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ZEITSCHRIFT FÜR
PÄDAGOGISCHE PSYCHOLOGIE
UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK
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Unserer Jugend.
Von Hugo Gaudig.
Es heißt offenbar das pädagogische Denken sehr stark erregen, wenn man
vom wirklichen Erzieher, vom Erzieher der Zukunft, die Anerkennung des
Rechtes der Jugend auf eine ihrer Natur gemäße Lebensführung un( j (j a8
Gefühl für ihre wertvolle und unersetzliche Eigenart fordert, wenn man von
der rechten Schule erwartet, sie solle sich dessen bewußt bleiben, „daß die
Jugend ihr eigenes Recht, ihre eigene Schönheit hat und nicht lediglich
Vorbereitungszeit, nicht lediglich Mittel zum Zweck ist“. 1 ) Ein starker Anreiz
zum Denken für die mit der gegenwärtigen Erziehung Zufriedenen; ein
stärkerer für die, die bereit sind, der Jugend zu ihrem Rechte zu verhelfen;
ein sehr starker Anreiz aber namentlich für die ältere Jugend der Schule
und besonders wieder für die, die — vor nicht langer Zeit aus der Schule
entlassen — den Gedanken nicht gewährten Rechtes, erlittenen Unrechtes
frisch im Bewußtsein trägt. Gegep wen kann sich nun das Gefühl gekränkten
Rechts wenden? Gegen die wissenschaftliche Pädagogik, die dies Recht nicht
reklamiert hat; gegen die Schule, die das Recht der Jugend nicht wahmimmt;
gegen den Staat, der den Willen des Volkes durch Sicherung der Daseins¬
rechte der Jugend nicht vollstreckt; gegen die kulturelle Entwicklung, die so
kulturwidrig ist, daß die Jugend nicht zu einem Leben eigenen Rechtes,
eigenen Wertes, eigener Schönheit gelangt; gegen die Jugend, die zu schlaff
ist, ihr Recht wahrzunehmen? Offenbar kann die Erregung sich in alle diese
Richtungen wenden.
Sind die Rechtskränkenden aber nicht vor allem — die Erwachsenen? Die
Jugend — die Erwachsenen! Ein alter Gegensatz. Man versteht, daß sich
das Rechtsgefühl der Jugend leicht in die Bahn dieses Gegensatzes wirft
Bei den Erwachsenen findet man „die ungeheure Anmaßung“, „die Schule
als eine Präparationsanstalt für das anzusehen, was sie unter dem Leben
verstehen, und sie.ihren Altersinteressen dienstbar zu machen“ 2 ); dieselbe „An¬
maßung, die in der Jugend .... nichts als die Vorstufe des Alters sieht,
das Alter aber als den eigentlichen Gipfel des Lebens“. Man spürt schon
am Wortlaut die Stärke der Erregung. Leidenschaftlicher Haß aber sprüht
aus den Worten, wenn a. a. 0. von einem „Schulmeisteraberglauben an die Vor¬
bereitungspflicht der Schüler auf das sogenannte Leben“ als von einem bis in
seine letzten Wurzeln auszurottenden Aberglauben gesprochen wird.
Die Jugend -— die Erwachsenen. Das scheint aber zu heißen: Die Jugend —
das „Alter* (a. a. O. S. 167).
Und nun folgerichtig weiter: „Wie die Jugend als Ganzes nicht dem Alter
untertan sein darf, so auch nicht der Schule“. Die Schule ist für niemand
sonst da als für die jungen Menschen; sie soll ihren und nur ihren Bedürf-
*) G. Wyneken, Schule und Jugendkultur (1914), S. 39 und 61.
pgdagogik deines Wesens (Freideutscher Jugendverlag. 1920). S. 166.
Zeltsehrin f. pUdagog. Psychologie. 1
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Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Hugo Qaudig
2
nissen gerecht werden und zwar „den gegenwärtigen Bedürfnissen“, „nicht
denen, die sie in 10 oder 20 Jahren einmal haben werden“. „Die Schule
ist nicht ein Mittel, sondern ein Selbstzweck.“ Die Fürsorge für die Be¬
dürfnisse ist aber Sache der Jugend selbst, denn es ist eine selbstverständliche
„Wahrheit, daß jedes Lebensalter für seine Bedürfnisse selbst zu sorgen“ hat
(a. a. 0.).
Ein radikaler Gedanken'zug. Am Ende sind wir bei schroffen Gegen¬
sätzen angelangt, vor allem bei dem Gegensatz Alter/Jugend, der die ge¬
samte Zwecksetzung der Schule und damit ihr ganzes Wesen verdorben hat.
Die Jugend aber muß vom Alter ihr Recht fordern. So sind wir denn in
unserem Kulturleben, das doch bereits schwer unter der Menge der Gegen¬
sätze leidet, zu einem neuen Gegensatz gelangt: die Jugend gegen das Alter;
und dieser Gegensatz bricht verwüstend in das Schulleben ein.
Im übrigen: Sind es wirklich die Erwachsenen als Erwachsene, die der
Jugend ihre Rechte kränken? Mir scheint, als wehrten sich die Freunde der
Jugend und die Jugend selbst gegen ein nirgends zu fassendes, nichts denkendes
und nichts wollendes Abstraktum.
Die Schule aber, die auf den gekennzeichneten Grundanschauungen auf¬
gebaut ist, erfreut sich der absoluten Autonomie; sie verfügt frei über sich;
sie kennt keine Zwecke, die ihr das Jenseits der Schule diktiert; auch nicht
Zwecke, deren Berücksichtigung der Lebensgang dei Jugend nach der Schul¬
zeit fordert. Aber das Schulleben selbst könnte zweckbestimmt sein; zweck¬
bestimmt im Sinne der immanenten Zwecke. Die Freunde der Jugend, deren
Wegen wir nachgehen, sind offenbar keine Freunde der Teleologie. Sie
schauen im einzelnen und in der Gemeinschaft Kräfte des Wachstums, die
zielsicher in dem jugendlichen Menschen wirken; diesem Wachstum darf die
Erziehung vertrauen; sie darf die Zöglinge wachsen lassen, wie und wohin
sie wollen. Sie vertraut der „geistigen Welt“, die die Kinder in sich tragen. 1 )
Die Schule unserer Jugendfreunde ist eine in sich geschlossene, von jen¬
seits nicht durch Zweckforderungen beunruhigte, auf die dem Eigenwesen
innewohnenden Kräfte der jugendlichen Selbstentfaltung bauende „Welt“.
Die gegenwärtige Schule ist stark gebunden durch den Stoff; die zu be¬
herrschenden Stoffe („Stoff und abermals Stoff“), meinen unsere Jugendfreunde,
liegen als schwere Last auf den jugendlichen Geistern utad erdrücken das
geistige Wachstum. Daraus ergibt sich die Forderung der Befreiung vom
Stoffzwang. — Mit dem Namen „Arbeitsschule“ bezeichnet eine große
Reformbewegung der Gegenwart ihr Wesentliches; ihr Ziel ist der Erwerb
geistiger Kräfte — durch Arbeit für die Arbeit. Die Schule der Jugendfreunde
läßt nichts von diesem straffen Zuge zur Arbeitsfähigkeit spüren. Da die
beste Vorbereitung aufs Leben ist, sich nicht vorzubereiten, da man das
Arbeiten auf Vorrat, den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten, dieses
„Hamstern“ auf Vorrat, sich „schenken“ kann, ohne die Zukunft der Mensch¬
heit und der einzelnen zu gefährden, so ist die Zukunftsschule der „Jugend“
frei von allem Arbeitszwang und Arbeitsdruck; so will sie nichts von „Werk¬
geist“ wissen. Und da ein wirklich ernstes Arbeiten, bei dem es auf Beherrschung
des Stoffs und der Arbeitsweise ankommt, nur bei fachmäßiger Arbeit mög¬
lich ist, kann man die Ablehnung der Fächer als einfache Folge verstehen.
*) a. a. 0. 8. 29, 119, 164 usw.
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Unserer Jugend
3
Das Entscheidende der Schule der Jugend liegt aber nach einer bisher noch
nicht berührten Seite: nach der Seite des Gemeinschaftslebens; ihr Cha¬
rakter ist eigenartig sozial. Daher die scharfe Ablehnung alles unsozialen
Geistes: des Neides, des Ehrgeizes usw. Vor allem aber kennzeichnet die
Schule die starke Betonung des Verhältnisses von Lehrer und Schüler sowie
von Schüler und Lehrer. Das Verhältnis beruht auf freier Wahl, auf freier
Wahl des Lehrers und der Schüler. Ein Lehrerwechsel wird vermieden.
„Die innere Einheit der Schule ist die Gemeinschaft, die sich um den Lehrer
als Führer schart.“ Der Lehrer muß mit den Kindern leben (S. 51). „Die
Frage der Menschwerdung ist die Frage an das Schicksal, ob es den Menschen
für uns bereit hat, durch dessen Liebe wir eingehen in das Reich des Geistes.“
Die Arbeit an der Jugend ist heiliger Dienst. Stark betont wird auch die
Gemeinschaft der Zöglinge untereinander. Also eine Welt der Liebe, des Eros.
Und die „Ordnung“, die Zucht? Der Geist der Jugendschule wird er¬
sichtlich aus den Wendungen, man müsse mit den Versuchen aufhören,
durch stoffliche, zeitliche und räumliche Bindungen das innere Leben bürokratisch
zu dirigieren; es müsse der Gemeinschaft überlassen werden, wo, wann und
wie sie aus dem gemeinsamen Erleben heraus gestaltet“ (S. 68).
Das Stimmungsleben der Schule aber ist aus einem gläubigen Optimismus
geboren; in diesem Optimismus lehnt sie alle Mahnung, bei ihrer Erziehung
an den „Emst des Lebens“ zu gedenken, at>.
Das ist die Schule, wie sie sich mir nach den „Gedanken der Erneuerung“
darstellt, ln ihr soll aber die Jugend zu ihrem Lebensrecht kommen.
