die die Möglichkeit des Ausgleichs gewisser Minderwertigkeiten in sich schließt. 


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Notwendig ist die Differenzierung, weil die Schulerziehung sich auf dem Wege über den 
Unterricht, der Ziele setzt, auswirken mufi. Ihre Aufgabe ist Entlastung der Schulziele 
und Schulbegabungen von Hemmungen. Der Gedanke der Entlastung bildet das tragende 
Gebälk der neuen Schulorganisation. Er erkennt Intelligenzschwankungen an und 
schützt vor den Gefahren einer überfeinen Differenzierung. Von diesem Stande aus verlangt der 
Verfasser die Bildung von Normal-, Entlastung^ und Sammelklassen nach dem 3. oder 4. Schul¬ 
jahr auf Grund der Lehrerbeobachtung (Tests sind nur in Zweifelsfällen heranzuzieben). 

Die Schrift leugnet nicht den örtlichen Hintergrund, der ihr als Vorwurf gedient hat, tritt 
indessen aus ihm heraus infolge ihres pädagogischen Standpunktes und der praktischen Vor¬ 
schläge. Sie aufzuzeigen in ihren Beziehungen zu dem einschlägigen Schrifttum und den wissen¬ 
schaftlichen Nährboden zu kennzeichnen, aus dem sie erwachsen, bleibt späterer Zeit Vorbehalten. 


Einzelbesprechungen. 

Dr. Josef Geyser, Prof, der Philosophie an der Universität Freiburg i. Br., Abriß der Psy¬ 
chologie. Münster L Westf. 1922. SchÖningh. 152 S. 24 M. 

Zu seinem zweibändigen, in katholischen Kreisen und darüber hinaus hochangesehenen 
„Lehrbuch der Psychologie 11 , das eine sehr vordringliche Behandlung der spekulativen Probleme 
aufweist, gesellt hier Geyser eine kürzere psychologische Gesamtdarstellung. Sie bietet, bei 
allen inneren Berührungen mit dem größeren Werke, keinen Auszug aus ihm, sondern hat Un 
Gehalte, im Aufbau und in der sprachlichen Fassung ein Eigengepräge. Der Verfasser selbst 
bezeichnet seinen Abriß als Frucht weiterführender Forschungsarbeit an den Problemen der 
psychologischen Grundbegriffe. So weiß er sich besonders in der Auffassung des Bewußtseins, 
der Intentionalität, der Erinnerung, der Begriffsbildung u. a. weitergekommen. 

Auch der Abriß vermählt Empirisches mit Spekulativem. Er erörtert, nach der üblichen Ein¬ 
leitung über Gegenstand, Aufgaben und Methoden der Psychologie, zunächst einmal — damit schon 
seine metaphysische Einstellung bekundend — die Begriffe Bewußtsein und Seele, wobei alle 
materialistischen Auffassungen abgewiesen werden. Es folgt die Darstellung der Bewußtseins- 
Vorgänge, unter denen von dem Erkenntnisvermögen mit Wahrnehmen und Empfinden, Vor¬ 
stellen und Erinnern, Denken und Erkennen, das Gemüt als Gebiet der Gefühlserlebnisse und 
des Strebens und Wollens geschieden wird. Eine Schlußbetrachtung führt mit gehobener Sprache 
in philosophische Fernen und bekennt sich zu dem Glauben an den göttlichen Ursprung und die 
Unsterblichkeit der Seele. 

Auch wer in anderer als katholischer Weltanschauung lebt, wird nicht ohne innere Be¬ 
reicherung sich in die Art vertiefen, wie in den festgefügten Bau eines philosophischen Systems 
die Ergebnisse empirischer Psychologie eingefügt und damit in das Licht einer eigenen Auf¬ 
fassung gerückt werden. Es täuscht sich aber Geyser, wenn er meint, sein Buch sei so ge¬ 
halten, daß es auch als Unterlage auf den oberen Klassen der Gymnasien und an den Lehrer¬ 
seminaren verwendbar sein dürfte. Darauf ist es weder sachlich noch sprachlich eingestellt; 
es erhebt nach beiden Seiten hin doch größere Ansprüche an wissenschaftliche Schulung. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Martha Schneider, Psychologische Pädagogik. Eine Einführung in ihre Praxis, 
aufgebaut auf einer experimentell-psychologischen Untersuchung einer Lyzeumsklasse des 
Industriegebietes nach Kriegsschluß. Mit 20 Kurven und Figuren und einer graphischen Tafel. 
Breslau 1920. Hirth 96 S. 5.50 M. 

Das Buch trägt einen irreführenden Titel; denn letzthin bietet es nicht mehr als einen Bericht 
darüber, wie die Verfasserin ein Psychogramm der ihr anvertrauten Schulklasse aufgestellt hat. 
Damit ist eine wichtige und wertvolle Bemühung der praktisch-psychologischen Pädagogik in 
der Ausführung gezeigt, keinesfalls aber eine „Einführung 11 in ihr Gebiet gegeben. Es leidet 
auch sonst die Schrift in der sprachlich-logischen Prägung an wissenschaftlichem Zuge. Ebenso 
läßt mitunter die Gedankenbildung und die Stellungnahme, stark beeinflußt von einer gefühls¬ 
getragenen hohen Wertschätzung der experimentellen Pädagogik, die sachliche Abwägung mit 
dem Blick auf das Ganze einer pädagogischen Anschauung und das Total des Schullebens 
vermissen. Schon jeder der ersten Sätze des Vorwortes z. B. bedarf einer ganz bedeutenden 
Einschränkung. 

Doch schätzen wir das Buch als einen tapferen Versuch, mit der praktischen Durchführung 
der heute mehr als je geforderten Psychologisierung der Pädagogik zu beginnen und sich mit 
dem Berichte darüber an die Öffentlichkeit zu wagen und damit anregend zu wirken, wiewohl 


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Literaturbericht 


solchen ersten Untersuchungen — Franz Weigl ist ihr in seiner Arbeit „Das Psychogramm einer 
Schulklasse als Unterlage für pädagogische Maßnahmen* (Z. f. päd. Psych. u. exp. Päd. 1919) 
vorangegangen — noch allerhand Unzulänglichkeiten und Fehlgriffe anhaften müssen. Sie hier 
im einzelnen aufzuzeigen und eine Auseinandersetzung darüber herbeizuführen, läßt bei der 
Fülle der notwendigen Einwendungeu der Raum nicht zu. Grundsätzlich sei nur hervorgehoben, 
daß bei allen psychologischen Ermittelungen über die Schüler und die Schulklasse, wenn sie 
nicht gerade einzelnen Absichten, wie denen der Auslesen, dienen sollen, das Experiment kaum Jemals 
die große Rolle spielen wird, die ihm Dr. Martha Schneider bei der fleißigen Gewinnung ihres 
Psychogrammes zuweist. Zwar benutzt auch sie die Beobachtung und Befragung ausgiebig. 
Vordringlich bleibt aber bei ihr doch immer wieder das Experiment Es ist nun zu bedenken, 
daß die allermeisten dieser Versuche durchaus noch nicht klare psychologische Deutung, sichere 
Eichung und durchgebildete Technisierung für einen allgemeinen praktischen Gebrauch auf weisen. 
Zudem: sie schädigen, wenn sie in so ausgebreiteter Weise sich mit dem Unterrichte verquicken, 
die unmittelbaren unterrichtlichen Aufgaben des Lehrens und Erziehens, und sie verlangen vom 
Lehrer, sollen sie ernst durchgeführt und verwertet werden, ein sehr hohes Maß psychologischer 
Einsicht und praktischer Schulung, abgesehen noch davon, daß sie ihm eine Arbeit bei der 
Auswertung der Ergebnisse aufbürden (man schätze die Mühe bei der Verrechnung des Zahlen¬ 
werkes und der Aufstellung der Kurven, die hinter dem Schneiderschen Psychogramm liegt, 
nicht zu gering ein), das er inmitten seiner Berufspflichten unmöglich noch auf sich 
nehmen kann. Und anderes mehr! Peinliche Erfahrungen haben mich sehr gegen die Gestalt 
des experimentierenden Lehrers eingenommen. Entscheidend für mich ist die Einsicht geworden, 
daß die experimentellen Untersuchungen, die zu einem klaren Bilde von der Ge samt Verfassung 
der Schüler und der Klasse führen sollen, zumeist doch nicht viel mehr an Zügen, die der Lehrer 
für seine Bildungsarbeit erkunden muß, aufdecken, als was dem guten Beobachter in den 
wechselnden Arbeitslagen des Unterrichtes ohnedies unmittelbar erkennbar wird. Und dann: 
wenn der Lehrer so wenig für sein königliches Amt der Jugenderziehung begabt und geschult 
ist, daß er mit psychologisch geschärftem Blicke im täglichen, intimsten geistigen Umgänge mit 
den Schülern deren seelische Eigenart nicht erfaßt, so nützen ihm auch die angeblich sicheren Ergeb¬ 
nisse eigener experimenteller Untersuchungen wenig oder nichts, am Ende gar, wie ich es an einem 
üblen Beispiele beobachten mußte, werden sie ihm zu mancherlei Gefahr. Ein Wert freilich darf 
nicht verkannt werden: über dem vorsichtigen und wissenschaftlich wie pädagogisch einwandfreien 
Experimentieren an seinen Schülern schärft sich der natürliche psychologische Blick, und so muß 
der Lehrer zu dem Buch von Dr. Martha Schneider nicht greifen, um ihre viele Sorge und Mühe 
um ein Psychogramm der Schulklasse in getreuer Kopie nachzutun, sondern um von ihr das 
Eine, was nottut, zu lernen: die tatfreudige Gesinnung und den Eifer zur psychologischen Ver¬ 
tiefung in die uns anvertraute Schülerschaft. Es wird in diesem Sinne dann das Buch, das 
übrigens sonst — wie der Journalist sagt — eine sehr gute * Presse* gefunden hat, schön er¬ 
füllen, was es nach seinem Untertitel sein will: eine Einführung. Ganz anders aber, wenn Test¬ 
untersuchungen der Auslese für bestimmte Zwecke dienen. Aber auch hier hat man ja erkannt, 
wie wichtig es ist, daß sich die freie Beobachtung des Lehrers mit dem psychologischen Ex¬ 
perimente vermähle. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Otto Tumlirz, Das Wesen der Frage. Beiträge zu ihrer Psychologie, Gegenstands¬ 
theorie und Pädagogik. Leipzig 1919. SchulwissenschaftL Verlag A. Haase. 160 S. 7,50 M. 

Ein bisher wenig bearbeitetes Gebiet der alltäglichen Unterrichtsarbeit ist hier aus wissen¬ 
schaftlichem Denken heraus beleuchtet. Die Ergebnisse des ersten Teiles, Überschrieben: „Bei¬ 
träge zur Psychologie und Gegenstandstheorie der Frage“, faßt T. selbst folgendermaßen zu¬ 
sammen: „Mag in diesem kurzen Abriß noch manches ungeklärt und ungelöst geblieben sein, 
so hoffe ich doch, den Nachweis erbracht zu haben, daß Fragen ganz gewiß kein intellektuelles, 
sondern ein emotionales Erlebnis ist, das zwar als Begehren aufgefaßt werden muß, Jedoch soviel 
des Eigenartigen an sich hat, daß ihm innerhalb des Begehrungsgebietes eine deutliche Sonder¬ 
stellung zuerkannt werden muß". Seine Auffassungen entwickelt dabei der Verfasser auf der 
Grundlage der Meinong’schen Gegenstandstheorie, von deren Fruchtbarkeit für pädagogische 
Anwendung dabei überzeugend. 

Ganz besonders wertvoll wird T’s. Werk noch durch die pädagogische Auswertung seiner 
theoretischen Untersuchungen. Er überschreibt in dieser Einstellung den n. Teil seines Buches: 
„Beiträge zur Pädagogik der Frage". Hier wird Sinn, Wert und Gestaltung der Unter rieh ts- 
frage behandelt. Wenn wir uns den Anschauungen des Verfassers über das Wesen der 


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„pädagogischen Frage 1 * auch nicht durchweg anschließen können (ein demnächst in dieser Zeit¬ 
schrift erscheinender Artikel, der das Problem vom Standpunkt der Philosophie des Als-Ob 
betrachtet, wird noch darauf zurückkommen), so schätzen wir doch T.s Werk als eine der wert¬ 
vollsten Schriften der pädagogischen Literatur der letzten Zeit ein. 

Waldau, Ostpr. H. Fuchs. 

Prof. Dr. W. A. Lay, Führer durch den Rechtschreibeunterricht, gegründet auf 
psychologische Versuche und verbunden mit einer Kritik des heimatkund¬ 
lichen Unterrichts. 5. Aufl. Leipzig 1919. Quelle & Meyer. 225 S. 50 M. 

Das Bild des Wissenschaftlers Lay schwankt im Urteil seiner Zeitgenossen. Neben den 
aUerschärfsten Gegnern — man erinnert sich des scharfen Angriffs durch Cordsen — stehen 
begeisterte Lobredner, die ihn — wie Eduard Burger — sicherlich weit überschätzen. Gesichert 
bleiben aber muß Lay jedenfalls das Verdienst, daß er als einer der ersten die Bedeutung des 
pädagogischen Experimentes erkannt und es kühn in]Angriff genommen hat. Und wenn, nach¬ 
dem sich der experimentellen Pädagogik nach und nach die zünftige Forschung bemächtigt 
hat, man sich jener ersten Anfänge nicht mehr erinnern mag, wenn man die Bewegung erst 
dort einsetzen läßt, wo die Unzulänglichkeiten des ersten mutigen Zugriffs überwunden waren, 
wenn man aus den Frühzeiten nur Professor Meumann nennt, die Lehrer Lay und Lobsien aber 
mit Schweigen übergeht, so fälscht man die Geschichte der experimentellen Pädagogik. 

Lay's Führer durch den Rechtschreibunterricht steht mit an der Schwelle der didaktischen Be¬ 
wegung, die durch empirisch forschendes Verfahren zu unterrichtswissenschaftlichen Erkennt¬ 
nissen gelangen wilL Auf dem Wege durch ein Vierteljahrhundert hat sich das Buch bis hier 
zur vorliegenden 5. Auflage nach und nach befreit von manchem Unzureichenden, das sich aus 
den großen Schwierigkeiten des ersten Vorstoßes erklärte. Ebenso wurde immer Fühlung mit 
den experimentellen Arbeiten anderer Forscher gehalten und die Auseinandersetzung mit ihren 
teilweise anderen Ergebnissen versucht. So durchsetzt sich das Buch, besonders in Fußnoten, 
auch reichlich mit Polemik. Insbesondere erfährt Meumann entschiedene Antwort auf seine 
Kritik, ln einer Anzahl wichtigster Fragen steht aber immer noch Meinung gegen Meinung, 
und es ist auf neue Untersuchungen zu warten, denen die Entscheidung gelingt Schade nur, 
daß heute das Begabungsproblem so vordringlich die psychologische Pädagogik beherrscht, daß 
die Untersuchung didaktischer Fragen, die ohnehin immer vernachlässigt blieb, ganz verdrängt 
ist. Gerade daß Lay die unterrichtsmethodischen Probleme, die nach experimenteller Lösung 
verlangen und ihr zugänglich sind, aufgewiesen und angegriffen hat sollte ihm zu besonderem 
Verdienste zugerechnet werden, mag man sonst auch seine Methode, seine Versuchsdurchführung 
und seine Ergebnisse unter strenge Kritik nehmen und vor allem seine Überschätzung der 
experimentellen Pädagogik abweisen. 

Für den in der Unterrichtstätigkeit stehenden Lehrer ist der Lay’sche Führer besonders wert¬ 
voll, weil er aus den Versuchsergebnissen die praktischen Folgerungen zieht und die sich so 
ergebenden Lehrverfahren darstellt. Aus deren Bewährung werden letzthin die Lay’schen Unter¬ 
suchungen ihr Werturteil empfangen müssen. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

E. Formiggini Santa-Maria, Ciö che ö vivo e ciö che 6 morto della pedagogia di 
Federico Fröbel. („Noch-lebendiges und Abgestorbenes an Fröbels Pädagogik“). Genua 
1916. 236 S. 

Die Verfasserin — Privatdozentin an der Universität Rom, Gattin des Professors Formiggini — 
gibt im ersten Teile vor allem eine Darstellung der Fröbelschen Pädagogik auf Grund der lite¬ 
rarischen Dokumente. Es schließen sich einige kritische Bemerkungen an (S. 137—151), welche 
dem großen Ideenzuge des deutschen Erziehers gerecht zu werden suchen und dabei doch die 
schwachen Seiten seines Systems nicht übersehen. Der zweite Teil bringt zunächst ein Kapitel 
über die Propagatoren Fröbelscher Ideen. S. 155—166 sind der Freiin v. Marenholtz-Bülow 
gewidmet. S. 168—176 spiegeln die Aufnahme wieder, welche Fröbels Ideen in der italienischen 
pädagogischen Literatur gefunden haben. 

Das folgende Kapitel berichtet über die Eindrücke, welche Verfasserin bei ihren Besuchen 
in italienischen Kindergärten empfangen hat — Besuche, welche, wie sie in der Einleitung er¬ 
zählt, ihr den Anstoß zur Beschäftigung mit Fröbelscher Pädagogik gegeben haben. Dieses 
Kapitel (S. 177—200) dürfte für den deutschen Leser das größte Interesse haben. Man merkt 
den Blick der intelligenten Beobachterin und man bekommt einen gewissen Eindruck von dem 
fleißigen, stets sanften und hingebenden, aber pedantischen und sklavisch den Fröbelschen Vor¬ 
schriften gehorchenden Walten der italienischen Kindergärtnerin. 


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Literaturbericht 


Weiterhin erfahren wir näheres über zwei Abarten Fröbelscher Pädagogik, welche in IhHftC 
bodenständig sind: Rosa Agarri mit ihrem Kindergarten Mompiano (S. 201—20$) und Frinft 
Montessori mit ihrer Casa dei bambini (S. 209—216). Verfasserin bespricht lobend die freiere, 
kindesgemäßere Art der Unterweisung in Mompiano, die sie aus eigener Anschauung kennte 
eine breiter ausladende theoretische Basis wird nicht entwickelt und scheint auch nicht su exi-. 
stieren (S. 202). Wenn mit diesem Lobe ein bisher außerhalb Italiens gar nicht und auch in 
Italien selbst nur wenig bekannter Name der Dunkelheit entrissen wird, so steht hinsfcbtlfeto 
der Montessorischen Bestrebungen der Verfasserin Anerkennung im umgekehrten Ve rhältnis 
zu der Bekanntheit des Namens. Verfasserin versteigt sich bis zu der Behauptung: Frau 
Montessori habe Anerkennung gefunden, weil sie öffentliche Mittel für ihre Ziele in Anspruch, 
nahm, woran es R. Agarri fehlen ließ (S. 216). Dabei wird sie nun wohl freilich der Monteasotf» 
Methode nicht gerecht. Indessen sind einige kritische Bemerkungen über dieselbe ganz treffend 
(S. 214). 

Das Schlußkapitel bringt einige Vorschläge der Verfasserin für die Aus- bzw. Umges t a ltung 
der Kindergärten. Wirkliche Selbstbetätigung des Kindes — im Gegensatz zu der nur schein« 
baren des üblichen Kindergartens! — ist eine ihrer Hauptforderungen. Und verschieden« fein 
ersonnene Einzelheiten geben ihren Plänen festere Gestalt. Im ganzen bleibt das aber doch 
Schreibtisch-Pädagogik oder bestenfalls „impressionistische Pädagogik“. Wenn man soeben 
gesehen hat, wie die großen Ideen Fröbels bei der Umsetzung in die Wirklichkeit „hölzern 44 
geworden sind, so vermag man nicht ohne weiteres zu glauben, daß der Verfasserin sympathische 
Ideen die Feuerprobe der Einführung in die Praxis und (schwieriger noch!) die Wasserprobe dar 
Abnützung im Jahraus-jahrein-Betriebe überstehen würden. Man wünscht der Verfasserin, daß 
sie Gelegenheit haben möge, ihre Ansicht über Kleinkinder - Pädagogik auf modern psycho¬ 
logischer Grundlage auszubauen; das würde ein lesenswertes Buch werden. 

Göttingen. Walter Baad« +. 

Heinrich Burhenne, Kinder herz. Ein Beitrag zur Frage der Kinderzeitschrift. Langen« 
salza 1921. Beyer & Co. 80 S. 3 M. u. Teuerungszuschlag. 

Das Heft bietet eine Auswahl von Beiträgen, die Schüler und Schülerinnen jüngeren Altem 
zu einer Kinderzeitschrift beigesteuert haben. Zur Hälfte stammen sie von Bergmannsktmten 
und sind so nicht ohne soziologischen Reiz. Wer Erlebnisaufsätze kennt, dem können sonst 
aber diese Proben freien kindlichen Schaffens keine Offenbarungen sein. — Vorangestellt sind, 
von dem Herausgeber, der sich von Berthold Otto stark angeregt weiß, einige grundsätzliche 
Betrachtungen, getragen von einer tiefen Ehrfurcht vor dem freien Wachsen der Kinderaeele, 
aber in der begeisterten Hingabe an die Jugend ohne rechte sachliche Wertmaßstäbe. Einen 
ernsthaften Einwand gegen sein Unternehmen tut Burhenne z. B. kurzweg mit „Gerede“ ab (S. 16), 
und Sätze wie „Der Gegensatz zu dem durchweg duftlosen Sprachunsinn des Lesebuches wurde 
fühlbar, oft sogar uns allen widerwärtig“, stehen neben Äußerungen, die recht simple Schüler» 
leistungen als feine Kunst preisen. Die psychologische Erklärung solcher Unsachlichkeit ergibt 
sich vielleicht aus dem Bekenntnis des Verfassers, daß er „selbst wohl eine stärkere Veranlagung 
zum dichterischen Denken als zum reinen d. i. abstrakten Denken habe“ (S. 16). 

Leipzig. Otto Scheibnar. 


Noppel, Constantin, Jugendzeit. Ergänzungshefte zu den Stimmen derZeit. Erste Reih«, 
8. Heft. Freiburg 1921. Herder & Co. 58 S. 6,80 M. und Teuerungszuschläge. 

Das Schriftchen will dazu beitragen, dem jungen Geschlecht die Möglichkeit zu schaffen, 
wirklich jung zu sein und eine Jugendzeit zu erleben. Die Erwachsenen müssen lernen, im 
Jugendlichen den Erziehungsbedürftigen zu sehen und selbst für den Verkommensten Geduld 
und Liebe aufzubringen. Das Erleben der Jugendzeit ist ein Vorrecht der Jugend, daher darf 
ihre Grenze erst nach der Vollendung der erziehungsbedürftigen Entwicklungsjahre festgelegt 
werden. Der Verfasser setzt nach der Begriffsbestimmung den Gedanken der Jugendzeit mit 
dem Familienleben, der Schule, der Jugendarbeit und dem öffentlichen Leben in Beziehung und 
wendet ihn schließlich auf die verwahrloste Jugend an. Auch dieser billigt er das Recht aut 
Jungsein zu und will die Kriminalstrafen durch Erziehungsmaßnahme^ ersetzt wissen. Vom 
pädagogischen Standpunkt bieten die warmherzigen Ausführungen des Verfassers wenig Naue«, 
wohl aber verdienen sie volle Beachtung der Jugendschutzbehörden. 

Graz. Otto Tumlirs. 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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Pik Zfitsdinft för j^dagogudie mM k und cxpcojneotcJk 




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skriptc sind ah den gesAäfofiiiä'ghdga Scbriftfriter Senhhat *0jygndbre3r 
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^tö,eii hierdurch gebeten, .den halbjährlichen Btfrögsptfcis 4 p _i2eä^ 

Vertag Leidig. K/sarstrsßeH teip*»&0j6i7> einzusoKlwt, öi~ 

ajcß bfi» hKe äußerst niedrigen Bercebtuwg ättßer&tiwwfe $if£b>,.;idLJe en4jt «Sj^r Jtr 

Ifäehöuogeif verbu/ideneit hotten ftiirtttge&Öhri» zu tragen. £a tfctgt 1<H „:(&«tf8«äfe Q 
it-oeu Ahonpenien. die retSthrdltige..fi«g|<i!eifttr!g. v^nmaimctu Aj3t^Ä^itea:jtte«r'^tfti 
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Ist das Erziehungsziel „wissenschaftlich“ erkennbar? 

Von August Messer. 


Die nachfolgenden Bemerkungen beziehen sich auf die Abhandlung von 
-Johannes Kretzschmar „Schulreform und Bildungszweck“ (Zeitschr. f. päd.Ps., 
23. Jahrg., 5./6. Heft, Mai—Juni 1922, S. 211—223). 

Mit Kretzschmar bin ich in der Ansicht einig, daß alle pädagogischen 
Maßnahmen an den Gesamtzweck der Erziehung gebunden seien und daß der 
Zweckgedanke es sei, der die Aufnahme irgendeines Kulturgutes in den 
Erziehungsplan überhaupt erst möglich mache und die pädagogische Ver¬ 
wertung dieses Kulturgutes bestimme (S. 213). 

Wie kommen wir aber zur Feststellung des Gesamtzwecks der 
Erziehung? In bezug auf diese Frage kann ich mich der Auffassung 
Kretzschmars nicht anschließen. Er setzt — wenn ich ihn recht verstehe — 
als selbstverständlich voraus, daß die „Erziehungswissenschaft“ diese Frage 
beantworten müsse. Nur so versteht man seine Klage: „Leider müssen wir 
gestehen, daß uns bei dieser so ungemein bedeutungsvollen Frage die wissen¬ 
schaftliche Forschung völlig im Stich läßt und versagt Was in den letzten 
Jahren hier Wertvolles auf dem Gebiete der Schulreform geleistet worden ist, 
was getan worden ist, um gewisse Unterrichtsgegenstände in den Hinter¬ 
grund und andere in den Vordergrund zu rücken, ist im wesentlichen rein gef ü h 1 s - 
mäßigi) und auf Grund des gesunden Menschenverstands geschehen. Die 
jugendliche Psyche, an die wir methodisch anknüpfen, kennen wir heute 
einigermaßen — den Gesamtzweck der Erziehung, dem alle pädagogischen 
* Einzelmaßnahmen unterzuordnen sind, kennen wir noch (t) nicht!“ (S. 214). 

Gegen Vertreter der Sozialpädagogik wie Paulsen, Natorp, Kerschensteiner, 
Bergemann, die als Erziehungsziel die Hingabe der Persönlichkeit an d ie 
Gemeinschaft bezeichnen, führt Kretzschmar aus: so „berechtigt die tfWcle- 
rung der sozialen Erziehung zweifellos (!) sei“, die Fixierung dieser Gesamt¬ 
aufgabe beruhe nicht „auf wissenschaftlichen Gründen“, sie sei nicht „das 
Ergebnis eines streng logisch aufgebauten Erkenntnisaktes“. „Dieses Gesamt¬ 
ziel wird nicht erkannt, sondern gesetzt — es ist mehr oder weniger ein 
Ergebnis der Willkür (I). Bedenklich stimmen muß auch die Tatsache, daß 
viele Stimmen gegen diese Mitbestimmung laut geworden sind“ (S. 216). 
Die weitere Auseinandersetzung mit der Sozialpädagogik bestärkt ihn in der 
Überzeugung: „Einen wissenschaftlich begründeten (!) Gesamtzweck der Er¬ 
hebung, auf den sich ausnahmslos alle Maßnahmen als Teilzwecke logisch ein¬ 
wandfrei zurückführen lassen, besitzen wir augenblicklich noch nicht“ (S. 217). 

Alle diese Äußerungen Kretzschmars scheinen mir zu bekunden, daß er 
hs selbstverständlich voraussetzt: der Gesamtzweck der Erziehung läßt sich 
«Streng logisch erkennen“ oder (was wohl, dasselbe sagen soll) „wissen¬ 
schaftlich begründen“. 


*) Von mir gesperrt. 

Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 21 


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August Messer 


Wie naheliegend diese Voraussetzung ist, weiß ich aus eigener Erfahrung; 
ich habe sie selbst jahrelang geteilt Sie wurde uns allen gleichsam suggeriert 
durch die übersteigerte Hochschätzung der Wissenschaft und der wissen¬ 
schaftlichen Erkenntnis, die für die letzten Jahrzehnte charakteristisch ist 
und vielleicht nirgends grotesker zum Ausdruck gekommen ist als in der 
Erklärung Wilhelm Ostwalds auf dem Hamburger Monisten-Koogreß von 1911: 
„Wir erkennen, daß für uns Monisten der Begriff der Wissenschaft sich 
unwiderstehlich an die Stelle schiebt, die für weniger entwickelte Geister 
der Gottesbegriff bisher eingenommen hatte.“ Heute ist vor allen noch in 
Arbeiterkreisen diese Vergötterung der Wissenschaft anzutreffen. Aber ist 
sie wirklich ein Zeichen echt „wissenschaftlichen“, d. h. kritischen, selb¬ 
ständig ürteilenden Geistes? Und droht diese Überschätzung der Wissen¬ 
schaft nicht umzuschlagen in eine ebenso kritiklose Unterschätzung? — 
Anzeichen dieses Umschwungs habe ich bereits vielfach in der Jugend¬ 
bewegung, bei jungen Lehrern und Studierenden, beobachtet. Und liegt 
nicht in der nachgerade zum Schlagwort werdenden Verurteilung des sog. 
„Intellektualismus“ neben viel Unklarheit und Mißverstand doch auch ein 
richtiges Gefühl für die Grenzen dessen, was wissenschaftliches Erkennen 
leisten kann? 

Für uns handelt es sich hier um die Frage: Kann das Gesamt¬ 
erziehungsziel in wissenschaftlicher Weise erkannt werden? 

Nach vielfältiger Beschäftigung mit dieser Frage bin ich zu einer ver¬ 
neinenden Antwort gelangt. Dies Ergebnis war für mich selbst erschütternd, 
gerade weil ich so lange das Gegenteil als selbstverständlich vorausgesetzt 
hatte und weil ich nunmehr zunächst den Eindruck hatte, jeglichen festen 
Boden für meine erzieherische Tätigkeit unter den Füßen zu verlieren. Ich 
würde darum auch gern eines Besseren mich belehren lassen. Aber bis 
mir der Nachweis geführt ist, daß die Wissenschaft in objektiv gültiger 
Weise das Erziehungsziel feststellen kann, muß ich bei meiner verneinenden 
Antwort bleiben. Die Gründe, die ich dafür habe, will ich wenigstens in 
aller Kürze andeuten ‘)* 

Als Gegenstand der Erziehungswissenschaft kann man sowohl 
die «Erziehung, wie sie tatsächlich war und ist, ansehen als auch die Er¬ 
ziehung, wie sie sein soll. 

Im ersten Sinne ist Erziehungswissenschaft eine Erfahrungswissenschaft 
von Tatsachen. Sie kann uns zu der Erkenntnis führen, was man zu den 
verschiedenen Zeiten und bei den verschiedenen Völkern unter „Erziehung“ 
verstanden hat. Es läßt sich auf diesem Wege auch manche allgemeine 
Einsicht in das Wesen der Erziehung gewinnen, wie z. B. die von Kretzsch- 
mar erwähnte, „daß die erfahrungsmäßig gegebene Erziehung einerseits 
Entwicklung der Anlagen, andererseits Übermittlung von Kulturgütern 
ist“ (S. 217). Aber wenn dann etwa die Frage auftaucht: wird nicht da 3 
erstgenannte Moment zu sehr von der Volksschule, das letztgenannte zu sehr 
von der höheren Schule in den Vordergrund gerückt? 2 ) — so führt die 
Beantwortung einer solchen Frage schon über die Zuständigkeit der Päd- 


l ) Eine ausführlichere Darlegung meiner hier in Betracht kommenden Ansichten habe ich 
gegeben in meinem Buch „Weltanschauung und Erziehung“ (Osterwieck am Harz 192t. 
Verlag Zickfeldt). s 

a ) Kr. bejaht diese Frage ohne weiteres. Aber kann er dies „wissenschaftlich“ begründen? 


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Ist das Erziehungsziel „wissenschaftlich“ erkennbar? 


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agogik als Tatsachen wissenschaft hinaus; denn in dieser Frage handelt es 
sich nicht mehr um die Erziehung, wie sie tatsächlich ist, sondern wie sie 
sein soll. — Ebenso könnte diese erste Art der Pädagogik z. B. feststellen, 
daß ein gewisses Erziehungsziel in der Gegenwart von unserem Volke (oder 
einem überwiegenden Teil desselben) als das richtige angesehen und seine 
Erreichung angestrebt wird. Aber wiederum rpuß sie uns die Antwort 
schuldig bleiben auf die Frage: Ist denn dies Ziel auch wirklich das richtige? 
Soll es angestrebt werden? 

Solche Fragen drängen zu einer zweiten Art der Pädagogik, nämlich 
einer Lehre von der Erziehung, wie sie sein soll. Sie wird als „Wissen¬ 
schaft“ auftreten können in den weiten Bereich, innerhalb dessen es sich 
darum handelt, die Mittel und Wege festzustellen, um gewisse Erziehungs¬ 
ziele zu erreichen. Das bedarf keiner näheren Ausführung. Aber kann 
sie auch die Erziehungsziele oder das umfassende oberste Erziehungsziel 
„streng logisch erkennen“ und als das richtige, das seinsollende 
„wissenschaftlich begründen“? Das ist die für uns entscheidende 
Frage, und diese kann ich nur verneinen. 

Warum dies? Unsere Zweck- und Zielsetzungen müssen sich vor unserem 
Wertbewußtsein ausweisen. Der wissenschaftliche Nachweis von Tatsachen 
kann aber Werturteile nicht wissenschaftlich begründen. Wenn einem Menschen 
nachgewiesen würde, daß sein ganzes Volk ein bestimmtes Erziehungsziel 
wertschätzt und deshalb anstrebt, so wäre es doch möglich, daß er er¬ 
klärte: ich halte dies Ziel für minderwertig und darum für unrichtig, ich 
will euch ein wertvolleres zeigen. Diese Erklärung wäre logisch durchaus 
einwandfrei. Streng logische Erkenntnis und wissenschaftliche Begründung 
kann erst dann einsetzen, wenn man sich aus übereinstimmenden Wert¬ 
schätzungen heraus über ein oberstes Ziel geeinigt hat und wenn es nun 
gilt, das zu erkennen, was der Erreichung dieses Zieles widerstrebt und was 
sie fördert. Die Wissenschaft kann uns also für die Gestaltung der Er¬ 
ziehung (wie unserer Lebensgestaltung überhaupt) nicht mehr leisten als dem 
Reisenden eine Landkarte oder ein Kursbuch leistet. Sie sagen ihm, welche 
Wege er einzuschlagen hat, wenn er bestimmte Ziele erreichen will, sie 
sagen ihm aber nicht, wohin die Reise gehen soll. So kann die Wissenschaft 
nicht die oberste Führerin sein. 

Wer aber soll dies sein? Unser Werterleben, unser Gewissen (im weitesten Sinne)! 

Bestimmte Gestaltung menschlicher Persönlichkeit, menschlicher Gemein¬ 
schaften und menschlichen Lebens und Handelns müssen mir als wertvoll 
einleuchten; dann werde ich sie als Ziel meines Strebens setzen. 

Daß sie richtige Ziele sind, kann ich anderen nicht logisch beweisen. 
„Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nie erjagen“. Wenn andere meine 
Ziele verwerfen oder andere höher bewerten, so mag mir das Veranlassung 
sein, meine Wertschätzungen nachzuprüfen und die ihrigen kennen zu lernen. 
Vielleicht, daß sie auch mir als die höheren einleuchten. Ist dies nicht der 
Fall, so bleibe ich bei den meinigen. Leuchten sie mir als gültig ein, so 
kann ich wirklich sagen: ich habe ein Ziel „erkannt“ und eben darum mir 
„gesetzt“. Nur ist diese Erkenntnis keine durch logischen Beweis übermittelte, 
sondern nur unmittelbare (insofern gefühlsmäßig) *). — Es ist ein bloßes Vor- 


') So erkennt ancb Kr. die Forderung der sozialen Erziehung „zweifellos als berechtigt“ an 
(S. 216). Offenbar leuchtet sie ihm als gültig ein. 


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August Messer, Ist das Erziehungsziel „wissenschaftlich“ erkennbar? 


urteil zu meinen, nur was man logisch beweisen könne, sei objektiv gültig. 
Das trifft auch für die Tatsachenwissenschaft nicht zu! — Es gibt ein Werter¬ 
leben, daß selbst den, der damit zunächst allein steht, vor dem Selbstvorwurf 
sichert, es sei ein Ergebnis der „Willkür“ (S. 216). Man muß nur den Mut 
haben, auf seine eigenen Wertschätzungen zu lauschen und sich zu ihnen 
zu bekennen. Sapere aude! 

Wenn Kretzschmar klagt, daß das Wertvolle, was auf dem Gebiete der 
Schulreform geleistet worden sei, „im wesentlichen rein gefühlsmäßig und 
auf Grund des gesunden Menschenverstandes geschehen sei“ (S. 214), so 
finde ich hierin gar keinen Grund zur Klage. Denn gerade das „gefühls¬ 
mäßige“ (d. h. unmittelbar einleuchtende) Erleben von Werten und wert¬ 
vollen Zielen wird seinen Anspruch auf objektive Gültigkeit in dem be¬ 
gleitenden Bewußtsein bekunden, daß doch jeder Mensch „von gesundem 
Menschenverstand“ auch so urteilen müsse. Das stellt sich nun freilich oft 
als Irrtum heraus, und so bleibt es beim Kampf widerstreitender Wert¬ 
schätzungen und Zielsetzungen. 

Wenn z. B. Kretzschmar dazu neigt, den Gesamtzweck der Erziehung darin 
zu sehen, daß „das heranwachsende Individuum zu der für sein Wohl¬ 
ergehen notwendigen Lebensgestaltung befähigt werde“ (S. 218), so würde 
ich auf Grund meines Wertschätzens diese Zielsetzung ablehnen, falls mit 
„Wohlergehen“ ein wesentlich passiver, selbstischer Lebensgenuß gemeint 
wäre. Aber wenn jemand das Erziehungsziel wirklich so faßte (ich vermute, 
daß Kretzschmar selbst es nicht, tut), so würde ich mich doch außerstande 
sehen, ihn logisch zu widerlegen; ich könnte nur versuchen, an sein tieferes 
Wertgefühl zu appellieren und ihn für meine Wertschätzung einer der Förderung 
der Kulturgemeinschaften sich hingebenden Persönlichkeit zu gewinnen. 

Mit allen diesen Erörterungen sind wir übrigens mitteninne in dem, was 
ich „philosophische Begründung der Pädagogik“ nenne, d. h. im Bereich der 
Wert- und Kulturphilosophie. Ich hielte es für einen Irrtum, wenn Kretzschmar 
die Meinung haben sollte, die „philosophisch begründete Erziehungslehre“ 
habe „den Willen der Gottheit“ zum „letzten Ausgangspunkt“ (S. 215), sie 
sei „metaphysisch begründet“ (S. 218). Ich glaube, in meinem oben er¬ 
wähnten Büchlein „Weltanschauung und Erziehung“ den Tatbeweis geliefert 
zu haben, daß es eine philosophische Pädagogik gibt, die — ohne meta- 
physik- oder religionsfeindlich zu sein — doch weder in Metaphysik noch 
in Religion ihre Grundlagen sucht, sondern von wertphilosophischen Er¬ 
örterungen letzte Klärung erwartet. 


Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien 
und ihre Bedeutung im Aufbau der Kultur. 1 ) 

Von M. Isserlin. 

I. 

Wissenschaftliche Anschauungen tragen den Wert ihrer Geltung allein 
in sich. Die Schätzung ihrer Bedeutung, insbesondere die Beurteilung des 

') Diese beiden Vorträge setzen die mit Kräpelins Arbeit begonnene Reibe von Abhandlungen 
über die pädagogische Stellungnahme zur „Inversionswelle“ fort. Es folgen noch zwei 


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M. Isserlin, Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw. 325 


Grades ihrer Wahrheit darf nicht mit Interessen an der Erkenntnis ihrer psy¬ 
chologischen Entstehung vermengt werden. Gleichwohl kann dem gewissen¬ 
haften Forscher, welcher den Blick nur auf den Wahrheitsgehalt einer Lehre 
richtet, der psychologische Mechanismus ihrer Entstehung nicht ganz 
gleichgültig bleiben. Die Einsicht in die Entwicklung eines Werkes kann 
Handhaben auch für die Erfassung seines objektiven Gehaltes liefern und 
somit auch mittelbar solche für die objektive Wertung. 

Gelten solche Gesichtspunkte für die Betrachtung jeder menschlichen 
Schöpfung gemeinhin, so werden sie besondere Bedeutung gewinnen gegen¬ 
über Anschauungen, welche ohne Bedenken allgemein höchst gewertete 
menschliche Güter zu ebenso allgemein als abwegig und abnorm beurteilten 
und empfundenen seelischen Unterströmungen in Beziehung setzen wollen. 
Wenn plötzlich die Offenbarung geboten wird, daß der Ursprung des 
Staates in mannmännlicher Erotik verwurzelt liege, so wird der von 
dieser Behauptung erzeugte Gefühlsvorgang den gewissenhaften Forscher 
gewiß nicht hemmen dürfen, den Gehalt der vorgebrachten Darlegungen 
objektiv zu prüfen. Aber den Trägern dieser Lehren wird auch einiges 
psychologisches oder psychopathologisches Interesse gewidmet werden dürfen 
oder vielmehr müssen. 

Und da ist es zunächst wichtig festzustellen, daß die Lehren, welchen hier 
einige Aufmerksamkeit geschenkt wird, in Zeiten allgemeiner Gärung ihre 
Verbreitung gefunden haben, daß sie fernerhin nicht ohne Zusammenhang 
sind mit jenen aufdringlichen Bestrebungen sowohl einzelner Persönlichkeiten 
wie ganzer Geistes- und Gefühlsrichtungen, die — bisher allgemein als abnorm 
beurteilt und empfunden — sich nunmehr Geltung zu verschaffen streben. 
Dies gilt besonders von geschlechtlich Perversen, welche, zu einer Art 
von Vereinigungen zusammengeschlossen und mit entsprechenden Mitteln des 
Zeitungs- und Zeitschriftenwesens arbeitend, ihre Bedeutung für die Gemein¬ 
schaft zu erweisen und sich Freiheit des Auslebens zu gewinnen suchen. 

Solche Bemühungen hätten aber nicht den Widerhall, welchen sie gefunden 
haben, erzeugen können, wenn sie nicht den Anschluß an andere geistige 
Strömungen, welchen bereits seit längerer Zeit eine größere Aufmerksamkeit 
zuteil geworden ist, gesucht hätten. Will man die soziologische Verhimme¬ 
lung der sexuellen Perversionen, insbesondere der Homosexualität, verstehen 
und werten, so muß man diese Lehren bis zu ihrem Ursprung aus be¬ 
stimmten neueren Auffassungen des Aufbaues des menschlichen 
Seelenlebens zurückverfolgen. 

Diese Auffassungen ihrerseits aber sind zu begreifen als eine besondere 
Erscheinungsform der Gegenbewegung gegen einen übertriebenen 
Rationalismus, welcher wie Weltanschauung und Einzel Wissenschaften 
gemeinhin so auch Psychologie und Psychopathologie im besonderen in den 
verflossenen Jahrzehnten teilweise beherrschte. Es ist eine sehr eigenartige 
Auffassung des Unbewußten, welche den Mittelpunkt dieser Gegen¬ 
bewegung bildet. 

Die Frage nach dem Unbewußten, seit langem als ein psychologisches 
Grundproblem erfaßt, hat jeweils, auch bei denen, welche sie bejahten, sehr 

Abhandlungen von Loewe: „Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blflhers Deutung des 
WandervogelproblemB“ und „Allgemeine RichUinien zur Beeinflussung der von der homosexuellen 
Infektion bedrohten Jugend“. (Schrifleitung.) 


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verschiedenartige Beantwortungen gefunden: mechanistische und 
teleologische, rationale und mystische. Die Auffassung des Unbe¬ 
wußten, von welcher hier gehandelt wird, verweist zunächst gegenüber einer 
Berücksichtigung nur der Oberfläche des Seelenlebens eindringlich auf die 
Untergründe des Unbewußten. Aber im Verlaufe der Enthüllungsarbeit er¬ 
scheint diese Anschauung vom Unbewußten selbst als eine extrem ratio¬ 
nalistisch-teleologisch eingestellte Auffassung des seelischen Geschehens. 
Es handelt sich um nichts geringeres als um eine „Rationalisierung des 
Unbewußten“. Es ist ein im hohen Maße planvoll und vernünftig han¬ 
delndes Unbewußte, welches die Lehren Freuds — denn von diesen reden 
wir jetzt — als treibendes Moment allen seelischen Geschehens aufzudecken 
streben. Dabei erhält der Aufbau der Theorie eine besonders über¬ 
raschende Wirkung durch den Versuch, gerade das Sexuelle als Wesen alles 
seelischen Geschehens zu offenbaren. Dieses — allerdings sehr irrationale — 
triebhafte Geschehen als bewegende Grundkraft in unserem Seelenleben vor¬ 
ausgesetzt, soll sich dann alles weitere sehr folgerichtig und vernünftig be¬ 
greifbar entwickeln. 

Es erscheint notwendig, die wesentlichsten Grundgedanken der Freud- 
schen Psychoanalyse, von denen ja die Weiterbildung ins Soziologische 
erfolgt ist, auch an dieser Stelle festzulegen. Die Lehre geht aus von den 
„Symptomen“. Unter diesen kann man getrost alle Unbegreiflichkeiten 
des Lebens verstehen: die Erscheinungen des Traumes ebenso wie die Fehl¬ 
handlungen des Alltags (Versprechen, Verschreiben usw.), den hysterischen 
Anfall, die hysterische Lähmung und Halluzination ebenso wie das paranoide 
System eines Frühdementen und die Verkehrung des sexuellen Empfindens 
bei einem gleichgeschlechtlich Eingestellten. 

Die Symptome aber, unserem Bewußtsein sehr handgreiflich und deshalb 
überwertig, erweisen sich tieferem Eindringen nur als Vorläufer eines weit 
umfassenderen und bedeutungsvolleren, in Wahrheit einzig bedeutungsvollen 
Systems seelischen Geschehens, welches außerhalb unseres Bewußtseins liegt 
Dieses Unbewußte nach der Lehre Freuds ist aber nicht nur zeitweilig nicht 
bewußt, sondern überhaupt nicht bewußtseinsfähig, dem Bewußtsein nicht 
ertragbar. Es ist der Inbegriff alles dessen, was die bewußte Persönlichkeit 
entweder schon seiner Qualität nach nicht duldet, oder was sie im Wider¬ 
streit entgegenstehender Strebungen nicht zu einem beruhigenden Ausgleich 
zu bringen vermag. All diese Massen quälender, einander widerstreitender 
Erlebnisse, von dem Bewußtsein als unerträglich abgewehrt und ins Unbe¬ 
wußte „verdrängt“, bleiben doch als Fremdkörper, von einer Affektsphäre 
höchster Valenz umkleidet, dauernd fortbestehen. Und sie senden ihre 
Wirkungen dauernd in das bewußte Leben hinein. Nur dürfen sie, da in 
dem bewußten Leben die „Zensur“ der Verdrängung herrscht, nicht als das 
erscheinen, was sie sind. Sie treten unter einer Verkleidung auf. Das ist 
die Symbolik, die „indirekte Rede“ des Traumes, der Hysterie und der Zwangs¬ 
neurose. Die Sinnlosigkeit aber des Zusammentretens der Symptome im be¬ 
wußten Leben ist nur eine scheinbare. Sie entsteht dadurch, daß die Aus¬ 
läufer des unbewußten Geschehens nur bruchstückweise und maskiert im 
bewußten Leben erscheinen. Der Blick des Analytikers indessen durchdringt 
die Umhüllung der Symbolik. Er „schürft“ in die Tiefe und gelangt zu dem 
im Unbewußten arbeitenden Triebwerk alles seelischen Gescheheds. Dun 


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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw. 


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offenbart sich das bewußte Leben als ein kleiner Ausschnitt aus dem Gesamt¬ 
bestand seelischer Geschehnisse. Das Bewußte ist gleichsam ein Marionetten¬ 
spiel im Vordergrund. Die bewegenden Fäden laufen zu dem Spielleiter im 
Hintergrund, welcher geheimen Gedanken und Regungen mancherlei symbo¬ 
lischen Ausdruck zu geben vermag. 

Der Spielleiter aber — um in dem Bilde zu bleiben — der Motor des 
ganzen Triebwerkes im Unbewußten, ist nach Freud die Sexualität. 
Waren es im Beginn der Lehre einzelne Erlebnisse aus der Geschlechtssphäre, 
welche, als dem Bewußten imerträglich in das Unbewußte verdrängt, von dort 
aus das seelische Geschehen bestimmten, so ist es in der Weiterbildung die 
ganze Entwicklung, welche der Verdrängung anheimfällt. 

Hierbei gewinnt der Begriff des Sexuellen bei Freud eine außerordentliche 
Ausdehnung. Schon bei dem Säugling sind seine ersten Regungen deutlich 
festzustellen. Die lustbetonten Tätigkeiten des Säuglings: Nahrungsaufnahme, 
aber auch Entleerung von Harn und Kot, besondere Gewohnheiten, wie 
„Wonnesaugen" (Ludeln“), werden als sexuell aufgefaßt; der Säugling und 
das kleine Kind ist sexuell „polymorph pervers“. 

Die weitere Entwicklung besteht nach Freud in einer Einschränkung der 
Mannigfaltigkeit der Sexualbetätigung. Es werden allmählich nur diejenigen 
Betätigungen beibehalten und zusammengefaßt, welche sich auf das 
andere Geschlecht beziehen und der Fortpflanzung dienen. Alles anders¬ 
gestaltete Sexualtriebleben wird allmählich ausgeschaltet; Freud sagt auch hier, 
wiewohl er den Vorgang zum Teil für organisch hält, „verdrängt“. — Allein bis 
dieses Ziel mit Abschluß der Entwicklung völlig erreicht ist, geschieht doch noch 
mancherlei. In der Kindheit, wenn die ersten erotischen Regungen des Kindes 
sich auf Menschen zu richten beginnen, entstehen gesetzmäßig eine Reihe 
von Konflikten. Die Menschen, die hier dem Kinde zur Verfügung stehen, 
sind im allgemeinen seine Blutsverwandten, Eltern und Geschwister. Und 
da um. diese Zeit die polymorphe Perversität noch nicht völlig ausgeschaltet 
ist, entstehen sehr eigenartige Verwirrungen der Triebregungen. Der Knabe 
begehrt als Sexualziel seine Mutter, er haßt darum als Nebenbuhler seinen 
Vater; da die homosexuelle Komponente aber noch nicht ausgeschaltet ist, 
richten sich auch Sexualbegehrungen auf den Vater. So entstehen die 
Konflikte der kindlichen Seele, von denen Jung spricht. Keinem 
Menschen sind sie nach Freud fremd. In jedem wird Oedipus, welcher seinen 
Vater erschlug, um sich mit der Mutter zu vereinigen, neugeboren. All dieses 
konfliktreiche Geschehen ruht aber im Unbewußten; nur der Traum, die 
Fehlhandlungen des Alltags, Züge der Liebeswahl nach abgeschlossener Ent¬ 
wicklung, ebenso wie zahlreiche seelische Anomalien geben von ihm Kunde. 
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Auffassung Freuds von 
den sexuellen Perversionen der Erwachsenen. Diese kommen nach seiner 
Anschauung dadurch zustande, daß der Ausschaltungsprozeß von der poly¬ 
morphen Perversität des kleinen Kindes zum alleinherrschenden normalen 
Geschlechtstrieb nicht erfolgt. Bei den Perversen ist nicht genügend 
oder verkehrt ausgeschaltet worden. 

Angefügt sei weiter, daß in den Lehren Freuds und seiner Anhänger bei 
der Schilderung der hier angedeuteten Entwicklung nicht nur von Sexualität, 
sondern auch von Erotik gesprochen wird, wobei dieser letzte Begriff -reich¬ 
lich unbestimmt bleibt. So wirkt auch die von Freud vertretene Auffassung 


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M. Isserlin 


auf den ersten Blick weniger absurd, daß erotische Begehrungen nicht nur 
verdrängt oder normal befriedigt, sondern auch zur Triebkraft anders¬ 
artiger Betätigungen und zwar solcher von höchstem Werte werden können. 
Religiöse Inbrunst, Talen der Selbstopferung für die Menschheit, die 
Betätigungen der Phantasie in Kunst und Dichtung sollen einer verwan¬ 
delten, letzten Endes aber doch als Sexualität gedachten Erotik entspringen 
können. Das ist der Vorgang der Sublimierung der Sexualität nach Freud. 

Es ist eine recht folgerichtige Weiterführung der Lehre Freuds, welche 
die soziologische Auffassung der Perversionen, wie sie besonders Blüher 1 ) 
vertritt, unternimmt. Dabei kommt es gleichwohl zu entscheidenden Ände¬ 
rungen der Freud’schen Auffassung. Für die psychoanalytische Lehre sind 
die sexuellen Abweichungen pathologische Erscheinungen, die Perversionen 
sind „das Negativ“ der Neurose. Blüher bekämpft und schmäht auf das 
Heftigste jede Auffassung, welche den Pervertierten als abnorm ansieht. 
Die pathographische Auffassung der Perversionen ist nach Blüher gänzlich 
unzulänglich. Da das Kind von Natur aus vielgestaltig geschlechtlich ist 
und der spätere Entwicklungsvorgang die einen oder die anderen Seiten des 
geschlechtlichen Trieblebens ausschaltet oder bisweilen mehrere verschieden¬ 
artige beibehält, so ist es nicht angängig, das eine oder andere Ent¬ 
wicklungsprodukt als gesund oder krank hervorzuheben oder gar 
zu werten. Es sind einfach Spielarten. Blüher bekämpft es deshalb auch, 
daß der gleichgeschlechtlich Empfindende als pervers oder homosexuell be¬ 
zeichnet werde. Der Terminus Homosexualität ist ihm durch „vorwissen¬ 
schaftliche und vormoralische Köpfe aufs äußerste verwiderwärtigt.“ „In¬ 
version“, „invertiert“ muß als Bezeichnung bevorzugt werden. Das Wort 
ist „von Wohlklang“ und „gedanklicher Reinlichkeit“. Es hat außerdem 
genetische Bedeutung und weist auf den Tatbestand, daß auch der Er¬ 
wachsene mannigfache Weisen des Sexualstrebens und der Sexualbetäti¬ 
gung aus der Kindheit behalten hat. Wirft sich die Sexualität mit dem 
ganzen Register ihrer Strebungsformen auf das gleiche Geschlecht, so ent¬ 
steht die „Inversion“. An dieser hat jeder Mensch irgendwie teil, nur ver¬ 
schieden stark und in verschiedener Schichtung der Psyche. Den höchsten 
Grad der Inversion stellt der Vollinvertierte (früher homosexuell genannt) dar. 

Führt die nichtinvertierte Sexualität den Mann zum Weibe und liefert 
den Triebbeitrag zur Familiengründung, so drängt die invertierte Sexualität 
den Mann zum Mann, erfüllt andere soziologische Funktionen und erzielt 
„großartige Wirkungen“. Denn fällt es dem Mann in der Gesellschaft des 
Weibes zu, die Familie zu gründen und die Gattung fortzupflanzen, so kann 
er nur als Genosse des Mannes die Höchstleistung erreichen, den Staat 
zu schaffen. 

Zu dieser Schöpfung des Staates, seinem höchsten Beruf, kann der Mann 
als Genosse des Weibes nicht gelangen. Fortpflanzung, Familie — immer 
Herdenwesen — kann bestenfalls aus dieser Gemeinschaft entspringen. Durch 
die Inversion wird die Alleinherrschaft der mannweiblichen Sexualstrebung 
und des Familientums durchbrochen. In der männlichen Gesellschaft allein, 
die ihr Dasein dem mannmännlichen Eros verdankt und sich in den Männer¬ 
bünden auswirkt, kommt das Ereignis der menschlichen Staatsbildung zu- 


*) Blüher, H.: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft Jena 1919. — Blüher, H.: 
Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. 


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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien u%w. 


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stände. Und w&hrend die Natur bei ihren sonstigen Staatsbildungen deutlich 
verkrüppelte Wesen schuf (Ameisen-, Bienenstaat), um den Staat zu ermög¬ 
lichen, sah sie bei dem Menschen wie durch einen Gnadenerlaß hiervon ab 
und überließ es der Inversion, dieses Wunder hervorzubringen. Die mann¬ 
männliche Bindung im Männerbund und Staat ist aber nur dadurch möglich, 
daß alle Männer Beziehungen zur Inversion haben, daß in jedem Mann in¬ 
vertierte Komponenten stecken. . Diese Beziehungen gelangen in unendlicher 
Stufenreihe zur Ausprägung von solchen mehr geistiger Art bis zur körperlich 
päderastischen Betätigung des Vollinvertierten, der dasteht als eine „selb¬ 
ständige, unabhängige Mannesgestalt mit jeder Möglichkeit für das Höchste 
und für das Verruchte“. Dabei bleibt die bewegende Tendenz der mann¬ 
männlichen Beziehungen eindeutig. Und ob es beim bloßen Schwärmen 
bleibt oder zu grober Betätigung führt, die materielle Seite fehlt niemals. 
„Wir sind nicht der Meinung, daß es ein in der Luft schwebendes Geistiges 
sei, wodurch allein der Eros bestände, sondern immer ist auch zugleich 
Körper und Trieb da.“ 

Überall in der Menschheit werden nun aus diesen Gesetzmäßigkeiten heraus 
die Ansätze zur männlichen Gesellschaft, welche allein geistige Schöpferkraft 
besitzt und so allein als Träger des Geistes in Frage kommt, gegeben. Sie 
manifestieren sich stürmisch und mit größter Deutlichkeit in der männlichen 
Jugend. Wie die Onanie an sich „die großartigste Erfindung des Menschen 
auf sexuellem Gebiet“ ist, so stellen sich die Onaniebünde der männlichen 
Jugend als „höchst wichtige Einrichtungen“ heraus. In ihnen scheiden sich 
beim jugendlichen Manne zum ersten Male jene beiden großen soziologischen 
Themata: die Familie und die männliche Gesellschaft. „Sie sind die primi¬ 
tivsten Vorbilder der Männerbünde.“ Diese Tendenz zum Männerbund führt 
den Lebensstufen und den verschiedenen soziologischen Verhältnissen ent¬ 
sprechend immer wieder zu verschiedenartigen Bildungen. Wandervögel und 
studentische Verbindungen, militärische Kameraderien und „Vereine christ¬ 
licher junger Männer“, Freimaurerverbände und geistliche Orden — in allen 
waltet die gleiche erotische Tendenz. 

Das letzte Fazit des Männerbundereignisses aber sind Gebilde von höchstem 
Wert für das Menschengeschlecht. In allen Formen des Männerbund¬ 
wesens herrscht ein gemeinsamer Zug, „ihre Erotik verbindet sich mit einem 
Überschwung des Menschlichen“. Und so quellen die Lehren vom 
wahren Adel, von einem obersten Männerbund und vom Staate aus dem 
Männerbundereignis. Wer im Bunde ist, kann nicht sinken; er kann nicht 
der geliebten Todfeindin, der Frau, verfallen. Die Kultur wird davor 
bewahrt, den Frauen ausgeliefert zu werden. 

Kann somit die außerordentliche Bedeutung der Erotik in der männlichen 
Gesellschaft für die Kultur in großen Zügen festgehalten werden, so bemühen 
sich besondere Ausführungen wichtige Einzelheiten dem Bilde hinzuzufügen. 

Zunächst einmal werden über die Natur der Invertierten bestimmte 
Feststellungen zu sichern gesucht. Mit Leidenschaft wird — wie schon 
bemerkt — die Anschauung bekämpft, daß der Homosexuelle 
ein Psychopath, Degenerierter oder ähnliches sei. Mit Verachtung 
und Hohn werden die entsprechenden Lehren der Psychiatrie und anderer 
„Halbwissenschaften“ zurückgewiesen. Der „Vollinvertierte“ ist das Ur¬ 
bild der Gesundheit, ein „Kraftzentrum“, von dem Ströme der Energie 


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M. Isserlin 


in die um ihn Gescharten hinüberfließen. Mit Deutlichkeit wird hier auch 
die Scheidung gegenüber Freud und seiner Schule vollzogen, die sich, trotz 
der Orginalität ihrer Anschauungen, in dieser Sache von den Irrtümem der 
übrigen Psychiatrie nicht hätten freihalten können. In eingehender Weise 
wird das Walten des Typus inversus, die verschiedenen Formen und Grade 
der männlichen Gesellschaft, die Mannigfaltigkeit der erotischen Beziehungen 
in diesen geschildert und das Hohelied auf-den Vollinvertierten in einer für 
jugendliche Gemüter sicher nicht wirkungslosen Weise gesungen. 

Wohl gäbe es auch einen abnormen Homosexuellen, aber dieser 
würde erst allmählich abnorm, und zwar nur dadurch, daß er sein Innen¬ 
leben bekämpft, unterdrückt, im Freud’schen Sinne „verdrängt“. 

„Es gibt zwei Möglichkeiten für den Sexualkomplex. Entweder, die Sexu¬ 
alität wird als solche wirklich ausgeübt und tritt frei hervor: dann haben 
wir im Falle der mannmännlichen Einstellung den echten Männerhelden, 
oder wie man im Altertum sagte, den Päderasten. Oder aber: die Sexualität 
stößt bei ihrem Entfaltungsversuch an eine niedrig liegende Peinlichkeite- 
schwelle, wird verdrängt, und es entsteht der Typus inversus neuroticus.“ 

Der Typus neuroticus ist sein ganzes Leben hindurch mit genau derselben 
Libidostärke ans eigene Geschlecht gebunden, wie der Männerheld — — 
nur verwendet er oft die gewalttätigsten Mittel, um sein Bewußtsein von dieser 
Tatsache zurückzudrängen: er kann zum Sittlichkeitsfanatiker werden, und alle 
Päderasten wütend verfolgen. Er. beweist jedoch gerade dadurch seine 
Verfallenheit dem eigenen Geschlecht gegenüber. Krank und neurotisch wird 
dieser Typus nicht deshalb, weil er invertiert, sondern weil er seine inver¬ 
tierte Neigung zu unterdrücken, zu verdrängen sucht. 

Die Tatsache, daß die Sexualität eine Peinlichkeitsschwelle hat, ist über¬ 
haupt entscheidend für das Entstehen zweier Menschentypen, abgesehen von 
der Tatsache der Inversion. Es sind die Typen des „Muckers“ und des 
„Fauns“, welche durch ihr verschiedenes Verhalten zur Peinlichkeitsschwelle 
gekennzeichnet sind. Der „Mucker“ läßt sich „ducken", der Faun „dringt 
durch“. Dem Mucker erregt alles sexuell Erregende zugleich Angst. 
Die Sexualität wird das, was nicht sein soll, die Bezeichnung „sittlich“ 
erhält einen sexuellen Unterton. „Und das ist eine Tat des muckerischen 
Menschen: weil er die Sexualität nicht vertragen kann, weil sie ihm unter 
der Hand in Angst und Peinlichkeit, in Ekel, Scham, nervöse Unruhe und 
Verwirrtheit umschlägt, soll die Menschheit nicht sexuell genießen!“ Der 
Gedanke, daß das Sexuelle Sünde sei, rührt von der „privaten Sexualver¬ 
stimmung“ des Muckers her. Dieses rationalisierte „Tabugefühl“ wird zum 
Kemdogma von alledem, was man in wirren Köpfen an „Sexualethik“ findet. 
Demgegenüber der faunische Mensch, er bewahrt sich den Lust¬ 
charakter der Sexualität. Aber der Faun ist nicht einfach ein Wollüstling. 
Er kennt die Verdrängung, hat an ihren Verfänglichkeiten gelitten, „dringt“ 
aber trotzdem „durch“. „Der faunische Mensch ist Sieger, er zwingt drohende 
Mächte des Innern zu Boden.“ Der Wollüstling hingegen ist nur ein „ent¬ 
ronnener Mucker“. Auch der faunische Mensch kann enthaltsam leben; er 
kann es aber niemals aus „muckerischen Gründen“. Mucker sind: der bür¬ 
gerliche Christ, ferner etwa: Temperenzler, Abstinenten, Gesundheitsapostel, 
Tierschutzfanatiker und vegetarische Sonnenmenschen. Entlaufene Mucker 
pflegen zu sein: sämtliche Freigeister, Atheisten, Monisten, sämtliche Sexual- 


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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw. 


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firzte, sämtliche Menschen, die es nötig haben, Nacktkultur zu treiben und 
für heilige „Naturzwecke zu schwärmen“ usw. Nach der Muckermoral ist 
Sünde, was dem Mucker Peinlichkeit erregt In Wahrheit aber ist die Ent¬ 
scheidung, ob eine sexuale Handlung stattfinden darf oder sogar muß, stets 
in die Hände des autonomen Menschen gegeben, und keine Sitte hat hier 
das mindeste Einspruchsrecht. Der Mensch kann nur eine Sünde begehen, 
und das ist die gegen sein autonomes Wesen. 

Mucker und neurotische Invertierte stellen auch den „Verfolgertypus“ 
dar, der das mannigfache Walten der Erotik in der männlichen Gesellschaft 
zu hemmen und zu unterdrücken sucht. Der Fortschritt der Menschheit 
verlangt es aber, daß dem Invertierten Freiheit für seine Art 
zu leben und zu wirken gegeben werde. Das ist die „rettende Tat“ 
der Wandervögel und anderer Bünde. Sie stellen sozusagen einen „Harem“ 
für die invertierten Kraftzentren dar und bewahren sie vor Verdrängung und 
Neurose. „Der Eros der männlichen Gesellschaft erfordert es, daß die männ¬ 
liche Jugend, also das eigentlich geliebte Geschlecht, den aktiven Mitgliedern 
in allen seinen Reifestadien zur Verfügung steht.“ (!) 

Der Erotik der männlichen Gesellschaft gegenüber tritt die mannweibliche 
Erotik an Bedeutung für die Menschheit zurück. Diese letztere führt durch 
das Mittel der Familie nur zur Erhaltung der Art. Immerhin ist auch diese 
Leistung so bedeutungsvoll und die Beziehungen zum Weibe in ihren posi¬ 
tiven und negativen Wirkungen für den Mann so wichtig, daß ihnen ent¬ 
sprechende Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. — Das Gesetz weib¬ 
lichen Wesens dem Manne gegenüber ist das der „Hörigkeit“. Innerhalb 
dieser Allgemeingesetzlichkeit gibt es aber zwei Strukturarten weiblichen 
Wesens, denen auch zwei männliche Wahlsysteme entsprechen. Diese beiden 
Arten innerhalb des weiblichen Geschlechtes sind: die Gattin und die 
freie Frau („Hetäre“). Die Gattin ist einheitlich weiblich, ihr Wille, 
Kinder zu gebären, kommt früh und spontan. Die freien Frauen hin¬ 
gegen gehören in das Zwischenreich. Sie sind in ihrem Liebesieben be¬ 
wußter und raffinierter und erstreben mitunter die Gleichberechtigung mit 
dem Manne. Beide Frauenarten sind Naturerscheinungen, beide echt weib¬ 
lich und beide notwendig. Gäbe es nicht Hetären: das weibliche Geschlecht 
fiele einer rücksichtslosen Entfärbung zum Opfer. Die „höchst jammerhafte 
Erscheinung der bürgerlichen Gattin unserer Gesellschaft“ würde herrschen. 
Demgemäß gehört der Liebe zur hetärischen Frau die Sanktion genau so 
wie der zur Gattin. Auch die Ökonomie der Fortpflanzung verlangt eine 
solche. „Je reicher, gehaltvoller und zukunftshaltiger ein Mann ist, um so 
weniger wird eine Frau ihm genügen, um alle Kräfte seines Wesens in einer 
neuen Zeugung herauszulocken.“ „Die monogame Ehe ... ist das große Hin¬ 
dernis für die zeugerische Entfaltung gerade der reichsten Männer. Somit 
ist die „Mehrehe“ ein Vorrecht der Vorzüglichen, und ihr gebührt 
das Sakrament.“ 

Dem weiblichen Geschlecht aber, das auf eine Erweckung durch den Mann 
angewiesen ist, muß auch das Recht hierzu werden. Das ist der Sinn des 
„Rechtes der ersten Nacht“. „Die Priester, d. h. die geweihten Vertreter des 
Geistigen, haben das Amt, allen Frauen von einem bestimmten Alter die 
Jungfrauenschaft abzunehmen und sie so zu erlösen.“ Das ist eine „sehr 
tiefe und ernste“ Angelegenheit, die freilich als Einrichtung in unserer Ge- 


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Seilschaft unmöglich ist, was nur gegen diese Gesellschaft spricht. Die Idee 
aber, die ihr dauerndes Recht hat, kann heute nur getragen werden von 
den ganz wenigen rein gebliebenen. Männern, die wirklich Träger des Gei¬ 
stigen in der Welt sind. Diese können „viele erlösen“, wenn es ihnen ge¬ 
lingt, „ehrfürchtig und schweigsam“ zu sein. 

Es ist somit ein eigenartiger Gesamtaspekt, den diese Theorie der mensch¬ 
lichen Staatsbildung uns bietet: Mannigfache erotische Beziehungen gehen 
von Mann zu Mann und vom Mann zum Weib. Die Frucht der Beziehungen 
zum Weibe ist die Fortpflanzung der Art; alle geistige Schöpfung aber 
stammt aus der Erotik der männlichen Gesellschaft. In dieser bedeuten die 
invertierten Vollnaturen „Kraftzentren“. Aber in allen Männern, auch in 
denen, die dem „Weibe verfallen“ sind, wirkt Inversion. Der Mann neigt 
stets nach Zweierlei, nach der Familie und der männlichen Gesellschaft. 
Und sehr mannigfaltig sind dementsprechend die erotischen Betätigungen der 
meisten Männer: Tendenzen zur Gattin, zur Hetäre, zu Männern verschiedener 
Altersstufen, insbesondere auch zu Knaben, verlangen ihr Recht. Sie zu 
„verdrängen“, führt zur Unnatur und Neurose, während andererseits ihre 
ungehemmte Entwicklung die höchsten Werte zeitigt. 


II. 

Soll zu den hier zunächst möglichst leidenschaftslos im Umriß wiederge¬ 
gebenen Lehren kritische und wertende Stellung genommen werden, so wird 
zum Ursprung der Bewegung, welchen wir festzustellen suchten, zurückzu¬ 
gehen sein. Die Säulen, auf welchen auch die soziologische Verwertung 
neuerer Sexuallehren ruht, sind die Theorie der Verdrängung und der poly¬ 
morphen Sexualität des Kindes. Von ihrer Haltbarkeit hängt die Sicherheit 
des weiteren Aufbaues ab. 

Um die Lehre von der Verdrängung wird seit Jahrzehnten in der Psycho¬ 
pathologie gestritten. Unter Anerkennung eines von Freud durch eine be¬ 
deutende Intuition erfaßten berechtigten Kernes wird die Übertreibung wie 
überhaupt die ganze Art der Begründung der Lehre sehr allgemein abge¬ 
lehnt. Freud selbst hat die Tatsache der Verdrängung aus dem Auftreten 
von „Widerstand“ und „Lückenbildung“ im Zusammenhang des in der Ana¬ 
lyse Vorgebrachten erschlossen. Geht man von irgendeinem „Symptom“ 
im Sinne Freuds analysierend (d. i. im wesentlichen zwanglos assoziieren 
lassend) vor, so kommt man zu Stellen, an welchen der Strom des Vor¬ 
gebrachten unter mehr oder weniger lebhaften Abwehräußerungen des Unter¬ 
suchten stockt. Diese Erscheinungen werden auf die Wirkung der Ver¬ 
drängung, welche hier angeführte pathogene Tatsachen im Unbewußten 
zurückhalten soll, bezogen. Es ist genugsam dargetan worden, daß diese 
„Beweisführung“ höchst mangelhaft ist, daß es viele andere Hemmungen im 
Laufe des seelischen Geschehens gibt als Verdrängung, daß aus Lücken¬ 
bildung und Widerstand weder im Einzelfalle noch allgemein eine Wirkung 
von Verdrängung erschlossen werden kann und daß es auf solche Weise, falls 
es eine Verdrängung geben sollte, nicht gelingen kann, das Verdrängte auf¬ 
zufinden. In Wahrheit ist der Tatbestand dieser, daß im Anschluß an ein 
Symptom (z. B. ein auffälliges Vergessen) zwanglos assoziert, sobald Lücken 
auftreten, besonders gedrängt („Widerstand überwunden“) wird und dann 
nach Gutdünken und Einfühlung in die Gesamtsituation ein bestimmter Tat- 


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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw. 


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bestand als „verdrängt“ und ätiologisch fdr das zu erklärende Symptom 
erachtet wird. Als Beispiel für die Art des Vorgehens sei auch hier auf den 
von Freud berichteten Fall des Vergessens des Wortes „aliquis“ in dem Vers 
„exoriare aliquis usw.“ hingewiesen. Im zwanglosen Assozieren gelangt der 
„Analysierte“, welcher das Wort aliquis plötzlich zu seinem Erstaunen ver¬ 
gessen hat, über verschiedene Mittelglieder (a-liquis-liquid-fluid) schließlich 
zu der Erinnerung der ausgebliebenen Periode der Geliebten. Dieser im 
Unbewußten wirkende Tatbestand wird als ätiologisch für das Vergessen 
des aliquis angesehen. Es kann unter Hinweis auf frühere umfassendere 
Darlegungen genügen, in diesem Zusammenhang zu betonen, wie frag¬ 
würdig eine solche Begründung der Lehre von der Verdrängung 
und der Art der Aufdeckung des Verdrängten ist. 

Diese Sachlage wird auch nicht dadurch geändert, daß auf die Beseitigung 
von krankhaften Symptomen, auf „Heilungen“ verwiesen wird. Heileffekte 
bei psychisch-nervösen Störungen können auf sehr verschiedene Weise — vor 
allem suggestiv bedingt — entstanden sein. Ein Schluß auf die Richtigkeit 
der Theorie eines therapeutischen Vorgehens kann aus seiner etwaigen thera¬ 
peutischen Wirksamkeit nicht gemacht werden. 

Sehr viel schlimmer noch als mit der Begründung der Prinzipien der ein¬ 
fachen allgemeinen Analyse steht es mit denen des besonderen Verfahrens 
in ihr, welches als Deutung bekannt ist. Die aus dem Unbewußten kom¬ 
menden Auswirkungen geschehen ja nach Freud unter „Zensur“, in einer 
Maske. Das in der Analyse zutage geförderte Material muß dementsprechend 
der symbolischen Geheimsprache, welche die Zeichen höchster Denkleistung 
an sich tragen soll, entkleidet, „gedeutet“ werden. Diese Deutung geschieht 
nun, wie bekannt, nach sehr einfachen, dem Mechanismus der Zote ent¬ 
nommenen Maximen. 

Auch Freud kennt jetzt eine fixe Symbolik sehr primitiver Art. Wie 
sie wissenschaftlich fundiert ist, bleibt allerdings immer noch, trotz aller 
Vorhaltungen, im Dunkel. Es kann kurz gesagt werden, daß dieser Teil der 
Lehre in eine geistlose, gänzlich unkritische und tiefstehende Kombinatorik 
ausgeartet ist. Es hat noch kein Mensch begreiflich gemacht, daß wir ein 
Recht haben, Bleistift, Feder, Lampen, Hängelampen, Fontänen, Luftschiffe, 
Schmuckkästchen, Dosen, Koffer, Maschinen, Landschaften usw. schlankweg 
als männliche oder weibliche Genitale zu deuten. Dabei wird nicht bestritten, 
was ja von nichtanalytischen Forschem dargetan ist, daß etwa Reize in der 
Genitalsphäre nicht auch die Traumvorstellung eines Fliegevorgangs asso¬ 
ziativ hervorrufen könnten. Aber für die Lehre von der symbolischen Ziel¬ 
strebigkeit des Traumes als Erfüllung unbewußter Wünsche (Ödipuskomplex) 
und gar für die Lehre einer feststehenden Traumsymbolik, die mit Hilfe eines 
analytischen Lexikons glatt zu deuten sei, fehlt jeder Anhaltspunkt. Diese 
Teile der psychoanalytischen Lehre können in theoretischer Hinsicht nur als 
ein beschränkter Aberglaube, in praktischer als die Einübung einer einseitigen 
Vorstellungsgymnastik gekennzeichnet werden. 

Aber abgesehen von diesen Absurditäten im Einzelnen — die Freud’sche 
Lehre alsGanzes, so viel suggestiv und geradezu hinreißend wirkende Züge 
sie enthalten mag — ermangelt des Fundaments und erweist sich in der Tat 
dem prüfenden Blick als haltlos in ihrem Gesamtaufbau. Die für Freuds 
Lehre entscheidende Konzeption des Unbewußten ist erfahrungs- und 


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wirklichkeitsfremd gestaltet. Dieses ist gedacht wie ein Raum für sich, 
eine Sondersphäre höchster Vitalität, in welche das verdrängte Sexuelle hinein¬ 
gebannt ist, um von dort aus ins Bewußte wirkend ein höchst fatales, stür¬ 
misches, zielbewußtes Gespensterdasein zu führen. Dabei wird, was in diesen 
Raum verdrängt wird, als den Gesetzen des bewußten Lebens entrückt ge¬ 
dacht. Es steht über der Zeit, verfällt der „Usur“ des Vergessens nicht 

Es muß demgegenüber festgehalten werden, daß wir aus empirischen Grund¬ 
sätzen heraus keine Möglichkeit haben, uns ein solches „metapsychologisches“ 
(der Ausdruck stammt von Freud) Unbewußtes zu denken. Auch aus em¬ 
pirischen Gründen heraus nimmt die Psychologie ein Unbewußtes als Spur 
des Erlebten, als Anlage zum Neuerleben an. Für ein Unbewußtes aber, das 
alle Zeichen bewußten Geschehens höchster Valenz trägt, aber doch in einem 
Sonderraum, vom Bewußtsein abgetrennt, ein zeitloses Dasein führt, für eine 
solche Fiktion finden sich keine Möglichkeiten erfahrungswissenschaftlicher 
Begriffsbildung. Auch die posthypnotische Suggestion, auf welche von der 
Psychoanalyse zurückgegriffen wird, kann diese Auffassung nicht stützen. 
Der posthypnotischen Suggestion kann zwar trotz evtl, energischer Wirksam¬ 
keit durch entsprechenden Befehl des Suggestors für kürzere oder längere 
Zeit die Fähigkeit, bewußt erinnert zu werden, genommen sein. Außerhalb 
der Gesetze des allgemeinen psychischen Geschehens befindet sie sich aber 
nicht. Auch sie verliert ihre Kraft, blaßt ab und verfällt dem Vergessen. 

Gilt diese Ablehnung gegenüber der Lehre vom Unbewußten, welche 
Freud gibt, gemeinhin, so wird die Auffassung des Unbewußten als einer 
sexuellen Wesenheit von ihr noch besonders getroffen. Die Lehre von 
der infantilen Sexualität und der Pansexualismus der Freudschen Theorie 
müssen in den wesentlichsten Zügen als Produkte einer phantastischen Kom¬ 
bination beurteilt werden. Die Behauptungen gründen sich fast durchweg 
auf Unterlagen, deren Mangelhaftigkeit in den vorübergehenden kurzen Aus¬ 
führungen andeutend dargelegt wurde. Das allermeiste ist nicht beobachtet, 
sondern erdeutet. 

Trotz dieser Sachlage ist es nicht angängig, sich mit der einfachen allge¬ 
meinen Ablehnung der Lehre von der polymorphen Perversität des Kindes 
zu begnügen. Die Einzelheiten des Entwurfes Freuds von der sexuellen 
Entwicklung müssen gleichfalls geprüft werden, weil es doch sein könnte 
und in der Tat so ist, daß in ihm richtige Beobachtungen enthalten sind, 
wiewohl der Entwurf in seiner Gesamtheit, insbesondere das Theoretische 
in ihm, nicht haltbar ist. Hier interessieren zunächst die angeblichen Be¬ 
ziehungen zwischen Sexualverdrängung und psychischen Anomalien. Nach 
Freud wurzelt die krankhafte Angst in der Verdrängung. Die Angst 
wieder kann Triebfeder aller möglichen abwegigen Symptome werden; in 
der Zwangsneurose heftet sie sich an Vorstellungen, welche zunächst mit 
den eigentlich ätiologischen verdrängten Inhalten keinen inneren Zusammen¬ 
hang haben. Und Blüher hält unserer Gesellschaft das Unrecht vor, das 
sie begehe, wenn sie die Invertierten zwinge, ihre Sexualität zu ver¬ 
drängen. 

So sehr nun der Zusammenhang von Sexualität und Angst von Freud 
und seiner Schule übertrieben worden ist, so unberechtigt vor allem die 
Neigung ist, krankhafte Angst immer auf „verdrängte“ Inhalte zu beziehen, 
so müssen doch einige Bemerkungen zu den Beziehungen von Sexualität 


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Neuere Anschauungen Uber das Wesen sexueller Anomalien usw. 


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und Angst hier gemacht werden. Freud hat das Bild einer Angstneurose 
beschrieben, welche dadurch entstehen soll, daß sexuelle Spannungen und 
Erregungen gesetzt, aber nicht gelöst und befriedigt werden. Dieser Angst¬ 
neurose müßten also die Blüherschen Helden, welche durch unsere Gesell¬ 
schaftsordnung gehindert werden, sich sexuell-invertiert auszuleben, epidemisch 
verfallen. — Nicht psychoanalytisch eingestellte Beobachter (so Herz, Erb) 
haben auf den Zusammenhang von sexueller Spannung, unbefriedigter Liebes- 
sehnsucht u. ähnl. und nervösen Herzsymptomen und Beklemmungs¬ 
zuständen ebenfalls hingewiesen. Auch andere Tatbestände dürfen dem 
Pädagogen nicht unbekannt bleiben. Gelegentlich hören wir von neuro- 
pathischen Kindern und Jugendlichen, daß sie in der Angst, z. B. vor einer 
Prüfung, sogar wenn sie zur Prüfung aufgerufen werden, beginnen zu ma¬ 
sturbieren. Mit der darauffolgenden Erschlaffung schwinde die Angst Andere 
berichten sogar, daß es unter der Angst von selbst zum Orgasmus komme. 
Hierher gehört auch die Erfahrung, daß die Masturbation bisweilen als Schlaf¬ 
mittel benutzt wird. 

Allein die hier angeführten Tatsachen sind doch keine Stütze für die 
Lehre von der Umwandlung von verdrängter Sexualität in Angst. Sie zeigen 
nur, daß sexuell betonte Spannungszustände einen angsthaften Charakter ge¬ 
winnen und umgekehrt allgemeine Spannungs- und Erregungszustände Er¬ 
regungen der sexuellen Sphäre setzen können. Die Angstneurose Freuds 
ist keine einheitliche Krankheit. Entsprechende Symptome kommen’ in 
Krankheit8bildem vor, welche keinerlei sexuelle Ätiologie haben. Zuzu¬ 
geben ist, daß, wenn bei labilen Persönlichkeiten sexuelle Erregungen ge¬ 
setzt und nicht gelöst werden, nervöse Symptome — übrigens nicht sehr 
belangvoller Art — entstehen können. Hier hat eine entsprechende psychische 
Hygiene entgegenzuwirken. Andererseits ist durch vielfache Erfahrungen 
gezeigt, daß gesunde Individuen männlichen und weiblichen Geschlechts 
sexuell abstinent leben können, ohne nervenkrank zu werden. 

Was nun die Natur der Homosexualität anlangt, so ist sowohl der 
Lehre Freuds wie insbesondere denen seiner soziologischen Nachfolger auf 
das entschiedenste entgegenzutreten. Freuds Auffassung der Homosexualität 
steht und fällt mit seinem allgemeinen Entwurf der sexuellen Entwicklung 
von der polymorphen Perversität zur Tendenz zum andern Geschlecht Auch 
für Freud steht der Homosexuelle an sich in der Nähe der Psychopathen 
und Neurotiker. Perversion und Neurose verhalten sich ihm wie Positiv und 
Negativ. Blüher will diesen pathographischen Gesichtspunkt ausschalten. 
Er, wie andere Vorkämpfer für die Homosexualität, erklären die Inversion 
nur für eine Spielart erotischer Empfindung und Betätigung, welcher gerade 
die höchstwertigen Menschen verfallen. Wer Gelegenheit hat, viele „Inver¬ 
tierte“ zu sehen und sie unbeirrten Blickes zu prüfen, wird sich dieser An¬ 
schauung nicht anschließen können. Insbesondere wird der nüchterne Be¬ 
obachter bei den .als „Vollnaturen“ angehimmelten Gegenständen invertierter 
Neigung im allgemeinen gerade die Züge vermissen, welche der Bewertung 
als „Kraftzentrum“, „Urbild der Gesundheit“ Berechtigung geben könnten. 
Als Kraftzentren imponieren die „Männerhelden“ nur solchen Persönlichkeiten, 
welche infolge abnormer Veranlagung der Sexualüberschätzung des gleichen 
Geschlechts verfallen und für Gleichgeschlechtliche schwärmen. Dem Un¬ 
beteiligten erscheinen die Kraftnaturen oft als Schwächlinge; selten fehlen 


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jene Züge süßlichen Oberschwangs, welche Nicbtinvertierten ästhetisches 
Unbehagen und Ekel hervorrufen. 

Weiterhin ist aber eindringlich zu betonen, daß die Homosexuellen 
keineswegs nur Abweichungen der sexuellen Sphäre darbieten. Bei genauerer 
Prüfung finden sich durchweg bei ihnen auch Anomalien auf anderen Ge¬ 
bieten des Gefühls- und Willenslebens, welche sie als Psychopathen gemein¬ 
hin kennzeichnen. Sie unterscheiden sich hierin in keiner Weise von anders¬ 
artig geschlechtlich Perversen. 

Besonders hervorzuheben ist ein der invertierten Erotik sehr wesentlicher 
Zug, welcher sie als abwegig und pervers im Sinne der „Pathographie“ von 
der Sexualität der Normalen unterscheidet: Ich meine hier das Verhalten 
gegenüber der Jugend. Daß Heterosexuelle sich an Kindern vergreifen, ist 
nach den bisher zu machenden Erfahrungen glücklicherweise noch nicht 
Norm. Für die Vollinvertierten gehört aber die Knabenliebe zur Essenz 
der Erotik. 

Diesen Kraftmenschen ist es neben ihren mannigfachen anderen erotischen 
Wünschen auch öfters ein Bedürfnis, einen schönen Knaben zu sich zu 
nehmen. Und in welchem Maße sich bei der Schilderung der sexuellen Be¬ 
ziehungen zu Jugendlichen bezw. Knaben in den hier behandelten Schriften 
Schamlosigkeit und Mangel an Gewissen offenbaren, war auch dem mit den 
Krankengeschichten Degenerierter Vertrauten eindrucksvoll. 

Daß Kinder und halbe Kinder dem Zugriff der Inversion schutzlos darge¬ 
boten werden, daß Wandervogel- und ähnliche Bünde als Harem die Jugend¬ 
lichen für die „Kraftzentren“ zur Verfügung stellen sollen, scheint diesen 
neuen Staatslehrern damit gerechtfertigt, daß hier den Jugendlichen die 
„rettende“ Tat zufällt, die hochwertigsten Menschen vor Neurose zu bewahren. 
Verknüpft wird freilich hiermit noch die Lehre, daß von einer Verführung 
der Jugendlichen nicht gesprochen werden könne, da sie sich ja ohnedies 
als „dem Manne verfallen“ erweisen. 

Wie es nun mit der Behauptung steht, daß der Homosexuelle durch Unter¬ 
drückung seiner erotischen Triebe der Neurose verfalle, ist schon geprüft 
worden. Hier muß dem Teil der Lehre besondere Aufmerksamkeit geschenkt 
werden, welcher sich mit der Behandlung Jugendlicher durch Erwachsene, 
vielmehr mit dem, was sich Erwachsene Jugendlichen gegenübei sollen er¬ 
lauben dürfen, beschäftigt. Die Beweisführung ist offenbar die, daß ja schon 
die Kinder ihre perverse Sexualität haben, daß die Entwicklung unentrinn¬ 
baren Gesetzen folge und daß, wenn es zu Betätigungen kommt, hier nur 
reife Früchte aufgelesen, keine Schädigungen zugefügt, im Gegenteil Jugend¬ 
liche vor der Neurose bewahrt werden. 

Diese Anschauung mag den homosexuellen Theoretikern sehr gelegen sein, 
sie ist nichtsdestoweniger von Grund aus falsch. Tausendfältige Erfahrungen 
lehren, daß die Jugend in ihren sexuellen Strebungen bestimmbar 
ist, daß homosexuelle Neigungen aus entsprechender Betätigung und An¬ 
leitung erst erwachsen, daß kurz gesagt, perverse, besonders homosexuelle 
Beispiele in der Jugend äußerst ansteckend wirken können. Die Lehre von 
der angeborenen Vollinversion schwebt eben in der Luft. Die neuerdings 
hierfür in Anspruch genommenen Lehren von der inneren Sekretion, neuere 
Transplantationsversuche u. ähnl., haben bisher keinerlei sichere Unterlagen 
für die Beurteilung der Frage nach der Entstehung der Homosexualität ge- 


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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw. 


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liefert Nach dem heutigen Stand unseres Wissens können wir nichts an¬ 
deres sagen als: Die Homosexuellen sind sexuell bestimmbare 
Psychopathen, deren Sexualstreben und -betätigung im Laufe 
der Entwicklung in die abwegige Bahn geraten ist. 

Sehr unberechtigt ist der zur Verteidigung der Lehre von der angeborenen 
Homosexualität übliche Hinweis, daß die „geborenen“ Homosexuellen von 
Kindheit auf nie andere erotische Regungen empfunden hätten als „inver¬ 
tierte“. Derartige Angaben erhalten wir von sexuell Pervertierten mannig¬ 
fachster Art in oft nicht weniger glaubwürdiger Weise als bei den Homo¬ 
sexuellen. Es kann aber wohl nicht davon gesprochen werden, daß, wie 
der Homosexuelle eine „anima muliebris in corpore virili“ haben soll, so 
etwa ein Schuhfetischist durch Geburt eine Seele, die gerade an Schuhen 
ihre geschlechtliche Befriedigung finden müsse. Es ist eben durchweg so, 
daß wir bestimmbare Individualitäten vor uns haben, deren sexuelle Ent¬ 
wicklung öfters in frühester Jugend in bestimmte Abwege gerät 

Jedenfalls ist die unverrückbare Tatsache festzustellen, daß man Kinder und 
Jugendliche homosexuell infizieren und für ihr Leben homosexuell machen 
kann. Die Geschichte, besonders die des klassischen Altertums, liefert ein¬ 
dringliche Beispiele allgemeinerer homosexueller Verseuchung. 

Weil dieser Tatbestand unzweifelhaft ist, daß man Jugendliche künstlich 
pervertieren kann, ist es ernsteste, unabweisliche Pflicht aller der, welchen das 
Wohl der Jugend am Herzen liegt, vor allem der, denen es anvertraut ist, 
alle Bestrebungen, welche darauf abzielen, unsere Jugend mit homosexueller 
Vergiftung zu infizieren, sorgfältigst zu überwachen und, unter welcher Be¬ 
mäntelung sie auch erscheinen mögen, unnachsichtlich zu unterdrücken. 
Ein Schwanken darf es hier nicht geben; insbesondere werden wir uns 
keinen Dunst vormachen lassen durch die beweglichen Klagen, daß die „Voll¬ 
invertierten“ für ihren „großen Beruf“ in der „männlichen Gesellschaft“ 
unbrauchbar gemacht würden, wenn man ihnen nicht genügende sexuelle 
Betätigung gestatte. Wir haben bereits gesehen, was wir sowohl von der 
’ Rolle der Vollnaturen überhaupt, wie von der Lehre, daß sie durch sexuelle 
Zurückhaltung Jugendlichen gegenüber neurotisch werden, zu halten haben. 
Aber selbst, wenn es so wäre, wie es sicherlich nicht ist, so besteht kein 
Zweifel, daß es der Staat mit erheblich geringerer Erschütterung 
und Schädigung seines inneren Wertes hinnehmen würde, daß 
seine sämtlichen „Kraftzentren“ neurotisch würden, als daß seine 
Jugend entwürdigt und geschändet wird. 