Sehen wir zu, wie man nach unserer Meinung das Problem der Schule
stellen und lösen muß, in der der Jugend ihr Recht wird; wenn wir vor¬
läufig noch die Fragestellung nach dem Recht beibehalten. Nun zunächst
ein rtQQTov tpevdoc: der Ausgang von dem Gegensatz Jugend—Erwachsene
oder vollends Jugend—Alter. Will man von einem Verhältnis ausgehen, das
von vornherein dem pädagogischen Denken die Aussicht auf bestimmende Kraft
in allem, was die Jugend angeht, verheißt, so kann es nur das Verhältnis
Volk/Jugend sein. Bei diesem Verhältnis stehen die beiden Verhältnis¬
glieder wie das Ganze und ein Teil gegenüber, denn die Jugend — ist Volk,
und zwar ein genau zu umschreibender Teil des Volkes. Das Leben der
Jugend spielt sich im Rahmen des Volkes ab; die Jugend ist selbst Volks¬
kraft und empfängt ihre Lebenskraft aus dem Volksleben. In den Erwachsenen
kommt das Volk zum Bewußtsein seiner selbst, es umfaßt aber in seinem
Bewußtsein zugleich „seine“ Jugend; wenn es die Jugend mitdenkt, so kann
es sich denken, wie es eben ist, in seiner vollen Gegenwärtigkeit. Es kann
aber auch seine Zukunft denken, in der sich seine gegenwärtige Jugend zur
kulturtragenden Generation weitergeschoben hat Das Volk weiß seine Jugend
als den Volksteil, in dem es sich verjüngt (regeneriert). Dabei umfaßt ein
Volk, je mehr es Volk ist, je weiter sein Einheitsbewußtsein entwickelt ist,
die gesamte Jugend in ihrer Einheit. Bei einem wirklichen Kulturvolk neigen
ferner alle Bewußtseinsakte, in denen es sich seiner Jugend bewußt wird,
zu starker Gefühlsbetonung; in der Jugend sieht das Volk ja seine Jugend;
vielleicht die Macht, die das Volk vor dem Oberaltern bewahrt, die seine
Kulturentwicklung höher hinaufführt, die Hoffnung gewährt, daß sie die Not
des Volkes heilt; vielleicht aber auch den Teil des Volkes, an dem die Sünden
der Väter heimgesucht werden.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
4
Hugo Gaudig
Nun ist es aber leider Tatsache, daß die „Kulturvölker“ weit davon ent¬
fernt sind, Kulturvölker im vollen Sinne zu sein. Vor allem fehlt ihnen das
Einheitsbewußtsein; oder es ist nur vorübergehend aktuell und nur selten
stark wirksam. Solche Völker vermögen darum auch nicht, das rechte Be¬
wußtseinsverhältnis zu ihrer Jugend zu gewinnen. So „kennt“ unser deut¬
sches Volk seine Jugend nicht; den Parteien und den Klassen tritt die eine
Jugend in bürgerliche und proletarische Jugend auseinander. Noch viel weniger
vermag eine in Parteien zerrissene, nur gelegentlich und zufällig in ihren
Anschauungen einige Nation das zu leisten, was wir von ihr der Idee nach
vor allem fordern müssen. Sie vermag Dicht in einheitlichem Bewußtsein,
aus einheitlichem Willen auf die Lebensgestaltung ihrer Jugend zu wirken,
sie ermangelt also in einem für den nationalen Kulturprozeß wesentlichen
Stücke des erforderlichen Kulturvermögens. Unser, pädagogisches Denken
allerdings, sofern es grundsätzlich ist, kann nur mit einer Nation rechnen,
die die Kraft in sich hat, auf das Leben ihrer Jugend im Sinne wertvollen
Kulturlebens einzuwirken. Aufgabe der praktischen Pädagogik ist es dann,
mit den gegebenen Verhältnissen rechnend, die zum Endziel führenden Etappen
zu bestimmen, deren Erreichung inzwischen möglich ist. Nur ein sauberes
Auseinanderhalten der reinen pädagogischen Theorie und der praktischen
Pädagogik schafft eine wissenschaftlich mögliche Lage.
Wenn wir von der Einwirkung des Volkes auf das Lebensschicksal seiner
Jugend sprechen, so denken wir natürlich von vornherein nicht an eine Über¬
lassung der Jugend an den Willen des Volkes, vielleicht in der Weise, daß
der Wille des Volkes sich als Staatswille in staatlicher Erziehung allmächtig
auswirkte. Wir erkennen das Recht der Einwirkung aller der „Mächte“ an,
die wertvoll gestaltend auf das Lebensschicksal der Jugend des Volkes eiti-
wirken können. Grundsätzlich fest stehen uns Pflicht, Recht, Wert der elter-
liche"n Einwirkung. . Die modernen pädagogischen Richtungen, die das
Mitbestimmungsrecht der Eltern tunlichst einschränken und die Kinder der
Einflußsphäre der Eltern bo viel als möglich entrücken wollen, halten wir
für einen Kulturschaden ersten Grades. Auch andere Faktoren besitzen ein
Mitbestimmungsrecht; ich nenne nur die Gemeinde und die Kirche. Außer¬
dem wird die Kultur der Zukunft darauf bedacht sein müssen, von den großen
Gebieten des kulturellen Lebens her selbständige Bahnen der Einwirkung auf
die Gestaltung des Jugendlebens zu Öffnen. Indes — so sehr die Nation als
Kulturvolk bereit sein wird, alle rechtschaffenen Einflüsse mit voller Kraft
und in aller Fülle auf das Leben ihrer Jugend einwirken zu lassen, ohne
ihr die Freiheit der Bewegung einzuschränken — immerhin wird sie als
Trägerin des gesamten Kulturlebens nicht gleichgültig gegen die das Leben
der Jugend gestaltenden Mächte (persönlicher und unpersönlicher Art) sein.
Sie wird diese Mächte als solche ansehen, die in ihrem Schoße, in der Sphäre
ihres Lebens ihre Wirksamkeit auf die Jugend entfalten und wird diese
Wirksamkeit mit allen Mitteln unterstützen. Man denke z. B. an die Ma߬
nahmen, durch die der Staat jetzt die pädagogische Kraft des Elternhauses,
die allerdringlichst der Entwicklung bedarf, entwickeln hilft. Vor allem
aber wird ein Kulturvolk das Ganze der Einwirkungen auf das Leben
seiner Jugend einheitlich zusammendenken und zusammenfassen, damit
ein Höchstmaß in sich zusammenstimmender Einwirkungen erreicht wird.
Dabei wird es sich besonders um die Stellung handeln, die eine Kultur»-
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Unserer Jugend
nation dem Organ ihres Willens, der Schule, innerhalb der gesamten
Wirkungen gibt
Gesamtleben der Jugend. Wir betonen aufs stärkste: Gesamtleben. Daß
wir in unserem pädagogischen Denken nicht recht vorwärts kommen, liegt
nicht zum geringsten Teile darin, daß wir allenfalls zum planmäßigen Denken
Qber das Schulleben unserer Jugend kommen, aber nicht ihr Gesamtleben
ins Auge fassen. Ein Denken aber im Geiste einer Kulturnation, wie wir es
fordern, muß die gesamte Lebensgestaltung unserer Jugend umspannen, muß
die verschiedenen Sphären, in denen sich das Jugendleben bewegt, zusammen¬
fassen: die Schule, das Elternhaus, die Straße, die Gemeinde usw., muß die
gesamten Kräfte im Auge haben; muß vor allem beachten, wie nun eigentlich
die Jugend lebt: leiblich, geistig; in der Arbeit, im Spiel, in der Feier, in
den verschiedenen Lebensverhältnissen der Gemeinschaft, in den Lebensord¬
nungen. Dazu wird eine kulturell wertvolle Anschauung beachten müssen,
wie sich in dem Leben der Jugend das Eigenwesen der Jugendlichen zu er¬
höhtem persönlichen Dasein entfaltet, wie sich ihr Denk-, Gefühls- und Willens¬
leben zu einem einheitlichen Geistesleben zusammenschließt usw.
Aber freilich: nur dann kann ein Kulturvolk recht auf die Lebensgestaltung
seiner Jugend einwirken, wenn es in seiner „Schule“ ein Bild des Kultur¬
ideals trägt, auf das hin es sich im Kullurprozeß entwickeln soll. Ist dies
Ideal dem Geiste des Volkes nicht bewußt, wirken auch im Volke die großen
Strömungen nicht, die in der Richtung des Kulturideals tragen, so kann es
zu einer großgearteten Einwirkung der Nation auf das Leben ihrer Jugend
nicht kommen; dann mögen allenfalls wertvolle Einzelwirkungen möglich sein.
Können wir, die wir über die Gestaltung des Lebens unserer Jugend nach¬
sinnen, uns nicht auf ein im Bewußtsein der Nation bereits feststehendes
Kulturideal beziehen, auf das hin ein klarer Kulturprozeß von Etappe zu Etappe
führen soll, dann müssen wir selbst — auf die Gefahr hin, daß wir nidht
den innersten Strebensrichtungen unseres Volkes gerecht werden —- bedin¬
gungsweise das Leitbild zeichnen, ohne das wir Uber die Gestaltung des
Lebens unserer Jugend nichts festzusetzen vermögen.
In dem gesamten Kulturideal ist das Leitbild des jugendlichen Lebens ein
wesentliches Stück. Ein entscheidender Gedanke ist die Erfassung des Jugend¬
lebens als Kulturleben. Man ist geneigt, nur da von Kulturleben zu sprechen,
wo bestimm- und greifbare Werte hei vorgebracht werden. Das führt zu Irr-
tümera: auch da, wo nur Leben ausgelebt wird, muß vom Kulturleben ge¬
sprochen werden, falls nur das Leben Wert in sich hat. Ein Volk, das sich
zu seiner Jugend die rechte Stellung geben will, kann nun gar nicht daran
denken, das Leben der Jugend nur insoweit kulturell zu würdigen, als die
Jugend Werte hervorbringt, sei es, daß dabei etwa an wirtschaftliche Werte
gedacht wird, an deren Hervorbringung die schulentlassene Jugend mitwirkt,
sei es, daß die wertvolle Gestaltung des inwendigen Menschen ins Auge ge¬
faßt wird, die die Jugend in der Jugendzeit für ihre weitere Entwickelung
gewinnt Es hieße ja den „Sinn“ der Jugend in einem entscheidenden Stück
verkennen, wenn man sie unter den Druck der Wertförderung und der Zweck¬
setzung stellte, sie, die doch in ihre gesamte Lebensgestaltung erst allmählich
den Dienst des Wertes und des Zwecks aufnehmen kann. Um so mehr, je
mehr eine Kulturnation den Sinn für ein erfreuliches Leben ihrer Jugend hat,
wird sie bereit sein, auch das Spiel und die Feier und den Reichtum des
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Hugo Gaudig
Gemeinschaftslebens als kulturell wertvollen Inhalt des Lebens ihrer Jugend
anzüsehen; sie wird auch das in den Tag Hineinleben, das Schlafen und
Träumen als wertvoll schätzen. Sie wird der Jugend als Jugend gerecht,
indem sie ihr die zwecklose Zuständlichkeit, das spielende-Sichausleben gönnt;
sie erweist sich so als fähig, das Jugendleben als Jugendleben nach seinem
„Sinne“ zu erfassen und gestalten zu helfen. Anderseits zwingt aber schon
das Wachstum der Jugend dazu, im Leben der Jugend sichere Bahnen der
Entwickelung nach vorwärts und aufwärts einschlagen zu lassen. Sonst wird
die Jugend in sich selbst verkommen.
Unser Denken blieb bis hierher in dem Rahmen befangen, der die Jugend
umschließt. Anderseits wäre es eine verhängnisvolle Einseitigkeit, wenn ein
Kulturvolk mit seinem Denken und Wollen zugunsten seiner Jugend nicht
über die Grenze der Jugend hinausdächte. Man kann von einer Kulturnation,
die einen Kulturprozeß trägt, nicht erwarten, daß sie ihrer Jugend nichts als
die Fähigkeit entgegenbringt, sich in sie hineinzudenken, Wie sie in ihrem
FQrsichsein in sich beharrt und sich eigenwesentlich aus sich entwickelt.
Schon das Wachstum zwingt wieder dazu, über die Grenze der Jugend
hinauszudenken. Vor allem aber der Kulturprozeß, in dem die Nation steht.
Hier aber wird eine reife Kulturnation sich wieder vor allem in die Seele
ihrer Jugend versetzen und um der Jugend selbst willen, die nach der Jugend¬
zeit in den werteschaffenden Kulturprozeß eintritt, die Forderung erheben,
daß sie auf das kulturelle Mitschaffen während der Jugendzeit vorbereitet
wird. Ein pädagogisches Denken, das um der Jugend willen nicht über die
Jugendgrenze hinauskommt, hinauskommen will (wie wir oben sahen), wirft
die in den Kulturprozeß eintretende Jugend in eine unmögliche Lage. Die
Fortführung des Jugendlebens, das ohne zweckmäßige Beziehung auf das
Kulturleben der Nation verläuft, ist unmöglich und führt zu verhängnisvoller
Unzusammenhängigkeit. Aber nicht nur um der Jugend selbst willen wird
eftie Kulturnation fordern müssen, daß die Jugend auf den Kulturprozeß vor¬
bereitet werde. Auch um dieses Kulturprozesses selbst willen, für dessen
Entwickelung die „kulturtragende“ Generation in erster Linie verantwortlich ist.