Nirgends enthüllt sich die wahre Tendenz der neuen Staatslehre so sehr, 
als an den Stellen, wo für die Freiheit der Sexualbetätigung des Homo¬ 
sexuellen — seil, der Sexualbetätigung an Jugendlichen — gefochten wird. 
Freud, der ja immer den Ausgangspunkt der weiteren Folgerungen bildet, 
weicht hier in seinen theoretischen und praktischen Lehren erheblich von 
diesen seinen Nachfolgern ab. Ganz abgesehen von dem „pathographischen“ 
Standpunkt, welchen er gegenüber der Homosexualität einnimmt, hat er sich 
schon vor längerer Zeit „wilden“ Psychoanalytikern gegenüber dagegen ver¬ 
wahrt, daß die Lösung der Verdrängung etwa einfach in einem schrankenlosen 
„Sichausleben“ verstanden werden dürfte. Eine besondere Rolle wird von 
Freud hier der „Sublimierung“ zugeschrieben. Unter diesem Namen be¬ 
greift Freud, wie schon früher angedeutet, einen Vorgang, durch welchen 

Zeitschrift f. pBdagog. Psychologie. 22 


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Triebkräfte von sexuellen Zielen abgelenkt und auf sozial höher und höchst 
stehende, nicht mehr sexuelle gerichtet werden sollen. Aber abgesehen von 
diesem Verwandlungsvorgang will Freud auch noch eine andere Erledigung 
verdrängter Triebe betätigt sehen. Man erkenne die Verwerfung pathogener 
Regungen als zu Recht bestehend an, ersetze aber „den automatischen und 
darum unzureichenden Mechanismus der Verdrängung durch eine Verurteilung 
mit Hilfe der höchsten geistigen Leistungen des Menschen; man erreicht 
seine bewußte Beherrschung.“ 

Es ist nun nicht so, daß Blüber diese Lehren nicht gelegentlich berührte 
und auch für die Vollinvertierten zugestände. Praktisch liegt aber doch 
der Hauptwert auf der Vermeidung der Züchtung des Typus neuroticus durch 
Freigabe des „Harems“. Wohlgemerkt: der Harem sind Knaben und Jugend* 
liehe. Es bleibt eben kennzeichnend für die intellektuelle und moralische 
Verfassung der neuen Staatslehrer, daß sie die Achtung vor der Unberührtheit 
der Kindheit und Jugend, die Zurückhaltung von der sexuellen Berührung 
der Jugend nicht kennen. Auf diesen Punkt muß auf das eindringlichste 
hingewiesen werden, kein tönendes Gerede darf hierüber hinwegtäuschen. 
Es handelt sich um nichts anderes als die planmäßige Pervertierung der 
Jugend, um eine gemeine und schamlose Ausnützung der Hilflosigkeit der 
Jugend zur Befriedigung niedriger Triebregungen. Es ist keine Kunst, die 
Jugend in der Pubertät, welche in ihrer Unausgeglichenheit neuen stürmischen 
Affekten gegenüber noch nicht genügend zügelnde Kraft besitzt und des¬ 
halb in mancher Richtung hilfloser ist als die frühe Kindheit, in ent¬ 
sprechender Umgebung für entsprechende Zwecke reif werden zu lassen. 
Hier gilt es, falschen Volksbeglückern die Larve vom Gesicht zu reißen und 
erbärmliche Jugendvergifter an den Pranger zu stellen und unschädlich za 
machen. 

Es ist nicht unwichtig, den Mechanismus noch etwas genauer zu prüfen, 
welchen die systematische Pervertierung benutzt, um ihre Bestrebungen zu 
bemänteln. Im Anschluß an die Lehre von der Verdrängung wird von der 
Peinlichkeitsschwelle gehandelt, welche um die Sexualität auf gerichtet ist Der 
„Faun“ und die „invertierte Vollnatur“ haben sie überwunden. Sie betätigen 
sich nicht als Wollüstige, sondern als autonome Herren ihres erotischen Er¬ 
lebens. Es dürfte aber nicht ganz leicht sein, Wollüstling und Vollnatur, 
Peinlichkeit und Scham durch eine scharfe Linie zu trennen. Soll es der 
Vollnatur gegeben sein, Scham nicht zu kennen? Die neue soziologische 
Theorie sollte, da sie sich so sehr naturwissenschaftlich verbrämt gibt, wissen, 
daß — auch rein biologisch-rassenhygienisch gewertet, von anderen Wer¬ 
tungen abgesehen — dem Schamgefühl eine außerordentliche Bedeutung zu¬ 
kommt. Freilich ist es nicht gerade die Fortpflanzung, auf welche nach 
diesen Jugendbildnem der Geschlechtstrieb hinzielt. Diese ist für die „Voll¬ 
naturen“ nur bestenfalls eine Nebenaufgabe in der „Herde“. Die Leistungen 
und Freuden des Männerbundes haben bei ihnen eine ganz andere Ein¬ 
schätzung. 

Damit berühren wir nochmals die Stellung, welche die homosexuelle 
Soziologie der Familie zuweist Sie hat nach dieser keine andere Auf¬ 
gaben als die, die körperliche Fortpflanzung zu sichern; geistige Werte 
sollen in ihr nicht entspringen; sie sei nur die Vorstufe der Herde. Wer, 
nicht durch den Dienst für eine schlechte Sache verblendet, die Bedeutung der 


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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw. 


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Familie für die Entwicklung der Menschheit zu beurteilen sucht, wird zu 
anderen Ergebnissen gelangen. 

In Wahrheit ist die Familie die Stätte, in welcher die geschlechtlichen Be¬ 
ziehungen der Menschen die größtmögliche Veredelung gefunden haben, und 
nur in ihr können sie solche finden. In der Familie verbindet sich das 
Liebes- mit dem Fortpflanzungs- und Erziehungsgeschäft In ihr 
betätigen und entfalten sich sittliche Pflichten nicht nur der sich Ver¬ 
einigenden gegeneinander, sondern der Erzieher gegen das Kind. 
FQr das Kind aber ist bisher in der Menschheit noch keine 
bessere Stätte gefunden worden als die vom Bewußtsein sittlicher 
Pflichten erfüllte Familie. In ihr, und zwar am reinsten in der 
Familie der Einehe, ruhen die Tugenden, die nicht die Herde, 
sondern den Staat aufbauen und erhalten. 

Dabei wird nicht verschleiert, daß hier dem menschlichen Handeln Auf¬ 
gaben gesetzt sind, welche in der Schwierigkeit der äußeren Umstände, in 
den Stürmen der Leidenschaften, dem Konflikt der Pflichten oft nur allzu 
unvollkommen erfüllt werden. Aber wie fadenscheinig ist diesem Aspekt 
irdischer Unzulänglichkeiten gegenüber das Losungswort des „Faunentums“, 
wie abgeschmackt die Theorie „von Gattin und Hetäre“ und dem „Sakrament“ 
der „Mehrehe“; welch ein jämmerlicher Tiefstand ästhetischen Empfindens — 
von Ethischem gar nicht zu reden — offenbart sich in der Propaganda für 
die „ehrfürchtigen und schweigsamen Träger des Geistigen“, welche bestimmt 
sind, die Jungfrauen von der Jungfrauschaft zu „erlösen“. Hier bereitet 
eine erbärmliche geistige Prostitution die körperliche vor. 

Aber wenn wir somit den biologischen und sittlichen Wert der Familie für 
das Gemeinwesen herausheben, so übersehen wir Schwächen, die auch 
ihr anhaften, nicht. 

Insbesondere muß zugestanden werden, daß oft die Sorge des Familien¬ 
vaters um Weib und Kind von höchsten Leistungen für die Gesamtheit ab¬ 
lenkt. Hier muß der Einzelne die Schwierigkeiten dieser Welt auskosten 
und die Konflikte lösen, wie es ihm seine Kräfte gestatten. Nicht wenige 
Menschen höchsten Wertes haben deshalb auf die Gründung einer 
Familie verzichtet, um dem, was sie für ihre vornehmste Pflicht hielten, 
leben zu können; ebenso wie religiöse Gemeinschaften aus solchen Gründen 
den Verzicht auf Gründung einer Familie zugleich mit dem Verzicht auf das 
Liebesieben überhaupt von ihren Mitgliedern verlangen. 

Haben alle diese darum die Kraft für ihr Wirken aus der Erotik der männ¬ 
lichen Gesellschaft gezogen? 

Diese Behauptung ist lächerlich und kann durch keine Gedankenakrobatik 
aufrecht erhalten werden. Nicht nur die Lehre von der infantilen Sexualität, 
von der „Vollinversion“ als „Kraftzentrum“ ist von Grund auf falsch, nicht 
minder hinfällig ist die Unterstellung des erotischen Untergrundes, den alle 
männlichen Gemeinschaften haben sollen. Wenn Männer sich zum Schaffen 
vereinigen, so ist das kein erotisches Geschehen; hier wird aus dem Begriff 
des Erotischen und Sexuellen gemacht, was man gerade will. 

In der neuen Soziologie werden viele, viele Druckseiten für die Erörterung 
dieses Begriffes in Anspruch genommen und entgegenstehende „verwissen¬ 
schaftliche“ Auffassungen mit Hohn bekämpft. Herausgebracht wird aber 
ein gänzlich unbestimmtes kautschukartiges Wesen, das man dehnen und 

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zusammengeschrumpft lassen kann, wie es beliebt. Und da auch diese De* 
finiertechnik für die Begründung des Vorgebrachten nicht zulangt, wird zuletzt 
auf die Deutung im Freudschen Sinne zurückgegangen, eine „Kunst“, welche 
man in früheren geistvolleren Ansätzen zwar als falsch bekämpfte, aber noch 
mit einigem Interesse verfolgen konnte, welche aber inzwischen zur ödesten 
Plattheit entartet ist. Und bo haben wir es heute nicht mehr nötig, uns auf 
langatmige Diskussionen einzulassen, sondern bezeichnen es als gänzlich 
unbegründeten Unsinn, daß etwa der „Stammtisch“ einen symbolischen Ersatz 
für eine homosexuelle Betätigung darstellt, oder daß der „Freund“ derjenige 
ist, der unser „Liebling“ geworden wäre, wenn wir „vollinvertiert“ wären 
und vieles andere von ähnlichem Niveau. Für die Tatsache ferner, daß der 
Frau in der Gemeinschaft der Schaffenden nicht die gleiche Bedeutung zu¬ 
fällt wie in der Familie — ausgeschaltet ist sie auch bei den „Schaffenden“ 
keineswegs — wird der Unbefangene andere Gründe ausfindig machen, als 
der von der „männlichen Erotik“ hypnotisierte. 

Auch bei der Erörterung wichtiger gesellschaftlicher Einrichtungen der 
Primitiven („Männerhäuser“) wird man dann nicht zu den künstlichen Kon¬ 
struktionen der homosexuellen Soziologie zu greifen brauchen. 

Es kann also zusammengefaßt werden: 

Dieser homosexuelle Heldengesang hat keinen wissenschaftlichen 
Grund. Er ist haltlos und voll von grotesker Willkür. Er ist prak¬ 
tisch nichts anders als die Bemäntelung einer sehr gefährlichen 
planmäßigen Ansteckung mit pervers - sexueller, besonders 
homosexueller Vergiftung, die vor allem auf die Jugend abzielt 
und diese erheblich gefährdet. 

Will man diese äußerst gefährliche und raffinierte Werbung für homosexuelle 
Betätigung wirksam bekämpfen, so werden ihre geistigen Grundlagen ein¬ 
gehend gekannt und geprüft sein müssen. Wesentlich für die Art des Vor¬ 
gehens dieser Jugendbeglücker ist, daß sie es verstehen, bei den in der 
Entwicklung befindlichen jungen Menschen ideelle und grob triebhafte 
Regungen zu gleicher Zeit in Bewegung zu setzen und auf den gleichen 
Gegenstand zu vereinigen. Aufbau des Staates durch den Männerbund und 
männlicher Eros sind Schlagworte, welche sehr geeignet sind, in heranreifenden 
Knaben eine Art von Rauschzustand hervorzurufen und dem Verführer seine 
niederträchtige Arbeit zu erleichtern. 

Es ist in den vorhergehenden Darlegungen der Versuch gemacht worden, 
darzutun, wie die Lehre vom Männerbund frühere psychoanalytische Lehren 
fortsetzt, zum Teil auch zum Zwecke homosexueller Werbung umgestaltet. 
Und es ist versucht worden unter sachlichen Gesichtspunkten die Unhalt¬ 
barkeit des Vorgetragenen nachzuweisen. Zum Schluß aber muß der prüfende 
Blick sich nochmals der Psychoanalyse selbst zuwenden, welche es nun 
tragen muß, daß so absurde und unsaubere Machenschaften sich nicht gänz¬ 
lich ohne Recht auf sie berufen. 

Die erste Unklarheit, die hier ausgenützt wird, liegt in dem Begriff der 
Verdrängung. So sicher in diesem wichtige empirische Tatsachen ein¬ 
geschlossen sind, sö wenig bestimmt und abgegrenzt ist er bei Freud selbst 
Besteht doch in dessen Lehren gelegentlich Zweideutigkeit, ob es sich nur 
um einen psychischen oder nicht auch um einen organischen Vorgang handle. 
Aber auch die Trennung zwischen dem automatischen Vorgang der Ver- 


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Neuere Anschauungen Aber das Wesen sexueller Anomalien usw. 


341 


drängung ins Unbewußte und der bewußten Verurteilung ist nicht klar und 
bestimmt genug, wiewohl gerade hier ein richtiger Kern vorhanden und noch 
herauszuarbeiten ist. Diese Unsicherheit sahen wir bei Blüher in den Er¬ 
örterungen über Peinlichkeit (Scham) ausgenützt. Es muß aber demgegen¬ 
über daran festgehalten werden, daß Peinlichkeit und Scham keineswegs zur 
Verdrängung führen müssen, daß sie vielmehr ganz im Gegenteil berufen 
sind, sehr positive, bewußte, wenn auch nicht berechnete Folgen zu zeitigen. 

Aber auch die Begriffsbestimmung der „Sublimierung“, in welcher 
infantile (letzten Endes sexuelle) Wünsche auf ein höheres nicht sexuelles 
Ziel geleitet werden sollen, verhüllt mehr ein Problem, als sie es der Lösung 
näher bringt. So sind auch die psychoanalytischen Lehren über die Be¬ 
ziehungen von Wunsch, Traum, Kunst, Mythos und Religion nicht nur schlecht 
begründet, sondern auch durch die Unklarheit, in welcher zugleich affektiv 
mitreißende Momente wirksam werden, für jugendliche Gemüter gelegentlich 
. ebenso anziehend wie von unerfreulicher Wirkung. 

Oberhaupt erscheint der Hang zur Psychoanalyse, welcher zurzeit auch 
bei den Pädagogen etwas reichlich einzutreten droht, nicht unbedenklich für 
die Erreichung der Ziele, die der Erziehung wirklich gestellt sind. Der Päd¬ 
agoge soll den ihn zur Erziehung Anvertrauten kennen, verstehen und mit 
ihm fühlen. Psychoanalyse aber ist etwas anderes als die Beobach¬ 
tung und Einfühlung des Lebens und der Wissenschaft. Sie setzt bei 
Beobachtetem und Beobachter einen dauernden Zustand des sich 
selbst Zergliederns; und nicht nur dieses, sie verquickt Beobachtimgen 
dauernd und ohne Sonderung mit Reflexionen und sehr klügelnden Schlüssen. 
Dem einfühlenden Takt des Pädagogen gegenüber, welcher etwas Unmittel¬ 
bares ist, ist diese Einstellung ein sehr gekünsteltes, das natürliche Ver¬ 
hältnis zwischen Lehrer und Schüler im hohen Maße störendes Geschehen. 
Für den Schüler aber bedeutet sie eine systematische Zerstörung der Naivität, 
eine lebensfremde, unnatürliche, reflektierende Beschäftigung mit sich selbst, 
welche niemanden weniger ansteht und niemanden weniger frommt als gerade 
der Jugend. Wer psychoanalysierte Jugendliche mit unvoreingenommenem 
Blick beobachtet, wird sich diesem Urteil wohl anschließen. Dabei meine 
ich hier nur die psychoanalytische Einstellung an sich, nicht den unsinnigen 
sexualpsychologischen Aberglauben, mit welchem Kinder und Jugendliche 
erfüllt werden sollen. 

Aber abgesehen von diesen ihr an sich anhaftenden Bedenklichkeiten der 
Psychoanalyse darf nicht vergessen werden, daß sie die Grundlage für 
den geistigen Ausbau der systematischen Pervertierung der Ju¬ 
gend bildet. Will man diese bekämpfen, so wird man mit der Klarlegung 
der psychoanalytischen Grundirrtümer beginnen müssen. Darüber 
hinaus wird es notwendig sein, Eltern und Erzieher über den Inhalt der 
Lehren der perversen und pervertierenden Propheten aufzuklären und alle 
die, welchen das Wohl der Jugend anvertraut ist, instand zu setzen, den 
Vergiftern der Jugend wirksam entgegenzutreten. 

Der Staat muß aber auch darüber hinaus eingreifen. Homosexuelle 
Werbearbeit in Wort und Schrift muß unmöglich gemacht werden. 
Homosexuelle Filmvorführungen sind eine öffentliche Schande; sie sind un¬ 
bedingt zu verhindern. Homosexuelle Betätigung an Jugendlichen ist mit 
schweren gesetzlichen Strafen zu belegen. Homosexuelle Lehrer dürfen 


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342 M. Isserlin, Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw. 


niemals Unterricht an Kinder ihres Geschlechts erteilen. Auf die Jugend¬ 
bewegung ist vorsorglich zu achten. Zu „Führern“ sind nur Persönlichkeiten 
geeignet, welche sicher von jeder „Inversion“ frei sind. Und so wenig eine 
Hetzjagd gegen Homosexuelle veranstaltet werden soll, welche unter ihrer 
Anomalie leiden, so sehr muß überall der albernen Überhebung der Kraft¬ 
zentren, welche die höchsten menschlichen Werte in Beziehung zu Homo¬ 
sexualität setzen, entgegengetreten werden. 

Einige Worte noch über sexuelle Entgleisungen der Jugend gemeinhin. 
Sie dürfen nicht von vornherein allzu schwer genommen werden. Weil eben 
die Jugend bestimmbar ist, braucht eine Abirrung noch nicht eine ungünstige 
Prognose in sich zu schließen. Auch zu homosexueller Betätigung verführte 
Jugendliche können durch entsprechende Beeinflussung durch Arzt und Er¬ 
zieher wieder von der Abweichung befreit werden. Mit zunehmendem Alter 
wird allerdings die Aussicht auf das Gelingen einer solchen Korrektur immer 
geringer. Das Wichtigste freilich ist hier, wie überall bei der Bekämp- * 
fung von Anomalien, die Vorbeugung. Wir dürfen unsere Jugend im 
Kampf gegen raffinierte und gewissenlose Verführer nicht allein lassen. 
Achten wir aber auf die Wege dieser dunklen Propheten und legen ihnen 
ihr Handwerk, so werden wir in der gesunden Widerstandskraft unserer 
Jugend den besten Verbündeten in dem Kampf gegen Schmutz und Ver¬ 
derbnis finden. Enthüllen wir die Jämmerlichkeit dieser falschen Freunde, 
so wird das gesunde Empfinden der Jugend das planvoll verbreitete Gift 
schnell aus eigenen Kräften unschädlich machen. 


Die Gefährdung der Jugendbewegung 
durch Blühers Deutung des Wandervogelproblems. 

Von Hans Loewe. 

Durch die Ausführungen der Herren Professoren Kräpelin und Isserlin 
sind Sie über das Wesen und die Bedeutung der homosexuellen Gefahr unter¬ 
richtet worden. Mediziner haben zu Ihnen gesprochen. Nunmehr gilt es, 
die Frage auch von unserem Erzieherstandpunkt näher zu beleuchten. Wenn 
wir Lehrer unserer Jugend verlässige Berater sein wollen, dann müssen wir 
uns vor allem darüber klar sein, welcher Zusammenhang besteht zwischen 
Blühers Schriftstellerei und der Jugendbewegung. Welchen Einfluß übt seine 
Deutung des Wandervogelproblemes als eines sexuellen auf die Jugendbe¬ 
wegung ? Bevor wir uns über die erziehliche Beeinflussung der von der homo¬ 
sexuellen Infektion bedrohten Kinder aussprechen können, müssen wir zu¬ 
erst einmal die Persönlichkeit Blühers und den Charakter seiner Bücher 
kennen lernen. Demgemäß sollen die beiden letzten Vorträge zwei Haupt¬ 
themen behandeln: 

1. Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des 
Wandervogelproblems. 

2. Allgemeine Richtlinien für die erziehliche Beeinflussung der von der 
homosexuellen Infektion bedrohten Kinder. 

Da Blüh er seine Sexualtheorie durch Beobachtung im Wandervogel gewonnen 
hat, so sind wir genötigt, uns zunächst eingehend mit dieser Bewegung und 


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H. Löwe, Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutg. d. Wandervogelproblems 343 


ihrer literarischen Darstellung im WV.-Werk Bltthers zu beschSftigen. Es 
soll aber von vomeherein mit aller Entschiedenheit betont werden, daß der 
WV., abgesehen von kleinen Kreisen, seihet mit aller Bestimmtheit Blüher 
ablehnt, daß das WV.-Werk Blfihers durchaus nicht als eine anerkannte Ge¬ 
schichte dieser Bewegung gelten kann. Wie die Stimmung z. B. in der 
hiesigen Ortsgruppe ist, können Sie aus einem Brief entnehmen, den mir einer 
ihrer Leiter, ein Student, der seit 1911 in der Bewegung steht, geschrieben hat: 
„Wohl hat Blüher Anhänger, aber ich glaube. Ihnen sagen zu können, 
daß unter den tausenden von männlichen Wandervögeln wenig mehr 
mit Blüh er s homosexueller Theorie einverstanden sind, als das Buch 
Seiten hat.“ 

Durch unsere Erörterung soll also nicht in weiten Kreisen der Eltern Mi߬ 
trauen gegen den Wandervogel überhaupt hervorgerufen werden, eine Jugend¬ 
bewegung, die in ihrem Wesen durchaus gesund ist; es soll vielmehr nur 
eindringlich aufmerksam gemacht werden auf die Gefahr, die von Blüher 
und homosexuellen Wandervogelführern ausgehen kann. Nur wenn wir das 
Wesen dieser Gefahr kennen, haben wir die Mittel in der Hand, sie erfolg¬ 
reich zu bekämpfen. Damit ist der Gedankengang des heutigen Vortrags 
klar gegeben. Wir haben uns zu orientieren: 

einmal über die Person Blühers und die Grundtendenz seiner Schrift¬ 
stellerei, 

sodann über den Wandervogel als Teil der Jugendbewegung, 
sein wahres Wesen und die Gründe seines Entstehens, 
endlich über die Entstellung der WV.-Bewegung durch Blühers Deu¬ 
tung des WV. 

Wer ist Hans Blüher? Unsere Jugend lernt ihn kennen entweder litera¬ 
risch durch seine in überraschend großer Zahl verbreiteten Schriften, die in 
dem Verlag von Eugen Diederichs in Jena, bei Kampmann und Schnabel 
in Prien oder im Selbstverlag erschienen sind, oder aber durch seine Vorträge, 
die ja leider, wie Sie sich jederzeit selbst überzeugen können, ein andächti¬ 
ges Publikum von Mädchen, Buben und Studenten anlocken. 

Das WV.-Buch, 3 Bände, das Erstlingswerk des Zweiundzwanzigjährigen, 
ist schon in vierter Auflage erschienen: Die Rolle der Erotik, I. Bd., 10. Tau¬ 
send, II. Bd. 9. Tausend in vier bezw. zwei Jahren. Der 1. Band der Selbst¬ 
biographie erreichte bereits das vierte Tausend, für Ostern 1921 kündigt 
Kampmann an: Die Aristie des Jesus von Nazareth, eine Christologie. 

Orientiert sich die Jugend in der Presse, deren Wert und Bedeutung sie 
natürlich gar nicht beurteilen kann, dann muß ihr Blüher erscheinen als „der 
epochemachende schöpferische Genius, der dem wirklichen Geist Nietzsches 
nahesteht“, als »ein Führer aus den Wirrnissen der Tage, als Nachfolger 
Arthur Schopenhauers, als der geistvolle, in die Tiefe dringende Forscher*, 
ln Eugen Diederichs Zeitschrift „Die Tat“ heißt es von dem Erotikwerk: 
„Blüher gibt Deutungen der elementaren menschlichen Zusammenhänge, die 
weit über alles bisher Geleistete hinausgehend an letztes anknüpfen.“ Der 
Priener Verlag spricht von der vollkommenen Ungebundenheit und dem herben 
männlichen Ernst, mit dem Blüher die als geheiligt geltenden Anschauungen, 
die Säulen der überlieferten Christusidee, stürzt 

Unsere Jugend, durch die Erlebnisse der Revolution und des Krieges viel¬ 
fach aus. dem seelischen Gleichgewicht gebracht, sehnt sich nach Führern, 


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Hans Loewe 


und hier bietet sich ihr in BIQher ein „geborener Führer“, der im Dienst 
der Menschheit sich verzehrt, wobei er unter Menschheit nicht die tatsächliche, 
vorliegende, zufällige Vielheit uon Erdenbewohnern versteht, sondern im 
Sinne unserer großen humanistisch-gesinnten Männer das Maß für das ge¬ 
samt Menschliche 1 )“. 

Wer wie Blüher mit dem Anspruch auftritt, ein geborener Führer zu sein, 
der muß es sich gefallen lassen, wenn wir auf Grund seines persönlichen 
Auftretens und einer genauen Prüfung seiner Schriften die Berechtigung 
eines solchen Vorgehens kritisch würdigen. Wir sind dazu umsomehr sitt¬ 
lich verpflichtet, da auf unserer Jugend allein die Hoffnung einer besseren 
Zukunft unseres Vaterlandes ruht und sie der Führer nicht entbehren kann. 

Es gibt zwei Arten über Blüher zu sprechen; wir nehmen ihn nicht ernst 
und reißen ihm die Larve vom Gesicht: so macht es Professor Plenge in 
seiner Flugschrift „Anti-Blüher“, „Affenbund oder Männerbund“ (Greifen- 
Verlag 1920). Sie ist entstanden aus dem heißen Glauben an die Jugend, an 
eine bessere und reinere Jugend, die eine neue Höhe der Menschheit be¬ 
deuten sollte, und aus dem heiligen Zorn, daß der Weg vom hohen Meißner 
zur Verblüherung führen sollte. Darum die außerordentliche Schärfe des 
Tons. Es soll der gesunde Ekel über den Affen in uns und Glauben an 
das Göttliche in uns geweckt werden. 

Oder wir versuchen, der Jugend den Menschen Blüher in seiner Erbärmlich¬ 
keit zu zeigen, indem wir nur sein Selbstzeugnis reden lassen und die groben 
Irrtümer in seiner Beweisführung nachweisen. Diesen Weg habe ich in 
meinem Aufsatz in den Süddeutschen Monatsheften 2 ) zu gehen versucht. Sach¬ 
lich stimme ich mit Plenge ebenso überein wie mit Geheimrat Gruber, 
der das Lachen als die beste Vorbeuge gegen die Ansteckung durch Herrn 
Blühers Schmutz bezeichnet. Aber nach meinen persönlichen Erfahrungen 
halte ich gegenüber der Jugend von heute, die leider nicht durchweg so 
gesund mehr ist, wie die Jugend zur Zeit unserer Großeltern, den von mir 
eingeschlagenen Weg für richtiger; diejenigen Jungen, die Blühers Schriften 
mit brennendem Verlangen lesen, lassen sich mit derben Worten und Lächer¬ 
lichmachen nicht ohne weiteres abweisen. Sie werden dadurch in ihrer 
Haltung eher noch bestärkt. Ihnen imponiert nur die ruhige Überlegenheit 
des Lehrers an Einsicht und Wissen. Daß sie in Blüher nicht den „ge¬ 
fallenen Engel“ sehen, dafür kann man im Gespräch unter vier Augen sorgen. 
Die gesunden Jungen lehnen Blüher von vornherein ab, ohne lang in seinen 
Schriften zu wühlen. Schüler, die in ihrer ganzen Entwicklung ihren Ka¬ 
meraden voraus sind und gleichsam aus theoretischem Interesse sich mit 
dem Sexualproblem beschäftigen, werden selbstverständlich ganz anders zu 
behandeln sein als die weniger reifen. Einer besonderen Betrachtung be¬ 
dürfte die Inversionsgefahr bei der studentischen Jugend. Prof. Stern-Ham¬ 
burg hat in einem Aufsatz „Die Inversionswelle, ein zeitgeschichtlicher 
Beitrag zur Jugendpsychologie“ 3 ), auf die Zusammenhänge zwischen Krieg, 
Revolution und Ausbreitung der Inversion hingewiesen. Der Krieg schuf die 
physiologische und psychologische Vorbedingung für ihre Ausdehnung. Die 


( ) Blüher, In medias res, Grundbemerkungen zum Menschen, S. 2. 

*) 18. Jahrgang, Heft 1: „An die Jugend“, S. 21 ff. 

*) Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik (1920). 


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Die QefBhrdung der Jugendbewegung durch Blflbers Deutung des Wandervogelproblems 345 


Revolution trug ihrerseits dazu bei, den Kampf gegen die herkömmliche, 
verrottete Geschlechtsmoral als Kampf für das Recht jedes erotischen Empfindens 
und Tuns aufzufassen. So konnten Bücher im Freideutschen Verlag er¬ 
scheinen wie Kurt Zeidler: „Vom erziehenden Eros* (1919), und in Hamburg 
bildete sich ein Kreis junger Lehrer „Der Wendekreis“, um an einer Versuchs¬ 
schule die praktische Durchführbarkeit des neuen Erziehungsgedankens zu 
versuchen. Am stärksten wirkte die Inversionswelle auf die freideutsche 
Jugend. Damit ist eine dritte Quelle der Gefährdung unserer Jugend durch 
die homosexuelle Infektion gegeben. Studenten, die die Inversion aus Schwä¬ 
che zeigen, aus unsicher gewordenem Instinkt, aus dem Zuviel an Reflexionen, 
versuchen Führer in der Jugendbewegung zu werden und vermitteln den 
Jungen die Kenntnis der Bücher Blühers. 

Für den Zweck unseres heutigen Zusammenseins scheint es mir zu genügen, 
wenn ich Ihnen in kurzen Strichen ein Bild der Persönlichkeit Blühers 
zeichne und die Ziele seiner Schriftstellerei kurz charakterisiere. 

In einem Vortrag lernte ich Blüher kennen. Der Eindruck war denkbar 
ungünstig und deckte sich völlig mit dem, den die temperamentvollen Aus¬ 
führungen Geheimrat Grubers in den Süddeutschen Monatsheften wider¬ 
geben (Januarheft 1921). 

„Sprunghafte Einfälle, höchst ungefähre Analogien, rein zufällige Gedanken¬ 
verbindungen, Mangel an Empfindung für die Grenzen der Erkenntnis, Mangel 
des Bedürfnisses, die Denkergebnisse zu prüfen. Mangelndes Bedürfnis nach 
klaren Begriffen, überhaupt Fehlen des Dranges nach Wahrheit, Spiegelfech¬ 
tereien mit leeren Worten, fratzenhafte Zerrbilder der wirklichen Zusammen¬ 
hänge als Erzeugnisse hemmungsloser Lust- und Unlustgefühle. Das sind 
bekannte Kennzeichen der sich entwickelnden Dementia.“ 

Über sein Leben und seine Jugend unterrichtet Sie am besten der 1. Band 
der 1920 bei Diederichs erschienenen Selbstbiographie: „Werke und Tage, 
Werdejahre“, sowie das Wandervogelwerk und die Rolle der Erotik in der 
männlichen Gesellschaft. 

Blüher stammt aus Steglitz, wo er das Gymnasium besuchte. Hier geriet 
er unter den Einfluß Gurlitts, der angeblich seine Schüler mit revolutio¬ 
nären Gedankenblitzen begeisterte, wie: „Was reden die Leute immer von 
der Pflicht der Arbeit; das ist ja gar nicht wahr“ oder: „Unser Unterricht 
auf dem Gymnasium ist im Grunde die tollste Verkrüppelung“. 

Mit dem Haß gegen die Schule und ihre Lehrer, die als Vollstrecker des 
Staatsgedankens niemals Freunde der Jugend sein könnten, verband sich die 
Abneigung gegen die Familie, wie sie in seinem Wort: „gezeugt worden zu 
sein, ist nichts, wofür man jemandem zu danken hätte“, zum Ausdruck 
kpmmt, sowie die wenig pietätvolle Stellung zu den Eltern überhaupt, für 
die nach seinen Mitteilungen eine nicht geringe Anzahl Kinder nichts als 
Haß und Verachtung übrig hatte. 

Als Primaner brachte Blüher mit seinen Freunden am Steglitzer Gym¬ 
nasium das Erastenwesen zur bewußten Kultur und Blüte. Die Gleichaltrigen 
ließen sich vom Eros naidixög durch alle Dunkelheiten fortreißen. Blühers 
Eltern verzweifelten an ihrem Sohn, da er nichts leistete und sich zu keinem 
Beruf entschließen konnte. Er sah es kalten Herzens an. Als der Vater 
ihm schwere Vorwürfe machte, setzte er ihm auseinander: „Es wird der Tag 
kommen, an dem Du einsehen wirst, daß Du keinen besseren Beruf hast 


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Hans Loewe 


ergreifen können als den, mein Vater zu werden.“ In ihm selbst erhielt nach 
seiner Meinung die Familiensubstanz ihren Höhepunkt. In der F amili e des 
Vaters zeigten sich alle Spuren der Degeneration. 

In scharfer Kampfstellung gegen Schule und Elternhaus schloß sich Bl ah er 
dem Begründer des WV. in Steglitz, Karl Fischer, mit seinen Bacchanten 
begeistert an. Außerdem gewann für ihn die Lektüre von Spittelers 
„Prometheus und Epimetheus“ Bedeutung, worin zum Kampf für den 
heldischen Menschen aufgerufen wurde, ferner die Bekanntschaft mit dem 
Rittergutsbesitzer Wilhelm Jansen, der nach Blühers Schilderung im 
WV. eine bedeutsame Rolle spielte und ihn mit zur Abfassung seines WV.- 
Buches anregte, endlich das Studium der Schriften des Wiener Psychiaters 
Freud, das für die theoretische Deutung des Phänomens WV. wichtig war. 

Schon in jenen Jugend jahren bewährte sich in Blüh er das Bewußtsein, 
daß seine Grunderlebnisse objektive Erlebnisse der Menschheit seien, und 
zwar waren es drei: 

1. die Bejahung Karl Fischers, die Königsfrage der Menschheit, d. h. 
die Frage: wer soll herrschen? 

2. die Frage des Eros paidicos, 

3. die Frauenfrage. 

Seitdem ging sein Lebenskampf darum, jene drei Fragen in objektiver Form 
aus sich herauszustellen, so daß die Mitmenschen endlich einsehen „daß nie¬ 
mals sie recht haben, sondern ich“. Welcherlei Anfeindungen Blüh er er¬ 
fahren mochte, zu keiner Zeit verließ ihn das Gefühl der absoluten Voll¬ 
kommenheit und Überlegenheit seiner eigenen Konzeptionen. 

Dieses ins Maßlose gesteigerte Ich-Bewußtsein tritt uns in abstoßender 
Weise auch entgegen, wenn wir seinen Schriften nähertreten. Bereits mit 
20 Jahren schrieb er das Wandervogel-Buch mit dem deutlich hervortretenden 
Bestreben, wegwerfende Kritik zu üben. Diese Neigung erscheint später 
noch gesteigert. Es gibt fast kein Gebiet des menschlichen Kulturlebens, 
über das er sich nicht ein sehr weitgehendes Urteil zutraut. Besonders markant 
ist dabei seine Stellung zur Wissenschaft; in der Schrift „In medias res, 
Grundbemerkungen zum Menschen“ 1919, spricht er von dem verdummenden 
Einfluß der Universitäten. Begriffe seien jedem zugänglich, d. h. jeder könne 
ein Gelehrter werden. Wer die Dinge der Welt und diese selbst als Totalität 
durch das Mittel der Begriffe erkennen will, wer also noch wissenschaftlicher 
Mensch ist, der will die Willensbrechung haben. Im Erotikwerk nennt er 
die Universität ein gewöhnliches Warenhaus für intellektuelle Bedürfnisse. 
Die Mediziner verspottet er wegen ihrer Unkenntnis des Menschen. Wer 
nicht Freud-isch denkt, ist rückständig. Er selbst treibt als Laie Psychoanalyse. 
Die Philologen erscheinen ihm nur als Verfälscher des Griechentums; denn 
das mannmännliche Prinzip werde von ihnen unterdrückt. In einer infamen 
Broschüre „Ulrich von Willamowitz und der deutsche Geist“ steht der Satz: 
„Willamowitz ist nichts anderes als ein Fälscher.“ Blüher weiß nicht, 
daß die philologische Wissenschaft längst über die Beschönigung der Knaben* 
liebe hinaus ist. Schon 1910, also sechs Jahre vor dem Erscheinen seiner 
Schmähschrift, hätte er in Willamowitz, „Staat und Gesellschaft der Griechen 
und Römer“, ein aufschlußreiches Kapitel über die dorische Knabenliebe 
finden können, das ihn zu einer andersartigen Auffassung jenes Problemen 
der Päderastie hätte führen können. Das neueste Platonwerk von Willamo- 


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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch BlOhere Deutung des Wanderrogelproblems 347 


witz (1919) stellt das psychologische und sittliche Problem jener Erotik in 
helles Licht und versucht, es geschichtlich zu begreifen. Die philologische 
Wissenschaft hat ferner erkannt, daß Platon die innerliche Überwindung des 
mannmännlichen Triebes verkörpert Die Behauptung Blühers, daß die 
Kulturblüte Griechenlands durch die Päderastie bedingt war, ist einer der 
vielen unbewiesenen Sätze, an denen die Schriften des „Historikers“ Blüher 
so reich sind. Besonders hart und hämisch klingt sein Urteil über die Theo¬ 
logen, die er Lügner und Trottel nennt. Er vermag in ihnen nur Volks¬ 
betrüger zu sehen. 

Entsprechend den drei Grunderlebnissen durchziehen sämtliche Schriften 
Blühers drei Grundgedanken: 

Herrschen soll der geborene Führer: „Führer werden geboren“ — heißt es 
in der Schrift Blühers „Führer und Volk in der Jugendbewegung“ (Diede- 
richs 1918) — „unter günstigem Stand der‘Gestirne und kommen auf, völlig 
unabhängig davon, was die umgebende Menschheit denkt. Das Volk wird 
nur durch den Führer Volk“. 

Das zweite Erlebnis war der Eros paidicos, die Knabenliebe. Davon werden 
wir noch ausführlicher zu sprechen haben. 

Das dritte Erlebnis ist die neue Stellung zur Frau. 

Blüher unterscheidet zwei Arten: die Gattin und die freie Frau, die Hetäre. 
Die Gattin ist einheitlich weiblich. Ihr Wille, Kinder zu gebären, kommt 
früh und triebhaft. Die freien Frauen gehören in das Zwischenreich. Sie 
sind in ihrem Liebesieben bewußter und raffinierter und erstreben mitunter 
Gleichberechtigung neben dem Mann. Beide Frauenarten sind Naturer¬ 
scheinungen, beide echt weiblich und beide notwendig. Gäbe es nicht Hetären, 
das weibliche Geschlecht fiele einer rücksichtslosen Entfärbung zum Opfer, 
die höchst jammerhafte Erscheinung der bürgerlichen Gattin unserer Gesell¬ 
schaft würde herrschen. Blüher fordert daher für die Liebe zur hetärischen 
Frau die gleiche gesellschaftliche Billigung wie für die Liebe zur Gattin. 
„Die monogame Ehe erscheint ihm als das große Hindernis für die zeugerische 
Entfaltung gerade der reichsten Männer.“ Somit ist — zu diesem Schluß 
kommt Blüher — die Mehrehe ein Vorrecht der Vorzüglichen und ihr ge¬ 
bührt das Sakrament 1 ). 

Künstlich scheidet Blüher zwei Typen, den Penelopetypus und den Kalypso¬ 
typus. Alles Große, was die mannweibliche Liebe geschaffen hat, wird von 
ihm einfach vernachlässigt; daher bleibt ihm auch von ärztlicher Seite herbe 
Kritik nicht erspart. Dr. Steckei 2 ) wirft ihm in seiner Rezension des Erotik¬ 
werkes völlige Unkenntnis der Frau vor. Lächerlich nennt er Blühers 
Stellung zur Dirne, da er diese unter eine Art modifizierter Tierschutzgesetz¬ 
gebung stellen möchte. „Das heißt den Tatsachen Gewalt antun, das ist 
keine Wissenschaft, das ist der Ausbruch eines Temperamentes, das ist ein 
Pamphlet.“ Blüher wisse wohl nicht, daß die Dime meist einen Typus in- 
versus darstelle. 

So viel über Blüher als Mensch und Schriftsteller. 


1 ) Isserlin, „Die planmäßige Pervertierung unserer Jugend“ in Hochland. 2. Heft. 
18. Jabrg. S. 179. 

*) Zeitschr. f. Sexualwissenschaft, 1919, Bd. 6. 


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Hans Loewe 


Wir kommen zum zweiten Teil: Welches ist das wahre Wesen des Wander¬ 
vogels als eines Teils der Jugendbewegung? Welches sind die Gründe 
seines Entstehens? 

Ober den WV. unterrichtet eine kleine Schrift von Schomburg 1 )» die 
von der Bundesleitung des WV. alr erschöpfend und klar anerkannt wurde, 
ferner Blüher, „Der Wandervogel, Geschichte einer Jugendbewegung* 1 . 
3 Bände; endlich Janke, „Erich und Hans“, „Die WV.-Bewegung als ero¬ 
tisches Problem“ 2 ). 

Der WV. ist ein Teil der großen Jugend-Gemeinschaftsbewegung, die seit 
der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Jugend heraus mächtig 
hervortritt, einer Bewegung, deren Hauptziel ist 3 ): 

Die geistig-sittliche Lebenserneuerung, 

getragen zunächst von den jüngeren Schichten der Jugend. 

Die tiefere Ursache dieses mit elementarer Wucht sich äußernden Dranges 
war die quälende Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen des jugend¬ 
lichen Gemeinschaftslebens, wie es sich an den Hochschulen, in den studenti¬ 
schen Korporationen und an den Mittelschulen in den Froschverbindungen 
organisiert hatte, mit seinem trostlosen Alkohol- und Nikotingenuß, mit dem 
Mangel an geistigen Interessen, der Laxheit sittlicher Anschauungen, dem 
Zurücktreten des sozialen Gefühls und des sozialen Verantwortlichkeits¬ 
bewußtseins. 

So entstand die Jugend-Gemeinschaftsbewegung aus doppelter Wurzel, dem 
Hamburger Wanderverein und dem Ur-Wandervogel Berlin. Im Sommer 1897 
sammelte ein Student der Rechte, Karl Fischer, eine kleine Zahl Steglitzer 
Gymnasiasten um sich. An Sonntagen ging es in die Umgebung von Steglitz 
und in die Mark, in den Ferien ins Riesengebirge und in den Böhmerwald. 
Man führte ein romantisches Wanderleben, sammelte und sang die alten Volks¬ 
lieder. Die Verpflegung und Kleidung war möglichst einfach und unabhängig. 
Man mied die Touristenstraßen, man nächtigte in Dorfwirtshäusem und 
Scheunen. Der Ur-WV. wollte nichts, er erlebte und wuchs, er gewann 
eine bodenständige Heimatliebe. 1901 erfolgte eine Regelung des Verhält¬ 
nisses zwischen Schule, Elternhaus und der inzwischen stark angewachsenen 
Jugendgruppe. Es wurde ein zahlender und die Verantwortung tragender 
Eltemverein ins Leben gerufen, an den die wandernden Knaben und Jüng¬ 
linge angeschlossen wurden. Der Anschluß war nur ein äußerlicher; denn 
die Mitglieder des Vereins, Eltern und Lehrer, ließen den Jungen auf den 
Wanderungen und bei den Zusammenkünften volle Selbständigkeit. 

1904 krachte es. Es entstand ein Nebenbund. Karl Fischer verschwand 
nach China, die Zahl seiner Anhänger, der Alt-WV., vermehrte sich rasch; 
der Nebenbund behielt den Namen WV. und wurde als e. V. Steglitz ins 
Vereinsregister eingetragen. Überall entstanden durch zugewanderte Wander¬ 
vögel neue Ortsgruppen, so daß 1906 bereits 78 vorhanden waren. Damit 
war die Gründungszeit abgeschlossen. 


! ) „Der Wandervogel, seine Freunde und Gegner“. 1917. 

3 ) ln „SexualProblemen“, herausgegeben von Marku6e, 1913. 

3 ) A. Messer, Die freideutsche Jugendbewegung (1913 — 18) 1919; K. Ablborn, Die frei- 
deutsche Jugendbewegung 1917. 


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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des Wandervogelprobleme 349 


Die zweite Periode umfaßt die Jahre 1907 bis 1913. Äußerlich die Zeit 
der Bünde und Kämpfe um Einigung, innerlich die der Ausreifung des WV.- 
Ideales und der Festigung seiner Grundsätze. 1907 gesellte sich zu den bereits 
erwähnten Bünden des A.WV. und des Stegl. e. V. ein neuer dritter, der WV., 
deutscher Bund für Jugendwanderung, der an Zahl rasch die anderen über¬ 
flügelte. Die Gründe dieses Wachstums waren in erster Linie die ablehnende 
Haltung gegenüber dem Alkohol und die geschickte Organisation in Orts¬ 
gruppen, eine Form der Dezentralisation im Gegensatz zu den Zentralisations¬ 
bestrebungen der beiden anderen Bünde. Die so hoffnungsvoll begonnene 
Bewegung schien durch den Streit der Bünde untereinander schwer geschädigt 
zu werden. Da siegte die zur Einigung drängende Strömung. Nach drei¬ 
jährigen Verhandlungen entstand der WV. e. V., Bund für deutsches Jugend- 
wandem, die meisten Ortsgruppen der bisherigen Bünde schlossen sich an. 
Selbständig blieb der 1910 vom A.WV. abgesprengte Jung-WV. und kleinere 
Teile des A.WV., die völlig alkohol- und nikotinfreie Veranstaltungen nicht 
mitmachen wollten. 1913 zählte man im Deutschen Reich 25000 WV. 

Feinsinnig erörtert Schomburg, was der WV. 1907—13 an innerer Ent¬ 
wicklung verloren und gewonnen hat Die heilige Zeit des ver sacrum ist 
vorüber, doch der Kern ist geblieben. Das Verständnis für das Volkslied 
wurde jetzt erst Allgemeingut der WV. (1909 Zupf-Geigenhansl). Der WV. 
schuf sich eine Literatur in seinen Bundes- und Gaublättern. Die dem Wandern 
angemessenen Wanderformen wurden gefunden, das Mädchenwandern aufge¬ 
nommen, Landheime und Stadtnester gegründet Endlich vertiefte der WV. 
in dieser Periode seine besondere Lebensauffassung und gab ihr für alle 
Lebensgebiete feste Form. 

WV. sein bedeutet: das auf den Wanderungen Erarbeitete ins Leben sich 
auswirken lassen. Das trat in der schönsten Weise in Erscheinung in der 
Kleidung, bei den Festen, die durch Spiel, Sang und Aussprache verschönt 
wurden, in der Absage an Alkohol und Nikotin. Offen und natürlich ver¬ 
kehrten Knaben und Mädchen; der Schönheitssinn in Richtung auf das Einfache 
und Natürlich-Schöne wurde gepflegt, die Arbeit als solche sittlich gewertet. 
In alledem zeigt sich die feste Bejahung der natürlichen, wahrhaften und 
gesunden Lebensführung. Leidenschaftlich erörtert wurde die Abstinenzbe¬ 
wegung und die Frage der Rassenhygiene. 

So stellt sich einem unbefangenen Beobachter, der ein warmes Herz für 
die Jugend und ihre Bedürfnisse hat, die Entwicklung der Wandervogel- 
Bewegung von 1897 bis 1913 dar. Als die Hauptgründe der Entstehung 
scheinen sich völlig imgezwungen zu ergeben, namentlich auch bei einer 
sachlichen Prüfung der Literatur der ersten Periode: das Bestreben der Jugend, 
unter sich Bein zu wollen, jener kerngesunde Trieb, der sich auch in Karl 
Fischers Stube auf den Wanderungen des Alt-WV. ungestört auswirken 
konnte. Mit dem Wunsche unter sich zu sein, verband sich das Sehnen nach 
Selbständigkeit. Die WV. gingen ihre eigenen Wege in der Frage der Kleidung 
und Unterkunft, schufen sich neue Formen des Zusammenseins. Wo Jugend 
ist, da ist Kraft; das Gefühl, aus eigener Kraft etwas Selbständiges leisten 
zu können, erfüllte die WV. mit stolzer Genugtuung. Wo Jugend ist, da 
stellt sich naturgemäß auch romantisches Schwärmen ein, darum das begeisterte 
Drängen nach nächtlichen Wanderfahrten, nach lodernden Feuern, nach dem 
Besuch alter Burgruinen. Treu schloß sich Freund an Freund; mit tiefstem 


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Glücksgefühl fand die wandernde Jugend im Umgang mit der Natur durch 
die Entdeckungsfahrten in Heimat und Fremde seelische Bereicherung. Der 
Sinn für Treue und Wahrheit als etwas Selbstverständliches war der schönste 
Gewinn des neuen Lebens. Die Erkenntnis der wahren Lebenswerte gegen¬ 
über allen lügnerischen Scheinwerten, gegenüber den Unwahrhaftigkeiten der 
Schule, dem Stumpfsinn der Kneiperei, der Oberflächlichkeit des Sonntags¬ 
bummels bahnte sich an. Der WV. war im Verhältnis zur Schule eine Er¬ 
gänzung; die durch die Staatsschule vernachlässigten Jugendinstinkte haben 
in ihm ihre natürlichste, schönste und wahrste Gestaltung gefunden. 

Greift unsere Jugend zu Blühers Wandervogelwerk, was hört sie dann 
über diese ihre eigene Bewegung? 

der WV. eine Empörung gegen die Schule, 
der WV. eine Empörung gegen das Elternhaus, 
der WV. ein sexuelles Problem. 

Wir Lehrer und Erzieher der Jugend können gar nicht entschieden genug 
auf die Gefahren hinweisen, die dieses Blühersche Erstlingswerk in sich 
birgt. Aus ihm klingt uns jene bitterböse, maßlos einseitige, jedes erfolg¬ 
reiche Zusammenarbeiten zwischen Schule und Elternhaus zerstörende Kritik 
entgegen, die wir auch aus Wynekens Schriften und besonders aus dem 
„Anfang“ kennen. Die Autorität der Schule wie des Elternhauses wird 
pietätlos vernichtet. Gleichzeitig verkündet Blüher die frohe Botschaft, daß 
die Jugend im WV. sich der Bedeutung des mannmännlichen Triebes bewußt 
geworden ist, und er fordert auf, den Typus inversus als den des Männer¬ 
helden zu achten und zu pflegen. 

Wie raffiniert geht er dabei zu Werk. Er hat es uns in seiner Autobio¬ 
graphie selbst geschildert. Auf seinen Charakter fällt dadurch ein sehr 
eigentümliches Licht. 

Obwohl er in seinen „Grundbemerkungen vom Menschen“ als die hervor¬ 
ragendste Eigenschaft des edlen Mannes es bezeichnet, nicht rachsüchtig zu 
sein, nennt er in seiner Autobiographie das WV.-Werk ein Rachewerk für 
Karl Fischer. Er wollte das Plattfußvolk, d. h. die nicht Gleichgesinnten, 
betrügen, die öffentliche Meinung überfallen. Der innere Aufbau des Werkes 
enthält in der Dreiteilung des Stoffes eine List, indem erst der letzte Band 
die gefährlichen Grundgedanken klar hervortreten läßt. 

Im I. Band des WV.-Werkes fällt einem bei ruhiger Prüfung des Inhaltes 
auf, wie verzeichnet die einzelnen Bilder sind. Über l /z des ganzen Bandes 
behandelt das alte Steglitz und seine Menschen. Das 1. Kapitel soll dar¬ 
legen, warum gerade hier in der Mark die Empörung des WV. erfolgen 
mußte. So schildert es nach feinsinnigen Ausführungen über die Lage und 
Baugeschichte des Ortes die geistigen Richtungen seiner Bewohner, ihren 
strengen Patriotismus und Protestantismus, aber freilich stets mit dem starken 
Unterton des Spottes. Für den idealisierten Freiheitspädagogen Gur litt 
findet Blüher ein passendes Relief an den unwahrhaftigen patriotischen 
Oberlehrern, die am Sonntag Frömmigkeit heucheln. Friedrich Paulsen 
erscheint als alter frömmelnder Greis ohne Verständnis für die Jugend und 
ihre Liebe. 

Unter dem Druck verständnisloser Alter, die ihre Pflicht taten, um versetzt 
zu werden, wuchs die Jugend auf, erregt durch die bei ihr überall kursieren¬ 
den Bücher Gurlitts. Weil in Steglitz die Gegensätze so scharf und eigen- 


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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des Wandervogelproblems 351 


artig waren, konnte hier eine Bewegung aus der Jugend selbst entstehen, 
die nichts war als Kampf. In glänzend gezeichneten Bildern führt Blüher 
die Fahrten Karl Fischers vor. 

Im 2. Kapitel „Die Romantik als Empörer“ sucht Bl Uh er das Wesen der 
Jugend zu deuten. Er unterscheidet drei Stufen, die realistische des Kind¬ 
heitsalters, die romantische bis zum 20., die klassische, die selten eintritt, 
etwa vom 20. an. Die Staatsschule vergewaltige daher das jugendliche 
Gemüt, indem sie von Anfang an das klassische Ideal Vorhalte und die 
Knaben mit Abstraktem und Begriffen plage. Jede klassische Erziehung, 
sei es aus Rom, Hellas oder Weimar, bedeute daher eine Vergewaltigung, 
^deshalb zweifeln heute nur noch wenige daran, daß es ein Fluch ist für 
das weitere Leben, Gymnasiast gewesen zu sein“. Gegen diesen unglaub¬ 
lichen Zwang empöre sich das innerste Wesen der Jugend, die Romantik, 
das Nichtklassische, das Gesunde, das Erdreistete gegenüber dem Verbotenen, 
die Unordnung gegenüber der Ordnung. — Sie sehen, wie gut Blüh er kon¬ 
struiert. — Dazu kommt die moralische Verkrüppelung durch die Plichtlehre 
der Schule. Mit der Schule teilt das Elternhaus die Schuld. Auch ihm gilt 
der Kampf; die Eltern vergewaltigen die Jugend, mißachten oft ihre Dis¬ 
kretionspflichten, verlangen Dankbarkeit am Unrechten Platz, an einer Stelle 
war wohl jeder von seinen Eltern mißachtet worden. Der Schluß des 
I. Bandes bringt wieder packende Schilderungen des Aufganges der Be¬ 
wegung, über Karl Fischer und seine Bachanten, über ihre Abenteuer mit 
den Kunden. 

Der II. Band schildert Blüte und Niedergang. Besonders wichtig für 
Blühers Auffassung vom WV. sind die Erörterungen, die sich an den 
schweren Vorwurf anknüpfen, der WV. sei ein Päderastenklub. Er war 
anläßlich eines häßlichen Prozesses in einem Provinzblatt erhoben worden; 
Die überwiegende Majorität erklärte, der WV. habe mit gleichgeschlechtlicher 
Erotik nichts zu tun. Das Vorhandensein von Männerhelden sei ein Zufall 
und von außen kommend gewesen. Eine verschwindende Minorität meinte, 
die physiologische Freundschaft gehöre zur Natur des WV.s. Sie müsse 
kultiviert werden. In der hierüber entstehenden Aufregung sieht Blüher 
die eigentliche Würze der nun folgenden Geschichte. Er schließt sich dem 
zweiten Standpunkt an. Das letzte Kapitel handelt von den zerstörenden 
Mächten; unweigerlich — meinte Blüher — mußte die Jugend sinken, als 
sie sich anschickte, sich wieder mit den Eltern und der Schule auszusöhnen. 
Wieder geht es über die Schule her, die der Jugend keine Freude -an der 
Natur beibrachte, den Blick für die Dinge nicht schärfte, das Wesen der 
Freundschaft nicht erschloß. Die Schule produzierte jahrhundertelang Schein¬ 
werte, weil sie vom Staate unterstützt wurde. Ebenso unterdrückte die 
Kirche fast ausnahmslos die großen religiösen Naturen und blieb selbst ewig 
unproduktiv. Die Schule arbeitet mit einem immensen Unlustüberschuß. 
Naturen, die so etwas als Selbstverständlichkeit hinnehmen, seien zu Sklaven 
geborene Menschen. Der freie Mann wird jene Zeit stets mit dem rechten 
Namen, die Zeit seiner tiefsten seelischen Erniedrigung nennen. Ganz 
besonders zieht Blüher gegen das Gymnasium los als die weltfremdeste 
deutsche Erziehungsanstalt. Sein Hauptvorwurf ist der, dort werde das 
Griechentum verfälscht; denn aus Sittlichkeitsgründen werde die antike 
Erotik, der antike Pessimismus und das problematische dionysische Phänomen 


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verschwiegen. Blüh er vermag als die besten Erzieher in Griechenland nur 
Männer wie Sokrates anzusehen, jene scheinbar überflüssigen Männer, die 
selten Kinder zeugten, die die Frauen nicht mochten, die dem Nebenberuf 
frönten, die ersten Volkserzieher zu werden auf Jahrtausende, die iQaaxal. 

Die Erziehung, die sittliche Höherführung übernahmen nur die, denen 
von Natur ein besonderer Adel gegeben war, geborene Erzieher. Den 
Unterschied zwischen der deutschen Schule, an ihrer Spitze das Gymnasium, 
und der griechischen Erziehung glaubt Blüh er mit folgender Gegenüber¬ 
stellung richtig zu charakterisieren. Hier hieß es: „Erkenne dich selbst und 
werde, der du bist,“ dort: „Verkenne dich und die Welt und werde, wie die 
Autorität dich will!“ 

Von der Ausbildung des Oberlehrers entwirft Blüher ein geradezu groteskes 
Bild. Sie sind das Unvorbildlichste, was man sich an geistigen Menschen denken 
kann, ungemütliche, gespreizte Menschen, die sich alle Tage blamieren und 
doch Respekt beanspruchen können. Sie haben etwas Morsches und Mecha¬ 
nisches an Sich, die Natur rächte sich durch Schaffung des Oberlehrertypes. 
Für den WV. wurde es verhängnisvoll, als die Invasion der Oberlehrer, der 
Patriotismus schnarrenden Offiziere und der Regierungsräte begann. 

Betrachtet man Blühers Ein würfe gegen die Schule genauer, so fällt 
einem sofort auf, wie stark er zu Verallgemeinerungen und schlimmsten 
Übertreibungen neigt Er ist im Grunde seines Wesens ein Dogmatiker. Es 
ist und bleibt ein allzu billiges Auskunftsmittel Blühers, diejenigen Schüler, 
die ihrer Lehrer als Freunde gedenken, als unselbständige Köpfe zu brand¬ 
marken, deren eigenes Denken totgeschlagen sei. Daß die Schule reform¬ 
bedürftig ist, daß viele Lehrer die Nöte der Jugend nicht zu würdigen wissen, 
soll gewiß nicht in Abrede gestellt werden. Wer aber als Beurteiler einer so 
wichtigen Bewegung wie der Jugendbewegung auftreten will, wer mit seinen 
Schriften die Anschauungen der Jugend beeinflußen will, der muß Verant¬ 
wortlichkeitsbewußtsein besitzen. Blüher drängt die Jungen, die ja schon 
an und für sich in diesem Alter zu Übertreibungen neigen, denen die Er¬ 
fahrung für eine objektive Prüfung des ihnen Gebotenen fehlt, in einen 
geradezu unheilbaren Gegensatz zu Schule und Elternhaus. Er zerstört das 
Vertrauensverhältnis, auf dem allein eine wirklich erfolgreiche erzieherische 
Beeinflussung beruht. 

Lohnt es sich der Mühe, Briefe von jungen Kriegsteilnehmern mitzuteilen, 
die rührende Bekenntnisse zum klassischen Altertum enthalten, die Blüher 
Lügen strafen? Wo beweist Blüher jemals seine kühne Behauptung, daß 
die griechische Geisteswelt von dem mannmännlichen Prinzip beherrscht ist? 
Aber das ist ja eine „intuitive“ Wahrheit, wie er sie so sehr liebt. 

Wahr ist sicherlich das Eine, daß eine einheitliche Revolutionsstimmung 
gegen die Schule in der Gründungsperiode des WV. nicht vorhanden war, 
wenn auch imangenehme Schulerfahrungen genug gemacht worden sein mögen. 

Die zweite Behauptung Blühers — der WV. eine Empörung gegen das 
Elternhaus — ist ebenso einseitig ungerecht und maßlos übertreibend wie 
jene erste. Er sieht nur den Kampf der Jugend gegen das Alter. Er über¬ 
sieht vollkommen den Reichtum der Gestaltungen in den Lebensgemeinschaften 
der Menschen. Er untersucht gar nicht, welche Bevölkerungsschichten ihre 
Kinder zu den ersten WV.-Gruppen schickten, wie sich das Verhältnis 
zwischen Vätern und Söhnen je nach der Schicht verschieden gestaltete. 


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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des Wandervogelproblems 353 


Jedenfalls könnte man den Zeugnissen Blühers über Feindschaft zwischen 
Vater und Sohn eine recht stattliche Zahl von solchen gegenüberstellen, die 
das Gegenteil beweisen. Und wie steht es mit den an den Feuern ihr 
Familienelend beklagenden Wandervögeln? Ein feiner Psychologe der Jugend 
muß doch Blüh er sein. Eine Jugend, die sich in schäumender Lebensfreude 
dem neu entdeckten Naturgenuß hingibt, diese Jugend klagt und jammert 
nicht über das Elternhaus, sie schließt ihre Freundschaften unbekümmert um 
das Elternhaus. 

Die Geringschätzung der Familie durch Blüh er hat ihren tiefsten Grund 
in seiner Schätzung des ethischen Wertes des homosexuellen Triebes. „Ge¬ 
zeugt worden zu sein ist nichts, wofür man jemandem zu danken hätte“, 
dieses höhnische Schlagwort, das ohne jedes Verständnis der tiefen Geheim¬ 
nisse der Blutzusammenhänge geschrieben ist, wurde Lügen gestraft durch 
die Kriegserfahrungen, die zwischen Vätern und Söhnen in erschütternder 
Weise Zartheit, Hingabe, Tatkraft und Opferfreudigkeit auslöste. Besonders 
häßliche Worte findet Blüher bei der Darstellung, wie die Alten den WV. 
zum Hurrapatriotismus verführten. Er redet von Personifizierung des eigenen 
Vaterlandes, von Treugelöbnissen bis in den Tod, dies natürlich mit der 
planmäßigen Hinschlachtung anderer Völker, von der gefährlichen Sorte der 
Historienlehrer, von der Schule, dieser vergeblichen Erzieherin des Menschen, 
von Unterweisung der Jugend in schnoddrigen Redensarten gegen andere 
Völker. Die Antwort gab ihm die WV.-Jugend im Weltkrieg, oder wird 
er es wagen, seinen Schmutz auch gegen den WV. Ernst Wurche zu 
spritzen, dessen Leben und Sterben Walter Flex in einem der schönsten 
Kriegsbücher — »Der Wanderer zwischen zwei Welten“ — geschildert hat? 

So bleibt endlich Blühers letzte Behauptung, der WV. — ein erotisches 
Problem. Damit kommen wir zum entscheidendsten Punkt unserer Betrachtung. 
Wir werfen Blüher vor, daß er in unverantwortlichster Weise die Begriffe 
der Jugend über sexuelle Dinge verwirrt, daß er sie in einem Entwicklungs¬ 
stadium, wo der sexuelle Trieb noch unsicher tastet, wo die nach Idealen 
strebende Jugend durch den in ihr erwachenden Geschlechtstrieb wie von 
einer rätselvollen Macht beunruhigt wird, wo sie förmlich nach einem Führer 
verlangt, an einen Abgrund führt. Denn wohl wissend, daß die Heldenver¬ 
ehrung für die reine, hochstrebende Jugend etwas durchaus Natürliches ist, 
verkündet er ihr die frohe Botschaft vom Männerhelden, vom Typus inversus. 

Wollen wir unserer Jugend, die das WV.-Werk mit Interesse liest, wirk¬ 
lich helfen, müssen wir uns darüber klar sein, welche Methode Blüher als 
Historiker befolgt, um zu seinen überraschenden Ergebnissen zu kommen. 
Glaubt er doch wirklich den letzten Triebgrund der WV.-Bewegung enträtselt 
zu haben. Er entwickelt sie Belbst im 3. Bd. seines WV.-Buches: Mit einer 
Art „Vorurteil“ tritt er an die Dinge heran. Dieses Vorurteil wirkt als ab¬ 
leitender Grundsatz (deduktives Prinzip); es wird ergänzt durch Material- 
Sammlung (induktives Prinzip); dazu kommt die Frage, sind die Dinge, die 
neben- und nacheinander da sind, auch wegen- und durcheinander da? (Grund¬ 
satz der Kausalität). Aus der Zusammenstimmung der drei Faktoren entstehe 
ein Erfahrungsurteil mit objektiver Gültigkeit. 

Betrachten wir die Anwendung dieser Methode auf das WV.-Problem, so 
erheben sich ernste methodische Bedenken. Blüher greift den Satz aus der 
Luft: der WV. ist ein Erzeugnis der Inversion; das ist das Vorurteil. Danach 

Zeitschrift f. pfldagog. Psychologie. 23 


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Hans Loewe 


richtet er jetzt die Induktion und sammelt Material. Dann beginnt die Kausal¬ 
betrachtung. Blüh er fragt: Haben die paar Dutzend Invertierte, die ich im 
WV. kennen gelernt habe, eine wesentliche Bedeutung für die Bewegung 
gehabt? Ja, denn gerade sie erzielten den größten Aufschwung, die tiefste 
und innerlichste Begeisterung der Jugend, eine Behauptung, die mit viel 
mehr Recht von der Gegenseite erhoben werden könnte. Weiter führt Blüher 
als Beweis der Richtigkeit seiner These seine persönliche 10 jährige Erfahrung 
an, wobei 6 Jahre der bewußten systematischen Beobachtung galten. Er hält 
es dabei für notwendig, auffallend stark zu betonen, wie schwer es sei, einen 
feinen Sinn für das Erotische zu gewinnen. Man müsse es fühlen, man 
muß hören, wie Freund vom Geliebten gesprochen wird, ifian müsse ver¬ 
stehen, ob ein geschicktes Buch ein Gruß des Herzens sei. Sein eigenes 
Empfindungsvermögen ist, nach einer Stelle in seiner Selbstbiographie zu 
schließen, bereits so entwickelt, daß er, wenn er nachts über einen See weg 
Stimmen von badenden Menschen, darunter Frauen hört, zu unterscheiden 
vermag, ob eine Frau nackt ist oder nicht. 

Blüher muß ferner zugeben, daß das System die Anwendung des Analogie¬ 
schlusses verlangt. Er konnte nicht jeden einzelnen Wandervogel nach seinem 
Liebesieben ausfragen, hätte wohl auch meistens, wie er selbst ausführt, un¬ 
günstigere Antworten bekommen als die, die er selbst wußte. Daher durch¬ 
forschte er einzelne charakteristische Wirbelpunkte, Kraftzentren der Bewegung, 
wobei er freilich den Beweis schuldig bleibt, warum gerade die von ihm ge¬ 
wählten Untersuchungsobjekte die charakteristischen Wirbelpunkte sind. Dann 
macht er einen Sprung, indem er sich den Rest selbst ergänzt, wodurch seine 
einheitliche Auffassung entsteht. In den Naturwissenschaften mag ein Analogie¬ 
schluß zu einem Erfahrungsurteil von verhältnismäßig objektiver Gültigkeit 
führen, wenn die Objekte einander gleich sind. Im Bereich der Kulturwissen¬ 
schaften, wo seelische und geistige Veranlagung stark differenziert sind, ist 
das gleiche Schlußverfahren nur mit höchster Sorgfalt anzuwenden. 

Wie gefährlich muß ferner auf die Jugend die Unterscheidung wirken, die 
Blüher auf Grund der von Prof. Moll eingeführten Begriffe „Kontrektation“ 
und „Detumeszenz“ macht? Moll versteht unter dem Kontrektationstrieb 
den Trieb zur Gesellung. Seine äußerste Grenze ist die Zärtlichkeit, die Be¬ 
tastung der geliebten Persönlichkeit. Die sich plötzlich erhebende Begierde, 
sie zu löschen, gehört ins Gebiet der Detumeszenz. Blüher schärft der Jugend 
ein, eine tiefe Liebe zum eigenen Geschlecht sei möglich ohne das Aufkommen 
der Libido, was durch die eintretende Verdrängung verhindert wird. Das 
Liebesieben im WV. spielte sich nach seiner Behauptung wesentlich im 
selbständig gewordenen Kontrektationstrieb ab. Für das Ganze des Organis¬ 
mus konnte das aber nicht genügen; die großen Führer und Kraftzentren 
waren meist invertierte Vollmenschen, die den gesamten Liebeskomplex auf 
das eigene Geschlecht übertrugen. Gleichzeitig muß er auch einräumen, daß 
die Verdrängungsschranke jederzeit durch berauschende Getränke oder durch 
heftig aufkommenden Affekt niedergerissen werden kann. 

Blüher kann seine Auffassung vom Liebesieben im WV. nur dadurch auf¬ 
recht erhalten, daß er grundsätzlich Bisexualität annimmt. Er glaubt eine 
Bestätigung dieser letzteren Ansicht in der Tatsache zu finden, daß in den 
Jahren der Pubertät der erwachende Sexualtrieb zwischen beiden Geschlechtern 
schwankt. Die Mädcheninvasionen im WV. erklärt Blüher als kluge Politik 


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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Bliihers Deutung des Wandervogelproblems 355 


invertierter Führer, dem Verdacht der Homosexualität im WV. möglichst zu 
entgehen, und als den Versuch jener Führer, die die Inversion vor sich selbst 
verbergen möchten. Dem Einwande, es gebe doch tatsächlich im WV. ein 
harmloses Zusammenwandern von Knaben und Mädchen, begegnet er mit 
der Behauptung, noch kenne niemand die heimliche Tragik, die hinter jenem 
erzwungenen Platonismus steckt. 

Die allerschwerste Gefahr droht Blühers Theorie durch die Erfahrungs¬ 
tatsache: neben den vollinvertierten Führern wirkten ebensoviele — wir 
dürfen wohl sagen weit mehr Führer — ebenso begeisternd und fördernd, 
aber sie bekämpften die Homosexualität. 

Freuds Theorie der Verdrängung bietet ihm nach seiner Meinung den 
Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels. Mit ihrer Hilfe konstruiert er den Typ 
des Verfolgers: Augen irr, Gesichtsausdruck unsicher, Zucken im Gesicht, 
heftiges Sprechen, plötzliches Gerührtwerden beim Anblick der Jugend, dann 
wieder Kälte und Haß. Dieser Typ hat Angst vor sexueller Erkenntnis, er 
wird krank. Der Männertyp dagegen hat seinem invertierten Liebesieben 
Betätigung gegönnt, sein Liebesieben sublimiert, d. h. den sexuellen Trieb 
höher gezüchtet und weiter geführt zu allgemeineren Zielen, die der übrigen 
Menschheit nützlich sind. Der Männerheld geht auf praktisch-soziale Auf¬ 
gaben. Der Künstler rettet sich vor Neurose durch Umbildung ursprünglich 
gleichgeschlechtlicher Triebregungen in künstlerische Produkte. (Schiller: 
Maltheser Frgm.; Goethe: Wilhelm Meister, ertrunkener Knabe.) 

Trotz der schärfsten Einsprüche gegen seine Auffassung blieb Blüh er fest 
und verlangt die Freigabe der Inversion als psychosanitärer Forderung und 
preist Magnus Hirschfeld, weil dieser bemerkte, die Homosexuellen aus besseren 
Ständen seien die nützlichsten Förderer in der Ausgleichung der Klassen¬ 
gegensätze, indem sie Lieblinge aus einfachen haben. Das sei eine Beobachtung 
von seltenem Wert. Blüher sieht also in der Freigabe der Inversion einen 
Gewinn für das Volksleben, das Volk werde auch viel gesünder werden durch 
die Heilung vieler Neurotiker. 

Die Art und Weise, wie Blüher die Verdrängungstheorie Freuds benützt, 
bedeutet eine groteske Vergewaltigung der Tatsachen. Seine Verwendung 
der Mollschen Begriffe „Kontrektation“ und „Detumeszenz“ ist völlig un¬ 
richtig; denn nach ärztlichen Feststellungen betrachten auch die Homosexuellen 
als das Ziel ihrer Wünsche die sinnliche Triebstillung in den Armen des 
Liebesobjektes. 

Die allerernstesten Bedenken erregt endlich die viel zu weite Fassung des 
Begriffes „sexual.“ Selbst in der von Eulenburg und Bloch gegründeten 
Zeitschrift für Sexualwissenschaft wird in einer Kritik der Schriften Blühers 
diese Veränderung nicht nur als falsch bezeichnet, sondern auch als geeignet, 
die verhängnisvollste Begriffsverwirrung anzurichten, denn Blüher scheut 
sich nicht, jede seelische Zuneigung, jede freundschaftliche soziale Sympathie 
zwischen Männern als Inversion zu bezeichnen. 

Auf solchen Grundlagen entwickelt Blüher seine Theorie der Männer- 
bflnde in dem Werk „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“. 
Ein e unter der Vorherrschaft des Typus inversus stehende Gesellschaft von 
Männern baue den Staat auf. Er glaubt, ihre Spuren zu finden ebenso bei 
den Männerbünden der primitiven Völker wie beim WV., bei den Freimaurern 

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356 H. Loewe, Die Gefährdung der Jugendbewegu ng durch Blühers Deutg. d. Wandervogelproblems 


wie in den militärischen Kameraderien, im Templerorden wie bei Schiller, 
in den studentischen Verbindungen wie in den Kegelgesellschaften. 

Auch in diesen Beweisführungen dieselben groben Irrttlmer wie im WV.- 
Werk, Vergewaltigung der Tatsachen, höchst anfechtbare Deutungen, eine 
völlig imberechtigte Erweiterung des Sexualbegriffs, Mangel an Unterscheidungs¬ 
gabe, falsche Schlüsse aus dem Sexualleben Jugendlicher auf die Gefühls¬ 
welt erwachsener Homosexueller; — gerade seine Entdeckungen im WV., daß 
die Homosexuellen die eigentlichen Träger sind, eine Entdeckung, die nicht 
bewiesen wird, wird grundlegend für seine Auffassung der Männerbünde 
überhaupt; —die völlige Verkennung des wahren Wesens der Homosexuellen, 
die im Grunde alle unglückliche Menschen sind, deren Wünsche stets auf 
die sinnliche Triebstillung in den Armen des Liebesobjekts gerichtet sind, 
eine bedauernswerte Oberflächlichkeit in der Behandlung des Problems der 
Liebeswahl und der Frau, Ablehnung der Wissenschaft, um zum Sinn der 
Geschichte zu kommen, zugunsten einer vagen Deutungskunst. 

Ein näheres Eingehen auf das Erotikwerk erübrigt sich. Die große Ge¬ 
fahr, die es, wie überhaupt die ganze Schriftstellerei Blühers für die Jugend 
in sich birgt, liegt klar zutage. Unsere Jugend ahnt nicht, wo das Gift ver¬ 
borgen ist. Denn überraschend geschickt appelliert Blüh er an den in ihr 
schlummernden idealen Sinn, an ihre Freude am Übertreiben der Kritik, an 
ihr unbefriedigtes Sehnen, Mißverständnissen in Schule und Elternhaus zu 
entgehen, an ihre Empfänglichkeit für schöne Naturschilderungen. Daher 
muß eine völlige Begriffsverwirrung über das Sexualproblem gerade in der 
Zeit eintreten, wo der erwachende Sexualtrieb unsicher tastet; der Männer¬ 
held erscheint als erstrebenswertes Ideal, die homosexuelle Liebe als wich¬ 
tigster Teil des Eros, als etwas Natürliches, die höchste Kultur Erzeugendes; 
die vorübergehend auftretende sexuelle Neigung des Kindes zum eigenen 
Geschlecht wird verstärkt und zu einer dauernden gemacht, gegenüber dem 
andern Geschlecht tritt Kälte ein, es erfolgt selbstquälerische Selbstanalyse, 
die Jugend verliert ihre Harmlosigkeit und wird entwurzelt. 

So bleibt nur eine Losung übrig: schärfster Kampf gegen diesen „Jugend¬ 
führer“, dessen Selbstgefühl bis ins Pathologische gesteigert ist, der die 
Wissenschaft schroff ablehnt zugunsten der Methode der unmittelbaren An¬ 
schauung, der blendende Schlagworte formuliert, von verblüffender Pietät¬ 
losigkeit ist, der in der Bekämpfung der Autorität in der Familie und Kirche 
den Versuch macht, sich jeglicher Verantwortung zu entziehen, dessen ganze 
Gedankenwelt beherrscht wird von dem Glauben an die einzigartige Be¬ 
deutung des mannmännlichen Prinzips. 


Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer? 

Von Gerhard Friedrich. 

(Aus den seminaristischen Übungen von F. E. Otto Schultze, Frankfurt a. M.). 

Unter den verschiedenen Gesichtspunkten, von denen aus man heute die 
Fragen der Schulerziehung betrachtet, scheint mir einer der wesentlichsten 
der einer harmonischen Vereinigung von Unterricht und Erziehung zu sein. 
Mit Recht haben darum sowohl Theoretiker wie Praktiker immer wieder ihre 


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Gerhard Friedrich, Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer? 


357 


Aufmerksamkeit auf die Grundbedingungen für die Erreichung dieses Zieles 
gelenkt, die zweifellos in der Persönlichkeit des Lehrers und Erziehers zu 
suchen sind; und zwar ist Klarheit über die Forderungen, die an den Cha¬ 
rakter sowie an die theoretische und praktische Ausbildung des modernen 
Lehrers und Erziehers gestellt werden müssen, grundlegend einerseits für 
die Berufsberatung, die bestimmter Richtlinien zur Erfüllung ihrer verant¬ 
wortungsvollen Arbeit bedarf, andererseits für die Behörden, die wissen müssen, 
auf welche Eigenschaften und Fähigkeiten bei den Anwärtern auf den Lehrer¬ 
und Erzieherberuf vornehmlich zu achten ist. Ebenso wichtig ist es für den 
angehenden Lehrer selbst, feste Anhaltspunkte zu haben für die Selbstprüfung, 
nach denen er die eigene pädagogische und menschliche Befähigung zu dem 
erwählten Beruf messen kann. 

Angesichts der Wichtigkeit der Fragen nach dem Wesen der Lehrer- und 
Erzieherpersönlichkeit') erscheint es mir wertvoll und wünschenswert, diesen 
in ihrer Bedeutung nicht hoch genug zu veranschlagenden Problemen ernst¬ 
haft induktiv nachzugehen und zutage tretende Ergebnisse nicht zu ver¬ 
schweigen. 

Die Anregung zu der vorliegenden Untersuchung ist aus pädagogisch-psycho¬ 
logischen Übungen hervorgegangen, die Herr Prof. Dr. Schultze im Sommer¬ 
semester 1921 an der Universität Frankfurt abhielt. Es wurden da Einzel¬ 
persönlichkeiten analysiert und die Fragestellungen für die Charakteristik 
ausgearbeitet. Das Beobachtungsmaterial mußte den Kursteilnehmern möglichst 
genau persönlich bekannt sein, damit sich alle Theorie unmittelbar aus der 
Wahrnehmung ergab. Daher wurden Menschen gewählt, die die einzelnen 
Kursteilnehmer aus ihrem früheren Leben gut kannten. Von einem zwar 
allen Teilnehmern zugänglichen Material wie Lehrergestalten aus „Gottfried 
Kämpfer“ und anderen Erziehungsromanen oder Autobiographien von Päda¬ 
gogen wurde abgesehen, damit der Zwang, aus dem Leben zu schöpfen, 
möglichst stark wurde. Die zufällige Zusammensetzung des Kurses führte 
dazu, daß Fürsorgezöglinge und frühere Lehrer besprochen wurden. Be¬ 
sonders die letzten erwiesen sich als sehr geeignet, weil jeder Mensch aus seiner 
Schulzeit wohl mindestens einen Lehrer genau genug kennt, um sein Urteil 
über diesen an der Erinnerung zu klären, zu vervollständigen und in seinem 
Ergebnis festzulegen. Jeder Teilnehmer bekam darum die Aufgabe, sich den 
ihm noch am besten erinnerlichen Lehrer vorzustellen, in der Richtung be¬ 
stimmter Fragen zu charakterisieren und zu erzählen, wie sich der einzelne 
Lehrer bei der gleichen Gelegenheit verhalten habe. Der Austausch der 
Beobachtungen legte die verschiedenen Möglichkeiten des Verhaltens oft mit 
schlagender Deutlichkeit dar. Die Situation ergab die Anregung des Kurs¬ 
leiters, weiteres Material zu sammeln und zusammenzustellen. Ich übernahm 
diese Aufgabe, zumal ich mich mit dem Stoff bereits näher befaßt und im 
Kurs zwei Lehrergestalten analysiert hatte. Das Material verschaffte ich mir 
durch Rundfragen bei Studenten des ersten und zweiten Semesters; denn 
gerade diese erschienen mir geeignet, weil bei ihnen einerseits die Erinnerung 
an die Lehrer noch frisch und unverwischt ist, und weil man andererseits 
bekanntlich nach dem Verlassen der Schule eher als vorher zu milder Be- 


i) Vgl. William Stern, „Psychologie und Schule*, Zeitschr. f. päd. Psych. 1919, 5/6, S. 145 ff., 
und Martin Havenstein, „Was den rechten Lehrer macht*, Päd. Blfitt. 1921, 5, S. 177 ff. 


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urteilung seiner Lehrer neigt und somit imstande ist, verhältnismäßig sachlich 
zu urteilen. 

Um Mißverständnisse von vornherein auszuschließen, möchte ich aus¬ 
drücklich betonen, daß Herr Prof. Schultze aus naheliegenden Gründen es 
grundsätzlich abgelehnt hat, selbst Beobachtungsmaterial zu sammeln oder 
anzunehmen über Lehrer, die ihm persönlich bekannt sind; er weiß vielmehr 
ebensowenig wie ich, wer die Urbilder der beurteilten Gestalten sind. Die 
Schilderungen stammen aus Nord- und Süddeutschland, aus Bayern wie von 
der Wasserkante her. Im übrigen sind diese Gestalten zum Teil so typisch, 
daß es durchaus möglich ist, daß schon durch die Auswahl aus dem ge¬ 
sammelten Material sich jemand, der gar nicht dargestellt ist, getroffen fühlt. 
Diese Möglichkeit scheint mir um so näher zu liegen, als bereits mehrere 
Menschen, denen die Beschreibungen vorgelegt wurden, die aber keinen der 
geschilderten Lehrer kannten, sagten, die Gestalten kämen ihnen durchaus 
bekannt vor oder wären mindestens sehr wohl denkbar. Sollte also wirklich 
jemand in einer oder der anderen Beschreibung eigene Fehler oder Irrtflmer 
wiedererkennen, so würde das besonders deutlich den Zweck meiner Unter¬ 
suchung rechtfertigen, die eben gerade auf das Typische hinausläuft. 

Die vorliegende Arbeit enthält vier Teile, und zwar 1. Spontanangaben 
von Studenten über frühere Lehrer, 2. Lehrercharakteristiken auf Grund von 
Fragebogen, 3. die theoretische Auswertung der Spontanangaben und 4. den 
Vergleich der Schülerwünsche mit den Idealforderungen eines Pädagogen. 

I. 

Schilderungen von Lehrern durch jüngere Studenten (Spontanangaben). 

Die Schilderungen sind von den Studenten schriftlich eingereicht und, ohne 
daß eine besondere Fragestellung gegeben war, in eigener Formulierung und 
ohne Verbesserung in Stil und Rechtschreibung, meist nur verkürzt, ab¬ 
gefaßt worden. Dafür, daß die Studenten nicht rückhaltlos auf die Aufgabe 
eingingen, sondern sich teilweise erst langsam dazu entschlossen, ein Beispiel: 

„Es ist für uns Schüler bei einem Lehrer ungeheuer schwer, viel schwerer als bei irgend¬ 
einer Persönlichkeit, mit der wir Zusammenkommen, durch den Schleier der Lehrerautoritat, den 
dieser absichtlich oder unabsichtlich über sich wirft, hindurchzusehen auf das Menschliche. Wir 
sehen den Lehrer in den meisten Fällen leider nur von einer Seite, der dienstlichen; er tritt uns 
gegenüber wie der Übergeordnete dem Untergebenen, als der Gebende gegenüber dem Emp¬ 
fangenden. Fast nie lernen wir den Lehrer in menschlicher Gleichstellung oder gar als seiner¬ 
seits Empfangenden kennen. Doppelt groß ist das unwillkürliche Bedürfnis des Schülers, auch 
im Lehrer den Menschen mit seinen menschlichen Verhältnissen, mit seinen Fehlern und Schwächen, 
aber auch mit seinen achtenswerten Eigenschaften zu erkennen, ein Bedürfnis, das nicht ohne 
weiteres mit der Bezeichnung „Neugierde“ abgetan ist . . . 

Im Folgenden gebe ich nun eine Auswahl aus dem Gesamtmaterial: 1 ) 

1. Ist ein ausgezeichneter Lehrer. Er versteht es wirklich gut, seinen Stoff, der meist an den 
humanistischen Gymnasien etwas schlecht wegkommt und den beizubringen nicht leicht ist, in 
hervorragender Weise beizubringen. Er versteht es ausgezeichnet, sich in das Problem, das 
jeder einzelne Schüler für ihn bildet, hineinzuversenken. Er bildet den Beweis, daß man auch 
in fortgeschritteneren Jahren sehr gut den Geist der Jugend zu erfassen vermag und daß man 
mit ihr leben kann, ln den unteren Klassen mag man vielleicht sein wahres Wesen infolge von 
mißverstandener Strenge noch nicht so recht zu würdigen wissen. Ich hatte aber Gelegenheit, 
ihn im Kriegsprimanerkurs kennen zu lernen, und kann nur sagen, daß ich mich da immer 


l ) Vgl. Michael Kesselring, „Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 4 *. 

Zeitschr. f. päd. Psych. 1919, 1/2, S. 25/26. 


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freute, mit was für einer Unvoreingenommenheit er an Jeden Menschen herangetreten ist, wie 
er stets das Beste angenommen hat, selbst wenn er bemerkte, daß der Betreffende durchaus 
nicht so harmlos war, wie er sich den Anschein gab. Der Eindruck eines tadellosen Charakters 
und guten Menschen, den ich aus dem Unterricht gewonnen hatte, wurde noch durch ver¬ 
schiedene Privatgespräche über komplizierte Fragen des Schulwesens verstärkt. Glänzend ver¬ 
steht er es, die Schüler in Disziplin zu halten. Das konnte ich sowohl bei uns als auch bei 
jüngeren Schülern bewundern. Während er uns mehr kameradschaftlich und vom Ehrenstand¬ 
punkt behandelte, suchte er auf die Kleinen durch das Beispiel einzuwirken. Mit einem Worte: 
in ihm haben wir das Beispiel eines Pädagogen im besten Sinne des Wortes, der von seiner 
Aufgabe durchdrungen ist, für sie lebt und vor allem auch für das, was er als recht anerkennt, 
tatkräftig eintritt, ein Mann mit Ziviikonrage! Dieser kleine Abriß würde vollkommen unvoll¬ 
ständig sein, wenn ich nicht noch wenigstens des treffenden Humors erwähnte, der zeigt, daß 
er in einer harten Schule des Lebens erworben ist.“ 

2. „.. Aus verschiedenen Äußerungen glaube ich entnehmen zu dürfen, daß ihn Ent¬ 

täuschungen von der Menschheit abgestoßen haben, so daß er sich als feinfühliger Mensch auf 
sich selber zurückzog und so zu einer gewissen Weltfremdheit kam, die durch sein Junggesellentum 
verstärkt wurde. Ich glaube hier eine zum Teil gestrandete Existenz gefunden zu haben. Er 
würde sicher einen guten Privatgelehrten geben. M 

3. „Ist ein Mann, der über ein sehr großes Fachwissen verfügt, nur besitzt er den großen 

Fehler, alles vollständig einseitig nach seinem Gebiet orientiert zu betrachten. Dazu kommt 
eine grenzenlose Selbstüberhebung. Aus seiner früheren Laufbahn hat er einen Ton mit herüber¬ 
gebracht, den — ein gesellschaftsfähigerer und ebenso treffender Ausdruck steht mir leider nicht 
zur Verfügung — ich etwa mit Saubandenton bezeichnen möchte. Eine Eigenschaft, die mir 
sehr unangenehm auffiel, war die geistige Tyrannei, die einem die Arbeiten gerade auf seinem 
Gebiete sehr verleiden konnte. Betete man getreulich nach, was er vorgebetet hatte, und war 
es selbst so deutlich wie möglich, daß keine eigene Meinung, sondern nur Angenommenes nach¬ 
geplappert wurde, so zog er es doch vor einer eigenen, aber seiner Ansicht entgegengesetzten 
Ansicht vor.“ 

4. „Ist unfähig in allen Fächern, in denen ich ihn gehört habe. Dazu kommt eine Portion 
Beschränktheit und, wie mir scheinen will, eine Portion Liebedienerei. Dazu kommt noch eine 
tüchtige Portion Prahlerei mit Unbeholfenheit und außer diesen beiden das dringende Bedürfnis, 
sich in alles hineinzumischen/ 1 

5. „Er ist beinahe das Ideal eines Lehrers. Seine Unterrichtserfolge sind gut, die Anforde¬ 
rungen hoch, gehen aber nicht über den Horizont des Schülers hinaus. Vor allem versteht er 
es, durch einen guten Witz am rechten Platze immer wieder einmal Leben in die Bude zu bringen, 
wenn es wirklich etwas langweilig wird. Das wesentlichste aber ist, daß er sich sehr gut in 
den Geist seiner Schüler hineinzuversetzen versteht und in der Arbeit an der Jugend wirklich 
aufgeht. Er bietet seinen Schülern auch außerhalb des Unterrichtes sehr viel. Er ist nicht nur 
bei seinen Schülern sehr hochgeschätzt und beliebt, sondern auch an vielen anderen Stellen 
sieht man ihn als einen tüchtigen Mitarbeiter gern. Doppelt hoch ist es ihm daher anzurechnen, 
daß er bei der großen Arbeitslast, die auf ihm ruht, sich noch in so weitgehendem Maße der 
Vertretung der berechtigten Interessen der Schülerschaft widmet, da er von der Notwendigkeit 
der Verwirklichung der Ideen überzeugt ist, die zu einem natürlichen Verhältnisse zwischen 
Lehrern und Schülern führen. Er hat dadurch, daß er wirklich mit seinen Schülern verkehrte, 
erkannt, daß man Autorität, wie die Vertreter des alten Systems die Schleierwolke, bestehend 
aus Unnahbarkeit und vertrockneter Gelehrsamkeit nannten, in die sie sich zu hüllen beliebten» 
wirklich nicht brauchte. Er faßte vielmehr das Problem innerlich an und erreichte so, daß er 
durch sein Wirken bei seinen Schülern echte Achtung und Begeisterung für die überragende 

Persönlichkeit hervorrief.Daß er, weil er ein impulsiver Mensch ist, auch einmal 

danebenschießt, ist eben allzu menschlich. Er ist aber glücklicherweise kein Nachträger, und 
hat er mal zu scharf zugepackt, dann versteht er es auch gut, den Schaden wieder gutzumachen.“ 

6. „Sein Unterricht wird gekennzeichnet durch das Wort Routine. Seine Methode ist gut, und 
man lernt sehr viel bei ihm, was Grammatik betrifft. Die philosophischen Probleme, die er zu 
erläutern hat, trägt er aus Routine zu sehr von sich aus ohne Mitwirkung der Schüler vor, 
weshalb diese dabei oft schlafen, besonders bei der 10. Wiederholung, und sehr wenig davon 
hehalten. Charakteristisch für seine übertriebene Strenge, die in den Unter- und Mittel-, zuweilen 
auch in den Oberklassen die Schüler Angst schwitzen läßt, ist es, daß er auch dem Fehlenden 
Vierer hinschreibt, weil er die Leistungen zu beurteilen habe und die Fehlenden nichts leisteten. 
Er lebt durchaus in dem Untertänigkeitsverhältnis des vorigen Jahrhunderts. Dem Direktor als 


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seinem Vorgesetzten folgt er unbedingt, wenn auch manchmal nur zähnekirschend, aber ebenso 
verlangt er unbedingte Unterordnung von seinen Schülern. Sein Wille ist unumschränkt Er 
kann Aufgaben stellen, so hoch er will, bis der Direktor Einspruch erhebt; er kann bei schlechter 
Laune drei Viertel der Klasse einschreiben, er kann mit beißender Satire seine Anspielungen 
auf die Gegenwart machen, er kann in beißender Ironie heruntermachen: die Schüler haben 
sich ganz still zu verhalten. Anzuerkennen ist sein tiefgehendes und umfangreiches Wissen.“ 

7. „.furchtbar langweilig. Auch den Unbegabten hilft er nicht viel, denn seine 

Erklärungen sind dunkel und mißverständlich, weil er sich, besonders in der letzten Zeit, bei 
drei Sätzen wohl zweimal verspricht Hat er seine Sache dreimal wiederholt, geht er unbe¬ 
kümmert weiter und läßt die andern sehen, wie sie das Pensum verstehen können.“ 

8. „Zu scheiden ist sein Unterricht und seine Stellung zu den Schülern. Sein Unterricht in 
den Sprachen ist künstlich und verderblich. Er erzieht die Schüler tadellos zum Mogeln, ins¬ 
besondere zum Vorpräparieren. Sämtliche Schüler, auch die guten, zittern während der Stunde 
vor Angst zumal er sehr oft seine üble Laune an ihnen ausläßt Es ist ein Fall vorgekommen, 
daß er infolge seiner gänzlich verkehrten Unterrichtsmethode einem schwächeren Schüler, den 
er auf dem Striche hatte, wegen eines Versehens, das die ganze Klasse gemeinsam begangen 

hatte, eine schlechte Note gab.Dazu wiederholt er bis zum Überdruß immer dieselben 

Witze, die in Wirklichkeit gar keine sind. Die Schönheit der Lektüre verdirbt er vielfach, 
indem er zuviel Grammatik hineinbringt. In seinem geschichtlichen Unterricht ist er kleinlich, 
verlangt mehr die Einzelheiten, nicht Verständnis für die großen Linien. Seine philosophische 
Propädeutik ist geradezu ein Verbrechen an den philosophischen Büchern, die er vorliest Er 
legt zuerst seine bzw. seines Lehrmeisters Gedanken hinein, um sie von den Schülern in der 
nächsten Stunde sich wieder erzählen zu lassen. Eine Diskussion der Fragen, die in den ganzen 
zwei Jahren nur einmal vorkam, ist meistens unmöglich, weil sie in der Schule zur Denkfaulheit 
erzogen werden. Er weiß sehr viel, aber er glaubt alles zu wissen und empfindet jeden Wider¬ 
spruch als eine persönliche Beleidigung. Zu seiner Stellung zu den Schülern: daß er den 
wenigsten näher stand, kaum mit einem oder zweien. Er suchte sicher eine Annäherung und 
war auch auf den Ausflügen umgänglicher, im Schulhaus aber umgab er sich sofort mit Würde 
und Autorität. Da er nervös überreizt und sehr jähzornig ist, die Wahrheit nicht vertragen 
kann und immer für seine Autorität fürchtet, kann kein Schüler sich länger als 5 Minuten mit 
ihm unterhalten, ohne in den Gewissenskonflikt zu kommen, entweder zu kriechen und Um mit 
Schmeicheleien zu belügen (das tun 90 °/ 0 ), oder ihm die Wahrheit schonend beizubringen, in 
der Erwartung, jeden Augenblick vor die Tür gewiesen zu werden (das waren kaum 10°/ o )! 
Aber er will nicht nur die Wahrheit nicht hören; wenn er sie zufällig einmal hört, glaubt er 
sie einfach nicht. Findet sich nur eine Stimme, die dagegen spricht, so erklärt er die Wahrheit 
für Lüge, und alles bleibt beim Alten. Er rät seinen Schülern, nicht mit Scheuklappen durch 
die Welt zu gehen, aber er tut es selbst am meisten; er will nichts sehen oder hören, was ihn 
in seiner hohen Meinung von sich wankend machen könnte. Daher arbeitet er gegen jede 
Neuerung, wo er nur kann, nach dem Grundsatz „der Zweck heiligt die Mittel“ und ist gegen 
Lehrer und Schüler nicht immer ganz wahrhaftig. Er ist viel zu stolz, um jemals auch nur 
einzugestehen, daß er in seinem Jähzorn zu weit gegangen ist, geschweige denn, daß er sich 
je bei einem Schüler entschuldigte. Statt andere um Verzeihung zu bitten, verzeiht er den 

anderen, usw.Er scheint ein wahres Vergnügen daran zu finden, schlechte Noten 

anzuschreiben, und ist in den Mittelklassen unglaublich streng. Alle Schüler zittern bisweilen 
vor Angst. In Oberklassen ist er unangenehm schmeichelnd und freundlich. Als Pauker ist 
er ganz gut. 

9. „.Wenig beliebt, weil wenig verstanden. Er tritt für die Freiheit in der 

Schule ein. Er behandelt die Schüler der Oberklasse als jüngere Freunde, die ihr Urteil haben 
und ihre Meinung sagen dürfen, bei denen man angesichts ihres Alters diese oder jene vor¬ 
schnelle Bemerkung nicht tragisch nimmt, auf deren durchaus anständiges und einwandfreies 
Benehmen dem Lehrer gegenüber man aber rechnet und deren Wort man glauben kann. — 

.Er erzieht mit einer einzigen Ausnahme sonst noch an der Schule allein zum 

Selbstdenken. tt 

10. „Ein Mann, der sich durchaus dem Alter und der Empfindungswelt seiner Schüler anzu- 

passen versteht. Er tollt mit den Jungen, ist lustig, wenn es gilt lustig zu sein, versteht Spaß 
und kann doch jederzeit zum Ernst zurückkehren.“ 

11. „Freundlicher, lustiger Herr, nicht allzu streng, der den Schülern möglichste Freiheit gönnt, 
jedoch nach oben nicht immer fest bleibt. . . .“ 

12. „Er ist der einzige, der Mathematik schön unterrichtet, allerdings in den Oberklassen nur 
für die Begabteren. Die andern können nicht folgen. Er ist noch frisch vom Studium and ist 


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bei allen seinen Erklärungen selbst dabei; er macht die Beweise selbst noch einmal mit. Der 
Mangel an Routine berührt wohltuend, der Unterricht ist infolgedessen anregend. . . 

13. „Weiß sehr viel. Will alles anbringen und ist dadurch furchtbar trocken und geradezu 
langweilig, außerdem ungeschickt im Verkehr, verständnislos für alles außer in seinem Fache.“ 

14. „Als Mensch und Wissenschaftler sehr hoch zu schätzen. Als Lehrer bringt er seinen 
Schülern sehr viel bei. Er betreibt dieses Geschäft aber mit einer so maßlosen Pedanterie, daß 
er Leuten, die nicht ebensolche Kleinigkeitskrämer sind wie er, einfach unausstehlich wird. 
Der Jugend steht er wegen seines Alters ziemlich fremd gegenüber. Daher ist er bei den 
kleineren Schülern reichlich unbeliebt und langweilt sie zu Tode. Bei den Schülern der oberen 
Klassen stellt er bisweilen allzuhobe Anforderungen; diese, gepaart mit übertriebener Akribie, 
langweilen und spannen die Schüler ab. Diese Tatsachen drängen selbst die große Ge¬ 
rechtigkeitsliebe des Mannes in den Schatten, und so kommt es, daß man ihn wohl schätzen, 
zu ihm aber in kein Verhältnis kommen kann,“ 

15. „Ein (alkoholischer?) Choleriker, im Grundzug seines Wesens sehr gutmütig. Sein Unter¬ 
richt ist durch Fachkenntnis nicht getrübt. Pädagogische Erfolge sehr minimal.“ 

16. „Man muß scharf unterscheiden zwischen der dienstlichen und privaten Persönlichkeit. 
Im privaten Leben sehr gemütlich und auch liebenswürdig, dafür dienstlich um so schlimmer. 
Er ist maßlos vom Autoritätsdünkel gepackt Er spielt gerne den Wohlwollenden. Von Vor¬ 
urteilen kann er sich nicht ganz frei machen. Pädagogisch steht er nicht gerade sehr auf der 
Höhe. Er liebt es bisweilen, den Stoff in geradezu alberner Weise vorzutragen. Ferner sieht 
er auch in den Schülern der Oberklassen durchaus nicht immer Menschen, mit denen man nach 
den Regeln, die sonst unter kultivierten Mitteleuropäern üblich sind, verkehrt. Als Anhänger 
konservativer Ideen stemmt er sich mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht — und das ist 
sehr viel — gegen das Aufkeimen des neuen Geistes. Er benutzt hierzu Mittel, die pädagogisch¬ 
psychologisch durchaus nicht einwandfrei sind, z. B. Einschüchterung der Schüler, wenn das 
vielleicht bisweilen auch nur unabsichtlich erfolgen mag. Durch dauerndes Hineinziehen der 
Politik bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten verschärft er das Aufeinanderplatzen 
der Geister. Ein weiterer großer Fehler von ihm ist es, daß er sich systematisch der Er¬ 
kenntnis der tatsächlichen Lage verschließt. Durch einige wenige Schmeichler, die das Heer 
der Ängstlichen und Indifferenten mit sich reißen, wird er leider in seinem Wahne immer aufs 
neue gestärkt Leider fehlt ihm auch die nötige Zivilcourage, wie ich aus seinem Verkehr mit 
seinen Vorgesetzten festzustellen Gelegenheit hatte. Er, dem ich den guten Willen durchaus 
nicht absprechen möchte, und der, wie gesagt, außerdienstlich ein ganz passabler Mensch ist, 
bedeutet für seinen Wirkungskreis — fast möchte ich sagen — ein Unglück, da er, von falschen 
Voraussetzungen ausgehend, den Gang der Entwicklung aufzuhalten sucht in Verkennung des 
Wesens der Jugend und der Gegenwart. Umlernen verlangt von ihm niemand; nur sollte er 
Jüngeren, freudigeren Erziehern der Jugend Plajz machen.“ 

17. „Ist ein Pauker, aber auch nichts mehr. Fachkenntnisse besitzt er, dafür aber andere 
nicht so sehr viele, und von Kultur ist keine Spur zu finden. Er ist wohl der einzige durchaus 
nicht einwandfreie Charakter aus einem Kollegium von 18 Lehrern. Zu diesen Vorzügen kommt 
noch ein serviles Wesen, Günstlingswirtschaft und religiöse Intoleranz. Erzieht unfehlbar selbst¬ 
bewußte Charaktere. 

18. „Muster und Vorbild der vorrevolutionären-amtlichen Beamtenschaft; sachlich pedantisch; 
Standesdünkel; ohne eigene Meinung; willfähriges Sprechorgan „amtlicher Verlautbarungen“; amt¬ 
liche Staatsauffassung: „S. M. lebe hoch!“ „Ich hab’ mich ergeben“ mit Herkommensüberzeugung 
und unbewußter Selbsttäuschung; amtliche Religionsauffassung: „Gott mit uns“ „Helm ab zum 
Gebet“; zurückhaltend religiös, offiziell christlich, sittlich betont, kantisches Sittlichkeits- und 
Pflichtgefühl; nach oben stumm, nach unten amtlich. Unproduktiv an Gedanken, eifrig in 
Zusammenstellungen; innerhalb der amtlichen bedingten Verhältnisse ehrlich, sachlich, eigenwillig, 
rücksichtslos, außerordentliches Autoritätsbedürfnis bis zur Willkür und Selbstgefälligkeit, doch 
nicht aus Wollust oder Ungerechtigkeit, sondern stets kantisch sittlich oder staatsautoritativ be¬ 
gründet mit meisterhaft unbewußt unehrlicher und abstoßender Freundlichkeit oder Wohlwollen; 
infolge unpersönlicher, nur einer spießerhaft unbewußten Selbsteingenommenheit entgegen¬ 
kommenden Kritik kindlich und kindisch unerfahren, beinahe dumm im Urteil und im Erkennen 
(doch gilt das nicht für die Wissenschaft). Gestaltet, nicht gestaltend, trotz andauernder Reden 
fUber Persönlichkeit keine Persönlichkeit, sondern ein Opfer von Erziehung und Umgebung, mit 
entstelltem, formenverdecktem Grundcharakter der Dummheitsgüte und menschlicher Einfalt 
repräsentativ aufgeputzt und schulmeisterlich gedrillt. 

19. „Sprechende Göschenbücherei und Lexikon; alles Umfassenwollen, Schnellzugsmensch 


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witzig, zugänglich, kameradschaftlich, geschmeidig und eitel, doch mit gesundem und anregendem 
Oberblicksbedürfnis; entwickelnd und vortragend.“ 

20. „.Bei ihm kann es Vorkommen, daß er nach einem dreiviertel Jahr, seitdem 

er die Klasse übernommen hat, die Namen seiner Schüler noch nicht kennt, eben weil er ihnen 
gar nicht näher kommt und sie nur durch die Gelehrtenbrille ansieht und froh ist, wenn er mit 
seinem Pensum fertig wird.“ 

21. „Behält den Überblick für die großen kulturgeschichtlichen Zusammenhänge, deshalb im 
Unterricht lebhaft und interessant — mißtrauisch, kein Pädagoge.“ 

22.Allerdings hat er mich in der Überzeugung seines sittlichen Standpunktes 

einige Mate stutzig gemacht; ich sah und hörte verschiedenes, das auf innere Unwahrhaftigkeit, 
ja auf Heuchelei schließen ließ. Seine Handlungsweise war jedenfalls nicht immer so einwandfrei 

wie seine Worte.Es gelingt ihm, aufkeimenden Ärger oder Mißstimmungen gegen einen 

Einzelnen zu überwinden. Trägt nicht nach. 

II. 

Schilderungen von Lehrern auf Grund von Fragebogen. 

Da die bisherigen Angaben dem Zufall entstammten und daher mehr oder 
weniger unvollständig waren, wurde ein Fragebogen zusammengestellt und 
mit seiner Hilfe u. a. folgende Charakterbilder von Lehrern entworfen: 

Beispiel: 

„Direktor eines Gymnasiums in einer Stadt von 260 000 Einwohnern; Mitte der 40er Jahre. 

Fachgelehrter, der völlig in der Antike lebte und in seinem Berufe aufging. Er dichtete 
mehrere Einakter, die auch zur Aufführung kamen und einer gewissen Dramatik nicht entbehrten. 
Körperlich war er wenig widerstandsfähig, öfters krank, fast stets leidend. Er starb schnell 
mitten in den 40er Jahren dahin. Er wirkte durch seine volle Beherrschung der Sache; durch 
die lebendige Vermittlung des Stoffes riß er alle mit Er besaß unerschütterliche Ruhe und 
zeigte starke Selbstbeherrschung, selbst wenn er innerlich erregt war. Er war durchaus gütig, 
dabei aber stets bestimmt, jedoch ohne Härte. Wir bewunderten ihn, weil er trotz seines schweren 
Leidens alles vermochte, was er wollte, und weil er ganz aus dem Rahmen der Lehrerschaft 
herausfiel. Wir kamen infolge der sonstigen Schulerziehung und der Kriegswirkung förmlich 
verloddert zu ihm; verschiedene Kandidaten hatten wir herausgegrault. Er erklärte uns bei der 
Übernahme der Klasse, er wollte uns wie Studenten behandeln. Dieser unerwartete Griff wirkte 
ungeheuer stark auf uns. In unverhältnismäßig kurzer Zeit brachte er uns ausnahmslos dazu* 
daß wir zu jeder Stunde mit Begeisterung unsere 100 Verse Homer präparierten. Angst vor 
Strafe kannten wir nicht, obschon er viel verlangte. Wir hätten uns geschämt, wenn wir 
unsere Arbeit minderwertig gemacht hätten. Wir bereiteten uns auf unsere Stunden wie aus 
einer selbst auf erlegten Pflicht und aus zwingender Selbstverständlichkeit heraus vor. Er besaß 
unser volles Vertrauen, und wir sahen zu ihm auf wie zu einem Unfehlbaren. 

Seine Homerstunden verliefen in folgender Weise: Er fragte zunächst, wer sich nicht vor¬ 
bereitet hätte. Wir meldeten uns gegebenenfalls unbefangen und gaben auch an, weswegen: 
der eine hatte einen Roman gelesen, der andere war gewandert, ein dritter hatte Besuch gehabt 
und so fort. Wir verabredeten uns hierfür, damit sich nicht dieselben Kameraden öfters zu 
melden hatten und es ihrer nicht zu viele wurden. Drei oder vier durften sich melden. Diese 
Gewohnheit hatte er programmäßig selbst eingeftihrt. — Hierauf fragte er nach denen, die skia 
besonders gut vorbereitet hatten. Von den dreien oder vieren, die sich meldeten, mußte einer 
vor die Klasse treten und das ganze Pensum von 100 Versen aus dem Handexemplar des Direktor* 
ohne Hilfe übersetzen. Jeder gab sich Mühe, in gutem Deutsch zu reden. Die andern unter¬ 
strichen während dieser Übersetzung die Stellen, die sie selbst anders Übersetzt hätten. Am 
Schluß der Übersetzung gab er stets eine Note. Wenn jemand eine Vier verdient hatte, sagte 
er es ihm, gab ihm aber stets Gelegenheit, diesen Mangel auszubessern. — Hierauf sprach er 
über Einzelheiten des Stoffes vom grammatischen, etymologischen und kulturgeschichtlichen 

Standpunkt. Wir mußten außerdem kritisieren und sagen, was wir selbst anders übersetzt hätten.- 

Nachdem der Stoff so durchgearbeitet war, las er das Griechische ohne grammatische oder 
sonstige Zwischenbemerkungen als Ganzes vor, und wir wurden uns dabei der Schönheit Homora 
voll bewußt. Dann gab er eine Musterübersetzung in seiner schönen Rede- und Sprechweise, 
und wenn wir nachher, seiner Aufforderung folgend, die Vossische Homerübersetzung verglichest, 
fanden wir, daß er Besseres bot. Wir wußten, daß hiermit die Stunde eigentlich zu Bsk de wer. 


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Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer? 


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Er folgte nun einer Liebhaberei, indem er einige Minuten lang Homervokabeln diktierte, die er 
nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet hatte, so über das homerische Haus, die Rüstung u. a. 
Von besonderem Interesse waren die vielen Synonima, die er dabei gab. — Den Schluß der 
Stunde bildete ein Privatgespräch über alles Mögliche. Zwanglos unterhielten wir uns das eine 
Mal über Kinos, das andere Mal über barhäuptiges Gehen und so fort. Trotzdem herrschte 
tadellose Disziplin. 41 

Gegenbeispiel: 

Lateinlehrer der oberen Klasse eines humanistischen Gymnasiums in einer Stadt* von 
250 000 Einwohnern. Junggeselle, etwa 60 Jahre alt. 

Ich war etwa 1 Jahr bei ihm und habe nur Erinnerungen an seine Horazstunden. Von 
seiner fachmännischen Tüchtigkeit hatten wir alle eine sehr wenig günstige Vorstellung; wir 
haben uns sogar überlegt, wie es möglich war, daß er sein Oberlehrerexamen bestanden hatte. 
Man kann ihn weder einen Zunftgeiehrten noch Fachmann noch Dilettanten, selbst nicht einmal 
Pfuscher nennen; denn er hatte kein Streben, keine Richtung, keine Geste, war absolut stumm, 
stumpfsinnig und denkfaul. Von Kritik keine Spur; von Großzügigkeit war ebensowenig zu 
bemerken wie von Kleinlichkeit oder von Tatsachenrespekt, Gründlichkeit oder Tiefe. Aufgeregt 
hat er sich einige Male. Leider sind mir die Einzelheiten hiervon nicht erinnerlich. Strenge 
Konsequenz und Energie gingen ihm völlig ab. Eine gewisse Gewandtheit besaß er — er war 
Ja lange genug Lehrer —, sie bestand aber zugleich mehr in Lässigkeit und Gerissenheit; sein 
Arbeitstempo war langsam, seine Stunden maßlos langweilig. Von Wannherzigkeit war ebenso¬ 
wenig wie von Kälte etwas zu merken; sein ganzes Handeln war durch seine Stumpfheit bedingt. 
Ungerecht war er im allgemeinen nicht, auch kein Lügner. Allenthalben ging es nach seinem 
Schema. Interesse an der Schule brachte er ebensowenig auf wie Hohn oder Spott. Als wir 
von ihm weggingen, waren unsere Lateinkenntnisse eingerostet. 

Seine Berufsaufgabe schien er darin zu sehen, daß er uns das vorgeschriebene Pensum Über¬ 
setzen und einige Stellen auswendig lernen ließ. Andere Aufgaben schien er nicht zu kennen. 
Direkte Fehler machte er dabei nicht, ein Vorzug, den er seinen Übersetzungen (Spickern, 
Schwarten) verdankte; denn ohne diqpe konnte er nie arbeiten. Bei den Vor- und Musterüber- 
setznngen, die er als Lehrer zu geben hatte, stellten wir häufig fest, daß er sie aus eigener 
Kraft nicht zustande gebracht, sondern die gleiche Übersetzung benutzt hatte, die wir heimlich 
gebrauchten. Grammatische, metrische und etymologische Eigenheiten traten in seinem Unter¬ 
richt zurück. Einen Versuch, das Kulturbild der horazischen Periode zu rekonstruieren, machte 
er nicht. Interesse hierfür bekundete er nur, soweit die Schlüpfrigkeit seiner Lebensauffassung 
es bedingte. Diese kam bei erotischen Lektürestellen unverhohlen und mit breitem Grinsen zum 
Ausdruck. Es kam vor, daß er bei solch einer Stelle zu schmunzeln anfing; wenn die Klasse 
ihrerseits mit Lachen reagierte, hörte er auf zu übersetzen und überließ sich hemmungslos 
seinem Behagen. Wir haben ihn deshalb wiederholt unter uns als Schwein bezeichnet 

In seiner pädagogischen Behandlung unserer Leistungen kam fast nur in Betracht, daß jemand 
glatt übersetzen konnte, sonst bekam er eine geringe Note. Mühe gab er sich mit keinem 
von uns. Sinn für den guten Willen eines Schülers schien er nicht zu besitzen. Ein Eingehen 
auf unsere Eigenart konnten wir nicht bemerken, überhaupt schien ihm eigentliches Menschen¬ 
verständnis abzugehen. Der Grundzug seines Wesens war, wie gesagt, eine hochgradige Stumpfheit. 
Trieb und Interesse fehlten ihm vollständig. Launen dagegen spielten bei ihm eine große Rolle 
und beeinflußten auch seine Noten weitgehend. Seine Zeugnisse gab er im allgemeinen schematisch 
nach der Rangordnung, dem Primus gut, der breiten Mitte genügend, den letzten eine 4. 

Erzieherfähigkeiten gingen ihm völlig ab. Die Disziplin in seiner Klasse war mäßig, die 
Langeweile tödlich; sie wurde nur dadurch erträglich, daß wir vieles andere nebenbei trieben, 
vor allem viel lasen. Er wurde reichlich an der Nase herumgeführt. Wenn er einem mit Recht 
auf den Kopf zusagte, er lese seine Übersetzung ab, so konnte man, wenn er gute Laune hatte, 
ohne Strafe befürchten zu müssen, ruhig das Gegenteil behaupten. War er schlechter Laune, 
so stellte er sich neben einen und ließ einen weiter übersetzen. Man mußte dann die Über¬ 
setzung, die man auf dem Rücken seines Vordermannes mit einer Stecknadel festgemacht hatte, 
schnell wegnehmen. Es kam wiederholt vor, daß jemand mit solch einem Zettel auf dem 
Rücken plötzlich vorgerufen wurde. Wenn dieser dann zurückgehen muße, merkte er erst am 
Lachen der Klasse den Rückenschmuck. Mit breitem, gleichgültigem Lächeln gab er dann dem 
dazugehörigen Hintermann eine 5. — Mitunter saß er mit aufgestützem Arm wohl minutenlang 
grinsend, die Klasse anblickend, da. Im Selbstgespräch sagte er dann wiederholt vor sich hin 
„Wie dumm! Wie dumm! 41 Wenn nun die Schüler lachten, fragte er: „Warum lachen Sie denn? 44 
Der angeredete Schüler versicherte empört: „Ich lache ja gar nicht. 41 Er replizierte gleichmütig 
in seinem stumpfen Phlegma: „Sie unverschämter Mensch, Sie lachen ja dauernd. Ich. sehe Sie 


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364 


Gerhard Friedrich 


Ja lachen“. So kam es mitunter zu Unterhaltungen zwischen Lehrer und Schüler, aus denen 
mir nur noch sein näselnder, fauler Ton in Erinnerung geblieben ist. Schließlich brach er mit 
dem typischen Wort: „Ach, setzen Sie sich!“ diese Szene ab. — Folgende Geschichte ist ihm 
mit mir passiert; Ich fehlte einmal. Am Ende der Stunde gab er seine Aufgaben und rief, um 
zu prüfen, daß wir sie verstanden hatten, mich beim Namen auf. Niemand antwortete. Er wieder¬ 
holte meinen Namen. Abermals keine Antwort. Nochmalige Aufforderung. Die Klasse beginnt 
zu lachen. „Stehen Sie auf, wenn ich mit ihnen spreche!“ Mehrmals hat er mich, den Ab¬ 
wesenden, so aufgefordert; schließlich endete er seine Rede mit den üblichen Worten: „Ach, 
setzen Sie sich!“ und ging hinaus, ohne gemerkt zu haben, daß ich fehlte. 

In seinem Privatleben trauten wir ihm keine Beschäftigung mit geistigen Dingen zu. Der 
Politik, dem Vaterland, selbst dem Kriegsausbruch stand er völlig teilnahmslos gegenüber. Für 
Weltanschauung, Religion, Philosophie, Kunst hatte er kein Interesse, für Pädagogik selbst¬ 
verständlich nicht. 

Unter seinen Kollegen war er wenig geachtet. Er stand, ein Junggeselle, isoliert da. 
Von geselligen Beziehungen war uns durch Mitschüler bekannt, daß sie ihn im Kaffeehaus mit 
Kokotten gesehen hatten und daß er ständiger Gast in einem berüchtigen Weinlokal mit Damen¬ 
bedienung war. 

Körperlich war er kümmerlich entwickelt. Ob er krank war, weiß ich nicht. Seine Kleidung 
ist mir nicht als nachlässig in Erinnerung. Seine Haltung zeigte einen starken Schlendrian, 
eine gewisse läppische Selbstgefälligkeit. Seine Sprechweise war nusselnd und gleichgültig. 
Die Worte kamen langgezogen und knarrend heraus. Es war, als wenn es ihm zuviel war, 
seinen Mund aufzumachen. Sein Benehmen war Montags am häßlichsten, dann gab er sich 
mit flegelhaftestem Gähnen und Sichdehnen in der schamlosesten Weise nach. Bescheidenheit 
und Dünkel lagen ihm gleich fern. Selbsterziehung schien er nicht zu kennen. Sein Einfluß 
auf uns war traurig. Er konnte uns nicht zum Denken anspornen, keine edlen Gefühle in 
uns wecken, unsern Willen nicht anregen. 


HI. 

Theoretische Ergebnisse. 

Aus den unverkürzten 68 Spontanschilderungen wurden alle zur Charak¬ 
teristik der betreffenden Lehrer dienenden Urteile ausgesondert, und es er¬ 
gaben sich 522 Einzelurteile (235 günstige, 18 wertindifferente, 269 un¬ 
günstige). Diese ließen sich fast zwanglos zusammenordnen und führten von 
selbst zu zwei verschiedenen Fragen: 

1. Wie denkt sich der Schüler seinen Lehrer? 

2. Wie wünscht er sich seinen Lehrer? 

Was die Zahlen betrifft, die in den Zusammenstellungen verwendet sind, 
so ist zu berücksichtigen, daß in mehreren Schülerurteilen der gleiche Lehrer 
dargestellt ist. Ferner ist zu bedenken, daß die Interesserichtung der Schüler 
zumal in ihren Darstellungen ganz vom Zufall abhängig ist; manche haben 
sicher vieles anzugeben vergessen, worüber sie bei ausdrücklichem Fragen 
hätten Auskunft geben können. Hieraus, aus der Unreife der Urteilenden 
und aus dem verhältnismäßig geringen Umfang des Materials verbietet es 
sich natürlich, aus diesen Zahlen auf den objektiven Tatbestand zu schließen, 
etwa auf die durchschnittliche Beschaffenheit des deutschen Oberlehrers 
überhaupt. 

Methodologisch kommt noch in Betracht, daß bei der Rubrizierung gelegentliche Wieder¬ 
holungen nicht zu vermeiden waren; so ist z. B. Gelehrsamkeit unter „Fachliche Tüchtigkeit“ 
und zugleich unter „Geistige Gesamthöhe“ gebracht, Gutmütigkeit und Boshaftigkeit unter „Soziale 
Anlage“ und „Gefühlsmäßige Einstellung“ u. a. m. Bei der Abzählung der Werturteile (günstig 
indifferent, ungünstig) sind die doppelten Rubrizierungen weggelassen. Da die seltener gebrauchten 
Urteile zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen, wird die Anzahl der abgegebenen Urteile nur da 
genannt, wo sie größer als 4 ist; sie wird in Klammem beigefügt. 


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Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer? 


365 


Im Folgenden werden die Urteile, nach psychologischen Gesichtspunkten 
geordnet, angeführt; sie sprechen zum großen Teil so deutlich für sich selbst, 
daß im allgemeinen nur wenig zur Erläuterung hinzugefügt zu werden braucht. 

Fachliche Tüchtigkeit (33 günstige, 7 ungünstige Schülerurteile): Äußerst gelehrt, ge¬ 
lehrt (6); wissenschaftlich ausgezeichnet; große Fachkenntnisse (18); sachlich; kritisch; tief; 
scharf; klar. — Unwissend; unwissenschaftlich; durch keine Facbkenntnis getrübt; unfähig in allen 
Fächern; schulmeisterlich gedrillt. 

Die Urteile zeigen, daß die Schüler einen Blick für das haben, was der 
Fachmann beachtet, für Vorzüge wie Schwächen. Aus der großen Anzahl 
günstiger Urteile widerlegt sich wohl ohne weiteres die Meinung, daß die 
Schüler auf Grund einer gehässigen Einstellung oder natürlichen Feindschaft 
gegen ihre Lehrer ihre Äußerungen getan haben; vielmehr wird gründliche 
Fachkenntnis durchaus anerkannt. 

Lehrerfolg (16 günstige, 11 ungünstige Schülerurteile): Bringt den schweren Stoff in her¬ 
vorragender Weise bei; bringt sehr viel bei; gut (11J. — Unterricht fürchterlich und verderblich; 
erzieht zu Unselbständigkeit und Denkfaulheit (5); wird mit dem Stoff nicht fertig; nur für die 
Begabten gut; gering. 

Lehrmethode (10 günstige, 11 ungünstige Schülerurteile): Geschick; Routine; fehlende 
Routine wirkt wohltuend, weil nicht übertrieben gewandt; nicht ungeschickt; Pauken ist ihm 
verhaßt; macht die Beweise selbst noch einmal mit; entwickelnd. — Ungewandt; unbeholfen (5); 
Pauker; yortragend; abgeleiert; geschäftsmäßig; trocken; schematisch; stellt zu hohe An¬ 
forderungen. 

Aus den Bemerkungen über die Lehrmethode als solche erkennt man den 
Ruf der Schüler nach geschicktem, der Art des jeweiligen Stoffes Rechnung 
tragenden Unterricht. 

Eingehen auf Einzelheiten (6 günstige, 16 ungünstige Schülerurteile): Gründlich (5); 
sorgfältig. — Akribie; pedantisch (5); kleinlich; wiederholt zu oft; will alles anbringen; 
oberflächlich. 

Die Schüler zeigen Verständnis für gründliche Arbeit, klagen aber lebhaft 
über Kleinkrämerei und übertriebene Sorgfalt. 

Eindruck des Unterrichts (8 günstige, 11 ungünstige Schülerurteile): Interessant (7); 
unterhaltend. — Langweilig (11); [trocken; geschäftsmäßig; abgeleiert; vortragend]. 1 ) 

Bei der großen Bedeutung des Unterrichtseindrucks auf die Schüler muß 
die hohe Ziffer für Langeweile recht bedenklich stimmen; denn Langeweile 
ist schlechthin die gefährlichste Kulturgiftpflanze in der Schule. Die Schüler 
leiden unter dem Mangel an Schwung und mitreißender Begeisterungsfähigkeit 
des Lehrers. 

Gefühlsmäßige Einstellung (21 günstige, 3 indifferente, 17 ungünstige Schülerurteile): 
Froh; lustig; lebhaft (5); temperamentvoll; gutmütig; Geduld; Herzensgüte; Gefühlsinnigkeit; 
reiche Innerlichkeit. — Emst. — Verbittert; nervös; reizbar; jähzornig; aufbrausend; ungeduldig; 
von Launen abhängig; boshaft; interesselos. 

Das Zahlenverhältnis der Urteile 21:17 entspricht nicht dem Gedanken 
Jean Pauls: „Heiterkeit ist der Himmel, unter dem alles gedeiht außer den 
Giften“. Die Schüler empfinden gerade den Mangel des Lehrers an Frohsinn 
und innerer Freudigkeit oft sehr lebhaft. 

Erzieherfähigkeiten (28 günstige, 1 indifferentes, 49 ungünstige Schülerurteile): Guter 
Pädagoge, Lehrer (11); wirkt durch Beispiel; erzieht zum Selbstdenken; Wille zur Erziehung, 
nicht zum Pensum; feste Erziehungsgrundsätze; hält Disziplin; gerecht (6); macht eigene Fehler 
wieder gut; nicht nachtragend. — Streng. — Kein Pädagoge; lächerlich unfähig; schlechter 
Lehrer; pädagogisch nicht auf der Höhe; pädagogische Erfolge sehr minimal; [Pauker; schul¬ 
meisterlich gedrillt]; kein Vorbild; haut daneben; pensionsbedürftig; zum Pensionieren reif (5), 


*) Wiederkehrende Urteile sind bei der Wiederholung hier und in den folgenden Fällen in 
eckige Klammem gesetzt. 


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366 


Gerhard Friedrich 


verbraucht; [unbeholfen (5); ungewandt]; zu bewußt wirkend; kennt nur gute und schlechte 
Schüler; hält schlecht Disziplin; ungerecht; erzieht selbstbewußte Charaktere; erzieht zum 
Mogeln; erzieht zum Heucheln; [erzieht zu Unselbständigkeit und Denkfaulheit (5)]; zieht vor; 
erzieht von oben herab; selbstherrlich; autokratisch; absolut; tyrannisch; schüchtert ein; macht 
Angst; übertrieben streng; autoritätsbedürftig. 

Den Erzieherfähigkeiten messen die Schüler ungeheure Wichtigkeit bei, 
und dementsprechend sind auch gerade unter diesem Gesichtspunkt bei weitem 
die meisten Urteile abgegeben worden. Erschreckend ist die Menge der 
ungünstigen Urteile, besonders der Reichtum an Einzelbemerkungen über 
Erziehungsfehler, deren Anschaulichkeit sicher nicht auf Vorurteile und Irr- 
tümer zurückgeht, sondern offenbar auf ein lebhaftes Sehnen der Schüler 
nach echten Erzieherpersönlichkeiten, nach wirklicher Erziehung zurück¬ 
schließen läßt. 

Fähigkeit zum Eingehen auf die Schüler (30 günstige, 2 indifferente, 18 ungünstige 
Schülerurteile): vorhanden; Liebe zu den Schülern; herzlich; feinfühlig; volle Anpassung; sieht 
die Schüler als jüngere Freunde an; verkehrt mit den Schülern, daher Verzicht auf Autorität; 
Kameradschaft; vertritt die Interessen der Schüler; bat den Geist der Schule erfaßt; überzeugter 
Vertreter eines neuen Geistes in der Schule; für Freiheit der Schule; gönnt den Schülern mög¬ 
lichste Freiheit; sucht die Schüler zu verstehen; jeden als Problem nehmend. — Patriarchalisches 
Verhältnis; wenig beliebt, weil wenig verstanden. — Fähigkeit zum Eingehen auf die Schüler 
fehlt (10); feindseliges Verhältnis; vertieft absichtlich die Distanz; Untertänigkeitsverhältnis; 
abweisend; kühl; fremd; verkennt da9 Wesen der Jugend. 

Das Auffällige ist hier nach den Urteilen das verhältnismäßig häufige 
Fehlen des Verständnisses der Lehrer für die Schüler; andrerseits sieht man 
aus der Mannigfaltigkeit der günstigen Bemerkungen, daß die Fähigkeit des 
Lehrers zum Eingehen auf die Schülereigenart ebenso wie die Erzieher¬ 
fähigkeiten überhaupt den Schülern ganz besonders wichtig erscheinen, daß 
sie also einen offenen und herzlichen Verkehr mit den Lehrern herbeiwünschen. 

Allgemeinbildung (8 günstige, 6 indifferente, 9 ungünstige Schülerurteile): Allgemein- 
bildung auffällig gut; fein; äußerst kultiviert; vielseitig; erfahren; fördert die Allgemeinbildung. — 
Achtbarer Spießer; unbedeutend; unbedeutender Durchschnitt. — Allgemeinbildung fehlt; auf 
dem Stand seines 30. Jahres stehen geblieben; innere Unbildung; unkultiviert; unfeiner Ton; 
einseitige Bildung; verständnislos für alles außer seinem Fach; fehlender Emst. 

Gute Allgemeinbildung wird lebhaft anerkannt und nach den verschiedensten 
Seiten hin charakterisiert; für ihren wirklichen oder vermeintlichen Mangel 
finden sich einige drastische Ausdrücke. Man erkennt, daß sich die Schüler 
durch eine einseitige Fachbildung des Lehrers in dem dringenden Bedürfnis 
nach allgemeingeistiger Anregung nicht befriedigt fühlen. 

Geistige Gesamthöhe (15 günstige, 1 indifferentes, 28 ungünstige Schülerurteile): [äußerst 
gelehrt, gelehrt (6)]; Streben nach Tiefe; [klug; kritisch; tief; scharf; klar; sachlich]; weltoffen; 
geistig beweglich; als Mensch unterhaltsam; frei; vorurteilslos; eigene Überzeugung; besitzt 
erstrebt Übersicht; steckt hohe Ziele; für höhere Gesichtspunkte empfänglich. — Noch imbeständig; 
[achtbarer Spießer; unbedeutend; imbedeutender Durchschnitt]. — Dumm; beschränkt; nicht be¬ 
sonders begabt; [unproduktiv]; ohne eigene Meinung; von Vorurteil abhängig; unfähig zu ob¬ 
jektivem Urteil; kein Verständnis für große Zusammenhänge; Überblick fehlt; ohne innere 
Festigkeit; fachsimpelnd; [verständnislos für alles außer seinem Fach]; höheren Fragen hilflos 
preisgegeben; für höhere Gesichtspunkte unempfänglich; innerlich und äußerlich alt; nicht mehr 
neuerungsfähig; stemmt sich gegen Neues; albern; Narr. 

Eine große Reichhaltigkeit an Einzelbemerkungen kennzeichnet die Ein¬ 
stellung der Schüler zu der geistigen Gesamthöhe des Lehrers, an die sie 
offenbar hohe Anforderungen stellen. Aus dieser Einstellung dürfte sich 
auch die überwiegende Anzahl der imgünstigen Urteile erklären. 

Soziale Anlage (32 günstige, 21 ungünstige Schülerurteile): Vertrauend; [gutmütig]; ge¬ 
mütlich; wohlwollend; väterlich; familiär; freundlich (6); nett; zuvorkommend; nobel; vornehm- 


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Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer? 


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aristokratisch; [gerecht (5); macht eigene Fehler wieder gut]; tolerant; offen; zugänglich; [fein¬ 
fühlig]; anhänglich. — Mißtrauisch; hinterlistig; abstoßend freundlich und wohlwollend; freundlich 
schmeichelnd; hämisch; beißende Ironie; [boshaft]; sich einmischend; indiskret; taktlos; auf¬ 
dringlich; rücksichtslos; brutal gegen Unbegabte; ehemaliger Unteroffizier, sehr grob; grob; 
unberechenbar; [ungerecht; abweisend; kühl]; unzugänglich. 

Viele Urteile liegen über die soziale Anlage vor; sie hängt eben eng mit 
der Erzieherpersönlichkeit und ihrem Verhalten den Schülern gegenüber zu¬ 
sammen, als deren fein menschliche Seite sie von diesen besonders hervor¬ 
gehoben und scharf kritisiert wird. 

Stellung zum Selbst (6 günstige, 3 indifferente, 37 ungünstige Schülerurteile): Große 
Selbstüberwindung, Selbstbeherrschung; zurückhaltend; religiös zurückhaltend) stark sittlich; 
pflichtbewußt. — Impulsiv; hält viel auf äußere Form. — Unbeherrscht; religiös intolerant; 
eigenwillig; verträgt keinen Widerspruch; empfindlich; leicht beleidigt; Prahlerei; selbstgefällig; 
eingebildet (7); eitel; glaubt alles zu wissen; [selbstherrlich]; grenzenlose Überhebung; Standes¬ 
dünkel; AutoritätsdUnkel; [erzieht von oben herab]; spielt gern den Wohlwollenden; neugierig; 
schwatzhaft; [albern; Narr]; Selbstironie; lebemännisch; angefaulte Moral; egoistisch; zu schüchtern. 

Man sollte meinen, daß die Schüler auf die Stellung des Lehrers zum 
Selbst weniger achten; um so mehr überrascht die große Anzahl der Urteile 
auf diesem Gebiet. Darin und in dem Inhalt der einzelnen ungünstigen 
Urteile zeigt sich der natürliche Instinkt der Schüler für wahre menschliche 
Werte und ihre Empfindsamkeit gegen die Verletzung der Pflichten, deren 
Erfüllung sie vom Lehrer seinem eigenen Ich gegenüber verlangen. 

Stellung zum Vorgesetzten (1 günstiges, 1 indifferentes, 11 ungünstige Schülerurteile) 
Zivilkourage vorhanden. — Noch nicht angestellt, daher sehr von oben abhängig. — Zivilkourage 
fehlt; servil; liebedienerisch; Kapitulantennatur; kein Rückgrat nach oben; willfähriges Sprech¬ 
organ amtlicher Verlautbarungen; nach oben stumm, nach unten amtlich; wenig Willensstärke 
gegenüber dem Direktor; nach oben nicht immer fest. 

Die große Bedeutung des Verhaltens des Lehrers zu seinem Vorgesetzten 
tritt klar zutage. Mögen die Urteile sachlich richtig sein oder nicht, jeden¬ 
falls ist es bedauerlich, daß solch Bild sich in den Köpfen dieser Jungen 
widerspiegelt. Aus diesen Urteilen klingt aufs deutlichste ihr Schrei nach 
wahren Führematuren unter den Lehrern wider. 

Stellung zur Politik (1 indifferentes, 7 ungünstige Schülerurteile): Weiß in unserer Zeit 
Bescheid. — Gegenwartsverständnis fehlt; beißende Anspielungen auf die Gegenwart; politischer 
Katzenjammer; Politik bei passenden und unpassenden Gelegenheiten hereingezogen; dringt seine 
Auffassung auf. 

Die Hinzufüguug dieser Rubrik rechtfertigt sich durch eine Anzahl Äuße¬ 
rungen, die hauptsächlich bei älteren Lehrern fehlendes Verständnis für die 
Gegenwart und vielfach beobachtete Unfähigkeit zur Umstellung auf die 
neuen Verhältnisse betonen. 

Wahrhaftigkeit (4 günstige, 5 ungünstige Schülerurteile): Aufrichtig; ehrlich; spricht die 
Wahrheit. — Unaufrichtig; innerlich unwahr; Heuchelei. 

Daß sich hierüber sehr wenig Urteile finden, hat seinen Grund offenbar 
darin, daß auch die Schüler die Wahrhaftigkeit als eine selbstverständliche 
Voraussetzung für jeden Lehrer ansehen und die Sachlage dieser Voraussetzling 
wohl im allgemeinen entspricht. 

Humor und Witz (4 günstige, 1 ungünstiges Schülerurteil): Humor vorhanden; Witz vor¬ 
handen. — [Verbittert]; wiederholt stets denselben Witz, der kein Witz ist; [albern; Narr]. 

Schönheitssinn (2 günstige, 2 ungünstige Schülerurteile): Ästhetische Begabung; betont 
poetische Schönheiten. — Schöngeistiger Dilettant; verdirbt die Schönheit der Lektüre durch 
Grammatik. 

Es ist auffällig, daß über diese beiden Rubriken so wenig von den Schülern 
gesagt wird. Es scheinen für sie demnach Humor, Witz und Schönheitssinn 


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Gerhard Friedrich, Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer? 


bei ihren Lehrern etwas Besonderes und Seltenes zu sein, während sie doch, 
wie im Leben überhaupt, so vornehmlich in der Erziehung immer von neuem 
Quellen echten Frohsinns und tiefinnerer Freude sein sollten. 

Guter Wille (11 günstige, 1 ungünstiges Schülerur^il): Guter Wille vorhanden (11); [Wille 
zur Erziehung, nicht zum Pensum; hohe Ziele]. — Schwach. — 

Der fast rein positive Charakter dieser Urteile läfit zurückschließen auf das 
Bestreben der Schüler, möglichst sachlich und gerecht eu urteilen. 

Ein Gesamtüberblick über die Spontanschilderungen zeigt die.erfreuliche 
Tatsache, daß in zwei Gebieten, „Fachliche Tüchtigkeit“ und „Guter Wille“, 
die günstigen Urteile stark überwiegen, daß also auch nach dem Schülerurteil 
unser Oberlehrerstand Gutes will und kann. Dagegen muß es ernst stimmen, 
daß die Anzahl der Urteile über Erzieherleistungen sehr groß und die Meinung 
der Schüler darüber sehr gering ist. 


IV. 

Vergleich der.Schülerwünsche mit den Idealforderungen eines Pädagogen. 

Nach Feststellung der Ergebnisse aus den Schülerurteilen liegt es nahe, 
irgendein Lehrerideal aus der Literatur damit zu vergleichen. Betrachtet 
man z. B. die Forderungen, die Adolf Matthias 1 ) an den vollwertigen 
Lehrer stellt, so ergibt sich Folgendes: 

Von den sieben Hauptgruppen, die Matthias aufstellt, sind sechs auch in 
den Schülerurteilen vertreten; es fehlt nur die Gruppe, die über amtlichen 
Charakter, Kollegialität und soziale Stellung des Lehrers handelt. Aus den 
übrigen Gruppen, die 24 positive und 18 negative Forderungen enthalten, 
sind nur drei von den Schülern nicht erwähnt: 1. Der Lehrer muß selbst 
ein Ideal vor Augen haben; 2. er muß Ideal und Wirklichkeit stets in Ver¬ 
bindung halten; 3. seine Religiosität soll sich nicht in vielen Worten äußern, 
sondern im ganzen Ton und Tun sich ausdrücken. 

Man sieht also, daß außer der erwähnten Gruppe der Beamteneigen¬ 
schaften ,. die an sich nicht im engeren Gesichtskreis der Schüler liegt, nur 
drei einzelne Idealforderungen fehlen. Dieser Mangel ist eine natürliche 
Folge der Altersstufe der Schüler. Das wichtigste aber ist, daß die Schüler 
sonst auf genau die gleichen Momente achten wie der Pädagoge und daß 
in keinem Punkte ein Widerspruch zwischen den Forderungen der Schüler 
und denen von Matthias besteht Diese Tatsache zeigt ganz deutlich, daß 
(mindestens) die älteren Schüler sehr gut beobachten und in ihren 
Werturteilen im allgemeinen durchaus das treffen, was auch der 
Fachmann erkennt und fordert. Nur die Altersstufe hindert sie, einige 
abstrakte Forderungen zu stellen, die erst dem gereiften Manne nahe liegen. 
Die Schüler erkennen nicht nur mit feinem Instinkt Vorzüge wie Schwächen 
des Lehrers, sondern achten auch scharf darauf und richten ihr Verhalten 
dem Lehrer gegenüber weitgehend darnach ein. So möge das Ergebnis der 
Arbeit zngleich als Mahnung angesehen werden, die Schülerurteile ernst zu 
nehmen und nicht von vornherein als unreif und geringschätzig oder gar 
gehässig beiseite zu werfen. 


’) Vgl. Baumeister, „Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre lür höhere Schulen,“ 
II. Bd„ 2. Abt., S. 10/29. 


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H. Fuchs, Die Unterrichtsfrage vom Standpunkt der Psychologie des „Als-Ob 


369 


Betrachtungen Aber die Unterrichtsfrage vom Standpunkt 
der Philosophie des „Als-Ob“. 

Von Hans Fuchs. 

Die von Vaihinger in seinem grundlegenden Werke 0 niedergelegte Philo¬ 
sophie des Als-Ob hat das moderne Denken nachhaltig beeinflußt, indem es 
moderne Weltanschauungsfragen in neue Beleuchtung rückte und neue eigen¬ 
artige Probleme aufwarf. Die Meinungen über viele Anschauungen Vaihingers 
z. B. über seine Kantinterpretation, über seine biologische Lebensauffassung, 
über seinen idealistischen Positivismus mögen sehr geteilt sein — das ist gerade 
deshalb verständlich, weil die verschiedensten Weltanschauungen in seiner 
Philosophie einen Konzentrationspunkt gefunden haben —, in einem Punkte 
sind sich aber wohl alle, die sich mit V. beschäftigt haben, einig, über die 
Bedeutung der formalen Auswertung des Fiktionalismus für die einzelnen 
Wissenschaften. 

Auch die Pädagogik kann an V.s Werk nicht achtlos vorübergehen und 
wird in Zukunft noch manche fruchtbare Anregung vom Fiktionalismus er¬ 
fahren. Besonders die Unterrichtslehre wird die völlige Deutung vieler Ma߬ 
nahmen nur mit Hilfe des Fiktionalismus herbeiführen können. So scheint 
auch die heute so viel umstrittene Unterrichtsfrage vom fiktionalistischen 
Standpunkt aus eine Erklärung zu finden. Zu ihrer näheren Untersuchung 
wird man auch auf eine kurze geschichtliche Erörterung nicht verzichten 
können, und man wird daher gut tun, auf die Sokratik des Rationalismus zurück¬ 
zugehen. 

Die rein scholastisch und dogmatisch orientierte Zeit nach der Reformation 
führte in der Pädagogik zu einer mechanischen, geisttödenden Methode, be¬ 
sonders zu einem memorierenden, grammatikalisch zergliedernden Religions¬ 
unterricht, der aber auch für die andern Unterrichtszweige maßgebend wurde. 
Die Unterrichtsweise bestand im öden Abfragen des zif memorieren¬ 
den Stoffes, und wo man einen vertiefenden Unterricht zu erteilen glaubte, 
wurde ohne Rücksicht auf die menschliche und besonders die kindliche Psyche 
die Methode des wissenschaftlich philosophischen Denkens auf die Schul¬ 
methode übertragen. Lernstoff waren die Dogmen der Kirche, und ihre 
gelehrten Interpretationen gestatteten nichts anderes als eine memorierende 
Methode, weil der Laie von vomeherein darauf verzichten mußte, verständnis¬ 
voll dem Dogmengebäude der Kirche nahe zu treten. 

Da kam die Zeit des Rationalismus, und basierend auf der Lehre vom 
Naturrecht und der Naturreligion formulierte man in der Pädagogik das Prinzip 
der Naturgemäßheit. Jetzt sah man die Psyche des Menschen ganz anders. 
Sie erschien als eine organische Einheit, deren Hauptfunktion die Ratio war. 
Man zog daraus die methodische Konsequenz und sah das Ziel des Unterrichts 
darin, der Ratio zu zweckmäßiger, naturgemäßer Tätigkeit zu verhelfen, sie 
selbständig zu machen, nur die Stoffe an sie heran zu bringen und sie von 
ihr assimilieren zu lassen. Mit dem Rationalismus kam man auf den Ge¬ 
danken des Sokrates zurück, der Seele die Möglichkeit zu geben, sich aus 


*) Hans Vaihinger! Die Philosophie des Als-Ob. System der theoretischen, praktischen und 
religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem 
Anhang über Kant und Nietzsche. Vierte Auflage. Leipzig 1920. 


Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie. 

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370 


Hans Fuchs 


sich selbst zu entwickeln, „in sie den Stachel zu legen, der sie unwider¬ 
stehlich vorwärts treibt“, den Drang zur Wahrheit, entsprungen aus der Tiefe 
der Seele, der zur Einheit des Erkennens und Wollens strebt, zu der Gewi߬ 
heit, daß unser Leben bestimmt ist durch die Ideen, die ihm Wert geben. 
So soll die Seele Motiv und Ziel der Selbstentfaltung erhalten. 
Das soll geschehen durch den sokratischen Unterricht, der die Selbsttätigkeit 
fördert und die Kräfte der Seele wachruft. Die sokratische Methode bildete 
eine wesentliche Seite der Philosophie des Sokrates, war die Methode des 
griechischen Rationalismus und wurde auch die Methode des Rationalismus 
des 18. Jahrhunderts. Es waren also die Prinzipien der Anschaulichkeit und 
der Selbständigkeit, die für die neue Methode bedeutsam wurden. Daß diese 
Prinzipien tatsächlich vorherrschten, beweisen uns neben Basedow, Bahrdt und 
Dinter *) viele andere Sokratiker l 2 ). Ihnen schwebte für die Schularbeit theoretisch 
zweifellos eine Arbeitsgemeinschaft vor, wie sie jetzt in der Arbeitsschule 
verwirklicht wird. In der Praxis ist das allerdings nicht deutlich geworden. 

Es ist nun interessant festzustellen, daß die Pädagogik trotz der neuen 
Orientierung bei der Fragemethode blieb. Das ist nur zu erklären mit 
der Annahme, daß jetzt der Methode eine andere Auffassung der 
Frage, wenn auch unbewußt, zugrunde lag. Unsere Ansicht geht 
dahin, daß auch die Unterrichtsfrage dazu beitragen kann, die eben gekenn¬ 
zeichnete Absicht der Sokratiker zu verwirklichen. 

Wir sehen mit Tumlirz den hauptsächlichsten Teil der Frage in ihrer 
emotionalen Seite, und deshalb erscheint sie uns in erster Linie als Wahr¬ 
heitsbegehren. Was in ihr so gewissermaßen keimartig enthalten ist, das 
soll im ganzen Unterricht allmählich zu einem die ganze Seele erfüllenden 
Begehren entwickelt' werden. So ist die pädagogische Frage 3 ) nicht ein 
zufälliges pädagogisches Mittel, geheiligt durch ehrwürdige Tradition, sondern 
ihr Gebrauch ist tief in der Eigenart der Menschenseele begründet. Sie ist, 
um mit Hugo Gaudig zu reden, „eine Naturform, eine Lebensform geistiger 
Energie, die in der gesamten Struktur des menschlichen Geistes hohen und 
bleibenden Wert hat“ 4 ). Die gesamte Bildung eines Menschen wird erreicht 
durch stufenweise aufsteigende Abwechslung ineinandergreifender Fragen und 
Antworten 3 ). Diese Entwickelung soll jedes Kind, wenn auch möglichst ab¬ 
gekürzt, durchmachen; und da der Unterricht den von der Natur vorgezeich¬ 
neten Gang nachzugehen hat, wird er immer wieder auf das Frage- und 
Antwortverfahren zurückkommen. Im Dienste der Entwickelung der Selbst¬ 
tätigkeit stehend, muß dieser Frageprozeß aber in den Zögling hineingelegt 
werden. Darum muß die pädagogische Frage sogegeben werden, alsob sie der 


l ) Siehe Basedow, Methodischer Unterricht der Jugend in der Religion und Sittenlehre der 
Vernunft. Altona 1764. Bahrdt, Philanthropinischer Erziehungsplan oder Vollständige Nach¬ 
richt von dem ersten wirklichen Philanthropin Marschlins. Frankfurt a. M. 1776, S. 136 und 201. 
Di nt er, Regeln der Katechetik, herausgegeb. von Mann. Langensalza 1887. Derselbe: Die 
vorzüglichsten Regeln der Pädagogik. Neustadt 1827, S. VTEIff. 

*) Siehe Schien, Die Sokratik im Zeitalter der Aufklärung. Breslau 1900, S. 316 ff. 

9 ) Die Bezeichnung „Pädagogische Frage“ ist hier gebraucht im Anschluß am Tumlirz: „Das 
Wesen der Frage. Beiträge zu ihrer Psychologie, Gegenstandstheorie und Pädagogik.“ Leipzig 1919. 
Dieser Begriff wird jedoch weiter unten etwas enger gefaßt werden als bei Tumlirz und sich 
nur auf die fiktive Unterrichtsfrage beziehen. 

4 ) Gaudig, Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit Leipzig 1917, S. 109. 

*) O. Liebmann, Kant u. die Epigonen. Stuttgart 1866, S. 63. 


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Die Unterricbtsfrage vom Standpunkt der Psychologie des .Als-Ob“ 


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Schüler gestellt hätte, als ob sie aus dem Gedankenverlauf des Schülers 
entstanden wäre. So drängt also das Prinzip der Entfaltung der Kräfte dazu, 
den Grundcharakter der pädagogischen Frage fiktionalistisch zu gestalten. 

Der Sokratik wird nun heute gerade ihre Fragemethode zum Vorwurf ge¬ 
macht, und man kann die Berechtigung dieser Vorwürfe nicht bestreiten. 
Es kam aber zum falschen Gebrauch der Unterrichtsfrage (abgesehen davon, 
dafi man zu einem Fragegebrauch im fiktionalistischen Sinne nicht kommen 
konnte), deshalb, weil 1. der Unterricht seinen Angelpunkt in der Person des 
Lehrers behielt und 2. weil man nicht einmal zu einer besonderen Theorie 
der Unterrichtsfrage sich aufschwingen konnte, sondern die logische und 
pädagogische Interpretation der Frage durcheinanderwarf. 

Die praktische Pädagogik konnte trotz der oben angedeuteten Ansätze und 
obgleich Rousseau dem Kinde eine bisher nicht geahnte Bedeutung gegeben 
hatte, von der Autorität des Lehrers nicht so viel aufgeben, wie zur Schaffung 
der erstrebten „Arbeitsgemeinschaft“ notwendig gewesen wäre 1 ). Im Mittel¬ 
punkt des Unterrichtes stand die Morallehre. Und war nicht eine Autorität 
notwendig, um dem Zögling den Pflichtenimperativ und damit die moralischen 
Prinzipien als im Geiste ruhend zum Bewußtsein zu bringen? Außerdem 
kam der mangelhaft ausgebildete Lehrer immer darauf zurück, das Ziel des 
Unterrichts in der Aneignung des Wissensstoffes zu sehen und die Frage als 
Mittel, den Fortgang dep begrifflichen Aneignens zu kontrollieren, zu gebrauchen. 

Zweitens gestatteten die Ansichten über die Theorie der Frage nicht eine 
Entwickelung in der angegebenen Richtung. 

Die alte Logik hat das Wesen der Frage nicht richtig erkannt. Die Frage 
wurde angesehen als ein unvollständiger Satz. Für diese Ansicht scheint 
damals der Engländer Harris 2 ) maßgebend gewesen zu sein, weil sowohl Moses 
Mendelssohn als auch Gräffe 3 ) sich auf ihn beziehen. Mendelssohn definiert 
die Frage so: „Es ist offenbar, daß jeder Fragende etwas zu erfahren ver¬ 
langt, wodurch ein mangelhafter Satz ergänzt und vollständig gemacht wird. 
Die Antwort ersetzt diesen Mangel und verwandelt also einen gegebenen 
unvollständigen in einen vollständigen Satz.“ Ihm pflichtet Gräffe bei, indem 
er diese Ansicht noch durch Diogenes Laertius bestätigen läßt. Wenn hier 
das Verlangen, etwas zu erfahren (allerdings ohne diese Wendung allzuviel 
zu betonen) wenigstens erwähnt ist, so beschränkt Mendelssohn selbst sich 
später nur auf den 2. Teil der Definition *). Viele Nachfolger haben sehr 
zum Schaden der pädagogischen Methodik diesen Gedanken einfach über¬ 
nommen. Am deutlichsten sehen wir das an Dinter, der einfach definiert: 
„Eine Frage entsteht, wenn ich einen oder mehrere Bestandteile eines Satzes 
-weglasse und von dem Gefragten verlange, daß er das Fehlende ergänzt 5 ). 
Diese oberflächliche grammatische Auslegung der Frage scheint allerdings 
die Zweckmäßigkeit der pädagogischen Frage, wie sie in der Zeit vor der 

*) Daß Ansätze dazu vorhanden gewesen sind, zeigt auch Vierthaler im „Geist der Sokratik“. 
Salzburg 1793, S. 33, 69 (Hinweis darauf, daß Sokrates im Euthyphron nur Schüler sein will; 
b. ebenda S. 97). 

*) James Harris, Hermes, or A philosophical Inquiry conceming universal Grammar. The third 
edition London 1771. Liegt hier vor in der Übersetzung von Ewerbeck. Halle 1788. S. dort S. 124 ff. 

*) M. Mendelssohn, Morgenstunden, Kap. VH. J. F. C. Gräffe, Vollständiges Lehrbuch der 
«dlgem. Katechetik nach Kantischen Grundsätzen. Göttingen 1717. Bd. I, S. 344. 

4 ) M. a. a. 0. S. 404 (Mendelssohn). 

5 ) Dinter, Regeln der Katechetik, a. a. 0., S. 1. 

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Sokratik gebraucht wurde, zu bestätigen 1 ). Die wirkliche Eigenart der päd¬ 
agogischen Frage konnte aber von dieser Ansicht aus nie erfaßt werden 2 ). 
Dem Wesen der Frage überhaupt kam man etwas näher, als man zur logischen 
Interpretation überging und die Frage als ein „unvollständiges Urteil“ de¬ 
finierte. Die Pädagogik ging dabei augenscheinlich auf den Logiker Maaß 3 ) 
zurück, dessen Definition von der Frage lautet: „Die Frage ist eine Vor¬ 
stellung oder ein Inbegriff mehrerer Vorstellungen, die als Stoff zu einem 
Urteil gedacht werden.“ Diese Definition gilt auch jetzt noch immer. Lipps 
definiert: „Die Fragen sind unvollständige, unfertige Urteile, eine Vorstufe 
des Urteils“ 4 ), und Martinak hat in Beiner klaren Darstellung über das Wesen 
der Frage diese Definition als die treffendste bezeichnet 3 ). Aber auch von 
dieser Erklärung aus konnte man auf das Eigentümliche der pädagogischen 
Frage nicht kommen, es blieb bei ganz geringen Ansätzen; v. Zezschwitz 6 ), 
der zur Geschichte der pädagog. Frage recht viel Material zusammengetragen 
hat, weist auf einen Theologen Nitzsch hin, der das nvafia und igd/zy/ia 
im Sinne der Alten als Erkundigungs- und Lehrfrage unterscheiden zu müssen 
glaubte. Darin lag insofern ein Fortschritt, als hier der Unterschied zwischen 
der Unterrichtsfrage und der eigentlichen Frage deutlich ausgesprochen wurde. 
Etwas näher kam Thilo 7 ) dem Wesen der pädagog. Frage. Die eigentliche 
Frage bezeichnet er als „den Ausdruck eines Verlangens, an eine Person ge¬ 
richtet, um eine Erkenntnis, die sich im Werden begriffen darstellt, zu ihrer 
Abschließung zu bringen“ 8 ). Wenn diese Definition auch, wie Thilo es tut, 
auf die pädagog. Frage bezogen wird, kann sie nur in einer das Leben anti¬ 
zipierenden Arbeitsgemeinschaft Berechtigung haben. Thilo fordert deshalb, 
daß die Frage des Lehrers ganz der Lage und dem Erkenntnisinteresse des 
Schülers gemäß gebildet sei, zur Wahrung der Selbsttätigkeit des Schülers 9 ). 
Dann muß aber die pädagog. Frage als Fiktion aufgefaßt werden. Diesen 
letzten Schluß hat Thilo nicht getan; wir sehen aber, daß schon der erste 
Schritt zur Charakterisierung der pädagog. Frage zur Fiktion führt 
Reinstein 10 ) hat die Definition der Frage folgendermaßen gefaßt: „Die 
Frage ist ein grammatisch vollständiger Satz, der die absichtliche indirekte 


') v. Zezschwitz, System der christlichen kirchlichen Katechetik, Leipzig 1872, weist mit 
Recht darauf hin, dafi auf diese Definition Fragen passen, die Dinter selbst verpönt. Z. B, Waa 
sind alle Menschen? Antw.: Ertrunken (v. Z. II, S. 321). v. Z. führt noch andere PBdagogen an, 
die in gleichem Sinne definiert haben: Thierbach, Wachler, Geyer. 

s ) Wenn Gräffe, a. a. 0. I, 349 besondere katecbetische Fragen unterscheidet, so hat das 
wenig Bedeutung, weil seine Einteilung gegeben ist nach dem äußerlichen Gebrauch der Frage, 
ohne der Eigenart der päd. Frage näher zu kommen. 

3 ) Maaß, Grundriß der Logik, Halle 1793, S. 174. 

4 ) Grundzüge der Logik § 59 (zitiert nach Martinak, Das Wesen der Frage). 

5 ) Siehe Martinak, Das Wesen der Frage. Atti del V Congresso internazionale di Psicologia, 
Roma 1906, S. 333. Interessante Zusammenstellungen Uber Fragedefinitionen finden sieb auch 
bei Kreibig: „Beiträge zur Psychologie und Logik der Frage.“ Archiv für die gesamte Psycho¬ 
logie. XXX11I. Bd. S. 194 ff. 

Besonders ist da der Engländer Welton, der die Lehre Bolzanos aulnimmt und die Frage als ein 
Urteil über den Zustand des fragenden Subjekts auflaßt, bemerkenswert. „But indirectly it may 
be taken to express a judgment as to the mental state of the questioner — the judgment that 
he is ignorant and desires information on a certain point. 

•) v. Zezschwitz, 11,2, S. 322. 7 ) Schmidt, Enzyklopädie. H, S. 4191. 

*) Ebenda, S. 419 f. 9 ) Ebenda, S. 422. 

,0 ) Reinstein, Die Frage im Unterricht. Leipzig 1895, S. 9. 


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Die Unterrichtsfrage vom Standpunkt der Psychologie des „Als-Ob“ 


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Aufforderung für den Gefragten enthält, eine Entscheidung über die Qualität 
eines Urteils abzugeben (Entscheidungs- oder Wahlfrage) oder ein Urteil zu 
ergänzen.“ Auch hier wird diese Definition auf die Unterrichtsfrage bezogen, 
diese wird dann aber ein zur Aufforderung abgeschwächter Befehl, und auch 
der Ausdruck „indirekte Aufforderung“ kann darüber nicht hinwegtäuschen. 
Der Unterricht muß dann aber einen solch starken imperativen Charakter 
erhalten, den jede einsichtige Pädagogik ablehnen muß. 

Sigwart 1 ) hat unzweideutig darauf hingewiesen, daß die Frage „nur dann 
wahrhaftig ist, wenn sie ein Ja oder Nein erst erwartet, daß sie aber, wo 
sie nur um einen anderen zu versuchen gestellt wird, keine eigentliche Frage 
ist, sondern ein Imperativ. Aus diesem Grunde wurde, als im Anfänge des 
20. Jahrhunderts die pädagogischen Reformbestrebungen einsetzten, gegen die 
unterrichtliche Frage Sturm gelaufen 2 ). Man kann es als eine pädagogische 
Ironie bezeichnen, daß diese Formen, durch die einstmals die Selbsttätigkeit 
der Kinder entwickelt werden sollte, jetzt verbannt werden mußten, tun der 
Persönlichkeit des Kindes zu ihrem Rechte zu verhelfen. 

Mit einer Abweisung der pädagogischen Frage ist es aber nicht getan. Die 
Praxis zeigt, daß sie nicht zu entbehren ist, so daß hier unbedingte Klarheit 
geschaffen werden muß. Dazu hat Tumlirz einen wesentlichen Beitrag ge¬ 
liefert 3 ), als er das Wesen der Frage vom Standpunkt der Gegenstandstheorie 
Meinongs eingehend untersuchte. Tumlirz faßte die emotionale Seite als die 
wesentliche ins Auge und bezeichnete die Frage als ein subjektives Wahrheits¬ 
begehren, das jedoch so viel des Eigenartigen an sich hat,' daß ihm innerhalb 
des Begehrungsgebietes eine deutliche Sonderstellung zuerkannt werden muß. 
Im Hinblick auf diese Auffassung sagt er dann von der pädagogischen Frage: 
„Wie wenig es gelingen möchte, bei diesen Fragen ein Wissenssollen und ein 
dieses präsentierendes Wissensbegehren nachzuweisen, wird sofort ersichtlich, 
wenn man erwägt, was denn der Lehrer mit seiner Frage beabsichtigt, was 
er eigentlich erreichen wiB. Ganz gewiß keine Bereicherung seines eigenen 
Wissens, denn was und wonach er fragt, das muß er bereits selbst wissen. 
Ebenso sicher aber auch keine Orientierung über den Wissensbestand des 
Schülers, denn die Entwickelungsfragen „entwickeln“ eine gegenständliche 
Materie, die dem Schüler noch unbekannt ist. Das Nichtwissen des Schülers 
ist ja die Voraussetzung dieser Fragen, wie sollten sie sich also bereits an 

sein Wissen wenden können?-sie (die pädag. Fragen) wollen den 

Schüler zu irgendeiner geistigen Leistung veranlassen. Daß diese Absicht, 
dieser Zweck nicht Gegenstand einer normalen Wahrheitsbegehrung sein kann, 
versteht sich. Wir haben es mit einer normalen Wertbegehrung zu tun, der 
ein unpersönliches Wertsollen gegenübersteht“ 4 ). Die pädagogische Frage hat 
also den Fragecharakter ganz abgestreift, sie wird ihm zur Scheinfrage. So 
gesehen ist die Unterrichtsfrage allerdings „ein Denkbefehl in Frageform, den 
der Schüler infolge seiner Abhängigkeit vom Lehrer und der moralischen 


') Sigwart: Logik, 2. erweiterte Auflage, Freiburg i. W., 1889, I, S. 230f. 

*) Siebe Mflnch: Geist des Lehramts, S. 377, Berlin 1903. Gaudig: Didaktische Präludien, 
Leipzig 1910, S. 13, a. a. 0., S. 109. Uuthesius: Die Berufsbildung des Lehrers, München 1913, 
S. 131. Im gleichen Sinne haben sich ausgesprochen Gansberg in seiner .,Demokratischen 
Pädagogik“ und G. Kerschensteiner in den „Grundfragen der Schulorganisation*, 
s) Tumlirz, a. a. 0. S. 90. *) Tumlirz, a. a. 0. S. 69 u. 91. 


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Hans Fuchs 


Zwangsmittel, die dem Lehrer in die Hand gegeben sind, befolgen muß. ln 
der moralischen und intellektuellen Autorität des Lehrers ist eine suggestive 
Kraft begründet, die es ihm ermöglicht, dem Schüler auch ohne dessen evidente 
Überzeugung und vollkommen freien Willen eine bestimmte Überzeugung 
nahezulegen“ ')• 

Auf Grund solcher Deutung muß die Frage allerdings zum ärgsten Feind 
der Selbsttätigkeit werden, und Gaudigs Ausführungen 2 ) gegen sie sind von 
diesem Standpunkt aus berechtigt. Trotzdem ist Tumlirz auf dem Wege, das 
Problem der pädagogischen Frage in unserm Sinne zu lösen. Er sagt 3 ): 
„Nun kommt aber dieser Befehl nicht offen und unverhüllt zum Ausdruck, 
sondern gleichsam versteckt und verborgen hinter einer Frage. Dieses Ver¬ 
bergen kann doch nur dann einen Sinn haben, wenn die Frage auf das 
andere Subjekt eine günstigere Wirkung hat als der Befehl, wenn also durch 
die Frageform das gewollte Ziel leichter erreicht wird. Wenn jemand, der 
einem anderen eine bestimmte Überzeugung aufdrängen will, sich der Be¬ 
fehlsform bedient, dann muß er auch seine Absicht unzweifelhaft zum Aus¬ 
druck bringen. Die Folge davon ist, daß der andere sich häufig gegen die 
Zumutung, sich eine Überzeugung, die er vielleicht gar nicht zu teilen ge¬ 
willt ist, aufdrängen zu lassen, sträubt und dem Versuch des Beeinflussenden 
einen Widerstand entgegensetzt, wodurch dann das Gegenteil des Gewollten 
erreicht wird.“ — Demgegenüber muß gesagt werden, daß man eine päd¬ 
agogische Frage niemals stellt in der Voraussetzung, der Schüler könnte sich 
gegen die Zumutung, sich eine Überzeugung aufdrängen zu lassen, sträuben. 
Tatsächlich ist es so, daß er nur zu leicht geneigt ist, andere Meinungen 
anzunehmen. Dem Schüler auf versteckte Art eine Überzeugung einzusugge¬ 
rieren, widerspricht allen pädagogischen Grundsätzen der Sokratik sowohl, 
als auch der Jetztzeit. Bedeutsam für uns ist aber, daß Tumlirz die Frage 
aus einer gewissen fiktiven Einstellung heraus erklärt. Er geht darin noch 
weiter und schreibt 4 ): „Der Fragende gibt sich dadurch den Anschein, als 
wisse er etwas nicht, was er dem Gefragten bereits zutraue; durch die 
Frage werden die Gedanken des Gefragten auf den Gegenstand der Frage 
gelenkt, und da ihm die Fragematerie zur Beurteilung vorgelegt wird, so 
wird in ihm die Meinung erweckt, als ob sein Urteil vom 
Fragenden unbeeinflußt sei.“ Hier ist der fiktionalistische Charakter 
der Unterrichtsfrage, soweit wir sehen, zum ersten Male als Ergebnis einer 
wissenschaftlichen Untersuchung deutlich ausgesprochen worden. 

Tatsächlich können wir alle Merkmale, die Vaihinger für eine Fiktion an¬ 
gegeben hat, auf die pädagogische Frage anwenden. Es findet ein will¬ 
kürliches Abweichen von der Wirklichkeit statt Der Lehrer gibt 
sich den Anschein, als wisse er etwas nicht, er erscheint als Mitschüler, 
Mitarbeiter. Er tut so, als ob er als Schüler die Frage stellt, der Schüler 
arbeitet, als ob er die Frage sich selbst gestellt hätte. Für den Lehrer 
kommt es dabei hauptsächlich darauf an, sich in die Fragevoraussetzungen 
des Schülers einzufühlen 5 ). Diese Fragen werden gestellt mit der Absicht, 
praktische Ergebnisse zu erzielen. Dem Schüler sollen Anregungen 


*) Tumlirz, a. a. 0. S. 91. *) Gaudig, Didaktische Präludien, Leipzig 1910, S. 131. 

3 ) Tumlirz, a. a. O. S. 91. *) Turmlirz, a. a. O., S. 91. 

‘1 Martinak, a. a. 0., S. 335. 


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zur Fortführung des Gedankenganges gegeben werden. Er wird geführt zu 
den entscheidenden Momenten der Denkprozesse, wodurch das Denken ein 
Procedere ist 1 ). Die Fragen sollen also die selbständige Entwicklung des 
Zöglings befördern helfen, indem sie die bedeutsamsten Momente in den 
Gedankenverlauf einschieben und so auch eine gradlinige Entwickelung des 
Denkens bewirken, so daß Umwege vermieden und Ansätze weiter entwickelt 
werden. Nach Erreichung dieser Absicht fallen sie sofort weg, sie 
kommen für das Resultat nicht mehr in Frage, so daß dann auch die Ab¬ 
weichung von der Wirklichkeit dadurch wieder ausgeglichen wird. Sie 
müssen auch gegeben werden mit dem klaren Bewußtsein ihrer 
Fiktizität. Dieses Moment fehlt bei Tumlirz, und diese Tatsache hat auch 
nach unserer Ansicht seine allgemeine Stellung zur pädagogischen Frage so 
beeinflußt, daß wir seinen Standpunkt nicht teilen können, weil er .zu jeder 
praktischen Erfahrung widersprechenden Erlebnissen kommt. Unser fiktio- 
nalistischer Standpunkt kann an dem logischen und psycholo¬ 
gischen Charakter der Frage nichts ändern. Die pädagogische Frage 
behält nach unserer Ansicht den Charakter der eigentlichen Frage; sie bleibt 
also „Wahrheitsbegehren verbunden mit einem Wissenssollen“. Dieses wird 
dem Schüler gewissermaßen einsuggeriert 2 ). Dann aber kann die pädagogische 
Frage nicht auch ganz anderen Charakter erhalten und zum „Wertbegehren“ 
werden. 

Wenn wir diese Fiktion nach der Vaihingerschen Einteilung einordnen wollen, 
so müssen wir sie wohl den abstraktiven Fiktionen zuzählen; denn eine 
wesentliche Vemachlässigung von Wirklichkeitselementen ist insofern eingetreten, 
als der Lehrer alles, was ihn zum Lehrer macht, ignoriert und vom Lehrenden 
ein Lernender wird. Man kann hier wieder sehen, wie verschwommen die 
Grenze zwischen eigentlicher Fiktion und Semifiktion ist. Diese Abweichung 
von der Wirklichkeit trägt fast den Charakter des inneren Widerspruchs, so daß 
hier aus der Halbfiktion fast eine wirkliche Fiktion wird. 

Man kann nun einwenden, daß die pädagogische Praxis dieser Auslegung 
der pädagogischen Frage insofern zu widersprechen scheint, als es schwierig 
ist, ihre Fiktizität in die Praxis umzusetzen. Dem gegenüber muß gesagt 
werden, daß 1. die fiktive Frage nicht als einzige im Unterricht Verwendung 
finden solL Man wird vielmehr auch solche Fragen gebrauchen, die nichts 
weiter als ein Denkanstoß mit imperativem Charakter sind. Daneben werden 
sich die Prüfungsfragen immer behaupten, beide sind aber nur als Neben¬ 
formen zu betrachten. 

Wir können also die Unterrichtsfragen folgendermaßen einteilen: 

Hauptform Nebenformen 

eigentliche pädagog. Frage Prüfungsfragen 

Fiktion! Unterrichtsfragen mit imperativem Charakter 


’) Siehe dazu Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Leipzig 1910, 
S. 42. Vergleiche dazu auch Richard Müller-Freienfels: Das Denken und die Phantasie, 
Leipzig 1916, S. 254. „Die Hauptsache ist, daS eine Vitaldifferenz erzielt wird, eine Unsicher¬ 
heit, ein Zweifel, was sich im Bewußtsein als Gefühl geltend macht, und das nun zum Mittel¬ 
und Ausgangspunkt der weiteren Operationen wird.“ 

*) Siehe darüber weiter unten. 


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2. aber hat man das Kind nur daran zu gewöhnen, die Fragen als von ihm 
selbst gestellt aufzufassen und sie immer zu nehmen ohne auch nur die 
geringste Rücksichtnahme auf die Person des Lehrers. 

Die fiktionalistische Frage soll grundlegend sein. Sie wird immer eine 
vorteilhafte regulierende Wirkung austtben, weil sich bei ihr eine öftere 
Verwendung von selbst verbietet. Als Grundform der Unterrichts* 
frage überhaupt, wird man nur ausnahmsweise von ihr abweichen und zu 
den imperativen Formen greifen. Auch die Verwendung der Prüfungsfrage 
wird damit auf das notwendigste Maß beschränkt bleiben, weil die fiktio¬ 
nalistische Betrachtungsweise der Unterrichtsfrage die Wahrung 
der Selbständigkeit des Schülers als Hauptgesichtspunkt in die 
Pädagogik bringt. Mit der Beschränkung im Gebrauch der Frage werden 
die sogenannten Fragenreihen auch von selbst fortfallen, die mit den natür¬ 
lichen Schwankungen der kindlichen Aufmerksamkeit nicht in Einklang zu 
bringen sind. Dann sind aber alle Vorwürfe der modernen Pädagogen gegen 
die Unterrichtsfragen gegenstandslos. Es bestätigt sich also auch hier, 
daß alte, bereits als unbrauchbar bezeichnete pädagogische 
Mittel in fiktionalistischer Bedeutung brauchbar werden'). 

Die Nachteile, die aus dem Obersehen des fiktionalistischen Charakters der 
pädagogischen Frage erwachsen, sind z. B. bei Dinter deutlich zu erkennen. 
Es wird z. B. über den 103. Psalm gesprochen. Die Verse 1—3 sind gelesen, 
Gottes Barmherzigkeit soll gezeigt werden. L.: Was sagt David in den letzten 
Worten? Was hat Gott getan? K.: Gott hat ihn mit Gnade und Barmherzigkeit 
gekrönt. L.: Kränze und Kronen waren schon in alten Zeiten, so wie bis¬ 
weilen noch jetzt, Zeichen der Ehre und Freude. Wir wollen hier bei dem 
Letzten stehen bleiben. Was heißt nun: Gott habe ihn gekrönt? K.: Er habe 
ihn erfreut. L.: Und wodurch habe ihn Gott erfreut? K.: Durch seine Gnade. 
L.: Laß 6ehen, was David damit meint Wie heißt’s in den vorhergehenden 
Worten? 2 ) usw. Das sind alles Denkbefehle in Frageform, die der unter dem 
Eindruck der Autorität des Lehrers stehende Schüler befolgen muß. Gerade 
dieses Moment mußte auch die besten Absichten der Sokratiker vereiteln. 
Man beachte in dem hier von Dinter angeführten Beispiel nur einmal die 
eigenartige, dem Kinde fernliegende Gedankenführung. Das im Bibeltext 
enthaltene Bild wird gar nicht ausgenutzt Das Kind kann unmöglich zu eigenen 
Äußerungen kommen. — Denken wir nun diese Bibelstelle so behandelt wie 
es unsere fiktionalistische Auffassung der pädagogischen Frage erfordert! Der 
religiöse Dichter hat, bewegt von starkem, zur Gestaltung drängendem inneren, 
religiösen Erleben, das Lob von Gottes Barmherzigkeit gesungen. Das soll 
der Schüler nacherleben, und dazu führt nur die lebendige Schilderung einer 
fiktiven Situation, die so eingeführt wird, als ob der Psalm aus ihr heraus 
entstanden sei. Daraus ergibt sich, vom Schüler gefunden, die Problemstellung: 
Lob der Barmherzigkeit Gottes; und dann die selbständige Lösung des Problems. 
Die Kinder sprechen sich im Anschluß an den gelesenen Text darüber aus. 
Kommen sie nicht weiter oder schweifen sie ab, dann erfolgt eine Frage des 
Lehrers, gegeben, als ob sie aus der Klasse selbst gestellt wäre, gegeben ohne 
störenden Eingriff in den Gedankenverlauf des Kindes, zum lückenlosen Fort- 


') A. Kowalewski, Annalen Bd. H, S. 511 ff. 

*) Dinter, Unterredungen über die Lehre vom Gebet, Neustadt 1818, S. 126. 


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Die Unterricbtsfrage vom Standpunkt der Psychologie des „Ais-Ob“ 


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gang in seinem Denkprozeß. Aber es bleibt nicht bei diesem Denkprozeß. 
Dieses „Sich dem Kinde Anpassen“ macht das Herz warm und belebt auch 
das Gefühl 1 ). 

Diese Art von Fragen, wie wir sie bei Dinter kennen gelernt haben 2 ), 
besitzen eine erheblich suggestive Kraft, die sich leicht zum Schaden des 
Unterrichts auswirken kann. Otto Lipmann 3 ) hat festgestellt, daß die suggestive 
Frage abhängig ist: 1. von der Formulierung der Frage, 2. von der Person 
des Gefragten, 3. von der Person des Fragenden, 4. vom Inhalt der Frage. 
Die fiktionalistische Auffassung der pädagogischen Frage schaltet nun die 
'schädliche Wirkung dieser Momente aus. Man muß sich klar sein, daß die 
als Fiktion aufgefaßte Frage gleichfalls eine Suggestion notwendig macht. 
Wir verstehen mit Stern 4 ) unter Suggestion „das Übernehmen einer ander¬ 
weitigen geistigen Stellungnahme unter dem Schein des eigenen Stellung¬ 
nehmens“. Diese Definition paßt auch auf den Vorgang bei der pädagogischen 
Frage. Hier muß aber die Suggestion unschädlich bleiben (unschädlich in 
didaktischem Sinne), weil vor der Suggestion der Lehrer seine geistige Stellung¬ 
nahme der des Schülers nach Möglichkeit angepaßt hat. Dadurch verliert die 
Person des Fragenden ihre Bedeutung, und das Selbstbewußtsein des Gefragten 
muß sich steigern, wird zum mindesten nicht beeinträchtigt. Nr. ^ und 3 
der von Lipmann erwähnten Punkte fallen also nicht mehr ins Gewicht. — 
Damit die fiktionalistische pädagogische Frage ihren Zweck erfüllt, muß sie, 
wie wir sahen, auch nach Form und Inhalt so beschaffen sein, daß jeder 
störende Eingriff in den fremden Gedankenverlauf vermieden wird. Damit 
aber sind auch die Lipmannschen Punkte 1 und 4 hinfällig geworden. — Es 
werden also durch zweckmäßige beabsichtigte Suggestionen schädliche, un¬ 
beabsichtigte Suggestionswirkungen des Unterrichts ausgeschaltet. Das ist 
besonders wichtig für alle Kinder mit schwacher Determination, weil dadurch 
eine große Zahl assoziativer Reproduktionstendenzen, die den Willensverlauf 
empfindlich hemmen mußten, ausgeschaltet werden. 


‘) Siebe dazu Dr. R. Seylert, bie Unterrichtslektion alB didaktische Kunstform, Leipzig 1909, 
S. 22 and besonders S. 6411. S. 72 f. finden sich ähnliche Ausführungen, wie die hier gemachten. 
Sie würden durch die fiktionalistische Auffassung der pädagogischen Frage an Oberzeugungskraft 
wesentlich gewinnen. 

*) Andere Beispiele für dieses Frageverfahren: Siehe Dinter, Unterricht über die allgemeinen 
Begriffe von Recht und Unrecht, Neustadt 1834, S. 177. (Schon durch die einleitenden Worte 
sind die Kinder suggestiv beeinflußt.) 

D. behauptet, daß die Antworten von den Kindern auch so gebracht worden seien, wie er 
sie in seinen Büchern aufgeschrieben habe. Das ist ohne suggestive Einwirkung nicht möglich. 
Siehe Unterricht über das Gebet, S. XU. 

Sehr gebräuchlich ist es, zuerst einen Begriff zu gewinnen und diesen dann durch eine Frage 
auf irgend etwas anderes zu beziehen. D. hat z. B. die Begriffe „zerstreut und gesammelt sein“ 
gewonnen. Diese werden durch ein paar geschickte Fragen sofort auf das Gebet bezogen. Die 
Fragen sind so gestellt, daß das Kind einfach mit den vorher gewonnenen Begriffen antworten muß. 

Siehe Unterredungen über Gebet a. a. 0., S. 74 ff. 

*) O. Lipmann, Die Wirkung der Suggestivfrage, Leipzig 1908, S. 2. 

4 ) Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage, Leipzig 1904, S. 335. 


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Heinrich Schiißler, Experiment und Lehrerurteil 


Experiment und Lehrerurteil. 

Von Heinrich Schflfiler. 

Im Jahrgang XXII 1 ) der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie“ habe 
ich gemeinsam mit W. Schwarzhaupt über „Die pädagogische und 
experimentell-psychologische Auslese der Begabten für die Übergangsklasse n 
in Frankfurt a. M.“ berichtet. Die Ergebnisse der beiden Ausleseverfahren 
mit dem Lehrerurteil zu vergleichen, wie es sich nach einem Jahre Unter¬ 
richt in der betreffenden Klasse gebildet hat, dürfte nicht ohne Interesse sein. 

Von den 26 Prüflingen waren 19 aufgenommen worden 2 ), 12 Knaben und 
7 Mädchen. Wegen ihrer verschiedenartigen Vorbildung und des Unter¬ 
schiedes zwischen dem Lehrplan für Knaben- und Mädchenmittelschulklassen 
konnten sie nur teilweise gemeinsam unterrichtet werden. Dem Lehrkörper 
fiel es daher schwer, eine gemeinsame Rangreihe nach der Begabung für 
Knaben und Mädchen aufzustellen. Er entschloß sich, Knaben und Mädchen 
bei der Beurteilung zu trennen. Ich betone, daß auch die pädagogische 
Prüfung im Jahre 1921 eingestellt war auf die Erkennung der geistigen Ver¬ 
anlagung 3 ). Bei der experimentell-psychologischen Prüfung ist dies eine 
Selbstverständlichkeit Die drei Rangreihen dürfen also miteinander ver¬ 
glichen werden. 



•) S. 188—196, Leipzig 1921. 

*) In der Tabelle S. 194 (Zeitschr. f. päd. Psych., Jahrg. 1922) müssen die Mädchen Nr. 13 
und 19 mit einem Kreuz bezeichnet werden, weil sie beide in der pädagogischen Prüfung 
durchgefallen sind. 

*) A. a. O. S. 189. 

4 ) Bei den Knaben ist die Beurteilung gleich, weil sie von demselben Lehrer stammt. 


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Experiment und Lehrerurteil 


379 


Hinzugefügt habe ich in der Tabelle die Urteile der einzelnen Fachlehrer, 
aus denen das Gesamturteil des Lehrkörpers erwachsen ist. 

Bezeichnen wir die vollständige Übereinstimmung und das Abweichen 
innerhalb der Rangreihen um einen Platz nach oben oder unten als Treffer, 
so haben — wenn wir das Gesamturteil des Lehrkörpers als Maßstab an- 
legen 1 ) — die päd. und die exp.-psych. Prüfung je 8 Treffer. Beide Ver¬ 
fahren sind also gleich. Dasselbe Ergebnis stellt sich heraus, wenn man 
nur die vollständige Übereinstimmung als Treffer gelten läßt. Beide Ver¬ 
fahren haben dann je 3 Treffer. 

Berücksichtigt man aber, daß die päd. Prüfung dreimal so lang gedauert 
hat, so war das Experiment leistungsfähiger. 

Interessant ist, daß man fast dasselbe übereinstimmende Ergebnis erhält, 
wenn man zusieht, ob das Prüfungsergebnis mit dem Urteil eines Fach¬ 
lehrers übereinstimmt. Das Ergebnis der päd. und der exp.-psych. Prüfung 
stimmten in je 8 Fällen mit wenigstens einem Fachlehrerurteil überein. 
Rechnet man eine Abweichung um 1 nach oben oder unten in der Rang¬ 
reihe als Treffer hinzu, so stimmen beide Prüfungen in je 12 Fällen mit 
wenigstens einem Fachlehrerurteil überein. 

Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die Korrelationsmethode 2 ) als 
Gradmesser der Übereinstimmung anlegt. Der Korrelationskoeffizient zwischen 
der päd. Prüfung und dem Lehrerurteil beträgt bei den Knaben 0,59, bei 
den Mädchen 0,60. Die entsprechenden wahrscheinlichen Fehler sind 0,13 
und 0,17. Die Korrelationskoeffizienten zwischen Experiment und Lehrer¬ 
urteil betragen bei den Knaben 0,53, bei den Mädchen aber — 0,47. Die 
dazu gehörigen wahrscheinlichen Fehler stellen sich auf 0,15 und 0,20. 
Nur wenn der Korrelationskoeffizient mindestens das Dreifache des wahr¬ 
scheinlichen Fehlers beträgt, ist der Korrelation eine reelle Bedeutung zu¬ 
zumessen 3 ). Bei den Mädchen ist also eine Korrelation zwischen Experiment 
und Lehreruiteil nicht festzustellen, während bei den Knaben zwischen 
Experiment und Lehrerurteil annähernd die gleiche Korrelation besteht wie 
zwischen päd. Prüfung und Lehrerurteil. 

Die ersten 7 Knaben und die ersten beiden Mädchen der exp.-psych. 
Rangreihe hatten nach dem Experiment einen Intelligenzvorsprung von 
2 Jahren 4 )* Wie beurteilen die Lehrer ihre Begabung nach einem Jahre 
Unterricht? Die 9 Kinder haben nicht ganz gehalten, was man nach 
dem Experiment von ihnen erwarten konnte. Die Knaben Gö und Hau, 
die im Experiment den 9. und 10. Rangplatz hatten, nehmen nach dem 
Lelnrerurteil den 2. und 4. ein. Es muß darauf hingewiesen werden, daß 
beide Knaben in der päd. Prüfung den 8. und 7. Platz inne hatten. 

t 

*) H. Wilhelm kommt in einer Untersuchung über Schülerbegabung aut Grund des Lehrer¬ 
urteils u. a. zu folgendem Ergebnis: „Der Lehrer geht in seinem Urteil über die Schüler von 
deren Leistungen aus, vermag diese jedoch durch seine sonstigen Beobachtungen und Erwägungen 
von der Begabung zu scheiden. Eine genauere Analyse des Lehrerurteils muß Vorbehalten 
bleiben, doch vermag der Lehrer nach dem vorliegenden Material mit zureichender Sicherheit 
über die Schülerbegabung zu urteilen". Zeitschr. f. päd. Psych., Bd. 23, S. 147, Leipzig 1922, 
und Zeitschr. f. angew. Psych., Bd. 13, S. 291 ff., Leipzig 1921. 

*) uu 3 ) W. Stern, „Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen", S. 65, Leipzig 1920. 

4 ) A. a. O., S. 194. 


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Heinrich Schüßler, Experiment and Lehrerurteil 


Die beiden Mädchen sind auf den letzten Platz gerückt. An ihre Stelle 
traten an die Spitze die Mädchen Kra und Küb, die nach dem Experiment 
an 3. und 7. und nach der päd. Prüfung an 1. und 5. Stelle standen. 

Sieht man daraufhin die nichtveröffentlichten Tabellen 1 ) durch, so erhält 
man folgende Aufschlüsse: Der Khabe Gö besitzt eine starke Aufmerksamkeits¬ 
konzentration, ein gutes logisches Gedächtnis und Schlußvermögen. Die 
Stärke des Knaben Hau liegt in der Aufmerksamkeit, im logischen Gedächtnis 
und der sprachlichen Kombination. 

Das Mädchen Ho wies in der anschaulichen Beobachtung und im schlu߬ 
folgernden Denken Höchstleistungen von 100°/o auf, versagte aber vollständig 
bei der Prüfung des mechanischen Gedächtnisses. Das Mädchen Wei schnitt 
bei der Prüfung der Aufmerksamkeit und Beobachtungsfähigkeit gut ab, 
versagte aber beim mechanischen Gedächtnis und dem schlußfolgernden 
Denken. Hingegen besitzt das Mädchen Kra eine Durchschnittsveranlagung, 
die ihre schwächste Stelle in der unanschaulichen Beobachtung hat Das 
Mädchen Küb ist schwach im anschaulichen Beobachten und im schlu߬ 
folgernden Denken, dagegen stark in der Aufmerksamkeitskonzentration und 
in der unanschaulichen Beobachtung. Zur vollständigen Erfassung der 
Persönlichkeit gehört der Wille, der wegen der geringen Zahl der ein¬ 
gereichten Beobachtungsbogen 2 ) leider nicht berücksichtigt werden konnte. 