Hier liegt nun ein Moment von besonderer Wichtigkeit: Es hieße in das
Selbstleben der Jugend, in ihr werdendes Personenleben brutal eingreifen,
wenn eine Kulturnation die heranwachsende Jugend zwangsweise (durch
Geisteszwang) auf eben die Kulturphase einstellen wollte, in der sie gerade
steht, weil sie . selbst in dieser Kulturform ihr Genüge gefunden hat. Das
wäre eine Tyrannei des kulturtragenden Teiles der Nation gegen die Jugend
der Nation. Überall da, wo man den Kulturprozeß als einen unendlichen
Prozeß auffaßt, ist die Jugend gegen diese zwangsweise Einstellung gesichert;
vor allem aber wird das Recht der Jugend dort wahrgenommen werden, wo
man die Jugend unter das Schutzrecht stellt, das die Idee der Persönlich¬
keit gewährt. Man wird also nicht daran denken, der Jugend ihre Freiheit
dadurch zu nehmen, daß man ihr eine bestimmte Kultur- und Lebensanschau¬
ung, eben die zu einer bestimmten Zeit herrschende, aufnötigt. Wohl wird man
ihr alle die Werte darlegen, die die gegenwärtige Kulturperiode verwirklicht;
aber man wird auch andere Kulturanschauungen zum Verständnis bringen,
so daß die Jugend, wenn sie im Leben dann die persönlichen Lebensent¬
scheidungen fällen soll, nicht entscheidungslos, zwangsläufig in der schlaffen
Annahm e des gegenwärtigen Kulturideals endigt.
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Unserer Jugend
7
Bei dieser Stellungnahme zur Schulung des Geistes ihrer Jugend wird die
Kulturge8ell8cbaft insofern der eigentümlichen Geistesweise der Jugend ge¬
recht werden, als sie den Zug zur Unbedingtheit, zur sprungweisen Bewegung,
der der Jugend natureigen ist, nicht abtötet. So lebt die kulturtragende
Schicht der Nation in der Bereitschaft, die Kraft der Jugend in das Kultur¬
leben der Nation einströmen und die Nation so verjüngen zu lassen.
Das Organ, mit dem eine Kulturnation vor allem auf den Lebensprozeß
ihrer Jugend einwirkt, ist nun die Schule. Nach unserer Anschauung ist
die Schule nichts, was aus dem Kulturleben der Nation in irgendwelche
klösterliche Abgeschiedenheit hihausgerückt werden darf. Sie soll ja das
Gesamtleben der Jugend in entscheidender Weise mitgestalten helfen; ein
solches Gesamtleben aber kann kein Leben sein, in dem z. B. bereits die
frühe Jugend aus dem Bannkreis der Familie oder aus dem wertvollen Er¬
lebniskreis der heimatlichen Ortsgemeinde in eine künstliche Lebenssphfire
herausgerissen ist Die Kulturgesellschaft wird Wert darauf legen müssen,
daß die Schule tief in ihren Schoß eingebettet wird.
Die Gesamtarbeit der Schule wird einerseits der Jugend als Jugend, ander¬
seits der Jugend als der zukünftigen Trägerin der Kultur gelten. Die „Anti¬
nomie* (Wyneken), die bei dieser doppelten Zwecksetzung besteht, wird sich
um so leichter lösen, je mehr das Leben der Jugend alJs Jugend nicht daseins-
fera und weltfremd verläuft.
„Schule?* Was soll sie innerhalb des gesamten Kulturprozesses sein? Eine
„Anstalt* für Kulturübermittlung? Eine Kulturnation, die das ganze Problem
der Lebensgestalhing der Jugend klar und entschieden auffaßt, wird darauf
dringen, daß sich im Zusammenhänge ihres eigenen Lebens ein Schulleben
entwickelt, ein Schul leben im vollen Sinne des Wortes; ein Leben, das der
physischen und psychischen Natur der Jugend gerecht wird; ein Leben, in
dem sich die Eigenwesen, soweit es möglich ist, in Freiheit ausleben, in dem
aber zugleich die Eigenwesen zu Persönlichkeiten emporgebildet werden.
Das gesamte Schulleben wird um so mehr unter dem großen Leitgedanken
der wertvollen Persönlichkeit stehen, je mehr die Kulturgesellschaft von der
Erkenntnis durchdrungen ist, daß nur Persönliehkeiten Träger der Kultur sein
können und daß das letzte und höchste Ziel des Kulturprozesses eben die
wertvolle Persönlichkeit ist.
„Schulleben*! Schulleben muß Leben und als Leben Arbeit und Erleben
sein. In neuerer Zeit tut vor allem not, daß die Schule ein Lebenskreis
starken und mannigfaltigen Erlebens wird. 1 ) Damit dies möglich ist, be¬
darf es vor allem einer ausgesprochenen Differenzierung des Schullebens in
Lebensgebiete, damit nicht nur das Leben der Bildung, sondern auch das
Leben in Spiel und Feier, das Leben in der „Ordnung*, vor allem aber das
Gemeinschaftsleben in allen Formen reiche Erlebnisgelegenheit darbiete.
Durch diese Differenzierung wird das Schulleben dem „wirklichen* Leben
ähnlich; es wird ein Stück Kulturleben inmitten des allgemeinen Kultur¬
lebens, durchflutet und doch nicht überschwemmt von dem allgemeinen
Kulturleben; ein Teil und doch ein Ganzes. Das Gemeinschaftsleben wird
als ein selbständiges Lebensgebiet gewürdigt, das seine Werte in sich hat,
und nicht etwa nur einem Zweig, der Förderung der Arbeit, dient. Im
*) Vgl. das Programm der II. Höheren Mädchenschule in Leipzig »vom Jahre 1913.
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8 Hugo Gaudig, Unserer Jugend
Mittelpunkt des Schullebens steht die Jugend; nicht der Lehrer. Das Ver¬
hältnis Schüler-Lehrer, Lehrer-Schüler hat die volle Würde eines bedeut¬
samen, in sich wertvollen Lebensverhältnisses; allem gefährlichen Ver¬
fließen von Person zu Person aber ist dadurch vorgebeugt, daß die werdende
Persönlichkeit 'des Zöglings gegen eine „Liebe“ geschützt ist, die zu¬
viel bietet und zuviel will. Ich kann mir nicht wohl denken, daß eine
über sich selbst klare Kulturgesellschaft der „erotischen“ Gestaltung des Ver¬
hältnisses von Lehrer und Schüler geduldig zusieht. Schon das starke Ober¬
wiegen dieses Lebensgebiets im Kulturleben der Schule muß als ungesund
erscheinen. Denn der Schwerpunkt der Schule und ihres Lebens wird doch
im Bildungsleben und damit in der Arbeit liegen; in einer Arbeit, die zwar
alle Schönheit der Arbeit, zugleich aber auch den vollen Ernst der Arbeit
entfaltet und zwar nicht allein um des „Lebens“ willen, über dessen Emst
am wenigsten in unserer Zeit leichtgewichtiger Optimismus hinwegtäuscht,
sondern auch um der Jugend als Jugend willen, die doch nur aus ernster,
auch dem Stoff sein Recht gewährender Arbeit den für das Werden der
Persönlichkeit entscheidenden Arbeitsgewinn herauszuziehen vermag.
Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen.
Von William Stern.
Vorbemerkung. Ein von mir au! der Kieler Herbstwoche für Kunst und Wissenschaft und
anderweitig gehaltener Vortrag über „Das Seelenbild der reifenden Jugend u soll im Jahre 1922
in stark erweiterter Form zur Veröffentlichung kommen. Der folgende Aufsatz greift einen ein-
seinen verhältnismäßig selbständigen Abschnitt (den zweiten der Gesamtdarstellung) heraus und
verzichtet auf alle Literaturangaben und Belege (Tagebuchstellen, Gedichte von Jugendlichen usw.),
welche die Buchausgabe enthalten wird.
Die Darstellung ist durchaus typisierend: Die Reifezeit soll lediglich in ihren allgemeinen
Wesenszügen gekennzeichnet wenien; Unterschiede der Geschlechter, der sozialen Schichten,
der Individuen werden mit Absicht beiseite gelassen. Die allgemeine Fassung des Problems
gab die Möglichkeit, es zu gewissen philosophischen Voraussetzungen der Psychologie in Be¬
ziehung zu setzen, wie Bie der Personalismus annimmt; insbesondere wird die Beziehung der
Jugendpsychologie zum Wertproblem deutlich.
Mit der Bezeichnung „Jugend 14 , „Jugendlicher 44 ist stets das Alter der beginnenden Geschlechts¬
reife, also die Zeit etwa vom 14. Jahr an (im Gegensatz zur „Kindheit 44 ) gemeint.
Der Schlüssel zum Verständnis der jugendlichen Reifungszeit liegt im Ver¬
halten des Menschen zur Wertsphäre: Jene Epoche ist die Zeit der Ent¬
deckung der Werte und der Auseinandersetzung zwischen dem
Ich wert und den Weltwerten. Voran geht die Kindheit, in der die
Werthaltigkeit der Dinge noch ganz den Dingen selbst verhaftet ist, in der
daher ein unbefangenes Hinnehmen und Übernehmen der Werte zugleich
mit den Dingen vorwaltet. Am Abschluß der Reifezeit steht ein Zustand, in
welchem das Auseinander von Ich- und Weltwerten wieder zum Ineinander
wird; erwachsen ist der Mensch, wenn er der „Introzeption“ fähig geworden
ist, der Einverleibung der objektiven Werte in den Selbstwert der eigenen
Persönlichkeit. Im vorliegenden Aufsatz soll lediglich die Stellung des Jugend¬
lichen zu seinem Ichwert behandelt werden..
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William Stern, Vom Ichbewußtsein des Jugendlieben
9
I. Die Wendung nach innen.
Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, daß die menschliche Lebens-
Knie, wenn sie die Grenze der Kindheit überschreitet, eine Wendung von
außen nach innen vollzieht; aber der Sinn dieses bildhaften Ausdrucks
bedarf doch einer eingehenderen Prüfung. Vergleichen wir hierzu den Jugend-
Kchen mit dem Kinde. Wohl ist das Kind in seinem ganzen Verhalten aufs
stärkste egozentrisch, aber nicht (wenn der Ausdruck gestattet ist) egoreflexiv.
Der Ausgang vom Zentrum der Ich-Bedürfnisse und Ich-Interessen ist ihm
selbstverständlich; aber sein Ziel ist die Welt da draußen, die es zu be¬
wältigen sucht. Trotz eines noch so starken Einschlages von Spontaneität
bestimmt doch das Rezipieren vorwaltend die Richtung seines Tuns. Emp¬
fänglich und empfangend stellt sich das Kind zur Welt, läßt sie durch alle
Sinne in sich einströmen, speichert sie im Gedächtnis auf, macht sich durch
Nachahmung ihre Leistungsformen, durch Suggestibilität ihre Überzeugungen
und Strebungen zu eigen. Diese Aneignung der Außenwelt erfolgt in der
frühen Kindheit auf dem Wege des Spiels; in der Schulkindheit tritt hierzu
schon die Fähigkeit systematisch geordneten Lernens; aber um vorwiegende
Rezeption handelt es sich hier wie dort. Das eigene Ich des Kindes verleiht
diesem Verhalten die Gefüblsbetontheit, richtet mit Energie den Willen auf
die Bewältigung der Weltfülle, verarbeitet sie durch Phantasie, sucht' allem
Neuen durch Intelligenz gerecht zu werden — aber es weiß noch nichts
von sich, wird sich noch nicht zum Problem. In voller Naivität wird in
jedem Moment das begehrt, was dem gegenwärtigen Ich-Zustand entspricht;
und kein Bruch wird empfunden, wenn zu anderer Zeit aus anderen Be¬
dürfnissen heraus anderes zum Ziel des Wunsches und Willens wird.