Aus der vorliegenden Gegenüberstellung ziehe ich folgende Schlüsse: 

1. Das Experiment hat sich, bemessen nach der Zahl der Treffer, der 
päd. Prüfung ebenbürtig zur Seite gestellt. 

2. Nach der Korrelationsmethode ist die päd. Prüfung den von mir 
angewandten Tests überlegen 3 ). 

3. Da sich die Tests bei den Knaben fast ebenso bewährten wie die 
päd. Prüfung, muß untersucht werden, warum sie bei den Mädchen 
versagten. 

4. Ich vermute den Grund darin, daß in der Schule Höchstleistungen 
der einen psychischen Funktion Ausfall oder Schwäche einer andern 
Funktion nicht immer ausgleichen können. 


Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre 
Beziehung zum Begabungsproblem. 

Von Kurt Piorkowski. 

M. Vaerting kommt in einem die gleiche Überschrift tragenden Aufsatz 
im Mai/Juni-Heft zu dem Schluß, daß Konzentrationsprüfungen, worin nicht 
die vom Interesse getragene, sondern die vom Willen angetriebene Konzen¬ 
tration das Hauptelement bildet, als Bestandteil der Begabungsprüfungen zur 
Feststellung höherer Begabungen durchaus abzulehnen seien. Vaerting schreibt 


') Sie sind im Schulmuseum zu Frankfurt a. M. hinterlegt. 

*) A. a. O., S. 194. 

3 ) Bei der Bewertung der päd. Prüfung und ihrer Leistungen muß die kleine Zahl der 
Kinder berücksichtigt werden, die es einer einzigen Kommission gestattete, Jedes Kind einzeln 
zu prüfen. 


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Kurt Piorkowski, Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung usvs. 


381 


weiter (Seite 204) „Die Entwicklung und Ausbildung der beiden Fähigkeiten, der 
Konzentration aus Interesse und dem Willen heraus, stehen sich also ent¬ 
gegen. Jede Ausbildung und Übung der einen Fähigkeit bedeutet 
einen Rückgang der anderen. Wird die Konzentrationsfähigkeit, die auf 
dem Willen ruht, geschult, sinkt die Fähigkeit, sich aus Interesse zu konzen¬ 
trieren, und umgekehrt.“ 

Abgesehen von der völligen Willkürlichkeit dieser Behauptung, die Verfasserin 
rein analytisch abzuleiten sucht, möchten wir folgendes feststellen: Die Auswahl 
besonders befähigter Volksschüler, wie sie in den Begabungsprüfungen in 
Berlin, Hamburg, Leipzig, Hannover usw. vorgenommen werden, hat als erste 
konkrete Stufe das Ziel zu erreichen, Schüler, die voraussichtlich in kürzerer 
Zeit als sonst üblich den Lehrstoff der höheren Schule sich anzueignen ver¬ 
mögen, herauszufinden, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß diese Schüler 
meistens nur mit sehr mangelhaften Kenntnissen in der deutschen Grammatik 
auf die neuen Schulen kommen, so daß die doppelte Schwierigkeit des Lernens 
neuer Sprachen und des mangelhaften Beherrschens der eigenen im Anfang 
vorliegt. Somit besteht auch für den stark Begabten die Notwendigkeit, auf 
den neuen Schulen sehr intensiv zu arbeiten, um sich Material anzueignen, 
das nicht in allen Fällen seinem spontanen Interesse entsprechen wird. 

Auch wir sind der Meinung, daß zum Vollbringen jeder über den Durch¬ 
schnitt herausragenden Leistung ein spontanes Interesse an dem betreffenden 
Problem durchaus unentbehrlich ist. Aber genügt dies allein? Kein ernst¬ 
hafter Forscher ist heute mehr der Ansicht, daß selbst einem Genie alles 
ohne intensive Arbeit in den Schoß fiele. Und je weiter Wissenschaft und 
Technik fortschreiten, desto größere Stoffmengen rein tatsächlichen Charakters 
müssen von demjenigen beherrscht werden, der auf dem betreffenden Ge¬ 
biet erfolgreich weiterbauen will. 

Aus diesem Grunde ist es unentbehrlich, sowohl Art und Weise des Auf¬ 
nehmens und Behaltens von Stoffen wie Vorhandensein oder Fehlen der 
Fähigkeit, sich willensmäßig zu konzentrieren, auch bei den Begabtesten 
festzustellen. Würde man hierauf verzichten und sich lediglich auf die Fest¬ 
stellung von Konzentrationsfähigkeit aus spontanem Interesse begrenzen, 
so würde man mit großer Wahrscheinlichkeit eine Generation verbummelter 
Genies züchten; denn das ist ja gerade das Wesen des verbummelten Genies, 
daß es nur darauf dich konzentriert, was ihm augenblickliches Interesse ein¬ 
flößt, daß aber jede Schwierigkeit auf dem Wege zur Erreichung eines Zieles, 
wo sein spontanes Interesse erlöscht und wo nur die von M. Vaerting so 
sehr verdammte willensmäßige Konzentration über tote Strecken hinweg 
helfen kann, es zum Erlahmen bringt. 

Das spontane Interesse der für die Begabungsprüfung gemeldeten Schüler 
wird durch ausgiebiges vorheriges Befragen der Kinder nach ihren Berufs¬ 
zielen, Lieblingsfächern, Wünschen u. dergl. festgestellt. Wir stellen ihnen 
auch anheim, Arbeiten technischer oder künstlerischer Art, die sie selbständig 
angefertigt haben, mitzubringen. Wir vernachlässigen das spontane Inter¬ 
esse also keineswegs, zumal auch in der Prüfung noch einige freiere Proben 
direkte Möglichkeit zum Auswirken dieser Spontaneität bieten. Aber die 
willensmäßige Konzentration zu eliminieren und nicht jede Möglichkeit, 
sie wenigsten stichprobenweise zu erfassen, wahrzunehmen, wäre umso 
unverständlicher, als ja gerade der Wille das Gebiet ist, das sich der Prüfung 


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Kurt Piorkoweki, Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung usw. 


relativ am meisten entzieht und deshalb die verhältnismäßig befechtigsten 
Angriffe gegen derartige Prüfungen auslöst. 

Wir können uns deshalb der Ansicht, daß „Konzentration auf eine Tätig¬ 
keit höherer Art, deren Motor der Wille sei und Konzentration in der Sphäre 
der höheren Intellektualität“ aus Interesse sich ausschlössen, nicht anschließen, 
und werden deshalb diese Konzentrationsprüfungen im Gegenteil nach der 
erstgenannten Richtung noch ausbauen. 

Kleine Beiträge und Mitteilungen. 

Ober Fachstudium und Allgemeinbildung äußert sich Staatsminister Dr. 
O. Boelitz in den Berliner Hochschulnachrichten in folgenden Ausführungen: 
„Die Klage ist nicht neu, daß unsere Hochschule ihren alten Charakter als 
Universitas scientiarum immer mehr eingebüßt habe und daß ihr immer 
mehr der Charakter der Stätte reiner Berufsbildung aufgeprägt worden 
sei. Die Verfeinerung der wissenschaftlichen Methoden, eine weitgehende 
Spezialisierung, immer erneute Arbeitsteilung innerhalb der einzelnen For¬ 
schungsgebiete haben — daran ist nicht zu zweifeln — den Gesichtskreis 
des wissenschaftlichen Arbeiters verengt, und die Folge ist, daß er oft nur 
Ausschnitte des eigenen Gebietes übersieht und den Zusammenhang selbst 
mit benachbarten Forschungsgebieten ganz verliert. Dazu kommt eine 
Arbeitstendenz, die in den letzten Jahrzehnten aus unseren geistigen Arbeitern 
Menschen einer immer feiner gearteten Arbeitstechnik in der höchstgesteigerten 
Form gemacht hat. 

Das Spezialistentum hat auf dem Gebiete der Einzelforschung, der Technik 
und Industrie zwar eine staunenswerte Blüte hervorgebracht, die aber ander- 
• seits uns mit Wehmut erfüllen muß. Denn leider ist die Vervollkomm¬ 
nung des Menschen hinter der der Dinge zurückgeblieben. 
Die Hervorbringung der Kulturmittel ist vielfach zum Selbstzweck geworden; 
die Arbeit ist entseelt, mechanisiert worden. Darin liegt die Kulturtragik 
unserer Zeit, die schon vor dem Kriege lebhaft empfunden und oft darge¬ 
stellt, die aber jetzt erst in ihrer ganzen Tiefe erkannt worden ist. Sie muß 
überwunden werden; aber sie kann nur überwunden werden durch den 
denkenden, schaffenden, ringenden Menschen, der sich einstellt auf ein 
neues Bildungsideal. 

Das ist der tiefste Sinn des Wortes von der Kultureinheit, daß der Mensch 
von den Kulturmitteln zum letzten Kulturzweck vordringe, daß er alle seine 
Arbeit einem höchsten Kulturziele einordne, daß er den Begriff der Totalität 
des Menschseins ganz erfasse. 

Hier kann die höhere Schule nur Vorarbeit leisten; die letzte Formung 
erhält der reifere Mensch in den Jahren nach der Schulzeit 

Kleine Mittel freilich dringen nicht bis zur Wurzel des Übels vor. öffent¬ 
liche Vorlesungen, Vortragsfolgen, Theater- und Kunstbetrachtungen sind an 
sich gewiß sehr wertvoll, ja vollkommen unentbehrlich. Aber das Entschei¬ 
dende ist nicht das Nebeneinander des Berufsmenschen und des angeregten 
Kulturmenschen, des Brotgelehrten und philosophischen Kopfes im Sinne 
Schillers, sondern die Durchdringung von ernster Berufsauffassung 
und höchster Allgemeinbildung. Das ist aber nur möglich, wenn es 
gelingt, das Fachstudium wirklich zur Philosophie zu erheben, der Erkenntnis 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


383 


zum Durchbruch zu verhelfen, „daß es sich bei aller Forschung doch darum 
handelt, das Universum zu erkennen und die Stellung des Menschengeistes 
in ihm zu bestimmen.“ Darum muß die Forderung für Gegenwart und Zu¬ 
kunft lauten: Nicht Allgemeinbildung neben der Berufsbildung, 
sondern in und mit der Berufsbildung und vor allem durch die 
Berufsbildung! Das eigentlich Letzte kann hier nicht der Hochschullehrer 
tun, entscheidend ist die Neueinstellung des Studenten selbst, sein Wille zu 
einer neuen Berufsvorbereitung. Der Student hat sich auf der Hochschule 
nicht nur das Handwerkszeug zu eigen zu machen und seinen Gebrauch zur 
höchsten Virtuosität zu steigern, um später einmal in seinem Beruf möglichst 
Vollkommenes zu leisten; er hat vor allem den Menschen und-seine letzten 
und größten Bedürfnisse ins Auge zu fassen, er muß es lernen, sich als 
Glied der Kulturgemeinschaft zu fühlen und mitzuarbeiten an dem letzten 
Ziel der Kultureinheit. 

Das Spezialistentum ist zum Verhängnis unserer Zeit geworden. Als Bei¬ 
spiel greife ich die mir nahestehende Gruppe der Philologen heraus. Wenn 
der Altsprachler nicht übersieht, welchen Kulturbeitrag die Biologie und die 
Chemie beibringt, wenn der Naturwissenschaftler die deutsche Kulturent¬ 
wicklung nicht einordnen kann in die europäische Geistesgeschichte, wenn 
der Germanist die Literaturgeschichte ohne Zusammenhang mit Religion, 
Philosophie, Kirnst, Wirtschaft und Politik betrachtet, dann kann ein Kolle¬ 
gium von Spezialisten niemals die innere Einheit der Gesamtbildung seiner 
Schüler .gewährleisten, dann haben wir Schulen der Einzelfächer, aber kein 
beherrschendes Ideal. 

Freilich die Grundbedingung für eine solche Neueinstellung unserer Stu¬ 
denten, so wie sie Schleiermacher schon vor hundert Jahren als notwendig 
hinstellte, liegt in der Hinleitung des zur Selbständigkeit erwachenden Intel¬ 
lekts auf dieses letzte große Ziel. Auf den höheren Schulen muß der 
Schüler bereits zur philosophischen Betrachtung geführt werden. Die Einzel¬ 
fächer müssen aus ihrer Isolierung losgelöst und in einer unlöslichen Einheit 
innerlich verbunden werden. Auf der Hochschule aber darf dann der Stu¬ 
dent nie vergessen, daß er nicht zum Knecht des Berufsgedankens werden darf, 
daß wissenschaftlich eine Sache betreiben so viel bedeutet, wie „alles einzelne 
nicht für sich, sondern in seinen wissenschaftlichen Verbindungen anzuschauen“. 

Leitsätze über hygienische Erziehung in der Schule und Vorbildung der 
Lehramtskandidaten in Hygiene wurden auf der Reichsschulkonferenz im 
Anschluß an den Vortrag von Prof. Dr. Selter (Königsberg) einstimmig an¬ 
genommen. Sie lauten: 

1. Die hygienische Erziehung der Schüler ist notwendig zur Verbesserung 
der gesundheitlichen Lebensbedingungen und als Voraussetzung der gesund¬ 
heitsgemäßen Lebensführung der Schüler selbst. Sie ist die Grundlage der 
Verbreitung hygienischer Lehren im Volke, der Bekämpfung der Volks¬ 
krankheiten und der Hebung der Volkskraft. Die hygienische Erziehung ist 
daher in allen Schulen und auf allen Stufen durchzuführen. 

2. Die hygienische Erziehung in der Schule hat durch die Lehrer zu er¬ 
folgen. In geeigneten Fällen ist die Mitwirkung des Arztes geboten. 

3. Die hygienische Erziehung soll das ganze Schulleben durchdringen. 
Jedes Unterrichtsfach kann ihr dienstbar gemacht werden, besonders der 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


naturwissenschaftliche Unterricht. Aber auch besondere Unterrichtsstunden 
in der Hygiene sind in allen Schulen einzufahren. 

4. Die hygienische EJrziehung der Schaler setzt die hygienische Vorbildung 
aller Lehrer voraus, die nach einheitlichen Grundsätzen für die Lehrer aller 
Lehranstalten durchgeführt werden soll. Sie hat im besonderen Anatomie, 
Physiologie und Hygiene zu umfassen und ist durch eine Prüfung nach¬ 
zuweisen. 

5. Es ist Vorsorge zu treffen, daß in der Übergangszeit, bis die ordnungs¬ 
gemäße hygienische Vorbildung der Lehrer allgemein durchgeführt ist, auch 
die bereits im Amte befindlichen Lehrer in geeigneter Weise zur hygienischen 
Erziehung der Schüler befähigt werden. 

Die psychologische Erforschung der Schulanfänger hat die Lehrerschaft 
schon in den Anfangszeiten der experimentellen Pädagogik stark beschäftigt. 
Ausgehend von der „Analyse des kindlichen Gedankenkreises 11 hat 
man die seelische Verfassung der Schulneulinge in dem letzten Jahrzehnt nun 
auch mittels Testprüfungen aufzuschließen versucht. Freilich hat sich dabei 
hier und da ein höchst gefährlicher Dilettantismus breit gemacht und über 
den Schaden hinaus, den bei solchem Tun die Schularbeit erleiden muß, das 
Ansehen der experimentellen Pädagogik geschädigt. So mußten die Fach¬ 
leute der psychologischen Pädagogik, wenn sie beobachteten, wie in einzelnen 
Fällen ihre Bestrebungen durch ungeschulte Kräfte aufs schwerste diskreditiert 
wurden, öffentlich vor mißbräuchlichen Experimentieren warnen *)• Zu be¬ 
greifen ist es nun, daß sich neuerdings den Untersuchungen der Schulneulinge 
eine so ernste Forschungsstätte wie das psychologische Institut des Leipziger 
Lehrervereins gewidmet hat. Die wissenschaftliche Strenge, mit der man dort 
forschende Arbeit treibt, wird auf dem kleinen Gebiete der Testuntersuchung 
an Schulanfängern vielleicht dem unwissenschaftlichen Gebaren wild experi¬ 
mentierender Lehrer zu steuern vermögen. Man berichtet über die im Gange 
stehenden Unternehmungen das Folgende: 

„Im Februar und März des Jahres 1922 wurden vom Assistenten des Institutes, Dr. Winkler, 
zwei Kurse abgehalten, in denen er einer größeren Anzahl Leipziger Lehrer eine von ihm 
zusammen gestellte Testserie zur Untersuchung von Schulneulingen vorführte und zum Ge¬ 
brauche empfahl. 14 Leipziger Lehrer haben dann an insgesamt 500 Schulneulingen die 
Untersuchung vorgenommen. Die Ergebnisse mit ausführlichen theoretischen und praktischen 
Erläuterungen werden voraussichtlich im XII. Bande der Veröffentlichungen des Institutes er¬ 
scheinen. Die Testserie stützt sich auf die erfolgreichen Vorarbeiten von Bin et, Bobertag, 
Rossolimo, Scheibner u. a. und ist hervorgewachsen aus den vom Begabungsausschuß des 
Institutes herausgegebenen Hilfsmitteln zur Untersuchung von Schulneulingen 
Der Wert der Testserie liegt darin, daß die einzelnen Aufgaben von Dr. Winkler durch mehr¬ 
jährige Untersuchungen ausprobiert und mit den Leistungen der betreffenden Kinder in einem 
zweijährigen Unterrichte verglichen werden konnten. Es ist besonders der Versuchsscbole 
Leipzig-Connewitz zu verdanken, daß in gemeinschaftlicher Arbeit mit Dr. Winkler wichtige 
Bausteine zur Erforschung des Seelenlebens der Eiernentaristen gelegt wurden. Ein weiterer 
Vorteil der Testserie ist, daß ihre einzelnen Aufgaben durch Zahlenwerte gut geeicht sind, d. h. 
auf Grund des vorliegenden Materials konnte festgestellt werden, welche Art der Lösung einer 
Aufgabe für Kinder dieser Altersstufe die normale bildet, wo die Grenze der Leistungsfähigkeit 
bei den Aufgaben nach oben und nach unten liegt Daraufhin sind die einzelnen Aufgaben so 
ausgesucht worden, daß der Durchschnitt der Kinder sie lösen kann, daß aber außerdem für 
besser begabte Kinder die Möglichkeit besteht, ihre Befähigung zu zeigen, so daß schließlich 


*) Vergl. u. a. die scharfe Ablehnung eines solchen Falles durch 0. Scheibner in dem Sammel¬ 
werke von Gaudig, „Freie Schularbeit in Theorie und Praxis“. S. 279. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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die Begabungen in ihrer verschiedenen Art und Stärke sich ausprägen. Die Testserie besteht 
aus 17 Aufgaben, in denen folgende psychische Fähigkeiten des Schulneulings geprüft werden 
sollen: 1. Konstruktive Kombination durch eine Lege- und zwei Bauaufgaben. 2. Formauf¬ 
fassung als wichtige Grundlage für den Schreibprozeß durch Abzeicbnen mehrerer Figuren. 
3. Motorisches Behalten durch zeichnerische Wiedergabe einer motorisch aufgenommenen Figur, 
besonders wertvoll für Unterricht mit stark manueller Betätigung. 4. Behalten von Wörtern bei 
akustischer Darbietung. 5. Behalten sinnvoller Stoffe; Wiedergabe einer kurzen Geschichte. 
6. Sprachlicher Auffassungsumfang, geprüft durch Nachsprechen von Silben. 7. Sprachliche 
Gewandtheit, in ähnlicher Weise geprüft wie vorher. 8. Visuelles Behalten durch Vorzeigen und 
Merkenlassen von Gegenständen. 9. Zahlauffassung als wichtige Grundlage für den Rechen¬ 
unterricht. (Es werden Zahlbilder zur simultanen bzw. Gruppenerfassung vorgelegt.) 10. Die 
Prüfung des Begriffs- oder Wortschatzes wird mehr als Kenntnisprüfung aufgefaßt und geschieht 
durch Abfragen an der Hand eines Bildes. 11. Kenntnis von Farbnamen. 12. Begriffsbildung 
durch Definieren einfacher Dinge. 13. Beobachtungsfähigkeit geprüft durch Vergleichen zweier 
Bilder. 14. Phantasie durch Deutung eines dreifachen Bildes. 15. Auffassungsgeschwindigkeit 
mit Hilfe von Farbblättchen. 16. Handgeschicklichkeit durch Ausschneiden einer Figur. 17. Aus¬ 
dauer und Konzentrationsfähigkeit durch Ausfüllen von Kästchen durch einfache zeichnerische 
Elemente. Diese Testserie benutzt unter den vielen Methoden zur Erforschung der kindlichen Veran¬ 
lagung den mehr experimentell gerichteten Weg und bemüht sich, möglichst vollständige und 
wissenschaftlich exakte Ergebnisse zu gewinnen. Dabei gilt als oberster Grundsatz der einer 
gewissenhaften psychologischen Anpassung an das einzelne Kind und der Vermeidung des 
Schematisierens. Wie jede andere Methode der Erforschung der kindlichen Psyche nur dann 
vollen Wert hat, wenn sie auf ihrem Gebiete systematisch durchdacht ist und die Grenzen ihrer 
Anwendungsmöglichkeit wohl beachtet werden, so gilt dies auch für die vorliegende Testserie. 
Die reichhaltigen Ergebnisse, die durch die einzelnen Aufgaben gewonnen werden, sind zunächst 
nur Bruchstücke, die dem Lehrer zwar wertvolle Winke geben können, die sich aber sofort zu 
einem lebensnahen psychischen Bilde zusammenschließen, sobald Beobachtung und Einfühlung 
des Lehrers hinzukommen. Für den, der die Versuche ausgeführt hat, sind sie kein totes Schema, 
sondern bieten ihm viele Anhaltspunkte, um den Schulneuling kennen zu lernen. Indem sich 
also der Elementarlehrer noch vor Beginn des Unterrichts oder wenigstens während der ersten 
Tage mit jedem Kinde eine halbe Stunde auf diese Art beschäftigt, erhält er ein ziemlich um¬ 
fassendes Bild von der geistigen Struktur jedes Schülers. Es ist erstaunlich, welches Band sich 
lediglich durch diesen kurzen Austausch zwischen Lehrer und Kind bildet, und wie er tatsächlich 
sehr frühzeitig Einblick in die individuelle Eigenart seiner Schüler gewinnt.* 


Ober die Jahresarbeit 1921 des Leipziger Institutes für experimentelle Päda¬ 
gogik und Psychologie gibt Felix Schlotte in der Leipziger Lehrerzeitung 
den folgenden Bericht. Von dem Institute eines Lehrervereins erwartet man, 
daß es neben der Einführung seiner Mitglieder in die experimentelle Päda¬ 
gogik und Psychologie sein Augenmerk besonders auf die Kinderpsychologie 
richtet, da dieses Gebiet in den Instituten der Hochschulen weniger gepflegt 
wird. Beiden Aufgaben hat sich das Institut auch im Berichtsjahre ausgiebig 
gewidmet. 

G. Schierack setzte den bereits im vorigen Jahre begonnenen psycho¬ 
logischen Einführungskursus für Junglehrer fort; im Wintersemester 1921/22 
richtete Herr R. Schulze einen zweiten derartigen Kursus für Junglehrer und 
Mitglieder gemeinsam ein. Für solche Mitglieder, die bereits mit den Methoden 
der Psychologie im allgemeinen vertraut sind, sollte ein technischer Kursus 
ein einzelnes Problem, nämlich das der Zeitmessung, eingehend kennen lehren. 
Alis dem technischen Kursus des vorangehenden Jahres, „Untersuchungen 
über geistige und körperliche Arbeit“, hatte sich in der Zwischenzeit eine 
Arbeitsgemeinschaft gebildet, die diese Methoden in einer Untersuchung an 
Leipziger Schulkindern anwandte. 

Unter dem Titel „Haupttypen psychologischer Theorienbildung“ zeigte 
W. Zenker, wie die klassische Laboratoriumspsychologie entstanden ist und 

Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie. 25 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


ging dann unter Kennzeichnung der gegenwärtigen Lage ausführlicher auf 
die Stellung der Psychoanalyse innerhalb der heutigen Psychologie ein. 
Prof. Dr. F. Krueger, der Nachfolger W. Wundts, legte klar, welche Stellung 
das von ihm besonders gepflegte Gebiet der Entwicklungspsychologie ein¬ 
nimmt und veranschaulichte an den Beispielen des Lautwandels und der 
psychologischen Entwicklung der menschlichen Arbeit das Vorgehen seiner 
Wissenschaft Prof. Dr. W. Wirth, Direktor des Psychophysischen Seminars, 
führte vor, wie man experimentell Aufschluß über den Willensvorgang er¬ 
halten kann. Über dasselbe Thema hielt Herr Rudolf Schulze, der wissen¬ 
schaftliche Leiter unseres Institutes, eine Reihe von fünf Demonstrationsvor¬ 
trägen. Dieselbe Reihe wurde auch für die Teilnehmer an den Akademischen 
Ferienkursen des Sächsischen Lehrervereins gelesen. 

In das Gebiet der Völkerpsychologie führte Leicht durch eine Vortragsreihe 
ein. Prof. Dr. Kirschmann las in einer längeren Vortragsreihe über die 
psychologischen Probleme der Raumlehre und Optik und zeigte in seinem 
letzten Vortrage das Gebiet feiner neuesten Forschung: Die Entstehung und 
Nachahmung des Metallglanzes. 

Besonderem Interesse begegneten die Veranstaltungen des Institutes, die 
sich mit den Fragen der Kinderpsychologie beschäftigten. 

Privatdozent Dr. Pfeifer berichtete über „Drüsensekretion und Pubertät* 
und fügte auf Wunsch noch einen Vortrag über das für den Lehrer wichtige 
Gebiet „Epilepsie“ an. Max Döring vertrat das Institut auf dem ersten 
„Internationalen Kongreß für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher 
Grundlage“ in Berlin und führte die Vereinigung des Institutes für Sexual¬ 
wissenschaft in Berlin und unseres Institutes zu einer Arbeitsgemeinschaft für 
Erforschung der Sexualentwicklung des Jugendlichen herbei. Sein Kongre߬ 
vortrag behandelte das Thema: „Jugendliche Zeugen in Sexualprozessen*. 
Die in Leitsätzen vorgelegten Anschauungen des Institutes zu einer Reform 
der Strafprozeßordnung in bezug auf die Behandlung jugendlicher Zeugen 
machte der Kongreß zu den seinen, und er wurde in ihrer Richtung beim 
Reichsjustizministerium vorstellig. 

Im Institut hielt Max Döring eine Vortragsreihe über die Entwicklung des 
Wahrheitsbewußtseins und der Zeugnisfähigkeit beim Kinde, ferner gab er 
einen Überblick über die Entwicklung der jugendlichen Sexualität. Der Aus¬ 
schuß für Aussage und Zeugenpsychologie wurde neben seiner wissenschaft¬ 
lichen Tätigkeit wiederholt zur Beratung und Begutachtung in praktischen 
Rechtsfällen in Anspruch genommen und zwar von seiten des Gerichts, des 
Rechtsschutzes und einzelner Lehrer und Lehrerinnen. Elternräte und Vereine 
haben die Mitglieder des Ausschusses mehrfach um Vorträge über „Aussage 
und Lüge beim Kinde“ und dessen Erziehung zur Wahrhaftigkeit gebeten. 
Durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft und durch das Entgegenkommen 
der Gefängnisdirektion bekamen die Mitglieder dieses Ausschusses auch Ge¬ 
legenheit, Einblick in den Strafvollzug in einem modernen Gefängnisse nehmen 
zu können. 

Mit den Fragen der religiösen und sittlichen Entwicklung des Jugendlichen 
befaßte sich der von 0. Kupky geleitete Ausschuß, der sich im Anschluß an 
einen einführenden Vortrag des Leiters gebildet hatte. 

Im Januar berichtete der Kombinationsausschuß in einem Diskussionsabende 
über seine Arbeit zur Klärung des Begriffs: Kombination. Weiterhin be- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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schäftigte sich der Ausschuß mit der Frage: Ist es möglich, den Kombinations¬ 
vorgang noch weiter zu analysieren? Dies führte zu einem Kursus in der 
Psychoanalyse, dessen Leitung in dankenswerter Weise Dr. med. Knopf 
übernahm. 

Über Prof. Dr. Joh. Kretzschmars Buch „Das Ende der philosophischen 
Pädagogik" gab Fuß einen eingehenden Bericht. In der Aussprache wurde 
anerkannt, daß die philosophische Pädagogik heute nicht mehr in der Lage 
ist, die praktischen Maßnahmen der Erziehung zu begründen; es wurde ge¬ 
fordert, daß die pädagogische Tatsachenforschung viel stärker als bisher 
betont werden muß. 

Im Mittelpunkte der Institutsarbeit steht zurzeit noch die Begabungsforschung. 
Der Ansturm, der zunächst über das gesamte Gebiet hereinbrach und bei dem 
man nach möglichst vielen und immer neuen Tests suchte, ist abgeflaut, und 
an seine Stelle ist eine wissenschaftlich vertiefende Arbeit getreten. Nachdem 
G. Schierack im vorigen Jahre die Kritik der einzelnen Tests durch Einzel¬ 
versuche vorgenommen hatte, ging die Weiterarbeit in diesem Jahre in der 
Richtung des Fragebogens. Um den Zustand des Schülers aus seiner Ent¬ 
wicklung heraus verstehen zu können, bedarf es einer Ergänzung des Aus¬ 
leseverfahrens durch einen Beobachtungsbogen. Der Ausschuß für Be¬ 
gabungsprüfungen hat sich bemüht, einen Schülerbogen zu schaffen, dessen 
Ausfüllung auch dem Nichtpsychologen möglich ist; er verfolgt also in erster 
Linie praktische Ziele. Die Frage „Test oder Fragebogen“ beantwortete Prof. 
Dr. J. Kretzschmar in einem Vortrage mit Test und Fragebogen. Einzel¬ 
untersuchungen nach den Methoden von Rossolimo nahm K. Bartsch an 
Hilfsschülern vor. 

So oft sich Gelegenheit dazu bot, wurde Berührung mit dem praktischen 
Leben gesucht. An die Aussprache zur Psychologie der Arbeitsschule schloß 
sich ein Vortrag von Rudolf Bär, der über den Gesamtunterricht in seiner 
sechsten Knabenklasse berichtete. Dem darauffolgenden Besuch einer Klasse 
reihte sich eine Aussprache im Institut an über die Beobachtungen, die bei 
dieser Gelegenheit gemacht worden waren. 

Im Aufträge des Institutes wirkte der neue Assistent, Dr. phiL H. Winkler, 
in der neugegründeten Versuchsschule als forschender und beratender Psy¬ 
chologe. Diese Mitarbeit geschah sowohl im Interesse des Institutes als auch 
der genannten Schule und erstreckte sich auf Aufstellung und Eichung von 
Testserien für die verschiedenen Altersstufen, insbesondere unter Berück¬ 
sichtigung der von den einzelnen Lehrern gestellten praktisch-psychologischen 
Wünschen, z. B. Ermittlung von noch nicht schulreifen Elementaristen, Fest¬ 
stellung der Befähigung für höhere Schulen, Scheidung in Arbeitsgruppen 
nach der Befähigung im sechsten und siebenten Schuljahre, psychologische 
Beratung für den künftigen Beruf. 

In den vom wissenschaftlichen Leiter und vom wissenschaftlichen Assi¬ 
stenten gehaltenen Sprechstunden suchten Lehrer und Mitglieder Gelegenheit, 
sich Rat und Unterstützung für ihre wissenschaftlichen Spezialstudien und 
für ihre Berufsarbeit aus dem Institut zu holen. 

Band XI der Pädagogisch-Psychologischen Arbeiten bringt eine Arbeit von 
Joh. Schlag „Häufigkeitsproben aus dem Sprachschätze von sechs- und acht¬ 
jährigen Kindern“ und stellt die Wörter in einem Häufigkeitswörterbuche 
zusammen. An zweiter Stelle enthält dieser Band den Bericht über eine 

25* 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


experimentelle Prüfung von Sprachbefähigten von F. Schlotte; der Verfasser 
will eingehend über den Gang einer Begabungsauslese unterrichten und an 
den Ergebnissen Bewertungsmöglichkeiten vorführen. Im Anhang sind die* 
jenigen Hilfsmittel für Begabungsuntersuchungen, Lückentexte usw., zu¬ 
sammengestellt, die bisher vom Institute des Leipziger Lehrervereins ver¬ 
öffentlicht worden sind. 

Das Institut zählte am Ausgange des Jahres 396 aktive und 1371 passive 
Mitglieder. 

Ein Kursus zur Einführung in die Jugendwohlfahrtspflege ist im Juni 
d. J. von der Frankfurter Zentrale für private Fürsorge in der Kindererholungs¬ 
stätte Wegscheide bei Stadt Orb veranstaltet worden. Zum ersten Male wurde 
hier versucht, in größerem Kreise das schwierige Grenzgebiet zwischen Schule 
und Jugendwohlfahrtspflege zu behandeln und die Abgrenzung und Ver¬ 
bindung ihrer Aufgaben, wie sie durch das Reichschulgesetz und das Reichs¬ 
jugendwohlfahrtsgesetz, das 1924 in Kraft tritt, gegeben sind, herauszu¬ 
arbeiten. Bei der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit konnte es nicht 
so sehr Ziel der Veranstaltung sein, ein Bild der vielfältigen Aufgaben der 
Jugendwohlfahrtspflege zu geben, als der Lehrerschaft zu zeigen, wie das 
Eindringen der Jugendwohlfahrtspflege in die Schule eine Belebung und 
Ergänzung ihrer Arbeit mit sich führt. 

Einleitend wurden grundsätzliche Fragen geklärt: Dr. Polligkeit, Frankfurt a. M., 
sprach über die gesetzlichen Grundlagen: Kreisjugendwohlfahrtsgesetz und 
Schule. Die Referate von Professor Klumker, Frankfurt a. M., über Schule 
und Jugendwohlfahrtspfege als Ergänzung der Familienerziehung, und Rektor 
Jaspert, Frankfurt a. M., über die Aufgaben von Schule und Jugendamt, 
ihre Abgrenzung und ihre Verbindung gaben ein Bild über die engen 
geistigen und tatsächlichen Beziehungen, die eine Zusammenarbeit der 
Lehrerschaft mit der Jugendfürsorgepflege fordern. Wie diese zu gestalten 
sei, welche Möglichkeiten dafür im Rahmen der Schule selbst, wie innerhalb 
der Einrichtungen der Jugendwohlfahrtspflege bestehen, war der Verhandlungs¬ 
stoff der folgenden Tage. Die theoretisch-wissenschaftliche Grundlage gab 
das Referat von Professor Häberlin-Bem: „Zur Psychologie der Kinderfehler". 
Über die Behandlung der Kinderfehler durch den Lehrer sprach aus lang¬ 
jähriger praktischer Erfahrung Stadtschulrat Schüßler; für die höheren 
Schulen, mit besonderer Berücksichtigung der Schuldisziplin, Direktor 
Dr. Sander. Die Bedeutung verständnisvollen Eingehens auf die Psyche 
des Schülers für den Kampf gegen die jugendliche Verwahrlosung wurde 
besonders hervorgehoben. Stadtmedizinalrat Oschmann handelte über Ge¬ 
sundheitsfürsorge als gemeinsame Aufgabe von Schule und Jugendwohl¬ 
fahrtspflege und zeigte den Wert und die Notwendigkeit enger Zusammen¬ 
arbeit. Besonders klar trat dies hervor durch die Referate von Rektor 
Grauvogel und Dr. Bappert, die die Fürsorge für das geistig normale Kind 
behandelten und das Ineinandergreifen der Schuleinrichtungen (Hilfsschule) 
und der dem Jugendamt unterstehenden Frankfurter Jugendsichtungsstelle 
widerspiegelten. 

Aber nicht nur in selbständiger Arbeit, sondern auch als Mitarbeiterin in 
der Jugendfürsorge steht die Lehrerschaft vor großen Aufgaben. Viel ist 
zu tun in der Jugendgerichtshilfe und in der Schutzaufsicht für Jugendliche. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


389 


Hierzu gab Amtsgerichtsrat Allmenroeder aus seiner Praxis als Jugendrichter 
lebendige Anregung und Anleitung zur Behandlung straffälliger und verwahr¬ 
loster Jugendlicher, und Stadtschulrat Göbel zeigte Angaben und Tätigkeit der 
Schulpflegerinnen. 

Die lebhaften Aussprachen gaben Gelegenheit zum Austausch praktischer 
Erfahrungen und Besprechung von Reformversuchen und bewiesen, welch 
großes Interesse man in Lehrerkreisen der FQrsorgearbeit entgegenbringt. 
Der Eindruck wurde noch verstärkt durch zahlreiche Äußerungen der Teil¬ 
nehmer, daß ihre Mitarbeit in der Jugendwohlfahrtspflege oft gehemmt sei 
durch mangelhafte Schulung in diesen Fragen. Eine stärkere Berücksichtigung 
der Jugendwohlfahrtspflege in der Lehrerausbildung muß gefordert werden. 
Allgemeine Anerkennung und Bekräftigung fand die Ansicht, daß letztes 
Ziel sein müsse, Schule und Jugendwohlfahrtspflege in einem Ganzen zu ver¬ 
schmelzen, in dem der Gedanke der Lebens- und Erziehungsgemeinschaft sich 
durchsetze, dessen belebende Kraft die Kindererholungsstätte Wegscheide den 
Kursteilnehmern täglich bewies. 

Ein gekürzter Druckbericht über die Verhandlungen wird voraussichtlich 
im Herbst erscheinen. 

Nachrichten. l.Dr.WalterBaade, Privatdozent der Psychologie in Göttingen, 
Leiter des dortigen Universitätsinstituts für angewandte Psychologie ist, erst 
40 Jahre alt, an Herzschlag gestorben. Baade verband ein ererbtes Interesse für 
Pädagogik — sein Vater war ein bekannter Didaktiker — mit einer gründ¬ 
lichen exakt-psychologischen Schulung, die er in Göttingen bei G. E. Müller 
erworben hatte. Seine umfangreiche Doktorarbeit behandelte ein experimentell¬ 
pädagogisches Thema: Die Einwirkung des Unterrichts auf Empfänglichkeit 
und Ermüdung des Schülers. Eine Zeitlang war er Assistent am Institut 
für angewandte Psychologie in Kleinglienicke; hier hat er in engem persön¬ 
lichen Zusammenwirken mit den damaligen Leitern des Instituts, Dr. Lipmann 
und Prof. Stern, an den Problemen der Psychographie (die Bezeichnung 
stammt von ihm) und der Aussagepsychologie wertvolle Arbeit geleistet. In 
den letzten Jahren beschäftigte ihn die prinzipielle Grundlegung einer „dar¬ 
stellenden“ Psychologie; leider war es ihm nicht mehr vergönnt, aus seinen 
umfangreichen Vorarbeiten die Früchte zu ernten. Dagegen hatte er noch 
die Freude, in Göttingen das von ihm lange erstrebte eigene Institut für 
pädagogische Psychologie gründen und einrichten zu können. Die erste 
kleine Veröffentlichung aus diesem Institut (von Michaelis) ist im vorigen Heft 
dieser Zeitschrift erschienen. 

2. Im Psychologischen Institute des Leipziger Lehrer¬ 
vereins i$t der wissenschaftliche Leiter Rudolf Schulze von 
seinem Amte zurückgetreten. Als Nachfolger wurde Max Döring gewählt. 
In wissenschaftlichen Kreisen ist er zuerst bekannt geworden durch einige 
experimentelle didaktische Untersuchungen (erschienen in der Zeitschrift 
f. experim. Pädagogik und der Zeitschrift f. päd. Psychologie). Er gab später 
mit Max Brahn das Pädagogische Archiv heraus und ist heute Schriftleiter 
der wissenschaftlichen und literarischen Beilage der Leipziger Lehrerzeitung. 
Seine wissenschaftliche Arbeit der letzten Zeit auf dem Gebiete der Sexual¬ 
pädagogik und der Kinderaussagen haben für die theoretische Entwicklung 
dieser Fragenkreise und ihre praktische Auswirkung, besonders auf die 


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390 


Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Zeugenvernehmung Jugendlicher, bedeutsame Erfolge gezeitigt. Ein Verdienst 
hat sich außer durch andere schriftstellerische Leistungen Döring auch damit 
erworben, daß er erstmals eine Bibliographie der pädagogischen Fachpresse 
deutscher Zunge gegeben hat. (Leipzig 1910.) 

3. Der katholische Lehrerverband des Deutschen Reiches hat auf seiner 
Verbandstagung in Fulda ebenso wie der Verein katholischer deutscher 
Lehrerinnen auf seiner Versammlung in Hamburg beschlossen, die Finanzierung 
des Instituts fOr wissenschaftliche Pädagogik in Münster i. W. zu übernehmen 
und gutzuheißen, daß von diesen beiden Verbänden das Institut getragen 
wird. Für das Jahr 1922 ist eine einmalige außerordentliche Umlage von 
10 Mark für das Mitglied im katholischen Lehrerverband festgesetzt worden. 

4. Das Institut für praktische Psychologie in Dortmund (Leiter 

Dr. J. Weber), hat in seiner Abteilung für Schulpsychologie die Arbeit mit 
folgenden einführenden Kursen eröffnet. Frl. Dr. Hilverding: „Weg der 
Psychologie zum Experiment"; Ebel: „Die Untersuchung der Sechsjährigen 
als Grundlage des Arbeitsunterrichts"; Göbel: „Die typischen Eigenarten im 
Seelenleben des Schulkindes"; Klempt: „Die neuzeitliche Gedächtnisforschung"; 
Schulte: „Das Problem der psychologischen Beobachtung“; Lorenz: „Aus der 
Praxis der Schülerbeobachtung"; Dr. Weber: „Begabungsforschung und 
Berufseignung*. 1 

5. Das Fürsorgeseminar an der Universität Frankfurt a. M. ver¬ 
anstaltet fortlaufend Lehrgänge über Jugendfürsorge, um Akademiker aller 
Fakultäten mit abgeschlossenem Studium für die Arbeit in der Jugendwohlfahrts¬ 
pflege zu schulen und der Durchführung des Reichs-Jugendwohlfahrtsgesetzes, 
das am 1. April 1924 in Kraft treten wird und eine große Zahl gut vorgebildeter 
Kräfte verlang^ entgegenzukommen. Die Zulassung von Persönlichkeiten 
mit andersartiger Vorbildung behält sich die Kursleitung vor. Die Lehrgänge 
sind bis auf weiteres von einjähriger Dauer. Sie gliedern sich in einen 
theoretischen Teil während des Sommersemesters (Vorlesungen und Übungen 
an der Universität, Besichtigungen) und ein Winterhalbjahr mit praktischer 
Arbeit in Erziehungsanstalten, Jugend- und Wohlfahrtsämtern, Organisationen 
der privaten Fürsorge usw. Die Kursleitung haben Prof. Dr. Klumker, 
Dr. Polligkeit, Dr. Studders. Nähere Auskunft erteilt die Geschäftsstelle: 
Fürsorgeseminar, Frankfurt a. M., Stiftstraße 30. 

6. Der deutsche Gewerbeschulverband ließ seiner 29. Wander¬ 
versammlung, die vom 7. bis 11. Juni d. Js. in Frankfurt a.’M. stattfand, 
zum ersten Male eine Hochschulwoche vom 1. bis 7. Juni vorausgehen. Die 
Vorbereitung und Leitung lag in den Händen des Studienrates Dr. Julius Wagner, 
Dozent für Jugendkunde und Pädagogik an der Universität Frankfurt a. M. 
Die Vorlesungen hatten zwei Problem« in den Mittelpunkt fbstellt. „Zur 
Kenntnis des Fachschülers in der Pubertätszeit" und „Fragen aus 
Verfassung und Organisation des Wirtschaftslebens". Einleitend 
sprach Prof. D. Ziehen über den Bildungswert der Technik. Das jugend- 
kundliche Gebiet behandelten folgende Vorlesungen: 1. Prof. Dr.F.O. Schul tze: 
Ziele und Aufgaben der Erziehung, lsttindig; 2. Dr. J. Wagner: Psychologie 
der Pubertätszeit, 5 ständig; 3. Amtsgerichtsrat Dr. Allmenröder: Die Straf¬ 
fälligen vor dem Jugendgericht, 1 ständig; 4. Prof. D. Klumker: Jugend¬ 
fürsorge, 2 ständig; 5. Dipl.-Ing. Bramesfeld: Psychotechnik, 2 ständig; 
6. Pfarrer Groenhoff: Die moderne Jugendbewegung, 2stündig; 7. Prof. 


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Literaturbericht 


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v. Düring: Die seelische Entartung, ihre Erkennung und erziehliche Behand¬ 
lung, 2 stündig; 8. Stadttumrat Echternach: Die körperliche Ausbildung 
der beruflich tätigen Jugend, 2stflndig; 9. Dr. Lagner: Über innere 
Sekretionen, 2 stündig. Die neun Vortragsreihen gaben ein abgerundetes 
Bild der körperlichen und seelischen Eigenart der Pubertätszeit. 

7. Eine ärztliche Gesellschaft für parapsychische Forschung ist in 
Berlin gegründet worden. 

8. Über denMar burger Psychologen-Kongreß (Ostern 1921), über den 
hier seinerzeit ausführlich berichtet wurde, (Bd. 22, S. 262 ff.), liegen nun¬ 
mehr zwei Veröffentlichungen vor. Der offizielle „Bericht über den VII. Kon¬ 
greß f. exp. Psychol. in Marburg“ wird im Aufträge der Gesellschaft für exp. 
Psychol. herausgegeben von Karl Bühler (Jena, G. Fischer, S. 192). Er ent¬ 
hält die Sammelreferate ausführlich, die Einzelvorträge in kurzen Auszügen. 
Für den Pädagogen ist das Sammelreferat von E. Jaensch (Marburg) „Über 
die subjektiven Anschauungsbilder“ besonders bedeutsam. — Eine Sonderver¬ 
öffentlichung ist dann der angewandten P sy chologie auf dem Kongreß ge¬ 
widmet. Zwölf hierauf bezügliche Vorträge sind in ausführlicher Wieder¬ 
gabe zusammengefaßt in dem Buch: „Vorträge über angew. Psychol., gehalten 
beim 7. Kongreß f.exp. Psychol.“ Herausg. von O. Lipmannu.W. Stern (Beiheft 
29 zur Ztschr. f. angew. Psychol., Leipzig, Barth 1921, 187 S.). Drei Vorträge 
von Stern, Lipmann, Rupp behandeln methodische Grundfragen der Begabungs¬ 
und Eignungsprüfung; die übrigen berichten über Sonderuntersuchungen zur 
Berufseignung, zur Gedächtnispsychol. usw. — Die „Gesellschaft für experi¬ 
mentelle Psychologie“ veranstaltet in der nächsten Zeit zwei Tagungen. Im 
Oktober 1922 tagt die in ihr begründete Gruppe für angewandte Psychologie 
in Berlin, um sich über die Methoden der Fähigkeitsfeststellung in Schule 
und Beruf auszusprechen, zugelassen sind nur Mitglieder und eingeführte Gäste. 
Ostern 1923 findet der VIII. Kongreß der Gesamtgesellschaft in Leipzig statt. 

9. Der III. Internationale Kongreß für Psychotechnik wird 1922 in 
Mailand tagen. Verhandelt werden soll über die Aufstellung eines inter¬ 
nationalen Schemas für Ausleseprüfungen. 

10. Von dem Amsterdamer Philosophen Prof. Kohnstamm ist der Kant¬ 
gesellschaft ein bedeutender Preis für ein Preisausschreiben über das 
Thema: „Personalismus und Idealismus als Grundtypen der Weltanschauung“ 
zur Verfügung gestellt worden. 


Literaturbericht. 

Selbstanzeigen. 

Lindworsky, Der Wille, seine Erscheinung und seine Beherrschung nach de 
Ergebnissen der experimentellen Forschung. J. A. Barth, Leipzig. 1. Aufl. 1919, 
2. unveränderte mit einem Anhang versehene Aufl. 1921. 222 S. 

Das Buch war ursprünglich als kritisches Sammelreferat für Fachgenossen verlangt worden 
und sollte als erstes Beiheft zu dem von W. Peters herausgegebenen „Zentralblatt für Psycho¬ 
logie usw.“ erscheinen. Es bietet auf knappem Raum eine Inhaltsangabe der bisherigen ex¬ 
perimentellen Arbeiten mit Ausschluß der Reaktionsversuche im engeren Sinne. Die immanente 
Kritik sucht dann die Probleme weiterzuführen. So gelangt der Verf. unter Ablehnung der 
determinierenden Tendenzen als neuer elementarer Faktoren und durch Weiterführung der Kontro¬ 
verse über das assoziative Äquivalent (Messung der Willenskraft)* zu einer selbständigen Theorie 
des Wollens, die fern von jedem Eklektizismus, allen bisher bekannten Tatsachen gerecht zu 
werden sucht. Das Wesen des Wollens besteht danach in dem Streben nach Werten; die 


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Lite?aturbericht 


Wirkung des Wollens in der Verstärkung der Vorstellung des angestrebten Wertes. Voraus¬ 
setzung des erfolgreichen Wollens ist das Vorhandensein geläufiger Vorstellungskomplexe. In 
einem praktisch-pädagogischen Anhang wird von diesem Standpunkt aus das Problem auf¬ 
geworfen, ob es eine Willensstärke und eine Erziehung zu ihr im landläufigen Sinne gebe, 
bzw. was an deren Stelle zu treten habe. — Der Anhang zur zweiten Auflage berichtet über 
inzwischen veröffentlichten Willensarbeiten und einer vom Verf. angeregten Münchener Disser¬ 
tation über das assoziative Äquivalent, die seine aus der immanenten Kritik gewonnenen An¬ 
schauungen bestätigen, teilweise auch ergänzend berichtigen. 

J. Lindworsky, Willensschule, Handbücherei der Erziehungswissenschaften 
Nr. 3, Paderborn 1922. F. Schöningh. % 126 S. 

Das Büchlein ist zunächst für die Arbeitsgemeinschaften der Junglehrer gedacht und ent¬ 
hält darum am Schluß Aufgaben und Themen für diese. In einem ersten Teil legt der Verf. 
seine Willenstheorie in leicht verständlicher Form vor. Ein zweiter Teil behandelt ausführlich 
die Pädagogik des Willens. Die gemeinhin empfohlenen Mittel der Willensbildung werden vom 
psychologisch-pädagogischen Standpunkt aus gewertet, sodann die Einzelaufgaben und die Gesamt¬ 
aufgabe der Willensbildung besprochen. Das Neue an dem Büchlein ist in der konsequenten Durch¬ 
führung einer bestimmten Willenstheorie zu suchen. Gelegentlich der Gesamtaufgabe der Erziehung 
wird als Beispiel in formaler Hinsicht „Das Geheimnis der ignatianischen Exerzitien“ ausführlich dar¬ 
gestellt. Die Wirksamkeit dieser , «Obungen“ zur Willenslenkung ist geschichtlich erwiesen. Merk¬ 
würdig ist, wie sehr sich dieses Werk eines Praktikers der hier vorgetragenen Willenstheorie fügt. 

J. Lindworsky, Experimentelle Psychologie, 5. Band der „Phil. HandbibL“ Kösel, 
Kempten 1921. 307 S. 2. Aufl. (Neudruck) 1922. 

Die „Philos. Handbibliothek“ ist für angehende Akademiker berechnet. Des Verf. Aufgabe 
war es, durch einen gedrängten Überblick Über die empirisch ermittelten Haupttatsacben der 
Psychologie zu unterrichten. Seine vorausgehenden Arbeiten, namentlich die Untersuchungen 
über das schlußfolgernde Denken (Freiburg, Herder, 1916, vergriffen) und überden Willen hatten 
ihn zu Auffassungen geführt, die es nicht erlaubten, bei dem schlichten Referat stehenzubleiben. 
Es wird über dieses hinaus ein systematischer Aufbau des seelischen Lebens versucht Weiter 
sollte die Bedeutung des Denkens auch für die Entwicklung der Wahmehmungswelt betont 
werden. Anderseits möchte der Verf. das Denken nur in dem Beziehungsakte erblicken. Er 
verzichtet darum auf „unanschauliche Gedanken“, insofern sie mehr sein sollen als Beziehnngs- 
erfassungen an anschaulichen Fundamenten und wagt den Versuch, das ganze höhere Seelen¬ 
leben mit nur zwei einfachen Funktionen, der Beziehungserfassung und dem Streben, natürlich 
in Verbindung mit dem Vorstellungsleben, aufzubauen. Auf die Rätsel des Traumes fällt von 
dieser Auffassung aus manch neues Licht. — Daß die erste Auflage von 3000 Exemplaren in 
neun Monaten vergriffen war, beweist das Bedürfnis für einen Abriß dieses Umfanges. 

J. Lindworsky, Umrißskizze zu einer theoretischen Psychologie. Barth, Leipzig 1922. 
48 S. 

Die Skizze bildet eine Ergänzung des Lehrbuches. Allgemein fühlt man die Notwendig¬ 
keit einer theoretischen Psychologie im Sinne einer theoretischen Physik. Bevor man zu einer 
philosophischen Verwertung der psychischen Gesetzmäßigkeiten schreitet, sollten sie unter weiteren 
Gesichtspunkten zusammengefaßt werden. Übergeordnete Gesetze sind zu suchen, aus denen 
sich die Einzelerscheinungen ableiten lassen. Vielleicht ist heute eine theoretische Gesamt¬ 
orientierung wichtiger als theoretische Einzelarbeiten, da diese ganz wesentlich von der Gesamt- 
anschauung beeinflußt werden. 

1) 2) Clara und William Stern, Monographien über die seelische * Entwicklung 
des Kindes. Leipzig. Barth. 

L Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Dritte 
ergänzte Aufl. 1922. 434 S. 

II. Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit. Dritte AufL 1922. 160 S. 

3) W. Stern, Psychologie der frühen Kindheit bis zum 6. Lebensjahre. Mit Benutzung 
ungedruckter Tagebücher von Clara Stern. 2. Aufl. Leipzig, Quelle & Meyer. 1921. 362 S. 

4) Aus einer Kinderstube. Tagebuchblätter von Clara Stern. Bearbeitet von Toni 

Meyer. Zweite unveränderte Aufl. Leipzig. Teubner. 1921. 156 S. 

Obige Bücher haben sämtlich die frühe Kindheit vom ersten bis zum sechsten Lebensjahr 
zum Gegenstand. Das ihnen zugrunde liegende Material besteht einesteils in den umfassenden 


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Literaturbericht 


393 


Tagebuchaufzeichnungen meiner Frau, andemteils in den Veröffentlichungen der deutschen und 
ausländischen Literatur; dies Material aber wurde einer weitgehenden psychologischen Bearbei¬ 
tung unterzogen. Die schon vor Jahren erstmalig erschienenen Bücher waren längere oder kürzere 
Zeit vergriffen und deshalb aus dem Gesichtskreis der Leser geschwunden; es sei daher gestattet, 
an dieser Stelle auf die im letzten Jahr erfolgten Neuausgaben hinzuweisen. Der Charakter 
der Bücher ist ein recht verschiedener. Nr. 3 versucht eine Gesamtdarstellung des Themas, 
Nr. 1 und 2 sind wissenschaftliche Spezialdarstellungen, Nr. 4 eine volkstümliche, hauptsächlich 
für Eltern bestimmte Auslese aus den Aufzeichnungen. 

1) und 2). Ursprünglich bestand der Plan, in einer größeren Reihe von Monographien den 
umfassenden Stoff erschöpfend zu bearbeiten. Seine Ausführung ist leider nicht über die zwei 
bereits 1907 erstmalig erschienenen Werke über die Rindersprache und die frühkindliche 
Erinnerung gediehen. Die „Kind er spräche“ stellt im ersten Teil dokumentarisch die Sprach¬ 
entwicklungen unserer beiden ältesten Kinder dar, die bis zum 6. Lebensjahr durchgeführt sind. 
Zahlreiche Sprachproben, Wortschätze, Tabellen sind beigegeben. Der zweite Teil behandelt 
die eigentliche Psychologie der Kindessprache, erörtert das Kausalproblem, die Vorstadien und 
Anfänge, die Entwicklung des Satzes, der Worte und Wortklassen. Überall fällt auch Licht 
auf die mit der Sprache verknüpfte Entwicklung des kindlichen Denkens. Ein dritter Teil 
geht auf die eigentliche Linguistik der Kindersprache (Wortverstümmlüng, Lallwörter, Schall¬ 
nachahmung, Urschöpfung usw.) ein und erhofft neben dem Interesse des Psychologen und 
Pädagogen auch das des Sprachwissenschaftlers. Die jetzt erschienene dritte Auflage gibt den 
Text der ersten unverändert wieder; aber ein längeres Nachwort fügt eine Anleitung zur 
Beobachtung der Sprachentwicklung sowie eine Übersicht über die Fortschritte der Kinder¬ 
sprachforschung seit 1907 hinzu. Eine vollständige Bibliographie ist beigegeben. 

Die zweite Monographie ist um das Problem der Aussage orientiert und will zu den so 
zahlreichen Untersuchungen über die Aussage des Schulkindes die Ergänzung aus der frühen 
Kindheit geben. Wieder wird mit der Darstellung einer individuellen Entwicklung begonnen; 
es folgt eine vergleichende Psychologie der frühkindlichen Aussage auf Grund von Beobach- 
tnngen und Experimenten: es werden sowohl die Erscheinungen des richtigen Aussagens (Wieder¬ 
erkennen, Erinnerung) wie die Arten und Ursachen der falschen Aussage behandelt. Das 
Hauptgewicht liegt auf dem Nachweis, daß es neben der echten Lüge eine Reihe von falschen 
Aussagen gibt, die den Charakter des reinen Phantasiespiels oder der Scheinlüge haben. 
Praktische Ausblicke über Erziehung der frühkindlichen Aussagen und Behandlung der Lüge 
schließen das Buch. 

Nr. 3. Die „Psychologie der frühen Kindheit“ bildete nach dem ein Menschenalter 
zurückliegenden Buche Preyers den ersten Versuch innerhalb des deutschen Schrifttums, ein 
Gesamtbild des frühkindlichen Seelenlebens zu entwerfen. Die Notwendigkeit einer möglichst 
vielseitigen Beleuchtung der seelischen Frühentwicklung zwang zu einer gewissen Knappheit 
bei Behandlung der Einzel gebiete; doch bestand das Bestreben, durch Herausarbeitung des 
Wesentlichen, durch ständige Bezugnahme auf die psychologischen Grundlagen der geschilderten 
Seelenvorgänge und durch zahlreiche Proben aus den Tagebüchern, den Lesern des Buches 
die wünschenswerte Klarheit zu geben. Daß sich der Verfasser fast ausschließlich auf Erfah¬ 
rungen an Kindern der gehobenen Stände stützen mußte, bildet freilich eine Grenze des Buches. 
Die Gliederung ist teils chronologisch (sprachlose Zeit, Sprachentwicklung), teils systematisch: es 
wird das Gedächtnis, das Spiel, das Denken, das Gemüts- und Willensleben gesondert behandelt. 
Gerade die ausführliche Behandlung der nicht-intellektuellen Seelenvorgänge unterscheidet das 
Buch von den neueren Werken Bühlers und Koffkas, die sich vorwiegend auf die Behandlung 
der geistigen Entwicklung beziehen. Deshalb darf ich hoffen, daß auch die unveränderte Ausgabe, 
wenn sie auch die neueste Literatur nicht einzubeziehen vermochte, den Lesern willkommen 
sein wird. Die Schreibweise des Buches ist, obwohl es durchaus den Ernst wissenschaftlicher 
Darstellung zu wahren bestrebt ist, doch so gehalten, daß auch psychologische Laien es zu 
verstehen vermögen. 

Nr. 4 ist ganz vorwiegend für Eltern und Kindergärtnerinnen bestimmt, denen hier eine 
von anderer Hand bewirkte Blütenlese aus den Tagebüchern meiner Frau dargeboten wird. 
Es sind nur solche Stellen gewählt worden, die einen unmittelbar erziehlichen Einschlag haben 
und die zugleich das unbefangene Leben einer Kinderstube und die sehr verschiedenen Indi- 
vidualitäten ihrer drei Insassen zur Anschauung bringen konnten. W. St. 


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394 


Literaturbericht 


Einzelbesprechungen. 

Oswald Külpe, Vorlesungen über Psychologie. Herausgegeben von Karl Bühler, Prof, 
der Philosophie an der Techn. Hochschule in Dresden. 2. AufL Leipzig 1922. 340 S. 66 M. 

Ich habe im 21. Jahrgang dieser Zeitschrift (S. 165) die Külpeschen „Vorlesungen* bei 
ihrem Erscheinen ausführlicher besprochen. Meiner dort gegebenen Anregung, es möge die 
schöne Arbeit, die Külpe 1912 über „die moderne Psychologie des Denkens“ geschrieben hatte, 
dem Buche angefügt werden, ist in der zweiten Auflage der Herausgeber gefolgt. So werden 
nun die Vorlesungen nicht mehr enttäuschen, wenn man nach ihnen in der Erwartung greift, 
gerade in ihnen eine denkpsychologische Orientierung zu finden. Der Herausgeber weist zudem 
noch in seinem Vorwort darauf hin, daß der erste Band der „Realisierung“ (bei Hirzel 1912) 
„eine wohldurchdachte Anwendung der modernen psychologischen Analyse des Denkens auf 
die Erkenntnistheorie enthält“. Sch. 

Hugo Münsterberg, Psychologie und Wissenschaftsleben. Ein Beitrag zur an¬ 
gewandten Experimental-Psychologie. 5. unv. Aufl. Leipzig 1922. Barth. 192 S. 

Henry C. Link, Ph. D., Eignungs-Psychologie (Employment Psychology). Anwendung 
wissenschaftlicher Verfahren bei der Auswahl und Ausbildung von Angestellten und Arbeitern. 
Übersetzung von J. M. Witte. Mit einem Vorwort von C. Piorkowski. München u. Berlin 1922. 
Oldenburg. 212 S. 

Münsterbergs Werk ist hervorgegangen aus einem Kolleg, das der 1915 verstorben« 
Professor der Havard-Universität im Herbste 1910 als Austauschgelehrter in Berlin gehalten hat 
Es war dies wohl das erstemal, daß dies neue Forschungsgebiet an einer Hochschule dar¬ 
gestellt wurde, und Münsterberg war sich nach seinem Bekenntnis im Vorworte wohl bewußt, 
daß seine Darbietungen nur vorläufige Ergebnisse bieten und nur Beispiele sein konnten. Er 
sprach dabei den Wunsch aus, es möge Deutschland gelingen, auf diesem neuen Felde die 
Mitführerschaft zu gewinnen — im Interesse der Wissenschaft und zum Besten der nationalen 
wirtschaftlichen Kraft. Und nun ist es erstaunlich, in welclr ungeahntem Aufschwung sich in wenig 
mehr als einem Jahrzehnt die deutsche Forschung und bei der praktischen Verwirklichung Hand 
in Hand mit ihr das deutsche Wirtschaftsleben des jungen Feldes bemächtigt hat 

Wie weit unterdessen das Ausland — insbesondere auch Amerika vorgedrungen war — 
blieb in Zeiten des Krieges und auch in den folgenden Jahren zum guten Teil verdeckt Die 
Übersetzung des Buches von Henry C. Link ist darum zu vergleichender Betrachtung und zur Gewin¬ 
nung neuer Anregungen höchst willkommen. Piorkowski hebt in seiner Einführung kurz das Unter¬ 
scheidende heraus und deutet an, wie die Unterschiede aus anderen soziologischen und wirtschaft¬ 
lichen Gegebenheiten verständlich werden. „Während die deutschen Psychotecbniker versucht haben, 
bei ihren Fähigkeitsfeststellungen systematisch so vorzugehen, daß Kenntnisprüfungen möglichst 
ausgeschaltet wurden, um so ein annähernd reines Bild der Anlagen zu gewinnen, sind die 
amerikanischen Methoden gemischt, und Fähigkeitsprüfung und Kenntnisprüfung geht vielfach 
ineinander über. Dies liegt zum grpßen TeU in den spezifisch amerikanischen Verhältnissen 
begründet, wo die Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten auf Abendschulen, in freien 
Kursen usw. viel mannigfaltiger sind als bei uns in Deutschland und andererseits dem Zeugnis- 
und Berechtigungswesen nur ein geringer Wert beigemessen wird. Somit ist der amerikanische 
Psychologe zunächst genötigt, sich selbst erst einmal von dem Kenntnisstand der Be¬ 
werber zu überzeugen, während der Deutsche sich hier mehr auf Zeugnisse verlassen kann.“ 
Methodisch sind, gemessen an dem deutschen Verfahren, die amerikanischen Eignungsprüfungöl 
einfacher. Erklärlich werden die leichteren Tests — es sind etwa 35 im Buch beschrieben — 
aus der Verschiedenartigkeit und dem vielfach sehr geringen Grade der Vorbildung, die 
amerikanische Arbeiter zeigen. Besonders beachtenswert für die deutsche Eignungspsychologie 
ist das, was Link über Bewährungsveranstaltungeu und über die Einrichtung von Anlern¬ 
schulen berichtet. Man hat in Amerika erkannt, daß Auswahlprüfungen ohne weitere sich 
anschließende Veranstaltungen ein unvollendetes Unternehmen darstellen. Es gilt vielmehr, 
daß die Ausgewählten nun in besonderen Anlemschulen auf charakterologische Eigenschaften, 
die wie Fleiß, Ausdauer, Mut u. s. f. ein wichtigstes Bestimmungsstück der Berulstüchtigkeit 
bilden, erkennbar werden, und daß auf besondere berufliche Leistungen hin die Arbeiter in 
einem Übungskurse eine Einschulung bekommen. Nebenbei leistet diese Anlemschule auch 
noch betriebsorganisatorische Vorteile. Für die praktische und psychologische Pädagogik 
bedeutungsvoll sind in dem Buch vor allem die Abschnitte über die Fragemethode und das 
beobachtende Verfahren. 

Leipzig. Otto Scheibner. 


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Literaturbericht 


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Dr. C. von Heydebrand, Gegen Experimentalpsychologie und -pädagogik. Stuttgart 
1921. Der kommende Tag-Verlag. 30 S. 2,40 M. 

Es würde dieser kleinen Schrift; viel zu viel Bedeutung zugemessen, wenn man sich mit 
ihr am wissenschaftlichen Orte auseinandersetzen wollte. Denn ganz im Banne anthroposo¬ 
phischen Glaubens stehend, wagt ihr Verfasser sich an die Beurteilung und Verurteilung eines 
Wissenschaftsgebietes in völlig unwissenschaftlicher, fast mittelalterlich anmutender Haltung. 
Die Grundeinstellung gewinnt er in Rudolf Steiners Lehre. Dogma ist ihm dessen Satz: „Daß 
ein Mensch nur ein Beobachtungsgegenstand für uns sein könnte, dieser Gedanke darf uns nicht 
einen Augenblick erfüllen“. Und daß nun — wie in der Schrift kühn behauptet wird — der 
experimentellen Pädagogik das Gefühl heiliger Scheu vor allem Menschlichen fehle, darin soll 
der tiefste Grund liegen für das, was verderblich ist an ihrem Wesen und Wirken: „Ihre 
Forscher haben vergessen und berücksichtigen nicht, was als Verborgenstes, Allerheiligstes 
unantastbar in jedem Menschen ruht, auch schon im werdenden Menschen nach Offenbarung 
ringt und nur noch in künstlerischer Anschauung intuitiv, von innen herkommend, erfaßt 
werden kann“ (S. 29). Meumanns „Vorlesungen“ und sein „Abriß“, die seinerzeit der Abschluß 
einer ersten Entwicklungsperiode der experimentellen Pädagogik waren, aber schon länger nicht 
mehr als führend gelten können, müssen nun herhalten, als Beleg zu dienen für die „gefahr¬ 
vollen Tendenzen“ der experimental psychologischen Forschung, Tendenzen, die — wenn ihnen 
gefolgt wird — „die moderne Pädagogik in einen Abgrund hinunterreißen und lebendige 
Kinderseelen unter Steinen bei Skeletten und Gespenstern begraben“ (S. 30). Es werden hierbei 
als Beweisstücke einzelne Gedanken und Beispiele Meumanns aus dem sinngebenden Zusammen¬ 
hänge seiner gesamten Darlegungen herausgerissen — für die Zwecke der Kritik sehr geschickt 
gewählt — und ihnen die anthroposophische Weisheit gegenübergestellt. Einen „betrübenden 
Eindruck auf die kinderliebenden Beschauer“ macht z. B. eine Abbildung aus Meumanns Abriß : 
„Ein kleiner Schuljunge sitzt vor einer Trommel, die sich mit Hilfe eines elektrischen Apparates 
langsam dreht und bespannt ist mit einem Papierstreifen, auf dem sinnlose Silben stehen“, und 
„in einem gleichmäßigen Tempo erscheint (lern Kinde eine Silbe nach der anderen durch einen 
Spalt“. Von anderen Untersuchungen wird behauptet, sie enthielten „lauter psychologische 
Selbstverständlichkeiten“ (S. 20). „Man hat bei den experimentellen Forschern leicht das Gefühl 
von Wesen, die von irgendeinem Orte des Weltenraumes, wo es keine Kinder gibt, auf die 
Erde gekommen sind und sich plötzlich den fremdartigen kleinen Geschöpfen zwecks wissen¬ 
schaftlicher Erforschung gegenüber befinden, an denen sie nnn die seltensten Dinge entdecken 
und in ein großes Notizbuch schreiben.“ Man halte nun aber, so wird bedeutend gesprochen, 
gegen Meumanns Schriften etwa Rudolf Steiners Buch „Erziehung des Kindes“, beispielsweise 
in der Lehre vom „Ätherleib **, der sich im wesentlichen vom Zahnwechsel bis zur Geschlechts¬ 
reife entwickelt (S. 28). Genug von solchem Gerede! — Zuletzt noch wird versucht, die experi¬ 
mentelle Pädagogik auf den rechten Weg zu bringen: sie soll sich „befruchten lassen von dem, 
was aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft ihr erfließen kann“. Es ist ihr guter 
wissenschaftlicher Geist, der die experimentelle Pädagogik — die sich übrigens ihrer Grenzen und 
Unzulänglichkeiten ebenso begrüßt ist wie der großen Bedeutung ihrer Methoden und Ergebnisse — 
bewahren wird, dieser fragwürdigen Einladung zu folgen. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Charlotte Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und 
Theorie der psychischen Pubertät Jena 1922. Fischer. 103 S. 

Das Werk weist m. E. vier Vorzüge aut Zuerst: Die zerstreut liegende Literatur, die Psycho¬ 
logen, Pädagogen, Mediziner, Theologen und Dichter von einander isoliert über die Pubertäts¬ 
erscheinungen auf den Büchermarkt brachten, wird gesammelt, bewertet und gesichtet Dann 
umreißt Ch. Bühler zunächst im Sinne gegenwärtiger psychologischer Forschungsweise überhaupt 
einmal die biologische Grundlage sowohl der körperlichen, als auch seelischen-Pubertät. Damit 
wird auch in die Psychologie der Pubertät der Gedanke getragen, der eine erfolgreiche Deutung 
sichert. Pubertät ist nicht nur körperliche, sondern *auch seelische Ergänzungsbedürftigkeit. 
Vom Standpunkt des Jugendlieben begrenzt sie charakteristische Perioden der seelischen Puber¬ 
tät: die der Verneinung und der Bejahung, für die sie die von Schopen gebrauchten Termini 
Pubertät und Adoleszenz wählt, denen eine Vorperiode sowohl körperlich, als auch seelisch 
vorau8geht Mit dem Herausheben dieser Vorperiode, die wir auf Grund eigner Materialsamm¬ 
lung bestätigen, differenziert Ch. B. die instinktive Entwicklungsreihe, die Karl Groos an einer 
Analyse der Instinkte des Reifenden für die psychischen Erscheinungen der Pubertät fest¬ 
legte: Das sexuelle Bedürfnis, dem psychisch das Annäherungsbedürfnis (Kontraktationstrieb) 
entspricht, das Bedürfnis zur Selbstdarstellung, der Gegenzug der Scham und der Kampftrieb. 


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Literaturberich 


Diese glückliche Sichtung und Gruppierung der bisher scheinbar unentwirrbaren Pubertät»- 
erscheinungen gibt Fingerzeige für die biologisch-psychologische Forschung und Deutung, 
die nun Ch. Bühler richtig weiter herausarbeitet. Ferner wird der Rhythmus der Entwick¬ 
lung in den Einzelperioden und in ihrer Folge aufeinander herausgehoben. So ist ei 
typisch, daß jeder Phase der Entwicklung eine Lösung vorausgeht und eine Zeit der Latenz 
folgt Es scheinen mir die Gesetze der jeder Assoziation und Assimilation vorangehenden 
Dissoziation und Dissimilation erkennbar, denen biologisch Energiesammlung folgt Hier sehe 
ich die gleiche Rhythmisierung wie in der frühen Kindheit Und damit hebe ich den letzt« * 
Wert der Analyse hervor, daß die Verfasserin Vergleiche und Beziehungen zur frühen Kindheit, 
der ersten, ähnlich gewaltigen Entwicklungsperiode des Individuums herstellt An der Hand 
der gewonnenen Struktur untersucht die Verfasserin die Entwicklungserscheinungen des Instinkts, 
der Gefühle, des Willens und des Intellekts. Am schärfsten und vollendetsten ist ihre psycho¬ 
logische Darstellung im Kapitel über den Willen, wo ich z. B. die Parallele in der Trotzperiode 
zwischen früher Kindheit und Pubertät besonders erwähne, psychische Erlebnisse, in denen 
Konträrsuggestion und das Humesche Problem eine Rolle spielen. Im Kapitel über Gefühl und 
Intellekt arbeitet Ch. B. scharf die Perioden der Verneinung und Bejahung, der Lösung und 
Neuerschließung heraus. Dort ist es besonders „der Schwarm 11 , den sie psychologisch basiert, 
und hier wird an der Entwicklung des Ichbewußtseins die Rhythmik der Verneinung und Be¬ 
jahung, der Vereinsamung und des Freundschaftsuchens — „Idealhabens“ — begründet. Der 
Wendung nach innen folgt in der Adoleszenz der Anschluß an die soziale Umwelt, die Auf¬ 
nahme ihrer Ideenziele und Gesetze. Aus allen psychologischen Hinweisen und Fingerzeigen 
sieht man, daß die Verfasserin auch in diesen Abschnitten später zu einer gleichen abgeschlos¬ 
senen, mit der frühen Kindheit vergleichenden Darstellung dieser seelischen Fähigkeiten kommen 
wird wie in Kapitel 5. Im 5. und 6. Abschnitt linden wir Prinzipielles über Ethik und Religion 
und über Kunst- und Literaturverständnis der Jugendlichen. Die religiösen Probleme treten als 
Probleme des Glaubens und Wissens in der Pubertät und als Weltanschauungsproblem mit aus¬ 
gehender Adoleszenz auf. Die Deutungen sind beachtenswert für den Pädagogen, und wir empfeh¬ 
len sie z. Z. im Streite um den Religionsunterricht sowohl den Vertretern der Kirche, als auch 
denen der Schule zum Durchdenken. Die früher herausgearbeiteten drei Stufen des Literatur¬ 
bedürfnisses des Kindes: dem Struwelpeteralter, dem Märchenalter und dem Robinsonalter, fügt 
die Verfasserin im 6. Abschnitt für das Pubertätsalter das Heldenalter als 4. Stufe an, die sie 
scheidet in die Seite der Tatenlust des Wachsenden und Lebenshungrigen und die der stillen 
Sehnsucht erwachenden Liebesbedürfnisses; die 2. löst die 1. ab; beim Mädchen biologisch be¬ 
gründet früher als beim Knaben. 

Damit habe ich im Rahmen einer Besprechung schon eine Fülle psychologischer Deutungen 
und Erkenntnisse angeführt, die Ch. Bühler bietet und die zum eignen Nachlesen reizen sollen. 
Man könnte noch einwenden, daß Verfasserin ihre Erkenntnisse an Jugendlichen höherer Kultur¬ 
stufe gewann und von dort aus nicht über diese wichtige Entwicklungsperiode des primitiven 
Pubeszenten urteilen dürfe, was sie übrigens treffend tut. Dazu möchten wir betonen, daß es 
sich um Herausarbeiten von Typen handelt und vom biologischen Standpunkt aus sich bei jedem 
Individuum diese Perioden finden, wenn auch durch Vererbung, Individual- und Milieubeein¬ 
flussung Hemmungen, Verschiebungen, Verlängerungen der Perioden, Änderung des Rhythmus 
in der Phasenfolge eintreten werden und müssen. Es bleibt der Einzelforscbung überlassen, 
an der Hand der von Ch. Bühler vorläufig gegebenen biologisch-psychologischen Struktur der 
seelischen Pubertät auch aus dem Leben der primitiv Kultivierten — um da6 häßliche Wort 
Proletarier zu vermeiden — Material zu sammeln und zu deuten. Wie sich körperlich eine 
Typisierung ergab, wird sie zweifellos auch psychisch zu finden sein; beachtenswert erscheint 
mir noch, dann besonders auf das Abnorme — das Psychopathologische zu achten, um auch 
hier zu einer scharfen Abgrenzung von dem zu kommen, was in der Sturmzeit oft als patholo¬ 
gisch erscheint, an sich aber nur eine überwertige Steigerung, Verzerrung einer seelischen Er¬ 
scheinung ist, die biologisch und physiologisch in körperlichen Strukturverhältnissen normal 
begründet ist. Endlich sei noch erwähnt, daß die pädagogischen Schlußfolgerungen von 
Ch. Bühler beachtenswert sind. 

Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix. 

Dr. H. Hug-Hellmuth, Aus dem Seelenleben des Kindes. Eine psychanalytische Studie. 

2., verm. Aufl. Leipzig—Wien 1921. Deuticke. 164 S. 

Man muß schon zustimmen, wenn die Verfasserin behauptet, daß sich in unseren kinderpsycho¬ 
logischen Darstellungen solche Erscheinungen, die mehr oder minder sicher der Sexualentwicklung 
zugehören, nicht behandelt finden und damit manche Züge des frühkindlichen Seelenlebens 


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unaufgedeckt geblieben und andere in falsche Auffassungen gekommen sind. Max Döring 
bat Jüngst auf diese Lücke mit allem Nachdruck htngewiesen. Hinwiederum schlägt Hug-Hellmuth 
nach der anderen Seite über alles Maß hinaus. Ausgehend von der unhaltbaren Meinung, daß 
das sexuelle Moment „in der Kindheit zumindest keine geringere Rolle spielt als im Leben des 
Erwachsenen“, durchblickt sie in dieser Einstellung die bekannten kinderpsychologischen Material- 
Sammlungen von Preyer, Shinn, Scupin, Sully, Stern u. a., fügt eigene Beobachtungen hinzu und 
deutet nun, ganz in den Lehren Freudsbefangen, unbesonnen darauf los. Sie nennt diese ihre un¬ 
bekümmerte Kühnheit „psychoanalytische Offenheit“ Trotz aller Einseitigkeit aber hat das Buch, 
das sich in die beiden Abschnitte der Säuglingszeit und der Spielzeit gliedert, doch die Wirkung 
gehabt, den Blick der Kinderpsychologen für ungebührlich vernachlässigte Tatsachen der frühen 
Entwicklung zu schärfen, ln den acht Jahren zwischen der ersten und zweiten Auflage hat sich 
ja auch der Sturm der hohnvollen Entrüstung, mit dem es bei seinem Erscheinen empfangen 
wurde, gelegt, und es ist ihm der Erfolg der Übersetzung ins Englische geworden. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Fritz Klatt, Autoerotik und* Gemeinschaftserotik in den ersten Stufen der 
Jugend. Zeitschr. f. Sexualw. 8. Bd. S. 241 ff. 

In enger Anlehnung an Hans Blüher und Wyneken versucht der V., die jugendliche Ent¬ 
wicklung bis etwa zum 20. Lebensjahr auf die Formel zu bringen: Von der naturgegebenen 
Enge der Autoerotik (Onanie, Onaniebtinde) über die Aufweitung in der gleichgeschlechtlich 
gerichteten Gemeinschaftserotik (Jugendbewegung, Emanzipation vom selbstbefriedigenden „Zweck“, 
Feindschaft gegen Familie und anderes Geschlecht) zur selbstgewählten Enge heterosexueller 
Einzelliebe. 

Löbau i. Sa. Heinz Burkhardt 

Dr. Julius Moses, Konstitution und Erlebnis in der Sexualpsychologie und 
-pathologie des Kindesalters. Zeitschr. f. Sexualw. 8. Bd. S. 305ff. 

Wenn auch die Forschungen der Steinachschen Schule über die Bedeutung des endokrinen 
Gewebes für die geschlechtliche Entwicklung und Betätigung die Konstitution als das ma߬ 
gebliche für das normale und anormale Sexualleben des Kindes erscheinen lassen, so darf man 
doch, zur Vorsicht gemahnt durch die zahlreichen konträren Ergebnisse anderer Untersuchungen 
und durch die praktische Erfahrung, den richtunggebenden Einfluß besonders des ersten Sexual¬ 
erlebnisses nicht unterschätzen. 

Löbau i. Sa. Heinz Burkhardt. 

Hoffmann, Dr., Jakob, Geistlicher Rat und Oberstüdienrat, Handbuch der Jugendkunde 
und Jugenderziehung. 2. und 3. vollständig neu bearbeitete Auflage. XXXIV. Frei¬ 
burg i. Br. 1922. Herder. 416 S. 82 M. u. Teuerungszuschlag. 

Das Werk will über die Eigenarten der Jugendlichen — den Begriff der Jugend ein¬ 
geschränkt auf die Geschlechtsreifezeit — im leiblichen, geistigen, gefühlsmäßigen und reli¬ 
giösen Lebenskreis unterrichten und auf Grund der psychologischen Tatsachen Anleitungen zur 
Erziehung der Jugendlichen dieser Altersstufe bieten. Daß uns die jugendkundlicben Forschungen 
bisher so wenig Aufschluß über den wichtigsten Entwicklungsabschnitt, die Reifezeit gaben, 
wurde von allen Erziehern und Lehrern als schmerzliche Lücke empfunden; daher begrüßte 
man dankbar die Werke von W. Hoffmann und Charlotte Bühler, die zum erstenmal die 
Reifezeit, nicht das Schulalter, zum Gegenstand psychologischer Untersuchungen hatten. Und 
nun ein neues, umfangreiches Werk, das nicht allein die Psychologie, sondern auch die Erzie¬ 
hung der reifenden Jugend darstellen will. Leider erfüllt es nicht die hochgespannten Er¬ 
wartungen, mit denen man an das Buch herantritt. 

Daß es auf einem einseitig katholischen Standpunkt steht, würde man ihm durchaus nicht 
zum Vorwurf machen, wenn sich bei Hoffmann wie z. B. in den Werken des Jesuitenpaters 
Lindworsky katholische Weltanschauung mit wissenschaftlicher Sachlichkeit vertrüge. Dem ist 
nicht so; schon ganz äußerlich zeigt sich die Einseitigkeit in der überwiegenden Heranziehung 
katholischer Autoren und katholischer Fachzeitschriften (z. B. Pharus, katechetiscbe Blätter usw.), 
während oft hervorragende nichtkatholische Autoren und sehr bedeutsame Veröffentlichungen 
vor allem in den Zeitschriften „für päd. Psych.“ und „für angew. Psych.“ nicht berücksichtigt 
werden; innerlich dadurch, daß als wichtigstes, vielfach einziges Bildungsmittel des Gefühls¬ 
und Willenslebens die katholische Religion hingestellt wird und daß der Hinweis auf die 
religiöse Bildung uns über alle psychologischen und pädagogischen Schwierigkeiten hinweg¬ 
helfen soll. Ohne den Wert der religiösen Erziehung und Belehrung irgendwie bestreiten zu 


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Literaturbericht 


wollen, müssen wir doch mit Rücksicht auf die gegebenen jugendpsychologischen Tatsachen 
betonen, daß uns ein derartiges pädagogisches Allheilmittel weder in der Religion, noch z. B. 
in Comenius, Naturgemäßheit, noch in irgendeinem anderen hochgepriesenen Bildungsverfahren 
zur Verfügung steht Wäre dies der Fall, dann wäre der Erzieherberuf ebenso ideal als leicht 
und erfolgreich. Gewiß hat die katholische Weltanschauung den unschätzbaren Vorteü, daß 
von dieser Grundlage aus sichere Richtungslinien gezogen und klare, ideale Ziele aufgestellt 
werden können, was man z. B. von einer monistischen Weltanschauung kaum behaupten 
dürfte; nur kommen wir durch das Verfahren Hoflmanns wieder in den Bannkreis der alten 
spekulativen Pädagogik, die Ziele aufstellte, ohne zu fragen, ob diese mit den Entwicklungs¬ 
tatsachen in Einklang gebracht werden können. 

An diesen überwundenen Standpunkt gemahnt übrigens noch eine andere, viel bedenk liehe« 
Tatsache: Die psychologischen Anschauungen des Verfassers. Hoffmann verwendet die altes 
Vermögensbegriffe, als ob die Psychologie über die Ansichten Herbarts, ja vielfach der Scholastik 
nicht hinaus wäre. Begriffsbestimmungen wie: „Während die Phantasie das Vermögen der 
veränderten Wiedergabe des Aufgenommenen ist, kann das Gedächtnis das der unveränderten 
Reproduktion genannt werden 1 *, oder ,,Die Aufmerksamkeit ist die Sammlung der psychischen 
Kraft auf Bewußtseinsinhalte“, oder „Gemüt ist alles, was im einzelnen die besondere Bedin¬ 
gung für Gefühle und Stimmungen bildet“, usw dürften in einer Jugendpsychologie des 20. Jahr¬ 
hunderts nicht Vorkommen. Zudem läßt es der Autor nicht bei diesen sonderbaren Definitionen 
bewenden, sondern leitet aus ihnen oft genug Behauptungen ab, die kein Jugendpsychologe 
anerkennen möchte. 

Das Ausgehn von einer ganz bestimmten Weltanschauung und die Ableitung der Erziebungs- 
und Bildungsziele aus dieser enthebt offensichtlich den Verfasser der Aufgabe, sich über Ent¬ 
wicklungsgesetze, über die Grundfragen der Bildsamkeit des jugendlichen Geistes, über das 
grundsätzliche Verhältnis zwischen Vererbung und Umwelt, zwischen Fremdbildung und Selbst- 
büdung, über die Bedeutung der „Lebensformen“ für die Bildungsfähigkeit des einzelnen 
Jugendlichen usw. Gedanken zu machen. Daß wir aber solche grundsätzliche und für alle 
erzieherische Beeinflussung grundlegenden Erörterungen in einem wissenschaftlichen Handbuch 
der Jugendkunde und Jugenderziehung nicht vermissen dürften, braucht kaum begründet zu 
werden. Es genügt nicht, zu behaupten, die Phantasie, das Denken, das Gefühlsleben, der 
Wille usw. müssen gebildet werden, wir müssen auch wissen, wie weit die einzelnen Fähigkeiten 
überhaupt bildungsfähig sind und wie weit Unterschiede in der einzelpersönlichen Bildsamkeit 
gegeben sind je nach den Entwicklungsformen, in denen die angeborenen Anlagen beim Einzel¬ 
wesen auftreten. Es genügt nicht, zu fordern, dieses und jenes Ziel müsse die Erziehung der 
Phantasie, des Willens usw. erreichen; wir müssen auch nachweisen, daß das gegebene Ziel 
mit Rücksicht auf die Vererbungs- und Entwicklungstatsachen überhaupt erreichbar ist Auf 
die Untersuchung aller dieser grundsätzlichen Fragen der Büdsamkeit verzichtet der Verfasser 
vollständig, so daß wir auch von hier aus wieder zu einer bloß normativen Pädagogik kommen, 
die oft genug nur scheinbar ihre Berechtigung durch den Hinweis auf jugendkundliche Tat¬ 
sachen erweisen will. 

Endlich der gesamte Aufbau des Buches. Ich vermisse manchmal die Planmäßigkeit der 
Gliederung. Die Frage der Koedukation z. B. wird im Kapitel „rationales Leben“, bei „geschlecht¬ 
licher Erziehung“ und überdies in einem eigenen Abschnitt der „emotionalen Lebensphäre* 1 
behandelt, ebenso Tanz, Nikotin, Alkohol, Kino an mehreren verschiedenen Stellen. Ferner sind 
wir bezüglich der Wichtigkeit der einzelnen Abschnitte mit dem Verfasser nicht gleicher 
Meinung. Daß er der religiösen Entwicklung und Erziehung einen breiten Raum gönnt, ist 
selbstverständlich, und wir können ihm dafür dankbar sein, da die Jugendkunde gerade diese 
Seite des jugendlichen Seelenlebens bisher recht stiefmütterlich bedacht hat Einen fast ebenso 
breiten Raum nimmt aber die Darstellung der geschlechtlichen Gefühle und der geschlechtlichen 
Erziehung ein, während daneben die wichtigsten intellektuellen Fähigkeiten, die anderen Gefühle 
und selbst die WUlensbildung sich mit einigen Seiten begnügen müssen. Gewiß spielt das 
Erwachen der Geschlechtsgefühle in der Reifezeit eine wichtige Rolle, aber ich meine, es ließen 
sich auch über die anderen Seiten des jugendlichen Seelenlebens sehr wichtige und beachtens¬ 
werte Tatsachen Vorbringen, die der Verfasser wegen der einseitigen Bevorzugung der beiden 
genannten Entwicklungserscheinungen recht flüchtig behandelt hat. 

Wenn wir ein Werk trotz der schwerwiegenden Einwände, die wir dagegen erheben müssen, 
einer eingehenderen Kritik unterziehen und es nicht in wenigen verurteilenden Worten abtun, 
so soll damit gesagt sein, daß es sich dennoch um eine beachtenswerte literarische Leistung 
handelt, die mit der notwendigen kritischen Vorsicht gelesen, in manchen Partien Neues und 
Wertvolles bietet. So ist, wie schon erwähnt, der Abschnitt über religiöse Entwicklung und 


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Literaturbericht 


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Erziehung gut gelungen — auf gewisse Einzelheiten wie z. B. Zwang zum Besuche des Gottes¬ 
dienstes und zum Empfange der Sakramente, in denen wir mit dem Verfasser nicht überein¬ 
stimmen, können wir hier nicht eingehen —, aber auch das, was der Autor über Freiheitsdrang, 
sittliche Selbständigkeit, Ehrgefühl der Jugendlichen, Auflehnung gegen die Autoritäten sagt, 
bedeutet einen Fortschritt in der Erkenntnis des jugendlichen Gefühlslebens. Im Kapitel 
„Heilpädagogik“ bringt der Abschnitt „Selbstmord Jugendlicher“ manches Beachtenswerte zum 
Verständnis dieser pathologischen Erscheinung. 

Zur ersten Einführung halten wir Hoffmanns Handbuch der Jugendkunde für ungeeignet, 
da es im ungeschulten Leser eine ganze Reihe irriger jugendpsychologischer Ansichten begründen 
könnte; dem geschulten Fachmann jedoch vermag es in manchem Belange dankenswerte 
Anregungen zu gewähren. 

Graz, Otto Tumlirz. 

Dr. Rudolf Lämmel, Intelligenz-Prüfung und Psychologische Berufsberatung. 

Zürich—Meilen 1922. Verlag des Verfassers. 157 S. 

Außer durch einen klugen Gedanken Über Intelligenzprüfung und psychologische Berufs¬ 
beratung und außer durch einige neue Tests in dem Untersuchungsplan für die Begabungs¬ 
prüfung bei Schulkindern interessiert dies Buch durch ein anschauliches Verfahren, die Ergeb¬ 
nisse einer Begabungsuntersuchung darzustellen. Der Verfasser empfiehlt — ähnlich wie es in 
den psychischen Profilen geschieht — die Herstellung von Schaubildern, die er Ingenogramme 
nennt Es sind dies flächenhafte Darstellungen, aus denen mit einem Blicke ersichtlich wird, 
wie die Begabung eines Prüflings positiv oder negativ vom Durchschnittlichen abweicht Der 
Verfasser unternimmt zunächst mit einem sehr reich ausgebauten Testsystem die Untersuchung 
gleichaltriger Kinder und gewinnt, indem er für jeden der Tests — sie sind gegliedert in die 
Gruppen: Gedächtnis; Technische Begabung; Aufmerksamkeit und Konzentration; Kombination 
und Phantasie; Künstlerische Veranlagung; Urteil und Kritik; Allgemeine geistige Reife; Blick, 
Beobachtung, Zeugnistreue — den Mittelwert und die lineare Streuung als Radien in bestimmtem 
Verfahren auf die Fläche bringt, zunächst ein „Ingenogramm des Milieus“. In dieses Schaubild 
wird nun durch Eintragung der für jeden Prüfling erhaltenen Einzel werte der Linienzug 
gewonnen, der das „persönliche Ingenogramm“ darstellt und die sichtbaren Abweichungen 
vom Durchschnitt erkennen läßt Es ist leichtverständlich, wie sich durch Typisierung dann 
leicht auch bestimmte psychische Berufsverfassungen mittels des Ingenogramms gewinnen lassen 
und wie eine Reihe von Ingenogrammen des gleichen Prüflings auf verschiedenen Altersstufen 
auch der Biographie dienstbar werden kann. Der Verfasser ist sich selbst bewußt, daß es bis 
zur praktischen Verwendung seiner Vorschläge aber so umfassender Untersuchungen bedarf, wie 
sie der Einzelne allein nicht zu leisten vermag. 