Das wird nun anders, wenn die Reifungszeit einsetzt. Zuerst nur in
gelegentlichen Spuren und Andeutungen, dann immer schärfer und eindrucks¬
voller entfaltet sich vor dem jungen Menschen eine zweite Welt neben jener
ihm so vertrauten Außenwelt. Es ist wirklich eine Entdeckung, die er
hier macht, wenn auch zunächst nur eine Entdeckung von lauter Rätseln.
Er bemerkt, daß sein Wollen und Streben, sein Lieben und Hassen nicht
nur den einen Pol da draußen hat, beim Gegenstand, auf den es gerichtet
ist, sondern noch einen anderen Pol dort, wo es entspringt. Diese Ursprungs¬
quellen beginnen mit magischer Gewalt sein Interesse zu fesseln. Der Jugend¬
liche ergeht sich in Selbstanalysen, die oft geradezu zu Selbstzerfaserungen
werden. Die eigenen Gefühle und Gedanken werden bloßgelegt, nicht um
des Gegenstandes willen, auf den sie sich beziehen, sondern als Erlebnisse
des Subjekts. Diese Loslösung des Seelischen vom GegenständUchen wird
dadurch unterstützt, daß die psychischen Regungen oft genug überhaupt
kein bestimmtes Objekt haben, recht im Gegensatz zur Kinderzeit. Jetzt gibt
es vage, flatternde Stimmungen, die den jungen Menschen völlig beherrschen,
ohne daß eine greifbare Substanz da wäre, auf die sie sich stützen; da sind
Gedanken, deren Gehalt ganz unbestimmt bleibt, während die Tätigkeit des
Suchens, Bohrens, Grübelds alles ist Da sind Phantasiegebilde, die nicht
mehr — wie etwa im kindlichen Spiel — in voller (wenn auch vorüber¬
gehender) Realität erlebt, sondern nur als Erzeugnisse schweifender Subjek¬
tivität genossen werden. Aber auch bei jenen Bewußtseinsinhalten, die eine
reale Gegenstandsbeziehung besitzen, vermag diese nur noch.einen Teil des
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Interesses zu fesseln; ein anderer Teil wird der subjektiven Seite gewidmet.
Der Backfisch interessiert sich nicht nur schwärmend für den Lehrer oder
den Tanzstundenfreund, sondern interessiert sich auch für dieses sein Schwärmen;
und die wohlbehüteten Tagebücher oder die nie endenden Gespräche mit
der Freundin sind voll von solchen Wühlereien im eigenen Inneren, wo alle
möglichen Gefühle und Gefühlchen, echte und eingebildete, vor dem Bewußt¬
sein ausgebreitet werden. Und der junge Mann, der irgendeinen ihm wichtig
erscheinenden Schritt tun (etwa einen Freund wegen irgendeines Streitfalls
zur Rede stellen) will, fragt sich nicht nur, ob er so und so handeln dürfe
und solle, sondern sucht sich über seine Motive klar zu werden, prüft sich
auf Herz und Nieren, ob die gutgemeinten Beweggründe, die er zunächst
vorfindet, auch wirklich die echten sind, ob dahinter nicht vielleicht selbstische,
gemeinere schlummern usw.
Wer Gelegenheit hat, die fortlaufend geführten Tagebücher eines jungen
Menschen aus der Kindheit hinüber in die Pubertätszeit zu verfolgen, kann
diesen Übergang von dem nach außen gerichteten Interesse zur Selbstanalyse
oft mit großer Deutlichkeit erkennen. Es handelt sich hier fraglos um ein
ganz allgemeines Entwicklungsgesetz, wenngleich die Intensität, mit der sich
diese Wendung nach innen bemerkbar macht, sehr verschieden ist Es gibt
manche Jugendliche, denen zeitweilig die Außenwelt ganz versinkt, weil sie
nur mit sich selbst beschäftigt sind, andere, bei denen der Subjektivismus
nur als Einschlag in den nicht zu unterdrückenden Realismus auftritt.
Die Bezeichnung „Selbstanalyse“, die wir für das nach innen gewandte
Verhalten vorläufig gebrauchten, bedarf nun aber noch einer wesentlichen
Korrektur. Gewiß wird zerlegt und zergliedert, aber nicht bloß deshalb, um
die Elemente als solche zu erhalten; vielmehr gewinnen alle die einzelnen
Gedanken, Gefühle usw., die der Jugendliche in sich findet, für ihn nur
darum Interesse, weil sie ihn über sein Ich aufklären. Und dieses Ich, der
gemeinsame einheitliche Hintergrund aller einzelnen Bewußtseinsinhalte, ist
das eigentliche Ziel der neuen subjektivistischen Einstellung. Damit kommen
wir auch erst zu der Wertbeziehung, welche diesem Verhalten das Gepräge
gibt. Das „Erkenne dich selbst“, das der junge Mensch sich zum Wahlspruch
setzt, ist nicht etwa die Aufforderung zu einer „Erkenntnis“ im Sinne wert¬
freien wissenschaftlichen Forschens, sondern es bedeutet: Erfasse deinen
Selbstwert! Werde dir klar über das, was du bedeutest, was der Sinn
deines Daseins ist! Gib dir Rechenschaft von den Zielen, denen deine per¬
sönliche Entwicklung entgegenstrebt, und von den Hemmungen, die der Er¬
füllung dieser Aufgabe widerstreben!
Es ist also nicht so sehr die Analyse, sondern die Synthese, auf die es
letzten Endes ankommt: hinter all den einzelnen Erlebnissen, die durch das
Bewußtsein gleiten, erhebt sich als ihre synthetische Einheit das Ich. In
dieser Einheit ist nicht nur das Nebeneinander der in einem Augenblick vor¬
handenen Erlebnisse zusammengefaßt, sondern — was weit wichtiger ist —
das Nacheinander der Lebensaugenblicke zu einem personalgeschichtlichen
Zusammenhang verknüpft. Der Gedanke, daß das gegenwärtige Dasein
Konsequenz des vorangegangenen und Vorbereitung des kommenden ist,
gibt der Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit der Seelenphänomene eine ganz neu¬
artige Substantialität, die nicht so sehr daseiende Wirklichkeit^ sondern
ständige Verwirklichung ist und zwar Verwirklichung eines Wertes.
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Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen
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Dieses Vordringen zu dem, allem Einzelerleben übergeordneten Ich als
einem Selbstwert setzt schon rein intellektuell eine Abstraktionsfähigkeit
neuer Art voraus, die dem Kinde noch fremd ist. Denn es handelt sich hier
nicht um die Herstellung einer Verallgemeinerung aus einer Reihe von em¬
pirischen Tatsachen (hierzu sind auch schon die höheren Kindheitsstufen
fähig), sondern um die Bildung einer regulativen Idee, die sinngebend
und richtungsweisend für die empirischen Tatsachen sein soll. Das Ich ist
etwas, «was da werden soll“.
Suchen wir nun konkreter diese Eigenart der jugendlichen Selbstbesinnung
nachzuweisen und zwar durch Gegenüberstellung gegen das vorangehende
kindliche Verhalten.
So lebhaft das Interesse des Jugendlichen für die akuten Bewußtseinsvor¬
gänge (Phänomene und Akte) sein mag, so dient es eigentlich doch nur dazu,
die dahinter liegenden chronischen Ich-Beschaffenheiten, also die Disposi¬
tionen zu erkennen. Wenn auch schon das Kind gelegentlich einen solchen
Dispositionsbegriff anwendet, z. B. sagt „ich bin artig“, so meint es ihn
eigentlich nicht dispositionell, sondern nur als Bezeichnung seines augen¬
blicklichen Verhaltens. Es hat weder die Neigung noch die Fähigkeit, sich
darüber Rechenschaft zu geben, ob „artig sein“ oder „unartig sein“ ein
dauernder Zug seines Ich sei. Den Jugendlichen aber interessiert gerade
diese Frage. Vor mir liegt das Tagebuch eines 16 */2 jährigen Knaben, zu
dessen Beginn eine ganz bewußte Selbstbesinnung erfolgt „Bin ich klug?“
„Bin ich ein Egoist?“ Diese an die Spitze gestellten Fragen werden mit
größter Aufrichtigkeit beantwortet, das Für und Wider abgewogen, auch die
Art der gefundenen Eigenschaften näher bestimmt, und jede Analyse endet
in Imperativen, die auf eine Ablegung der erkannten Fehler hinzielen: „Bilde
dir nicht zuviel auf deine Klugheit ein“ usw. Der letzte Zug beweist also
Wieder, wie die ganze Selbstbesinnung unter dem Wertgesichtspunkt steht.
Daß auch die Reaktion auf die Außenwelt ganz anders unter die Idee der
Ich-Einheit gestellt ist, sei an den Beispielen der Strafe und der Lüge gezeigt
Ein Kind empfindet die Strafe vor allem als eine augenblickliche Unlust:
Zufügung von Schmerz oder Entziehung einer Annehmlichkeit. Wohl hat
es, wenn es feinfühlig ist, auch ein Bewußtsein von dem Ehrenrührigen der
Strafe; aber auch dies bezieht sich doch nur auf die augenblickliche Be¬
einträchtigung seines Ich-Wertes und hat keine nachhaltige Zukunftsbedeutung.
Ganz anders der Jugendliche. Für ihn treten die unmittelbaren Unlustmomente
ganz hinter der Persönlichkeitsminderung zurück, die er durch die Strafe er¬
fährt Sie ist eine Niederlage im Kampf von Persönlichkeit und Persönlich¬
keit Schmerzhafte Schläge, die der 14jährige in einem Spiel mit seines¬
gleichen erhält, machen ihm gar nichts aus; aber die geringste, kaum empfind¬
liche körperliche Züchtigung durch Lehrer oder Eltern verwundet ihn aufs
tiefste. Denn er erlebt diese Strafe als einen Eingriff in das Recht, das er —
als einheitliche Person — auf sich und seinen Körper hat; und da er sich
auch zeitlich als Einheit fühlt, so ist auch sein künftiges Sein davon mit¬
betroffen; die ungerecht erscheinende Strafe wird geradezu als dauernde
Entehrung empfunden; Ressentiment, Märtyrergefühl, nachhaltige Rache¬
stimmungen sind die Folge.
Ober die Lüge von Kindern und Jugendlichen haben wir durch neuere
psychologische Untersuchungen, insbesondere die von Franziska Baumgarten,
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William Stern
wichtige Aufklärungen erhalten. Die kindliche Lüge hat stets akuten Gegen¬
wartscharakter; sie dient lediglich als Selbstschutz gegen eitle unmittelbar
drohende Gefahr oder als Mittel, sich eine momentane Annehmlichkeit zu
verschaffen. Natürlich gibt es solche Lügen auch beim Jugendlichen; die
Art, wie sich etwa ein jugendlicher Angeklagter vor Gericht herauszureden
sucht, braucht sich dann nur durch das größere Raffinement zu unterscheiden
von der Lüge, durch die sich ein kleinerer Junge der Bestrafung für eine
unterlassene Schularbeit zu entziehen sucht. Daneben aber gibt es beim
Jugendlichen eine andere, dem Kinde ganz unbekannte Lügenform, die Lüge
des „Persönlichkeits-Schutzes“. Zwischen dem Dasein, das nach außen in
die Erscheinung tritt, und dem „eigentlichen Ich“ wird ein schroffer Unter¬
schied gemacht. Seelische Erlebnisse und Strebungen erscheinen um so icli-
hafter, um so tiefer dem Wesen des Ich angehörig, je weniger sie an die den
anderen erkennbare Oberfläche gelangen. Das Seelenbinnenleben wird eifer¬
süchtig behütet, nur in seltenen Augenblicken des Mitteilungsbedürfnisses
und gegenüber ausgewählten Personen, die das Vertrauen des jungen Menschen
errungen haben, kommt es zum Beichten; aber jedem taktlosen oder auch
nur plumpen und verständnislosenVersuch der Außenwelt, sich hineinzudrängen,
wird unbedenklich die Lüge entgegengesetzt. Solche Lügen erhalten dann
oft einen chronischen Charakter, wie sie ja selbst aus dem Bestreben eines
Schutzes des chronischen Ich hervorgehen. So empfinden Jugendliche die
Bekundung ihrer frühesten erotischen Erlebnisse als eine Selbstpreisgabe und
hüllen sich den Eltern und Lehrern gegenüber jahrelang in ein Gespinst von
Verheimlichungen, Ausreden und Vorspiegelungen. In orthodoxer Umgebung
ahnen oft die Nächsten nichts von den inneren religiösen Kämpfen, Gewissens¬
bissen und Zweifeln, die der reifende Jüngling in völliger Vereinsamung
durchmachen muß.