Leipzig. Richard Tränkmann. 

Paul Österreich, Strafanstalt oder Lebensschule. Erlebnisse und Ergebnisse zum 

«Thema*. Allerlei Weckrufe und Denkhilfe für Lehrer, Eltern, „Sonstige“ und „Instanzen“. 

Karlsruhe i. Br. 1922. G. Braun. 176 S. 80 M. 

' Ober Schulstrafen ist in der überlieferten Pädagogik weniger gern und tief nachgedacht 
worden als Über andere Erziehungsfragen; auch inmitten der starken pädagogischen Bewegung 
unserer Zeit blieben sie gegen ihre Bedeutung im Hintergrund der Erörterungen. Mit dem 
leidenschaftlichen Drängen, das sie kennzeichnet, haben nun die entschiedenen Schulreformer 
das Problem aufgegriffen, und ihr Vorstand hat den obersten Schulbehörden der deutschen 
Länder eine Denkschrift unterbreitet, die neben Grundsätzlichem eine lange Reihe einzelner 
Anregungen und Vorschläge darreicht. Mit dieser Eingabe steht das Buch Österreichs in 
Zusammenhang. Der Verfasser hatte sich an weitere Kreise mit der Bitte gewandt, die Eingabe 
zu stützen. Aus den Antworten wurde dann das Buch gefügt. Vorliegend kommen Schul¬ 
leute — den verschiedensten Schularten entstammend, vor allem aber der höheren Schule — 
zu Wort Unter sie mischen sich aber auch u. a. Ärzte, ein Jurist und — ein Primaner. 

Für die Natur des Gegenstandes „Schulstrafen“ ist es bezeichnend, wie die Mitarbeiter zu 
allermeist nicht in ruhiger, abgeklärter Erwägung — „in wissenschaftlicher Haltung“ —, sondern 
zumeist aus einer Stimmung, einer Sehnsucht, mitunter in leidenschaftlicher Erregung sich des 
Problems bemächtigen. So tritt an die Stelle der erwarteten Studie vorwiegend das Feuilleton — 
manchmal recht belangslos —, und anstatt einer allgemeinen Behandlung der Frage erörtert 
man in kasuistischem Verfahren einzelne konkrete Fälle, meist aus eigener Erfahrung. Selbst 
ein Denker und Schriftsteller wie Kerschensteiner, dessen Schriften geradezu gekennzeichnet 
sind durch die wissenschaftliche Strenge, mit der sie Grundsätze und allgemeine Gedanken 


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Literabirbericht 


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herausarbeiten, beginnt seine Ausführungen, indem er vier Straffälle eigenen Erlebens hinstellt — 
übrigens mit einer Meisterschaft reizvollen, humorvollen Schildems — und führt dann in freierer 
Form seine Gedanken weiter zu dem schönen Schluß: „Strafe so, wie es dich die padagogteehtfa 
Liebe lehrt“, womit wir in der pädagogischen Erkenntnis durch Um nicht eben weiter gefördert^ 
sind. „Wie man straft“, so bekennt er und wir stimmen ihm zu — „das kann uns gra~ 
und gar nur die eigene, reife Seele sagen“! (S. 15.) Selten berührt wird in den bunte* rj 
Meinungen des Buches der wichtige Punkt, wie aus der herkömmlichen gebundenen Unter 
richtshaltung der Anlaß zum Strafen kommt und wie schon durch eine Wandlung der Unter 
richtsweisen in der Art der Arbeitsschule, die dem Schüler zu freier geistiger Tätigkeit ver 
helfen will, das Problem in andere Beleuchtung gerückt wird. Bezeichnend, daß unter <ta 
Mitarbeitern gerade die Vertreter der Volksschule hierauf hin weisen. 

An psychologischer Ausbeute bietet das Buch nicht soviel, als man vermuten durfte» 
Es sei als wertvoll in dieser Richtung aber verwiesen auf Siegfried Kaweraus Beitrag: „Strafe 
und Minderwertigkeitsbewußtsein“ und auf die Ausführungen des Arztes Bruno Saal» „Ob* 
Prügelstrafe“. „ f 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Kerschensteiner, Georg, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung. 4. Anfl. 

Leipzig 1919. Teubner. 160 S. Preis 3,50 M. und Teuerungszuschläge. 

Bei der Neubearbeitung des vorliegenden Büchleins konnte der Verfasser nicht stillschweigend 
an den staatlichen Umwälzungen Vorbeigehen, die Bich in den letzten Jahren vollzogen haben. 
Was der alte monarchische Staat zur Not entbehren konnte, ist im neuen Volksstaat unerlä߬ 
liche Notwendigkeit geworden, die Erziehung aller Teile des Volkes zum staatsbürgerlichen Emp* 
finden, Denken und Handeln. Allerdings ist der wissenschaftliche Begriff der staatsbürgerlichen 
Erziehung unabhängig von der Jeweiligen Form des Verfassungsstaates, unabhängig auch von 
den Staatsideen der einzelnen politischen Parteien. Diesen absoluten Begriff sucht Kerscheo- 
steiner festzulegen, und nach Ablehnung verschiedener fehlerhafter Begriffsbestimmungen gelangt ^ 
er zu dem Ergebnis, daß das Ziel der staatsbürgerlichen Erziehung die Verwirklichung ein*:; 
sittlichen Gemeinwesens sei und die Aufgabe dieser Erziehung, die Bürger dem Ideal einer] 
sittlichen Gemeinwesens, d. h. einer Gemeinschaft, in welcher die staatliche Rechtsordnung 
keiner Zwangsgewalt mehr bedarf, näher zu führen. Die staatsbürgerliche Erziehung ist ziem¬ 
lich gleichbedeutend mit der Erziehung zu den Tugenden der Rücksichtnahme und der Hingabe 
an eine höchste sittliche Idee. Gerechtigkeit und Billigkeit sind die Grundlagen des Staate¬ 
lebens, und die beiden staatsbürgerlichen Haupttugenden sind der vom Sinn für Gerechtigkeit 
getragene moralische Mut und das vom Gefühl der Billigkeit geleitete selbstlose Wohlwollen. 

Da für den Verfasser staatsbürgerliche Erziehung bis zu einem gewissen Grade mit Charakter¬ 
erziehung zusammenfällt, so entwickelt er in der praktischen Anwendung seiner Grundanschaur 
ungen auf die höheren und niederen Schulen Gedanken, die er in ähnlicher Form in seiner 
vortrefflichen Schrift „Charakterbegriff und Charaktererziehung“ niedergelegt hat und die im 
Wesen in die Ideen der freien Arbeitsgemeinschaft und der Selbstregierung einmünden. Die 
Aufgabe der staatsbürgerlichen Erziehung kann aber trotz Gewöhnung an gemeinsame Arbeit 
und Einordnung in eine Gemeinschaft, trotz Klärung der sittlichen Einsicht nicht gelöst werden 
ohne Erziehung zur Ehrfurcht, ohne Erweckung des Nationalgefühls, ohne Schonung des be¬ 
rechtigten Individualismus des Einzelnen und der Parteien. 

Kerschensteiners gedankenreiche Schrift, die interessante Vergleiche mit Foersters Werk 
über staatsbürgerliche Erziehung zuließe, läßt vor allem eine sehr wichtige Frage unbeantwortet; 
Ist unsere deutsche Jugend ohne weiteres einer Einwirkung im Sinne seiner staatsbürgerlichen 
Erziehungsgedanken zugänglich? Die Seitenblicke, die er wie auch Förster auf englische und 
amerikanische Verhältnisse wirft, das häufige Mißlingen der Versuche mit der Schulgemeinde 
und Selbstregierung in deutschen und deutschösterreicbischen Schulen lassen erkennen, daß 
die geistige Einstellung der deutschen Jugend, aber auch der Erwachsenen, eine wesentlich 
andere ist als jene der englischen Jugend. Es wäre daher dringend notwendig, das Problem 
einmal auch von der anderen Seite zu fassen und zu untersuchen, wie unsere Jugend sich mit 
den Ideen der Gemeinschaft und des Staates abfindet und wie sie allmählich in das Staatslebea 
hineinwächst. Durch diese Jugendpsycbologische Untersuchung würden Kerschensteiners Begriffs¬ 
bestimmungen und Zielsetzungen erst ihre Bedeutung für die Erziehungstätigkeit erlangen. 

Graz. Otto Tumlirz. 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik. 

Von Woldemar Oskar Döring. 


Wer die mannigfaltigen Strömungen aufmerksam verfolgt, die sich jetzt 
innerhalb der Pädagogik als Reformbestrebungen immer machtvoller 
durchzusetzen versuchen, dem wird nicht entgehen, daß sie alle aus 
einem gemeinsamen Quellpunkte entspringen: aus einem veränderten 
Begriffe der menschlichen Persönlichkeit. Wir mögen uns 
dagegen sträuben, soviel wir wollen, wir müssen doch zugeben: die 
alte Schule, so wie sie heute noch immer im Ganzen besteht, baut sich 
in ihrem Betriebe auf einem mechanistisch orientierten Persönlich¬ 
keitsbegriffe auf. Nicht das Individuelle an den Persönlichkeitswerten, 
sondern das Vergleichbare wird in den Vordergrund gestellt, nicht das 
Qualitative, sondern das Quantitative, nicht das nur individuell Charak¬ 
terisierbare, sondern das generell Zensierbare. Die Zensur ist das 
Symbol dieser mechanistisch gefärbten Auffassung der menschlichen 
Persönlichkeit, und die einseitige Betonung und Bewertung des Wissens 
ist ihre Folge. 

Dagegen machen nur die Schulreformer Front. Sie sagen sich los 
von der alten Wissensschule. Sie haben erkannt, daß das bloße Wissen 
etwas Sachartiges an sich hat, das sich zwar der mechanistischen An¬ 
schauung bequem unterordnet, das insbesondere einer quantitativen 
Beurteilung zugänglich ist, das aber für die menschliche Persönlichkeit 
an sich sehr wenig, viel zu wenig bedeutet. Sie fordern statt der 
Kenntnis- und Gedächtnisschule die Erlebnisschule, die dazu helfen 
soll, daß eine allseitige Entwicklung der kindlichen Anlagen möglich 
werde, daß insbesondere auch das Wissen zum wahrhaften Erleben 
gestaltet werden könne. Man braucht nur den Verlauf der Reichsschul¬ 
konferenz verfolgt zu haben, braucht die Leitsätze zu durchdenken, die 
den einzelnen Ausschüssen eingereicht, bzw. von ihnen aufgestellt worden 
sind: in ihnen allen, soweit sie von fortschrittlichem Geiste erfüllt sind, 
ist als treibendes Motiv eine neuartige Auffassung der menschlichen 
Persönlichkeit wirksam. 

Welches ist nun dieser neue Persönlichkeitsbegriff? Wie soll man 
ihn klar und deutlich in seinen wesentlichen Merkmalen erfassen und 
entwickeln? Wer das versuchen wollte, der würde gar bald zu dem 
Ergebnisse kommen: hier handelt es sich um ein tiefgründiges philo¬ 
sophisches Problem, dessen Lösung zwar für die Pädagogik von der 
allerrealsten Bedeutung ist, das aber nur im Rahmen einer geschlossenen 
Weltanschauung gelöst werden kann. Denn gerade die schwierigsten 
philosophischen Probleme sind im Persönlichkeitsbegriffe verankert. 

Daß die mechanistische Weltanschauung eine befriedigende Lösung 
des Persönlichkeitsproblems nicht geben kann, liegt in der Natur der 
Persönlichkeit begründet, die wir eben als das Gegenteil des Sachlichen, 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 26 


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des mechanistisch Auffaßbaren erleben. Der Mechanismus konnte uns 
auf pädagogischem Gebiete nichts anderes bringen als die Wissensschule, 
von der wir uns heute als von einer völlig unzulänglichen Einrichtung 
so entschieden lossagen. 

Hier kann uns nur eine teleologisch orientierte Weltanschauung helfen, 
die Raum hat für zielstrebige Kräfte und die uns das Wesen des Persön¬ 
lichen, So wie wir es in uns erleben, aus dem ganzen Weltzusammen¬ 
hang zu erklären weiß. Und es ist ein bedeutsames Zeichen der Zeit, 
daß gerade jetzt eine solche Philosophie, die von so vielen geistigen 
Strömungen der Gegenwart mehr oder weniger klar bewußt gesucht 
wird, im Entstehen begriffen ist. William Stern hat in seinem ersten 
Bande „Person und Sache“ die allgemeine Ableitung und die Grund¬ 
lehre einer personalistischen Philosophie gegeben und hat sie weiter¬ 
geführt in seinem zweiten Bande: „Die menschliche Persönlichkeit“. 
Und ich möchte glauben, daß kein denkender Pädagog die Sternschen 
Bücher ohne innere Ergriffenheit lesen kann und ohne zu spüren, daß 
hier zukunftsträchtige, für die Pädagogik ungemein bedeutsame Ge¬ 
danken erörtert werden. Im Laufe einer Arbeitsgemeinschaft mit jungen 
Lehrern, der das Buch „Die menschliche Persönlichkeit“ zugrunde gelegt 
wurde, zeigte sich mir recht deutlich, wie tief die Sternschen Gedanken¬ 
gänge in das Interessengebiet des Lehrers hineingreifen. Und so möchte 
ich an dieser Stelle ganz kurz auf einiges hinweisen, was den Pädagogen 
besonders angeht, ohne auch nur annähernd einen Begriff von der Fülle 
der Anregungen geben zu können, die die Sternschen Bücher bieten. 

Nach Stern ist die menschliche Persönlichkeit eine zielstrebige, 
eigenartige und eigen wertige Vieleinheit, ein System zielstrebiger 
Kräfte, ein Zweck- und zugleich ein Wirkenssystem. Sie hat die Tendenz 
und zugleich die Fähigkeit, das System ihrer Zwecke zu verwirklichen. 
Sie ist also gerichtet und gerüstet. Sie hat Anlagen und Eigenschaften, 
die auf die Verwirklichung dieser Zwecke zielen. 

Wie ungemein bedeutsam ist solch eine Auffassung für die Pädagogik! 
Das Kind, das der Lehrer bilden will, ist ein System bestimmter eigen¬ 
artiger Zwecke, die nach Verwirklichung streben. Nicht von außen her 
stößt die entwickelnde Kraft. Sie treibt von innen heraus. Sie steht 
dem Lehrer in der Persönlichkeit des Kindes als eine Vieleinheit strebender 
Kräfte, als Entelechie gegenüber. 

Und jedes Kind ist eine Besonderheit, eine Individualität. Ohne Be¬ 
rücksichtigung dieses Eigenartigen, Individuellen wird der Lehrer das 
Beste im Zöglinge gar nicht erfassen können. Und er muß die ent¬ 
wickelnden Kräfte im Kinde selber suchen. Denn jedes Kind ist nicht 
nur in seinem Streben gerichtet, sondern zur Verwirklichung desselben 
auch gerüstet. Der Lehrer kann dem Kinde nichts geben, was nicht 
schon — in höherem Sinne — sein Eigentum war. Und er soll nichts 
ins Kind verpflanzen wollen, was nicht schon keimhaft in ihm vor¬ 
gebildet ist. 

Diese Respektierung des Besonderen in jedem einzelnen Zöglinge wird 
auch weiterhin gefordert, weil ja — wie oben gesagt — jede Person 
eine eigen wertige Vieleinheit darstellt. DaS ist auch eine Forderung, 
die jetzt in den Köpfen der Besten lebt, und die bei Stern ihre phüo- 


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Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik 


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sophische Begründung findet: in jedem Zöglinge das Besondere als ein 
Eigenwertiges zu achten. Jeder Mensch hat eine ganz einzigartige, durch 
keinen andern Menschen ersetzbare Aufgabe zu erfüllen. Jeder Mensch 
hat seine besondere Mission. Und das ist gerade das höchste, das der 
Pädagog überhaupt erreichen kann, daß er diese Mission seines Zöglings 
erkennt und ihn in die Richtung ihrer Erfüllung stellt. 

Dies alles sind ja nun aber die schon oben angedeuteten Gedanken 
der Schulreformer. Sie springen — wie wir sehen — aus dem Grund¬ 
begriffe der Stemschen Philosophie, aus dem Personbegriffe. 

Und das ist das Bedeutsame der Sternschen Leistung: dieser Person¬ 
begriff schwebt nicht in der Luft, ist nicht etwa für die Bedürfnisse 
der Pädagogen zurechtgemacht. Er ist vielmehr zum Angelbegriff der 
ganzen Weltanschauung erhoben, die deshalb mit Recht als per- 
sonalistische Philosophie bezeichnet werden darf. Die ganze Welt 
ist nach Stern ein Stufenreich von Personen, d. h. von zielstrebigen, 
eigenartigen und eigenwertigen Vieleinheiten, die sich hierarchisch 
übereinander bauen. Und jedes Existierende wird als Person erkannt 
durch seine Zielstrebigkeit, die auf Erhaltung und Entfaltung der Viel¬ 
einheit hinzielt. „Person ist ein solches Existierendes, das 
trotz der Vielheit der Teile eine reale, eigenartige und eigen¬ 
wertige Einheit bildet und als solche, trotz der Vielheit der 
Teilfunktionen, eine einheitliche, zielstrebige Selbsttätig¬ 
keit vollbringt.“ Moleküle, Zelle, Pflanze, Tier, Mensch, Familie, 
Volk, Menschheit, Erde, Welt sind für sich betrachtet Personen, d. h. 
selbsterhaltungs- und selbstentfaltungsstrebige und -fähige Vieleinheiten, 
während sie im Verhältnis zu übergeordneten Personen betrachtet als 
Sachen, d. h. als mit andern vergleichbar erscheinen. So ist die den 
menschlichen Leib aufbauende Zelle für sich betrachtet Person, im Ver¬ 
hältnis zum Menschen dagegen Sache, weil sie mit vielen andern Zellen 
zugleich demselben Zwecke des Menschen dient, insofern also vertausch¬ 
bar, vergleichbar, ersetzbar ist. 

Durch eine solche Betrachtungsweise wird auch der etwa drohende 
Einwand entkräftet, die Stemsche Auffassung der menschlichen Persön¬ 
lichkeit führe zu einem gefährlichen Individualismus, der die gerechten 
Ans prüche des Volksganzen an das Individuum übersehe. In Wahrheit 
lehrt ja Stern — wie eben ausgeführt — die Welt als ein Stufenreich 
von Personen auffassen, in denen jede folgende Stufe unter der Ein¬ 
wirkung der übergeordneten Personen steht. So ist der Mensch für 
sich betrachtet Person und hat als solche Selbstzweck und Selbstwert. 
In Beziehung zu den übergeordneten Personen — Familie, Volk, Mensch¬ 
heit, Gottheit — nimmt aber auch er eine nur dienende Stellung ein, 
d. h. in Beziehung auf sie muß er als Sache, als Vergleichbarkeit be¬ 
trachtet werden. Ihr Dienst besteht darin, die Zwecke der übergeord¬ 
neten Personen verwirklichen zu helfen. 

Diese fremden Zwecke dürfen aber dem Menschen nicht aufgedrängt 
werden als etwas Fremdartiges, sondern sie müssen vom Menschen 
durch eigene innere Tätigkeit angeeignet werden. Stern prägt für diese 
innere Aneignung das Wort Introzeption. 

Darin also würde hier die Aufgabe des Lehrers bestehen, daß er diese 


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Introzeption dem Kinde erleichtern hilft, daß er nach Möglichkeit die 
Hemmungen wegräumt, die der Aneignung der Fremdzwecke durch das 
Kind im Wege stehen. Und nur dann darf solch ein Bemühen als er¬ 
folgreich angesehen werden, wenn diese Fremdzwecke vom Kinde in 
das eigene Zielstreben aufgenommen worden sind, so daß das Kind von 
sich aus nach der Verwirklichung dieser Ziele strebt. Das ist von je¬ 
her die viel bewunderte Leistung begnadeter Erzieherpersonlichkeiten 
gewesen, daß sie ihren Zöglingen zum Erlebnis der Introzeption ver¬ 
halten, so daß diese nun aus eigenem Streben heraus sich in den Dienst 
übergeordneter Personen oder auch ihrer Mitmenschen stellten. Sterns 
Verdienst aber ist es, gegenüber den einseitigen Standpunkten des In¬ 
dividualismus und Sozialismus, des Egoismus und Altruismus im Be¬ 
griffe der Introzeption den Weg zur Versöhnung der beiden Gegensätze 
gewiesen zu haben. 

Aber picht nur die konkreten Zwecke der Über- oder Nebenpersonen 
sollen innerlich angeeignet werden, sondern auch die Zielbestimmtheiten, 
die wir als Ideen bezeichnen. Der Mensch soll auch das Streben nach 
Verwirklichung der Ideen des Guten, Wahren, Schönen, Heiligen in sich 
aufnehmen. Und der Lehrer steht hier vor seiner wichtigsten Aufgabe. 
Im Sinne des Personalismus soll er die Ideen dem Zöglinge verständ¬ 
lich machen als konkrete Lebensformen übergeordneter Personalein¬ 
heiten, insbesondere des Volkes, der Menschheit, der Gottheit. Er soll 
ihn also verstehen lehren, daß die Ideale nicht etwa nur abstrakte Vor¬ 
stellungen bedeuten, daß sie vielmehr wahrhaft objektive Bedeutung 
und Geltung haben. Zu einem konkreten Idealismus soll' er ihn 
erziehen, für den das Gute, Wahre, Schöne, Heilige mehr bedeutet als 
nur leere Begriffe. 

In dieser bedeutsamen, für die Pädagogik so fruchtbaren Auffassung 
Sterns, daß der Mensch sowohl als Person, d. h. als Selbstzweck, und 
zugleich auch — im Hinblick auf übergeordnete Personen — als dienen¬ 
des und daher auch ersetzbares Glied, d. h. als Sache anzusehen ist, 
drückt sich der besondere Standpunkt des Personalismus aus, daß näm¬ 
lich Person und Sache gar nicht zwei substantiell getrennte Seins¬ 
gebiete sind, sondern zwei Betrachtungsweisen derselben Wesenheiten, 
die im ersten Falle eben nur an sich selbst, im zweiten in ihrer Zu¬ 
gehörigkeit und Abhängigkeit von Überpersonen betrachtet werden. 
Diesen Tatbestand nennt Stern den „teleomechanischen Parallelis¬ 
mus“, und er führt damit einen ganz neuartigen Begriff und ein ganz 
neues Problem in die Philosophie ein, das auch für die Pädagogik von 
höchster Bedeutung ist. Erst dann wird der Zögling zur reifen Menschen¬ 
persönlichkeit herangebildet sein, wenn ihm dieser Parallelismus deutlich 
geworden ist, wenn er also erkannt hat, daß alles, was von oben her, 
d. h. an sich betrachtet, als Person erscheint, von unten her, d. h. von den 
Teilen aus, als Sache angesehen werden kann. Für den Sachstandpunkt 
hat der Mechanismus seine volle Gültigkeit. Stern will ihn keineswegs als 
wertlos beiseite schieben; er will ihm vielmehr nur die ihm zukommende 
Stellung zuweisen. Für den Personstandpunkt und damit zugleich für die 
Pädagogik hat die mechanistische Weltbetrachtung jedenfalls nichts zu 
bieten. Sie kann die selbsterhaltungs- und selbstentfaltungsstrebigen 


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Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik 


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Vieleinheiten, also auch die Persönlichkeit des Schülers, nicht aus blind 
mechanisch wirkenden Kräften verständlich machen. 

Dieser teleomechanische Parallelismus hat eine gewisse Ähnlichkeit 
mit dem psycho-physischen Parallelismus. Sehen wir uns aber die 
oben gegebene Definition der Person genauer an, so werden wir finden, 
daß alle ihre Merkmale ebensowohl für das Gebiet des Psychischen 
wie des Physischen gelten. Der Personbegriff, wie Stern ihn faßt, ist 
psychophysisch neutral. Das Prinzip des Persönlichen, des Teleo¬ 
logischen ist also keineswegs identisch mit dem Prinzip des Geistigen; 
das Prinzip des Sachlichen nicht mit dem des Stofflichen. Der Stemsche 
Personalismus ist überhaupt nicht nach dem Stoff-Geist-Gegensatz 
orientiert wie alle bisher aufgestellten Weltanschauungen, sondern nach 
dem Person-Sache-Gegensatz (Person = zielstrebige individuelle Viel¬ 
einheit; Sache = z’weckfremde mechanische Summe), der aber — wie 
oben ausgeführt — durch den teleomechanischen Parallelismus über¬ 
brückt wird. Und dieser fundamentale Begriff der psycho-physischen 
Neutralität ist nun auch für die Pädagogik von der größten Bedeutung. 

Das zeigt sich besonders deutlich bei der Betrachtung der mensch¬ 
lichen Dispositionen. Stern gehört nicht zu den Psychologen, die 
den Dispositionsbegriff zur einen Tür hinauswerfen, weil sie pur seelische 
Vorgänge zugeben zu dürfen glauben, und ihn doch zur andern Tür 
wieder hereinholen, weil sie nun einmal ohne ihn nicht auskommen 
können. Stern steht — wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht — 
auf dem Standpunkte, daß man zum Verständnis persönlicher Leistungen 
den Begriff zielstrebiger Kräfte nun einmal nicht entbehren kann. Und 
diese im Menschen wirksamen zielstrebigen Kräfte, diese dauernden 
Wirkungsfähigkeiten nennt er Dispositionen. Sie sind nur Teilstrahlen 
der Entelechie, d. h. der Gesamtzielstrebigkeit und -Wirkungsfähigkeit 
der Person. Nicht die Dispositionen wirken, sondern die Person 
als Ganzes wirkt. Stern ist also gegen den Vorwurf geschützt, die 
alte, überwundene Vermögenstheorie erneuern zu wollen. Denn er be¬ 
hauptet ja nicht, daß der Mensch eine Summe selbständig wirkender 
Kräfte darstelle. 

Wie wichtig nun gerade diese Auffassung für den Pädagogen ist, 
wird recht deutlich, wenn man bedenkt, daß doch jede im Schulbetrieb 
vom Kinde geforderte Leistung immer auf ein zu verwirklichendes 
Resultat hin gerichtet ist, d. h. daß sie zielstrebige Tätigkeit bedeutet, 
die nur aus der Annahme zielstrebiger Kräfte, also der Dispositionen 
verstanden werden kann. 

Die Dispositionen sind nun nach Stern — ebenso wie die Gesamt- 
entelechie — psychophysisch neutral, d. h. sie beziehen sich ebensowohl 
auf das Gebiet des Psychischen wie des Physischen. Denken wir 
z. B. an die Ermüdbarkeit, Erholungsfähigkeit, Übungsfähigkeit, die ja 
für den Pädagogen eine besonders wichtige Rolle spielen. Die Phänomen¬ 
psychologie, die sich nur an die Vorgänge hält, weiß mit diesen Er¬ 
scheinungen herzlich wenig anzufangen. Der Personalismus aber zeigt 
uns ihr wahres Wesen: sie sind Dispositionen und als solche psycho¬ 
physisch-neutral. Die Person als Ganzes wird ermüdet, geübt, 
erholt sich, und dies zeigt sich ebensowohl auf dem Gebiete des 


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Psychischen wie des Physischen, also des Seelischen wie des Körper¬ 
lichen. Und ist nicht letzten Endes jede Schulleistung des Kindes so¬ 
wohl psychisch als auch physisch? Drückt sich nicht jedes seelische 
Geschehen einer solchen Leistung immer zugleich in einer körperlichen 
Bewegung aus, sei es nun Sprech-, Schreib- oder sonstige Ausdrucks¬ 
bewegung? So darf man eigentlich gar nicht von psychischen oder 
physischen Dispositionen reden. Die Phantasie z. B. wird zwar gern 
als psychische Disposition bezeichnet, weil man bei ihr das Haupt¬ 
augenmerk auf die Hervorbringung von Phantasievorstellungen zu 
legen gewohnt ist. Tatsächlich dient sie doch aber ebenso dem Zwecke, 
Phantasied Erstellungen, also körperliche Bewegungen hervorzubringen. 
Man denke nur an das kindliche Spiel, an den Zeichenunterricht usw. 
Und das Gleiche gilt für jede andere Disposition. Sie alle sind in Wahr¬ 
heit psycho-physisch neutral. Und der Lehrer würde dem Kinde 
und seinem Zielstreben nicht gerecht, wenn er nicht immer 
im Auge behielte, daß eben bei jeder Wirkungsäußerung die 
Person als Ganzes wirkt und daß das Wesen der Person nicht 
einseitig als psychisch oder physisch zu erfassen ist. 

Wie wertvoll muß dem Lehrer auch der Sternsche Versuch einer 
Einteilung der Dispositionen sein! Könnte ihm doch damit eine 
Möglichkeit der Orientierung durch die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit 
der kindlichen Strebungen gegeben werden. Besonders fördernd scheint 
mir in dieser Richtung die Sternsche Einteilung der Dispositionen in 
Eigenschaften und Anlagen und weiterhin in Richtungs- und 
Rüstungsdispositionen zu sein. 

Eigenschaften sind solche Dispositionen, die schon vorhandene 
Zwecksetzungen in gleichförmiger Weise weiterhin zu verwirklichen 
streben. Anlagen sind solche Dispositionen, die auf künftige Entfal¬ 
tung noch nicht verwirklichter Zweckbestimmungen gerichtet sind. Wie 
wichtig sind diese Unterscheidungen für den Pädagogen! Eigenschaften 
sind relativ eindeutige und konstante Wirkungsweisen, mit deren Hilfe 
die Person ihre Selbsterhaltung zu sichern sucht. Da wäre es ein nutz¬ 
loses Beginnen, wollte der Lehrer die Eigenschaften der Kinder umzu¬ 
bilden versuchen. Die Anlagen aber sind noch unentwickelte Disposi¬ 
tionen. Sie funktionieren noch nicht eindeutig und konstant, sondern 
besitzen eine gewisse Spielraumbreite, innerhalb deren sie sich verwirk¬ 
lichen können. Sie sind nicht an einen bestimmten Inhalt, sondern nur 
an ein bestimmtes Ziel gebunden. Der Lehrer hat es nun zum Teil 
in seiner Hand, die Verwirklichung der Anlagen innerhalb ihrer Spiel¬ 
raumbreite zu bestimmen. Und gerade dadurch arbeitet er am unmittel¬ 
barsten an der Selbstentfaltung des Zöglings, die doch letztes und höch¬ 
stes Ziel aller Menschenbildung sein soll. 

Wie nun die Person als Ganzes nicht bloß ein einheitliches Zielstreben, 
sondern zugleich auch das Rüstzeug besitzt, dieses Streben zu befrie¬ 
digen, so ist auch jede Einzeldisposition — sie mag Eigenschaft oder 
Anlage sein — zielstrebig gerichtet und zugleich auch zweck¬ 
dienlich gerüstet. Überwiegt in einer Disposition der Richtungs¬ 
charakter, so nennt Stern sie eine Richtungsdisposition; überwiegt 
der Rüstungscharakter, so heißt sie RUstungsdisposition. Und 


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Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik 


gerade diese Unterscheidung kann für den Lehrer von der größten Be¬ 
deutung sein. Denn durch sie werden vielumstrittene Begriffe in ein 
neues, aufhellendes Licht gerückt. Was wir Zielungen oder Tendenzen 
im Kinde nennen, das sind Richtungsdispositionen; was wir kindliche 
Fähigkeiten oder Potenzen nennen, das sind Rüstungsdispositionen. So 
ist der „Charakter“ eines Menschen nichts anderes als die Einheit aller 
seiner Richtungsdispositionen. Und der „Wille“ ist die psychische Seite 
des Charakters. Die Einheit aller Rüstungsdispositionen dagegen ist der 
psychophysische Gesundheitszustand. Und vom Verhältnis der Rich¬ 
tungsdispositionen zu den Rüstungsdispositionen hängt es ab, ob dem 
Wollen des Kindes das Können entspricht. 

Es wird gerade jetzt in der Pädagogik viel davon geschrieben, daß 
der einseitige Intellektualismus überwunden werden müsse, daß auch die 
Willensanlagen des Zöglings entwickelt und stärker bewertet werden 
müßten. Intellektualismus und Voluntarismus stehen sich feindlich 
gegenüber. Wie muß man sich nun hier vom Stemschen Standpunkte 
aus entscheiden? — Da die Richtungsdispositionen sich auf die Zwecke 
der Person selbst beziehen, die ihr Wesen ausmachen, die Rüstungs¬ 
dispositionen dagegen nur auf die Mittel, um diese Zwecke zu verwirk¬ 
lichen, so müssen auch die Richtungsdispositionen, also die Wollungen 
und Strebungen eine zentralere Bedeutung haben als die Rüstungen.. 
Der Intellekt aber ist nur eine Rüstungsdisposition, die mit dem Rüst¬ 
zeug der Denkmittel die Strebungen des Willens zu verwirklichen sucht. 
Stern stellt sich also auf den Boden des Voluntarismus. 

Von seinem Standpunkte aus läßt sich auch die in der Pädagogik 
viel umstrittene Frage leicht beantworten: in welchem Verhältnis stehen 
Begabung und Interesse zueinander? Bringt die Begabung das Inter¬ 
esse hervor oder das Interesse die Begabung? — Das Interesse ist Rich¬ 
tungsdisposition, die Begabung dagegen RUstungsdisposition. Es ist 
also nicht so, wie der Intellektualismus einseitig annimmt, daß die Be¬ 
gabung, und zwar insbesondere die intellektuelle, das Primäre sei und 
daß erst aus ihr das Interesse hervorgehe. Vielmehr kann man häufig 
genug Fälle feststellen, in denen das Interesse der Kinder sich auf Ge¬ 
biete richtet, für die eine entsprechende Begabung fehlt. Und man 
kann auch das normalerweise vorliegende Zusammentreffen von Inter¬ 
esse und Begabung daraus erklären, daß ein ursprünglich vorhandenes 
Interesse, d. h. Zielstreben, sich im Laufe von Generationen auf dem 
Wege der Vererbung allmählich die entsprechende Begabung geschaffen 
habe. Die Richtungsdispositionen sind eben das Wesentliche im Menschen. 

Aus dieser Auffassung heraus läßt sich auch das für den Pädagogen 
gerade in der Gegenwart recht bedeutsame Problem der Begabungs¬ 
formen leicht lösen. Worin unterscheiden sich denn die drei Haupt¬ 
formen der Begabung: Genie — Talent — Intelligenz? Stern antwortet: 
„Im Genie ist die Richtung das Grundwesentliche, der Drang nach 
Gestaltung, das Leiden am Problem, die schöpferische Mission.“ Alle 
vorhandene Rüstung wird in ihren Dienst gestellt. „Im Talente ist 
zwar nicht mehr eine alles andere überschattende Mission vorhanden, 
wohl aber ein vorwiegendes Interesse“, das sich auf seinem Gebiete 
mit allem vorhandenen Rüstzeug zu betätigen versucht. „In der In- 


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408 Woldemar Oskar Döring, Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik 


teiligenz endlich haben wir die Rüstung noch ziemlich richtungslos 
vor uns. Sie ist ein Allerweits Werkzeug.“ 

Bisher haben wir die Person immer nur für sich betrachtet In welchem 
Verhältnis steht sie nun zur Welt? Ist sie unabhängig von ihr, oder 
wird ihr Sein und Tun von der Umwelt beeinflußt? Diese Frage ist 
gerade für den Pädagogen von entscheidender Bedeutung, denn er stellt 
ja dem Zögling gegenüber einen Umweltfaktor dar. 

Der Nativismus lehrt bekanntlich: alles persönliche Sein und Tun 
wird ausschließlich oder doch fast ausschließlich durch Innenfaktoren, 
durch angeborene Anlagen bestimmt. Das bedeutet für die Pädagogik: 
der Lehrer hat keinen oder doch fast keinen Einfluß auf die Entwick¬ 
lung des Zöglings. 

Der Empirismus dagegen lehrt: das Sein und Tun der Person werden 
fast ausschließlich durch die Umwelt, durch das Milieu, bestimmt. Der 
Zögling ist Wachs in den Händen des Erziehers. 

Gegenüber diesen einseitigen Anschauungen, die gerade auf dem Ge¬ 
biete der Pädagogik schon viel Verwirrung angerichtet haben, vertritt 
nun Stern eine ganz neuartige, in solcher Allgemeinheit noch niemals 
aufgestellte Theorie. Er sagt: Die in der Person eingeborenen 
Anlagen und Strebungen können nur verwirklicht werden, 
wenn sie mit der Welt Zusammentreffen. Person und Welt 
müssen konvergieren, wenn aus den vieldeutigen Anlagen eindeu¬ 
tige Verwirklichung werden soll. An jedem persönlichen Sein und Tun 
ist also sowohl ein Innenfaktor (angeborene Anlagen) als auch ein Um¬ 
weltsfaktor (die Umweltsbedingungen) beteiligt. Es ist falsch, zu fragen: 
Ist diese Eigenschaft angeboren, oder ist sie durch Umweltseinwirkung 
erworben? Vielmehr muß die Fragestellung lauten: Was an den per¬ 
sönlichen Eigenschaften und Taten ist auf angeborene Anlagen und was 
ist auf Einwirkung der Umwelt zurückzuführen? 

Stern überbrückt also auch hier die Gegensätze, indem er Nativismus 
und Empirismus in seiner Konvergenzlehre vereinigt. Es würde viel zu 
weit führen, wollte man alle die bedeutsamen Konsequenzen dieser 
Theorie auf den verschiedensten Gebieten, die sich mit persönlichem 
Sein und Tun beschäftigen, auch nur andeuten. Es muß hier genügen, 
auf das Gebiet der Pädagogik hinzuweisen. Dem Lehrer steht aller¬ 
dings in dem Zögling eine Vieleinheit strebender Kräfte gegenüber, die 
er unbedingt respektieren muß. Aber diese Strebungen, diese Anlagen 
sind noch vieldeutig. Um verwirklicht werden zu können, bedürfen sie 
des Zusammentreffens mit der Welt. Und da bedeutet nun der Lehrer 
einen deir wichtigsten Umweltsfaktoren. In seiner Macht liegt es, die 
vieldeutige Anlage zur eindeutigen Eigenschaft zu verdichten. Er vermag 
also auch nach Sterns Auffassung bestimmend und maßgebend in die 
Entwicklung des Zöglings einzugreifen, ohne freilich allmächtig zu sein. 

So findet der Pädagog in der Sternschen Philosophie alle wichtigen 
Fragen seines Gebietes in ein ganz neuartiges, aufhellendes Licht ge¬ 
rückt. Er kann an ihr nicht mehr achtlos vorübergehen; denn die Zeit 
ist nicht fern, da der kritische Personalismus in seiner ganzen Bedeutung 
und Fruchtbarkeit allgemein erkannt und anerkannt werden wird. Und 
die Zukunft wird ihm gehören. 


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Georg Hirsch, Persönlichkeit, und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage 


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Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage. 

Von Georg Hirsch. ' 

Das vergangene Jahrhundert umfaßt für das deutsche Volk eine äußerlich 
scharf abgeschlossene Periode, an deren Anfang ein stetiger politischer und 
wirtschaftlicher Aufstieg aus einem tiefgehenden Niveau bis zu einem glän¬ 
zenden Kulminationspunkt, an deren Ende der plötzliche Zusammenfall des 
stolzen Gebäudes steht. Die ungeheure Geschäftigkeit, die jenes Bauwerk 
aufführte, die erstaunlichen Erfolge, die sie auf allen Gebieten zeitigte, täuschte 
alle an dem Werke Beteiligten über den Charakter dieses Werkes oder viel¬ 
mehr, diese Geschäftigkeit ließ keine Zeit darüber nachzudenken, ob hier 
einer inneren geistigen Fortentwicklung äußere Gestalt verliehen wurde oder 
tatsächlich nur der Sieg einer raffiniert durchgebildeten Methode über eine 
geistig durchblutete Arbeit in Erscheinung trat. In Anlehnung an ein Wort 
Nietzsches möchten wir unser Jahrhundert als die Zeit ansehen, die die Herr¬ 
schaft der Arbeitsmethode über die Arbeit herbeigeführt hat. Und wenn wir 
nach dem wesentlichen Kennzeichen der Arbeitsweise des 19. Jahrhunderts 
fragen, nach dem Mittel, dem diese Zeit ihren äußeren Aufstieg verdankt 
und von dem sie schließlich auch ihren Untergang ableiten muß, so wird 
uns immer wieder ein Gedanke entgegentreten, der der Persönlichkeit dieser 
Epoche seinen unauslöschlichen Stempel aufgeprägt und ihrem Verhältnis 
zum Ganzen Richtung und Ziel gegeben hat. Dieser Gedanke ist der Gedanke 
der Masse. Mit ihm werden wir uns daher im folgenden auseinanderzusetzen 
haben. ' 

Der Begriff der Masse ist aus der Naturwissenschaft herübergenommen 
worden. In der Physik bedeutet die Masse eine unveränderliche Eigenschaft 
der Körper, die sich aus dem konstanten Verhältnis der wirkenden Kräfte zu 
den Beschleunigungen ergibt, die jene hervorgerufen haben. Vom Meuschen aus 
betrachtet, erscheint diese dauernde Stetigkeit in den Kräften der Naturkörper 
und ihren Wirkungen als das Charakteristikum der natürlichen Masse über¬ 
haupt. Dieses ewig bleibende Gleichmaß der Masse ist es, was der Mensch . 
in der Natur bewundert und fürchtet — bewundert, weil der unbedingte Sieg 
der Masse über alle schwächeren Kräfte sich voraussehen und berechnen 
läßt — fürchtet, weil er die geheime Angst nicht überwindet, daß seine Rech¬ 
nung nicht stimmen könnte. Die Furchtbarkeit der Masse beruht für uns 
in der ewigen Dauer ihrer Kraftäußerung, die dadurch auch stärkeren Kräften 
gegenüber niemals aus dem Zusammenspiel ausgeschaltet werden kann. 
Selbst, wenn sie zunächst vollständig paralysiert ist von stärkeren Massen, 
so bleibt doch durch die sofortige Bereitschaft zur Wirkung eine ständige 
Drohung auch für die stärkste Kraft zurück. Auch eine Zertrümmerung 
der Masse hat nur eine teilweise Aufhebung und momentane Überwindung 
jener Kohäsion zur Folge, aus der die Summierung und Zusammenfassung 
der gleichartigen Urteilchen zur Masse und die Zusammenschweißung zu einer 
Einheit, deren Kräfte fortan alle nach einer Richtung einheitlich wirken, her¬ 
vorgegangen ist. Denn diese Trümmer werden sich früher oder später schlie߬ 
lich wieder zu einem neuen Zusammensein, zu einer neuen Masse vereinigen, 
eben weil die einheitliche Kraftrichtung sie notwendig zusammenführen muß 
und weil die wesensgleichen Ursachen, aus denen die gleichartigen Moleküle 
geboren wurden, ewig fortwirken und immer neue Emanationen in das Welt- 



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Georg Hirsch 


all schleuderet. So wird das Lebendige genötigt, sich immer aufs neue mit 
der nicht auszutilgenden Masse und ihren weder zu steigernden noch zu 
schwächenden Kräften abzufinden und immer von neuem den Versuch zu 
wagen, die Herrschaft über sie zu gewinnen. Hinzu kommt, daß die Fragen 
des Zieles und der zweckmäßigen Einteilung ihrer Kraftentfaltung für die 
Masse von vornherein ausscheiden und keiner Beantwortung harren. Indem 
sie naturgemäßen Gegebenheiten unterworfen ist, spielt die Art ihrer Arbeit, 
die sie durch ihr bloßes Dasein und durch die Ausübung ihres Druckes oder 
ihrer Bewegung vollbringt, für sie keine wesentliche Rolle. Die Lage des 
Angriffspunktes ihrer Kraft mag sich immer wieder ändern — auch dadurch 
wird die Masse weder verlieren noch gewinnen. Hierin liegt auch der Grund, 
warum sie einer absoluten Unterwerfung durch das Lebendige immer wieder 
entgleitet. Unfähig, der Wirkung und Richtung ihrer Kraft irgend etwas hin¬ 
zuzufügen oder fortzunehmen, ordnet sie sich ein für allemal dem Spiel der 
Kräfte ein, ohne diesen Rangplatz in der Dauer ihres Daseins zu wechseln. 
Auch die Einwirkung neuer positiver, lebendiger Kräfte würde an dieser 
Tatsache nur zeitweilig und in gewissem Grade etwas ändern können. Gleich¬ 
mütig würde die Masse dem Untergange wie dem Erfolge entgegentaumeln, 
wenn diese Begriffe für sie irgendwelche Bedeutung haben könnten. Indem 
der Wille für sie nicht in Frage kommt, muß sie ihre Kraft ausüben, unter 
welchen günstigen oder widrigen Verhältnissen es auch sein möge: eine 
Herrschaft über sich selbst kann die Masse nie besitzen. Hierin liegt ihre 
Furchtbarkeit und ihre Schwäche gegenüber dem Lebendigen begründet Sie 
zwingt das Leben, sich mit ihr abzufinden, mit ihr zu rechnen, und wo dies 
nicht geschieht, wirkt sie als Vemichterin um so entsetzlicher. Der Kampf 
gegen die Masse und ihre Kräfte, das Ringen um die Herrschaft über sie 
nimmt insbesondere alles Denken des Menschen in Anspruch. Der Sieg über 
sie ist sein Stolz und sein Fortschritt, Quelle neuen Strebens und erhöhter 
Lebensfreude. Seine Niederlage zwingt ihn, sich von neuem aufzuraffen, 
nach neuen Mitteln und Wegen zu suchen, sich der Mächte zu erwehren, 
die der Feind alles Lebendigen sind. In seiner Hand erst werden die Massen 
lebendig gemacht, in Wirkung gesetzt oder gelähmt. Massenkräfte beherrschen 
zu lernen muß als natürliche und umfassendste Aufgabe alles menschlichen 
Strebens bezeichnet werden. 

Ein Begriff, der eine derartige Bedeutung für die Stellung alles Lebendigen 
zur anorganischen Natur besitzt, wird natürlicherweise sehr leicht auch auf 
menschliche Verhältnisse übertragen. Zu sehr erinnert die Zusammenhäufung 
einer größeren Menschenmenge besonders im umschlossenen Raume an das 
Zusammensein vieler gleichartiger Moleküle, und ihr gemeinsames Sprechen, 
Singen und Schreien, die gleichartigen Gesten und Ausdrucksbewegungen 
lassen leicht ein geheimnisvolles Band, das alle Einzelnen zusammenschweißt 
wie die Kohäsion die Urteilchen, vermuten. Aber mit diesem einen Grund¬ 
zuge ist auch die äußere Übereinstimmung des menschlichen Massenbegriffes 
mit dem naturwissenschaftlichen erschöpft. Während wir die natürliche Masse 
als die Summe ihrer Moleküle, ihre Gesamtkraft als die Summe ihrer Einzel¬ 
kräfte ansprechen dürfen, wehrt sich der einzelne Mensch, sein äußerst 
deutliches Bewußtsein von seiner eigenen, von andern scharf zu unter¬ 
scheidenden Individualität aufzugeben und diese seiner Umgebung gegenüber 
nicht in Wirkung setzen zu dürfen. Mit den ersten Regungen seines Geistes- 


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Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage 


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leben8 beginnt er den Kampf um seine geistige Selbständigkeit, die für ihn 
mehr oder minder das Endziel seiner gesamten seelischen Entwicklung ist 
und zusammen mit der Unabhängigkeit von den äußeren Verhältnissen immer 
wieder erstrebt wird. Dieses Bewußtsein, daß vollkommene Freiheit der 
Lebensgestaltung die einzige wahre Quelle des Glückes alles Lebendigen 
ist, geht dem Menschen nie vollkommen verloren, auch nicht oder vielmehr 
besonders nicht im Zusammensein mit andern Individuen. Nirgends ist die 
innere Überzeugung von der Eigenart seiner Lebendigkeit dem Einzelnen 
klarer und deutlicher, nirgends wird ihm die Einsicht, daß alles Lebendige 
wächst und stärker wird, eindringlicher vor Augen gestellt als im Zusammen¬ 
strom der Menschenmenge. Und diese Erkenntnis wird um so klarer sein, 
je mehr sich die Richtung der von der menschlichen Masse erzeugten Kraft 
auf die Unterdrückung lebendiger Geistesäußerungen des Individuums einstellt. 
Darum zeigt auch die von dem menschlichen Zusammensein ausgehende 
Kraft andere und eigentümlichere Qualitäten als die Massenkräfte der Natur. 
Ihre Konstanz ist fortwährenden Schwankungen unterworfen. Zwar kann 
sich der Mensch unvermeidlicherweise dem Einflüsse einer Masse an sich so 
wenig entziehen, wie eine Nadel der Kraft eines Magneten widerstehen könnte, 
aber eben jenes oben angedeutete äiißerst eindringliche Bewußtsein seiner 
eigenen Individualität und der dahinter stehende Wunsch, diese Individualität 
zu verwirklichen und ihr Gestalt zu verleihen, veranlassen den Einzelnen 
immer wieder, sich bei dieser oder jener Gelegenheit dem Einflüsse der einen 
Masse zu entziehen und sich einer anderen zuzuwenden. Der Zwang, einer 
und derselben Menschengruppe für die Dauer anzugehören, ist für den 
einzelnen Menschen unerträglich und erscheint um so unerträglicher, je 
mehr die Freiheit der Wahl und des Wechsels unterdrückt wird. Dement¬ 
sprechend schwankt die Größe der Wucht, in der sich die Masse äußert, und 
auch die Richtungen, die die Massenkraft einschlagen wird, lassen sich nicht 
mit Sicherheit bestimmen. Die natürliche Masse gehorcht eben den Gesetzen 
mit Notwendigkeit, während den Gesetzen des Lebens nur größere oder 
geringere Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden kann. So kann die 
Menschengruppe nur vorgestellt werden unter dem Bilde des wogenden 
Meeres, dessen Oberfläche bald sich leicht kräuselt, bald wild erregte Wellen 
zeigt und zugleich im fortwährenden Auf und Nieder der Flut und Ebbe 
größere oder geringere Strecken Landes überbrandet. Diesem Gewoge der 
Menschenmenge steht die ruhige und stetige Kraftäußerung der anorganischen 
Masse mit überragender Sicherheit gegenüber. Sie schreitet ihren geraden 
Weg unbeirrbar fort, und dieser Weg ist wenigstens eine weite Strecke über¬ 
sehbar und der Berechnung zugänglich; dagegen ist die menschliche Masse 
Träger vieler einzigartiger und vielgestaltiger Kraftrichtungen, von denen die 
eine heute, die andere schon morgen die Herrschaft davontragen kann. Schon 
die unitas multiplex des einzelnen Individuums kommt nur nach Überwindung 
zahlreicher Schwierigkeiten zu dem Erfolge, sich wenigstens in den Höhe¬ 
punkten seines Lebens einheitlich zu verhalten und als ganze Persönlichkeit 
in Wirkung zu treten. Um so weniger ist dies bei einer Menge denkender — 
und daß auch in der blödesten Masse immer noch gedacht wird, ist mir 
unzweifelhaft — Individuen der Fall. Es ist also unmöglich, der Masse der 
Menschen irgendeine Aufgabe zu stellen, die eine nachhaltige und längere 
Zeit dauernde Inanspruchnahme ihrer Wucht voraussetzt Nur eine momentane 


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Georg Hirsch 


Anwendung ihrer Stoßkraft im gegebenen Augenblicke kann zu Augenblicks¬ 
erfolgen führen, da schon die nächste kürzeste Zeitspanne die Veränderung 
der Kraftrichtung oder gar die Auflösung der zusammengeballten Menschen¬ 
masse bringen kann. Und diese wird unfehlbar eintreten, wenn ihre Ansetzung 
zum Stoße in einer Richtung erfolgt, die ihrem augenblicklichen inneren 
Zustande nicht adäquat ist. So kommt man schließlich zu der Frage, ob es 
überhaupt berechtigt ist, eine Ansammlung menschlicher Individuen eine 
Masse zu nennen, selbst wenn man dabei den stillen Vorbehalt der großen 
Zahl macht. Sie im Näheren zu beantworten, wird Aufgabe der folgenden 
Ausführungen sein müssen, aber schon jetzt können wir sagen, daß die 
Übertragung des naturwissenschaftlichen Massenbegriffes auf das menschliche 
Leben und seine lebendigen, d. h. sich in fortwährender Bewegung befindlichen 
Verhältnisse etwas Gewaltsames und Gezwungenes an sich hat. Indem man 
mit der gemeinsamen Bezeichnung zweier so durchaus verschiedener und sich 
einander ausschließender Dinge das einzige, beiden zugehörige Merkmal — 
die Zusammenschließung Vieler durch ein festeres oder loseres Band — über¬ 
mäßig in den Vordergrund schiebt, verrät man damit die Absicht, ein Merkmal 
der menschlichen Gesellschaft wesentlich zu machen, das in Wirklichkeit 
nur die Peripherie des menschlichen Gesellschaftswesens berührt, um dadurch 
einen gewissen Einfluß auf die Entwicklungsrichtung desselben zu gewinnen 
und auszuüben. Diese Entwicklungsrichtung muß notwendig unheilvoll sein; 
denn sie überträgt Gesetze der anorganischen Materie auf die Tatsachen des 
vorwärtsdrängenden Lebens; sie muß schließlich zu einem Stillstand, zum 
Aufhören der Entwicklung überhaupt führen, den lebendigen Fluß zum sta¬ 
gnierenden Wasser reduzieren und so das Leben der Einwirkung des Toten 
Unterwerfen. 

Aus diesem Grunde ist es nicht weiter verwunderlich, daß der auf menschliche 
Verhältnisse übertragene Begriff der Masse im allgemeinen Gebrauch der 
Volkssprache sehr bald den Schimmer eines Werturteils angenommen hat 
Die Sprache, als Barometer alles dessen, was das geistige Leben eines Volkes 
durchwogt, hat ja eine sehr feine Empfindung für die Zeiten, in denen der 
Massenbegriff erhöhte Bedeutung für die Gesamtkultur des menschlichen 
Zusammenseins gewinnt, und es ist ihr nicht verborgen, daß dies Zeiten des 
Verfalles, der gelähmten Arbeitsfreudigkeit und der gefesselten Schaffenslust 
sind. Indem man sich bei der Anwendung des Begriffes die Menschengruppen 
aus durchaus gleichartigen Wesen zusammengestellt denkt, spricht man über 
ihre Struktur und innere Zusammensetzung ein Werturteil aus, das sich nur 
auf den rein quantitativen Begriff der physikalischen Masse zurückbezieht 
Dieses Werturteil erhält seine bestimmte Färbung durch das Plumpe und 
Unwiderstehliche, das der Wirkung der natürlichen Massenkräfte eigen ist; 
man kennzeichnet darin ihre Wucht und Stoßkraft und nimmt gleichzeitig 
ihren Erfolgen den adelnden Charakter des durch selbstschöpferische Arbeit 
errungenen Fortschrittes. Man wertet die äußere Formengröße des geschaffenen 
Werkes und versetzt ihm im selben Augenblick den tödlichen Stoß, indem 
man ihm das Zeichen der inneren Leere anheftet. Die Bezeichnung Masse 
heißt den Geist hindern, die kolossale Form zum machtvollen, die riesigen 
Umfänge zum tiefen Gefäße zu machen. Die menschliche Masse ist eine 
bloße Zusammenrottung hunderter und tausender von Menschen, denen man 
eo ipso den Menschencharakter genommen hat. Man sieht nur bei ihnen 


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Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage 


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allen denselben erregten Gesichtsausdruck, dieselbe leidenschaftliche oder 
stumpfe Haltung; man hört nur das Getöse und Gesumme der Massenver¬ 
sammlung, ohne die Laute und Worte des Einzelnen unterscheiden zu wollen 
und zu können. In dem eklen Odem, der von dem Gedränge ausgeht, läßt 
- man die sympathischen Gefühle, die man vielleicht zu diesem oder jenem 
Individuum noch hatte, sich verflüchtigen — im besten Falle tritt man der 
Masse gegenüber mit dem geheimen Urteil: „Welch eine Bestie“, nicht ohne 
sich dabei des furchtbaren Druckes bewußt zu werden, den die Masse aus¬ 
üben muß, wenn eine frevle Hand wagen sollte, sie in Bewegung zu setzen. 
Der individuelle Gesichtsausdruck, die eigentümliche Haltung, die persönliche 
Äußerungsweise des einzelnen Massenmitgliedes spielen in der Bewertung 
keine Rolle mehr: der Begriff der menschlichen Masse kennt nur einen 
einzigen durchschnittlichen Typus Mensch; er setzt alle Persönlichkeiten auf 
einer einzigen horizontalen Linie gleich; er verdammt alles, was darüber 
hinausragt ebenso wie alles, was diese Mittellinie nicht erreicht. Daß dieser 
Massentyp dem Menschen eine sehr niedrige Rangstufe zuweist, kann nicht 
weiter wundernehmen; denn die Größe der Menschheit findet und wird 
immer in ihren Spitzengrößen ihren Ausdruck finden. Anderseits aber bewegen 
sich die Massenmenschen immer noch nicht auf der tiefsten Stufe, die vielleicht 
für Menschen denkbar ist Für eine ganze Gruppe von ihnen würde die 
Einreihung in die Masse vielleicht eine Erhebung, eine Förderung bedeuten, 
wenigstens soweit dadurch erstorbene Tatfähigkeit in gewissem Grade wieder 
erweckt werden kann. Derjenige aber, der mit der Masse „arbeitet“, sieht 
in ihr die Verkörperung aller Mittelmäßigkeiten, reduziert das geistige Aus¬ 
drucksvermögen, das er auch dem geringsten Mitgliede einzeln nicht abzu¬ 
sprechen wagen würde, auf ein geringes, nicht mehr erfaßbares Minimum 
und verengert den geistigen Horizont aller ihrer Mitglieder zu kleinsten 
Kreisen, die sich in ihren Durchmessern aufs genaueste gleichen. Ein solcher 
Herdenmensch — der in Wirklichkeit nichts als ein Abstraktum, ein Phantom 
und Durchschnittsbeispiel sein kann — ist seiner höchsten Würde wie seiner 
tiefsten Gemeinheit völlig entkleidet; hier enthält der Gedanke der Masse die 
Verneinung alles Menschentums überhaupt, insofern er den geistigen Wert 
dem Sachwerte gleichsetzt und nun dazu verleitet, wie die Sachwerte auch 
menschliche Werte ihres Selbstzweckes zu berauben und fremden Zwecken 
endgültig zu unterwerfen. 

Hier beginnt nun deutlich zu werden, welche Stellung der Gedanke der 
Masse in der Gedankenwelt des Einzelnen eigentlich einnimmt. Soviel nämlioh 
die individuelle Persönlichkeit auch von der Masse spricht und über sie urteilt, 
einen wie großen Einfluß dieser Gedanke auch auf die Denkweise und 
Handlungen ausüben mag, merkwürdig ist es jedenfalls, daß niemals ein 
Einzelner sich selbst als zur Masse gehörig betrachtet, sondern immer bereit 
ist, mit ihr, aber niemals in ihr zu arbeiten. Unablässig ist das Individuum 
bestrebt, die Masse zu haben, sie zu benutzen -und wenn irgend möglich 
auszubeuten. Dieses ureigene Bestreben des Menschen, sich seinen Mitmenschen 
gegenüber die beherrschende Stellung zu schaffen, sie auf alle mögliche Weise 
zu erringen und festzuhalten, muß als die eigentliche Quelle und Wurzel des 
Massengedankens bezeichnet werden. Das Individuum treibt der Menge gegen¬ 
über immer Prestigepolitik; sie ist ihm nicht Mutterschoß, sondern Mittel zur 
Erreichung größter Wirkungsfähigkeit seiner eigenen persönlichen Kraft —; 


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darum schafft es sich die Verkörperung dessen, was es hochzuheben, zu 
einer Sonderstellung zu befördern geeignet ist. Dieses Streben nach Herrschaft 
ist der Grundfaktor alles Geistes überhaupt, sein wesentlichstes und charak¬ 
teristisches Kennzeichen. Je mehr im Individuum die Fähigkeit zu durch¬ 
geistigter oder schöpferischer Arbeit überwiegt, desto mehr tritt das Ziel, die 
Ingeltungsetzung der eigenen Maxime und die daraus folgende Unterdrückung 
derjenigen seiner Mitmenschen deutlich in die reale Welt ein. Es bedeutet 
allemal die tiefste Tragik im Leben des Genies, wenn es sich mit seinem 
Werke zufrieden geben soll, ohne daß die Welt ihm die gebührende Aner¬ 
kennung der im Werke zutage tretenden geistigen Größe zollt Indem es 
dann sehr bald zur Verachtung der andern schreitet, sucht es sich vor sich 
selbst auf einen erhöhten Platz zu stellen und bemüht sich selbst zu beweisen, 
daß es diesen Platz mit begründetem Recht beanspruchen darf. Allen Menschen 
ist dieser Grundzug ihres Wesens angeboren, für alle ergibt sich daraus der 
Sinn ihres Kampfes ums Dasein, der Sinn alles menschlichen Strebens und 
Bemühens, die Notwendigkeit jeder Betätigung überhaupt. Demgegenüber 
vermag das sogenannte „Gemeinschaftsgefühl“ niemals ein gleichwertiges 
Gegengewicht zu bieten, und dementsprechend kann auch der fortwährende 
Wechsel der gesellschaftlichen Formen nicht angesehen werden als eine un¬ 
unterbrochene Reihe von Versuchen, diese Formen zu vervollkommnen und 
die Bande, die den Einzelnen an die Menge binden, enger zu gestalten. 
Gewiß ist die Gesellung des Menschen als ursprünglich und naturgegeben 
anzusehen; aber von dem Augenblicke der Ichfindung an beginnt schon das 
junge Menschenkind den Kampf gegen dieses natürliche Band; es bedeutet 
ihm ein persönlicher Erfolg, wenn es die Bindung vor sich und andern ver¬ 
bergen und verschleiern kann. Die Notwendigkeit der unausgesetzten Um¬ 
änderung der Formen menschlichen Zusammenseins ist mir ein klarer Beweis 
für diesen ständigen und erbitterten Kampf des Einzelnen gegen das Vor¬ 
handensein solcher Formen, für die Tatsache, daß das Gemeinschaftsgefühl 
nicht angeboren ist, sondern vielleicht unter gewissen Umständen erworben 
werden kann unter dem Drucke der Logik des Zusammenlebenmüssens aller 
geistig tätigen Individuen. Dieses Beisammensein kann auch nicht in seiner 
frühesten Gestalt unter dem Bilde einer tierischen Herde, etwa des Bienen¬ 
volkes, gedacht werden. Den einzigen Fortschritt, den eine solche Zusammen¬ 
häufung lebendiger Wesen gegenüber der anorganischen Masse bedeutet, kann 
man in einer gewissen Ordnung, die alles Lebendige vor dem Anorganischen 
auszeichnet, in einer gewissen Arbeitsteilung und in dem unterstützenden 
Ineinandergreifen der einzelnen ausgeübten Funktionen sehen. Aber das 
unbedingte Prinzip der Gleichwertigkeit aller Einzelmitglieder, das wir auch 
in der anorganischen Masse der Urteilchen verkörpert fanden, die absolute 
Unmöglichkeit, innerhalb dieses Zusammenseins auch nur den Schatten einer 
Rangordnung zu denken, deutet mit aller Schärfe auf die grundlegenden 
Unterschiede der tierischen Herde und der menschlichen Gesellung hin. Der 
Terror, der in jener ausgeübt werden muß und dem sich kein Einzelner 
entziehen kann, wäre für Menschen unerträglich. Jedes Mitglied hat in der 
tierischen Menge seine festbegrenzte Aufgabe, der es sich für die Dauef 
seines Daseins zu widmen hat. Mit unerbittlicher Konsequenz sorgt die 
Gesamtheit dafür, daß jedes Mitglied sich für diese Aufgabe aufopfert und 
keine andere Funktion, die eventuell zu einer Hervorhebung des Einzelnen 


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führen könnte, ausübt Davon werden selbst die Glieder des Volkes, die die 
höchstwertigsten Arbeiten zu vollführen haben, die geradezu die Haupt¬ 
bedingung für das Bestehen des Ganzen bilden, nicht ausgenommen. Ein 
unbeschränkter Despotismus hält jeden auf der Stufe fest, auf der er gerade 
seine Aufgabe für die Gesamtheit am vollkommensten erfüllen kann, und 
beseitigt ihn, wenn diese Aufgabe gelöst ist. Die Rangordnung, die der Mensch 
durch seine Namengebung für. das Bienenvolk aufgestellt hat, existiert nicht; 
die Bienenkönigin ist in Wirklichkeit nicht die Beherrscherin des Volkes; sie 
, unterliegt der absoluten Herrschaft der Gesamtheit ebenso sehr wie alle 
anderen Mitglieder derselben, trotzdem ihre Aufgabe den Kernpunkt des 
Ganzen bildet und ihr Ausscheiden den Zerfall desselben zur Folge haben 
würde. Gegen eine derartige unbedingte Unterwerfung, gegen die gänzliche 
Hingabe des persönlichen Inhaltes an das Gegenüber wehrt sich aber das 
menschliche Individuum, sobald seine intellektuellen Fähigkeiten diejenigen 
des Tieres auch nur um wenige Grade überschreiten. Es ist keine Gesellung 
von Menschen denkbar, in der nicht dieses Prinzip immer wieder hervor¬ 
treten und eine Schichtung nach den Graden des Könnens der Einzelnen 
erstrebt würde, die dann wiederum nur den ersten Schritt zur Dissoziation 
des Gliedes von der Gesamtheit bilden müßte. 

Jeder ist natürlich von den Lebensnotwendigkeiten gezwungen, einer Ge¬ 
sellung anzugehören und sich ihrer zur Selbsterhaltung und Selbstbehauptung 
zu bedienen. Solange der Einzelne kein Selbstbqwußtsein, kein persönliches 
Ich besäße, solange er also in Wirklichkeit noch nicht „Mensch“ ist, könnte 
man sich Herdenmenschen als möglich vorstellen. Jedes Mitglied der Herde 
• hätte dann seine ganze Aufmerksamkeit auf die Ausübung der Funktion zu 
konzentrieren, die ihm durch seine körperliche Eignung, durch die besonderen 
Verhältnisse des Wohnortes und der Ernährung der Herde naturgemäß zu¬ 
gewiesen ist Solange diese Konzentration auf seine zugleich soziale und 
individuelle Fähigkeit anhält, solange wird die Enge des Bewußtseinsfeldes 
keinen Raum freigeben für' Aufgaben, die außerhalb der naturgegebenen 
Linie liegen, und insbesondere wird der Gedanke einer Beurteilung der Arbeit 
der anderen Genossen nicht aufkommen — auch dann nicht, wenn sie die 
natürlichen Funktionen stören und darum aus dem Wege geräumt werden 
müssen. Aber diese fiktive Gleichwertigkeit aller Einzelnen kann nicht lange 
anhalten. Durch die immerwährend wiederholte Ausführung derselben äußeren 
Willenshandlungen, durch die daraus folgende Automatisierung der Bewegungen 
wird einerseits bei jedem Einzelnen der Übungserfolg in sehr verschiedenen 
Graden zutage treten und anderseits der Geist nicht mehr gezwungen sein, 
sich nur auf die richtige Ausführung einer einzigen Funktion zu beschränken. 
Indem er dadurch freier wird, indem die krampfartige Enge des Bewußtseins¬ 
kreises sich zu lösen beginnt, ist die Möglichkeit einer Erweiterung des Tätig¬ 
keitsfeldes gegeben, und zugleich fängt das Individuum an, sich seiner eigenen 
Persönlichkeit und ihrer eigenartigen Stellung innerhalb der Herde bewußt 
zu werden. . Die Ausführungsart der Funktionen der Mitgenossen wird nun 
beobachtet und beurteilt und damit die Grundlage einer Rangordnung geschaffen. 
Erfolge und Mißerfolge fordern dieses Urteil heraus; sie legen den Vergleich 
der eignen Leistungen mit denen der andern nahe, und schließlich kommt 
die Persönlichkeit dazu, sich als Kraftquelle, wenn nicht gar als Kraftzentrum 
der menschlichen Genossenschaft zu fühlen. Die Überzeugung der Gleich- 


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Wertigkeit, die in der Herdenschaft mit aller Schärfe deutlich war, wird er¬ 
schüttert mit der immer mehr zunehmenden Erkenntnis, daß nur das geistig 
und körperlich bevorzugte Individuum Fortschritte der Gesamtheit zu bewirken 
vermag. Der Einzelne sieht sich fortan als Erzeuger von Werten und Gütern, 
die die äußere Darstellung seiner Gedanken und Kenntnisse bilden und 
denen er mit Hilfe seiner Fertigkeiten und Geschicklichkeiten äußere Gestalt 
verliehen hat. Er- bemerkt, wie von ihm in konzentrischen Wirkungskreisen 
neue Einsichten und Künste, neue Ordnungen und Entwicklungen herbei¬ 
geführt und wenigstens zunächst noch äußerlich der Gesamtheit dienstbar 
gemacht werden. Sein soziales Prestige wächst damit in fortwährend ge¬ 
steigertem Maße — aber zugleich und noch viel geschwinder wächst das 
Prestige, das die Persönlichkeit daraus sich selber schafft. Sie fängt an, um 
ihre Stellung zu ringen, eine Stellung in der Gesamtheit zu erobern, aber 
so heftig auch dieser Kampf nach äußerer Erhebung dem Betrachter erscheinen 
möchte, viel eindringlicher und alle geistigen Kräfte in weitestem Maße in 
Anspruch nehmend ist das Ringen des Individuums um Geltung vor sich 
selbst. Denn, in demselben Augenblicke, wo es sich des höheren Grades 
seiner Leistungen bewußt wird, muß ihm auch bewußt werden, daß es nicht 
allein auf der steilen Leiter des Erfolges emporklimmt. Es wird niemals die 
einzige Spitze sein, die aus dem Ganzen hervorzuragen strebt, die Zahl derer, 
die sich emporschwingen wollen, wird ständig wachsen, und damit muß zu¬ 
gleich das soziale Ansehen der schon Emporgestiegenen mehr oder weniger 
starke Einbuße erleiden. Neue Antriebe werden daraus dem Ringen nach 
dem Gefühl der Macht gegeben werden, weil das drohende Gefühl der Unter¬ 
legenheit und der Minderwertigkeit eine unerträgliche Hemmung des Persönlich¬ 
keitsbewußtseins bedeutet. Die schweren Affektstörungen des Zweifels an 
sich selbst und in weiterem Verlaufe der Angst vor der Unmöglichkeit, das 
Ziel zu erreichen, und damit die Sorge, dem eigenen Ich schweren Schaden 
zuzufügen, drohen die Persönlichkeit aus ihrem seelischen Gleichgewicht zu 
stürzen und veranlassen sie zu allen nur denkbaren Maßregeln, um dem 
Gefühl der Schwäche zu entfliehen. Je näher sich der Einzelne in seiner 
seelischen Verfassung und in seiner äußeren Position noch dem durchschnitt¬ 
lichen Niveau des Ganzen befindet, um so schwerer wird die Affektstörung 
auf ihn einwirken und um so größer wird der daraus hervorgehende Antrieb 
zu seinem Wollen sein. Es wird für ihn peinlich sein, noch immer an sich 
Koincidenzpunkte zu finden, mit denen er fest an die Horizontallinie der 
Gesamtheit gebunden erscheint, der Teil seiner seelischen Persönlichkeit, mit 
dem er noch zur Gesamtheit gehört, wird sich ihm als die eigentliche Ursache 
jenes hemmenden Gefühls der Unterlegenheit darstellen, als das Hindernis 
par excellence, das den Weg zur Herrschaft versperrt. So folgt daraus die 
unablässige Bemühung, diesen Teil zu verkleinern, der Spaltung in eine 
soziale und individuelle Persönlichkeit zu entrinnen. An die Stelle des bis¬ 
herigen harmonischen Verhältnisses zur Gemeinschaft, an die Stelle der selbst- 
und bewußtlosen Teilnahme an der Sicherung und Erhaltung des Ganzen 
tritt eine mehr oder weniger schrille Disharmonie, die nach und nach zur 
fortschreitenden inneren Loslösung von der Gesamtheit führen muß. 

Die Züge dieses seelischen Prozesses, dem jeder Einzelne je nach dem 
Grade seines geistigen Lebens unterworfen ist, treten besonders klar hervor 
in der Stellung des Kindes zur Familie. Das Kind tritt in die naturgegebene 


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Gesamtheit der Familie im vorpersönlichen Stadium ein. Sein körperlicher 
Zustand, seine Hilflosigkeit gegenüber den Einwirkungen der Außenwelt, das 
Nichtvorhandensein geistiger Äußerungen lassen ihm keine andere Aufgabe 
zukommen als die naturbestimmte: das neue Reis zu sein, das die Erhaltung 
der Familie sichert durch sein bloßes Dasein. Das Leben in der Familie ist 
in der Tat durch den Eintritt eines Kindes zu ganz anderer Bedeutung gelangt 
als vorher. Die Arbeit des Vaters erhält einen anderen Schimmer, ein neues 
Stimulans; sie wird in ihrem augenblicklichen Stande von ihm selbst anders, 
und zwar niedriger bewertet Die Notwendigkeit einer Steigerung in bezug 
auf Qualität und Quantität derselben tritt ihm auf einmal deutlich vor Augen, 
kn Ansehen seines Kindes merkt auch der Stumpfsinnigste noch einmal das 
Wertgefühl in sich aufsteigen, das vielleicht noch als Rest eines ehemals 
starken Gefühls der Überlegenheit in ihm lebendig ist, und nimmt daraus 
den Anlaß und die Verpflichtung zu einem neuen Versuche des Aufschwunges. 
Die Einwirkung des Daseins des Kindes auf das individuelle Verhalten der 
Mutter ist augenscheinlich. Ihre Geschäftigkeit, ihr Diensteifer, ihre imendliche 
Hingabe an die Pflege des Kindes, die Überwindung, die sie bei widerwärtigen 
Arbeiten auch in den persönlich ungelegensten Zeitpunkten zeigt, machen 
bemerkbar, wie auch bei ihr durch das Erscheinen des Kindes die Steigerung 
des Lehensgefühles in hohem Maße eingetreten ist. Die junge Mutter erscheint 
körperlich schöner, im geselligen Verkehr persönlich liebenswürdiger, ihre 
Aufmerksamkeitsfähigkeit verteilter und beweglicher, ihr ganzes Wesen ist 
gehooen, weil sie sich mehr als je als Herrscherin des Hauses fühlt, und 
von den übrigen Angehörigen in dieser Zeit auch als solche angesehen wird. 
Dieses persönliche Gehobensein, die individuelle Wertsteigerung, das erhöhte 
Kraftgefühl ist es, was den Grundzug der Freude der Eltern ausmacht Das 
Interesse am Kinde wird von diesem Standpunkte aus bestimmt und sein 
Dasein von hier aus bewußt oder unbewußt beurteilt. Die Persönlichkeit des 
Kindes selbst hat damit recht wenig zu tun; es ist immer Mittel zum Zwecke der 
Erhebung und Wertsteigerung seiner beiden Erzeuger, ein Symbol des gefühlten 
Eigenwertes. Diese Tatsache tritt außerordentlich deutlich hervor, wenn die Zahl 
der Kinder sich vergrößert. Zwar ist auch beim Erscheinen dieser Kinder der 
Einfluß auf die individuelle Selbstwertung der Eltern nicht zu verkennen, aber 
dieser Einfluß ist in seiner Gradstärke von dem des ersten Ereignisses doch sehr 
stark unterschieden. Zu sehr macht sich dann die Schwierigkeit der Lebens¬ 
unterhaltung, die Notwendigkeit, auf manche liebgewordene Gewohnheit zu 
verzichten, bemerkbar; der Vater zumal murrt, wenn er sich der Kinder wegen 
Einschränkungen auf erlegen soll. Diese Tatsache tritt beim ersten Kinde 
nicht annähernd so stark in Erscheinung und mindert darum die Selbstfreude 
der Eltern nicht oder doch nur in geringem Maße herab. Diese findet nun 
auch in der Hilflosigkeit und Schwäche des Säuglings zunächst noch eine 
weitere Förderung. Indem beide Eltern bemerken, wie sehr ihr Kind von 
ihnen, von ihrer Sorgsamkeit und ihrer Hilfe abhängig ist, wie diese kleine 
Persönlichkeit so gar nichts ohne sie wäre, empfinden sie den Stolz des 
Schutzgebenkönnens um so deutlicher, je mehr die Lebenserhaltung ihres 
Sprößlings auf diesem Schutze und dieser Fürsorge beruht, je mehr jeder 
Fortschritt nach der körperlichen und geistigen Richtung ihrer Tätigkeit zu 
verdanken ist. Die restlose Unterordnung des Kindes unter den Willen der 
Pfleger gibt den Willenshandlungen dieser eine so starke, völlig einseitig 

Zeitschrift t. padagog. Psychologie. 27 


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beurteilte Bedeutung und schaltet die hemmenden Motive, die sonst von der 
Persönlichkeit dessen ausgehen, auf den sie sich beziehen, so vollständig aus, 
daß die Eltern sich gänzlich in ihrem „Glücke“ fühlen, d. h. eine Steigerung 
ihres Selbstwertgefühls vornehmen können, die selbst bei den kühnsten 
äußeren Lebenserfolgen infolge der bei ihnen immer vorhandenen Kehrseite 
nicht eintreten würde. Dieser Glückszustand aber erreicht seinen Höhepunkt 
in dem Augenblicke, wo das Kind zum ersten Male das Wörtchen „Ich“ aus¬ 
spricht oder sonst Zeichen der eingetretenen Ichfindung gibt Von da ab 
beginnt das Kind seine eigene Rolle zu spielen und seine individuelle Per¬ 
sönlichkeit nach seinem eigenen Lebensplane zu entwickeln. Seine geistige 
Seite, die besondere Note alles geistigen Wesens, die Herrschaft über die 
naturgegebene Umgebung zu gewinnen, tritt von nun an nach und nach 
immer deutlicher hervor. Es fängt an, Forderungen an die Gemeinschaft zu 
stellen und damit ein Moment der Spannung in sein Verhältnis zu ihr 
hineinzutragen. Der unbewußte Zwang zur Gestaltung „seiner“ Persönlich¬ 
keit läßt es aus allen seinen seelischen Vorgängen, aus seinen Vorstellungen, 
Wahrnehmungen, Gefühlen und aus seinen Willenshandlungen' die Richtungen 
und die Züge hervorheben, die auf dem vorgezeichneten Wege weiterführen, 
aber damit auch weitere und verstärkte Anforderungen an die Umgebung 
gebären müssen. Zunächst wird ihm allerdings die unbedingte Überlegenheit 
der Erwachsenen sehr deutlich entgegentreten; aber deshalb wird es keinen 
Augenblick zögern, den Kampf um die Geltung seines Selbst mit allen kind¬ 
lichen Mitteln aufzunehmen. Da die Lebensgemeinschaft des Kindes mit der 
Mutter, schon wenn man ganz äußerlich nur die gemeinsam verbrachte Zeit 
berücksichtigt, eine bedeutend innigere ist als zum Vater, so richten sich 
natürlicherweise seine Selbständigkeitsbestrebungen zuerst gegen jene. Sehr 
bald verstehen es die kaum dem Säuglingsalter entwachsenen Kinder die 
Mutter zu zwingen, sich mit ihnen vorzugsweise zu beschäftigen, ihre Zeit¬ 
einteilung nach den Bedürfnissen des Kindes vorzunehmen, kleine, scheinbar 
unschuldige Wünsche, mögen sie sich auf die Speisen oder auf Spielzeug, 
oder sonst dergleichen beziehen, zu erfüllen. Mit erstaunlicher Schärfe beob¬ 
achten sie bei solchen Gelegenheiten das Verhalten der Erwachsenen und 
verstehen sich den Eigenarten derselben unübertrefflich anzupassen. Indem 
sie sich fügen und mit Zärtlichkeiten und Schmeicheleien, mit Diensteifer 
und freudiger Hingebung die Mutter ihren Wünschen geneigt zu machen 
suchen, beabsichtigen und können sie nichts weiter beabsichtigen, als ihre 
eigene Persönlichkeit in den Vordergrund des Familiengeschehens zu schieben. 
Sehr schnell überwinden sie die kindliche Unsicherheit ihrer Handlungen, 
deren Folgen sie nicht zu übersehen und zu beurteilen vermögen und die 
Schwankungen ihrer eigenen Verhaltungsweisen. Wo gute Eigenschaften nicht 
zum Ziele führen, versucht es durch Trotz, Eigensinn und Indolenz, zuweilen 
auch durch absichtliches Betonen körperlicher Mängel und Schwächen die 
Aufmerksamkeit auf seine kleine Person zu lenken und die Nachgiebigkeit 
gegen seine Wünsche zu erreichen. Besonders in Zeiten der Krankheit ver¬ 
langen sie, daß die Eltern sich mit ihnen fast ununterbrochen beschäftigen, 
stören zu jeder Tages- und Nachtzeit, beklagen sich, daß man sie allein läßt, 
und versuchen immer von neuem durch Erregen von Mitleid oder durch starr¬ 
köpfiges Beharren bei ungehörigen Betätigungen — ohne daß dabei aus¬ 
gesprochenermaßen eine boshafte und quälerische Absicht zugrunde liegt —, 


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Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage 


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ihre eigene Bedeutung der Umwelt recht deutlich vor Augen zu führen. 
Diese Stimmungslage kann naturgemäß sehr leicht dazu führen, die Span¬ 
nungen zwischen den Gliedern der Familiengemeinschaft aufzupeitschen und 
die gemütlichen Bande innerhalb derselben mit Vernichtung zu bedrohen. 
Jedenfalls aber vollzieht sich langsam und ohne Aufenthalt die innere Los¬ 
lösung des Familiengliedes von der Gemeinschaft: welchen Grad aber dieser 
Kampf des Einzelnen auch erreichen möge — und dies wird notwendig von 
der Impulsivität seiner geistigen Entwicklung und von der Richtung, in der 
sich diese vollzieht, abhängen —, ausgefochten werden muß er von jedem 
Individuum, das nicht zum Niederbruch seines geistigen Wesens kommen will. 
Besonders zur Zeit der Pubertät, wo die besonderen Strebungen der indivi¬ 
duellen Persönlichkeit stürmisch in Erscheinung treten, ist die Krisis in dem 
Verhältnis des Einzelnen zur .Gesamtheit eminent. Da erscheinen dem jungen 
Menschen die übrigen Glieder als außerordentlich rückständig, da fühlt er 
in sich die Mission, seinerseits sich aufzuschwingen über das Niveau der 
Gemeinschaft, aus der er geboren ist; eine schrankenlose Ausbreitung des 
Aggressionstriebes läßt ihn alle Mittel des Ehrgeizes und der Eitelkeit, des 
Mißtrauens und der übermäßigen Hingabe, des trotzigen Widerstandes und 
der schüchternen Unterwerfung benutzen, um der Gesamtheit fühlen zu lassen, 
daß er ihrer nicht mehr bedarf. Viele Familien leiden schwer unter der 
Tragik des Ringens zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeit; der fertige 
Mensch wehrt sich, von dem werdenden beherrscht zu werden, und gar manche 
geben den Kampf auf und legen müde und resigniert die Hände in den Schoß 
In diesem Falle aber ist die Gemeinschaft unwiederbringlich zerstört; denn 
nun glaubt der Einzelne das Recht zu haben, nicht nur sich loszulösen, 
sondern auch die Gesamtheit zu benutzen zur Erreichung der selbstischen 
Zwecke, und in diesem Augenblicke wird sie für ihn zur Masse. 

Derselbe Kampf spielt sich selbstverständlich audsh innerhalb der anderen 
menschlichen Gruppen ab, nur daß er sozusagen objektiver und weniger 
schmerzlich für die übrigen Mitglieder sich vollzieht. Dafür aber kommt der. 
Massengedanke in dem Einzelnen diesen Gruppen gegenüber auch viel skrupel¬ 
loser und viel schärfer zur Entfaltung. Auch wenn die eben gezeichnete 
Gedankenreihe bei dem aufbegehrenden Familiengliede noch so sehr zu dem 
innerlich-en Bruche mit der Gemeinschaft führt, alle Hemmungen, die von 
dieser für ihn ausgehen, wird er nicht aus dem Wege räumen können. Die 
Stimme des Blutes, die Tatsache, daß er eine lange Zeit in diesem Kreise 
geweilt hat, daß er unter ihrem Schutze seine ursprüngliche Minderwertigkeit 
und Unsicherheit überwinden konnte, werden ihn nicht gänzlich loslassen, 
und nur in den extremsten Fällen ist ein Herabsinken dieser ihm so ver¬ 
trauten Gemeinschaft zur Masse für ihn möglich. Seine Stellung in den 
andern Gesamtheiten ist von jener unendlich verschieden. In die Familien¬ 
gemeinschaft wird der Mensch hineingeboren, er gehört ihr naturgemäß an. 
Die Zugehörigkeit zu den anderen Kreisen der menschlichen Gesamtheit wird 
da gegen mehr oder minder von seiner Wahl und von seiner Zustimmung 
abhängig sein. Selbst die Sprach- und Rassengesellung ist für ihn wechsel¬ 
bar, wenigstens so, daß nur noch äußere Spuren an seine frühere Zugehörig¬ 
keit erinnern, und Berufs- wie Religionskreis werden oft mit erstaunlicher 
Leichtigkeit der Änderung unterworfen. Denn in diese Gruppen tritt der 
Mensch erst ein — abgesehen von rein äußerlichen Beziehungen —, wenn 

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Georg Hirsch, Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage 


seine psychische Aktivität schon bis zu einem ziemlich hohen Grade ent¬ 
wickelt und er geistig in der Lage ist, sich mit ihnen abztlfinden; er bringt 
ihnen sozusagen sein eigenes innerliches Erleben schon entgegen und will 
ihnen nur notwendig angehören, sofern sie ihm ein Mittel sind, zur inneren 
Freiheit seiner geistigen Persönlichkeit zu gelangen. In der Familie haben 
wir zwar gesehen, daß die Möglichkeiten des Nichtverstehens bis zur Krisis 
wachsen können, aber es darf wiederum nicht vergessen werden, daß die 
Tiefe des Verstehens in diesem kleinen und eng umzogenen Kreise doch 
immerhin zuvor einen ziemlich hohen Grad erreicht haben muß auf Grund 
der so naheliegenden eingehenden Beobachtung des Tuns und Lassens der 
andern. Diese Verständnistiefe wird sich immer wieder in Wirkung setzen, 
wenn später der freie Mensch selbst wieder in einer Ehe aus seiner Freiheit 
eine innere Notwendigkeit zur Gemeinschaft herauswachsen läßt; dagegen 
wird er aus dem durch die menschlichen Verhältnisse gegebenen Zwange, 
auch anderen Gesamtheiten anzugehören, immer für sich das Recht zur Los¬ 
lösung von ihnen entnehmen und erkämpfen, wenigstens aber wird er immer 
klar in seinem Bewußtsein haben, daß ohne seine innere Zustimmung über 
seine Zugehörigkeit zu ihnen nicht entschieden werden kann. Aus diesen 
Gründen ist es verständlich, daß der Aufschwung und die überragende 
Stellung des Individuums in diesen Gruppen mit weit geringeren inneren 
Hemmungen zu kämpfen hat als innerhalb des Familienkreises. Die Ver¬ 
suchung zu herrschen ist hier viel größer, der in Aussicht stehende Erfolg 
viel verlockender, der Anreiz zum Vorwärts- und Aufwärtsstürmen viel häu¬ 
figer und eindringlicher als dort. Zwar wollen viele den Aufstieg mitmachen 
und treten ihm dann als seine geborenen Widersacher entgegen; aber noch 
mehreren begegnet et, die sich nur schwach gegen seine Vorherrschaft 
wehren, die sich so willenlos, wie es Menschen irgend möglich sein mag, 
als Geführte hingeben und nur zaghaft in ihrem Verhalten an die ehemals 
besessene Selbständigkeit zu erinnern wagen. Innerhalb dieses Kreises kommt 
dann der Einzelne leicht zu dem Schritt, von der Tatsache der Geistigkeit 
jener Geführten gänzlich abzusehen und sich nun als Herr einer von ihm 
entgeistigten Masse anzusehen und dieselbe seinen Selbstzwecken nutzbar zu 
machen. Denn dies muß als der Endzweck des hier gezeichneten geistigen 
Prozesses angesehen werden: bewußt oder unbewußt, kraft des im Geiste 
wohnenden Zwanges zur Entwicklung seiner individuellen Persönlichkeit 
strebt der Einzelne danach, seine Eigenzwecke auf die Persönlichkeiten seiner 
Umgebung zu übertragen und sie zur Verwirklichung derselben zu benutzen. 
So wie das Kind langsam seine Kraft in sich aufkeimen läßt und nach und 
nach immer mehr die Mutter zurückdrängt, weil es in allen kleinen Ma߬ 
nahmen der Kinderstube die Gefahr wittert, von einer stärkeren Persönlich¬ 
keit erdrückt zu werden, und nun seinerseits alle seine kindlichen Fähig¬ 
keiten benutzt, um sich zur Geltung zu bringen und die andern zum Mittel 
zu machen, so zieht sich auch der erwachsende Mensch seelisch immer 
stärker aus den Gemeinschaften zurück, in die ihn natürliche Notwendig¬ 
keiten hineinversetzt haben. Auch er sieht sein Ideal in der endgültigen 
Befreiung von dem Lebensschema, das jede Gesamtheit in mehr oder minder 
ausgeprägtem Maße für ihre Mitglieder bereit hält, und vervollständigt dieses 
Ideal zugleich durch das zähe Bestreben, sein eigenes Lebensleitbild für das 
allgemeine Geschehen maßgebend zu machen. Indem er in seinem Bewußt- 


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H. Loewe, Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten Jugend 421 


sein die Persönlichkeiten seiner Umgebung immer mehr entgeistigt und sie 
zu Molekülen einer Masse entwürdigt, indem er gleichsam alle Vorzüge der 
andern in sich hineinprojiziert und wie in einem Brennpunkte sammelt, so 
daß er ihr Vorhandensein bei jenen ableugnen kann, schafft er den Massen¬ 
gedanken durch Überentwicklung seines Ich, verbunden mit der entsprechenden 
Distanz von der Gesamtheit. Fortan glaubt er sich als ihr wollender Zentral¬ 
punkt, als der eigentlich allein zum Handeln Befähigte, als derjenige, der 
den Kampf der Willensmotive allein auszufechten und daraus das Recht 
herzuleiten hat, den Erfolg für sich in Anspruch zu nehmen. Die Masse 
liegt ihm nur zur Hand als Werkzeug und physische Kraftquelle, mittelst 
deren er die Ziele erreichen wird, die ohne jene Masse über seine Kraft 
hinausragen würden. Dieser Gedankengang vollendet sich in ihm, sobald er 
durch eigene oder zufällige Gestaltung der äußeren Verhältnisse in eine 
leitende Stellung gelangt. In dem Augenblicke, wo die Verbindung mit 
denen, die ihm unterstellt sind, am innigsten und tiefsten gewoben sein sollte, 
zerreißen in dem Geiste des „Führers“ die letzten Fäden von Mensch zu 
Mensch, wird der Niveauunterschied so bedeutend, daß er von dem eigent¬ 
lichen Wesen jener nur noch den Schatten bemerkt. 

Wollen wir nun zusammenfassend unsere Überlegungen über die Ent¬ 
stehung des Massengedankens noch einmal überblicken, so ist folgendes zu 
bedenken: Das angeborene Streben des Menschen nach persönlicher Über¬ 
legenheit führt ihn dazu, sich die natürlichen Massenkräfte dienstbar zu 
machen. In der Folge muß dieses Bestreben ihm die Frage vorlegen, wie 
er sich sein Verhältnis zu den Mitgliedern der menschlichen Gesamtheit ge¬ 
stalten wolle. Er entscheidet sich durch Übertragung des natürlichen Massen¬ 
begriffes auf die Persönlichkeiten seiner Umgebung, die Forderungen der 
andern an ihn abzuweisen, sein individuelles Selbst aus ihrem Verbände 
loszulösen, aus ihrem Niveau herauszuheben und die Gesamtheit zu benutzen, 
die Entwicklung seiner Persönlichkeit vorwärtszupeitschen und den eigenen 
Willen mit Hilfe der ungeheuren Gesamtheitsstoßkraft zur äußeren Wirkung 
zu bringen. Der Begriff der Masse bedeutet die Peripetie dieses ganzen 
Denkverlaufes, den Abschluß der inneren Loslösung von der Gemeinschaft. 
Fortan wird der Einzelne in seinem individuellen Handeln nicht mehr mit 
einer Gemeinschaft, sondern nur noch mit ihrem Phantom, der Masse rechnen, 
und alle lebendigen Menschen seiner Umgebung wird er mit diesem Begriffe 
zusammenfassen, ohne Rücksicht auf ihre Zahl und ihren Aufenthaltsort, 
überhaupt ohne Berücksichtigung des Wesens jener, die er zur Masse zählt. 
Damit steigert er das Leben in sich bis zur höchstmöglichen Potenz und 
tötet zugleich die Lebendigkeit der andern. Die Schöpfung des Massen¬ 
gedankens ist ein Versuch, das Tote für die Steigerung des Lebens zu 
gewinnen. (Ein zweiter Teil folgt) 

Allgemeine Richtlinien zur erziehlichen Beeinflussung der 
von der homosexuellen Infektion bedrohten Jugend. 