II. Die Ich-Betonung.
Es ist eine psychologische Notwendigkeit, daß der Gegenstand einer neuen
Entdeckung vom Entdecker zunächst gewaltig überschätzt wird. Das Neue,
bisher Ungeahnte nimmt so den Geist gefangen, daß daneben alles andere
vorerst in den Hintergrund tritt; es besteht die Neigung, den Wert des
Neuentdeckten zu verabsolutieren. So geht es dem Jugendlichen mit seinem
Ich. Die Ich-Entdeckung führt zu einer übermäßigen Ich-Betonung. Auf
sie wurde schon mehrfach hingewiesen; sie muß aber noch näher betrachtet
werden.
Die jugendliche Ich-Betonung unterscheidet sich wiederum grundsätzlich
von dem naiven kindlichen Egoismus, dem es auf das Ansichraffen der
Dinge für das Ich ankommt. Sie ist überhaupt nicht sowohl Egoismus als
Subjektivismus, ein geistiges Wichtignehmen des Ich. Es ist genau
derselbe Prozeß, den auch die allgemeine Geistesgeschichte der Menschheit
überall dort zeigt, wo die Selbsterkenntnis als Ausgangspunkt des Denkens
und Handelns statuiert wurde. 1 ) Das Wort „Selbstbewußtsein“ hat nicht zu¬
fällig die beiden Bedeutungen: der theoretischen Erfassung des Ich und der
hohen Einschätzung des Ich; beides läßt sich eben nie ganz trennen. Gegen¬
über der elementaren Gewißheit, die in diesem Sichselbstbesitzen liegt, wird
1 ) Z. B. bei den Sophisten und bei Descartes.
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Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen
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alle andere Realität gleichsam zweitklassig- und schemenhaft, alle von außen-
her kommende Wahrheit minderwertig.
Und so entwickelt sich denn dieser Subjektivismus, wenn er nicht rechtzeitig
durch andersartige Ideale 1 ) sein Gegengewicht erhält, zum Individualismus.
Es gibt kaum einen Jugendlichen, der sich von ihm völlig freihielte, viele,
die zeitweilig ganz von ihm erfaßt werden — leider auch einige, die dann
nie wieder aus ihm herauskommen. Das Ich wird in seiner Andersartig¬
keit gegenüber der Welt und anderen Ichen, in seiner Unvergleichlichkeit
und Einmaligkeit unterstrichen. Denn hätte es seinesgleichen, dann wäre es
ja nicht mehr „mein Eigen“, dann ist ja sein Geheimnis eine allen bekannte
Gemeinplätzigkeit „Anderssein“ wird zum Wert an sich. Darum fühlen
sich so viele in diesem Alter als kleine Obermenschen, für die Nietzsche
eigens seinen Zarathustra geschrieben hat, als Wunschgenies, ohne daß sie
der Welt oder auoh nur sich selbst irgendeinen Nachweis für ihre besondere
Berufung geführt hätten. Darum ist jene jugendliche Opposition so bezeichnend
gegen alles, was dieses betonte Ich von außen her zu binden scheint. Nur
Dicht mehr Traditionswesen sein — das ist ja der Kindheitszustand. Nur
nicht Herdenwesen sein — das ist ja Gleichmacherei, welche die Eigenart
des Ich bedroht. Überlieferte Überzeugungen und Wertungen sind schon
deshalb verdächtig, weil sie mit dem Anspruch auf Anerkennung auftreten;
man will sich selber alles erarbeiten, alles aus sich schaffen. 2 )
Und man glaubt, das Hilfsmittel zu dieser Selbsterarbeitung in sich zu
tragen, nämlich im Intellekt. Bei einem bestimmten Typ der Jugendlichen
tritt sogar dieser Zug als Intellektualismus ganz in den Vordergrund: das
Verlangen, durch verstandesmäßige Kritik mit allen den Fragen fertig, zu
werden, deren Beantwortung man bis dahin aus Überlieferung und Belehrung
hingenommen hatte. Dieses Bedürfnis nach Voraussetzungslosigkeit ist von
hoher Bedeutung für die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens; denn
nur wer einmal ernsthaft den Mut aufgebracht hat zu dem Versuch, sein
Nachdenken von ungeprüftem Ballast frei zu machen, kennt die Reinheit ob¬
jektiven Erkenntnisstrebens, das daher dem Kinde noch fremd ist. 3 ) Freilich
bewegt sich dieser jugendliche Intellekt mit Vorliebe im verstandesmäßig
Abstrakten, und ist daher typisch ungeschichtlich. Was sich nicht dem
logischen Schematismus restlos einordnen läßt, erscheint in seiner Wider¬
sinnigkeit und mithin Ungültigkeit erwiesen. Für jene tiefer liegenden
historischen Triebkräfte, die bei aller Irrationalität dpch von unmittelbarster
Lebensrealität sind, ist der jugendliche Intellektualist blind. Er weiß es noch
J ) Diese andere Seite der Pubertätspsyche, nämlich ihr Verhalten zu den objektiven Werten,
kann im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes nicht behandelt werden.
2 ) Sowie das kleine Kind bei körperliQhen und technischen Verrichtungen seine Selbsttätig¬
keit zu unterstreichen sucht durch den Ruf „allein machen*, mit dem es Hilfe und Anleitung
abwehrt, so versteift sich der Jugendliche auf das „Alleinmachen* bei dem geistigen Stellung¬
nahmen. Es ist — auf höherem Entwicklungsniveau — ein verwandter Vorgang.
3 ) Wir werden hier nochmals erinnert an die entsprechenden Phasen der Menschheitsgeschichte,
in denen die Entdeckung des Ich mit einer intellektualistisch-skeptischen Haltung gegenüber
allem bisher für wahr, gut und heilig Geltenden verbunden ist. Um bei den oben genannten
zwei historischen Beispielen zu bleiben: bei den Sophisten wird der Satz, daß der Mensch das
Maß aller Dinge sei, ins Negative gewendet, indem allen Nonnen, da sie nur beliebige Menschen¬
satzung seien, die objektive Gültigkeit abgesprochen wird. Und bei Descartes wird dem cogito
ergo sum der andere Satz vorangeschickt: de omnibus dubitandum.
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nicht, daß es Erscheinungen und Probleme gibt, bei denen verstandesmäßiges
Erklären nur an die Oberfläche rührt und erst einfühlendes Verstehen die
wahren Tiefen erschließt. 1 )
Eine andere Schwäche des jugendlichen Intellektualismus entspringt daraus,
daß er weniger um des gedanklichen Ergebnisses als um des denkenden Ich
willen gepflegt wird. Er ist mehr oder weniger ein Werkzeug der Ich-
Betonung. Hierzu ist er so trefflich geeignet, weil das selbst gefällte Urteil
so offensichtlich Eigenproduktion ist. Nicht so sehr die Schärfe der ent*
wickelten Logik, die Gründlichkeit der Prüfung den eigenen Prämissen
gegenüber ist entscheidend für das Ergebnis der Kritik, sondern ihr bloßer
Oppositionscharakter, das Bewußtsein, durch die Insspielsetzung des eigenen
Verstandes an Bich schon erhaben zu sein über der Irrationalität des Ge¬
gebenen. Daher findet sich der Intellektualismus durchaus nicht nur hei
Jugendlichen mit wirklich starker intellektueller Gabe und Lebensaufgabe,
er äußert sich bei geistig weniger Hochstehenden oft genug als öde Krittelei,
als unfruchtbare Sophisterei, als bornierter Negativismus. Bei den einen ist
er die Ankündigung einer sich entwickelnden echt kritischen Geistigkeit
bei den anderen ist es nur eine Deckform der Ich-Betonung, die schließlich
— trotz aller scheinbaren Unbedingtheit des Denkens — in ein recht geistes-
armes Philistertum einmünden kann.
Mit dieser Feststellung einer Deckform eröffnet sich uns ein letzter Ge¬
sichtspunkt der Untersuchung.
DI. Täuschungen des Ichbewußtseins.
Wir würden das Wesen der Ich-Betonung nicht voll erfassen, wenn wir
nicht auch die in ihr liegenden Zwiespältigkeiten, ja Antinomien auf¬
deckten. Damit kommen wir zu Betrachtungen, in denen sich der Personalis¬
mus mit gewissen Gedankengängen der Psychoanalyse begegnet.
Die im Bewußtsein eines Individuums vorhandenen Vorstellungen und
Gefühle vom eigenen Ich sowie die nach außen hervortretenden Bekundungen
dieses Bewußtseins sind nur zu einem Teil reine und unmittelbare Dar¬
stellungen dieses Ich. Denn der Wesenskern einer Persönlichkeit projiziert
sich nur immer bruchstückweise in das eigene Bewußtsein; zu einem anderen
Teil sind die Inhalte des Ich-Bewußtseins weniger Spiegelungen als Vor¬
spiegelungen des wirklichen Ich. Mit diesen „Vorspiegelungen" sind hier
nicht absichtliche Fälschungen gemeint, wie Heuchelei. und Lüge (von denen
ja zum Teil schon oben die Rede war), sondern die — dem Individuum
selbst ganz unbewußten — Formen, in denen das tiefere Ich sich vor sich
selber und vor anderen versteckt oder sogar ein Gegenbild von sich auf¬
stellt, dessen Sinn man gleichsam wie das Negativ einer Photographie um¬
deuten muß. Somit haben wir zwei ganz verschiedene Arten des Ich-
Bewußtseins zu unterscheiden, die ich an anderer Stelle 2 ) als das „ich-
*) Die seltsame Antinomie, diß sich im Jugendlieben mit diesem geschichtsfeindliehen In¬
tellektualismus die unbedingte Hingabe an einzelne historische Ideale oft genug verträgt, kann
erst in anderen, hier nicht * nlT1 Abdruck kommenden Abschnitten der Gesa m tda r stel l u ng be¬
sprochen werden.
') Die menschliche Persönlichkeit, S. 261 ff.
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gemäße“ und das »täuschende“ Ich-Bewußtsein beschrieb. Die bisherigen
Erörterungen über die Ich-Betonung bezogen sich fast durchweg auf das
„ich-gemäße“ Ich-Bewußtsein. Nun ist aber gerade die Reifungszeit be¬
sonders reich an Erscheinungen jenes täuschenden Ich-Bewußtseins. Ist es
doch die Epoche der Labilität, der inneren Unfertigkeit und Unsicherheit;
und die Selbsttäuschungen des Bewußtseins sind besonders markante Zeichen
des erschütterten Gleichgewichts. Sie treten in zwei Hauptformen auf, in
der unechten Selbstminderung und in der Kraftpose.