Von Hans Loewe. 

Im Mittelpunkte unserer letzten Betrachtungen steht das Problem der er¬ 
ziehlichen Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten 
Jugend. Seine Lösung wird nur dann gelingen, wenn wir unsere Aufgabe 


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Hans Loewe 


nicht zu eng fassen. Es genügt nicht, bloß vorbeugende Schutzmaßnahmen 
zu treffen, damit das Gift der Verführung nicht an die Jugend herankommt, 
so wichtig diese auch sein mögen. Wir müssen vielmehr auch den Fragen¬ 
komplex gründlich erörtern: „Wie machen wir unsere Jugend von vornherein 
widerstandsfähig, so daß sie trotz evtl. Berührung mit Personen oder Schriften 
jener Richtung keinen Schaden erleidet? Das bedeutet aber nichts Geringeres 
als eine sorgfältige Durchberatung von Vorschlägen und grundlegenden Ver¬ 
änderungen in den Formen unseres Gesellschaftslebens, eine Auseinander¬ 
setzung über das Problem der Autorität in Schule und Elternhaus, über die 
sexuelle Frage, über das Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander, über 
unerläßliche Änderung unserer Schullehrpläne, über die Reform der körper¬ 
lichen Ausbildung; denn die große Gefahr der „Verblüherung“ liegt ja 
gerade auch darin, daß die neue Lehre vom Männerhelden auf das innigste 
verknüpft wird mit der Not der Jugend, wie sie sich durch Mißstände in 
Schule und Elternhaus, im Zusammenhang mit dem romantischen Streben 
der Sehnsucht nach Führern, dem Ringen nach dem Ideal, der Beunruhigung 
durch den erwachenden Sexualtrieb entwickelt hat. 

Damit ist eine Zweiteilung des Stoffes für den heutigen Vortrag ge¬ 
geben, wir sprechen 

einmal: von den vorbeugenden Schutzmaßregeln, 

sodann: von den grundlegenden Reformen. 

Was zunächst die direkte Bekämpfung der Gefahr betrifft, so steht an 
erster Stelle die Forderung der schärfsten gesetzlichen Maßnahmen zur Be¬ 
strafung homosexueller Betätigung an Jugendlichen; sollte der § 175 aufge¬ 
hoben werden, so muß das Schutzalter der Jugendlichen wesentlich ausge¬ 
dehnt werden; die homosexuelle Werbearbeit in Wort und Schrift ist auf 
das energischste zu unterdrücken, die Vorführung von Filmen zur An¬ 
preisung der gleichgeschlechtlichen Liebe rücksichtslos zu verbieten. In dieser 
Hinsicht ist ja schon manches Erfreuliche geschehen; indessen sollte nach 
meiner Meinung der Kampf gegen den Schundfilm noch viel energischer 
durchgeführt werden; denn solange es möglich ist, daß Hunderttausende 
von Jugendlichen täglich in Detektivfilms- und ähnlichen Vorstellungen in 
ihrem ästhetischen und erotischen Empfinden irregeleitet und aufgewühlt 
werden, ist die Gefahr homosexueller Verführung stets zu befürchten. Aufs 
freudigste begrüßen wir alle Versuche, die wertvollen technischen Erfolge der 
Filmindustrie in den Dienst der Schule zu stellen. Die Versuche des Zentral¬ 
institutes für Erziehung und Unterricht verdienen unsere ernstliche Aufmerk¬ 
samkeit. Filme, wie der jüngst hier in München gezeigte „Ski-Film“ sind 
ausgezeichnet. 

Besonderes Augenmerk bedarf die Bekämpfung der homosexuellen Schund¬ 
literatur durch den Kolportagehandel und in den Auslagen der Buchhand¬ 
lungen. Wieviel Buchhändler sind sich über die Bedeutung der Blüherischen 
Bücher klar? Ich kenne Beispiele aus Erlangen, wo auf aufklärende Be¬ 
merkungen seitens energischer Studenten solche Bücher aus den Auslagen 
sofort verschwanden. Der Jugendring, in den verschiedensten Städten 
bereits organisiert, hat sich entschlossen, den Kampf gegen Schmutz in der 
Literatur energisch aufzunehmen. Sehr schwierig ist es, die unglaubliche 


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Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten Jugend 423 


Propaganda zu beseitigen, wie sie z. B. Diederichs in Jena für Blüher macht ‘) 
oder wie sie in den Zeitschriften der freideutschen Jugend und in ihrem 
Verlage von Adolf Saal in Erscheinung tritt In Kurt Zeidlers Schrift 
„Vom erziehenden Eros“ (1919) stehen die bezeichnenden Worte: «Über das 
Geschlechtliche in der Erziehung sprechen bedeutet letzte, tiefste Zusammen¬ 
hänge aufdecken, in dem verbildeten Gefühl vieler wehrt sich etwas gegen 
solche Entschleierung.“ Er ist überzeugt, daß bei der Entstehung und Ent¬ 
wicklung der Jugendbewegung die Inversion eine besondere Rolle spielt und 
bezeichnet es als Hans Blühers Verdienst, die Beziehungen erkannt und mit 
der ihm eigenen Unerschrockenheit und Konsequenz dargestellt zu haben. 
Der Wendekreis, eine Vereinigung junger Lehrer in Hamburg, versucht 
diese Ideen in zahlreichen Schriften zu propagieren und hat eine Schule 
gegründet. Von verschiedenen Seiten wird der Versuch gemacht, diese Propa¬ 
ganda an den Pranger zu stellen, so in ( schärfster Form von Plenge im 
Antiblüher oder von Maria Grüner in dem „Deutschen Bücherboten“ *), 
November Nr. 21/22. Aber es ist nicht zu vergeasen, daß solche Schriften 
doch nur auf verhältnismäßig kleine Kreise wirken und daß einer plan¬ 
mäßigen Bekämpfung durch die Tagespresse die ernstesten Bedenken ent¬ 
gegenstehen. 

Unter allen Umständen muß verhindert werden, daß homosexuelle Lehrer 
an Kinder ihres Geschlechtes Unterricht erteilen dürfen. Mehr wie je müssen 
wir unsere Aufmerksamkeit auch unseren Vereinen zuwenden, die Jugend¬ 
gruppen haben; denn es ist einfach unglaublich, mit welcher Zudringlichkeit 
sich schmutzige Elemente hier breitzumachen suchen. Pervertierte dürfen 
unter gar keinen Umständen Führer von Jugendgruppen werden; denn auf 
kleinen oder größeren Wanderungen, bei gemeinsamen Nachtlagern ist die 
Möglichkeit einer Verführung viel zu leicht gegeben. Ich habe nicht den 
Optimismus, wie Blüher, daß die Mehrzahl der Invertierten aus Scheu vor 
der Jugend die Grenze ehrfurchtsvoll einhalten wird. Wir müssen auch auf 
jene Stellenangebote achten, wie sie in der homosexuellen Zeitschrift „Der 
Eigene“ zu lesen sind. Gerade in Landerziehungsheimen werden Stellen 
von Sportsleitem, Turnlehrern und Musiklehrem von solchen Leuten mit Vor¬ 
liebe gesucht. 

Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Bekämpfung der Gefahr bildet die 
Aufklärung der Erzieher, Eltern und Lehrer. Unsere Besprechungen hier 
stellen einen ersten Versuch in dieser Richtung dar, der, falls er Erfolg hat, 
weiter ausgebaut werden soll. Die allermeisten Eltern und sehr viele Lehrer 
stehen ja zunächst den Blüherischen Schriften und denen seiner Anhänger 
ratlos gegenüber, falls sie dieselben in den Händen ihrer Kinder finden. Daher 
gilt es nach zwei Seiten hin helfend einzugreifen: die Ärzte müssen uüs 
das Material liefern, um die grundlegenden Thesen Blühers und seiner An¬ 
hänger in ihrer Haltlosigheit erkennen zu ^können, soweit sie das medizini¬ 
sche Gebiet betreffen. Einzelne von uns, die Schriften Blühers und der 
ihm nahestehenden Kreise genau studiert haben, sollen diesen „Jugendführer“ 

*) Im Februarheft des Vortrupp (1921) S. 88, betont Plenge in einer Zuschrift an den Heraus¬ 
geber, Hermann Popert, daß Diederichs im Buchhändlerbörsenblatt (3. Dez.) eine ganzseitige An¬ 
zeige für Blüher veröffentlicht und neue Prospekte zur Anpreisung versendet, in Diederichs 
Organ die Tat (Januarheft 1921) spricht D. sogar von „erwerbsmäßigen Verleumdern“. 

*) Zeitschrift zur Stärkung des Deutschgedankens im Schrifttum 1920. 


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Hans Loewe 


und die Art seiner Schriftstellerei kritisch beleuchten; denn nur dann, wenn 
-> wir mit diesen Gedankengängen vertraut sind, können wir unsern Schülern 
mit Rat und Tat beistehen. Besonders sollten auch, zunächst im engen Kreis 
der Eltembeiräte, Beratungen dieser Fragen stattfinden und die Ansichten 
über die verschiedenartige Behandlung der einzelnen Fälle gründlich durch¬ 
gesprochen werden. 

Indessen all die erwähnten Forderungen greifen noch nicht tief genug, es 
sind vorbeugende Schutzmaßregeln. Das Problem muß an der Wurzel gefaßt 
Werden. Eine erziehliche Beeinflussung hat zur Grundvoraussetzung die 
Schaffung eines dreifachen Vertrauensverhältnisses: 

Einmal zwischen Schülern und Lehrern, 

sodann zwischen Eltern und Kindern, 

endlich zwischen männlicher und weiblicher Jugend. 

Der Boden für das Fortwuchem Blüherischer Ideen, wie sie in seinen 
Büchern niedergelegt sind, ist so lange gegeben, solange die Not der Jugend, 
aus der die Jugendbewegung hervorgegangen ist, fortbesteht. Daher müssen 
wir den idealen Antrieben, von denen unsere Jugend bewegt ist, selbst 
einen Inhalt geben. Es ist ja ganz bestimmt nicht der schlechteste Teil, 
der Blüh er zujubelt; im Gegenteil: es sind häufig solche, in deren Herzen 
ein brennender Ekel gegenüber veralteten, veräußerlichten und verrohten Ge¬ 
sellschaftsformen wohnt; es sind die, die unter dem Druck falscher Auto¬ 
rität gelitten haben, denen ein sehr hoch gestecktes Menschheitsideal vor¬ 
schwebt. Diese Jugend verlangt, wie die Jugend überhaupt, nach 
Führern; die Helden Verehrung, das deutsche heldische Gefühl, regt sich in 
ihr; „Mut zum Blut tt ist ein.charakteristisches Merkmal des jungen Germanen. 
Weil Blüher das nicht von vom herein verdammt, daher jubeln ihm die 
germanisch Empfindenden zu. Das Führerproblem, das Problem der starken 
männlichen Persönlichkeit, gilt es also zu lösen. Die Jugend hat ein Recht 
darauf, in ihren Lehrern Vorbilder, Wegweiser zur Höhe des Ideales, Berater 
in allen seelischen Nöten zu sehen. Daher lautet das wichtigste Gebot der 
Stunde: die Lehrer müssen selbst Führer sein. Durch ihr überlegenes 
Wissen, durch die Kraft ihrer Persönlichkeit, durch die gewissenhafteste 
Hingabe an ihren Beruf, den sie sich nicht stundenweise bezahlen 
lassen. Das Furchtbarste, was unserem Lehrerstande widerfahren könnte, 
wäre das Eindringen jener Grundanschauung, daß unser Erzieherberuf ein 
bezahltes Amt sei. Unsere Jungen haben ein außerordentlich feines Ge¬ 
fühl dafür, wie der Lehrer seinen Beruf auffaßt. Sie dürfen in uns nicht 
Beamte oder nur Lehrer sehen; jeder von uns muß wissen, wie es in den 
Herzen der Jugend aussieht, welche Nöte sie bedrängen. Es genügt nicht, 
wenn wir uns auf unseren Unterricht beschränken; freilich geht auch von 
ihm, wenn er gut ist, eine wertvolle Wirkung aus. Strenge gegen rieh 
selbst, nicht nur, was Abhärtung und körperliche Anstrengung betrifft, sondern 
namentlich auch straffe Zucht in der geistigen Arbeit, ist eine der vor¬ 
dringlichsten Forderungen der Gegenwart. Denn nichts macht die Jungen 
empfänglicher für Verführungen als die übertriebene Weichlichkeit und 
Rücksichtnahme gegenüber der eigenen Person. Willensschwäche beraubt 
sie der Widerstandsfähigkeit, wenn Infektion droht. Mit der Strenge gegen 
sich muß ein klares, auf Tatsachen begründetes Urteil, das Gesundes und 


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Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten Jugend 425 


Krankes wohl zu unterscheiden vermag, in Verbindung treten, ferner ein 
lebhaftes Interesse an dem Wahren, Guten und Schönen, ein ausgesprochener 
Ekel an dem Unnatürlichen; all das vermag ein guter, erziehender Unter¬ 
richt zu leisten. Wir sollten aber auch die Lektüre kennen, die unsere Jugend 
beschäftigt, ihr mit Rat und Tat bei deren Auswahl helfen, ihr Lesebe¬ 
dürfnis durch Leihen eigener Bücher unterstützen und so unvermerkt einen 
stetig wachsenden Einfluß auf sie gewinnen. Wir müssen unsere Schüler 
auch in ihren Leistungen außerhalb der Schule beurteilen lernen, sie bei 
Spiel und Wanderungen beobachten. Jeder von uns, der nur den guten 
Willen hat, wird irgendeine seelische Not stillen können; dann aber ist be¬ 
reits der Boden für vertrauensvolles Arbeiten geschaffen. Das kann ich 
aus eigener Erfahrung bestätigen, und darin stimmen mit mir alle Freunde 
überein, die Gleiches versucht haben. 

„Lehrersein“ bedeutet also: Verantwortlichkeitsbewußtsein haben, Leh¬ 
rer sein bedeutet: ein volles Verständnis für die Freuden und Leiden der 
Jugend besitzen, Lehrer sein bedeutet: aus Liebe zur Jugend selbstlos alle 
seine Kräfte in ihren Dienst stellen. 

Wer in diesem Sinn den Erzieherberuf auffaßt, der darf nach meiner An¬ 
sicht mit vollem Rechte den Anspruch erheben, Führer zu sein. Einem 
solchen Manne wird sich die Jugend anschließen, er wird dann auch auf 
Grund seiner genauen Kenntnis der einzelnen Jungen imstande sein, bei 
der Wahl von Jugendgruppenführern mitzuwirken; denn die Jugend hat ein 
Recht, auf ihren Wanderungen und bei ihren Spielen unter sich zu sein. 

Wer dazu irgendwie veranlagt ist, muß in der Jugendbewegung außerhalb 
der Schule ein Feld der Betätigung suchen. Auf alle Fälle sollten wir Lehrer 
der Jugend die Möglichkeit geben, sich jederzeit vertrauensvoll an uns zu 
wenden. „Also Sprechstunden?“ ruft mir vielleicht mancher entsetzt zu, 
„haben wir nicht genug schlechte Erfahrung mit den Elternsprechstunden 
gemacht?“ Nun, wenn der Vorschlag zu Sprechstunden zwischen Lehrern 
und älteren Schülern gemacht wird, so ist das nicht wörtlich zu verstehen; 
wir werden nicht immer auf unserem Katheder sitzen und an der Türe hängt 
ein Zettel: „Sprechstunde von 3—4“, sondern jeder meiner Schüler weiß: 
Wenn m ir etwas Besonderes am Herzen liegt, dann darf ich mich an meinen 
Lehrer wenden; ich kann ihn nach Hause begleiten oder in seiner Wohnung 
aufsuchen; ein andermal ist auf einem gemeinsamen Ausflug Gelegenheit zur 
Aussprache geboten. Schüler, die in ein solches Vertrauensverhältnis zu mir 
getreten sind, kann ich auch ruhig über Dinge fragen, die sie sonst nicht 
ohne weiteres mitteilen würden. So habe ich einen meiner Schüler in Blüh er s 
Vorträgen gesehen und ihn gebeten, mir seine Eindrücke zu schildern. Im 
Gespräch unter vier Augen konnte ich ihm in aller Ruhe auseinandersetzen, 
worin die außerordentliche Gefahr der Blüherischen Ausführungen besteht. 
Der Junge hatte ein so gesundes, natürliches Gefühl, war so erfüllt von reiner 
Freude an den Wanderungen, die er mit einer kleinen Schar junger Wander¬ 
vögel in die Umgebung Münchens unternahm, daß meinerseits nicht viel zu 
hin mehr übrig blieb. 

Nichts wäre verkehrter, als wenn unter -unseren Jungen der Eindruck ent¬ 
stünde, daß sie beobachtet sind, daß eine Art Spitzelsystem eingerichtet 
ist, um die Schuldigen zu fassen und sie, wenn möglich, einer Bestrafung 
zuzuführen. Das hätte nur zu Folge, daß das Übel durch möglichste 


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Geheimhaltung größer würde als zuvor. Vielmehr gilt es mit äußerstem 
Takt vorzugehen, mit offenen Augen, die Jugend in und außerhalb der 
Schule zu betrachten, ob sich in ihrem ganzen Benehmen, in ihrer psychi¬ 
schen Verfassung, ihren Äußerungen Anhaltspunkte gewinnen lassen für 
eine Beschäftigung mit Blüherischen Ideen. Nur, wer ihr Vertrauen in vollem 
Maße besitzt, darf meiner Ansicht nach überhaupt den Versuch machen, sie 
erzieherisch zu beeinflussen. Allgemeine Vorschriften lassen sich dabei nicht 
auf stellen, vielmehr muß oberster Grundsatz sein, individuelle Behandlung, 
unter steter Berücksichtigung der besonderen Lage des einzelnen Falles. 

Wie zwischen Lehrern und Schülern, so muß auch zwischen Eltern und 
Kindern ein Vertrauensverhältnis hergestellt werden. Ein Gutteil der Ver¬ 
antwortung für die übermäßige Romantik in unserer Jugend tragen Väter 
und Mütter, weil sie ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern vernachlässigt 
haben. In selten feiner Weise hat Frau Marie Gröner in einem Vortrag 
„die Jugendbewegung und ihre Gefährdung“ als die vordringlichste 
Forderung für den Wiederaufstieg unseres Vaterlandes und den Schutz 
unserer Jugend aufgestellt, die Wiedergeburt des Elternhauses. Ein 
Kind, das an Vater und Mutter die richtige Stütze hat, sucht nicht homo- 
, sexuelle Befriedigung mit Kameraden; ein Kind, dem das Vaterhaus ein 
Heim bedeutet, wohin es sich nach seinen Schulnöten flüchten kann, 
gerät nicht in eine Konfliktstimmung; Jungen, die mit ihren Vätern an 
den Sonntagen spazieren gehen und ihren Müttern in stillen Stunden 
beim Erzählen oder Vorlesen lauschen, sind gegen erotische Verirrungen ge¬ 
feit. Das natürlichste ist es, wenn die sexuelle Aufklärung unaufdringlich, 
von Vater oder Mutter erfolgt. Das schwierigste Problem entsteht, wenn 
die Knaben zu Jünglingen heranwachsen und zwischen ihren auf- und vor¬ 
wärts drängenden Gedanken und den Ansichten der Eltern Spannungen ent¬ 
stehen, wenn die Kinder das Gefühl haben: Vater und Mutter sind rück¬ 
ständig und benützen ihre Autorität, einen Druck auszuüben. Eine solche 
Lage wird nicht eintreten, wenn es den Eltern möglich ist, ihren . Kindern 
eine starke, gesunde in sich geschlossene Weltanschauung zu vermitteln; die 
Bedeutung eines lebhaften religiösen Lebens in der Familie darf in keiner 
Weise unterschätzt werden. 

Wie viele Millionen gibt es aber, die kein Vaterhaus, kein Heim besitzen, 
das sie vor den Gefahren der homosexuellen Infektion und der Verblüherung 
schützen könnte? Sollen wir der Entwicklung, die die Wirtschaft der ver¬ 
flossenen Jahrzehnte genommen hat und die zur Zusammenballung von 
Millionen in Industrievierteln führte, ruhig zusehen? Als ein unabänderliches 
Schicksal hinnehmen? Durchaus nicht. Auch hier möchte ich als das 
Ideal, dem mit allen Kräften zuzustreben ist, hinstellen: die Wiedergeburt 
des Elternhauses. Die Wege, die dazu führen, sind sehr schwer. Aber 
sie müssen im Interesse unseres Volkes unter allen Umständen beschritten 
werden. Als der wichtigste erscheint eine großzügig durchgeführte Boden¬ 
reform, die den Heimgedanken in den Scharen der Entwurzelten wieder 
aufkeimen läßt, die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen und 
Arbeitslöhne, die auch den einfachsten Volksgenossen ermöglicht, freie Stunden 
im Familienkreis zu verleben. Ein Mann, der wie wenige gerade das Leben 
der einfachen Leute kannte und von tiefstem Sympathiegefühl für sie erfüllt 
war, weil er ihre Leiden und Freuden aus eigenster Anschauung zu würdigen 


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Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten .Jugend 427 


wußte, Pestalozzi, wird nicht müde, auf die Bedeutung der Familie auch 
in jenen Kreisen hinzuweisen. „Die häuslichen Freuden des Menschen sind 
die schönsten der Erde, und die Freude der Eltern über ihre Bänder ist die 
heiligste Freude der Menschheit," so schreibt er in „Lienhardt und Gertrud“. 
Gleichzeitig müssen aber hier ergänzend die Jugendorganisationen ein- 
schreiten und die Aufgaben übernehmen, die vom Elternhaus nicht über¬ 
nommen werden können. 

Die größte Gefahr droht vonseiten Blühers, wenn zwischen der männ¬ 
lichen und weiblichen Jugend kein Vertrauensverhältnis besteht, begründet 
auf gegenseitiger Wertschätzung. In der Sexualfrage muß der oberste Grund¬ 
satz lauten: Mann und Weib, nicht Mann und Mann, nicht Weib und Weib. 
Eine Reihe von Mädchentypen unserer Zeit hat zweifellos dazu beigetragen, 
gerade die feiner empfindende männliche Jugend abzustoßen und sie den 
Lockungen Blühers zugänglich zu machen, der das herbe Ideal des „allein 
produktive wertvolle Arbeit leistenden Männerhelden“ aufstellt. Das ist 
einmal der Typus einer bestimmten Gruppe studierender Mädchen, die jedes 
Gefühl für das verloren haben, was den Reiz und den Vorzug ihres Ge¬ 
schlechtes ausmacht; ferner der Typ Mädchen, die auf das Heiraten dressiert 
den Mann erwarten und ihn in oberflächlichen Abendgesellschaften zu finden 
hoffen; endlich der Typ, der sich durch Art und Wahl der Kleidung prostituiert. 

Reformbestrebungen, die Erfolg versprechen sollen, müssen schon früh 
einsetzen. Die Absperrung der beiden Geschlechter voneinander ist ja 
allerdings nicht mehr so streng wie früher, kann aber noch bedeutend er¬ 
leichtert werden. Jungen und Mädchen sollen und müssen Gelegenheit zu 
natürlichem, ungezwungenem Verkehr haben, der ihnen die Gelegenheit bietet, 
sich gegenseitig in ihrer Eigenart kennen und schätzen zu lernen. Zweifellos 
hat unsere Turn- und Sportbewegung schon viel Gutes geleistet, auch die 
gemeinsamen Wanderungen oder Ski- und Bergtouren sind in ihrem er¬ 
zieherischen Einfluß durchaus nicht zu unterschätzen. Namentlich wenn d^r 
Junge Anleitung empfängt, in ritterlicher Weise sich seiner Pflicht als der 
körperlich Stärkere bewußt zu werden. Gemeinsam überstandene Schwierig¬ 
keiten, ja Gefahren, verbinden enger als jedes andere Band. Die Feste 
unserer freideutschen Jugend mit ihren künstlerischen und geschmackvollen 
Kleidern, ihren hübschen Gesängen und Tänzen, ihrer übersprudelnden natür¬ 
lichen Fröhlichkeit haben gezeigt, welche Kraft und Gesundheit in unserer 
Jugend steckt. Wie weit man in der Frage der Koeduktion gehen soll, 
das ist mit wenigen Worten schwer zu entscheiden. Jedenfalls sollten die 
pädagogischen Gründe, die Ungleichheit in der Entwicklung der beiden Ge¬ 
schlechter, die Verschiedenheit in den Erziehungsmethoden nicht zu gering 
eingeschätzt werden. 

Die Hauptsache bleibt, daß unsere männliche Jugend Achtung gewinnt vor 
dem körperlich gesunden und reinen und geistig wohlgeschulten Mädchen. 
Wieviel kann da auch schon im engen Familienkreis an wertvoller Arbeit 
geleistet werden? In keiner Weise darf der Einfluß der Schwester auf ihre 
Brüder unterschätzt werden. Hier im täglichen Verkehr miteinander, im Ge¬ 
nuß gemeinsamer Freude und im Ertragen gemeinsamer Schwierigkeiten und 
Leiden soll jenes Vertrauensverhältnis immer tiefere Wurzeln schlagen, aus 
dem dann das rechte Verständnis für das Wesen der Frau und ihre Auf¬ 
gaben erwächst. Ähnliche Wirkung vermag ein schönes Freundschafts- 


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Hans Loewe 


Verhältnis zu erzielen, in dem der heranwachsende Jüngling das Mädchen 
als mit zur Höhe strebende Gefährtin kennen lernt. Mit rücksichtsloser 
Schärfe ist die Jugend darauf aufmerksam zu machen, wie pietätlos 
Blüher über die Familie denkt. Sätze wie: „der Wille zur Familie ist die 
weiche, unheldische träge Stelle im Wesen“ oder „gezeugt worden zu sein 
ist nichts, wofür man jemandem zu danken hätte“ sind „Giftpillen“. Das 
Gleiche gilt von Blühers Einschätzung der Monogamie und seinen Aus¬ 
führungen über die zwei Frauentypen. 

Ganz besonders schädliche Wirkungen auch hinsichtlich des Eindringens 
der Blüherschen Idee bringt der Kampf gegen die Autorität, wie er für 
die moderne Jugend- und Schulbewegung charakteristisch ist. Damit 
kommen wir zum Gebiet der Schule. Wir fragen, welche Maßregeln können 
hier getroffen werden, um dem Einfluß Blühers und seiner Gesinnungs¬ 
genossen zu begegnen, um aufbauend zu wirken? 

Die Schule muß für die Kinder eine Stätte der Freude sein, niemals 
darf sie zu einer Stätte der Qual werden, wo in äußerlicher Weise Autorität 
durch Gewalt erzwungen wird. Welche Bedeutung dabei der Persönlichkeit 
des Lehrers zukommt, haben wir bereits gesehen. Innige Zusammenarbeit 
von Lehrern und Schülern, bei der die Wangen der Jugend sich röten und 
die Augen leuchten, schließt durchaus nicht hohe Anforderungen an die 
geistigen Fähigkeiten der Kinder aus. Kräfteentwicklung bedeutet immer 
zugleich Willensstärkung, aber freilich muß strengste Rücksicht darauf 
genommen werden, daß das Maß der Aufgaben an den einzelnen Tagen für 
die verschiedenen Fächer stets der Leistungsfähigkeit der Schüler angepaßt 
ist, denn nichts wirkt auf den Charakter der Jugend schädlicher, als die 
Nötigung, zu unredlichen Mitteln zu greifen, um allen Anforderungen genügen 
zu können. Übertrieben hochgeschraubte Forderungen zerstören die mora-' 
lische Feinfühligkeit und führen zur Gleichgültigkeit und zur Betrügerei. 
Daher muß der oberste Grundsatz bei der Aufstellung der Lehrpläne sein, 
sorgfältigste Beschränkung auf die Kräfte entwickelnden und hohe Bildungs¬ 
werte enthaltenden Fächer und stete Rücksichtnahme auf die Leistungs¬ 
fähigkeit der Jugend. Lehrer, die infolge mangelnder Erziehungsfähigkeiten 
ungünstig auf den Charakter der Jugend einwirken, sind unter allen Um¬ 
ständen sofort zu entfernen. 

Freude an der Arbeit setzt ferner Interesse und Erfolg voraus. Mit 
steigender Fähigkeit der Schüler muß sich die Möglichkeit zu erweitertem 
und vertieftem Studium bieten. Deshalb die Forderung: freiere Gestaltung 
der Lehrpläne auf den oberen Stufen der Schulen, damit die Jugend ihrer 
Neigung und Begabung entsprechend auf enger umgrenztem Gebiet mehr zu 
leisten vermag, Beseitigung allzu einengender Bestimmungen der Schulordnung, 
die in allen Fächern gleich hohe Anforderungen verlangt, größere Bewegungs¬ 
freiheit für den Lehrer in der Behandlung seines Stoffes. 

Unsere Schulstundenpläne leiden ferner durch die unglückselige Inein¬ 
anderschiebung der wissenschaftlichen Fächer und der Tum- und Spiel¬ 
stunden. Es müßte gänzlich ausgeschlossen sein, daß Turnstunden sogar 
am Anfang des Unterrichts liegen; denn es ist eine unbestreitbare Tatsache, 
daß es nach Turnstunden eine Qual ist, Unterricht zu erteilen — das gilt für 
die Jungen wie für die Lehrer. Einen einigermaßen normalen Zustand kann 
ich mir nur denken, wenn der gesamte wissenschaftliche Unterricht zusammen- 


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Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Inlektion bedrohten Jugend 429 


gelegt wird und die Turn- und Spielstunden an das Ende oder auf die freien 
Nachmittage verlegt werden. 

Mit diesen Betrachtungen kommen wir bereits zum letzten Punkt. Eine 
der allerbesten Vorbeiigungsmaßregeln gegen Verblüherung, Willensschwäche 
und sexuelle Verirrungen ist eine wirklich großzügig geleitete Körper¬ 
pflege, die gerade den in der Pubertätszeit befindlichen Jungen die 
Möglichkeit gibt, ihren Kraftüberschuß auf natürliche Weise auszunutzen. 
Baden, Turnen, Spielen, Wandern und Skilaufen muß dieses Programm 
enthalten. Dabei möchte ich besonders nur darauf hinweisen, daß die 
Schule um Gotteswillen nicht alles selbst machen soll. Hier gilt es, der 
Jugend ihr Recht einräumen, unter sich zu sein. Wir wollen ihr mit Rat 
und Tat helfen, aber sie nicht auf Schritt und Tritt überwachen. Daß die 
Jugend Wertvolles leisten kann, hat der Wandervogel gezeigt. Schon sehen 
wir in ihr Kräfte am Werk, die uns Gutes hoffen lassen, die uns zeigen, 
wie wir den in ihr schlummernden idealen Antrieben Richtung und Inhalt 
geben können. Ich meine den Jugendring; in den verschiedensten Städten 
Deutschlands hat sich die gesamte Jugend zusammengeschlossen zu auf¬ 
bauender Arbeit. Neben den Deutschnationalen sitzen einträchtig die kon¬ 
fessionell organisierten, die kommunistischen; nur eine fehlt hier in München, 
die Mehrheitssozialdemokratie. Ihre Vertreter waren voll Eifer bei der ersten 
Zusammenkunft dabei, als aus Berlin die Weisung kam, die Jugend der 
M. S. P. dürfe sich nur an Vereinigungen beteiligen, die den Klassenkampf 
fördern. 

Diese im Jugendring zusammengeschlossene Jugend hat sich eine doppelte 
Aufgabe gestellt: eine negative und eine positive. Was die negative 
betrifft, so soll der Kampf gegen Schmutz in Literatur und Kunst auf¬ 
genommen werden: daher suchen die Ringvertreter z. B. als Berater in. die 
Filmzensur einzutreten; gerade der hiesige Vertreter der kommunistischen 
Jugend führt den stärksten Kampf gegen das Kino in seiner zersetzenden 
Wirkung. Höher aber noch als die negative schätzen sie die auf bauen de 
Arbeit. Daher veranstalten diese Ringe Aufführungen von Märchen, Weih- 
nachtsspielen, singen mit den Kindern Volkslieder, eröffnen ihnen Einblicke 
in die wundervollen Schätze unserer Volksliteratur. Sie bekämpfen die 
häßlichen modernen Negertänze durch Pflege der alten volkstümlichen 
Reigen; Studenten und Studentinnen wandern auch in die Kinderhorte, 
Waisenanstalten, Verwahrlostenheime und erfreuen die Kinder durch ihre 
Vorführungen. 

Die Bedeutung dieser Bewegung liegt für uns Erzieher darin, daß uns 
hier die Anknüpfungspunkte gegeben sind, die beiden brennendsten Auf¬ 
gaben der Gegenwart lösen zu helfen: die soziale und die nationale. 
Wir stellen damit der ideal gerichteten Jugend, die, ihrer Kräfte bewußt, 
etwas Großes leisten will, Ziele, die sie mit Begeisterung erfüllen können, 
an deren Erreichung Jungen und Mädchen in gleicher Weise wetteifernd 
beteiligt sind, so daß sie gar keine Lust noch Zeit haben, Blüher nachzuspüren. 

Das deutsche Volk einig in allen seinen Schichten, tief verwurzelt im 
Heimatboden, treu pflegend das hohe Erbe, das ihm seine größten Söhne 
hinterlassen haben, — das deutsche Volk, sich seinen deutschen Staat 
schaffend, seine Weltmission erfüllend, — ein Ziel, wert, daß sich die beste 
deutsche Jugend daran versucht! 


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430 


A. SchwSrig 



Zwei Begabungsprüfungen. 

Von A. Schwärig. \ 

Die beiden Prüfungen, von denen im nachfolgenden berichtet werden soll, 
fanden kurz nach Ostern 1921 statt. Die erste in Dresden an der früheren 
Kadettenanstalt diente der Auslese 13—14 jähriger zum Zwecke der Auf¬ 
nahme in eine Aufbauschule; die zweite war nach Form und Inhalt der 
ersten gleich und wurde abgehalten am Lehrerseminar in Schneeberg zur 
Nachprüfung der Dresdner Erfahrungen und Ergebnisse. Die ehemalige 
Kadettenanstalt, die frühere Schule für zukünftige Offiziere, sollte vom Reiche 
in sächsische Verwaltung übergehen und in eine „sächsische Landesschule“ < 
umgeformt werden. Die großen und schönen Schul- und Internatsgebäude 
mit ihren weiten Garten- und Waldanlagen, am Rande der Dresdner Heide 
gelegen, waren wie geschaffen zu einer großen modernen Reformanstalt, die 
in sich vereinigen sollte: Oberrealschule, Realgymnasium und Begabtenschule. 
Staat und Gemeinden stellten eine Menge Freistellen und Stipendien zur Ver¬ 
fügung. Aufnahme in die Aufbauschule, die 6jährig gedacht war, sollten 
begabte Schüler der Volksschule finden, die diese 7 bzw. 8 Jahre besucht 
batten. Es war geplant, diese Aufbauklassen nach 3 jährigem Sonderunterricht 
einmünden zu lassen in die Obersekunda des Realgymnasiums und sie dann 
mit dieser gemeinsam weiter zu führen. Dieser Plan hat sich dann in der 
Praxis noch verschiedentlich verschoben. Es erhob sich nun die Frage: Wie 
soll die Aufnahmeprüfung bei so verschiedenartigem Schülermaterial gestaltet 
werden? (Die Knaben kamen aus allen möglichen Formen des reichgegliederten 
sächsischen Schulorganismus: von der einfachen Dorfschule, aus Stadtschulen— 

6 und 8klassig, mit und ohne fremdsprachlichen Unterricht usw.) Eine Kenntnfy- 
prüfung im alten Sinne, mit der man übrigens den mehr oder weniger reich* 
gegliederten Lehrplan der betreffenden Schule getroffen hätte, war einfach 
unmöglich. Man kam also auf eine Begabungsprüfung zu, wie sie in Berlir. 
und Hamburg schon zu wiederholten Malen und mit Erfolg abgehalten wordei 
war. Da ich gerade zur Teilnahme an der 8. Berliner Begabtenprüfung 
beurlaubt war, erhielt ich den Auftrag, eine Testserie für eine solche Prüfung 
zusammenzustellen. Herr Dr. Bobertag, Leiter der psychologischen Abteilung; 
des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, hat mich dabei tatkräftig 
unterstützt; ich möchte ihm hier noch für seine freundliche Mitarbeit meinen 
Dank aussprechen. Die Tests sind z. T. neu, z. T. sind sie entnommen d'em 
Berliner, Hamburger und Leipziger Material. Die Prüfung war zunächst 2 tägig 
gedacht, aus technischen Gründen und weil die Prüflinge das Resultat' am 
nächsten Tage bereits erfahren sollten, mußte sie auf den Vor- und Nach¬ 
mittag eines Tages zusammengedrängt werden; es hat sich dies als eine zu 
starke Belastung der Prüflinge herausgestellt, und ebenso konnte die Korrektor 
nur durch Heranziehung aller Kräfte des Lehrerkollegiums erledigt werden. 
Durch eine sorgfältige Instruktion über die einzelnen Tests, ihre Beurteilung 
und ihre Verwertung war für eine einheitliche Zensurierung Sorge getragen. 
Gewiß lassen sich gegen diese schnelle Entscheidung, die eine Nachprüfung 
ziemlich unmöglich machte, allerlei Bedenken erheben; zukünftig werden auch 
diese Mängel abgestellt werden, letzten Endes entscheidet ja doch der Erfolg, 
und darüber wird die Arbeit berichten. Es hatten sich zur Aufnahme un¬ 
gefähr 75 angemeldet, aufgenommen sollten 20—24 werden. Von der Leitung 


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Zwei Begabangsforschungen 


431 


der Schule war eine Vorauslese insofern getroffen worden, als man alle die¬ 
jenigen, die im Deutschen die Zensur 2 b und darunter hatten, zurückwies. 
£s blieben so noch 40 Prüflinge übrig. Sie brachten zur Prüfung mit das 
Zensurbucb, Aufsatzheft und einen vom Lehrer ausgefüllten Beobachtungs¬ 
bogen, der vom Dresdner Stadtschulrat Hartnacke verfaßt ist. Ich lasse hier 
die wichtigsten Punkte dieses Bogens folgen: 

1. Einfügung in die Schulordnung und äußeres Verhalten. 

2. Sittliches Verhalten. Liegen Beobachtungen vor, die auf Charaktermängel deuten? 

3. KlasBenplätze, möglichst der letzten 3 Jahre. Wenn eine Rangordnung nicht besteht, welchem 
Fünfte] gehört der Bewerber an, nach der nach bestem Ermessen geschätzten Rangordnung ? 

4. Bei ausgesprochen günstigem Stand der Leistungen: 

a) Ist dieser erreicht im wesentlichen durch Fleiß und Pflichterfüllung; 

b) oder durch natürliche Begabung in bezug auf Denkfähigkeit (Urteil-Kombination) — in 
bezug auf Gedächtnis; 

c) durch beides (a und b)? 

Wenn 4a bejaht wird: geht der Fleiß nach dem Urteil der Schule im wesentlichen auf 
Antriebe der Schüler selbst oder Antriebe der Schule zurück, oder ist er etwa das Er¬ 
gebnis starker Antriebe auf Seite des Elternhauses (Ehrgeiz der Eltern)? 

6. Wie stellt sich das Haus zu dem Streben des Schülers ein: fördernd, hemmend, verständ¬ 
nisvoll, gleichgültig? Hat er Hemmnisse zu überwinden? Insbesondere auch solche, die 
in der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Familie liegen? 

6. Bei nicht so ausgesprochen günstiger Leistung: Worin sieht die Schule Hemmungen der 
Leistung? 

a) Ist die Konzentration mangelhaft — öfter nacblassend — gelegentlich nachlassend? 

b) Fehlt es meist — oft — hier und da — am Fleiße? 

c) Liegen die Grenzen in der intellektuellen Begabung (sehr mäßige — mäßige — durch¬ 
schnittliche Begabung)? Liegen die Begabungsmängel vielleicht nur in besonderer 
Richtung? 

d) Wirken ungünstige häusliche Verhältnisse auf die Leistung ein ? (Wirtschaftliche Lage — 
ungünstige Arbeitsgelegenheit im Hause? — starke Inanspruchnahme durch häusliche 
Verrichtungen — gewerbliche Beschäftigungen — ungünstige Erziehungsverhältnisse.) 

e) Gehen die Interessen des Schülers vielleicht auf Dinge außerhalb der Schule? Welches 
sind solche Interessen ? 

f) Liegt ungünstiger Gesundheits- und Kräftezustand vor? 

g) Unterbrochener Schulbesuch? Aus welchem Anlaß? 

h) Schulwechsel? wann? woher? — etwaige sonstige Ungunstmomente? 

7. Handelt es sich um länger dauernde Minderleistung, oder ist anzunehmen, daß es sich um 
vorübergehendes Nachlassen handelt? 

8. Liegt die Veranlagung des Schülers vorzugsweise in reproduktiver Richtung oder handelt 
es sich um eine Veranlagung mehr spekulativer, schöpferischer, geistig produktiver Art? 

9. Liegen praktisch-technische — künstlerische Anlagen vor? welcher Art? welchen Grades? 
besondere Fähigkeiten, auf welchem Gebiete? 

10. Weiteres zur Charakteristik des Bewerbers. Besondere WesenszÜge: Ehrgeiz, Art sich zu 
geben (verschlossen, offen, gesellig) usw. Interessenrichtung. 

11. Letztes Zeugnis. 

12. Wie werden die Aussichten der künftigen Entwicklung beurteilt? 

Die Ausfüllung der Bogen war recht verschiedenartig und durchaus nicht 
gleichwertig. Während einige Lehrer ein durchaus brauchbares psychologisches 
Schülerbild mit reichen Beobachtungen aufstellten, hatten andre sich einfach 
geholfen durch Unterstreichen der etwa in Frage kommenden Ausdrücke im 
Beobachtungsbogen. Es fehlt im allgemeinen noch an der psychologischen 
Einstellung, und hier wäre meiner Meinung nach ein reiches Feld der Betätigung 
für den von Professor Stern befürworteten Schulpsychologen, der zunächst 
für einen größeren Kreis von Schulen zuständig sein mag und die Lehrerschaft 
in die Fragen der Schulpsychologie und Berufsberatung durch Vorträge und 



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432 


A. Schwang 


Arbeitsgemeinschaften einführen könnte. Jetzt, wo durch den Abbau der 
Seminare auch eine Menge psychologisch geschulter Kräfte frei werden, scheint 
mir der geeignetste Augenblick für die Verwirklichung dieses Planes zu sein. 
Natürlich müßte der Nachweis der Kenntnisse moderner Psychologie gefordert 
werden, aber vielleicht entschließt sich Prof*. Stern, Hamburg, seinen Lehrgang 
über pädagogische Psychologie für Lehrer aller Schulgattungen, die er dieses 
Wintersemester abhielt, baldigst zu wiederholen. Die Dresdner Erfahrungen 
lehren, daß unbedingt etwas getan werden muß, wenn der Anspruch der 
Lehrer, bei Auswahl der Begabten beteiligt zu sein, nicht bloß auf dem Papier 
stehen soll. Die Bogen wurden trotzdem zur Entscheidung herangezogen, 
wo nur irgend,möglich. Die Prüfung selbst dauerte von 7—11 Uhr mit einer 
Pause von 20 Minuten und nachm, von */a4—6 Uhr. Sie war natürlich infolge 
des Zusammendrängens auf einen Tag gleichzeitig eine Prüfung der Stärke 
des Arbeitswillens und der Konzentration und ergab schon hier interessante 
Beobachtungen. Anwesend bei der Prüfung waren außer dem Versuchsleiter 
noch 2—3 Herren vom Kollegium. Die Versuchszeiten wurden mit der Sekunden¬ 
uhr abgenommen. Quartblätter und Bleistift bildeten das Schreibmaterial 
Vor Beginn wurde darauf aufmerksam gemacht, daß es weniger auf tadellose 
Schrift und fehlerlose Niederschrift als auf gute Leistung ankomme. Um die 
Schüler an den Versuchsleiter zu gewöhnen und ihnen etwaige Examensangst 
zu nehmen, wurden ihnen erst folgende Fragen zur schriftlichen Beantwortung 
gestellt: 

I. Wie heifit du? Wann bist du geboren? Wo? Welche Schnle, welche Klasse hast da 
besucht? 

II. Welche Krankheiten hast du durchgemacht? 

III. Hast du Geschwister? Wieviel? 

IV. Welches ist dein Lieblingsfach in der Schule? Warum? 

V. Was machst du am liebsten außerhalb der Schule? Warum? 

VI. Welches Fach liebst du am wenigsten? Warum? 

VII. Was möchtest du gern werden? Warum? 

VIII. Was wollen deine Eltern aus dir machen? Warum? 

Als erstes wurde das Gedächtnis für sinnvolle Stoffe geprüft. Den Schülern 
wurden 3teilige Wortgruppen geboten, die in einem sinnvollen Zusammen¬ 
hänge stehen, z. B. Geburtstag-Geschenk-Freude; es solt damit das unmittel¬ 
bare Behalten geprüft werden. Den Zöglingen wurde gesagt: Ich werde 
euch jetzt 12 solcher Wortgruppen vorlesen; jede Gruppe besteht aus 3 Wörtern, 
die zusammengehören. Diese 3 Worte sollt ihr euch jetzt fest einprägen, 
so daß ihr sie dann aufschreiben könnt. Paßt auf! 


1. Treppe — Fehltritt — Beinbruch 
3. Fremde — Heimweh — Heimkehr 
5. Regen — Erkältung — Fieber 
7. Sturm — Schiffbruch — Rettung 
9. Schlacht — Niederlage — Flucht 
11. Erkenntnis — Reue -r- Besserung 


2. Schmerz — Ansteckung — Krankheit 
4. Obung — Fortschritt — Fertigkeit 
6. Unfall — Arbeitslosigkeit — Armut 
8. Glück — Reichtum — Hochmut 
10. Dürre — Futtermangel — Fleischnot 
12. Wohltat — Undank — Verdruß. 


Die Wörtergruppen werden langsam und deutlich vorgelesen, nach jeder 
Gruppe eine Pause von 5 Sekunden eingelegt; das Vorlesen der Gesamtreihe 
dauert 1 ‘/j—2 Minuten. Nach kurzer Pause erfolgt eine 2. Lesung. Un¬ 
willkürlich beginnen die Schüler mitzusprechen; es soll ihnen nicht verboten 
werden. Kamen bei dem ersten Male die Akustiker zu ihrem Rechte, so darf 
man die Motoriker nicht benachteiligen. Die Abnahme erfolgt nach der Treffer¬ 
methode. Der Versuchsleiter erklärt: „Ich sage euch jetzt immer das erste 


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Zwei Begabungsprüfungen 


433 


Wort einer Gruppe, und ihr sollt sofort das 2. und 3. Wort hinschreiben; das 
erste wird nicht mitgeschrieben. Also ich sage z. B. Geburtstag — und ihr 
schreibt hin: Geschenk — Freude. Wenn ihr nur noch ein Wort wißt, schreibt 
ihr eben nur das eine hin. ' Jede neue Wörtergruppe kommt auf eine neue 
Zeile." Die Abnahme erfolgt nicht in der Reihenfolge des Vorlesens; begonnen 
wurde mit einem konkreten Beispiel, weil die erfahrungsgemäß besser gemerkt 
werden wie die abstrakten und damit die Schüler nicht von vornherein ab¬ 
geschreckt wurden. Die Niederschrift einer Gruppe dauerte 20 Sekunden, und 
die ganze Reihe war in 5—6 Minuten beendet. Jede vollständig und in der 
richtigen Reihenfolge niedergeschriebene Gruppe wurde mit 2 Punkten, jedes 
einzelne Wort mit 1 Punkte gewertet; 2 richtige Wörter, aber Umstellung in 
der Reihenfolge, zählten Vji Punkt; höchstmögliche Punktzahl war also 24. 


Ein 2. Versuch sollte die Fähigkeit freien Kombinierens untersuchen; ver¬ 
langt wird vom Schüler möglichste Beweglichkeit und eine gewisse Geschwindig¬ 
keit im Herstellen von verschiedenen sinnvollen Geschichten aus 3 gegebenen 
Worten. Zur Einführung in die Aufgabe wurden folgende 3 Worte an die 
Wandtafel geschrieben: Spaziergänger — Sturm — Loch in Kopf, und die 
Kinder nun aufgefordert, möglichst viel voneinander verschiedene Geschichten 
zu erfinden. Besonders wichtig ist es, hier in der Instruktion schon das Wesen 
einer prinzipiell neuen Verbindung der Worte deutlich zu machen; es erscheinen 
sonst in den Lösungen oft nur unwesentliche und nebensächliche Abwand¬ 
lungen einer ersten Auffassung. Als nicht neu und vollgültig wurde es in 
unserm Beispiel angesehen, wenn ein Kind zuerst von einem Manne erzählt, 
dem ein Ziegel auf den Kopf fällt, und in der 2. Geschichte war dann eine 
Frau die Leidtragende; oder wenn anstatt eines Ziegels ein Stück Dachrinne 
dem Spaziergänger das geforderte Loch verursacht. Nach genauer Verdeut¬ 
lichung der Aufgabe wurden folgende 3 Wortgruppen zur Bearbeitung gegeben: 

1. Mensch — Schneesturm — treuer Hund 

2. Krieg — Kind — Unheil 

3. Regen — Kälte — zerbrochener Krug. 

30 Minuten waren als Arbeitszeit vorgesehen. Die Berechnung erfolgte 
dergestalt, daß das erste Beispiel mit 1 Punkte gewertet wurde, jedes folgende 
sinnvolle neue erhielt einen Punkt mehr, so daß z. B. ein Schüler mit 3 voll¬ 
gültigen Geschichten einer Gruppe 6 Punkte erlangte: (1. Beispiel 1 Punkt, 
2. Beispiel 2 Punkte, 3. Beispiel 3 = 6 Punkte). Es erschienen trotz der 
genauen Instruktion wieder nebeneinander Geschichten mit nur kleinen Ab¬ 
weichungen; sie wurden mit nur 1 Punkt bewertet. Der Unterschied in der 
Lösung dieser Tests war außerordentlich groß; besonders zeigte sich dies 
bei den 3 Worten: Krieg — Kind — Unheil. Der beste Knabe hat 9 Lösungen 
gefunden; es liegt dies wohl an der Vielseitigkeit des Wortes „Unheil“, das 
geradezu zu vielseitigen Kombinationen anreizt, bei Aufstellung neuer Tests 
dieser Variationsmethode muß besonders darauf Rücksicht genommen werden. 
Der Beste hatte 48 Punkte, der Schlechteste 9 Punkte erreicht. Die höchste 
Leistung wurde mit 100% bewertet und daraufhin die andern berechnet. 
Diese Art der Verrechnung habe ich bei allen Tests verwendet, so daß am 
Ende nur die Prozentzahlen zusammenzuzählen waren; es ergab sich so eine 
klare Abstufung in den Gesamtleistungen. 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 28 


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434 


A. Schwärig 


Beurteilung und Einfühlung in ein Bild, verbunden mit anschaulicher 
Kombinationsfähigkeit wurden geprüft am bekannten „Schneeballbild“ 
(Münchner Bilderbogen). Die Schüler sollten nach genauer Betrachtung die 
gemachten Beobachtungen und gefühlten Zusammenhänge unter folgenden 
3 Gesichtspunkten darstellen: 

1. Was hat sich bis jetzt auf dem Bilde zugetragen? 

2. Was mag jede Person in diesem Augenblicke denken? 

3. Was wird sie wohl nachher sagen? 

Um einen Maßstab für die Bewertung zu erlangen, waren schon im voraus 
auf dem Wege der Eichung die typischen Antworten gefunden; sie kehrten 
auch in der Prüfung wieder, besonders originelle Lösungen wurden mit einem 
Zusatzpunkte bedacht. Die Dauer des Versuchs war auf 30 Minuten berechnet. 

Analogien; 

Es handelt sich darum, zu 3 gegebenen Worten das 4. zu finden, das sich 
zum 3. so verhalten soll wie das 1. zum 2. An die Wandtafel wurden folgende 
3 Worte geschrieben: Ei — Schale, Buch —? Der Versuchsleiter bildete nun 
folgenden Satz: das Ei hat eine Schale, das Buch hat? Und fast alle haben 
bereits die Antwort gefunden: einen Deckel. Zur Vorsicht werden noch einige 
Beispiele gelöst. Dann werden im Abstande von je 1^2 Minuten folgende 
Aufgaben zur Lösung vorgelegt: 

Apfel — Schale, Hase — (Fell) 

Sturm — Ruhe, Krieg — (Frieden) 

Staat — König, Schule — (Direktor) 

Bekanntes — Unbekanntes, Gegenwart — (Zukunft) 

Mensch — Gehirn, Staat — (Regierung) 

Eis — Sonne, Trotz — (Güte) 

Bauer — Feld, Arzt — (Kranker) 

Jahr — Frühling, Mensch — (Jugend) 

Ohr — Telephon, Auge — (photographischer Apparat) 

Bild — Rahmen, Land — (Grenze). 

Die Lösungen, die am meisten gebracht wurden, stehen in Klammer. Jede 
treffende Antwort wurde mit 2 Punkten, jede angängige mit 1 Punkte be¬ 
wertet; auch hier zeigt sich wieder deutlich ein starker Unterschied in der 
Lösung von konkreten und abstrakten Aufgaben. 

Da die Schüler Aufnahme finden sollten in eine höhere Schule, diese aber 
vor allem stark sprachlich eingestellt ist, mußte auch die sprachliche bzw. 
fremdsprachliche Begabung untersucht werden. Das Erfassen fremdsprach¬ 
licher Stoffe und das Behalten dieser neuartigen Gesichts- und Lauteindrücke 
wurde untersucht mit 10 Deklinationsformen gotischer Substantive; es mußte 
zu so femliegendem Stoffe gegriffen werden, weil lateinische oder englisch¬ 
französische Elementarkenntnisse bei verschiedenen Schülern vorhanden waren 
und somit eine einheitliche Basis der Beurteilung gefehlt hätte. An der Wand¬ 
tafel wurden die Deklinationsformen der 4 Wörter: bloma - Blume, atta - Vater, 
gadaila - Teilnehmer und aha - Verstand entwickelt und eingeprägt. 3 Minuten 
waren zum Lernen freigegeben. Dann mußten die Schüler folgende Formen 
gotisch wiedergeben: 

Den Blumen, dem Teilnehmer, den Vätern, den Verstand, die Blumen, des 
Vaters, den Teilnehmern, der Blumen, des Verstandes, die Väter. 


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Zwei Begabungeprüfungen 


435 


Qrammatisch-logisches Verständnis für deutsche Sprachstoffe wurde an den 
4 Arten des Genitivs untersucht: z. B. Tür des Hauses: partitiver Gen. Herr 
des Hauses: possessiver Gen. Emst des Lebens: subjektiver Gen. Pflege 
des Gartens: objektiver Gen. Nachdem den Prüflingen klar gemacht worden 
war, worum es sich handele, wurden ihnen 10 Genitive zur Bestimmung nach 
den 4 Arten vorgelegt. 

Den Wortreichtum und die Verwendungsbereitschaft der richtigen Aus¬ 
drücke sollten die Umformungen erweisen. Die Einführungsfrage lautete: 
Wie kann man den Satz: „Gestern ist sein Großvater gestorben“, noch anders 
ausdrücken. Folgende 3 Sätze wurden dann zur Umformung vorgelegt: 

1. Am nächsten Morgen ging ich in die Stadt. 

2. Er konnte den Freund nicht retten. 

3. Es ist Sache des Arztes, dem Kranken zu helfen. 

Die Bearbeitung dieser Tests nahm infolge der langen Einführungszeit 
besonders beim 1. Test 75 Minuten in Anspruch. Die Bewertung war ein¬ 
fach; beim gotischen Test galt jedes richtig gelöste Beispiel (Stamm und 
Endung — 2 Punkte, nur Stamm oder nur Endung = 1 Punkt), beim Genitiv 
zählte jede richtige Einordnung 1 Punkt, ebenso wurde bei den Umformungen 
jeder neue Ausdruck mit 1 Punkte bewertet. 

Die gebundene sprachliche Kombination wurde untersucht an der Hand 
des bekannten Ebbinghaustests. In einem zusammenhängenden Text sind 
Worte ausgelassen; die so entstandenen Lücken soll die Versuchsperson wieder 
ausfüllen und somit den Faden der Erzählung wieder herstellen. Der Versuch 
dauerte 20 Minuten. Jede richtig ausgefüllte Lücke erhielt 2 Punkte, jede 
angängige Lösung 1 Punkt; jede falsche oder fehlende wurde mit 0 bewertet. 

Wirre Gedanken: 

Dieser Test ist entstanden aus einem andern, den die Leipziger Psychologen 
Mosaiktest nennen; ein Beispiel soll es erläutern: 

bei nicht schlechtem Wetter statt der Ausflug findet 

Der Versuchsleiter erzählt: ein kleiner Junge nahm aus seinem Lesekasten 
eine Menge Wörter und stellte sie nebeneinander; da kam heraus, was ihr 
jetzt an der Wandtafel seht und doch ist’s ein richtiger Satz 1 Wie heißt er? 
Nun habe ich hier eine ganze Geschichte; da sind aber die Sätze durch¬ 
einander geraten, die sollt ihr nun ordnen, daß sie einen guten Zusammen¬ 
hang ergeben. Ihr schreibt nur jedesmal den Anfang des Satzes auf euer 
Blatt. Man prüft auch hier Kombinationsfähigkeit am gegebenen Stoff und 
das Auffinden logischer Zusammenhänge zwischen den einzelnen Sätzen. 
Benutzt wurde der vom Leipziger Institut herausgegebene Test: „Der Hirt“. 
Er besteht aus 11 durcheinander geratenen Sätzen; 10 Beziehungen sind also 
festzustellen, jede gefundene wird mit 1 Punkte bewertet. Freilich stellte 
sich bei der Durchsicht heraus, daß der Test für diese Altersstufe zu leicht 
war und keine Begabungsunterschiede erkennen ließ; hier fehlen uns noch 
gute, für ältere Jahrgänge brauchbare Tests. In 7 Minuten hatten alle die 
Arbeit beendet, auch diejenigen, die keine völlig richtige Lösung gefunden 
hatten. 

Zur Prüfung der Konzentration und der Dauerspannung der Aufmerksamkeit 
benützte man meist den Bourdontest, der darin besteht, daß man z. B. in 
einem Text alle a, e und n durchstreichen läßt. Das Auge stellt sich aber 
sehr bald auf die geforderten Buchstabenbilder ein, und so prüft man meiner 

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436 


A. Schwang 


Ansicht nach mehr optische Fähigkeiten. Um die Konzentration besser zu 
treffen, wurden von Frl. Dr. Baumgarten Versuche mit einem neuen Test 
angestellt, der auch in der Dresdner Prüfung verwandt wurde: auf einem 
Blatt befinden sich 20 Linien von je 30 einstelligen Zahlen; die Versuchs¬ 
personen erhielten nun den Auftrag, zu jeder 4. Zahl 3 zuzuzählen, von jeder 
7. Zahl 2 abzuziehen; an der Wandtafel wurde es an einem Beispiel erläutert; 
das Resultat mußte über die betreffende Zahl geschrieben werden. Worin 
besteht nun die Leistung der Kinder? Sie müssen dauernd im Blickpunkte 
der Aufmerksamkeit folgende vielseitige Aufgabe erhalten: 1. ich soll abzählen 
und zwar erst 4 Zahlen, dann 7 Zahlen u. s. f., 2. dann soll ich addieren 
und zwar zu jeder 4. Zahl 3, und 3. dann soll ich subtrahieren und zwar 
von jeder 7. Zahl 2, und dann muß ich 4. das Resultat darüberschreiben. 
Es wurden die durchgerechneten Zeilen gewertet mit je 2 Pkten., für einen 
Fehler wurde eine halbe Zeile abgezogen, z. B. 14 Zeilen, 2 Fehler = 13 Pkte. 
Interessant waren auch die Fehler: a) entweder verrechnet sich der Schüler 
beim Abzählen der Gruppe oder b) die eben abgezählte Gruppe beharrt im 
Bewußtsein, und es werden mehrere Gruppen der gleichen Art, z. B. Vierer- 
Gruppen abgezählt, oder c) es werden die das Ende einer Zeile bildenden 
Zahlen vergessen und auf der neuen Zeile mit dem Abzählen neu begonnen; 
es wird Addieren und Subtrahieren verwechselt, es wird das Vorzeichen 
der Zahlen verwechselt, anstatt + 3 — 3, — 2 + 2 gerechnet. Der Test ist 
auch für höhere Altersstufen gut brauchbar, da er sich außerordentlich va¬ 
riieren läßt. Er bietet vor allem eine klare Einsicht in die Arbeitsweise und 
das Arbeitstempo der Versuchspersonen, und man kann leicht folgende 
Typen der Arbeitenden unterscheiden: 

1. den guten und schnellen Arbeiter, 

2. den schnellen, aber schlechten Arbeiter, 

3. den langsamen, aber guten Arbeiter, 

4. den langsamen und schlechten Arbeiter. 

Für die Beurteilung, ob einer geeignet ist oder nicht für die Aufnahme 
in eine höhere Schule, durchaus wichtige Erkenntnisse. 

Die Klarheit und Schärfe der Begriffe und der Begriffsbildung, das scharfe 
logische Vergleichen wurde an folgenden Begriffspaaren geprüft, die den 
Versuchspersonen mit der Aufforderung vorgelegt wurden: 

„Erkläre mir, was ist: 

1. Ein Kind und ein Zwerg, 

2. ein Ofen und ein Herd, 

3. Irrtum und Lüge, 

4. Standhaftigkeit und Starrsinn, 

5. klug und schlau.“ 

Zur Verfügung standen 15 Minuten Arbeitszeit 

Die nächste Aufgabe bestand in der Lösung zweier Ordnungstests mehr¬ 
dimensionaler Art. 6 verschiedene Vierecke wurden an die Tafel angeheftet 
und waren nach selbstzufindenden Gesichtspunkten zu ordnen, z. B. nach 
Größe, Farbe, Regelmäßigkeit, Stärke des schwarzen Randes, Entfernung eines 
Punktes vom Mittelpunkt, Anzahl der von diesem Punkte ausgehenden Ecklinien. 

Ein 2. ähnlicher Test brachte eine Erschwerung insofern, als hier jedesmal 
2 Gruppen von Figuren zu bilden waren; es sollte geschieden werden in 1. kleine 


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Zwei Begabungsprüfungen 


437 


und große, 2 . farbige und farblose, 3. regelmäßige und unregelmäßige, 
4. offene und geschlossene, 5. geradlinige und krummlinige. Zur bequemem 
Benennung waren die Figuren mit Buchstaben versehen, so daß nur diese 
bei der Lösung hinzuschreiben waren. Für jeden Ordnungsgesichtspunkt 
mit richtig erfolgter Einordnung wurden 4 Punkte gegeben. Die Tests er¬ 
gaben eine starke Differenzierung und erschienen außerordentlich geeignet 
zur Prüfung für 13—14jährige Begabte. Was prüfen diese Aufgaben? Zu¬ 
nächst die Fähigkeit, eine gegebene Masse zu differenzieren, in ihr einen 
gemeinsamen Ordnungsgesichtspunkt zu entdecken, die Kraft, alle die Einzel¬ 
erscheinungen unter das gefundene Ordnungsprinzip zu subsumieren und 
so wieder aus den einzelnen Teilen ein wohlgeordnetes Ganzes aufzubauen. 

Da die Prüflinge ausgelesen werden sollten für eine Oberrealschule, mußte 
natürlich auch Wert gelegt werden auf Untersuchung der mathematischen 
Fähigkeiten. Auch hier konnte es sich natürlich nicht um die Rechenauf¬ 
gaben alten Stils handeln mit ihren Riesenzahlen und unmöglichsten Ope¬ 
rationen. Die Schnelligkeit, mit einfachsten Aufgaben fertig zu werden, wurde 

QR . O Q A 

geprüft an folgenden Aufgaben: 117 " 2 3 ’ '* Steides ist je 1 Minute 

lang fortzusetzen. Schwieriger gestaltete sich schon das Erkennen des einer 
Zahlenreihe zugrunde liegenden Prinzips, von der nur 3 Glieder gegeben 
sind, die Reihe ist nach rechts und links zu ergänzen und das Prinzip der 
Reihenbildung möglichst klar in Worten wiederzugeben. 

12 17 23 

Beispiele: gj ^ 36 * * Beim 2. Beispiele fanden einige Knaben 

eine doppelte Lösung*. 

Die räumlich mathematische Anschauung suchte ich zu treffen in Kon¬ 
struktionsaufgaben: aus 2 , 4, 8 Dreiecken §/) ein Quadrat zu bilden; aus 
2 Quadraten und 2 Rechtecken, die in ihrer Größe der Formel a 2 -f- 2ab 4 - b J = c 2 
entsprechen, soll ein neues Quadrat zusammengesetzt werden. 

Aus einem Rhombus, der durch Diagonalen zerlegt ist, sind alle Teilfiguren 
herauszuzeichnen und es soll bestimmt werden, in welcher Anzahl sie Vor¬ 
kommen. Die ersten zwei der bekannten Rybakowschen Figuren sollen durch 
eine Gerade so zerlegt werden, daß aus den Teilstücken Quadrate zusammen¬ 
gesetzt werden können. 

Der letzte, darum aber nicht minder wichtige Test prüfte die Beobachtungs¬ 
fähigkeit der Schüler. Durch folgende Instruktion wurden sie auf die Auf¬ 
gabe vorbereitet: Es werden jetzt 2 Herren ins Zimmer treten, seht euch 
die Personen recht genau an und beobachtet genau, was sich hier abspielen 
wird von dem Augenblicke, wo es klopft, bis zu dem Augenblicke, wo die 
Herren das Zimmer verlassen. Durch 12 Fragen wurde dann festgestellt, 
inwieweit sie die Vorgänge und Personen beobachtet hatten. Ein interessantes 
Schlaglicht auf die Psychologie der Aussage warf die Frage 2 : Hatte der 
Herr (es war der Rektor, mit dem die Schüler schon dauernd in Verbindung 
getreten waren) eine Brille oder einen Klemmer, und prompt antworteten 
50 0/0 Klemmer (falsch). 

Damit war die Prüfung beendet; die zahlreichen Tests wurden nun in 
10 Gruppen geordnet: 

1 . Logisches und sprachliches Gedächtnis, 

2. Freie Kombination, 


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438 


A. Schwärig 


3. Gebundene Kombination: Ebbinghaus und wirre Gedanken, 

4. Analogien und Unterschiedsfragen, 

5. Umformungen und Genetive 

6. Beurteilung und Einfühlung (Bild), 

7. Beobachtung am natürlichen Vorgang, 

8. Ordnungstests, 

9. Konzentration, 

10. Mathematisches. 

Oa die höchst erreichte Punktzahl in jeder Testgruppe mit 100 °/ 0 gewertet 
wurde, waren theoretisch 1000 Punkte zu erreichen, der beste kam auf 800 
Punkte, der schlechteste auf 381 Punkte, es zeigte sich also eine starke 
Differenzierung, der Durchschnitt betrug 570. Nachstehende Kurve gibt 

einen Überblick über den Schwie¬ 
rigkeitsgrad der einzelnen Test- 
gruppen. 

Es wurden nun zunächst 
20 Schüler zur Aufnahme aus¬ 
gewählt, die auf Grund der Test¬ 
prüfung und eines einwand¬ 
freien Beobachtungsbogens die 
sichersten Vorbedingungen für 
ein Fortkommen in der höheren 
Schule zu geben schienen; dann 
nahm man noch 4 weitere hin- 
zu, darunter 2 ausgesprochene 
Zweifelsfälle; der 23. und 24. 
hatten in der Testprüfung nur 
Rangplatz 27 bzw. 29 erreicht; 
im Beobachtungsbogen fanden 
sich bei beiden die Bemer¬ 
kungen: ängstlich und ver¬ 
schüchtert bei neuer Umgebung, 
Prüfungsangst usw. 

Die Schüler wurden nach 
ihrer Gesamtpunktzahl in eine 
Rangreihe geordnet. Die Berechnung der Korrelation der Einzeltests zu dieser 
Rangreihe zeitigte folgende Ergebnisse: 


Rangreihe: Gedächtnis 

q — 0,61 

„ freie Kombination 

q = 0,85 

„ gebundene Kombination 

e = 0,71 

„ Analogie und Unterschied 

Q — 0,62 

„ Umformungen und Genetive 

q = 0,62 

„ Einfühlung und Beobachtung 

q — 0,68 

„ Ordnungstests 

q = 0,63 

„ Konzentration 

e = 0,38 

„ Mathematischer Test 

q — • 0,25 

„ Beobachtung 

q = 0,56 


Mit Ausnahme des Konzentrations- und Mathematischen Tests zeigen alle 
Aufgaben eine durchaus brauchbare Korrelation zur Gesamtbegabung. Im 



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Zwei BegabungsprOfungen 


439 


Falle «Konzentration* hat schon Dr. Baumgarten darauf hingewiesen, daß 
dieser Test vielleicht mehr als die eigentliche Begabung die Arbeitsweise des 
Geprüften trifft und uns zeige, ob der Schüler ein schneller und guter, schneller 
und oberflächlicher, langsamer und guter, langsamer und schlechter Arbeiter 
sei: Erkenntnisse, die für den Lehrer der höheren Schule unbedingt wichtig 
sind. Aus diesem Grunde möchte ich auch diesen Test nicht ohne besseres 
wieder ausgeschieden wissen. Daß die mathematische Begabung als Sonder¬ 
begabung bzw. Talent nicht unbedingt mit der Allgemeinbildung korrelieren 
muß, ist eine Erkenntnis, die man auch schon früher in der alten Schule 
intuitiv erfaßt halte und die nun auch die Psychologie experimentell er¬ 
härtet hat Trotzdem sind auch die mathematischen Tests m. E. nach bei¬ 
zubehalten, da wir für die höhere Schule auswäblen, und diese mit Ausnahme 
des Gymnasiums einen starken Ton auf mathematische Fähigkeiten legt 
Wie haben sich die so Ausgewählten bewährt? Nach s /4 Jahren, Weih¬ 
nachten 1921 holte ich den Bescheid darüber ein: Rektor und Lehrer dieser 
Aufbauklasse gaben ein außerordentlich günstiges Urteil über diese Schüler 
ab, hervorragend sei Lebendigkeit und Mitarbeit in dieser Klasse, versagt 
habe keiner, schwach sind N (= 22 */s Rangplatz nach der Tpstprüfung) und 
der sehr junge Z (=■= 22 ‘/2 Pt), hoffnungslos infolge Kränklichkeit nur 
K = 19 Va PL und der sehr faule W (21. Rg. PL) Der Vergleich der Schul¬ 
platzreihe, die Weihnachten auf Grund 3 A jähriger Schulleistungen aufge¬ 
stellt wurde, und der durch die Testprüfung gefundenen Rangreihe ergibt 
die hohe Korrelation von 0,68. Es zeigt sich also eine klare und eindeutige 
Übereinstimmung zwischen Lehrerurteil und Begabungsprüfung. Nur Kr., 
der in der Testprüfung den 1. Rangplatz erhalten hatte, schien die auf ihn 
gesetzten Hoffnungen nicht ganz zu erfüllen: er erhielt nur den 7. Platz auf 
der Schulleistungsreihe. Und doch klärte sich auch diese Diskrepanz: Kr. war 
14 ‘/i Jahre alt, 9 Monate älter als der Durchschnitt, mußte daher auch 
mehr Punkte erreichen als jüngere und wäre demnach schon nicht als Erster 
in Frage gekommen; die genaue Einbeziehung des Alters in die Bewertung 
ist leider bei der Testprüfung infolge Zeitmangels unterblieben, darf aber 
bei genauer Berechnung nicht übersehen werden. — Soweit die Dresdener 
Prüfung, die als ein gelungener Versuch einer Begabungsprüfung anzusehen 
ist. Es erhoben sich aber noch einige Fragen, die Antwort heischten: Wie 
werden andere Schüler auf eine solche Prüfung reagieren? Ergeben sich 
bei gleichem Schülermaterial und gleichem Alter die gleichen Ergebnisse? 
Wird sich bei größerem Alter der Prüflinge ein Fortschritt im Gesamtdurch¬ 
schnitt ergeben und wie groß ist er? 

, Zur Klärung dieser Fragen habe ich die Prüfung in der gleichen Form kurz 
vor Pfingsten 1921 in den drei untersten Klassen (Septima, Sexta, Quinta) 
des Lehrerseminars in Schneeberg wiederholt. Die Zahl der Geprüften be¬ 
trug: Kl. VH: 15; Klasse VI: 16; Kl. V: 15; das Durchschnittsalter von 
Kl. VH war 13 Jhr., 7 Mon. und entsprach dem der Dresdner Prüflinge; die 
Schüler der VI. Kl. waren durchschnittlich 14 Jahr, 6 Mon. alt. Der Alters¬ 
unterschied von Klasse zu Klasse betrug demnach 1 Jahr. 599 Punkte 
wurden als Gesamtdurchschnitt in Kl. VII erreicht; die Durchschnittszahl in 
Kl. VI (14 6 Jahr) war um 80 Punkte, die der V. Kl. (15 6 ) um abermals 
82 Punkte höher als die VI. Kl. Es ergibt sich also ein klarer eindeutiger 
Alterefortschritt in der Lösungshäufigkeit der Tests. Daraus folgt aber auch 


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440 


A. Schwang 


die Notwendigkeit, überalterte Schüler z. B. B. und M., die mit 15 6 Jahren 
in Kl. VII saßen, bei der Aufstellung der Rangreihe dieser Klasse auszu¬ 
scheiden; sie wären sonst mit ihrer hohen Punktzahl, die aber nicht ihrer 
Begabung, sondern eben ihrem hohen Alter entsprach, an die ersten Stellen 
der Klassenrangreihe gerückt; bei Einreihung aber unter ihre Altersgenossen 
in Klasse V ergab sich, daß sie ihrer Begabung nach in das letzte Klassen¬ 
drittel gehörten. Dieser Befund stimmte bei B. mit dem Lehrerurteil über¬ 
ein; B. machte Kl. VQ zum 2. Male durch. Hier klärt sich nun auch 
der erwähnte Dresdener Fall auf: Kr. erreichte infolge seines höheren 
Alters (9 Monate älter als der Durchschnitt) die hohe Punktzahl, die nicht 

allein seiner Begabung ent¬ 
sprach, daher auch das schein¬ 
bare Zurückgehen in den Leis¬ 
tungen (7. Schulplatz); bei ge¬ 
nauer Einbeziehung des Alters 
hätte er schon in der Test¬ 
prüfung nur Rangplatz 3 erhalten. 
Einen Vergleich der in der Dres¬ 
dener und Schneeberger Prüfung 
erreichten Durchschnittszahlen 
der einzelnen Testgruppen soll 
nebenstehende Tabelle veran¬ 
schaulichen. 

Das Begabungsniveau ist un¬ 
gefähr das gleiche, die geringe 
Verschiebung, die sich scheinbar 
zugunsten der Schneeberger 
VII. Klasse ergibt, erklärt sich 
daraus, daß diese erst auf Grund 
einer Aufnahmeprüfung in das 
Seminar ausgewählt worden 
waren, während bei den Dres¬ 
denern diese Auswahl erst durch 
die Prüfung stattfand. Begabte und Unbegabte noch nicht getrennt waren. 

Um nun noch festzustellen, inwieweit das Ergebnis der Testprüfung über¬ 
einstimme mit dem Lehrerurteil über die Geprüften, ließ ich von all den 
Herren, die in Kl. VI und V unterrichten, Intelligenzschätzungen vor¬ 
nehmen. Die Schüler waren den Unterrichtenden seit 1 bzw. 2 Jahren bekannt; 
jeder sollte nun für sich eine Rangreihe aufstellen, die, so wurde nochmals 
betont — losgelöst sein sollte von der sonst üblichen und vorherrschenden 
Einschätzung der Schüler nach dem äußeren Leistungserfolg und nur die 
Fähigkeiten treffen sollte, die die Leistungen erst ermöglichten. Das war 
in unserem Falle besonders schwierig, weil ja in der höheren Schule das 
Fachlehrersystem herrscht, jeder Lehrer seine Schüler nur einseitig in einem 
bestimmten Fache kennen lernt. So liegt nun die Gefahr vor, daß er die in 
seinem Fach hervortretende Leistungsfähigkeit verwechselt mit allgemeiner 
Intelligenz. Es ergaben sich denn auch in einem ersten Versuche ziemliche 
Diskrepanzen zwischen den Schätzungsreihen einzelner Lehrer, z. B. nahm 
Schüler S. einmal den ersten, auf einer anderen Schätzungsreihe den 12. 



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Zwei Begabungspriif ungen 


441 


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Rg.-Pl. unter 16 Schülern ein. Bei nochmaliger Überprüfung der Reihen, 
bei der nur geistige Reife, Selbständigkeit und Anpassungsfähigkeit an neue 
Forderungen die Kriterien bildeten, zeigten sich einheitlichere Resultate, ohne 
daß die Lehrer bei der Aufstellung der Reihen in Verbindung miteinander 
getreten wären und so eine etwaige gegenseitige Beeinflussung das Resultat 
getrübt hätte. So entstand dann aus 7 Einzelrangreihen der Kl. VI eine 
kombinierte Gesamtrangreihe. Ein 
Vergleich dieser mit der Rangreihe 
der Testprüfung ergab die hohe 
Korrelation von 0,75. In Klasse V — 
die Schüler waren also schon 2 Jahre 
den Lehrern bekannt — schätzten 
6 Herren; die kombinierte Schät¬ 
zungsreihe wies mit der Prüfungs¬ 
rangreihe eine Korrelation von 
0,78 auf. 

Die Tafel zeigt die Kurven des 
Bestbegabten (1) und des Wenigst- 
begabten (2) der Dresdener und 
Schneeberger Prüfung. 

Die Ergebnisse beider Prüfungen, 

Dresden und Schneeberg sind kurz 
folgende: Die durch die Intelligenz¬ 
prüfung ausgewählte Sexta der Lan¬ 
desschule wird nach 3 ji jähriger Be¬ 
währungsfrist durch das allgemeine 
Lehrerurteil als durchaus gut be¬ 
zeichnet. 

Ein zahlenmäßiger Vergleich von 
Testergebnis und Sch ulplatz ergibt 
die Korrelationszahl 0,68. 

, In Schneeberg zeigt ein Vergleich 
von Testprüfung und Lehrerurteil einen Korrelationswert von 0,75 bzw. 0,78. 

Aus alledem geht hervor, daß die Intelligenzprüfung, wie sie zuerst im 
großen Wurfe in Berlin und Hamburg versucht und dann in jahrelanger 
systematischer Arbeit fortgebildet wurde, nach ihrem heutigen Stand durch¬ 
aus in der Lage ist, eine brauchbare Grundlage für die Differenzierung der 
Begabungen abzugeben. 

Literatur. 



1. W. Stern: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlieben. 3. Aufl., Leipzig 1920, A. Barth. — 
W. Stern: Untersuchungen über die Intelligenzprüfung von Kindern und Jugendlichen. Ham¬ 
burger Arbeiten zur Begabtenforschung II. Leipzig, Barth. — W. Stern: Das psychologisch- 
pädagogische Verfahren der Begabtenauslese. Leipzig 1918, Quelle & Meyer. 

2. Peter u. Stern: Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. Bericht über das 
psycholog Verfahren. Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung I. Leipzig, Barth, 2. Aufl. 1921. 

3. Stern u. Wiegmann: Methodensammlung zur Intelligenzprüfung. Hamburger Arbeiten 
zur Begabtenforschung Nr. 3. Barth, Leipzig, 2. Aufl. 1921. 

4. Bob er tag, O.: Über Intelligenzprüfung nach der Methode Binet-Simon. Leipzig 1914, J. A. Barth. 
6. Moede-Piorkowski, Wolf: Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organisation und die 

Methoden der Schülerauswahl. 2. Aufl., Langensalza 1918, Berger & Söhne. 

6. Veröffentlichungen des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger 
Lehrervereins. IX. Bd., Leipzig 1920, Dürr. 


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442 


Gustav Rose 


Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- 
und Rechenunterricht. 

Von Gustav Rose. 

Wie in jedem andern Unterricht, so neigte man früher auch im Mathematik¬ 
unterricht dazu, das Gedächtnis mehr als jede andere Geistesfunktion in Anspruch 
zu nehmen. Man ließ nicht selten lange Beweise, die oft über die kindliche 
Fassungskraft hinausgingen, auswendig lernen. Wenn ein solches Unterrichts¬ 
verfahren auch nicht zu billigen ist, so ist es doch immerhin verständlich. 
Denn: Jede Arbeit ist eingestellt auf Erfolg. Lehrer, Schüler und Aufsichts¬ 
beamte wollten den Fortschritt der Arbeit sehen. Wo aber ist dieser leichter 
festzustellen als bei dem gedächtnismäßig angeeigneten, leicht feststellbaren 
und meßbaren Wissensstoff? Man denke z. B. an die mehr oder weniger 
wortgetreue Wiederholung eines mathematischen Beweises oder an das Wurzel¬ 
ausziehen, das nach diesem Schema schon oft erfolgt ist. 

Neuerdings neigt man vereinzelt im Mathematikunterricht zu einer Unter¬ 
schätzung des Gedächtnisses. Man hält die anderen Geistesfunktionen für 
vornehmer und glaubt aus, diesem Grunde das Gedächtnis vernachlässigen 
zu dürfen. Dieselbe Anschauung findet man auch im öffentlichen Leben 
nicht selten vertreten. Gelegentlich hört man sogar, daß sich jemand seines 
schlechten Gedächtnisses rühmt.. Dieselbe Person würde es aber mit Ent¬ 
rüstung zurückweisen, wenn man sie auf ihre vielleicht mangelhafte Denk¬ 
fähigkeit hinweisen würde. 

Gegen beide einseitigen Anschauungen muß entschieden Front gemacht 
werden, und zwar werde ich zuerst die Unrichtigkeit der zweiten Ansicht 
zu zeigen versuchen, um alBdann vor einer allzu starken Überschätzung des 
Gedächtnisses im Mathematikunterricht zu warnen. 

1. Bei jeder Gedächtnisleistung (z. B. Erlernung eines Lehrsatzes) kann man 
eine materiale (d. i. der Lehrsatz) und eine formale Seite (d. i. die dabei 
wirksame Geisteskraft, das Gedächtnis) unterscheiden. Beide Teilfaktoren 
machen die Gedächtnisleistungen unbedingt erforderlich. « 

Im Mathematikunterricht kann man wiederum zwei Arten der materialen 
Gedächtnisleistungen unterscheiden, nämlich einmal das Wissen und außerdem 
die Fertigkeiten. Zum Wissen rechnet man die gedächtnismäßig angeeigneten 
mathematischen Lehrsätze, die sogenannten „geometrischen Örter“, die Kenntnis ' 
gewisser Rechenoperationen, z. B. die Regel, welche Auskunft gibt über die 
Division zweier Brüche usw. Dem gegenüber hat man z. B. das Lösen der 
planimetrischen Konstruktionsaufgaben und die bekannten arithmetischen und 
Rechenfertigkeiten (z. B. Addition von Brüchen) zu den Fertigkeiten zu zählen. 

An den angesetzten Gleichungen mit zwei Unbekannten möchte ich zeigen, 
wie die Fertigkeiten im Mathematikunterricht zustande kommen können. 
Anfänglich treten beim Lösen dieser Gleichungen höhere Geistesfunktionen 
in Kraft, insbesondere das Denken und die aktive Phantasie. Man führt die 
neuen Aufgaben auf etwas Bekanntes zurück, in diesem Falle auf die Gleichungen 
mit einer Unbekannten. Die Phantasie führt uns verschiedene Möglichkeiten 
der Lösung vor Augen, die vom kritischen Denken auf ihren Wert hin ge¬ 
prüft werden, bis man sich vielleicht zum Additionsverfahren entschließt. 
Im Laufe der Übung schalten die höheren geistigen Funktionen immer mehr 


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Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- und Rechenunterricht 


443 


aus. Die aktuelle Betätigung beim häufigen Lösen hinterläßt Dispositionen, 
so daß man gedächtnismäßig weiß, was man der Reihe nach zu tun hat. Die 
ursprüngliche Denkarbeit ist zu einer geistigen Fertigkeit geworden. Diese 
Überführung in Fertigkeiten muß durch häufige Übung in der Mathematik 
unbedingt vollzogen werden. Bei diesen mechanisierten Leistungen tritt 
nämlich der Wille immer mehr zurück, so daß bei ihnen der Aufwand an 
geistiger Kraft bedeutend geringer ist. Trotz alledem büßen sie gegenüber 
den Denkleistungen, aus denen sie hervorgegangen sind, nichts an Voll¬ 
kommenheit ein. Obige Betrachtungen über die Entstehung der mathema¬ 
tischen Fertigkeiten zeigen zugleich, daß es neben diesen vollwertigen mathe¬ 
matischen Fertigkeiten auch Fertigkeiten geben kann, bei denen die oben 
besprochenen inneren Denkvorgänge von vornherein übersprungen sind. 
Ganz besonders der Rechenunterricht früherer Jahrhunderte wies Fertigkeiten 
auf, die von Anfang an mechanisch waren. Diese Fertigkeiten sind durch 
bloßen äußeren Drill im Schüler entstanden. Wenn man gelegentlich gering¬ 
schätzig von den mathematischen Fertigkeiten spricht, so kann sich diese 
Minderbewertung nur gegen die zweite Art von Fertigkeiten richten. 

Ich gehe kurz ein auf die unterscheidenden kennzeichnenden Merkmale 
des Wissens und der Fertigkeiten. Während sich das Wissen, sowohl was 
die Aneignung als auch was die Reproduktion betrifft, durch seine Passivität 
auszeichnet, zeigen die Fertigkeiten das Gefühl ausgesprochener Aktivität. 
Es wird deutlich, wenn man das Hersagen eines mathematischen Lehrsatzes 
oder eines gedächtnismäßig angeeigneten Beweises vergleicht mit dem Lösen 
einer angesetzten oder eingekleideten Gleichung. Dieselben Beispiele lassen 
auch erkennen, daß das Wissen oder die Kenntnisse ein starres Gefüge zeigen, 
während die mathematischen und Rechenfertigkeiten in einer lockeren und 
veränderlichen Verbindung von Vorstellungen bestehen. Die im Mathematik¬ 
unterricht erforderlichen manuellen Fertigkeiten, nämlich Zeichnen und 
Schreiben, bilden eine entsprechende Verbindung von Bewegungen und Vor¬ 
stellungen. Man kann die Kenntnisse vergleichen mit einer Kette, bei der 
man nur auf einem Wege und nur unter Benutzung eines jeden Kettengliedes 
vom Anfang bis zum Ende kommen kann. Entsprechend gleichen die arith¬ 
metischen und geometrischen Fertigkeiten einem Spinnengewebe, bei welchem 
zwei Glieder mannigfach verbunden sind. 

Der Übungserfolg, der zurückzuführen ist auf den Assoziationsmechanismus, 
macht sich bei den Kenntnissen kaum geltend; das Hersagen eines mathe¬ 
matischen Lehrsatzes erfolgt bei gesteigerter Wiederholungszahl kaum schneller. 
Dem gegenüber werden die Fertigkeiten durch die Übung in auffallender 
Weise günstig beeinflußt. So löst der Schüler die Gleichungen mit fort¬ 
laufender Übung immer besser und schneller. Und ähnlich wie die turne¬ 
rischen Fertigkeiten bei häufiger Wiederholung immer anmutiger werden, 
werden auch die mathematischen Fertigkeiten durch die gesteigerte Übung 
immer anmutiger und eleganter, d. h. man kommt ohne Umwege zum ge¬ 
wünschten Ziel. 

Auch die methodische Behandlung ist bei den Kenntnissen und Fertigkeiten 
verschieden. Im allgemeinen zeigt sich nämlich, daß bei Übermittlung von 
Kenntnissen der Einzelbehandlung eine Darbietung des Ganzen voraufgeht, 
während man bei den Fertigkeiten meistens umgekehrt verfährt. Man denke 
z. B. an eine turnerische Übung. 


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444 


Gustav Rose 


Wenn ich schließlich diese beiden Gedächtniswirkungen vergleichend 
bewerte, so möchte ich auch für den Mathematikunterricht Pestalozzi recht 
geben, wenn er sagt: „Es ist vielleicht das schrecklichste Geschenk, das ein 
feindlicher Genius unserm Zeitalter machte: Kenntnisse ohne Fertigkeiten.“ 
Entsprechend möchte ich dem Wort des englischen Philosophen Bacon: 
„Wissen ist Macht“ in der umgeprägten Form: „Können ist Macht“ die größere 
Bedeutung beilegen. 

Sowohl die Kenntnisse wie auch die Fertigkeiten müssen im Mathematik¬ 
unterricht unbedingt gepflegt werden und zwar einmal um ihrer selbst willen. 
Von jedem müssen wir verlangen, daß er imstande ist, wenigstens einfache 
mathematische Berechnungen auszuführen, ich denke z. B. an die Inhalts¬ 
berechnung des Kreises. Daß rechnerische Fertigkeiten im Leben unbedingt 
erforderlich sind, wird wohl von keinem bestritten werden. Darüber hinaus 
dienen die mathematischen Kenntnisse und Fertigkeiten aber auch als Mittel 
zum Zweck. Nur der Schüler ist imstande, dem Mathematikunterricht zu 
folgen, neue Begriffe zu erfassen und sie denkend zu verarbeiten, welcher 
über den nötigen mathematischen Wissensstoff verfügt. Ein Beispiel aus dem 
Rechenunterricht möge die Richtigkeit dieser Behauptung zeigen. Ein Schüler 
ist nur dann imstande, die Addition von Brüchen zu erfassen, wenn er u. a. 
folgende Denkstützpunkte aus dem früheren Unterricht vermittels seiner Ge¬ 
dächtniskraft festgehalten hat: Zerlegung in Primfaktoren, Aufsuchen des 
kleinsten gemeinschaftlichen Vielfachen, Brüche gleichnamig machen. Mit 
anderen Worten: die höheren Geistesfunktionen (Denken und Phantasie) sind 
ohnmächtig, wenn ihnen keine Bausteine d. h. keine Kenntnisse zur Ver¬ 
fügung stehen. 

Aber auch das Gedächtnis selbst erfährt wiederum innerhalb gewisser 
Grenzen durch die Mehrung des Wissensstoffs eine Förderung. Isolierte Vor¬ 
stellungen gehen im Laufe der Zeit verloren. Ein Festhalten mit Hilfe des 
Gedächtnisses ist nur dann möglich, wenn man jede neue Vorstellung (z. B. 
die Winkelsumme eines Vierecks) mit einer bekannten Vorstellung (Winkel¬ 
summe eines Dreiecks) apperzeptiv verknüpft. In ähnlicher Weise wird das 
Einprägen botanischer Namen dadurch bedeutend erleichtert, wenn man schon 
andere Namen kennt. 

Diese Abhängigkeit vom Wissensstoff, der selbstverständlich denkend er¬ 
faßt sein muß, zeigt sich in keinem andern Unterrichtsfach deutlicher als in 
Mathematik. Kein Unterricht i^t derart an Voraussetzungen gebunden, wie 
gerade die Mathematik. Die Erdkunde Asiens verstehe ich, auch wenn mir 
Afrika völlig unbekannt ist; hingegen bleibt mir die denkende Erfassung der 
Gleichungen mit zwei Unbekannten ohne Kenntnis der Gleichung mit einer 
Unbekannten versagt. Ebenso wird es einem Schüler unmöglich sein, die 
gemeinschaftlichen Tangenten an zwei Kreise zu legen, wenn er nicht die 
entsprechende Aufgabe bei einem Kreise beherrscht. Aus dieser Tatsache 
erklärt es sich auch, daß man so viele Schüler mathematisch für völlig un¬ 
begabt hält. Die Behauptung selbst, daß die betreffenden Schüler außerstande 
sind, dem mathematischen Unterricht zu folgen, stimmt. Diese Unfähigkeit 
ist jedoch häufig nicht auf einen Mangel irgendwelcher geistigen Funktionen 
(z. B. des Denkens) zurückzuführen. Es würde auch irrig sein, für die Er¬ 
fassung der Mathematik eine besondere geistige Funktion vorauszusetzen, 
sondern die unterrichtliche Praxis zeigt deutlich, daß in der Mehrzahl der 


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Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- und Rechenunterricht 


445 


Fälle diese mangelhafte Begabung für Mathematik zurückzuführen ist auf 
mangelhafte Kenntnisse l ). Aus diesen Erwägungen heraus ist auch die Forderung 
von Lietzmann 2 ) zu verstehen: „Gerade der Anfangsunterricht in Mathematik 
gehört in die Hand eines psychologisch feinfühligen Methodikers“. 

Ein erfolgreicher Mathematikunterricht ist jedoch nicht nur abhängig vom 
Gedächtnisstoff. Auch die Kraft des Gedächtnisses selbst bedarf in diesem 
Unterricht dringend der Pflege, d. h. die Gedächtnisleistungen müssen nach 
ihrer zeit- wie auch nach ihrer kraftökonomischen Seite hin gesteigert werden. 