Ich-Betonung hat — so möchte es scheinen — stets eine Erhöhung des
Ich zum Ziel. Nun gibt es aber in der Beschäftigung des Jugendlichen mit
seinem Ich zahlreiche Einstellungen mit negativen Vorzeichen; ja manche
junge Menschen ergehen sich fast nur in Selbstanklagen und Selbstvorwürfen.
Unzufriedenheit mit sich, Minderwertigkeitsgefühle bilden den ganz über¬
wiegenden Inhalt ihres Ich-Bewußtseins. Sind diese Bekundungen nun ganz
wörtlich zu nehmen? Haben wirklich solche Menschen ein ganz kleines
zusammengeschrumpftes, verkümmertes Ich? Die Frage läßt sich nicht ohne
weiteres bejahen. Denn in einem ist ja dieses Verhalten mit dem entgegen¬
gesetzten, der bewußten Selbstzufriedenheit, identisch: im ungeheuren Wichtig¬
nehmen des Ich! Schließlich ist das Vorzeichen des Wichtignehmens weit
weniger bedeutsam als die Tatsache an sich, die wir schon oben charakteri¬
sierten: das Ich geht in der Beschäftigung mit sich selbst gänzlich auf, und
alle Nicht-Ich-Werte scheinen gegenüber diesem ungeheuren Faktum in nichts
zu versinken. Die Selbstbejahung braucht darum nicht minder heftig zu
sein, weil es die vermeintliche Kleinheit des Selbst, nicht seine vermeintliche
Größe ist, die man so überaus tragisch nimmt. 1 )
Ja, noch mehr. Den Verkleinerungserlebnissen haftet geradezu ein gewisses
Lustmoment an, das mit einer paradoxen Wonne genossen wird. Das Wühlen
im eigenen Schmerz hat eine unsagbare Süße; das Suchen nach allen mög¬
lichen Gedankensünden, schlimmen Phantasien, verbrecherischen Regungen
besitzt einen prickelnden Reiz. 2 ) Und vor allem wird hierdurch die Be¬
sonderheit des Ich um neue Züge bereichert. Durch nichts kann man
sich ja mehr absondern und individualisieren, als wenn man in sich Ab¬
gründe findet, von denen der Durchschnittsmensch und Moralphilister nichts
ahnt! Es gibt unter den jungen Leuten nicht nur Wunschgenies, sondern
auch Wunsch-Herostraten!
Natürlich soll nicht gesagt sein, daß diese Triebkräfte überall wirksam
seien, wo Selbstverkleinerung geübt wird, und daß das Kleinheitsbewußtsein
immer und in jeder Hinsicht eine Selbsttäuschung des Ich sein müßte! Viel¬
mehr verschränkt sich hier ich-gemäßes und täuschendes Bewußtsein in
verschiedenster Weise. Nur gewisse Leitlinien konnten hier gezogen werden;
in jedem individuellem Falle wird es feinfühligster und vorsichtigster Deutung
bedürfen, um die hinter den Selbstbezjchtigungen und Selbstverkleinerungen
liegenden wahren Ich-Tendenzen zu enthüllen.
*) Verwandt ist die feine Beobachtung, die schon Schopenhauer machte: daß der Selbstmord
nicht etwa eine Verneinung, sondern eine besonders starke Bejahung des Willens zum Leben sei
*) Noch der alternde Rousseau offenbart in seinen Confesaions Züge, die wie Pubertitsrßck-
stlnde anmuten, wenn er mit kokettem Behagen die perrersen Sexnalerlebnisse seiner Kindheit
und andere Schwachen schildert
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William Stern, Vom Ichbewußtsein des Jugendlichen
Aber nicht minder wichtig ist der umgekehrte Zug: die Oberfläche zeigt
starke Ich-Betontheit und Ich-Erhöhung — darunter aber birgt sich in der
Tiefe eine Ich-Schwäche und Unsicherheit Die aus der Psychoanalyse hervor¬
gegangene, aber auf anderen Wegen fortgeschrittene „Individualpsychologie“.
Alfred Adlers hat diese Erscheinungen genauer studiert und unter dem (viel¬
leicht nicht ganz glücklichen) Namen des „männlichen Protestes“ beschrieben.
Es handelt sich also darum, daß eine primäre Unterwertigkeit sich durch
Markierung der entgegengesetzten Überwertigkeit zu verleugnen sucht; des¬
halb tritt die Erscheinung vornehmlich in Lebensformen und Epochen auf,
die unter dem Zeichen der Schwäche stehen: in der Kindheit, die ja an
allen Ecken und Enden auf äußere Hemmungen und innere Unzulänglich¬
keiten stößt, in psychopathischen Zuständen usw. Ein besonderes Gepräge
aber erhält der „männliche Protest“ in der Pubertätszeit, weil hier — infolge
der Entdeckung des Ich — die Ich-Schwäche nicht bloß als vereinzeltes
augenblickliches Manko, sondern als eine den Kern ergreifende Wertminderung
der Persönlichkeit erlebt wird. Ein kleines Kind mag vielleicht in einem
Einzelfall das beklemmende Unbehagen einer Situation durch eine zur Schau
getragene Unbekümmertheit oder durch lautes Auftrumpfen zu verhüllen
suchen; für den Jugendlichen ist es nicht mehr Sache einer gelegentlichen
Situation, sondern es ist die in seiner Pubertät gegründete seelische Ge¬
samtverfassung, die Unklarheit des Übergangs, die Unfertigkeit, die
(später zu besprechende) Unstimmigkeit zwischen Wollen und Können —
die in einer Protesteinstellung ihre Deckung sucht. Der Abstand von der nun
überwundenen Kindheit soll möglichst vergrößert, die Annäherung an die
Erwachsenen möglichst beschleunigt werden. Und da innere Entwicklungs¬
hemmungen noch lange die letzte Reife vorenthalten, werden Ersatzformen
für die wirkliche Erwachsenheit geschaffen. Das Mädchen, das auf ein langes
Kleid und hochgesteckte Haare größten Wert legt — der Knabe, dem die
lange Hose, der Stehkragen und die Zigarette als Eintrittskarte in die Männ¬
lichkeit gelten — der geheime Verein von Sekundanern, in dem Studenten¬
sitten und -Unsitten in lächerlicher Verzerrung nachgeahmt werden — sie
geben zunächst Beispiele ab für die ganz äußerliche Seite dieser Kraftpose,
die das verräterische Dokument der Schwäche ist.
Aber man darf die Erscheinungen des „männlichen Protestes“ in diesen
Äußerlichkeiten nicht erschöpft glauben* und deshalb auch nicht mit bloßem
Spott abtun. Ist es denn nicht allzu verständlich, daß das Ich, welches sich
eben entdeckt hat, sich nun auch sichern möchte gegen Gefahren, die seinen
Blößen von überall her drohen? Daß man das Embryonenhafte seines Zu¬
standes nicht wahrhaben, vielmehr den erst kommenden, heiß ersehnten
Zustand völliger Reife schon vorwegnehmen möchte? Ist es nicht doppelt
begreiflich, daß man dem verständnislosen Erwachsenen gegenüber, der den
Jugendlichen allzulange als Kind behandelt, zeigen will, wie wenig man sich
selbst noch als Kind fühlt? Es ist in der Tat eine Schwäche des Jugend¬
lichen, daß er inständiger Angst lebt, nicht für voll angesehen, nicht ernst
genommen zu werden — ein Zeichen, wie unsicher er sich noch selbst
fühlt Aber gäbe es ohne diesen intensiven (wenn auch zuweilen sich
grotesk äußernden) Willen zum Ernstgenommenwerden eine wirkliche
Entwicklung zum Reifezustand hin?
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Hermann Weimer, Wesen and Arten der Fetaler
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Wesen und Arten der Fehler.
Von Hermann Weimer.
I. Der Fehlerbegriff.
Das deutsche Wort „Fehler* ist mehrdeutig. Wir sprechen sowohl von
Fehlern, die man hat, als auch von solchen, die man macht Zu den
ersteren rechnen die Charakter-, die Organ-, die Schönheitsfehler usw.; sie
scheiden alle für unsere Betrachtung aus. Die letzteren gehören in das
Gebiet der Handlungen; man mufi sie daher genauer Handlungsfehler
oder Fehlhandlungen nennen. Unterliegt die Handlung einer Beurteilung
oder Bewertung, wie das im Bereiche des Unterrichts fast regelmäßig der
Fall ist, so nimmt sie das Gepräge der Leistung an. Wir können daher
die Fehler, mit denen wir es in unserer Untersuchung zu tun haben, auch
als Leistungsfehler oder Fehlleistungen bezeichnen.
Eine zufriedenstellende begriffliche Bestimmung dieser Fehler hat man bis
jetzt vergebens gesucht. Und doch ist sie von allergrößter Bedeutung für
das richtige Verständnis des Wesens fehlerhafter Leistungen. Suchen wir
daher einmal sorgfältig die wichtigsten Merkmale dieses Begriffs festzustellen.
Fehler, die man macht, fallen, wie schon gesagt, in das Gebiet der Hand¬
lungen. Unter Handlung versteht man die Verwirklichung einer Willens-
absicbt'). Bei der Fehlleistung wird allerdings diese Absicht nur in unvoll¬
kommener Weise erreicht Wir drücken das so aus, daß wir sagen, die
Leistung sei falsch, sei nicht richtig, d. h. nicht so, wie sie Rein sollte. Nun
ist freilich bei weitem nicht alles, was falsch ist, ein Fehler. Dieses nega¬
tive Merkmal teilt der Fehler mit der Fälschung, der Täuschung, dem Irr¬
tum usw. Die Fälschung und die Täuschung, soweit diese Bezeichnung als
der Fälschung sinnesähnlich gebraucht wird, sind am leichtesten aus dieser
Gruppe auszuscheiden. Beide suchen den Schein des Richtigen zu er¬
wecken; sie sind sogar bisweilen richtig in der Form, aber falsch, unecht
in ihrem Wesen. Sie werden ferner mit Bewußtsein ausgeführt, während
der Fehler nicht in der Absicht seines Urhebers liegt 2 ).
Mit Täuschung bezeichnet man allerdings auch einen Begriff, der dem¬
jenigen des Fehlers näher steht. Wir meinen das weite Gebiet der Sinnes¬
täuschungen, der Tast- und Bewegungstäuschungen und der in den letzten
Jahrzehnten besonders eingehend durchforschten geometrisch-optischen Täu¬
schungen. Einige von ihnen, wie die Müller-Lyersche Figur, die Heringsche
Sternfigur, die Schrödersche Treppe, die Zöllnersche Figur, sind aus dem
physikalischen Unterricht allgemein bekannt. Es handelt sich dabei um
Täuschungen der Sinne, besonders des Augenmaßes, dem alle Menschen in
gleicher Weise unterworfen sind. Es sind Zwangserscheinungen, denen nie-
*) Vgl. Rudolf Eisler, Handwörterbuch der Philosophie. 1913. Artikel „Handlung“. (S. 271.)
*) Fälschungen kommen auch im Schulleben vor. Man denke nur an die abgeschriebenen
Arbeiten, die öfter als eigene Erzeugnisse der Schreiber ausgegeben werden. Geschickte Fälscher
fügen solchen Arbeiten Schein fehler ein, die wie unbeabsichtigte Fehler aussehen, in Wahr¬
heit aber ebenfalls Täuschungszwecken dienen.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 2
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Hermann Weimer
mand entgehen kann. Wir können jederzeit mit dem Maßstab oder der
Zirkelöffnung nachweisen, daß die wagerechten Mittellinien der beiden
Müller-Lyerschen Figuren genau gleichlang sind, und dennoch erscheint
jedem Auge die Mittellinie mit den beiden auswärts gerichteten Schenkel -
paaren länger als die mit den beiden inwärts gerichteten Schenkelpaaren. (Fig. 1.)