Denn jeder Unterricht hat nicht nur Wissen und Fertigkeiten zu über¬ 
mitteln, sondern er muß gleichzeitig der formalen Bildung dienen, d. h. er 
muß sich die Schulung aller Geisteskräfte angelegen sein lassen. Ebenso 
wie unsere körperliche Nahrung zwei Bedürfnisse befriedigen muß, nämlich 
die augenblickliche Stillung des Hungers und därüber hinaus die Ansammlung 
von Kräften für später, so muß auch unsere geistige Nahrung einem doppelten 
Zwecke dienen. Sie muß einmal Kenntnisse und Fertigkeiten übermitteln 
(Stillung unseres Wissensdurstes) und gleichzeitig, wie oben gesagt, formal¬ 
bildend sein (Kraftentwicklung). Wie bedeutungsvoll gerade das letzte Ziel 
ganz besonders für den Mathematikunterricht ist, erhellt aus folgender Be¬ 
trachtung: Prüfen wir einen gebildeten Erwachsenen', der jahrelang mit bestem 
Erfolg Mathematikunterricht genossen hat. Er „weiß“ nichts mehr, d. h. die 
erworbenen mathematischen Kenntnisse und Fertigkeiten sind fast ganz ver¬ 
loren gegangen, zum mindesten sind sie nicht mehr reproduktionsfähig. 
Zurückgeblieben ist fast nur noch die durch den Unterricht gesteigerte Kraft 
der Geistesfunktionen. 

Und unter diesen Geisteskräften steht, wie allgemein, so auch im Mathe¬ 
matikunterricht das Gedächtnis seinem Werte nach nicht an letzter Stelle. 
Ich weise nur hin auf die Bedeutung des unmittelbaren Behaltens für das 
Kopfrechnen. Jeder Schüler versagt beim Kopfrechnen, desgleichen in der 
Kopfarithmetik und Kopfgeometrie, wenn er nicht imstande ist, die Zahlen 
und was es sonst immer sein mag, in seinem Bewußtsein festzuhalten. Ein 
Wort — ich glaube es stammt von Napoleon I. — beleuchtet uns dieses: 
„Ein Mann ohne Gedächtnis ist wie eine Festung ohne Soldaten.“ Daß ein 
Bedürfnis nach einer Gedächtniskultur vorhanden ist, zeigt die weite Ver¬ 
breitung der Abhandlungen von Poehlmann, Hans Gloy usw. über Gedächt¬ 
nisschulung. Dabei ist die Schule aus verschiedenen Gründen weit besser 
geeignet, diese Aufgabe zu übernehmen. * 

An dieser Stelle weise ich nur hin auf eine Bedingung, die erfüllt werden 
muß, wenn man daran denkt, das Gedächtnis der Schüler zu steigern — 
und es ist steigerungsfähig. 

Die Übung ist in starkem Maße abhängig vom Willen des Schülers. Des¬ 
halb muß man den Schüler anregen, daß er nicht nur bestrebt ist, sich gewisse 
Kenntnisse (z. B. mathematische Formeln) anzueignen, sondern daß er da¬ 
neben auch sein Augenmerk richtet auf die Steigerung seiner Gedächtniskraft. 
Neben praktischen Anweisungen wird man ihm mitteilen, daß das Gedächtnis 
zu üben ist. Zahlenmäßige Angaben über die Übungsfähigkeit des Gedächt¬ 
nisses macht Meumann (Ökonomie und Technik des Gedächtnisses, 4. Aufl., 


! ) cf. Katz f Psychologie und mathematischer Unterricht, S. 60. 

2 ) Lietzmann, Methodik des mathematischen Unterrichts, 1. Teil. 


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446 


Gustav Rose 


S. 264). Der Wille wiederum kann durch nichts besser angefeuert werden 
als durch Erweckung des Erfolgsgefflhles. Man muß dem Schüler zeigen, 
wie er vorangekommen ist. Bei der Aneignung von Kenntnissen und Fertig¬ 
keiten (s. o.) ist es am leichtesten möglich. Zu Beginn einer jeden Unter¬ 
richtsstunde öffnet man dem Schüler durch die Zielstellung die Augen für 
das, was erforscht werden soll. Ebenso sollte man aber auch am Ende dieser 
Stunde nach Erklimmen des Berges die Blicke der Schüler rückwärts richten, 
damit sie sehen, was sie geleistet haben. Demselben Zwecke können nach 
Beendigung des Tertials die Zeugnisse dienen. 

Schwieriger gelingt es, dem Schüler zu zeigen, wie seine Geisteskraft, in 
unserem Falle: wie seine Gedächtniskraft gestiegen ist, und zwar liegt es in 
der Hauptsache daran, daß es wie jedes organische Wachsen nicht sprunghaft, 
sondern nur allmählich erfolgt. Aber auch nach dieser Richtung hin ist eine 
Erweckung des Erfolgsgefühls möglich. Auf dem Gebiete des Gedächtnisses 
gelingt es nach meiner Erfahrung sehr leicht beim unmittelbaren Gedächtnis, 
das im Kopfrechnen stark in Anspruch genommen wird. Bevor eine solche 
Schulung des unmittelbaren Behaltene einsetzt, lasse ich eine Selbstprüfung 
vorausgehen, die nur einige Minuten erfordert Indem ich gleichzeitig prak¬ 
tische Anweisung für das Behalten gebe, zeige ich den Schülern von Zeit 
zu Zeit, wie ihre Merkfähigkeit wächst. Am besten würde es natürlich sein, 
wenn man den Schülern zahlenmäßig die Zunahme ihrer Gedächtniskraft 
zeigen würde. 

2. Während wir bisher hauptsächlich vor einer Unterschätzung des 
Gedächtnisstoffes und der Gedächtniskraft warnen wollten, möchte ich 
jetzt auf die Gefahren einer allzu starken Betonung des Gedächtnisses hin- 
weisen. Die verlangten Kenntnisse sollte man gerade in der Mathematik auf 
das Allemotwendigste beschränken, soweit sie nämlich erforderlich sind als 
spätere Apperzeptionsstützen, wenn nicht außerdem praktische Gründe be¬ 
stimmend sind. Ich trete ganz der Ansicht von Lietzmann 1 ) bei, der sagt: 
„Ich würde gar nichts dagegen haben, wenn man ihm (dem Schüler) ge* 
statten würde, einzelne Formeln, bei denen auch der praktische Mathematiker 
gern zur Formeltabelle greift, aus einer geschriebenen oder gedruckten (hek- 
tographierten) Zusammenstellung zu entnehmen. Diese Formalkenntnis ist 
wirklich für die Leistungsprüfung manchmal ohne Belang; ein Fehlgriff aber 
erschwert die Lösung der Aufgabe, oder macht sie gar unmöglich.“ Legt 
man allzu großen Wert auf Kenntnisse, so erzieht man Treibhauspflanzen, 
die zwar unter den künstlichen Bedingungen des Unterrichts günstige Erfolge 
aufweisen können, die aber versagen, wenn sie im Leben auf eigne Füße 
gestellt werden. Frachtet man den Schülern zu viel Ballast, d. h. Gedächtnis¬ 
stoff, auf, so sinkt — um in diesem Bilde zu bleiben — entweder das Schiff, 
oder sie müssen den Ballast über Bord werfen, d. h. vergessen, wobei der 
letztere Fall noch der günstigere ist. 

Bei aller Achtung, die ich oben dem Gedächtnis entgegengebracht habe, 
darf dasselbe jedoch nicht zum Tyrann werden. Es hat — ohne daß ich 
damit ein bewertendes Urteil aussprechen will — die Rolle eines Handlangers 
zu übernehmen, während den anderen Geistesfunktionen die mehr bauende 
Tätigkeit zukommt Z. B. muß bei einer planimetrischen Konstruktionsaufgabe 

’) Lietzmann, Methodik des mathematischen Unterrichts, l.Teil, S. 177. 


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Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- und Rechenunterricht 


447 


die Phantasie die vom Gedächtnis herbeigeschleppten Steine, d. h. Vor¬ 
stellungen, zusammenfügen. Dem Denken kommt dann die weitere Aufgabe 
zu, die so entstandenen Gebilde auf ihre Richtigkeit und Brauchbarkeit hin 
zu prüfen. 

So viel psychologisches Verständnis sollte nun jeder Lehrer besitzen, daß 
er imstande ist, Gedächtnisleistungen von Denkleistungen (dieses Wort im 
weiteren Sinne gefaßt) zu unterscheiden. In keinem anderen Fach ist eine 
solche Scheidung leichter möglich als gerade in der Mathematik. Allerdings 
kommt es auch in diesem Fache vor, daß — ich fasse die negative Seite 
ins Auge — mangelhaftes Wissen mangelhafte Begabung für Mathematik 
vortäuscht (s. o.). Ebenso, wenn auch nicht so oft, kommt in unserm Fach 
der umgekehrte Fall vor, bei dem ein gesteigerter Besitz mathematischer 
Kenntnisse und Fertigkeiten erhöhte Begabung für Mathematik vortäuscht. 
Am leichtesten unterläuft uns dieser Irrtum im Rechenunterricht, weniger 
leicht im arithmetischen und noch weniger im geometrischen Unterricht 
Dieses liegt daran, daß die Fertigkeiten, die ja in der Hauptsache Gedächt¬ 
niswirkungen sind, im Rechenunterricht eine große Rolle spielen, während 
sie in Arithmetik und Geometrie immer mehr zurücktreten. Diese Tatsache 
zeigt sich schon äußerlich im Lehr- bzw. Übungsbuch. Während ein und 
dieselbe Materie im Rechen- und Arithmetikbuch mehrere Seiten in Anspruch 
nimmt, wechselt der Stoff im Geometriebuch oft mehrfach auf einer Seite. 

Daß uns, wie oben gesagt, das Gedächtnis im Unterricht Intelligenz vor¬ 
getäuscht hat, erkennen wir oft daran, daß ein Schüler, der im Rechnen 
Gutes leistet^, gelegentlich versagt, wenn der Mathematikunterricht einsetzt. 

Gelegentlich kommt es auch vor, daß das Gedächtnis Denkleistungen ent¬ 
gegenwirkt. Als Beleg zitiere ich folgenden Fall aus meinen Unterrichts¬ 
skizzen, die ich nach den einzelnen Unterrichtsstunden schriftlich niederlege: 
Ein Parallelogramm sollte in ein Rechteck verwandelt werden. Die Inhalts¬ 
gleichheit von Rechteck und Parallelogramm sollte durch die Kongruenz des „ab¬ 
geschnittenen“ und „zugefügten“ Dreiecks bewiesen werden. Diese Kongruenz 
war bewiesen, und nun folgerte die Schülerin weiter: „In kongruenten Drei¬ 
ecken sind homöloge Stücke einander gleich.“ Man erkennt deutlich die 
störende Wirkung früherer Assoziationen, die gestiftet winden, wenn es sich 
darum handelte, vermittels der Kongruenz die Gleichheit zweier Seiten bzw. 
Winkel nachzuweisen. 

Diese Warnung vor allzu starker Betonung des Gedächtnisses bezieht sich 
nicht nur auf den mündlichen Unterricht, sie gilt auch für die sogenannten 
schriftlichen Klassenarbeiten, welche vom Lehrer verbessert und beurteilt 
werden. Im allgemeinen findet man, daß in ihnen fast einzig und allein 
Gedächtnisleistungen verlangt werden; z. B. Wiederholung von eingeprägten 
Beweisen und Fertigkeiten, Auflösung von angesetzten Gleichungen nach 
einem oft geübten Schema. Man sollte jedoch auch durch die Klassen¬ 
arbeiten Auskunft über die anderen psychischen Funktionen zu gewinnen 
versuchen, d. h. die Klassenarbeiten in Zweck und Form den psychologischen 
Intelligenkprüfungen anpassen. Wenn ich diese Forderung auch nicht kon¬ 
sequent durchführe, so pflege ich doch i. a. bei jeder Arbeit drei Arten von 
Aufgaben zu stellen. In einer Aufgabe prüfe ich das Wissen und damit 
gleichzeitig den Fleiß, denn Wissen und Fleiß sind stark von einander ab¬ 
hängig. Ferner gab ich eine sogenannte Fertigkeitsaufgabe, z. B. eine mathe- 


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448 Gustav Rose, Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- u. Rechenunterricht 


matische Konstruktionsaufgabe, die Lösung einer Gleichung usw. Auch bei 
dieser Aufgabe wird in der Hauptsache das Gedächtnis ins Spiel gesetzt, 
vorausgesetzt, daß sie genügend im Unterricht geübt sind. Daneben spielen 
aber auch andere geistige Funktionen eine Rolle. Diese Art von Aufgaben 
wird bei den Klassenarbeiten meistens vordringlich. Bei einer dritten Auf¬ 
gabe suche ich die übrigen geistigen Funktionen und, wenn eben möglich, 
isoliert zu untersuchen, so daß, wie gesagt, diese Aufgabe den Intelligenz¬ 
prüfungen ähnelt. Ich möchte aber nicht behaupten, daß ich dieses Ziel 
restlos erreiche oder auch erreichen will, weil ja diese Aufgabe zugleich 
mathematischen Übungswert besitzen soll. Zur Erläuterung füge ich zwei 
Beispiele aus meinen Unterrichtsskizzen an. Eine Aufgabe lautete: „Falte 
ein Blatt um eine zuvor gezeichnete Gerade, durchstich es alsdann mit einer 
Nadel und verbinde die so entstandenen Punkte mit zwei oder mehr Punkten, 
die du auf der ersten Geraden beliebig allgenommen hast. Gib die Merk¬ 
male der so entstandenen Figur an.“ Man erkennt in dieser Aufgabe ohne 
weiteres einen Appell an die Beobachtungsfähigkeit. Eine andere Aufgabe, 
bei der der Abstraktionsprozeß, wenn auch nicht die einzige, so doch eine 
Hauptrolle spielte, lautete: „Gib die Beziehungen an, die bestehen zwischen 
einer zweistelligen Zahl (z. B. 37), ihrer Umkehrung (73) und dem Unterschied 
der beiden Zahlen (73 — 37 = 36). Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß 
diese Art von Aufgaben im Unterricht nicht geübt waren, sonst wäre es 
nicht eine allgemeine Intelligenz-, sondern eine Gedächtnisprobe gewesen. 


Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht 

Von Max Trümper-Bödemann. 

Meine Erfahrung hat mich gelehrt, daß die Farbe 1 ) im Leben unserer 
Schwachsinnigen vieles, wenn nicht alles bedeutet. Map bedenke nur das 
eine: Wie gering sind die Ausdrucks- und Verständigungsmöglichkeiten 
unserer Kinder! Sprachlich und körperlich siud viele gehemmt. Meine 
Arbeiten in unserer Aufnahme- und Beobachtungsstation ergaben, daß z. B. 
bei rund */3 der Neuaufnahmen eine reine Intellig.-Prfg. nach Binet-Simon 
nicht möglich ist wegen des Unvermögens der Kinder, sich sprachlich aus¬ 
zudrücken, und daß 2/3 der Aufnahmen nur ein Int. Alter bis 5 Jahre haben. 
Dazu sind die weitaus meisten Kinder technisch äußerst tiefstehend. Und 
doch gärt und braust es oft auch in der kleinen Brust und drängt nach 
außen zur Betätigung. Ich bin oft erstaunt und erschüttert, welch reges 
und reiches Innenleben manche unserer Kinder führen, eben jene Kinder, 
die äußerlich stumpf, häßlich und teilnahmlos erscheinen, denen aber das 
Schicksal nur die Mittel versagte, sich auszuwirken und auszugeben. Und 
dies Mittel gebe ich den Kindern in die Hand — auch den tiefststehenden 
meiner Station: Es sind Papier und Buntstift! Und mir geht wie oft das 

') Ein Zufall will es, daß ich zu eben der Zeit, da meines Amtsgenossen Wittigs 
Aufsatz — Visueller Moralunterricht, Zeitschr. f. d. Beh. Schwache., Mai 1922 — erscheint, 
eine Arbeit beende, die sich in ähnlichen Gedankengängen bewegt. Und wenn ich sie der 
Öffentlichkeit übergebe, will ich nicht nur weitere Kreise zur Mitarbeit anregen, ich möchte 
auch meinem Kollegen W. ein Sekundant sein, der da befürchtet, daß seine Vorschläge als 
z. T. zu neuartig, ungeprüft beiseite geschoben würden. 


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Max Trümper-Bödemann, Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht 449 


Herz auf, wenn ich die kleinen, oft wirren Werke betrachte, welche die 
Kinder schufen, nur .aus sich heraus, völlig unbeeinflußt, rein expres¬ 
sionistisch, im vollen Vertrauen auf ihre Kunst und stolz auf das Ge¬ 
schaffene. — Die Erkenntnis vom Werte solcher „Freier Kinderzeichnungen“ 
ist leider noch nicht Allgemeingut. Stiehler sagt u. a. darüber in seinem 
«Neuland“: Sie bietet der experimentellen Pädagogik ein frisches, wenig 
bebautes Feld der Betätigung — und ähnlich schreibt auch Stern, indem er 
darauf hinweist, daß man die „Freie Kinderzeichnung“ mehr als bisher, 
nicht rein als Fach, pflegen solle, denn sie lasse tiefe Blicke in das Seelen¬ 
leben der Kinder tun. — Ich habe z. Z. eine Ausstellung solcher Kinder¬ 
zeichnungen veranstaltet und die Arbeiten nach verschiedenen Grundsätzen 
gruppiert 1 )- — Der allgemeine Eindruck, auch des flüchtigen Beobachters, 
ist der, daß das schwachsinnige Kind ein direktes Bedürfnis hat, sich in 
dieser Form auszugeben und auszudrücken — es wühlt förmlich in Farben. 
Und die dominierende Farbe ist Rot. Sie drängt sich jedem Beschauer, der 
vor einer Wand voll solcher Arbeiten steht, ohne weiteres auf. Nun ist Rot 
die Farbe, welche von hysterischen und leicht erregbaren Menschen bevor¬ 
zugt wird, während Schwachsinnige meist nichts weniger als empfindsam 
erscheinen. Und doch bin ich überzeugt, daß auch das geistig tiefstehende 
Kind in dem Augenblicke, da es, vielleicht' zum ersten Male in seinem Leben, 
sich durch Farben ausdrücken darf, sich in einem Zustande hoher innerer 
Erregung befindet. Man bedenke: Dieses arme Wesen hat bisher ein Leben 
geführt ohne eine andere Möglichkeit, als vielleicht durch Schreien seinem 
inneren Erregungszustände Luft zu.machen. Da gibt ihm jemand Kreide 
und Papier in die Hand, und im Augenblicke hat es begriffen: Jetzt darfst 
du dich auf andere, neue Art äußern. Und es arbeitet, und die kleine arme 
Seele zittert. Und so konnte es geschehen, daß Kinder beide Seiten ihres 
Bogens rot bemalten, um dann ermattet und erleichtert, seelisch wieder im 
Gleichgewicht, die Arbeit beiseite zu legen. Das sollte uns zu denken 
geben! — Eine große Zahl anderer Kinder gefällt sich darin, bunte Farb- 
klexe nebeneinander zu setzen, gewissermaßen die Farben ausprobierend, 
die sie zum ersten Male frei gebrauchen dürfen. Diese farbenfrohen Naturen 
bevorzugen ebenfalls Rot, und an ihnen erkennen wir den reinen Ausdrucks¬ 
wert der Farbe, losgelöst vom Gegenständlichen. — Andere Arbeiten sind 
nichts weiter als ein Gewirr bunter Linien. Nichts wäre verkehrter, als 
solche Arbeiten als wertlos abzutun. Der erfahrene Blick wird vielmehr 
finden, daß solch tolles Farbgewirr ein Abbild geistiger Verworrenheit und 
Unklarheit ist. Über die psychologische Auswertung „Freier Kinderzeich¬ 
nungen“ zu sprechen, ist zwar äußerst interessant, überschreitet aber den 
Rahmen unserer Aufgabe. Die technische Seite der „Kinderzeichnung“ hat 
nur sekundäre Bedeutung. Ich kann von einem Kinde, das noch nie den 
Stift führte, kein technisches Können erwarten. Der erfahrene Beschauer 
wird in solchen Arbeiten vielmehr nur Ausdrucksformen und Äußerungen 
inneren Erlebens erblicken. Und so besitze ich auch eine große Anzahl 


f ) Es sei an dieser Stelle an eine einzigartige Sammlung erinnert, die die psych. Klinik der 
Universität Heidelberg unter Prof. Wilmann zusammengestellt bat. Es sind künstlerische Arbeiten 
Geisteskranker, und gewiß ließen sich interessante Parallelen ziehen zwischen diesen und denen 
meiner Kinder, denn auch meine Kinderzeichnungen berühren z. T., wenn auch elementar und 
kindertümlich, das große Grenzgebiet zwischen Genie und Wahnsinn. 


Zeitschrift t pädagog. Psychologie. 

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Max Trümper-Bödemann 


„Gemälde* technisch begabter, aber geistig tiefstehender Kinder, die ich als 
expressionistische Arbeiten im künstlerischen Sinne anspreche und die neben 
dem Kunstwert einen hohen psychologischen Wert haben. Bei diesen Kindern 
ist im allgemeinen die Spanne zwischen Lebens- und Intelligenzalter nicht 
so groß wie bei den obengenannten. Sie arbeiten durchgängig bereits 
figürlich ohne Rücksicht auf Tiefe, beherrschen die Technik, sind aber zu¬ 
meist noch Typenzeichner (Kasten, Kaulquappe u. a.). Sie zucken mit keiner 
Wimper, wenn sie einen Baum rot malen oder einem Manne ein grünes 
Gesicht geben — sie sehen es eben, oder richtiger, sie empfinden es iro 
Augenblicke so. Für sie ist Farbe weder Licht noch Stoff — sie ist eine 
Empfindung! — Es sind glückliche Künstler, die sich nicht an Modelle oder 
Vorlagen zu halten brauchen, die nicht ängstlich bemüht sein müssen, ihrem 
Bilde die gleichen Töne zu verleihen wie dem Modell. Sie sind glücklich, 
weil sie sich ausgeben dürfen, ohne eine Kritik fürchten zu müssen. Und 
das ist eine Hauptsache für das Gelingen einer freien Kinderzeichnung 
überhaupt: Man beurteile sie mit Liebe und mache den Kindern, wenn es 
nötig sein sollte, Mut; denn nur ein Kind, welches Vertrauen zum Lehrer 
hat, enthüllt sein Innerstes mit Farbe und Stift. Solch Tun ist feines Pflänz¬ 
chen — ein scheeler Blick, ein unbedachtes Wort können alles verderben. 
Aber warum auch wäre das je nötig? Geben die Kinder uns doch das 
Beste, was sie haben, so gut, wie es ihnen nur möglich ist. 

In diesem Zusammenhänge muß auch das Kapitel der Lieblingsfarben 
berührt werden. Nach dem schon oben Gesagten muß im allgemeinen Rot 
als bevorzugte Farbe gelten, wenn auch mit Einschränkungen! Kann man 
es aber als Lieblingsfarbe ohne weiteres ansprechen oder ist es nur Ausdruck 
einer ersten, tiefen Erregung? Dr. Anna Martin schreibt hierzu: Eine 
Lieblingsfarbe der Kinder in dem Sinne, daß eine einzelne Farbe allgemein 
und konstant bevorzugt würde, gibt es nicht. — Diesem Urteil kann ich 
mich, soweit es tiefstehende Kinder betrifft, nicht anschließen. An der Hand 
von Tausenden von Kinderzeichnungen und im Laufe vieler Jahre habe ich 
festgestellt, daß tiefstehende Kinder Rot bevorzugen und am liebsten ver¬ 
wenden. Mit steigendem Intelligenzalter aber und durch schulische Beein¬ 
flussung und häusliche Erziehung gewinnen sie Freude auch an anderen 
Farben. In dieser Richtung habe ich Kinder durch Jahre beobachtet und 
verfolgt und gefunden, daß sich mancher Expressionist zum Realisten wandelte. 
An den Schülerarbeiten unserer geistig höher entwickelten Kinder kann ich 
auch bei freier Farbengebung eine Bevorzugung von Rot nicht feststellen. — 
Ich besitze nur zwei Arbeiten, in denen Kinder beide Bogenseiten blau 
bzw. grün bemalt haben. — Um exakte Ergebnisse in der Frage der bevor¬ 
zugten Farben zu gewinnen, habe ich den Weg des Experimentes beschritten. 
Für Nuancen von Blau über Grün bis Gelb haben Schwachsinnige kein 
Empfinden. Sie werden von ihnen gleich behandelt, in der Bezeichnung 
verwechselt. Sicher vermögen mir Neuaufnahmen in vielen Fällen neben 
Rot nur Schwarz und Weiß zu zeigen und zu nennen. (Schwarz und Weiß 
als Farben aufgefaßt.) Untersuchungen über Farbenkenntnis ebenso wie über 
Farbenblindheit, die ja ab und zu in Frage kommen wird, stoßen natur¬ 
gemäß bei unsern Kindern auf große Schwierigkeiten, und der Farbkreisei 
z. B. ist nur in wenig Fällen zu Feststellungen zu verwenden. 

Wie schon erwähnt, habe ich ferner Versuche gemacht, das Farben- 


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Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht 


451 


gedächtnis schwachsinniger Kinder zu prüfen. Zu diesem Zwecke biete ich 
mit Hilfe des „Minnemann“ J ) 5 Reize im Abstande von 5 Sekunden. Zu 
dieser Reizzahl und Dauer habe ich mich auf Grund der Erfahrungen aus 
Vorversuchen entschlossen. Auf einer dargebotenen Farbtafel müssen als¬ 
dann die Kinder, ohne daß sie zu sprechen brauchen, die gesehenen Farb¬ 
töne zeigen. Mit l ji der Kinder ist der Versuch nicht durchführbar. Sie 
zeigen eine beliebige, meist nicht gebotene Farbe, um dann automatisch 
die Farbleiter auf- oder abwärts zu gehen. Dieser Automatismus, den ich 
auch bei andern ähnlichen Versuchen feststellte, ist für mich ein Zeichen 
besonderen geistigen Tiefstandes. — Von dem Rest der Kinder erkannten 
s /4 Rot bestimmt wieder; dann Schwarz und in weitem Abstande Gelb, Grün, 
Blau. — Diese Ergebnisse decken sich, obwohl die Versuche fortgesetzt werden 
müssen, mit meinen allgemeinen Erfahrungen bei Kinderzeichnungen. — 

Von großer Bedeutung sind ferner Untersuchungen, welche die Einwirkung 
von Farben auf Atmung und Puls prüfen. Das hierbei von mir gefundene 
Material ist ebenfalls noch nicht so reichhaltig, um einwandfreie Schlüsse 
zuztdassen. Ich habe die merkwürdige Erfahrung gemacht, daß sich äußerst 
unruhige Kinder, von denen sich eine Normalkurve nicht herstellen ließ, 
dennoch beruhigten, wenn ich ihnen leuchtende Farben oder Bilder bot. 

Aus den Feststellungen entspringt für die Praxis das folgende: Ich 
räume der Farbe eine dominierende Stellung in jedem Fache ein, denn das 
Auge ist bei Schwachsinnigen das beste Zugangstor. Und wenn Lehrer 
und Schüler nicht gerade selbst praktisch mit Farben arbeiten, dann muß 
der Lehrer „farbig erzählen“ — aber Farbe und Farbenfreude müssen die 
Stunde beherrschen! Es ist die höchste Stufe anschaulicher Redeweise, 
die es den Kindern ermöglicht, ein denkbar klarstes Vorstellungsbild zu ge¬ 
winnen. Bei Scharrelmann las ich: Ein Lehrer, der nicht Geschichten 
erfinden kann, der Disziplinarmittel gebraucht, um Ruhe in der Klasse zu 
haben, der nicht zu malen und komponieren versteht, der nicht auch dem 
ödesten Unterrichtsthema eine völlig neue Seite abgewinnen kann, der ist 
nur eine halbe Kraft. — Dieses Wort hat doppelte Bedeutung für den Lehrer 
v an Schwachsinnigen. Der Stift ergänze dazu das Gesprochene — der Stift 
in der Hand des Lehrers und der Kinder. Und wie die Farben leuchtend 
und klar, oft grell dissonierend sind, so auch die Worte: In kräftiger Manier 
muß sie der Lehrer führen, wie den Stift. Ja, das Malen! Das ist wohl 
etwas Schweres und etwas Schönes, bei gutem Willen wird es jeder Lehrer 
zu einigem Können bringen. Und innere Befriedigung wird ihn neben 
der Freude der Kinder reich für die gehabte Mühe entschädigen. — Ich 
habe einmal das Wort geprägt: Der beste Lehrer verbraucht die meiste 
Kreide! Und so muß der Lehrer befähigt sein, so wie er spricht: Kurz, 
anschaulich und farbenfroh — auch zu zeichnen. Mit wenig Strichen muß 
es ihm möglich sein, ein buntes Anschauungsbild an die Tafel zu zaubern. 
Ich' bin immer eingetreten für das selbstgefertigte Anschauungsbild, das so 
viele Vorteile hat gegenüber dem gekauften, wiewohl anerkannt werden 
muß, daß die modernen Künstler und Verleger auch viel für unsere Anor¬ 
malen geeignetes herausbringen. Über den Wert eines guten Anschauungs- 


*) Ein Gedächtnisapparat mit automatischem Kartenwechsler. 


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452 Max Trümper-Bödemann, Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht 


bildes habe ich mich früher eingehend verbreitet 1 ); ich verlange noch heute 
von ihm Übersichtlichkeit und Farbenfrohsinn. Und wie in der figürlichen 
Behandlung der Bilder, so muß ich auch für die Farbenbetonung ein kräftiges 
Wörtlein reden: Ich halte die Übertreibung in Form und Farbe bei unserm 
Unterrichte für äußerst wichtig. Ist doch die Reizempfindlichkeit unserer 
Kinder oft erschreckend gering, das lehren mich Unterricht und Experiment 
täglich. Da muß stark aufgetragen werden, will man einen Eindruck erzielen. 
Und hier berühren sich beide Gebiete: Drastisch in der Erzählung, über¬ 
trieben in Form und Farbe I — Zu diesem meinem Lieblingsthema der 
„Karikatur im Unterrichte" finde ich eine Bestätigung, so trefflich geschrieben, 
daß ich einen Teil derselben folgen lasse 2 ). Scheltet nicht, ihr Lehrer, wenn 
ihr eines Tages auf der Tafel euer wohlgelungenes Konterfei erblickt, sondern 
lächelt. Leitet das Bedürfnis nach Karikatur, das nirgends und niemals so 
stark ist, wie in der Jugend, in rechte Bahnen. Gerade die Kreide kann 
euch die Brücke schlagen helfen zu den künstlerischen Werten des Erhabenen 
und Großen der Menschenkunst, denn auch sie liegen ja in der Wirklichkeit 
nicht für jedes blöde Auge da, auch sie müssen aus ihr erst „herausgeschaut“ 
werden. — Aber vergeßt auch nicht den Eigenwert der Karikatur selbst 
Sie ist eine Äußerung frischen Lebens, sie sollte nicht unterbunden werden, 
sie, die unmittelbar wieder Lebensfreude schafft. Des Lachens ist ja in der 
Welt immer noch viel zu wenig. Und besonders in der Arbeitsstätte der 
Jugend, der Schule. — Und wenn mirs nicht Gefühl und Erfahrung sagten, 
daß kräftige Reize die eindrucksvollsten für unsere Kinder sind, dann würde 
es mich der Versuch lehren: Mit mir werden viele Lehrer bei Intelligenz¬ 
prüfungen die Erfahrung gemacht haben, daß tiefstehende Kinder den Binet- 
Simon Ästhetischen Text IV 6 im obigen Sinne lösten, d. h. sie bezeichnen 
die Zerrbilder als schön und ihnen gefallend, weil sie eindrucksvoller sind. — 
Eine starke Farbbetonung ist natürlich für mich auch Leitmotiv im Zeichen¬ 
unterrichte. Von hier aus haben sich bei uns die Fäden dann weiter ge¬ 
zogen und auch den freien Holzarbeitsunterricht in gleiche Bahnen geleitet 
Zunächst kamen die Kinder zu mir mit Brettern und sonstigen Holzabfällen 
aus der Werkstatt. Ich zeichnete ihnen rasch ein gewünschtes, lustiges Bild 
darauf — ich kann ja nicht verlangen, daß Schwachsinnige selbst entwerfen 
und schöpferisch tätig sind —, dann wurden die Entwürfe ausgemalt und 
ausgesägt, und dieser Anfang hat sich so erfreulich weiter entwickelt, daß 
unsere Jungen heute unter trefflicher Anleitung einen guten Teil Spiel¬ 
sachen für die Anstalt selbst herstellen. — Die Farbe spielt ferner im Schreib¬ 
unterricht eine wichtige Rolle. Auch hier schafft sie Freude, Anregung und 
Klarheit. Im Anfangsunterrichte wird bei Silben und einzelnen Wörtern 
jeder Buchstabe in besonderer Farbe geschrieben. Später, in &ät£en, er¬ 
hält jedes Wort einen eigenen Farbton, und selbst in den Oberklassen wird 
das Geschriebene den Kindern übersichtlicher, wenn an der Wandtafel jeder 
Satz oder im Gedicht jede Zeile in anderer Farbe angeschrieben wird. — 
Ähnlich verfahre ich im Rechenunterrichte. 

Neben dem Unterricht muß der Farbe eine größere Rolle in der Heil¬ 
behandlung zugewiesen werden. Es ist darüber vieles geschrieben und be- 

1 ) Zeitschrift für die Beh. Schwachs. Januar 1914, Heft 1. Eine Herausgabe der Bilder 
scheiterte bis heute an den hohen Kosten. 

2 ) Kunstwart 1909, Erstes Oktoberheft: Die Fratze in der Schule. 


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Kleine Beiträge and Mitteilungen 


453 


sonders in Irrenanstalten manches versucht worden. Und wie mein Kollege 
Wittig mit jugendlichen Strafgefangenen, so müssen wir, wenn auch in 
anderem Sinne, mit gewissen Schwachsinnigen eine Farbbehandlung vor¬ 
nehmen. Ich weiß, daß ich mit diesen Gedanken auf manchen Widerstand 
stoßen werde, aber sie sind aus der Praxis geboren und imschwer auszu¬ 
führen. Für unsere Kinder kann die Farbbehandlung zunächst nur einen 
doppelten Zweck haben: Sie kann anregen oder beruhigen! Das tut schon 
analog die Mutter und das tut der Lehrer, wenn sie dem Kinde einen 
„Geschmacks- oder Gefühlsreiz“ bieten. Wir haben Kinder, auf die nur 
Musik im ähnlichen Sinne wirkt. Warum sollte es, nachdem wir die ersten 
Erfahrungen hinter uns haben, nicht auch mit der Farbe versucht werden? 
Das wäre um vieles einfacher, als schlechthin angenommen wird: Man 
braucht die Kinder nur stundenweise täglich einer Farbbehandlung zu unter¬ 
ziehen. Hat man nur ein Zimmer zur Verfügung, so kann man sogar auf 
den entsprechenden Wandanstrich verzichten, indem man durch verschieb¬ 
bare Fensterverglasung die jeweils benötigte Wirkung erzielt. Ebenso müßten 
die Kinder während der Nacht statt bei weißem Licht besser bei blauem bzw. 
meergrünem schlafen; eine allgemeine Beruhigung ist sicher zu erwarten.— 
Daß man mit der Farbbehandlung den Schwachsinn nicht heilt, weiß ich, 
aber indem man in einem Falle die Kinder anregt und im andern beruhigt, 
schafft man die Stimmung und damit die Basis, auf der die Erziehung in 
Schule und Haus leichter weiterbauen kann. 

Durch das verständnisvolle Entgegenkommen, welches ich bei meiner 
Anstaltsdirektion auch für die Durchführung der obigen Gedanken finde, 
wird es möglich sein, die Farbbehandlung auf eine breite Grundlage zu 
stellen und damit das Problem der Farbwirkung — zunächst auf schwach¬ 
sinnige. und irre Kinder — seiner Lösung näher zu bringen. Es ist das ein 
Arbeitsgebiet, auf dem sich Ärzte und Lehrer zu segenbringender Arbeit die 
Hand reichen. 


Kleine Beitrage und Mitteilungen. 

Jugendkunde in der Tschechoslowakei. Die jugendkundlichen Bestrebungen 
bei uns knüpfen sich eng an den Namen Prof. Fr. Oäda, der vom Jahre 
1900 an sowohl an der Universität als auch in den häufig stattfindenden 
Kursen für Lehrer mit besonderer Vorliebe Vorlesungen über diese neue 
Wissenschaft gehalten hat und auch als Schriftleiter der pädopsychologischen 
Abteilung in unserer bedeutendsten Zeitschrift „Pedagogickö rozhledy“ (Päd¬ 
agogische Rundschau) gemeinsam mit Prof. Fr. Drtina und Prof. Ot. Kädner 
sich große Verdienste um die Verbreitung der neuen Gedanken erworben 
hat. Mit den eifrigsten von seinen Hörern aus der Lehrerschaft hat er 
gegen Ende des ersten Jahrhundertes „Sdruzeni pro v^zkum dit&te“ (Arbeits¬ 
gemeinschaft für Kinderforschung) gebildet, wo er mit seinen Mitarbeitern 
eine planmäßige Untersuchung') des Vorstellungskreises der Prager Schulneu- 


') Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in der obenerwähnten Monatsschrift in den Jahrg. 1910 
und 1911 und auch selbständig („Vfzkum zactva“ — Schalererforschung) veröffentlicht worden. 
Daneben sind in denselben Jahren andere wichtige Arbeiten von ihm über die Kindersprache, 
Kinderzeichnungen, Psychologie der Jugendlichen u. a. m. erschienen. 


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454 


Kleine Beiträge und Mitteilungen 


linge vorgenommen hat. Bemerkenswert ist, daß dabei nicht so großes Ge¬ 
wicht auf Massenprüfung, als auf eingehende Erforschung einzelner Kinder 
gelegt wurde, wobei auch an der Hand eines umfangreichen Personalbogens 
nähere Kenntnisse über die Umwelt jedes ABC-Schützens ermittelt werden 
sollten. 

Eine derartige freie Arbeitsgemeinschaft trennt begreiflicherweise nur ein 
ganz kleiner Schritt von einer höheren Entwicklungsstufe, von der Gründung 
einer ständigen, fester organisierten Arbeitsstätte, mag sie anfangs noch s» 
bescheiden sein. Und so hat Cäda gegen Ende 1910 „Cesky pedologicky 
üstav“ (Tschechisches Institut für Jugendkunde) mit dem Professor der Anthro¬ 
pologie H. Matiegka und mit Rektor J. Dolensky, als Vertretern der Schul¬ 
ärzte und der Lehrer gegründet. Das Institut blieb bis zum vorigen Jahre 
in einem der beiden Amtszimmer der Knabenschule von Rektor Dolensky 
untergebracht. 

Von den Arbeiten, die noch vor dem Kriege vollendet worden sind, seien 
folgende erwähnt: Prof. Matiegka hat schon damals angefangen, Kinder aller 
Jahrgänge von mehreren Schulen wiederholt systematisch zu messen. Dozent 
Leier hat sämtliche Studenten einer höheren Schule auf ihre Sehschärfe 
bzw. Kurzsichtigkeit hin untersucht. Direktor Maty von einer Taubstummen¬ 
anstalt hat viele Hunderte von Kindern geprüft, um die mit irgendwelchem 
Sprachfehler behafteten Schüler besonderen Sprachkursen überweisen zu 
können. Von den psychologischen Problemen wurden damals folgende be¬ 
arbeitet: Freie Assoziation der Kinder, wodurch nur frühere Erfahrungen 
bestätigt worden sind, z. B. die bekannten typischen Unterschiede (im Durch¬ 
schnitt!) von begabten und geistig schwachen Kindern, steigende Einförmigkeit 
mit dem Alter u. a. m. Von größerer Bedeutung ist eine Prüfung der Schüler¬ 
intelligenz, welche auf Cädas Veranlassung von Rektor Dolensky und von dem 
Unterzeichneten im Jahre 1913 vorgenommen wurde. Wir haben die Skala 
Binet-Simon 1911 aus dem Französischen übertragen, nur in einigen Kleinig¬ 
keiten (insbes. die Verstandesfragen und die wenig passenden Absurditäten) 
für unsere Verhältnisse abgeändert und danach mit Hilfe dieser Tests un¬ 
gefähr 100 Kinder, darunter 15 Zöglinge der Schwachsinnigenanstalt „Eme- 
stinum“, geprüft. Der Zweck dieser Prüfung war kein anderer, als die Zu¬ 
verlässigkeit der Binetschen Methode aus eigener Erfahrung zu erkennen. 
Darum hielten wir alle Vorschriften Binets fest (betreffend die strenge Aus¬ 
wahl nach dem Alter, das Bewertungsverfahren usw.), wobei auch wertvolle 
Erfahrungen anderer Forscher, besonders diejenigen von Bobertag nicht un¬ 
beachtet geblieben sind. Und doch war das Ergebnis, zu dem wir gelangt 
sind, für uns nicht wenig überraschend! Keiner von unseren 7—9jährigen 
Volksschülern ist als „—“ gefunden worden, im Gegenteil haben sich alle 
durchschnittlich um i 3 /4 Jahresstufen ihren Pariser Altersgenossen überlegen 
erwiesen. 1 ) Dieser beträchtliche Unterschied läßt sich wohl aus demselben 


') Bei den älteren wurde sehr störend die unangenehme Lücke Ittr 11jährige empfunden, 
wodurch die wahrscheinlich erreichbare Leistungshöhe beträchtlich heruntergedrückt wurde. 
Nur in einigen Fällen, wo die älteren Schüler auch bei den Aufgaben für das 12. Jahr gut 
abgeschnitten haben, wagte ich von zwei Übeln das geringere zu wählen und mir einstweilen 
mit einer gewissermaßen nicht ganz gerechtfertigten Supposition auszuhelfen, nämlich auf die 
Weise, daß ich ihnen soviel Punkte für das 11. Jahr zugute zuzählte, wieviel das arithmetische 
Mittel der erreichten Punkte auf der Stufe X und XII ausmachte. 


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Umstand' erklären, der bei den Brüsseler (Decroly), Breslauer (Hofmann), 
Römer (Jeronutti), Sheffielder (Johnston), New-Orleanser (Strong) u. a. Kindern 
eine so entscheidende Rolle gespielt zu haben scheint, nämlich daß die Schule, 
wo sich auch unser Institut befindet, inmitten der Stadt liegt und zum großen 
Teil von Kindern besucht wird, die wohlhabenderen oder besser gesagt (vor 
dem Kriege!) gebildeteren Familien entstammen. Daß in irgendwelcher Schule 
einer Vorstadt der Ausfall der Prüfung erheblich anders gewesen wäre, das 
steht außer Zweifel. 

. Der Weltkrieg hat fast gänzlich unsere Arbeit untergebrochen. Mit der 
x Selbständigkeit sind neue, nie früher geahnte Hoffnungen und Pläne, aber 
auch freudvolle Pflichten gekommen. Inmitten emsigster Vorbereitungen 
wurden wir von einem schweren Verluste betroffen: Prof. Cäda ist plötzlich 
gestorben (Dez. 1918). Neue Mitarbeiter und Freunde haben sich allmählich 
gefunden, so daß jetzt in 4 Abteilungen gearbeitet wird: 

I. Die pädometrische Abteilung (Prof. Matiegka, Doz. Suk, Assist. Frl. 
M. U. Dr. Lukäiovä) mißt Jahr für Jahr in regelmäßigen Zeitabständen wo¬ 
möglich dieselben Schüler mehrerer Schulen, so daß das körperliche Wachs¬ 
tum jedes Kindes (Länge, Gewicht, Kopfmaße, Brustumfang, Entwicklung der 
Zähne, der Muskelkraft u. a. m.) mehrere Jahre hindurch sorgfältig verfolgt 
wird. Das Ziel, das dieser mühsamen Arbeit gesteckt winde, ist folgendes: 
für jede Altersstufe möglichst zuverlässige „normale Körpermaße“ erst des 
Prager, dann einst des tschechoslowakischen Kindes überhaupt festzustellen. 
Ein großer Vorteil dieser Messungen besteht darin, daß hier das einzelne 
Kind im Vordergrund steht, wodurch ermöglicht ist, daß man seine relativen 
Zuwächse jedes Jahr verfolgen kann, die doch für die Feststellung seines 
wirklichen, physiologischen Alters viel wichtiger und ausschlaggebender sind, 
wie vor einigen Jahren schon Baldwin angedeutet hat. Es ist zu hoffen, 
daß in diesen Messungen der erste Schritt zur planmäßigen Auffindung und 
Normalisierung der Entwicklungsmerkmale zwecks Feststellung des physio¬ 
logischen Alters erblickt werden darf. Denn das tut uns noch jetzt bei 
psychologischen Prüfungen schlecht entwickelter, kränklicher, unterernährter, 
besonders aber anormaler Kinder am meisten not. 

n. Der pädagogischen Abteilung (Rektor Dolensk^) ist als allgemeine 
Aufgabe zuteil geworden, das Kind in der Schule zu beobachten und den 
ganzen Schulbetrieb, sowohl was den äußeren Ausbau als auch das innere 
Leben anbelangt, von psychologischen Gesichtspunkten aus nachzuprüfen, wo 
sich das Bedürfnis herausstellt Im vorigen Jahre wurde eine breit geplante 
statistische Untersuchung begonnen, von der wichtige Winke und Aufschlüsse 
zu erhoffen waren. Wir wollten etwas Näheres erfahren von der Schulbahn 
unserer Schüler (auch mit Rücksicht auf ihre sozialen Verhältnisse), wieviel 
von ihnen ihr Schulziel, und wie sie es erreichen, wie die Verteilung der 
Zensuren und die Art und Weise der bisherigen Klassifikation überhaupt ist, 
wie häufig die Schülerverschiebungen aus einer Schule in eine andere sind 
u. a. m. Leider mußte diese Arbeit zurzeit aufgegeben werden. An ihre 
Stelle ist eine Erhebung für das Ministerium der sozialen Fürsorge getreten 
über die Verhältnisse und die geistige Umwelt der Fortbildungsschüler und 
-Schülerinnen. 

ID. Die pädopsychologische Abteilung hat ihre von dem Kriege unter¬ 
brochene Untersuchung von neuem in Angriff genommen. Bei den Versuchen 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


mit den Binetschen Tests hat sich berausgestellt, daß sie in mancher Richtung 
einer Vertiefung bedürfen und daß manche Aufgaben durch neue, sorgfältig 
ausgewählte ersetzt werden müssen. Als Ziel unserer Arbeit schwebt uns 
vor die Aufgabe, mit der sich freilich alle Institute noch jahrelang zu be¬ 
fassen haben, nämlich neue, passende Tests auszusuchen, diese auf ihren 
Symptomwert hin zu erproben, sie bestimmten Stufen zuzuweisen und zu 
versuchen, ein wirkliches Testsystem zusammenzustellen, wo auf jeder Stufe 
jede Teilfunktion der Intelligenz ihrer Wichtigkeit entsprechend vertreten sein 
wird; dabei soll aber auch dem genetischen Standpunkt Rechnung getragen 
werden, und zwar auf die Weise, daß innerhalb dieses zu bildenden Systems 
immer in den Vordergrund diejenige Funktion gerückt werden wird, welche 
eben in dem betreffenden Altersabschnitt in mächtiger Entwicklung begriffen 
und für dieses Alter besonders charakteristisch ist. 

Daraus wurde inzwischen zur Bearbeitung ein kleineres Teilproblem ge¬ 
wählt: die Intelligenz der Elfjährigen. Entscheidend war bei dieser Wahl ein 
praktisches Bedürfnis. Die sowieso schwierige Arbeit in den unteren Klassen 
unserer höheren Schulen, wo nicht selten gegen 50 Schüler beisammen sitzen, 
wird noch erheblich durch Anwesenheit einer ganzen Reihe von Knaben er¬ 
schwert, welche offensichtlich den Anforderungen nicht gewachsen sind. Es 
ist im Interesse aller geboten, eine sorgfältigere Auslese zu treffen und derartige 
Schüler gleich femzuhalten. Unsere Aufgabe in dieser praktischen Hinsicht 
ist also, festzustellen, inwiefern bei einem negativen Ausleseverfahren auch 
die psychologische Intelligenzprüfung mithelfen kann. 

Zehn Tests zur Prüfung der theoretischen Intelligenz fanden insgesamt 
bei unseren Versuchen Verwendung. Die Idee ist den deutschen und 
amerikanischen Tests, die sich schon gut bewährt haben, entlehnt, ich 
habe nur versucht, ihnen eine neue Form zu geben. Diese Aufgaben sind 
folgende: 


1. Den logischen Gegensatz zu 25 Begriffen 
angeben. 

2. Analogiebegriffe, 50 Aufgaben. 

3. Ergänzungstest (Vögelwettfliegen). 

4. Bindeworttest (Himbeerenpflücken). 

5. Sechs lückenhafte Rechenaufgaben er¬ 
gänzen. 

6. Absurditäten (Unser Ausflug nach Karlstein). 


7. Kombinationstest: , 

a) aus 2 Worten (6 Aufg.); 

b) aus 3 Worten (5 Aufg,). 

8. Meumanns Test: eine Geschichte aus Stich¬ 
worten bilden (3 Aufg.). 

9. Neun angewandte Rechenaufgaben. 

10. Die Lehre und passende Überschrift von 
5 Fabeln finden. 


Mit diesen Tests wurden gegen 700 Schüler im Alter durchschnittlich von 
11 Jahren zu Beginn des Schuljahres geprüft, und zwar Knaben und Mädchen, 
vorwiegend aus den Primen (d. h. untersten Klassen) einiger Realgymnasien, 
zum Vergleich auch ihre Altersgenossen in zwei ersten Bürgerschulklassen. 

Die Verarbeitung des gewonnenen Materials geht langsam vonstatten, da ein 
streng einheitlicher Maßstab bei der Verwertung sämtlicher Arbeiten bewahrt 
werden muß; doch an der Hand der aus meiner Klasse gewonnenen Er¬ 
fahrungen kann ich schon jetzt folgendes mitteilen: Im großen ganzen ist 
das Ergebnis unserer Untersuchung sehr befriedigend; vergleicht man die 
Testleistungen einerseits mit der Rangreihe, die der Klassenlehrer gegen Ende 
des Schuljahres nach der Intelligenz seiner Schüler aufgestellt hat, und anderer¬ 
seits—und das ist für unser Problem das Maßgebende —mit den Schulleistungen, 
so findet man, daß die Reihen am Anfang und am Ende eine ziemlich hohe 
Übereinstimmung aufweisen. Wir dürfen also hoffen, ein allem Anschein nach 


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genügend zuverlässiges Hilfsmittel für unsere Zwecke gefunden zu haben — 
natürlich unter einer Bedingung, wenn es von einem psychologisch einge¬ 
übten Prüfer einsichtsvoll gehandhabt wird. 

IV. Die pädopathologische Abteilung (Dozent K. Herfort, Direktor des 
„Emestinums“) ist dabei, sich allmählich in eine „Psychological Clinic“ im 
amerikanischen Sinne umzugestalten. Dozent Herfort hat nämlich im Institut 
ein anfangs ganz bescheidenes Ambulatorium für nervös und geistig auf¬ 
fällige Kinder und Jugendliche errichtet, wo die Eltern ihre Sorgenkinder 
unentgeltlich untersuchen lassen können. Ober jedes wird zuerst mit Hilfe 
der Mutter eine möglichst eingehende Anamnese verfaßt, dann, stellt der 
Dozent der Eugenik, Dr. A. BroZek oder Fachlehrer Müller den Stamm¬ 
baum fest, einschließlich der Großeltern, ihrer Geschwister und 1 deren Nach¬ 
kommen; danach werden dem Kinde übliche anthropometrische Maße ab¬ 
genommen, darauf folgt die Untersuchung seines körperlichen und nervösen 
Zustandes, zuletzt wird es auf seine Intelligenz hin in der psychologischen 
Abteilung geprüft. Das Ambulatorium setzt sich allmählich mit den Kliniken 
und tüchtigen Spezialärzten in Verbindung, wodurch eine gründliche Unter¬ 
suchung des Blutes (Wassermann), der Augen, der Zähne, der Mundhöhle usw. 
gesichert ist. Auf diese Weise wurden im Laufe von l l /2 Jahren über 200 
Fälle untersucht und zugleich ein kostbares eugenisches Material gesammelt. 
Im letzten Frühjahr hat die Schulbehörde in einem Rundschreiben die Schul¬ 
leiter beauftragt, alle auffälligen Schüler ins Ambulatorium zu schicken, wo¬ 
durch nur wiederholt bestätigt wird, daß die pädopathologische Abteilung 
einen richtigen Weg eingeschlagen hat. 

Das ist eine kurze Übersicht unserer geleisteten und der zu leistenden 
Arbeit. Sie läßt naturgemäß noch viel zu wünschen übrig, denn alles ist 
heute noch in den Anfängen begriffen, und die überwiegende Mehrheit der 
Probleme harrt erst ihrer Bearbeitung. Das liegt wohl zum großen Teil auch 
daran, daß sämtliche Glieder dem Institut nur ihre Mußestunden nach eigener 
Berufstätigkeit widmen können. Auch die Stellung des Instituts ist noch 
nicht geklärt. Es steht einerseits in naher Beziehung zur Stadtschulorgani¬ 
sation, andererseits zum Ministerium für Schulwesen, bzw. zur besonderen 
Studienabteilung desselben, die den Namen „Pedagogick^ üstav Komensköho“ 
(Pädagogisches Institut Comenius’) trägt. Die Aufgabe dieses Instituts ist, 
die Entwicklung der Schuleinrichtungen im Auslande zu verfolgen und Re¬ 
formen unseres Schulwesens wissenschaftlich vorzubereiten. Es wird vom 
Professor der Pädagogik, Ot. Kädner geleitet, der von Anfang seiner wissen¬ 
schaftlichen Tätigkeit an 1 ) auch das Gebiet der pädagogischen Psychologie 
bearbeitet und das Institut für Jugendkunde mit allen Kräften unterstützt. 
In der letzten Zeit fängt noch eine andere, neu gegründete Anstalt an, in 
enger Berührung mit unserem Institut zu arbeiten: an der großen Masaryks 
Arbeitsakademie wurde ein psychotechnisches Institut eingerichtet, dem sich 
vor kurzem die Berufsberatungsstelle für Jugendliche angegliedert hat. 

Von den Anstalten außerhalb Prags ist das jugendkundliche Institut in Brünn 
zu nennen, das von der dortigen Arbeitsgemeinschaft für Kinderstudimn 
eben gegründet wird und von Prof. Ot. Chlup geleitet werden soll. Auch in 


*) Seine Habilitationsschrift „Prfspevky k pedagogice experimentälni“ (Beiträge zur experi¬ 
mentellen Pädagogik) war vor 15 Jahren bei uns die erste selbständige Arbeit aut diesem Gebiete. 


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Reichenberg besteht seit einigen Monaten ein ähnliches deutsches Institut; 
etwas Näheres weiß ich aber nicht von ihm anzugeben. 

Am erfreulichsten an allen diesen Bestrebungen ist die Tatsache zu be¬ 
grüßen, daß seitens der Lehrerschaft immer entschiedener der feste Wille 
wach \frird, alles daran zu setzen, um die Ausbildung der künftigen Lehrer 
auf gründlichem Studium der Jugendkunde und der benachbarten Gebiete 
als unerläßlicher Grundlage sämtlicher Lehrtätigkeit aufzubauen. Als der 
Plan von Prof. Kädner und Vertretern der Lehrerschaft, besondere zweijährige 
pädagogische Fakultäten an der Hochschule zu errichten und später daneben 
ihnen gleichwertige zweijährige pädagogische Akademien in einigen Städten 
ohne Hochschule zu gründen, hauptsächlich wegen formaler Hindernisse zur¬ 
zeit aufgegeben werden mußte, entschloß sich der Lehrerbund, nach seinem 
längst bewährten Mittel der Selbsthilfe zu greifen und im nächsten Herbst 
aus eigenen Mitteln seine Akademie Comenius’ zu eröffnen, wo in längeren 
Fortbildungskursen Vorträge über experimentelle Pädagogik und andere Gebiete 
der Pädagogik und Philosophie für Lehrer stattfinden sollen. Dieser energische 
Schritt läßt zweifelsohne auch für den Fortschritt unserer Wissenschaft bei 
uns eine Wendung zum Besseren erhoffen. 

Prag. Dr. Kyril Stejskal. 

Die Kieler Arbeitsgemeinschaft für experimentelle Pädagogik berichtet in 
ihrer ersten Veröffentlichung 1 ) über ihre Aufgaben, ihre Entwicklung und 
ihre äußere Gestaltung das Folgende: Im Januar 1920 schlossen sich in Kiel 
etwa 30 Lehrer und Lehrerinnen zu einer Arbeitsgemeinschaft für experi¬ 
mentelle Pädagogik zusammen. So wertvoll die Gründung einer solchen 
Arbeitsgemeinschaft auch sein kann, so ist die Arbeit in ihr doch mancherlei 
Schwierigkeiten und Gefahren ausgesetzt, auf die in aller Kürze und Offen¬ 
heit hinzuweiseq mir in Übereinstimmung mit den Mitgliedern unserer Arbeits¬ 
gemeinschaft zweckmäßig erscheint. Wir haben sie kennengelernt und nur 
dadurch, daß wir uns ihrer dauernd bewußt blieben, ist es uns möglich 
geworden, unsere Arbeitsgemeinschaft lebensfähig zu erhalten. Der Arbeit 
in den Arbeitsgemeinschaften der Lehrer drohen von verschiedenen Seiten 
recht ernste Gefahren; sie haben leicht zur Folge, daß die Arbeitsgemein¬ 
schaften — sofern sie nicht amtlich vorgeschrieben sind — entweder langsam 
eingehen, oder daß sie ein nach außen hin zwar sehr rege erscheinendes, 
im Innern aber doch leeres Leben zeigen, ein Scheinleben, das für die Weiter¬ 
bildung des Lehrers — das soll ja wohl das Hauptziel aller Arbeitsgemein¬ 
schaften sein — gefährlicher sein kann als ein Nichtbestehen. 

Die größte Gefahr ist ohne Zweifel in der Ausbildung des Lehrers und 
ihren Folgen begründet; und zwar darin, daß der Lehrer auf dem Seminar 
nicht in gleicher Weise zum wissenschaftlichen Arbeiten erzogen worden ist, 
wie der Student auf der Hochschule erzogen wird. Auf dem Seminar lernt 
der Lehrer leider zu wenig, die Wirklichkeit — zu ihr gehören auch Bücher — 


! ) Kieler Arbeiten zur Begabungsforschung, herausgegeben von a. o. Pro!. Dr. Johannes Witt¬ 
mann. Nr. 1: Der Aufbau der seelisch-körperlichen Funktionen und die Erkennung der Be¬ 
gabung mit Hilfe des Prüfungsexperiments. Abhandlungen und Vorträge, gehalten auf mehreren 
Versammlungen der Kieler, Eutiner, Schleswiger Lehrer- und Pbilologenvereine, mit An¬ 
merkungen von Johannes Wittmann. Berlin-Wilmersdorf 1922. Volkskraft Verlagsgesellschaft. 
103 S. 


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denkend, methodisch und kritisch zu erfassen. Statt daß er sich selbständig 
denkend bewegen dürfte, muß er in dogmatischer Weise eine Fülle von 
Wissen, von angeblichen Tatsachen in erster Linie zu Examenszwecken in 
sich aufnehmen, mit denen er im Leben wie in der Schule unter Umständen 
wenig anfangen kann. Bis jetzt dürfte sich darin auch noch nicht viel ge¬ 
ändert haben, wenigstens was die pädagogisch-psychologische Ausbildung auf 
den Seminaren betrifft, an die ich hier zunächst denke. Sehr viel trägt dazu 
bei, daß hier dem Unterricht Lehrbücher zugrunde gelegt werden, die für ihren 
Zweck, sowohl vom wissenschaftlichen wie vom methodischen Standpunkte 
aus betrachtet, als ungenügend zu bezeichnen sind. Diese Schriften sind im 
allgemeinen durch ein mehr oder weniger kritikloses Ausschreiben wissen¬ 
schaftlicher Darstellungen der Psychologie, Pädagogik und Logik sehr ver¬ 
schiedener Richtung entstanden. Sie entbehren daher der wissenschaftlichen 
Selbständigkeit und überliefern dem heranwachsenden Lehrer ein nutzloses 
Wortwissen. Es ist überaus zu beklagen, daß man auch bei bei der Aus¬ 
bildung der Studienreferendare nicht selten in gleicher äußerlicher Weise 
minderwertige pädagogisch-psychologische Lehrbücher verwendet, und zwar 
mit demselben Erfolge: Der Referendar, der auf der Universität in seinen 
Hauptfächern wissenschaftlich denken und arbeiten gelernt hat, fühlt sich 
von dem geistlosen Betriebe dieser pädagogisch-psychologischen Ausbildung 
nur angeödet und verspricht sich keinen Gewinn von einer weiteren Be¬ 
schäftigung mit pädagogisch-psychologischen Fragen. 

Man könnte sagen, daß jene Schriften keinen großen Schaden anrichteten, 
wenn sie nur in der Hand tüchtiger Lehrer seien. Allein die Lehrer, welche 
die Seminaristen und Studienreferendare in den genannten Disziplinen unter¬ 
richten, sind nicht selten selber sehr dürftig in ihnen unterrichtet; so sehen 
sie sich gezwungen, sich eng an irgendeine Modeautorität zu halten und sich 
mehr oder weniger pendantisch nach dem eingeführten Leitfaden zu richten. 
Die Seminaristen werden so entweder ganz langsam zu dem Glauben an 
Autoritäten, an Lehrbücher, oder zum Heucheln erzogen. Dagegen können 
sie sich auf dem Seminar wegen ihrer Abhängigkeit wenig wehren, so sehr 
sie auch den Trieb nach selbständigem Denken in sich spüren mögen. Ohne 
Zweifel ist gerade bei den seminaristisch vorgebildeten Lehrern ein starkes 
Sehnen nach wissenschaftlich begründetem Wissen und Erkennen vorhanden; 
dies führte ja zur Gründung der Arbeitsgemeinschaften, zum Verlangen nach 
Ausbildung auf der Universität. 

Was die pädagogisch-psychologische Ausbildung der Studienreferendare 
betrifft, so müßte es selbstverständlich sein, daß sie die Pädagogik und Psycho¬ 
logie — sofern sie beide als Wissenschaft kennenlernen sollen — dort 
studieren, wo sie — vor allem die Psychologie — allein studiert werden 
können: auf der Universität. Für die künftigen Lehrer dürfte es zweckvoller 
sein, mehrere Semester Psychologie wirklich zu studieren, als sich in äußer¬ 
licher Weise — wie das gar nicht selten geschieht — ich nenne nur den 
auch in Kiel sehr fleißig benützten „Friedlein“ — für eine nicht ernst ge¬ 
nommene Prüfung in der Philosophie vorzubereiten. Wird das Studium der 
Philosophie nicht ernsthaft betrieben, so ist es wertlos. Zur Bildung trägt 
flüchtiges, äußerliches Studium der Philosophie, wie es meist betrieben wird, 
nicht bei. Das Studium der Psychologie wäre ohne Zweifel wertvoll; auch 
würde es hinreichende Gelegenheit und beste Grundlage bieten zu besonderen 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


philosophischen (erkenntnistheoretischen, ethischen, ästhetischen, sozio¬ 
logischen, historischen) Studien. Tatsächlich liegen die Dinge aber so, daß 
die Referendare im allgemeinen nicht die geringsten psychologischen Studien 
getrieben haben, daher in ihrem Seminarjahr sehr oft nur das kennenlernen, 
was in dem eingeführten Leitfaden steht, was ihnen der ausbildende Direktor 
oder Studienrat, der vielleicht selbst nicht über der Sache steht, aus dem 
Leitfaden vorträgt. Es ist nicht zu erwarten, daß auf diese Weise eine wirklich 
wissenschaftliche psychologische Ausbildung des zukünftigen Lehrers an den 
höheren Schulen erreicht wird. Entweder sollte man gar nichts in dieser 
Richtung tun oder etwas wissenschaftlich Anständiges; das Beste, das sich 
zurzeit tun ließe, wäre eben gut genug. Wie aber soll ein Direktor oder 
Studienrat die ihm anvertrauten Referendare z. B. über das „Gedächtnis* 
oder über das Problem der Begabtenauslese unterrichten, wenn er selber von 
der Gedächtnisforschung oder Begabungsforschung nicht die leiseste Ahnung 
hat? Daß dies gar nicht selten der Fall ist, kann nicht bestritten werden. 
Es wird auch niemals anders werden, wenn nicht das Studium der Psycho¬ 
logie auf der Universität jedem zukünftigen Lehrer zur Pflicht gemacht wird. 

Die Folge der seminaristischen Erziehung kann nur sein, daß der Lehrer 
sich von der wissenschaftlichen Arbeit einen recht falschen Begriff macht. 
Zunächst stellt er sich wissenschaftliche Arbeit leicht zu äußerlich vor; er 
hat dann die Auffassung, daß es mit dem „Durcharbeiten* irgendeines viel¬ 
genannten Buches getan ist. So kann man auch bei studierenden Lehrern 
nicht selten beobachten, daß sie sich die von einem Dozenten als besonders 
wichtig bezeicbneten Werke sofort anschaffen, z. B. Wundts Physiologische 
Psychologie, um sie von Anfang bis zum Ende in recht naiver Weise „durch¬ 
zuarbeiten*, ohne zu bedenken, daß die Lektüre eines solchen Buches reiche 
psychologische Erfahrungen und kritische Stellungnahme verlangt; 'man neigt 
eben mehr zu einem dogmatischen Hinnehmen des Gedruckten, nicht selten 
auf Kosten des Verständnisses. In einem Berichte von A. Meyer (Päd¬ 
agogische Warte, Heft 21, 1921) über eine Junglehrer-Arbeitsgemeinschaft 
lesen wir: 

„Um 4‘/2—6 Uhr wird Wundts ,Grundriß* weiter behandelt. Wir haben im 
ersten Arbeitsjahre den ,Grundriß* Satz für Satz gelesen und besprochen. 
Bei solchem Verfahren kommen wir freilich in der Seitenzahl des Buches 
nur langsam voran. Aber nur so wäre es möglich, daß die jungen Kollegen 
sich an Wundt gewöhnten-.“ 

Ich muß gestehen, daß ich zur Einführung in die Psychologie für den 
Lehrer kaum ein Buch als ungeeigneter ansehe als den Grundriß von Wundt; 
vor allem ist er ohne Bezugnahme auf das Experiment weder zu verstehen 
noch zu beurteilen. Bewunderswert ist die Ausdauer, mit der wir hier ein 
einzelnes Buch über zwei Jahre hin bearbeitet sehen. Man würde wünschen, 
soviel Mühe möchte einem glücklicheren konkreteren Studium zugewandt 
worden sein. 

Sodann denkt sich der Lehrer die wissenschaftliche Arbeit zu einfach, als 
ob sie fast keiner Voraussetzungen, die nun einmal erfüllt sein müssen, be¬ 
dürfe. Endlich denkt er sie sich zu produktiv, als ob sie spielend von Er¬ 
folg zu Erfolg fortschritte. Daher greift der Lehrer in der Arbeitsgemeinschaft 
nur allzu schnell zu den schwierigsten Problemen, ohne zu bedenken, daß 
diese vielleicht ans Ende einer langjährigen ernsten Arbeit gehören; daher 


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meint er, einmal angefafite, wenn auch noch so schwierige Probleme müßten 
durch die Arbeit in der Arbeitsgemeinschaft in kurzer Zeit restlos gelöst 
werden. Er bedenkt nicht, daß schon die Einsicht in die Schwierigkeiten 
und relativ berechtigten Mannigfaltigkeiten bzw. Unmöglichkeiten der Problem¬ 
lösungen einen wertvollen wissenschaftlichen Gewinn bietet. Der Lehrer hat 
eben nicht gelernt, sich an das Nächstliegende, an das Einfache, das Tat¬ 
sächliche zu halten und dieses mit Ausdauer zu bearbeiten und aus dieser 
oft ermüdenden, oft monotonen und vor allem bescheidenen Arbeit zu einem 
für ihn wertvollen Ergebnis zu gelangen. Diese wirkliche Arbeit schreckt 
ihn nur gar zu leicht ab, so daß das anfängliche große Interesse bald schwindet 
und er von den Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft fern bleibt. Statt sich 
in seinem Arbeitsziele zu beschränken, neigt er — entgegen dem guten Spruche 
non multa sed multum, für den er sonst eintritt — hier, dazu, allzu viele 
und zu schwierige Fragen, deren Beantwortung gar zu oft über seine Kräfte 
geht, gleichzeitig in den Kreis seiner Betrachtung zu ziehen. Natürlich kann 
er so nur zu Scheinerfolgen und zu einer Vielwisserei kommen, was vor 
allem für die Junglehrer eine ganz besondere Gefahr ist. 

Man sehe sich z. B. einmal das in der Pädagogischen Warte (Heft 1 u. 3, 
1922) von Rektor Kammler veröffentlichte Programm der Pädagogischen 
Arbeitsgemeinschaft des Kreises Glatz für 1919 bis 1921, besonders für Winter 
1920/21 an. Für die einzelnen Sitzungen ist hier ein Programm mitgeteilt, 
das an Fülle und Schwierigkeiten wirklich nichts zu wünschen übrig 
läßt. Zum Beispiel ist in der 3. Sitzung besprochen worden: 

1. Die Moralphilosophie Kants; die neuere Philosophie bis Kant, Kants Leben, Charakteristik 
seiner Philosophie, Darstellung seiner praktischen Philosophie, nach Kants Schrift Grund¬ 
legung zur Metaphysik der Sitten 1. Teil, und Hensel, Hauptproblem der Ethik. 

2. die experimentelle BegabungBforschung; Methoden, Kritik, die Berliner Begabtenschulen. 

3. Behandlung des Lesestücks: Kindesdank« 4. Schuljahr. Besprechung: Die methodische 
Stufe der sittlichen Anwendung. 

Es wurden also in einer einzigen Sitzung die Moralphilosophie Kants und 
die Methoden der experimentellen Begabungsforschung abschließend behandelt. 
Wie ist so etwas möglich? Jedes der beiden Themen hätte die Glatzer Arbeits¬ 
gemeinschaft eine Reihe von Wochen beschäftigen müssen, sofern ihre Mit¬ 
glieder wirklich arbeiten und sich nicht durch Referate über Bücher unter¬ 
halten, d. h. sich das Arbeiten leicht und angenehm machen wollten. Schon 
die Lektüre der Kantischen Schriften, die für eine Arbeitsgemeinschaft Pflicht 
ist, sofern sie sich „wissenschaftlich“, „produktiv“ mit Kants Moralphilosophie 
auseinander setzen will, dürfte Zeit und Mühe genug gekostet haben. 

Es geht ferner nicht an, in zwei ganzen Sitzungen, in denen zugleich auch 
die schwierigsten ethischen Fragen besprochen werden, das Begabungsproblem 
(1. Begabungsforschung als Voraussetzung der Einheitsschule, das Wesen 
der Begabung, ihre Diagnose, der psychologische Schülerbogen — Aufgabe: 
Ausfüllen eines Bogens, ein Psychogramm —; 2. die experimentelle Begabungs¬ 
forschung: Methode, Kritik, die Berliner Begabtenschulen) zu erörtern. Es 
handelt sich hier um so wichtige und schwierige Fragen, daß eine Arbeits¬ 
gemeinschaft, die überhaupt einmal die Bedeutung der mit dem Begabungs¬ 
problem zusammenhängenden Fragen begriffen hat, mit einem halben Jahre 
nicht zu viel Zeit auf sie verwandt hätte. Wollte doch jede Arbeitsgemein¬ 
schaft sich einmal ernsthaft und grundsätzlich mit dem Begabungsproblem 


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befassen! Dann wäre zu erwarten, daß in den Kreisen der Lehrer mehr 
Einsicht in den Wert bzw. Unwert der Methoden der Begabtenauslese Platz 
griffe.' Aus einer so flüchtigen Beschäftigung mit diesen Fragen kann noch 
nicht einmal eine genügende Kenntnis, auf keinen Fall aber eine Erkenntnis 
bezüglich der in Frage stehenden Probleme, Methoden, Ergebnisse hervor¬ 
gehen; und doch finden wir immer wieder und sehr eindringlich das Streben 
nach Erkenntnis, das eigene „Forschen“ als das wichtigste Ziel der Arbeit 
in den Arbeitsgemeinschaften bezeichnet (so von Graf v. Pestalozza [Päd¬ 
agogische Warte, Heft 7 u. 9, 1921], so von Homburg [Pädagogische Warte, 
Heft 3, 1921]). Die Glatzer stehen aber gewiß nicht vereinzelt da. 

Eine zweite Gefahr liegt darin, daß die Arbeitsgemeinschaften nicht immer 
die geeignete Leitung finden können. Soll ein Berufsgenosse die Leitung 
übernehmen, so wird er, falls er seine Kollegen nicht wirklich im Wissen 
und Können dauernd überragt, wenig nachhaltigen Einfluß gewinnen, es sei 
denn, daß die Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft 1. nicht zu häufig statt¬ 
finden, 2. nur einem allgemeinen Geklöne dienen, 3. infolge eines Zwanges 
besucht werden. 

Eine dritte Gefahr, die teils durch die Ausbildung, teils durch die Tätig¬ 
keit als Lehrer von Kindern bedingt ist, liegt darin, daß die Individualität 
des Lehrers nur allzu leicht so stark ausgeprägt ist (er zum Eigenbrötler 
geworden ist), daß er in gedanklicher Hinsicht intolerant geworden ist, daß 
er in seinem Denken nicht mehr beweglich genug ist, sich auf Fremdes ein¬ 
zustellen, fremde Ansichten als besser anzuerkennen und eigene lieb ge¬ 
wordene Auffassungen zu verlassen. Nicht selten wird er fremden An¬ 
sichten geradezu mit Mißtrauen begegnen, da er nicht gelernt hat, rein sach¬ 
lich das Für und Wider zu erwägen. In mißtrauisch ablehnender Weise 
wird er sich fremden Ansichten gegenüber überlegen und gewappnet fühlen. 

Eine vierte Gefahr liegt darin, daß die Lehrer im allgemeinen durch ihren 
Unterricht und durch oft sehr mannigfaltige, berechtigte Umstände (z. B. im 
Sommer durch die Arbeit im Garten, durch Nebenbeschäftigungen, Mangel 
an Büchern usw.) von einem wirklich regelmäßigen Besuche der Sitzungen und 
von einer Mitarbeit zu‘Hause auf natürliche Weise stark abgehalten werden. 

Um diesen wichtigsten Gefahren eines gedeihlichen längeren Zusammen- 
arbeitens in einer Arbeitsgemeinschaft zu begegnen, wies ich auf sie schon 
gleich bei der Gründung unserer Arbeitsgemeinschaft offen hin. Es lag mir 
ferne, damit irgend jemanden persönlich kränken zu wollen; ich freute mich, 
daß ich in den wesentlichsten Punkten richtig verstanden wurde und Zu¬ 
stimmung fand. Prinzipiell vertrat ich und vertrete ich auch heute noch die 
Auffassung, daß eine wirklich zweckmäßige Arbeit in einer Arbeitsgemein¬ 
schaft nur dann möglich ist, wenn die Mitglieder zunächst eine Anleitung 
zum Arbeiten selbst erhalten, wie sie der Student während seines Studiums 
vor allem in den Seminarübungen erhält. Da dies aber nur in den seltensten 
Fällen wird zu erreichen sein (Mangel an geeignetem Leiter, zu starker Wunsch 
nach positiver „produktiver“ Arbeit, Länge des. Weges, Mangel an Zeit, zu 
geringe Bildsamkeit infolge zu hohen Alters usw.), so wird man einstweilen 
stets auf Kompromisse hinauskommen. 

Grundsätzlich aber schlug ich, ehe wir unsere eigentliche Arbeit auf päd¬ 
agogischem Gebiete angriffen, einen mindestens halbjährigen Kursus zur Ein¬ 
führung in die experimentelle Psychologie vor. Mein Bestreben war es, ohne 


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Zugrundelegung eines Buches rücksichtslos und ohne Orientierung an über¬ 
lieferten Theorien von den Tatsachen, von der Analyse des entwickelten seelisch¬ 
körperlichen Lebens auszugehen. Dem öfters geäußerten Wunsche nach 
einer weniger empirischen, sondern mehr vergleichenden theoretischen Dar¬ 
stellung der Psychologie widersetzte ich mich entschieden. Psychologie ist 
die Wissenschaft von den seelischen Lebenserscheinungen des Individuums 
und des Zusammenschlusses der Individuen in Familie, Volk usw.; diese 
Wissenschaft kann daher nur im engsten Anschluß an das Leben selbst und 
niemals im Anschluß an einen Abriß studiert werden. Sie fordert auf Schritt 
und Tritt selbständige Stellungnahme, selbständiges Urteilen, beste Selbst¬ 
beobachtung, beste Fremdbeobachtung, vorsichtigste Analyse und kann in 
keiner Weise buchmäßig gelernt werden. Es war mir eine große Freude 
daß dieser Weg, so unbequem, so langsam fortschreitend und beschwerlich 
er auch für manchen zunächst war, von der überwiegenden Mehrheit der 
Mitglieder gebilligt und gewünscht wurde. Für viele galt es, in psychologischen 
Dingen noch einmal von vorne anzufangen, gewohnte ui»d lieb gewordene 
Anschauungen zu verlassen. Einzelnen paßte das nicht; sie verließen uns 
daher schon im Laufe des ersten halben Jahres. Neue Mitglieder traten an 
ihre Stelle, seit Herbst 1920 auch Studenten, so daß die Gesamtzahl stets 
um 30 schwankte. Im Herbst 1920 löste sich die Arbeitsgemeinschaft für 
experimentelle Pädagogik von der Arbeitsgemeinschaft für Pädagogik, mit 
der sie bis dahin als Teil verbunden war, ohne aber in einer weiteren inneren 
Beziehung zu ihr gestanden zu haben; sie wurde eine Universitätseinrichtung. 
Das hatte den Vorteil, daß Studierende als Mitglieder ein treten konnten, daß 
nunmehr die Räume und die Mittel des Psychologischen Instituts offiziell zur 
Verfügung standen. 

Ich möchte nicht versäumen, auch an dieser Stelle Herrn Geheimrat Prof. 
Dr. G. Martius für die liberale Überlassung seines Instituts zu unseren 
Zwecken meinen und unser aller herzlichsten Dank auszusprechen. 

Erst im November 1920 wandten wir uns auf meinen Vorschlag dem Problem 
der Begabtenauslese zu. Dieses hatten wir schon während zweier Semester 
in den von Herrn Geheimrat Prof. Dr. G. Martius geleiteten Sitzungen des 
„Psychologischen Seminars“ behandelt. Um den neuen an sich noch recht 
weitschichtigen und schwierigen Fragenkomplex zu begrenzen, beschäftigten 
wir uns — stets vom Versuche ausgehend — mit denkpsychologischen Fragen; 
viele der bekannteren Tests haben wir hier an uns selbst erprobt. . In zahl¬ 
reichen Sitzungen haben wir uns gemeinschaftlich besprochen, wie wir die 
Tests in den Klassen einführen wollten, wie wir die Bedingungen für das 
Zustandekommen der Leistungen erfassen könnten, wie wir die Versuche ab¬ 
änderten usw. So haben wir aus über 60 Klassen von über 3000 Kindern 
jeden Alters Material zur Frage der Begabtenauslese systematisch gesammelt. 

Es erwies sich als zweckmäßig, die Bearbeitung des Materials einer be¬ 
sonderen Kommission zuzuweisen. Diese Gruppe tagte seit Winter 1920/21 
unter meiner Leitung jeden Mittwochabend von 7‘/2 bis 11 Uhr. Die Ergeb¬ 
nisse dieser Arbeiten und zahlloser Besprechungen beabsichtigen wir, unter dem 
Titel „Kieler Arbeiten zur Begabungsforschung“ bekanntzugeben, und zwar: 

Nr. 2. W. Voß, Lehrer an der Provinzial-Blindenanstalt Kiel: Die Beurteilung der durch Tests 
herbeigeftthrten Leistungen. 

Nr. 3. E. Möller, Lehrerin: Ober das Verstehen einer Fabel. 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Nr. 4. Schulz, Lehrer: Inwiefern können die Teste zum Verstehen einer Leistung und zur 
Diagnose von Entwicklungsstadien wertvoll sein? 

Nr. 6. Clausen, Lehrer: Prüfung der moralischen Veranlagung von Schulkindern. 

Nr. 6. Dr. Petermann, Assistent am Psychologischen Seminar: Kritik der bisherigen Prü¬ 
fungsverfahren. 

Nr. 7. Prof. Witt mann: Das Problem der Individualität. Mit Beitrag über Schülerbeobach¬ 
tungsbogen und Entwurf eines neuen Bogens. 

Nr. 8. Dr. Petermann: Kritischer Bericht über den gegenwärtigen Stand der Begabtenaus- 
lesebestrebungen in Schleswig-Holstein. 

Nr. 9. Laage, Mittelschullehrer: Die Reform der Lehrerausbildung in psychologischer 
Hinsicht. 

In den Hauptsitzungen (Sonnabends von 4 bis 6 Uhr) wandten wir uns 
Ostern 1921 der Untersuchung des Vorstellungs- und Phantasielebens der 
Kinder und Primitiven zu. Hier wurden die Bücher: 1. Verworn: Über 
ideoplastische und physioplastische Kunst; 2. Bechterew: Objektive Psycho¬ 
logie; 3. Preuß: Die geistige Kultur der Naturvölker; 4. Ribot: Die 
Schöpferkraft der Phantasie; 5. Fr. Reinhold: Beiträge zur Assoziations¬ 
lehre usw.; 6. H. Pohlmann; Beitrag zur Psychologie des Schulkindes, 
1912, eingehend besprochen. 

Dazu wurden wieder neue Versuche in den Klassen gemacht, so vor allem - 
von ca. 3000 Kindern Material über Assoziationen gesammelt, das zu einer 
Revision des von Fr. Reinhold aufgestellten Assoziationslexikons und anderen 
Zwecken verwandt werden soll. Aus den allgemeinen Betrachtungen er¬ 
wuchs das Bedürfnis, uns mit dem religiösen Vorstellungs- und Gefühlsleben 
der Kinder und Primitiven genauer zu befassen. Da wir in der engeren 
Arbeitsgruppe im Herbst 1921 das Begabungsproblem einstweilen verlassen 
und den Abschluß der Arbeiten den Verfassern selbst zunächst überlassen 
konnten, so wandten wir uns hier religionspsychologischen Erörterungen zu. 
Mit ihnen sind wir an der Hand folgender Bücher 

1. James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, 

2. St oll, Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie, 1904, 

3. Girgensohn, Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens, 1921, 

4. Wobbermin, Zum Streit um die Religionspsychologie, 1913, 

zurzeit beschäftigt; folgende Mitglieder gehören gegenwärtig dieser Arbeits¬ 
gruppe an: Die Damen: Fräulein L. Doormann, Fräulein E. Möller, Frau 
Voß; die Herren: Clausen, Füllgraff, Jungjohann, Laage, Dr. Petermann, 
Schulz, Voß, Witt und Prof. Wittmann als Leiter. 

In den Gesamtsitzungen beschäftigten wir uns wieder seit Herbst 1921 bis 
Ostern 1922 mit allgemeinen psychologischen Fragen (Perzeption, Apperzep¬ 
tion, Gedächtnis, Denken, Affekte); wiederum nicht an der Hand eines 
Buches, sondern stets vom Versuche ausgehend. 

So viel über die innere Entwicklung unserer Arbeitsgemeinschaft 

Unseren Arbeiten kommt es zustatten, daß uns das technisch reich aus¬ 
gestattete psychologische Institut von Herrn Geheimrat G. Martius mit seinen 
Räumlichkeiten (7 große Räume: Hörsaal, 2 Dunkelräume, 2 Arbeitssäle, 

1 Laboratorium, 1 Bibliotheksraum) zur Verfügung steht; eine eigene Bibliothek, 
die schon über mehrere Hundert Bände verfügt (Zeitschrift für Psychologie, 
Archiv für die gesamte Psychologie, Psychologische Forschung, Zeit¬ 
schrift für angewandte Psychologie, Praktische Psychologie, Päd¬ 
agogische Psychologie) ist vorhanden. Eine besondere Materialsammlung 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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ist im Entstehen. Diese Sammlung enthält schon jetzt von mehreren Tausend 
Kindern und Erwachsenen Material über Assoziationen, Intelligenz-Leistungen, 
vor allem eine stattliche Anzahl von Kinderzeichnungen. 

Die Pädagogische Interessengemeinschaft OstpreuSen ist eine Vereinigung 
von Lehrern und Lehrerinnen zur Pflege der wissenschaftlichen Pädagogik, 
mit dem Sitz in Königsberg. Ihrem Zwecke dienen: 

a) ein Institut für experimentelle Psychologie und Pädagogik als Fort- 
bildungs- und Forschungsstätte unter wissenschaftlicher Leitung und inniger 
Beziehung zur Universität. Einführungskurse und experimentelle Arbeiten 
bilden die Hauptaufgaben. Die Ergebnisse der Arbeiten werden, soweit an¬ 
hängig, veröffentlicht; 

b) Ferienkurse für auswärtige Mitglieder; 

c) Vorträge aus dem Gebiete der wissenschaftlichen Pädagogik in ver¬ 
schiedenen Bezirken der Provinz; 

d) eine wissenschaftliche Bücherei unter besonderer Berücksichtigung der 
Psychologie und Pädagogik experimenteller Richtung; 

e) eine Beratungsstelle für wissenschaftliche Bestrebungen auswärtiger Mit¬ 
glieder. 

Über Kinderaussagen In Sittlichkeitsprozessen hat der Erste inter¬ 
nationale Kongreß für Sexualreform in Berlin nach einem Vortrage 
.von ,M. Döring, Leipzig (Institut für experimentelle Pädagogik und Psycho¬ 
logie des Leipziger Lehrervereins) folgende Entschließung gefaßt und an das 
Reichsjustizministerium weitergegeben. »Der Kongreß erhebt für die Neu¬ 
gestaltung der Strafprozeßordnung die Forderung, daß besondere Bestimmungen 
in sie aufgenommen werden über die Verwendung von jugendlichen Zeugen 
im Rechtsgange besonders von Sexualprozessen. In diesen neuen Be¬ 
stimmungen müssen folgende Gnindsätze zum Ausdruck kommen: 1. Die 
erste Vernehmung jugendlicher Zeugen darf nur von pädagogisch-psycho¬ 
logisch geschulten und erfahrenen Personen erfolgen. 2. Die Zahl der Ver¬ 
nehmungen überhaupt und die Zahl der Vernehmenden ist im Interesse der 
Schonung der jugendlichen Zeugen möglichst zu beschränke^. 3. Auf Antrag 
des Angeschuldigten und in Fällen, wo Jugendliche als alleinige Zeugen in 
Frage kommen, ist von seiten des Gerichts ein pädagogisch-psychologischer 
Sachverständiger und ein Sexualarzt als Gutachter hinzuzuzieben. Diese 
haben das Recht der Einsichtnahme in die Akten und dürfen die Zeugen 
schon während der Voruntersuchung prüfen. Auch dürfen sie Anträge zu 
notwendigen Erhebungen in bezug auf die Zeugen und den Angeklagten 
stellen. 4. In schwierigen Fällen hat schon die Staatsanwaltschaft vor Er¬ 
hebung der Anklage einen Gutachter zu hören.“ 

Die Schulkinderfürsorge ist in hohem Maße von der verständnisvollen 
Mitarbeit der Lehrerschaft abhängig. Die im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, 
das im April 1924 in Kraft treten soll, gesteckten Ziele — ganz besonders 
die Forderung vorbeugender Fürsorge — können nur erreicht werden, 
wenn es gelingt, die Lehrerschaft zu stärkster Mitarbeit zu gewinnen. Auch 
im Interesse der Lehrerschaft ist zu wünschen, daß sie in den künftigen Jugend¬ 
ämtern angemessen vertreten ist. Das wird überall dort der Fall sein, wo 

Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 30 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


Lehrpersönlichkeiten zu den Sachverständigen der Kinderfürsorge zählen. 
Nun ist das Gebiet der Jugendwohlfahrtspflege sehr weit und vielgestaltig. 
Die Neuerungen und Umwälzungen sind in letzter Zeit so zahlreich und die 
Probleme häufig so verwickelt, daß es einzelnen Lehrpersonen kaum mög¬ 
lich sein dürfte, sich über alles Wichtige auf dem Laufenden zu halten. Das 
Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht (Berlin W 85, Potsdamer Straße 120) 
ist deshalb bestrebt, der Lehrerschaft in diesen Fragen mit Rat und Aus¬ 
kunft zur Hand zu gehen. Die Auskunftsstelle für Kinderfürsorge des In¬ 
stituts hat gegen 60 verschiedene Leihmappen zusammengestellt, die einzelne 
Fragen aus den Gebieten der Kleinkinder- und Schulkinderfürsorge behan¬ 
deln und auch demjenigen zur Verfügung stehen, der fern von den An¬ 
regungen und Hilfsmitteln der Großstadt arbeitet. Die Mappen, die in knapper 
und übersichtlicher Form über das Wichtigste aus jedem Gebiet orientieren, 
beachtenswerte Richtlinien, Aufsätze u. dergl. mehr, sowie Verzeichnisse der 
neueren einschlägigen Literatur enthalten, sind gegen eine Gebühr von 2 M. 
für die Woche nebst Ersatz der Portokosten zu beziehen. Nachstehend seien 
einige neuere Mappen genannt, die besonders für die Arbeit der Schule 
auf dem Gebiete der Jugendwohlfahrtspflege Anregungen enthalten: Schul¬ 
zahnpflege. — Die Montessori-Methode. — Fürsorge für kinderreiche 
Familien. — Der Kinderspielplatz. — Aufgaben der Schulkinderfürsorge. — 
Sonderkindergärten für Abnorme und Vorklassen bezw. Schulkindergärten. 
— Schulkinderhorte. — Schülerwanderungen. — Künstlerische Darbietungen 
für Kinder und von Kindern. — Schulsparkassen. — Kinderlesestuben, Jugend¬ 
büchereien. — Aufklärung über Schulkinderpflege und Erziehung durch das 
gedruckte Wort. — Schulschwester und Schulpflegerin. — Schularzt. 

Zu den Lichtbildern über Entwicklung und Pflege des Kleinkindes, Ein¬ 
richtung und Betrieb von Volkskindergärten, Bilderbücher und Spielzeug sind 
neu hinzugekommen bezw. erweitert worden: „Lehrmittel der Montessori- 
Methode“ (6 Bilder). — »Wie kleide ich mein Kind?“ (erweitert, jetzt 
23 Bilder). — „Waldschule Charlottenburg“ (8 Bilder). „Erholungs- und Heil¬ 
stätten für Klein- und Schulkinder“ (16 Bilder). — »Der Kinderhort“ (11 
Bilder). Die Leihgebühr beträgt zurzeit für jedes Bild 2 M. Vollständiges 
Verzeichnis des Leihgutes gegen Einsendung von 3 M. Hingewiesen sei 
auch auf die Merkblätter über Fragen häuslicher Erziehung. 

Zur Frage der heilpädagogischen Orientierung in der künftigen Lehrerbildung 
wurden von Stadtschulrat Franz Weigl in Amberg auf dem I. Kongreß 
für Heilpädagogik in München folgende Leitgedanken vertreten: 

1. Die Beachtung der einschlägigen Forschungsergebnisse aus dem Gebiete 
der Heilpädagogik ist in zweifacher Beziehung für die Lehrerbildung von Wert: 

a) Der Pädagogikstudierende gewinnt aus der Beobachtung der anormalen 
Zustände und ihrer Behandlung außerordentlich viel für das Verständnis der 
normalen Kindesseele und der methodischen Arbeit am Normalschüler. 

b) Die gerade in der Gegenwart viel verbreiteten anormalen Grenzfälle 
unter der Masse der in öffentlichen Erziehungsstätten untergebrachten Kinder 
zwingen dazu, daß auch der Lehrer der Normalschulen die pathologischen 
Fälle kennt, um nicht einzelne Individuen falsch oder ungerecht zu beurteilen 
und zu behandeln. 

2. Insbesondere gibt das weite Gebiet der pädagogischen Psychologie An- 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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knüpfungspunkte für einschlägige Belehrungen, so z. B. bei der Sinnes¬ 
psychologie Ober die Vier- und Dreisinnigen, bei der Lehre von der Auf¬ 
merksamkeit über Erscheinungen der Dissoziation, bei der Anpassungsfähig¬ 
keit über Psychasthenie, beim Arbeitsrhythmus Ober Dispositionsschwankungen. 

3. Auch die allgemeine Methodik und die der einzelnen Unterrichtsfächer 
bieten Anlaß zu zeigen, wie Kindern, welche sich schwer konzentrieren oder 
die apperzeptiv mangelhaft eingestellt sind, Hilfe gebracht werden ka'im. 
Außerdem fördert die pädagogische Pathologie auch die Erziehungsarbeit, 
die rechte Behandlung „schwer erziehbarer Kinder", mit Verständnis für 
manche Fälle von krankhaftem Trotz, Eigensinn, pathologischer Faulheit und 
Lügenhaftigkeit u. ä. 

4. Die Einfügung solcher heilpädagogischer Erkenntnisse in die Lehrer¬ 
bildung ist unabhängig von der Organisation derselben und setzt nur eine 
wesentliche Vertiefung der Berufsausbildung der künftigen Lehrer und Er¬ 
zieher voraus. 