> - <
Ein offener Halbkreis erscheint normalen Menschen größer als ein mit dem¬
selben Radius gebildeter Halbkreis, der durch eine Durchmesserlinie ab-
gegrenzt ist. (Fig. 2.)
Der Fehler unterscheidet sich von solchen Sinnestäuschungen dadurch,
daß er nicht zwangsmäßig bei allen Menschen in gleicher Weise auftritt.
Wir machen vielmehr im Fehler etwas falsch, was wir sonst vielleicht richtig
machen, oder was andere innerhalb
der gleichen Leistung fehlerlos zustande
bringen. Der Fehler ist eine Abwei¬
chung vom Richtigen, die nicht sein
soll und nicht zu sein braucht und die
darum auch nicht immer in gleicher
Weise ein tritt.
Dem Fehler enger verwandt ist der
Irrtum. Beide berühren sich in ihrem
Wesen z. T. so nahe, daß sie öfter miteinander verwechselt werden. Und
doch könnte schon der Sprachgebrauch auf die Verschiedenheit beider Be¬
griffe aufmerksam machen. Man „befindet sich in einem Irrtum“, man
„macht einen Fehler“; die umgekehrten Ausdrücke „sich in einem Fehler
befinden“ und „einen Irr tun? machen“ würden unserem Sprachgefühl wider¬
sprechen. Man kann in einem Irrtum befangen sein, sich von einem Irrtum
losmachen, nicht aber in einem Fehler befangen sein, sich von einem Fehler
(d. h. Handlungsfehler) losmachen. Diese Ausdrücke zeigen deutlich, daß
der Irrtum einen Zustand, etwas Verharrendes bezeichnet, der Fehler aber
ein Gebilde des Augenblicks ist. Tatsächlich währt ein Leistungsfehler nur
so lange, als er „gemacht“ wird; der Druckfehler, der im Hefte schriftlich
fixierte Schreib- oder Rechenfehler sind nur die erstarrten Abdrücke des see¬
lischen Vorgangs, den wir als Fehlhandlung oder Fehlleistung bezeichnen.
Noch wesentlicher ist der Unterschied zwischen Fehler und Irrtum in an¬
derer Hinsicht. Einige Beispiele mögen dies klarmachen. Christoph Co-
lumbus teilte die Meinung des Florentiner Gelehrten Tos ca nelli, daß man
das vielbegehrte Indien auch auf dem westlichen Seewege, erreichen könne.
Als er nach langer Seefahrt am 12. Oktober 1492 das ersehnte Land betrat,
glaubte er tatsächlich an der Küste von Indien angekommen zu sein. Es
war, wie sich später herausstellte, ein Irrtum. Wichtige Tatsachen, die
Columbus eines Besseren hätten belehren können, waren ihm und seinen
Zeitgenossen noch unbekannt. Die Geschichte der Wissenschaft hat eine
ganze Reihe ähnlicher Irrtümer aufzuweisen, denen die scharfsinnigsten
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Wesen und Arten der Fehler
19
Gelehrten trotz aller Anstrengung ihrer geistigen Fähigkeiten verfallen waren
und die andere Gelehrte ebenso wie ihre Urheber als Wahrheiten ansahen,
bis eines Tages Tatsachen bekannt wurden, welche die bisher vertretenen
Ansichten zweifellos als irrig erwiesen; wir erinnern nur an die jahrhunderte¬
lang für richtig gehaltene Ptolemäische Lehre vom Weltsystem, an die
Hypothesen vom Horror vacui, von der Emanation des Lichtes usw. Alles
da9 sind keine Fehler, sondern IrrtQmer gewesen; sie beruhten nicht auf
geistigen Mängeln ihrer Urheber, sondern auf der Verborgenheit gewisser
Tatsachen, die für die richtige Erkenntnis von wesentlicher Bedeutung waren.
Wenn dagegen ein Schüler, der das Einmaleins gelernt hat, in einer Rechen¬
aufgabe 8x6 = 42 setzt, so irrt er sich nicht, sondern macht einen Fehler.
Ihm ist das richtige Produkt 48 früher schon bekannt geworden; er hatte
es aber im entscheidenden Augenblicke nicht gegenwärtig: die psychische
Funktion des Gedächtnisses hat versagt. — Ein anderes Beispiel: Ein Schüler
liest den Satz: „Die dritte Wurzel des Weltenbaums senkt tief, tief sich
hinab bis in das kalte, dunkle Niffheim“. Nach kurzer Ermahnung liest er
richtig: „Niflheim*. Auf Befragen erklärt der Schüler, daß er das 1 „beim
flüchtigen Hinsehen* für ein f gehalten habe; durch weitere Fragen wird
festgestellt, daß während des Lautlesens sein Blick schon über die folgenden
Worte weiterschweifte. Die Analyse ergibt also die Tatsache, daß zwei psy¬
chische Funktionen im Augenblick, wo der Fehler gemacht wurde, versagten,
d. h. nicht auf voller Höhe waren: die Schärfe der Wahrnehmung und die
Konzentration der Aufmerksamkeit.
Die Geschichte der Logik kennt ferner eine ganze Reihe von Paralogismen
oder Fehlschlüssen, die auf Denkfehlern beruhen. Sei es nun, daß eine
Mehrdeutigkeit von Begriffen und Worten übersehen wird oder daß sich der
Schluß auf falschen Vordersätzen oder einer fehlerhaften Verbindung von
Urteilen oder (wie bei den induktiven Analogieschlüssen) auf einer voreiligen
Verallgemeinerung aufbaut: jedenfalls rührt ein solcher Fehlschluß von einem
Versagen der psychischen Funktion des Denkens her. Dieses Versagen
psychischer Funktionen ist ein wesentliches Merkmal des Fehlers.
Häufig scheint allerdings auch der Irrtum auf einem Versagen psychischer
Funktionen zu beruhen. Wenn z. B. jemand zwei selbst geschriebene Briefe
gleichzeitig absendet und nachher erfahren muß, daß er die Anschriften
verwechselt hat, so wird er dieses Mißgeschick einem „Irrtum* zuschreiben
und ein solcher Irrtum ist nach allgemeiner Überzeugung nur möglich ge¬
wesen infolge mangelnder Aufmerksamkeit dessen, der die Briefe in die
falschen Umschläge gelegt und abgeschickt hat. Aber bei genauerer Be¬
trachtung dieses Beispiels wird man bemerken, daß bei solcher Annahme
zwei verschiedene Dinge unter einer Bezeichnung zusammengeworfen werden:
ein Fehler und ein Irrtum. In dem Augenblick, wo der Schreiber die beiden
Briefe infolge mangelnder Aufmerksamkeit verwechselte, machte er einen
Fehler. Er bemerkte ihn jedoch nicht und lebte daher in dem Glauben,
daß die tatsächliche falsche Handlung richtig vollzogen worden sei. Dieser
Glaube an die Richtigkeit des in Wirklichkeit Falschen darf allein als Irr¬
tum bezeichnet werden. Wir haben oben festgestellt, daß man einen Fehler
') So auch Sigmund Freud in seiner „Psychopathologie des Alltagslebens“, der im Kapitel
»Irrtümer“ (7. Auli. 1920, S. 268t) zwei Beispiele dieser Art anführt
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Hermann Weimer
„macht“, sich aber in einem Irrtum „befindet“, daß der erstere ein Augen¬
blicksgebilde, der letztere etwas Verharrendes ist. Wir wissen jetzt genauer,
daß dieses Verharrende ein seelischer Zustand ist, ein Glauben, ein Für¬
wahrhalten des Falschen, des Nichtwahren, des Nichtrichtigen.
Nun haben wir aber auch gefunden, daß der Irrtum nur möglich ist
durch Unkenntnis gewisser Tatsachen, die für die richtige Erkenntnis von
wesentlicher Bedeutung sind. Steht das eben angeführte Beispiel der
Brief Verwechselung nicht im Widerspruch zu dieser Feststellung? Nein;
denn auch hier ist dem Schreiber eine wichtige Tatsache unbekannt ge¬
blieben, die Tatsache eben des Verwechselns, des Falschmachens und des
dabei zutage getretenen Versagens der Aufmerksamkeit. Der Irrtum baute
sich also nicht auf dem Versagen der psychischen Funktion selbst auf,
sondern auf dem Verborgenbleiben dieses Fehlvorgangs. Die obige Fest¬
stellung trifft demnach auch auf unser letztes Beispiel zu. Dieses hat uns nur
♦die weitere Erkenntnis gebracht, daß die Unkenntnis der Tatsachen, aus
denen der Irrtum erwächst, ebensowohl psychische wie außerpsychische Tat¬
sachen umfassen kann.
Wir können nach diesen Betrachtungen die Begriffe des Irrtums und des
Fehlers folgendermaßen umgrenzen:
Der Irrtum ist ein seelischer Zustand, ein Fürwahrhalten des Falschen,
das bedingt ist durch die Unkenntnis gewisser Tatsachen, die für die
richtige Erkenntnis von wesentlicher Bedeutung sind.
Der Fehler ist eine Handlung, die gegen die Absicht ihres Urhebers vom
Richtigen abweicht und deren Unrichtigkeit bedingt ist durch ein Versagen
psychischer Funktionen ')•
Meringer erzählt in seinem Buche „Versprechen und Verlesen“ allerdings
ein kleines Erlebnis, das unserer Begriffserklärung des Fehlers zu wider¬
sprechen scheint 2 ). Er wollte eines Abends vor dem Verlassen des Zimmers
die Lampe auslöschen. Er schickte sich schon zum Ausblasen der Flamme
an, als ihm einfiel, daß er vorher auf dem Flur Licht machen müsse, um
draußen nicht im Dunkeln zu tappen. Er öffnete die Tür, den Mund noch
voll zusammengepreßter Luft, und statt, wie beabsichtigt, das Flurlicht an¬
zuzünden, pustete er die Luft in den dunklen Flur hinein. Er fügt dieser
Erzählung die Bemerkung bei, sein Freund Mayer könne ihm bestätigen,
daß er nicht an Zerstreutheit leide. Er wollte offenbar damit sagen, daß
er ein Versagen der Aufmerksamkeit in jenem Augenblick für ausgeschlossen
halte. Der Fall läßt sich nicht mehr wissenschaftlich nachprüfen; aber wir
haben trotzdem allen Grund, die Richtigkeit der Meringerschen Schlu߬
behauptung anzuzweifeln. Man braucht durchaus kein zerstreuter Professor
zu sein, um im entsprechenden Falle in ähnlicher Weise zu entgleisen wie
der Grazer Spracbgelehrte, und zwar gerade durch ein augenblickliches Nach-
*) Wie wenig man bis jetzt noch diese Dinge aaseinandergehalten hat und welche Unklar¬
heit infolgedessen hinsichtlich des Fehler- wie des Irrtumbegriffes allgemein herrscht, zeigt ein
Blick in Eislers Handwörterbuch der Philosophie im Artikel „Irrtum“ (1913, S. 321f.). —
Sigmund Freud muß infolge seiner falschen Auffassung des Irrtumbegriffs mehrfach gestehen,
daB sich die von ihm als „Irrtümer“ angeführten Beispiele ebenso gut in anderen Abschnitten,
seines Buches hätten unterbringen lassen. Vgl. Zur Psychopathologie des Alltagslebens, a. a. O.
S. 267 u. 269.
*) Vgl. Meringer und Mayer, Versprechen und Verlesen. S. 97ft.