Eine Gesellschaft für Heilpädagogik e. V. ist auf dem ersten heilpäd¬ 
agogischen Kongresse gegründet worden. Sie bezweckt die Förderung des 
Gesamtgebietes der Heilpädagogik. Dazu dienen der alle 2 Jahre tagende 
Kongreß für Heilpädagogik, ferner Sammelforschungen nach gemeinsamen Ge¬ 
sichtspunkten, Veröffentlichungen im Aufträge der Gesellschaft und sonstige 
Maßnahmen. Als Mitglieder haben sich bereits zahlreiche Ärzte, Psycho¬ 
logen, Geistliche, Lehrer, Fürsorger, Berufsberater, Jugendrichter, Verwaltungs¬ 
beamte usw. angemeldet, auch aus dem Ausland. Zum Ehrenvorsitzenden 
wurde der Direktor der Heilpädagogischen Anstalt Wien-Grinzing Dr. Heller 
gewählt, der allen pädagogisch eingestellten Kreisen durch seinen „Grundriß 
der Heilpädagogik" und durch seine „Heilpädagogische Therapie für praktische 
Ärzte“ bekannt ist. Den Vorstand bilden: Oberlehrer Egenberger, 1. Vor¬ 
sitzender des Bayrischen Hilfsschulverbandes, Direktor Hofbauer der Landes¬ 
taubstummenanstalt, Universitätsprofessor Dr. Isserlin, Leiter der Hirnver- 
letzten-Abteilung, sämtlich im München, ferner Professor Dr. Gregor der 
Erziehungsanstalt Flehingen (Baden), Schulrat Henze-Frankfurt a. M., Inspektor 
Rudolf Hinder des bürgerlichen Armenwesens der Stadt Zürich, Fürsorger 
H. Kestenholz-Rudin, Präsident der Baseler Webstube in Basel, Privatdozent 
Dr. J. Lindworsky-Köln, Fräulein Ruth von der Leyen-Berlin und Stadtschulrat 
Weigl-Amberg. Der Kongreß ist in seiner regelmäßigen und erfolgreichen 
Fortführung ein wichtiges Arbeitsorgan der Forschungsinstitution. Er besteht 
außerhalb jeder Standesvereinigung, will die Interessenten aus den ver¬ 
schiedenen Berufen zusammenführen und soll jeweils über den neuesten 
Stand der wissenschaftlichen Forschung und der allgemeinen Fortschritte auf 
dem Gesamtgebiete der Heilpädagogik berichten. Der II. Kongreß, für den 
die Vorarbeiten schon in Angriff genommen wurden, soll in seinem wesent¬ 
lichen Teil Forschungsarbeit bieten. Darum ergeht an eine Reihe von 
wissenschaftlichen Autoritäten das Ersuchen, in den folgenden Jahren be¬ 
stimmte Aufgaben näher zu erforschen. So soll auch auf Grund von sozio¬ 
logischen und nationalökonomischen Studien die Frage in den Forschungs¬ 
bereich des Kongresses gestellt werden, welche Menge von Minderwertigkeit 
ein Staatsorganismus zu ertragen vermag, um noch gesund arbeiten zu können, 
und ebenso die Frage nach den soziologischen, nationalökonomischen, päd- 

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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


agogischen Vorzügen einer rechtzeitigen (prophylaktischen) Fürsorge, nach 
' ihrer gesamten Wirtschaftlichkeit. Als Sammelforschung der Gesellschaft 
wird sofort eine Sammlung von Kinderdokumenten (Schreibheften und Kinder¬ 
zeichnungen, Spielkonstruktionen usf. von gesunden und anormalen Kindern 
und anormalen Erwachsenen) in Angriff genommen. Alle Senkungen sind 
an die Münchener Geschäftsstelle der Gesellschaft (Kaulbachstraße 63 a I 1.) 
zu richten. 

Ober die deutsche Lehrkunst und die Montessori-Methode im ersten An¬ 
schauungsunterricht wurden von Stadtschulrat Franz Weigl in Amberg auf 
dem I. Kongreß für Heilpädagogik in München folgende Sätze begründet: 

1. Das didaktisch Wertvolle der Montessori-Methode greift auf die deutsche 
Lehrkunst zurück. Insbesondere Fröbel, Ludwig Auer, die Praxis der 
Heilerziehungsanstalten und Hilfsschulen haben längst geübt, was die Mon¬ 
tessori-Methode als neu bietet. 

2. Als Voraussetzung für die von der Montessori empfohlene umfassende 
Sinnespflege kommt für die Schule vor allem auch die sorgfältige Prüfung 
des Vorstellungsschatzes der Schüler in Frage. Die dabei aufgedeckten 
Mängel sind aber nicht durch formale Sinnesübungen zu beheben, sondern 
durch Pflege der Sinnestätigkeit im Rahmen lebensvoller Stoffe des ersten 
Anschauungsunterrichts. 

3. Die Einengung der ersten bildenden Tätigkeit auf eine so umfassende 
Sinnespflege, wie sie die Montessori propagiert, übersieht die bedeutungs¬ 
vollen Aufgaben, die der Gesinnungsbildung zufallen. Letztere darf über 
der Sinnespflege nicht übersehen oder zurückgedrängt werden, wenn nicht 
ein Materialismus im ersten Unterricht Platz greifen soll, dem es unbekannt 
ist, daß auch das Kind in seiner ersten Entwicklung und auch das schwach¬ 
sinnige Kind neben der Welt der Sinne eine Welt der Gesinnung in sich 
trägt, die der Entfaltung harrt. 

Das zehnte Preisausschreiben der Kantgesellschaft 1 ), ermöglicht durch 
eine Spende des Professors Dr. Philipp Kohnstamm in Amsterdam, hat zum 
Thema: „Personalismus und Idealismus als Grundtypen der Weltanschauung, 
erläutert und beurteilt an den gegenwärtigen Versuchen einer philosophischen 
Philosophie“. Das Preisrichteramt haben übernommen die Professoren William 
Stern in Hamburg, Karl Jaspers in Heidelberg, Theodor Litt in Leipzig. 
Die Richtlinien für die Bearbeitung werden in folgender Erläuterung gegeben: 

Es lassen sich zwei Typen der Weltanschauung danach unterscheiden, ob 
das Gültige in der Form des Allgemeinen, Abstrakten (der absoluten Ver¬ 
nunft, der Idee, des Gesetzes) oder in der Form einmaliger, konkreter Ganz¬ 
heiten (Personen, Persönlichkeiten) gefaßt wird. Man kann jenen als den 
idealistischen, diesen als den personalistischen Typus bezeichnen. 

In der Geschichte des philosophischen Denkens ist bis jetzt der erste Typus 
weitaus am stärksten vertreten worden. Wohl finden sich bei Aristoteles 
und Leibniz, in neuerer Zeit bei Eduard von Hartmann, Lotze, Nietzsche, 
sowie an einzelnen Stellen idealistischer Systeme (z. B. in Kants Lehre von 

*) Abzüge des Ausschreibens mit den ausführlichen Bedingungen versendet auf Wunsch im 
Auftrag der Kant-Gesellscbalt unentgeltlich der stellvertretende Geschäftsführer Prof, Dr. Arthur 
Lieber, Berlin W 15, Fasanenstr. 48. 


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- r ;t ry. yt w» . * 


Kleine Beiträge und Mitteilungen 


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der sittlichen Persönlichkeit) Ansätze zum Personalismus. Die eigentliche 
Vertretung dieser Überzeugung wurde aber bisher meist dem naiven Perso¬ 
nalismus überlassen, wie er sich, abseits von der Philosophie, in Mythus, 
Religion, Kunst, tätigem Leben äußert. Erst in unserer Zeit hat sich die 
Philosophie die Aufgabe gesetzt, personalistische Überzeugungen mit den Hilfs¬ 
mitteln systematischer und kritischer Methodik zu durchdenken. Hierbei 
haben sich eigenartige Beziehungen positiver und negativer Art zu den 
Kategorien des abstrakten Idealismus herausgebildet. Diese »Beziehungen zu 
untersuchen, soll die Aufgabe der Preisschrift sein. 

Hierfür ist es nicht erwünscht, daß die Gedankengänge der idealistischen 
Systeme, die ja bereits in aller Gründlichkeit philosophisch durchgearbeitet 
sind, nochmals ausführlich behandelt werden. Vielmehr sind die persona- 
listischen Ansätze und Systemversuche unserer Zeit zum Mittelpunkt der 
Arbeit zu machen. Von diesem Mittelpunkt aus soll der Bearbeiter die 
genannten Beziehungen zum Idealismus darlegen und zu ihnen kritisch 
Stellung nehmen. 

Es wird vorausgesetzt, daß die der eigentlichen Philosophie angehörigen 
Ansätze zu einem Personalismus, wie sie etwa in der Diltheyschen, in der 
südwestdeutschen Schule, bei Eucken, Simmel, Troeltsch, in der Ethik Schelers 
zu finden sind, dann besonders der Ausbau der Idee des Personalismus in 
dem metaphysischen System William Sterns berücksichtigt werden. Weiterhin 
ist den Bearbeitern die Heranziehung verwandter Gedankengänge aus der 
nichtdeutschen Philosophie freigestellt. Ebenso ist es ihnen überlassen, in 
welchem Umfange sie analoge Gedanken in den Spezialwissenschaften (z. B. 
die vitalistische Hypothese in der Biologie, das Gestaltungsprinzip in der 
Psychologie, die verstehende Methode in der Geschichtsschreibung, den Be¬ 
griff der juristischen Persönlichkeit in der Rechtswissenschaft usw.) ein¬ 
beziehen wollen. 

Nachrichten. 1. In Weimar, wo er am Lehrerseminare wirkte, starb nach 
eben vollendetem 49. Lebensjahre Studienrat Prof. Hermann Itschner. 
Durch eine reiche schriftstellerische Tätigkeit hat er sich auf dem Gebiete 
der Pädagogik hohen wissenschaftlichen Ruf erworben, vor allem durch seine 
vierbändige Unterrichtslehre, Leipzig (Quelle & Meyer), in der er das Wesen 
alles Lehrens und Erziehens als Entbindung gestaltender Kräfte im Dienste 
der Persönlichkeitsbildung entwickelte. Weitere Arbeiten galten der Grund¬ 
legung der Lehrerbildung und der Gestaltung des Religionsunterrichts. Von 
dem Ministerium für Volksbildung in Weimar war er für bedeutsame Auf¬ 
gaben in der Entwicklung des Thüringischen pädagogischen Lebens in Aus¬ 
sicht genommen. 

2. Prof. Dr. Paul Barth in Leipzig ist gestorben. Um die pädagogische 
Wissenschaft hat er sich vor allem durch seine Erziehungs- und Unterrichts¬ 
lehre, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde, und durch seine Be¬ 
mühungen um den Moralunterricht hochverdient gemacht. 

3. Der Physiologe MaxVerworn, der sich auch mit psychologischen Fragen 
forschend beschäftigte, ist in Bonn gestorben. 

4. Prof. Dr. med. et phil. Schultze, der in Frankfurt a. Main als außer¬ 
ordentlicher Professor einen Lehrauftrag für Pädagogik erfüllte, folgt dem 
Ruf, ein Ordinariat für Pädagogik in Königsberg zu übernehmen. Er 


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Kleine Beiträge und Mitteilungen 


ist Schüler von Lipps, Wundt, Marbe und Külpe und hat vor seiner 
Arbeit in Frankfurt als Gymnasialiehrerbildner in Buenos Aires ge¬ 
arbeitet. 

5. Prof. Dr. Narziß Ach in Königsberg hat einen Ruf auf den Lehr¬ 
stuhl für Psychologie nach Göttingen erhalten. 

6. Dem Studienrat am Wöhler Realgymnasium in Frankfurt a. Main 
Dr. Julius Richter jst ein Lehrauftrag für Religionspädagogik an der 
Universität erteilt worden. 

7. Zum Nachfolger Natorps auf den Lehrstuhl der Philosophie an der 
Universität Marburg ist der o. Prof. Dr. R. Hartmann in Aussicht genom¬ 
men, der dort bereits seit 1909 wirkt. 

8. Der Studienrat Dr. phil. Ernst Hoffmann am Mommsen-Gymnasium 
in Charlottenburg ist zum etatsmäßigen außerordentlichen Professor der 
Philosophie und Pädagogik an der Universität Heidelberg ernannt worden. 

9. Dem Privatdozenten für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der 
Bonner Universität Dr. Oskar Kutzner ist die Dienstbezeichnung „außer¬ 
ordentlicher Professor“ verliehen worden. 

10. Die Leitung des Instituts für angewandte Psychologie uhd 
experimentelle Pädagogik an der Universität Göttingen ist nach dem 
Tode von Dr. W. Baade dem Privatdozenten für Philosophie und Pädagogik 
Dr. Oswald Kroh übertragen worden. 

11. Eine „gemeinnützig arbeitende Stelle für praktische Psy¬ 
chologie“ ist mit Unterstützung des preußischen Ministeriums in Spandau 
ins Leben gerufen worden. Das Institut, das unter der ehrenamtlichen Lei¬ 
tung von Dr. R. W. Schulte steht, will nach der Art einer Poliklinik für 
praktische Psychologie wirken, in der neben Untersuchungen vor allem Be¬ 
ratung und Behandlung erfolgt. 

12. Ein Institut für Jugendkunde will die Lehrerschaft Nürnbergs mit 
Hilfe der Stadt errichten. Die wissenschaftliche Leitung soll Prof. Dr. Baege 
übernehmen. 

13. In dem diesjährigen Akademischen Ferienkurse des Sächsischen 
Lehi'ervereins (9.—21. Oktober in Leipzig) waren Psychologie und Päd¬ 
agogik mit folgenden Vorlesungen vertreten: Pädagogik und Psychologie. 
Professor Dr. Litt. (4 Std.) — Psychologie des Gefühlslebens. Professor 
Dr. Krueger. (8 Std.) — Zur Psychologie jugendlicher Zeugen nnd deren 
Begutachtung durch den Lehrer. Lehrer Max Döring, wissenschaftlicher 
Leiter des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie. (4 Std.) — 
Ausgewählte Kapitel aus der allgemeinen Psychiatrie. Dr. med. Pfeifer. 
(8 Std.). 

14. Die Gesellschaft für experimentelle Psychologie veranstaltet 
den 8. Kongreß für experimentelle Psychologie am 17. bis 20. April 1923 
in Leipzig. Folgende Sammelreferate werden erstattet werden: Privatdozent 
Dr. O. Selz und Prof. R. Sommer: Über die Persönlichkeitstypen. 
Prof. J. Cohn: Geschlecht und Persönlichkeit. Prof. W. Peters: Vererbung 
und Persönlichkeit. Prof. F. Krueger: Der Strukturbegriff in der Psycho¬ 
logie. Außerdem wird eine Reihe von Einzelvorträgen gehalten werden. An¬ 
fragen sind zu richten an Prof. Dr. Otto Klemm, Leipzig, Schwägrichenstr. 5. 


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Literaturbericht 


471 


Literaturbericht. 


Selbstanzeigen. 

Richard Müller - Freienfels, Philosophie der Individualität Leipzig 1921. Meiner. 

270 8. 

Dies Buch versucht einen der nächstliegenden und doch kaum jemals ernsthaft beschrittenen 
Pfad ins Land der Erkenntnis einzuschlagen, indem es die Individualität zum philosophischen 
Problem macht, diesen schillernden Zauberspiegel, in dem wir wohl meinen, unser eignes Ich 
zu schauen, in der doch zugleich auch die einzige Möglichkeit ist, uns ein Bild der übrigen 
Welt zu formen. So ist es nicht Psychologie allein, was ich treibe, sondern Philosophie. Und 
zwar steht mir im Mittelpunkt die Irrationalität des Ich, sein wechselndes, sich spaltendes, 
keine feste Grenzen kennendes und doch in diesem Wechsel stets sich selbst behauptendes 
Wesen. Gewiß sucht es sich zu rationalisieren, zur „Persönlichkeit* zu verfestigen, aber seine 
irrationale Art bleibt doch bestehen. Gerade für die Pädagogik ist dies Wechselspiel des irra¬ 
tionalen Lebens und des Strebens nach festen Formen und überindividuellen Werten ein un¬ 
endlich wichtiges Gebiet, denn das Geheimnis alles Menschenverstehens beruht auf dem Erfassen 
dieser Gegensätze. Hinter diesen Problemen aber tauchen die großen metaphysischen Fragen 
auf nach dem innersten Wesen von Leben, Tod und Unsterblichkeit und das Problem des. über- 
individuellen Seins. Auch alle diese Probleme zieht mein Buch in seinen Kreis. 


Martin Honecker, Gegenstandslogik und Depklogik. Vorschlag zu einer Neugestaltung 
der Logik. Berlin 1921. Dümmler. 127 S. 

Wenn trotz Husserls eingehender Kritik der „Psycbologismus*, wie in andern philo¬ 
sophischen Disziplinen, so auch in der Logik nicht verschwinden will, so wird dies vielleicht 
daran liegen, daß die heutige Logik einen nicht homogenen Problemkreis darstellt, dessen Be¬ 
standstücke eine psychologische Behandlung teils verbieten, teils erfordern. Dies nachzuweisen 
ist Aufgabe der vorgenannten Schrift. Sie versucht, aufzuzeigen, daß die Schullogik einerseits 
Probleme behandelt, welche in einer allgemeinen Gegenstandsieh re ihren wissenschaftlichen 
Ort haben, daß sie anderseits ein zweites Problemgebiet enthält, welches als Denklehre von 
jener grundverschieden ist. Dabei ergibt sich, daß die Gegenstandslogik von psychologischen 
Rücksichten gänzlich frei sein muß, während in der Denklogik die Verwendung psychologischer 
Erkenntnisse durchaus gerechtfertigt, ja gefordert ist. Des weiteren behandelt der Verfasser in 
programmatischer, kurzgedrängter Übersicht die Grundbegriffe und Hauptprobleme der beiden 
Wissenschaftszweige, wobei bezüglich der Gegenstandslehre eine Verwandtschaft mit der Meinong- 
schule nicht zu leugnen ist und in den Analysen zur Denklehre der Einfluß Husserls sich wirksam 
macht. Schließlich wird in knappen Zügen dargelegt, in welcher Weise die einzelnen Kapitel 
der bisherigen Logik auf die beiden neuen Disziplinen zu verteilen sind. 

Einige Stellen, wie z. B. die Behandlung der Methodenlehre, sind von einem über das eigent¬ 
liche Thema hinausliegenden, allgemeinwissenschaftlichen Belang und dürften auch bei Psycho¬ 
logen und Pädagogen Interesse finden. 


Einzelbesprechungen. 

Else Wentscher, Grundzüge der Ethik mit besonderer Berücksichtigung des 
pädagogischen Problems. 2. Aufl. Leipzig 1920. Teubner. 127 S. 

Wir weisen erneut darauf hin, daß diese kurzgefaßte Ethik wegen ihrer Stütze, die sie in 
der Psychologie sucht — so ist zwischendurch eine gute Analyse der Willenshandlung 
gegeben —, und wegen ihrer Ausblicke in die ethische Begründung der Pädagogik ganz 
besonders auch denen zu empfehlen ist, die von der Erziehungs- und Unterrichtswissenschaft 
her sich ethisch orientieren wollen. “ Tr. 


Dr. Alois Höfler, Universitätsprofessor Wifcn, Logik und Erkenntnistheorie. 1. Band: 
Logik. Zweite, sehr vermehrte Auflage mit vier Beiträgen als Überleitungen von der Logik 
zur Logistik von Universitätsprofessor Dr. Ernst Mally in Graz. Wien 1922. Hölder 
Pichler-Tempsky. 936 S. 

Der dickleibige, von schwerer Wissenschaft erfüllte Band ist erwachsen aus der viel weniger 
umfänglicheren und leichter lesbaren „Logik*, die Höfler 1890 für die Hand der Lehrer in 
dem Schulfach Philosophische Propädeutik verfaßt hatte, — einem schon längst vergriffenen 


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Literaturbericht 


Werke, dem später noch die beiden bekannteren Schulbücher „Grundlehren der Logik 44 und 
„Propädeutische Logik“ entnommen worden sind. Dieser genetische Zusammenhang der vier 
Schriften wird sichtbar in der gleichen Gliederung des gewaltigen Stoffgebietes. Eine psycho¬ 
logische Einleitung — wenig beeinflußt von neueren Anschauungen — führt zunächst bin 
zu der überlieferten Erfassung der Logik als der „Lehre vom richtigen Denken“. Der erste 
Teil bringt, wie es ln den logischen Gesamtdarstellungen üblich ist, die Elementarlehre, ge¬ 
gliedert in zwei Abschnitte: Die logischen Vorstellungen und die logischen Urteile, unter die 
Urteile einbeschlossen als deren Gewinnung und Begründung das Schließen und Beweisen. Die 
Methodenlehre mußte dann notwendig den zweiten Teil bilden. Sie enthält die Abschnitte 
„Heuristik“ und „Systematik“ und ist — wieder nach der Gewohnheit der logischen Lehr¬ 
bücher — unverhältnismäßig kurz bedacht. Ein Band Erkenntnistheorie soll sich noch an¬ 
schließen. 

Zur Kennzeichnung des Höflerschen Standpunktes mögen die Hinweise genügen, daß eine 
mittlere Linie zwischen psychologischer und psychologiefreier Logik eingehalten ist, daß 
Nominalismus, Relativismus und Skeptizismus als „drei Denkfehler im Großen“ abgelehnt 
werden, daß im Wesentlichen die Lehre Meinongs dem Ganzen eine feste Stütze gibt und daß 
— Hm der aufkommenden symbolischen Logik ihr Recht zu geben — am geeigneten Orte vier 
Beiträge von Prof. Mally (Graz) als „Überleitung von der Logik zur Logistik“ Aufnahme gefunden 
haben. 

An der Darstellung ist bemerkenswert, wie die logischen Probleme und Sachverhalte 
durchweg mit reichlich eingestreuten Beispielen bedacht worden sind und wie sich — verständ¬ 
lich aus den besonderen Arbeitsgebieten Höflers — breitere Einschläge von Erörterungen zur 
Logik der Mathematik und Physik vorfinden. 

Leipzig. Otto Scheibner. 


Dr. Fritz Giese, Psychologie und Psychotechnik. Band 2 von Dünnhaupts Studien- and 

Berufsfübrern, herausgegeben von Dr. Kurt Jagow und Dr. Friedrich Mattbaesius. Dessau 1922. 

C. Dünnhaupt. 63 S. 

Die erstaunlich rasche — vielleicht gar überhastete — Entwicklung der angewandten Psycho¬ 
logie bat zu dem psychologischen Fachgelehrten die Berufsgestalt des praktischen Psychologen 
gestellt. Erzieher, Ärzte, Volkswirte, Ingenieure, Berufsberater, Juristen, Betriebsräte usw. 
stützen sich heute in entscheidenden Maßnahmen auf psychologische Befunde, deren Ermittlung 
fachmännische Schulung erfordert und zu beruflicher Verselbständigung drängt. Freilich haben 
sich diese neuen Berufe — der Scbulpsychologe, der industrielle Psychotechniker, der psycho¬ 
logische Sachverständige bei Gericht, die psychologische Laborantin usw. — noch durchaus 
nicht im Kreis ihrer Aufgaben, im Ausbau ihres Tätigkeitsfeldes, in dem Ausbildungsgange, 
in der wirtschaftlichen Sicherstellung, in der Einordnung ins Ganze des Berufslebens noch keines¬ 
wegs klar herausgebildet — sie sind in ihrer Daseinsberechtigung sogar noch vielfach umstritten. 

Ein verdienstliches Unternehmen ist es darum, daß sich Giese der spröden Aufgabe unterzöget 
hat, unter Dünnhaupts Studien- und Berufsführer auch einen Wegweiser zu Psychologie und } 
Psychotechnik einzureihen und dem Gebiete damit ebenso nützlich zu werden wie schon früher ^ 
mit seinem „Psychologischen Wörterbuche* und dem „Psychotechnischen Praktikum“, ver- \ 
dienstlich vor allem, weil er dabei mit allem Nachdruck betont, wie die psychologische Praxis 
ein sehr verantwortliches Tun ist und von streng wissenschaftlicher Schulung getragen sein 
will. Die Schrift stellt zuerst die verschiedenen „Lebensberufe der Psychologie“ vor und unter¬ 
sucht dann die Frage der Eignung zu psychotechnischer Fähigkeit. Es werden hierauf die 
Studienmittel besprochen. Weiterhin folgen die Studienpläne für Psychologie als Haupt- und 
Nebenfach. Eine besondere Darstellung ist dem Psychotechniker (dem Laboranten und tech¬ 
nischen Assistenten) gewidmet. Über die unmittelbaren Zwecke des Buches hinaus wird dann 
ein ausführlicher und sorgfältiger Literaturnachweis wichtig. Eigenartig ist die abschließende 
Aufzählung von 600 Studienfragen, die psychologische Sachverhalte und Probleme anführen, die 
den Blick auf das Wesentliche des so vielseitigen Gebietes lenken sollen. 

Leipzig. • Rieh. Tränkmann. 


Prof. Dr. med. Erwin Stransky und Dr. med. et jur. Bernhard Dattner, Über Psycho¬ 
analyse. Berlin 1922. Karger. 119 S. 

Der Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie in Wien hat den Versuch 
gewagt, den vielumstrittenen Fragenkreis der Psychoanalyse vor einem Kreis von Vertretern 
aller Fakultäten zur Diskussion zu stellen. Die Höhe, in der sich der einleitende Vortrag 


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Literaturbericht 


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• 

Rudolf Adlers und die ausgedehnte Aussprache, in der Freunde und Gegner schar! aufeinander 
stießen, sich fast durchweg bewegte, bat es gerechtfertigt erscheinen lassen, das Ganse der 
Verhandlungen in der vorliegenden Schrift der Öffentlichkeit vorzulegen. Daß sie auf dem für 
die Psychoanalyse klassischen Boden Wien erwachsen ist, sichert ihr von vornherein eine ge¬ 
wisse bevorzugte Stellung in dem allgemach schon kaum noch zu überschauenden psycho¬ 
analytischen Schrifttum. Sch. 


Dr. J. Varendonck, Ober das vorbewußte phantasierende Denken. Internationale 
psychanalytische Bibliothek Bd. II. Leipzig—Wien—Zürich 1922. Internationaler psychana- 
lytischer Verlag. 172 S. 

Varendonck legt in seinem Buch einen überaus wertvollen Beitrag zur Denkpsychologie 
vor. Gegenstand seiner Untersuchung sind assoziative Gedankenketten, wie sie als Tagträume, 
als phantasierende Denktätigkeit, als „freiaufsteigende“ Vorstellungsverläufe im Dämmer des 
Einschlafens und Ausschlafens bekannt sind und dem apperzeptiven Denken als wesensunter¬ 
schiedlich gegenübergestellt werden. Angeregt von Freunds „Traumdeutung 44 , bedient er sich 
mit einer geringen Abweichung dessen analytischer Technik, ohne dann aber bei der Deutung 
im Banne der Freud'schen Lehren zu stehen. Kaum daß aus der reichen psychoanalytischen 
BegriffsbUdung hier und da einmal die Erscheinungen der „Verdrängung 44 und des „Komplexes 44 
genannt werden. Die Ergebnisse der Untersuchung aber klingen mit denen der Psycho¬ 
analytiker schön zusammen. 

An der Hand seines bis ins Letzte zergliederten Materials geht Varendonck zunächst der 
Entstehung der Gedankenketten nach und findet: „Wenn die vorbewußten Gedankengänge 
bei ruhender Seelentätigkeit entstehen, so ist ihr Anlaß entweder ein sensorischer oder psychi¬ 
scher Reiz, und wenn sie unsere Aufmerksamkeit vom willkürlichen Denken ablenken und in 
vorbewußte Bahnen hinlenken, kann die Ursache der Entstehung die gleiche sein; der Übergang 
von der einen Art zu der anderen Art des Denkens wird in diesem Fall durch eine äußere 
Assoziation vermittelt (S. 34). 

In großer Breite wird weiter dann über den Inhalt und den Vollzug des phantasierenden 
Denkens gehandelt. Es dürfte nach den Untersuchungen Varendoncks kaum möglich sein, eine 
vorbewußte Gedankenkette zu verfolgen, in der nicht visuelle Bestandteile aufzufinden sind; 
ja es scheint geradezu die Verbildlichung ein Merkmal des phantasierenden Denkens zu sein, 
wobei sich der Tagträumer als Zuschauer der vorüberziehenden Bilder fühlt (S. 86—37). Wohl 
aber ist die Vordringlichkeit des Denkens in Bildern und des Denkens in Wörtern jeweils ver¬ 
schieden. Einmal rollen die inneren, lebhaft bewegten, sich auseinander herausentwickelnden 
Bilder filmartig ab, und von ihnen erscheint abhängig, was an Gedanklichem in den Bewußtseins- 
strom eingeht; andermal wieder reiht das Denken vornehmlich Wortvorstellungen aneinander, die 
dann von Bildern — mehr oder minder deutlich wie ein Buchtext illustriert werden. Beide Fälle, 
zwischen denen fließende Übergänge bestehen, unterscheiden sich in der Gefühlsbetonung. 
Beim ausgesprochenen Bilddenken kehren die Affekte, die beim wirklichen Erleben auftreten, 
in der Erinnerung zurück; beim Wortdenken werden sie nicht erkennbar (S. 39). Auch 
sonst bestehen Unterschiede. Wenn die Assoziationskette mit Wortvorstellungen arbeitet, so 
sind wir nicht weit vom bewußten Denken entfernt, während sich alle visuelle Träumerei mit 
ihrer starken Verbildlichung an das der unbewußten Tätigkeit annähert. Neu an den Auf¬ 
schlüssen Varendoncks ist es, daß er aufdeckt, wie die oft sehr komplizierten freien Gedanken¬ 
ketten eine sie kennzeichnende Aufeinanderfolge von Fragen und Antworten, Annahmen und 
Einwendungen, Vorschlägen und Ablehnungen aufweisen, gelegentlich durch halluzinatorische 
Erinnerungen unterbrochen, und wie hierin wahrscheinlich eine allgemeine Eigentümlichkeit des 
vorbewußten Denkens zu erblicken ist — eine Erscheinung, die den Eindruck einer Prüfung auf 
zweckmäßige Verwendung machen kann und die sich auch in primitiven Formen des Lernens 
(Frage- und Antwortverfahren) und im kindlichen und volkstümlichen Denken findet (S. 64}. 
Ihren Ausgang nimmt die Gedankenreihe meist von einer affektbetonten Erinnerung, sei es, 
daß diese freisteigend oder durch eine Wahrnehmung veranlaßt auftritt. Die Richtung aber deEf 
Assoziationsstromes wird bestimmt durch die Wirksamkeit eines oder mehrerer Wünsche. Je 
geringer deren Kraft ist, umso auffälliger tritt das Merkmal der Sprunghaftigkeit, die das 
unbewußte Denken kennzeichnet, in die Erscheinung. Immer aber haben unsere Tagträume 
nur den Drang nach vorwärts; sie gestatten keine Rückschau — außer unter Heranziehung 
bewußter Fähigkeiten — und machen damit im Gegensatz zum bewußten Denken eine Prüfung 
und Berichtigung unmöglich. In ihnen herrscht das Vergessen — eine Quelle ihrer reichen 
Fehler und damit ihrer Unzulänglichkeit. Der Abbruch schließlich geschieht im Zustande der 


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Literaturbericht 


Passivität entweder unter dem Einflüsse eines Affektes oder auf Einwirkung eines änderen 
Reizes, die nun die Erinnerungen, die vorher im freien Zuge und Spiele waren, in den Dienst 
eines Zieles — etwa der Wahrnehmung — stellen. Varendonck schließt seine Untersuchungen ab 
mit Ausführungen über die nicht zu gering einzuschätzende Bedeutung des vorbewußten Denkens 
und über seine Beziehung zur bewußten Denktätigkeit. Wenn wir gerichtet denken, so kann 
sich dies dem Vorgang der unbewußten Gedankenbildung ziemlich angleichen. Beide sind 
verwandte psychische Erscheinungen. Nur daß im bewußten Denken die Affekte behoben sind 
und die Gedankenabfolge unter der Regelung des Willens steht Die Vorzüge willkürlichen 
Denkens aber werden bezahlt mit einer Einbuße an der Fähigkeit, über den Gedächtnisbesitz 
zu verfügen, ein bedeutsamer Verlust, weil damit die Grundlage der Denktätigkeit dürftiger 
geworden ist. Außerdem entsteht ein Nachteil dadurch, daß die Spontaneität gewisser Vorgänge, 
die das eigentlich schöpferische Denken bewirken, verloren geht. Ein Ausgleich aber wird 
möglich, wenn beide Arten des Denkens in einem einzigen Prozeß, der mit Vermeidung ihrer 
Mängel die Vorzüge zusammenführt, vereint wirken (S. 168—170). 

Es sind nicht neue Unterscheidungen, die Varendoncks Untersuchungen vornehmen. Ans 
Wundts Lehre vom assoziativ-apperzeptiven Gedankenverlauf ist z. B. das Wesentliche geläufig. 
Verdienstlich an den neuen Forschungen ist aber, daß sie die Tagträume aus der Sphäre des 
Unnormalen herausheben und als ein allgemeines psychisches Phänomen beschreiben, daß sie 
an einem reichen wissenschaftlich einwandfrei gewonnenen Beispielmaterial klarer und ergiebiger, 
als es bisher geschehen ist, die Gesetzmäßigkeiten der vorbewußten Gedankentätigkeit heraus¬ 
arbeiten, daß sie ihre Beziehungen zu der Wirksamkeit des unbewußten und bewußten Denkens 
aufdecken und alle drei Formen als verschiedene Äußerungen einer in der Wurzel gleichen 
Funktion aufdecken. Freilich dürfen die Ergebnisse nicht vorschnell verallgemeinert werden. 
Aus dem Erleben einer einzigen Person gewonnen, haben sie ganz offenbar nur Geltung für 
einen bestimmten Denktypus. So verlangen sie eine Ausdehnung der Untersuchung auf breiteres 
Material in vergleichender Betrachtung. Dabei wäre auch das experimentelle Verfahren an¬ 
zuwenden, wofür die Beobachtungen Varendoncks viele Fragestellungen aufzeigen. 

Für die Pädagogik erscheinen uns die Untersuchungen Varendoncks sehr bedeutungsvoll. 
Die theoretische Begründung der Arbeitsschule, die als Wesenszug die Pflege freier geistiger 
Tätigkeit des Schülers verwirklichen will, bedarf solcher denkpsycbologischer Forschungen ganz 
dringend. Varendonck aber unterläßt, wiewohl er offenbar aus dem Lehrerberufe herüberkommt, 
die pädagogische Auswertung. Doch ergeben sich wenigstens zwischendurch einige wertvolle 
praktische Winke, wie die Kunst des Denkens zu pflegen sei. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Kurt Schulze, Gestaltwahrnehmung von drei und mehr Punkten auf dem 
Gebiete des Hautsinnes. Heft 4 der Philosophischen und psychologischen Arbeiten, 
herausgegeben von Theodor Ziehen. Langensalza 1922. Beyer & Sö. 57 S. 

Die stärkere Betonung der handlichen Betätigung im Unterricht der neuen Schule fordert, 
wenn ihre Begründung und methodische Gestaltung auf sicherer wissenschaftlicher Grundlage 
geschehen soll, ganz dringend eine Psychologie der Hand. Noch aber mangelt es außerordent¬ 
lich an Forschungen, die hierzu die Bausteine darreichen. Vor allem müßten sich die Unter¬ 
suchungen in den von Katz eingeschlagenen Richtungen bewegen. Einiges für pädagogische 
Auswertung bietet auch die vorliegende Untersuchung. Sie stellte sich drei experimentelle Auf¬ 
gaben : wie geschieht durch den Hautsinn die Wahrnehmung von drei in einer Gerade gelegenen 
Punkten; wie die Auffassung von Winkeln; wie die Erkennung einfacher geometrischer Eck¬ 
figuren? Beschränkt wurden die Versuche über Gestaltwahrnehmung nur auf die Rückenfläche 
des Vorderarmes. Versuchspersonen waren Kinder und Erwachsene. Von den Ergebnissen, 
wie sie Schulze selbst zusammengestellt bat, sind besonders die Aufschlüsse über die Figuren¬ 
auffassung bemerkenswert. Es ergab sich das folgende: „1. Die Größe des Tastkreises spielt 
bei der Auffassung von größeren Figuren nur eine relativ geringe Rolle, dagegen ist es von 
großer Bedeutung, ob die Vp. die zur Verwendung gelangten Figuren kennt oder nicht. Beim 
wissentlichen Verfahren ist die Prozentzahl der richtigen Antworten für alle drei Figurenarten 
bedeutend höher als beim unwissentlichen Verfahren. Auch Erkennen innerhalb eines Tast- 
kreises ist nicht ausgeschlossen. 2. Der Einfluß der Übung ist sehr bedeutend; er kann 
dahin führen, daß die Vp. am Schluß der Versuchsreihen bei den angewandten Figuren nur 
noch richtige Antworten gibt. Diese Tatsache ergab sich auch beim unwissentlichen Verfahren. 
3. Neben der Übung des rechten Vorderarmes geht wahrscheinlich auch eine Übung des linken 
Armes einher, wie sich beim Übergang von Sukzessiv- zu Simultanversuchen zeigte. 4. Ist die 


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Literaturbericht 


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Vp. in der Lage, einen Vergleich zwischen zwei Figuren anstellen zu können, so steigt die Zahl 
der richtigen Antworten. Hierbei ist es gleichgültig, ob die Darbietung der beiden Figuren 
sukzessiv (nacheinander auf demselben Arm)- oder simultan (zugleich auf beiden Armen) ge¬ 
schieht Die Zeit- bezw. Raumlage ist für das Erkennen der Figuren ohne große Bedeutung. 
5. Bei Eckenfiguren besteht eine ausgesprochene Neigung, die Anzahl der Ecken zu unter¬ 
schätzen ; die Vp. vermag im allgemeinen höchstens drei Punkte mit Sicherheit zu unterscheiden. 
Die Zahl der richtigen Antworten ist für das Dreieck am größten, dann folgt das Quadrat und 
zum Schluß das Trapezoid. 6. Von den Flächenfiguren ist der große Kreis am besten erkannt 
worden; dann folgt der kleine Kreis, zum Schluß die Ellipse. Die individuellen Differenzen 
sind auffällig groß. Manche Vpp. haben ein sehr gutes Auffassungsvermögen für diese Figuren, 
während andere nur sehr schwer Umrisse und Ecken erkennen können. 7. Bei den Hohlfiguren 
ist die Auffassung am besten. An der Spitze der richtigen Antworten stehen die beiden 
Kreise, während das Viereck am schlechtesten erkannt worden ist Vom Viereck empfanden 
viele Vpp. nur eine Ecke. 8. Werden beide Arten von Figuren durcheinander aufgesetzt, so 
st es schwierig, Flächen- und Hohlfiguren auseinanderzuhalten. Es zeigt sich eine Neigung, 
hohle Figuren mit ausgefüllten zu verwechseln. 9. Innerhalb der Prozentzahlen der richtigen 
Antworten zeigen sich sowohl bei den einzelnen Vpp. als auch bei den einzelnen Figuren große 
Schwankungen, die auf den Einfluß der Übung, Ermüdung, Aufmerksamkeit usw. zurückzu¬ 
führen sind. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. phil. et med. G. Sommer, Geistige Veranlagung und Vererbung. 2. Aufl. 
Leipzig 1919. Teubner. 122 S. 

Der Eifer, dem gegenwärtig die psychologische Forschung und Praktik der Frage der Ver¬ 
erbung zuwendet, lenkt die Aufmerksamkeit auch schärfer wieder auf die Frage der Vererbung. 
Sommers Buch leistet für die erste Orientierung über den Stand der gegenwärtigen Erkenntnis 
die beste Handreichung. Er behandelt zuerst nach einleitenden und grundlegenden Erörterungen 
das körperliche Substrat der Seele — das Nervensystem — und seine Vererbung und wendet 
sich dann in gleicher Ausdehnung zu den ererbten seelischen Konstitutionen, den besonderen 
Anlagen (Instinkt, Sprache, Begabung, Talent, Genie). Den Schluß bildet die Vererbung von 
im Individualleben erworbenen Eigenschaften. Tr. 

Karl Mosse, Volontärarzt an der Charite in Berlin, Über Suggestion und Suggestions¬ 
therapie im Kindesalter. (Heft 184 der „Beiträge zur Kinderforschung und Heil¬ 
erziehung“.) Langensalza 1922. 18 S. 

Die kurze, mehr medizinisch als psychologisch und pädagogisch eingestellte Arbeit berichtet 
über einen etwas robusten Kindergartenversuch des Verfassers, über einige Untersuchungen 
anderer Forscher und über die Auswertung des einschlagenden poliklinischen Materials einer 
Universitätsklinik. Wesentlich Neues legt sie nicht vor. Als Hauptergebnisse treten unter 
anderem heraus, daß bei Dreijährigen eine starke Suggestibilität nachgewiesen wurde, daß mit 
fortschreitendem Alter gesunde Kinder weniger suggestibel befunden wurden, während Neuro- 
pathen und Hysteriker sich suggestiver Beeinflussung mehr und mehr zugänglich zeigen, daß 
ferner Schwachsinnige eine weit niedere Suggestibilität als normale aufweisen. Sch. 

Karl Bartsch, Hilfsschullehrer in Leipzig, Das psychologische Profil. Eine Erforschung 
der psychischen Funktionen des normalen und des anormalen Kindes. Mit 101 Abbildungen 
im Text und einer Text-Tafel in zwei Exemplaren. Halle a. S. 1922. C. Marbold. 62 S. 

Bartsch hat die bekannte Testreihe Rossolimos abgeändert und legt nun die damit erzielten 
Ergebnisse vor. Die angeführten Beispiele — „gedeutete Profile“ — sind reizvoll und lehrreich. 
Sie werden aber überzeugen, daß solche Untersuchungen, sollen sie wirklich ertragreich sein, nicht 
bloß eine sehr gute psychologische Schulung des Lehrers erfordern, sondern auch ganz erheb¬ 
liche Anforderungen an seine Arbeitskraft stellen. Tr. 

Dr. A. Roth, Oberstabsarzt, Sehproben naclf Snellens Prinzip. 5 Tafeln mit 4 Text¬ 
beilagen. Leipzig 1922. Georg Thieme. 

Die handlich ausgestattete Reihe der Tafeln ist für ärztlichen Gebrauch bestimmt. Eine 
Bearbeitung für Schulkinderuntersuchungen, die dort, wo kein Schularzt angestellt ist, vom 
Lehrer auszuführen sind, wäre sehr erwünscht. Es müßte dann vor allem auch eine aus¬ 
führlichere Erläuterung und Gebrauchsanweisung beigegeben werden. Sch. 


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Literaturbericht 


Dr. Eugen Matthias, Privatdozent, Bedeutung und Aufgaben der Leibesübungen 
im Dienste der Gesamterziehung. Bern 1922. Haupt. 22 S. 

Die Erziehung der letzten Jahrhunderte hat sich, einseitig auf die Geistespflege eingestellt, 
schwer an der Leiblichkeit der Zöglinge versündigt Wenn eine Wandlung sich anzubahnen 
beginnt, so ist sie nicht zuletzt hervorgegangen aus den treibenden Kräften der Jugendbewegung. 
Was es dabei zu begreifen und zu tun gibt, stellt das Schweizer Schriftchen von Dr. Eugen 
Matthias wohldurchdacht und in erfreulicher Knappheit zusammen, wobei in rechtem pädagogischen 
Denken nun nicht in die andere Einseitigkeit verfallen wird, sondern aus dem Ganzen einer 
Erziehungsanschauung heraus die körperliche und geistige Schulung in ihrer Vergeschwisterung 
und Wechselseitigkeit erfaßt sind. Schade aber, daß die erziehlichen Wirkungen der Leibes¬ 
übungen uns nur bis zu der — allerdings entscheidenden — Zeit der Reife aufgedeckt werden 
und,es für die nachfolgenden Altersstufen bei einigen grundsätzlichen Gedanken verbleibt 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Geheimer Regierungsrat Dr. Karl Heilmann, Oberregierungs- und Schulrat, Handbuch der 
Pädagogik. I. Bd.: Psychologie und Logik. Unterrichts- und Erziehungslehre. Schulkunde. 
22 , verb. Aufl. 395 S. II. Bd.: Besondere Unterrichtslehre. 12 , verb. Aufl., 332 S. III. Bd.: 
Geschichte der Pädagogik. 14., verb. Aufl. 385 S. Berlin 1922. Union Deutsche Verlags- 
geseilschaft. 

Im Hinsterben der Lehrerseminare und im Aufdämmem einer neuen Lehrerbildung erscheint 
noch einmal — war es nötig? — dieses umfängliche Schullehrbuch der Pädagogik, das bei 
der berufswissenschaftlichen Ausbildung so vieler Lehrer feste Stütze und sichere Wegweisung 
sein durfte — ein Dokument für das Lehrgut und den Lehrgeist auf den deutschen Lehrerbildungs¬ 
anstalten. Mit welchem Eifer und Fleiße ist hier eine erstaunliche Menge erziehungskundlicber 
Tatsachen, Forderungen und Gedanken auf gespeichert worden — darunter manch Urväterhausrat 
pädagogischen Wissens und auch allzu wichtig genommener methodischer Kleinkram —; mit 
welcher Anstrengung haben sich Seminaristen und Junglehrer bei den Prüfuugsvorbereitungen 
durch solche Stoffmengen hindurcbquälen müssen. Lehrende und Lernende haben es sich auf 
den Seminaren wahrhaftig sauer werden lassen. Es blieb dabei aber vielfach da hinten das 
Schwerste am Gesetz: die pädagogische Ergriffenheit und die Schulung im erziehungswissen¬ 
schaftlichen Denken. Und dennoch, so arg schlimm, wie es nach manchen Klagen und An¬ 
klagen scheint, kann es doch nicht um die Wirkung der Seminarpädagogik bestellt sein: wie 
wären sonst das heiße Bemühen der Lehrer um ihre Fortbildung, der Idealismus und die 
Opferfreudigkeit, die gerade heute im Werden einer neuen Pädagogik beim Veranstalten von 
Kursen und Tagungen sich offenbaren, der starke und ehrliche Wille zur Wissenschaft erklärlich? 
Darum, wie man die Seminare mit dankbarer Anerkennung dessen, was sie in ihrer Zeit ge¬ 
wiß erfüllt haben, zu Grabe tragen wird, soll man auch einem Lehrmittel, wie dem Heil- 
mannschen Handbuche, gerecht zu werden versuchen. Dies um so mehr, als es im Rahmen 
bindender gesetzlicher Vorschriften immer Fühlung zu halten suchte mit den Fortschritten der 
Erziehungswissenschaft und den Bewegungen des pädagogischen Lebens. So wird die Geschichte 
der Pädagogik heraufgeführt bis Gaudig und Kerschensteiner, so ist weiter versucht, in die alte 
Schulpsychologie einer Herbartschen Richtung die Ergebnisse der neuen experimental-psycho¬ 
logischen Forschung mit allem vorsichtigen Bedachte einzuschmelzen. Die Unterrichts- und 
Erziehungslehre freilich ist wenig von dem Geiste der großen pädagogischen Reformbewegung 
berührt. Ich selbst will nicht verschweigen, daß ich dem Heilmannschen Werke in früheren 
Jahren manche Anregung und tatsächliche Förderung für die eigene Ausbildung und für 
meinen Unterricht in den pädagogischen Fächern verdanke, und solange nicht für die auf¬ 
kommende neue Lehrerbildung - sie wird hoffentlich auf die Hochschule verlegt — die not¬ 
wendig wissenschaftlicher gehaltene Literatur erstanden ist, werden am Ende noch die Bücher 
von Heilmanns Art zuerst als Notbehelf einigen Dienst leisten können. Im ganzen aber: in 
Ehrfurcht vor der alten Pädagogik hin zu einer neuen Erziehungswissenschaft und einem neuen 
Lehrertum! 

Leipzig. Otto Scheibner. 

• 

Höfler, Alois, Seelenlosigkeit und Beseelung unserer Schulen. Sonderausgabe aus 
den Bayreuther Blättern. Leipzig 1918. Teubner. 52 S. 

ln geistreichem Plauderton tritt der jüngst verstorbene Wiener Pädagogikprofessor für einen 
neuhumanistischen Unterricht auch der klassischen Sprachen, vor allem des Griechischen ein, 
will ein künstlerisches Griechisch oder gar keines. Der Unterricht, der die klassische Kultur 


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Literaturbericht 


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und Kunst nur als Gegenstand grammatischer Übungen betrachtet, tötet das Menschlich-Große, 
das aus den Meisterwerken der griechischen Dichter und Denker spricht Wie der humanistische, 
so ist auch der realistische Unterricht seelenlos. Die Naturkunde sollte die Kunde sein vom 
Lebenden und Organischen, die Jugend müßte den Reichtum der Naturgestalten schauen und 
lieben lernen, bevor sie zum Verständnis der Naturgesetze gebracht wird. Von diesen Gesetzen 
müßte der Weg führen zur Besinnung auf unsere eigensten seelischen Gesetze selbst. 

Graz. Otto Tumlirz. 

Dr. Wilh. v. Wyss, Rektor der Höheren Töchterschule in Zürich, Soziale Erziehung. 
Bestrebungen und Versuche in amerikanischen Schulen. Zürich 1922. Orell Füssli. 30 S. 

In einer Zeit, in der wir Deutsche das Wort „Gemeinschaft“ tiefer als Je fühlen und ernster 
als früher unsere Jugend zu sozialen Gesinnungen heranbilden wollen, wird man willig sein, 
in diesen Richtungen auch vom Schulwesen des Auslandes zu lernen, und wird man darum 
gern auch zu der vorliegenden Broschüre greifen, in der ein Schweizer Schulmann auf Grund 
seiner persönlichen Beobachtungen in amerikanischen Schulen und an der Hand des einschlägigen 
Schrifttums, namentlich des Werkes „Social education“ von Colin A. Scott, sehr anregend dar- 
stellt, wie man in Amerika auf spätere soziale Brauchbarkeit der Schüler abzielt. Was freilich 
in der kleinen Schrift, die sich mit hübschen Beispielen aus dem Schulleben durchsetzt, dar¬ 
geboten wird. Überrascht keinesfalls; einesteils gehen deutsche Erziehungsbestrebungen länger 
schon den gleichen Weg, andernteils ist das, was wir aus fremdem Land in unsere deutsche 
Schulkultur als wesenswidrig nicht empfangen möchten, aus Berichten deutscher Schulleute, 
so Kerschensteiners, hinlänglich bekannt. Viele Anklänge an Scotts Versuche, die etwas 
ausführlicher behandelt werden, finden sich besonders in deutschen Versuchsschulen, allen voran 
in den Gemeinschaftsschulen. Denn was dort wie hier den leitenden Gedanken gibt, ist die 
„Selbstorganisation der Schule“. Sch. 

Schmid, Bastian. Vor neuen Aufgaben der Schulerziehung. Berlin und Leipzig. 
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. (Heft 8 von „Das neue Deutschland in Erziehung 
und Unterricht“). 51 S. ! 

In drei kurzen Kapiteln beleuchtet der Verfasser schonungslos die Gebrechen der alten 
Schule, die Intellektualisierung der Jugend, die zu Gelehrsamkeit, nicht zu Bildung führte, den 
Militarismus, den Klassenhocbmut der höheren Schulen, die Vermischung von Wissen und Glauben, 
die Verflachung in Weltanschauungsfragen, ln weiteren drei Abschnitten legt der Autor dar, 
wie er sich den innereren Neubau der Schule denkt, wie sich die Beziehungen zwischen Lehrer 
und Schüler, Schule und Haus gestalten müssen, damit die Nation ihre wichtigste Aufgabe, die 
Erziehung der Jugend, erfülle. Das Büchlein ist nicht allein wegen der feinen Bemerkungen 
über die Lehrerpersönlichkeit, über die seelischen Bedürfnisse der Jugend, sondern vor allem 
deshalb sehr lesenswert, weil ein berufener Vertreter der Naturwissenschaft gegen die materia¬ 
listische und monistische Weltanschauung energisch kämpft und die Schäden nacbweist, welche 
die Jugend durch die Entgeistigung des Lebens erfahren hat. 

Graz. Otto Tumlirz. 

Ed. Clapar&de, Die Schule nach Maß. Erlenbach-Zürich 1921. Rotapfel-Verlag. 40 S. 

Dr. Eduard Claparöde, Prof, an der Universität Genf, ist in Deutschland bekannt durch sein 
aus dem Französischen übersetztes Werk „Kinderpsychologie und experimentelle Pädagogik* 4 . 
(Leipzig 1911, Barth). Was er in dem vorliegenden Schriftchen bietet, will auf die Forderung 
hinaus, daß die Schule sich der Eigenart der Schüler „angemessen“ gestalte. So bewegen 
sich die Ausführungen im wesentlichen in der Darlegung, wie mannigfaltig die persönlichen 
Unterschiede innerhalb einer Schule sind und welche organisatorischen Forderungen — mobile 
Klassen, parallele Lehrgänge, freie Fach wähl — sich hieraus ergeben. Dem deutschen päda¬ 
gogischen Denken ist dies alles sehr geläufig. Tr. 

Walter Fränzel, Volksstaät und höhere Schule. (Tatflugschriften. Nr. 32.) Jena 1919. 

Diederichs. 31 S. 

Mit flotten Strichen werden einige bildhafte Ansichten skizziert, die im neuen Deutschland 
die kommende Schule einem Vorausschauenden zeigt. Modell steht die Wickersdorf er Schul¬ 
gemeinde — unbekümmert, ob die Gedanken, die sich in den Landerziehungsheimen dank be¬ 
sonderer Gunst der Umstände verwirklichen konnten, sich nun auch unter den ganz andersartigen 
Bedingungen groß- und mittelslädtischer Schulkörper durchzusetzen vermögen. Nach grundsätzlichen 


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Literaturbericht 


Darlegungen über das neue Deutschland, den neuen Menschen, das neue Volk, wird insbesondere 
das Verhältnis vom Lehrer zum Schüler, von der Schule zur Gegenwart und zum Publikum er¬ 
örtert. Leitgedanke ist, daß die Schale der Zukunft nicht eine lebensfremde, unpersönliche Unter- 
richtsanstalt. sondern eine Stätte lebendigsten, auf die Gegenwart eingestellten Personenlebens 
sei. Wer das Schrifttum zur inneren Reform unserer Bildung nur einigermaßen kennt, wird 
bei Fränzel auf nicht viel Neues stoßen, kann aber an der frischen Art des Darstellens ein 
Vergnügen finden. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Paul Cauer, Professor für Pädagogik an d. Universität Münster, Aufbau oder Zer¬ 
störung? Eine Kritik der „Einheitsschule“. Münster i. Westf. Schöningh. 1919. 48 S. 

Cauer lehnt mit Gründen, die keinen neuen wesentlichen Einwand bedeuten, die strenge 
Form der Einheitsschule ab. Doch verkennt er nicht Mängel des alten deutschen Bildungswesens 
und bemüht sich zu zeigen, wie das Berechtigte an den Zielen der Einheitsschule auch auf an¬ 
derem Wege erreichbar sei. So tritt er u. a. für die Aufhebung der Vorschulen ein, will aus¬ 
gezeichnet begabten Kindern aus unbemittelten Familien eine besondere Fürsorge zugewendet 
wissen, fordert reichlich Mittelschulen in organischer Verbindung mit der Volksschule, verlangt 
viel größere Strenge bei Versetzungen und Prüfungen. Daß in der Beamtenlauf bahn mit dem 
Anziennitätsprinzip gebrochen werden muß, daß man den Volksschullehrern die Wege zum Stu¬ 
dium auf das höhere Lereramt bahnt, daß sich in den Kreisen der Gebildeten eine unbefangene 
Schätzung schlichter, auf den Erwerb gerichteter Arbeit verbreite — das sind nach Cauer 
weitere Vorbedingungen für Beseitigung alter Übelstände. 

In seinen Darlegungen, die uns in vielen Stücken nicht überzeugen, berührt Cauer 
zwischendurch auch (S. 12) die Ermittelung der Hochbegabten durch experimentelle 
Prüfungen. Er erkennt an ihnen Gutes an, erhebt aber das grundsätzliche Bedenken, daß 
nur das Maß der intellektualen Begabung festgestellt werde, nicht aber auch Willenskraft, 
Arbeitslust, geistiges Streben. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. Hanna Gräfin von Pestalozza, Der Streit um die Koedukation in den letzten 
30 Jahren in Deutschland Pädagogische Forschungen und Fragen. Herausgegeben von 
Prof. Dr. R. Stölzle. Langensalza 1922. Beyer & Söhne. 110 S. 

Auf der Grundlage eines sehr fleißigen Studiums der ausgebreiteten einschlagenden Fach¬ 
literatur, die in einem wertvollen, freilich nicht lückenlosen bibliographischen Anhänge geordnet 
angeführt wird, setzt sich die Verfasserin mit der heute nicht mehr wie noch vor einem Jahr¬ 
zehnt so leidenschaftlich umstrittenen Koedukation vom Standpunkte katholischer Christ¬ 
lichkeit auseinander. Die leitende Frage — anfangs verhüllt, zun; Schluß aber in aller Deut¬ 
lichkeit ausgesprochen — ist ihr letzthin: „Halten sich die Gegengründe der Koedukation unter 
den Augen Jesu? u Und ihrer Weisheit letzter Schluß wird: „Es ist uns Menschen kein anderer 
Weg als der konkrete Weg über unsere Individualität gegeben, und gerade durch Christus, der 
doch eben ein ganzer Mann war, ist dieser Weg sanktioniert worden.“ Offenbar, daß bei solcher 
religiös-kirchlichen Einstellung der Abhandlung — sie ist eine Dissertation — der wissenschaft¬ 
liche Zug der Untersuchung gefährdet sein mußte. Die tiefe Gläubigkeit, die oft schönen, ja 
ergreifenden Ausdruck gewinnt, läßt die Doktorandin nicht zu einem unbedingten, rein gelehrten 
Denken gelangen und führt weniger zu verstandesmäßigen Erkenntnissen als zu einem gefühls¬ 
getragenen Bekenntnis. Vielleicht aber, daß die Frage der Koedukation, so nüchtern sie als ein 
Problem der Organisation erscheint, eben darum keine eindeutige Lösung trotz so langen Streitens, 
und Untersuchens zu finden vermochte, weil sie sich weit mehr auf Werthaltungen und nicht 
nur auf wissenschaftliche Einsichten stützt, als man es bislang eingesehen hat Jedenfalls 
weiß die Verfasserin durch die Wärme ihres Empfindens für ihre Anschauung, daß die Koedu¬ 
kation wider die Natur des Frauentums und damit auch wider den Sinn einer nach höchster 
Entfaltung ihrer Kulturkraft strebenden Menschheit sei, zu gewinnen. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Dr. R. v. Rhoden, Haupt Vertreter des Schulgemeindegedankens. Sammlung päd¬ 
agogischer Studien. Herausgegeben von Prof. Dr. W. Rein. Heft 24. Langensalza 1922. 
Beyer & Söhne. 59 S. 

Die pädagogische Sehnsucht unserer Zeit kommt kaum tiefer ergriffen zum Ausdruck als 
in der Auffassung, daß die Schule keine Anstalt, sondern eine Lebensstätte der Jugend sein 


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Literaturbericht 


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sollte und daß darum sie, die allzusehr als „Instrument des Staates“ ein lebensfremder künst¬ 
licher Verband war, zu einer echten Gemeinschaft sich gestalte. Und so wurde unter den im 
pädagogischen Denken umlaufenden Schlagwörtem auch „Schulgemeinde“ ein Reformruf. 
Aber was darunter gemeint wird, ist nicht eindeutig gedacht. Ailerverschiedenstes führt, wie 
so oft in den pädagogische* Erörterungen, den gleichen Namen. Seltsam, wie Sinn und Geist 
dieser pädagogischen Vorschläge und Versuche wechselt: Ausgesprochener Utilitarismus und be¬ 
geisterter philosophischer Idealismus ist oft die treibende Kraft; moderner Realismus und mittel¬ 
alterliche Mystik, streng konfessionelle Religiosität und Haß auf allen überlieferten Bekenntnis- 
glauben wohnen andermal in ihnen; demokratischer und aristokratischer Geist walten darin; 
nationales und internationales Bewußtsein bekunden sich. Eine Überschau über die auseinander¬ 
gehenden Gedanken, die sich in ihrer Verwirklichung „Schulgemeinden“ nennen, ist darum ein 
verdienstliches Unternehmen, das in den Schulkämpfen der Klärung dienen wird. 

v. Rhoden setzt bei dem Sprachgebrauch Dörpfelds ein und stellt dar, wie bei ihm Schul¬ 
gemeinde die Grundlage der Schulverfassung ist. In englischen und französischen Reformschulen 
(Reddie, Demolins) und in den deutschen Landerziehungsheimen von H. Lietz wird dann der 
Ausdruck zum Namen der freien Erziehungsschule. Anders Wyneken: er begreift unter Schul¬ 
gemeinde eine „Kulturinsel“. Neuendorff wieder will sie im Rahmen der Staatsschule als eine 
Arbeits- und Lebensgemeinschaft errichten. Ist sie dann weiterhin bei Fr. W. Foerster ein 
Mittel der Schuldisziplin, so wird sie für Graf Pestalozza eine beseelte Gesellschaft. 

Wie. nun das vieldeutige Wort diese veränderliche Bedeutung hinter sich hat, wird in der 
kleinen Schrift kurz und bündig derart dargesteilt, daß klar der tragende Gedanke heraustritt und 
manches Tatsächliche aus dem Erscheinungsbilde der praktischen Verwirklichung sichtbar wird. 
Des abschließenden Urteils enthält sich der Verfasser. Wir stimmen ihm zu, wenn er meint, 
daß die verschiedenartigen Schulgemeinden immer nur aus dem Boden, dem sie erwachsen sind, 
rechtes Verständnis und gerechte Wertung erfahren können, daß sie in der verallgemeinernden 
Übertragung auf andere Lebenskreise nicht die im Einzelfalle beobachtete gute Wirkung erhoffen 
dürfen, daß sie wohl aber immer einige gesunde Gedanken zu der deutschen Schule beitragen, 
an der wir als an einem Zukunftsbau zurzeit gestalten. 

Leipzig. Otto Scheibne r. 

Edmund Neuendorff, Die Schulgemeinde. Gedanken über ihr Wesen und Anregungen 
zu ihrem Aufbau. Leipzig 1921. Teubner. 395 S. 

Mit kurzer Formel bezeichnet, bietet dieses beachtenswerte Buch eine Problematik der 
neuen Schule. Eine Reihe deutscher Schulmänner hat sich hier zu einem Sammelwerke ver¬ 
eint, in dem bedeutsamere Schulgedanken als Vorschläge, Versuche und Berichte aus Ver¬ 
wirklichungen vorgelegt werden. Ich nenne als besonders wertvoll daraus nur: Philosophische 
Durchdringung der Unterrichts- und Erziehungsarbeit (Geh. Rat Dr. Paul Lorenz) — Der Trieb 
zum Gestalten beim Aufsatz (Dr. Arnold Schmidt-Berlin) — Das dramatische Spiel in der Schule 
(Studienrat Leo FußhÖller) — Einführung in das soziale und wirtschaftliche Leben (Direktor 
Dr. Hermann Stodl) — Gesamtunterricht (Berthold Otto und Dr. Ed. Neuendorff). Es fehlt aber — 
worauf die Zukunft der neuen Schule zu allererst gestellt ist — ihr Scbicksalsproblem: Der 
Lehrer. Wenn die vielfach auseinanderstrebenden Ausführungen der teilweise bedeutenderen 
Verfasser unter dem Namen Schulgemeinde zusammengefaßt werden — diesem so unerquick¬ 
lich in den allerverschiedensten Bedeutungen mißbrauchten Schlagworte. —, so soll damit an¬ 
gedeutet werden, daß der Herausgeber als Einstellung wünschte — sie ist nicht überall ein¬ 
genommen worden —: es möge die deutsche Schule den humanistischen und sozialen Zug aufs 
deutlichste ausprägen. 

Die zahlreichen und hochbedeutsamen psychologischen Probleme, die in der gegen¬ 
wärtigen Schulbewegung einbeschlossen liegen, sind in dem Werke ungebührlich vernachlässigt 
worden. Es besteht darum auch kein Anlaß, sich an diesem Orte näher mit ihm zu befassen. 

Leipzig. Rieh. Tränkmann. 

W. Lottig, Unsere Schul jüngsten. Wie werden wir ihnen gerecht? Samlnlung: Das 
Kind und seine Pflege. Heft 4. Hamburg 1920. Auer & Co. 16 S. 

Den Schuleltern, die oft mit Kopfschütteln dem Umschwung in der Gestaltung des Anfangs¬ 
unterrichts verständnislos gegenüberstehen, gibt hier einer der Hamburger Schulreformer aus 
dem Kreise der „Gemeinschaftsschule“ eine gewinnende Aufklärung. Es ist ganz meisterlich, 
wie er gegen die alten Meinungen über den Beginn des Schulunterrichts die neuen Gedanken, 
nach denen das Kind in natürlicher freier Tätigkeit, in freier Auswirkung seiner eingeborenen 


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Literaturbericht 


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Kräfte sich aus sich selbst heraus entwickeln soll, zu vertreten weiß. Schließlich ist das, was 
er über das freie Malen, die freie Geste, das freie Plaudern sagt, auch von denen unter den 
Lehrern gut und nützlich zu lesen, die der Bewegung nicht freundlich gesinnt sind. Womit 
nicht gesagt sein soll, daß wir glattweg den Stil derer aus den Hamburger Gemeinschaftschulen 
ganz und gar billigten. Sch. 

Dr. Richard Seyfert, Unterrichtsminister a. D., Schulpraxis. Lehre vom Unterricht der 
Volksschule. 4., umgearbeitete AufL Berlin und Leipzig 1921. Vereinigung wissenschaft¬ 
licher Verleger. 150 S. 

Die gewagte Aufgabe, das Ganze der äußeren und inneren Volksschulpädagogik in einem 
Göschenbändchen darzpstellen, ist von Seyfert mit so glücklicher Hand gemeistert worden, daß 
wir im abschließenden Unterrichte des Seminars die früheren Auflagen gern dazu benutzt haben, 
die angehenden Lehrerinnen noch einmal das weite Feld überschauen zu lassen. Das erneute 
Erscheinen gab dem Verfasser Gelegenheit, in sein Buch die Tatsachen, Gedanken und Ausblicke 
der jüngsten pädagogischen Bewegung einzufangen. So stützt sich gleich die einleitende Er¬ 
örterung über die Stellung der Volksschule auf die neue Reichsverfassung, und einer der letzten 
Abschnitte wird dem Werkunterrichte gewidmet. Durchweg aber ist alles durchsetzt mit den 
pädagogischen Errungenschaften der zukunftssicheren Unterrichtsauffassungen, die unter dem 
Namen Arbeitsschule begriffen sind. 

Die Schule ist endlich auf dem Wege, nicht länger mehr nur eine reine Schulrneister- 
angelegenheit zu bleiben, sondern eine innerste Volkssache zu werden. Nur schade, mit welcher 
krassen Unkenntnis zumeist von außen her in das schulmäßige Erziehungswerk hineingeredet 
wird. Soll der Einfluß, der heute den Eltern und andern Kreisen auf die Gestaltung des Schul¬ 
lebens zugestanden ist, von segensreicher Wirkung sein — dann bedarf es der ernsthaften 
Aufklärung, was eigentlich ein schulmäßiger Erziehungsunterricht ist und wie das bedingungs- 
reiche Gebilde der Schule sich in der Fülle seiner ErscheinungsWirklichkeit darstellt. Seyferts 
Buch kann hierbei die besten Handreichungen tun, um so mehr, als es immer das Wesentliche 
herausarbeitet, sehr reichlich die weiterführende Literatur angibt und sich mit viel Anschau¬ 
lichem, wie Lehrplanbeispielen, kleinen Unterrichtsskizzen usf., durchsetzt. 

Leipzig. Otto Scheibner. 

Richard Kabisch. Wie lehren wir Religion? Versuch einer Methodik des evangelischen 
Religionsunterrichts für alle Schulen auf psychologischer Grundlage. 4. verb. AufL, bearbeitet 
von Prof. Dr. H. Tögel. Göttingen 1917. 335 S. 

Im Rahmen dieser Zeitschrift verdient Kabischs Methodik des Religionsunterrichtes darum 
einen würdigenden Hinweis, weil sie ernstlich den Versuch unternimmt, der religiösen Erziehung 
der Schulkinder eine psychologische Unterlage zu geben. In den Erörterungen über die 
Möglichkeit des Religionsunterrichts ist ein besonderer Abschnitt der „Religion des Kindes* 
gewidmet. Er bespricht kurz die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Kinderforschung 
anf religiösem Gebiete und untersucht darnach einzelne Erscheinungen und Bestimmtheiten im 
ersten Werden des religiösen Bewußtseins; so wird über die kindliche Erfahrungsreligion, über 
die religiöse Phantasie in der Kindheit, über kindliche Zweifel und anderes Bedeutsame, das auf 
die Gestaltung des Religionsunterrichts einzuwirken hat, in wissenschaftlicher Erörterung gehan¬ 
delt. Dabei stützt sich Kabisch auf die wissenschaftlichen Forschungen der jüngsten Zeit, zieht 
Beispiele aus der schönen Literatur heran und verwertet auch eigene Beobachtungen. Im ganzen 
greift dieser kinderpsychologiscbe Teil nicht so weit aus, wie der entsprechende Abschnitt in 
Richerts vortrefflichem „Handbuch für den Religionsunterricht erwachsener Schüler* (Leipzig 1911, 
Quelle & Meyer), doch erscheint er durchaus tragfähig für die methodischen Gedanken, die Kabisch 
weiterhin entwickelt. Es sind überdies auch sonst die Darstellungen des Buches, z. B. die Er¬ 
örterungen über die Lehrbarkeit der Religion, mit psychologischen Betrachtungen durchsetzt, so 
daß im Gegensatz zu so vielen Schriften der besonderen Unterrichtslehre, die sich ganz unge¬ 
rechtfertigt mit Titelhinweisen auf die „neuere Psychologie* schmücken, das Werk von Kabisch 
in vorbildlicher Weise psychologisches und fachwissenschaftliches Denken vermählt. 

Zschopau. Paul Ficker. 


Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig. 


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Inhaltsverzeichnis, 


A. Abhandlungen. 

Seite 


Unserer Jagend. Von Oberstudiendirektor Professor Dr. H. Gaudig in Leipzig ... 1 

Vom Ichbewofit8eln des Jugendlichen. Von Universitätsprofessor Dr. W. Stern in Hamburg 8 
Wesen und Arten der Fehler. Von Oberstudiendirektor H. Weimer in Biebrich a. Rh. 17 
Die optische Muskeltäuschung als Intelligenztest für anormale Kinder. Von H. Schüttler 

in Frankfurt a. M..25 

Eine experimentelle Auslese von Sprachbefähigten in der Volksschule. Von Lehrer 

F. Schlotte in Leipzig.29 

Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlichen. Von Privatdozent Dr. 0. Kroh 

in Göttingen.40 

Wesen und Ursachen der Homosexualität. Von Geheimrat Professor Dr. E. Kraepelin 

in München.. 51 

Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik. Von Universitätsprofessor Dr. A. Fischer 

in München.56, 137 

Grundsätzliches über die Volkshochschulfrage. Von Universitätsprofessor Dr. F. E. 0. 

Schultze in Frankfurt a. M.81 

Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung. Von Dr. A. Huth, Assistent am Pädagog.- 

psycholog. Institut in München.97 

Zur Frage der psychologischen Schülerbeobachtung im Dienste der Berufsberatung. Von 
Dr. 0. Bobertag, Leiter der Abteilung am Zentralinstitut für Erziehung und 

Unterricht in Berlin.110 

Zur Feststellung der Sprachbefähigung bei Volksschülern. Von Lehrer MarxLobsien 

in Kiel . *.114 

Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen. Von 
Geh. Regierungsrat Medizinalrat Dr. med. W. Alter, Direktor der Lippeschen 

Landesheil- und Pflegeanstalt in Lüdenhof.117 

Der Formvariator. Ein Hilfsmittel zur Prüfung und Erziehung der dynamisch geometrischen 

Rauinauffassung. Von Universitätsprofessor Dr. W. Stern in Hamburg ... 131 

Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität. Gesamtbericht über 
seine Entwicklung und seine gegenwärtigen Arbeitsgebiete. Unter Mitwirkung 
verschiedener Mitarbeiter erstattet von Universitätsprofessor Dr. W. Stern in 

Hamburg . . *.161 

Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungs¬ 
problem. Von Dr. M. Vaörting in Berlin-Treptow.197 

Psychische Ursachen des Stotterns. Von H. Burkhardt in Löbau i.S.207 

Schulreform und Bildungszweck. Von Studienrat Professor Dr. J. Kretzschmarin Leipzig 211 
Pädagogische Typenlehre. Von Geh. Regierungsrat Prof. Dr. R. Lehmann in Breslau 241 
Die Bedeutung des Ach’schen Begriffes der Determination für die Erziehungslehre. Von 

Dr. A. Hillgrub er, Seminarprorektor in Angerburg.255 

Der Bourdon-Test bei 12}ährigen Schülern. Von Dr. A. Michaelis in Göttingen . . . 258 
Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode des reinen 

Sprachverständnisses. Von Studienrat Dr. P. Schäfer in Leipzig.269 

Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren. 

Von Dr. I. Kaufman und Dr. Fr. Schmidt, Assistenten im heilpädagogischen 

und psychischen Laboratorium in Budapest.289 

Ist das Erziehungsziel „wissenschaftlich* erkennbar? Von Universitätsprofessor Dr. 

A. Messer in Gießen.321 


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VIII 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

Neuere Anschauungen Aber das Wesen sexueller Anomalien und ihre Bedeutung im 

Aulbau der Kultur. Von Universitätsprofessor Dr. M. Isserlin in München . 324 

Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des Wandervogelproblems. 


Von Prof. Dr. H. Loewe in München.342 

Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer? Von cand. G. Friedrich in 

Frankfurt a. M. ........ .356 

Betrachtungen über die Unterrichtsfrage vom Standpunkt der Philosophie des „Als-Ob“. 

Von Seminarlehrer Dr. H. Fuchs in Waldau (Ostpr.).. . . . 369 

Experiment und Lehrerurteil. Von Stadtschulrat H. Schüßler in Frankfurt a. M. . . 378 


Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungs¬ 


problem. Von Dr. K. Piorkowski in Berlin, Leiter des Orga-Institutes . . . 380 

Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik. Von Prof. Dr. W. Döring in Lübeck 401 
Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage. Von Rektor G. Hirsch 

in Guben. 409 

Allgemeine Richtlinien zur erziehlichen Beeinflussung der von der homosexuellen In¬ 
fektion bedrohten Jugend. Von Prof. Dr. H. Loewe in München . . . . 421 

Zwei Begabungsprüfungen. Von Studienrat A. Schwärig in Schneeberg.430 

Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- und Reehenunterricht. Von 

Studienrat G. Rose in Hagen ..442 

Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht. Von M. Trümper-Böde- 

mann in Chemnitz.448 


Verzeichnis der Verfasser. 


Seite 

Alter, W.117 

Bobertag, Otto ........ 110 

Burkhardt. Heinz....... 207 

Döring, Woldemar. 401 

Fischer, Aloys.56, 137 

Friedrich, Gerhard.356 

Fuchs, Hans.369 

Gaudig, Hugo. 1 

Hillgruber, Andreas.255 

Hirsch, Georg.409 

Huth, Albert.97 

Isserlin, M. 324 

Kaufman, Irene.289 

Kraepelin, Emil.51 

Kretzschmar, Johannes.211 

Kroh, Oswald .40 

Lehmann, Rudolf.241 


Seite 

Lobsien, Marx.114 

Loewe, Hans. 342, 421 

Messer, August. . . 321 

Michaelis, Adolf.258 

Piorkowski, Kurt.380 

Rose, Gustav.442 

Schäfer, Paul. ... 269 

Schlotte, Felix.29 

Schmidt, Franz.. . 289 

Schultze, F. E. Otto.81 

Schüßler, Heinrich. . 25, 378 

Schwärig, A.430 

Stern, William.8, 131, 161 

, Trümper-Bödemann, M.448 

i Vaörting, Matthias.197 

j Weimer, Hermann. 17 


B. Kleine Beitrage und Mitteilungen. 

Seite 


Arbeitsgemeinschaften für praktische Psychologie in Westfalen und Lippe .... 310 

Aufruf, von der Jugend aus der Alkoholgefahr zu begegnen ..227 

Befähigung und Eignungsprüfungen für den Musikerberuf.307 

Begabungsprüfung beim Schuleintritt.305 

Erforschung der Sexualentwicklung des Kindes.226 

Erste internationale Tagung für Sexualreform auf sexual wissenschaftlicher Grundlage 148 

Fachstudium und Allgemeinbildung. 382 

Fürsorgeerziehung in Belgien.309 

Gesellschaft für Heilpädagogik.467 

Hamburger Lehrgang zur pädagogischen Psychologie 312 

Hamburgische Woche für Erziehung und Unterricht. 70 

Hauptstelle für praktische Psychologie in Berlin-Spandau.151 

Heilpädagogische Orientierung in der Lehrerbildung.466 

Hygienische Erziehung in der Schule und Vorbildung der Lehramtskandidaten in Hygiene 383 
Institut für Jugendkunde in Bremen. 229 


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Inhaltsverzeichnis 


IX 


Seite 

Institut ffir Jugendkunde in Magdeburg.311 

Jahresarbeit 1921 des Leipziger Institutes für experimentelle Pädagogik und Psychologie 385 

Jugendkunde in der Tschechoslowakei.453 

Kieler Arbeitsgemeinschaft für experimentelle Pädagogik.458 

Kinderaassagen in Sittlichkeitsprozessen.465 

Kinderfahrten als Erziehungswerk. 144 

Koinstruktion in psychologischer Beleuchtung.308 

Kursus zur Einführung in die Jugendwohlfahrtspflege.388 

Lehrfilm.310 

Montessorimethode im Anschauungsunterricht.468 

Schülerbogen. 68 

Schulkinder-Fürsorge.465 

Pädagogik und Philosophie. .144 

Pädagogische Interessengemeinschaft Ostpreußen.465 

Preisausschreiben der Kantgesellschaft.468 

Psychologische Erforschung der Schulanfänger ..384 

Seelische Berufseignung vom Standpunkte des Arztes. 65 

Sonderausstellung „Die deutsche Schule“ in Magdeburg.231 

Sonderklassen in Genf.309 

Städtisches psychologisches Institut in Hannover.231 

Stöhr, Dr. Adolph, Universitätsprofessor in Wien f. . 142 

Studiengemeinschaft für wissenschaftliche Pädagogik .223 

Umfrage über die Eignung zum Lehrerberuf.67 

Untersuchung über Schülerbegabung .147 

Vereinigung für Kinderkunde im Lehrerverein zu Frankfurt a. M.69 

Versuchsschularbeit in Österreich .225 

Verwendung der Schülerbefragung bei der Berufsberatung.228 


Inhalt der Nachrichten. 


Seite 

Ach, Prof. Dr.470 

Akademische Ferienkurse in Leipzig 470 

Ärztliche Gesellschaft für parapsychische 

Forschung.391 

Ausbau des psychologischen Studiums an 

den Hochschulen.313 

Ausstellung japanischer Schulkinderzeich¬ 
nungen in Berlin.232 

Baade, Dr. Walter, Privatdozent der Psycho¬ 
logie in Güttingen +.389 

Barth, Stadtschulrat, Dr.-Ing. . . 232, 312 


Barth, Prof. Dr. Paul +.469 

Braun, Prof. Dr. Otto, in Basel + . . . 313 

Cauer, Prof. Dr. Paul, in Münster + . . 72 

Döring, Max, wissenschaftlicher Leiter im 
psychologischen Institut des Leipziger 

Lelirervereins.389 

Einführende Kurse im Institut für prak¬ 
tische Psychologie in Dortmund . . 390 

Ferienkurse in Jena.314 

Finanzierung des Institutes für wissen¬ 
schaftliche Pädagogik in Münster . . 390 
Forschungsstätte für experimentelle Päd¬ 
agogik in Prag.151 

Gemeinnützig arbeitende Stelle für prak¬ 
tische Psychologie.470 

Gesellschaft, für exp. Psychologie . . . 470 
Giese, Dr. Fritz, Universitätsprofessor in 
Halle.72 


Seite 

Hartmann, Prof. Dr. E.470 

Heilpädagogischer Kongreß in München 232 

Henning, Prof. Dr. Hans.232 

Hochschulwoche in Frankfurt a. M. . . 233 
Hoffmann, Studienrat Dr. Ernst . . . 312 

Höfler, Dr. Alois, Universitätsprofessor 


in Wienf.232 

Institut für Jugendkunde in Magdeburg 233 

Institut für Jugendkunde in Nürnberg * 313 

Institut für Kulturforschung in Berlin . 233 

Internationaler Kongreß für ethische Er¬ 
ziehung in Genf.151 

Internationaler Kongreß für Psychotechnik 

in Mailand.391 

Itschner, Hermann +.469 

Jaenscb, Prof. Dr. Erich.151 

Jubiläumsstiftung für Erziehung und 

Unterricht.232 

Kahl, Prof. Dr. Wilhelm.72 

Kant-Gesellschaft.314 

Köhler, Prof. Dr. Wolfgang.151 

Kroh, Dr. 0.470 

Kursus über Jugendfürsorge in Frank¬ 
furt a. M.233 

Kutzner, Prof. Dr. 0.470 

Lehrgänge über Jugendfürsorge im Für¬ 
sorgeseminar an der Universität Frank¬ 
furt a. M.390 

Lehrgang über Stottern.314 


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X 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 


Marburger Psychologen-Kongreß (Ostern 

1921). 391 

Natorp, Prof. Dr. Paul.1B1 

Orga-Institut, Untersuchungs- und For¬ 
schungsanstalt für Arbeitswissenschaft 
und Psychotechnik in Dresden . . . 313 
Ostermann, Geh. Rat Dr. Wilhelm, in 

Berlin +.232 

Otto, Oberstudiendirektor Dr.151 

Pädagogische Gesellschaft in Mannheim 313 
Pädagogisch-psychologisches Institut in 

München ..314 

Psychologisches Institut für das ameri¬ 
kanische Wirtschaftsleben.313 

Psychotechiiisches Institut in Dresden . 313 
Psychotechnischer Kursus in Dortmund . 314 

Richter, Dr. Julius.470 

Schmidt, Geh. Schulrat Dr.313 

Schultze, Prof. Dr. med. et phil. . . . 469 


Seite 


Spende des Hessischen Lehrervereins für 
das Psychologische Institut in Marburg 313 

Staatliche höhere Versuchsschule in 

Dresden.313 

Stiftung eines Preises durch den Amster¬ 
damer Philosophen Prof. Kohnstamm 391 

Tagung für angewandte Psychologie in 

Berlin.151 

Trüper, Johannes, Begründer und Leiter 
des Erziehungsheims Sophienheim bei 

Jena +.72 

Verein für Moralpädagogik.313 

Verworn, Prof. Dr. Max.469 

Vortragsreihe über die psychischen Grund¬ 
lagen der Jugendpflege.233 

Wagner, Studienrat Dr. J. ... 232, 313 

29» Wanderversammlung des Deutschen 
Gewerbeschulverbandes in Frank¬ 
furt a. M. . ..390 


C. Literaturbericht. 

Seite 


Bartsch, Karl, Das psychologische Profil.475 

Bäumer, Gertrud, und Lili Droescher, Von der Kindesseele .75 

Bühl er, Dr. Charlotte, Das Seelenleben des Jugendlichen.395 

Burhenne, Heinrich, Kinderherz.320 

Cauer, Dr. P., Aufbau oder Zerstörung.478 

Clapar&de, Prof. Dr. Ed., Die Schule nach Maß.477 

Cohn, Jonas, Geist der Erziehung.158 

Coppius, Marie, Pflanzen und Jäten in Kinderherzen ..237 

Deutsch, Elise, Jugendlichen-Pädagogik.78 

Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Hochschulsonderkursus für Jugendgerichts¬ 
arbeit . 239 

Dickhof, Dr. phil. E., Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung des 

Krtippelkindes.238 

Drill, Dr. Robert, Die neue Jugend.239 

Erismann, Dr. Th., Psychologie HI.155 

Erler, 0., Bilder aus der Praxis der Arbeitsschule.79 

Fehr, F., Stimmen aus dem Schacht! Bergmanns Urteile über Erziehung und Schule . 239 
Finkenrath, Dr. K., Die Zensurfrage vom Standpunkte der Sexualpädagogik .... 238 

Finkenrath, Dr. Kurt, Aufklärung, eine Bewertung ihrer bisherigen Form.238 

Finkenrath, Dr. Kurt, Die Jugend zur Geschlechterfrage.76 

Formiggini Santa-Maria, F., Cio che vivo e ciö che ö morto deila pedagogia di 

Federico Fröbel. 319 

Fränrel, Walter, Volksstaat und höhere Schule.477 

Frenzel, Franz, Wesen und Einrichtung der Hilfsschule.237 

Georgi, Walter, Briefe deutscher Ferienkinder aus Skandinavien. 75 

Geys er, Dr. Josef, Abriß der Psychologie.317 

Giese, Dr. Fritz, Psychologie und Psychotechnik.472 

Girgensohn, Dr. K., Der seelische Aufbau des religiösen Bewußtseins.153 

Gürtler, R., Triebgemäßer Erlebnisunterricht.237 

Gut, Dr. med. Walter, Vom seelischen Gleichgewicht und seinen Störungen ..... 156 

Hagemann, Dr. Georg, Psychologie, ein Leitfaden für akademische Vorlesungen, sowie 

zum Selbstunterricht.236 

Hartlaub, G. F., Der Genius im Kinde.75 

Heilmann, Dr. Karl, Handbuch der Pädagogik.476 

Heinitz, Wilhelm, Können wir sprechen, was wir singen?.76 

Heydebrand, Dr. C. von, Gegen Experimentalpsychologie und -pädagogik.395 

Höfler, Alois, Logik und Erkenntnistheorie.471 


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Inhaltsverzeichnis 


XI 


Seite 


Höfler, Alois, Seelenlosigkeit und Beseelung unserer Schulen.476 

Holfmann, Dr. Jakob, Handbuch der Jugendkunde und Jugenderziehung.397 

Hug-Hellmuth, Dr. H., Aus dem Seelenleben des Kindes.396 

Kabisch, R., Wie lehren wir Religion?.480 

Kawerau, S., Soziologische Pädagogik.157 

Kerschensteiner, Georg, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung.400 

Klages, Dr. Ludwig, Prinzipien der Charakterologie — Ausdrucksbewegung und Ge¬ 
staltungskraft — Handschrift und Charakter.157 

Klatt, Dr. Fritz, Autoerotik und Gemeinschaftserotik in den ersten Stufen der Jugend . 397 
Koffka,K., Psychologische Forschung, Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissen¬ 
schaften ..„.72 

Köhler, Prof Dr. med. et phil. F., Friedrich Nietzsche.160 

Kretzschmar, Dr. Ernst, Medizinische Psychologie.155 

Külpe, Oswald, Vorlesungen über Psychologie.394 

Lämmel, Dr. Rudolf, Intelligenzprüfung und psychologische Berufsberatung.399 

Lay, Prof. Dr. W. A., Führer durch den Rechtschreibunterricht, gegründet auf psychologische 

Versuche und verbunden mit einer Kritik des heimatkundlichen Unterrichts 319 
Leipziger Lehrerverein, Die Arbeitsschule, Beiträge aus Theorie und Praxis ... 78 

Link, Henry C., Eignungspsychologie.. 394 

Lottig, W., Unsere Schuljüngsten. 479 

Matthias, Dr. E., Bedeutung und Aufgaben der Leibesübungen im Dienste der Gesamt¬ 
erziehung . 476 

Moses, Dr. Julius, Konstitution und Erlebnis in der Sexualpsychologie und -pathologie des 

Kindesalters.397 

Mosse, Karl, Über Suggestion und Suggestionstherapie im Kindeealter.475 

Münsterberg, Hugo, Psychologie und Wissenschaftsleben.. 394 

Neuendorff, Edm., Die Schulgemeinde. 479 

Nie mann, Stadtschulrat F. J., und Rektor Waller Stein, Deutsches Kulturlesebuch: Hofer¬ 
bücherei .160 

Noppel, Constantin, Jugendzeit. 320 

Österreich, Paul, Strafanstalt oder Leben^schule.399 

Peiper, Geheimrat Prof. Dr., Wandbilder zur Säuglingspflege.238 

Pestalozza, Hanna Gräfin v., Der Streit um die Koedukation in den letzten 30 Jahren in 

Deutschland.478 

Prüfer, Johannes, Theorie und Praxis in der Erziehung . . *.76 

Raatz, Wilhelm, Dein Sorgenkind.237 

Rein, Prof. Dr. W., Zur Gestaltung des Lehrplans der Grundschule.159 

Reinkemeyer, F., Förderung der Begabten... . 76 

Rhoden, Dr. R. v, Hauptvertreter des Schulgemeindegedankens.478 

Riehl, Alois, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart.153 

Rorschach, Hermann, Psychodiagnostik, Methodik und Ergebnisse eines wahrnehmungs¬ 
diagnostischen Experimentes..' . . 74 

Rosenkranz, C., Bevölkerungsfrage und Schule. 239 

Roth, Sehproben nach Snellens Prinzip.475 

Scheit, Prof. Dr. H., Unsittliches Benehmen von Schulknaben. Ein Beitrag zur Frage 

der Koedukation. 239 

Schmid, Bastian, Von den Aufgaben der Tierpsychologie.156 

Schmid, Bastian, Vor neuen Aufgaben der Schulerziehung.477 

Schneider, Dr. Martha, Psychologische Pädagogik.317 

Schulz, Dr. Willi, Innerliche Schulreform. 240 

Schnlze, Dr. Kurt, Gestaltwahrnehmung von drei und mehr Punkten auf dem Gebiete 

des Hautsinnes. 474 

Seyfert, Dr. R., Schulpraxis, Lehre vom Unterricht der Volksschule ....... 480 

Sommer, Dr. phü. et med. Georg, Leib und Seele in ihrem Verhältnis zueinander . . 154 

Sommer, Dr. phil. et med., Geistige Veranlagung und Vererbung.475 

Spagnnn, Ilse, Sexuelle Erziehung der weiblichen Jugend durch die Schule .... 238 
Stern, Dr. phil. et med. Erich, Die krankhaften Erscheinungen des Seelenlebens . . . 156 
Stransky, Prof, Dr. med., und Dattner, Dr. med. et jur., Über Psychoanalyse . . . 472 
Study, E., Denken und Darstellung, Logik und Werk, Dingliches und Menschliches in 

Mathematik und Naturwissenschaften.237 


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XII 


Inhaltsverzeichnis 




Seite 


Tiling, Mgd. v., Psyche und Erziehung der weiblichen Jugend.159 • 

Trumpp, Prof. Dr. J., Kleinkinderpflege . 258 : ■ 

Tumlirz, Dr. Otlo, Das Wesen der Frage.318,- 

Varendonck, Dr. J., Über das vorbewußte phantasierende Denken.475 ■ ■ 

Wentscher, Else, Grundzüge der Ethik mit besonderer Berücksichtigung des pädagogischen 

Problems.471 - 

Wetekamp, W. t Selbstbetätigung und Schaffensfreude in Erziehung und Unterricht . . 249 

Wyss, Dr. W. v., Soziale Erziehung. 477 ™ 

Zell, Th., Das Gemütsleben in der Tierwelt. 238 - 

Ziegler, Prof. Heinrich Emst, Tierpsychologie.74 

Selbstanzeigen. 

Bühler, Dr. Charlotte, Das Seelenleben des Jugendlichen.235 

Gaudig, Oberstudiendirektor Prof. Dr. H., Freie geistige Schularbeit in Theorie und Praxis 235 
Hoff mann, Dr. Walter, Die Reifezeit, Probleme der Entwicklungspsychologie und Sozial¬ 
pädagogik .234 

Honecker, Dr. M., Gegenstandslogik und Denklogik.471 

Hy 11a, Die Bedeutung der Begabungsforschung für die Berufsberatung.318 

Kretzschmar, Dr. Joh., Das Ende der philosophischen Pädagogik.155 

Lindworsky, J., Der Wille, seine Erscheinung und seine Beherrschung nach den Er¬ 
gebnissen der experimentellen Forschung.. ..391 

Lindworsky, J., Experimentelle Psychologie. 398 « 

Lindworsky, J., Umrißskizze zu einer theoretischen Psychologie. 392 ' 

Lindworsky, J., Willensschule, Handbücherei der Erziehungswissenschaften Nr. 3 • . 392' 

Müller-Freienfels, Dr. Richard, Bildungs- und Erziehungsideale in Vergangenheit, Gegen- ♦ -. 

wart und Zukunft.315 e 

Müller-Freienfels, Dr. Richard, Psychologie des deutschen Menschen und seiner Kultur 3lf>\ 

Müller-Freienfels, Dr. Richard, Philosophie der Individualität.471** 

Reinkemeyer, F., Förderung der Begabten. . .8i8 

Stern, Clara und William, Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes . 392 

Stern, William, Psychologie der frühen Kindheit.398 

Stern, Clara, Aus einer Kinderstube. (Bearbeitet von Toni Meyer). 392. \ 

Tumlirz, Dr. Otto, Einführung in die Jugendkunde.152 - 

Weigl, Franz, Wesen und Gestaltung der Arbeitsschule.315 

Weigl, Franz, Bildung durch Selbsttun.315 


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