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Wesen und Arten der Fehler
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lassen der Aufmerksamkeit. Wer das Wesen und Wirken dieser Funktion ge¬
nauer beobachtet hat, der weiß, wie schwankend sie ist und wie sie besonders
leicht „verwiirt“ wird, wenn sie sich auf mehrere sich kreuzende Aufgaben
verteilen soll. Mit Recht sagt E. Dürr in seiner „Lehre von der Aufmerk¬
samkeit" '): „Es ist sehr wohl möglich, daß Inhalte, die in dieser Sekunde
mit Aufmerksamkeit erfaßt werden, in der nächsten dem Gedächtnis ent¬
schwunden sind". Und er führt Beispiele an, die diese Behauptung be¬
stätigen. Zudem hat sich Meringer in seinem Buche selbst widersprochen.
Im Vorwort (S. VII) warnt er davor, den Sprachfehler als etwas Pathologisches
aufzufassen; es versage dabei nur die Aufmerksamkeit, die Maschine laufe
ohne Wächter, sich selbst überlassen 2 ).
Manchen Psychologen wiederum scheint vielleicht das Versagen psychischer
Funktionen bei der Fehlleistung so selbstverständlich zu sein, daß sie dieses
Merkmal für unwesentlich und seine Heraushebung deshalb für überflüssig
halten. Wenn aber ein Merkmal zur Abgrenzung eines Begriffs von anderen
ihm verwandten Begriffen erforderlich ist, so ist ihm damit seine Stellung
als wesentliches Merkmal gesichert. Wir haben nun schon gezeigt, daß das
Versagen psychischer Funktionen den Fehlerbegriff von dem der Fälschung
und des Irrtums abgrenzt. Er unterscheidet sich durch dieses Merkmal auch
von dem Begriff der Handlungsstörung 3 ). Gerade die letztere kommt,
wie der Irrtum, in der äußeren Erscheinung dem Fehler sehr nahe. Sie
weicht, wie der Fehler, vom Richtigen ab, sie vollzieht sich, wie der Fehler,
gegen die Absicht ihres Urhebers und unterscheidet sich von ihm nur da¬
durch, daß sie durch außerpsychische Tatsachen zustande kommt. Ein
falscher Ton, der nicht durch unsichere Reproduktion der Tonvorstellung,
sondern durch Eintritt von Speichel in die Stimmbänderritze verursacht wird,
das Ausgleiten eines Gehenden auf einer Obstschale, das Stolpern über einen
Stein in der Dunkelheit, das Verschütten einer Flüssigkeit infolge eines
Stoßes, das Verschlucken u. a. sind Handlungsstörungen, keine Handlungs¬
fehler. Sie sind nicht durch seelische, sondern außerseelische Bedingungen
hervorgerufen.
Wir müssen auch aus einem anderen Grunde das Versagen psychischer
Funktionen als ein wesentliches Merkmal des Fehlerbegriffs betonen. Der
Fehler ist eine Leistung, die nicht sein soll. Die Frage nach seiner Be¬
seitigung ist — nicht nur vom pädagogischen Standpunkt aus — mindestens
ebenso wichtig als die Frage nach seiner Entstehung. Eine wirksame Fehler¬
bekämpfung ist aber nur möglich, wenn man diejenigen psychischen Funk¬
tionen in richtige Tätigkeit versetzen kann, die bei der Erzeugung des
Fehlers versagt haben. Diese Funktionen ausfindig zu machen, muß daher
eine Hauptaufgabe der Fehlerkunde sein.
Wir fragen uns also, welche psychischen Funktionen durch ihr Versagen
für das Entstehen von Fehlleistungen in Betracht kommen. Man wäre
l ) 2. Aull. 1914. S. 7. Vgl. auch daselbst S. 14, 34, 142, 1541.
*) Wundt in seiner Völkerpsychologie, I. Bd., Die Sprache, l.Teil, 3. Aufl., S. 394 u. 402,
betont ebenfalls das Versagen der Aufmerksamkeit als wesentliche Begleiterscheinung des Fehlers.
Wir haben aber schon gezeigt und werden es bald noch ausführlicher nachweisen, daß dies nicht
die einzige Funktion ist, deren Versagen bei der Fehlerbildung in Frage kommt.
*) Von Freud nicht erwähnt oder mit „Ungeschicklichkeit* verwechselt. Vgl. „Zur Psycho¬
pathologie des Alltagslebens“, 7. Aufl., S 186, Anm. 2 (Stolpern), S. 214 (Wagenunfall), S. 218
(Sturz vom Pferde), S. 220fl. („Selbstbestrafung“).
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Hermann Weimer
geneigt zu antworten: alle, die bei der Erzeugung irgendwelcher Willens¬
handlungen beteiligt sein können; also außer dem Willen selbst der (Emp¬
findung und Auffassung einschließende) Wahrnehmungsakt, das Gedächtnis,
die Phantasie, das Denken, das Fühlen und die alle geistigen Leistungen
begleitende Aufmerksamkeit. Bei dem Zustandekommen von Fehlleistungen
sind jedoch Störungen im Phantasie- und Gefühlsleben nicht als letzte Ur¬
sachen beteiligt. Sie können die Aufmerksamkeit ablenken, die Wahrneh¬
mung fälschen, das Gedächtnis beeinträchtigen und das Denken in unrichtige
Bahnen lenken; sie liegen also immer als Ursachen zweiten Grades hinter
den ebengenannten Funktionen. Von einem Versagen des Willens kann in
der Regel nur insofern die Rede sein, als die allgemeine Absicht, mit der
Leistung das Richtige zu treffen, nicht erreicht wird. Der Glaube, das Rich¬
tige getroffen zu haben, oder wenigstens der Glaube an die Möglichkeit
einer richtigen Leistung ist in vielen Fällen vorhanden, und somit bewegt
sich die Willensabsicht in der Richtung der falschen Leistung selbst. Nur
gewisse mechanische Entgleisungen, wie das Versprechen, Verschreiben und
Vergreifen, machen hiervon eine Ausnahme. Sie können sich auch gegen
den Willen des Urhebers einstellen.
Dagegen haben wir ein Versagen der vier Funktionen der Aufmerksamkeit,
des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und des Denkens bei allen Fehlern
feststellen müssen, die wir bis jetzt näher untersucht haben ')• Nicht daß alle
zugleich versagen; denn sie treten ja noch lange nicht bei allen geistigen
Leistungen zusammen in Tätigkeit. Oft ist es nur die eine oder die andere,
oft sind es mehrere zugleich, deren Störung den Fehler begleitet 2 ). So kann
bei einem reinen Denkfehler die Wahrnehmung nicht versagen; denn diese
Funktion ist nur wirksam, wo es sich um die Aufnahme und seelische Ver¬
arbeitung von Reizen handelt. Umgekehrt pflegt bei den meisten Wahr¬
nehmungsakten das Denken nicht beteiligt zu sein. Und wenn ein Schüler
im Geschichtsunterricht das Jahr 818 als Todesjahr Karls des Großen angibt
und sich eines besseren nicht erinnern kann, dann hat lediglich das Ge¬
dächtnis und nicht eiue andere Funktion versagt.
Dieses Versagen einer Funktion bedeutet ferner nicht ihr völliges Aus¬
geschaltetsein; es genügt oft ein bloßes Nachlassen oder eine leichte Störung,
um der in Betracht kommenden Funktion denjenigen Grad von Zuverlässig¬
keit zu rauben, der nötig ist, um eine fehlerfreie Leistung zu sichern. Manch¬
mal kann auch eine Überspannung der Funktion ihrem Versagen in der
Wirkung gieichkommen. Wenn man z. B. mechanisch gewordene Handlungen
mit zu großer Aufmerksamkeit begleitet, so werden sie leicht fehlerhaft 3 ).
Das Maß der erforderlichen Aufmerksamkeit scheint im geraden Verhältnis
zur Schwierigkeit einer Handlung zu stehen. Diese Tatsachen können nur
festgestellt werden durch eine sorgfältige Betrachtung und Zergliederung der
Fehler selbst mit dem Mittel der Selbstbeobachtung oder des Ausfragens der
Fehlerurheber. Wir haben beide Arten von Fehleranalysen seit vielen Jahren
*) Wir gehen hier mit Absicht auf die sonst berechtigte feinere Unterscheidung zwischen
Aufmerksamkeit und Gedächtnis auf der einen und Wahrnehnung und Denken auf der anderen
Seite nicht ein, da sie für unsere Zwecke belanglos ist.
*) Aus diesem Grunde läßt sich auch eine strenge Einteilung in Aufmerksamkeitsfehler, Ge-
d&chtnisfehler, Wahrnehmungsfehler und Denkfehler nicht durchführen.
2 ) Vgl. E. Dürr, Die Lehre von der Aufmerksamkeit, 2. AufL S. 144.
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Wesen und Arten der Fehler
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in Tausenden von Füllen vorgenommen und die angegebenen Tatsachen
immer wieder bestätigt gefunden.
n. Die Fehlerarten.
So wertvoll indessen die Feststellung der Störung gewisser psychischer
Funktionen für die Umgrenzung des Fehlerbegriffs\ist, so* reicht sie doch
noch nicht aus, um die Fehlet Vorgänge in ihrer Eigenart erschöpfend zu
erfassen. Wir wissen nach solcher Feststellung wohl, was versagt, wir wrissen
aber noch nicht, was sich in der Fehlererscheinung seihst vollzieht. Um dies
zu ergründen, müssen wir zunächst einmal Zusehen, welches äußere Bild die
Fehler darhieten. Das volkstümliche Denken und die landläufige Pädagogik
haben 6chon immer die Fehler in Unterarten eingeteilt. Man redet im Volks¬
mund von versprechen, verlesen, verschreiben, verrechnen, vergreifen, verlegen,
vertauschen, verwechseln; man spricht in der Schule von Lesefehlern, Schreib¬
fehlern, Rechenfehlern, Interpunktionsfehjem, Rechtschreibefehlern, gramma¬
tischen Fehlem usw. Diese gewohnheitsmäßige Einteilung ist indessen für
das Erfassen der Eigenart der Fehler völlig wertlos. Sie charakterisiert die
Fehler nach dem Leistungsgebiet, innerhalb dessen sie Vorkommen. Das ist
gerade so, wie wenn man die Krankheiten nach den Ländern benennen
wollte, in denen 6ie Zufällig auftreten. Kein vernünftig Denkender wird von
deutschen, italienischen, russischen oder schwedischen Krankheiten reden.
Wir wissen, daß körperliche Leiden der gleichen Art über die verschiedensten
geographischen Gebiete verteilt sein können. Genau so verhält es sich mit
den Fehlem.
Ebenso belanglos für das Erfassen des wahren Wesens der Fehler ist die
Feststellung der äußeren Form. Sprachgelehrte wie Psychologen haben
bisher auf die reinliche Scheidung dieser Formen großen Wert gelegt
Meringer zählt nicht weniger als neun Gruppen von Sprechfehlern auf:
Vertauschungen, Vorklänge, Nachklänge, Kontaminationen (Verschmelzungen),
Substitutionen (Ersetzungen), Umstellungen, Laut- und Silbenausfall, Laut-
stottem und Dissimilationen 1 )- Wilhelm Wundt glaubte ihn zu verbessern,
indem er schärfer zwischen Lauterschwerungen, Lautvermengungen und Wort¬
vermengungen unterschied und diese Hauptgruppen wieder in Unterklassen ein¬
teilte, die Lauterschwerungen in Stammeln, Silbenstolpem und Lautvertretungen,
die Lautvermengungen in Einschaltungen, Auslassungen und Umstellungen, in
Vorausnahme und Nachwirkung besonderer Laute 3 ). Jakob Stoll begnügt
sich in seiner Arbeit über die Schreibfehler mit vier Fehlergruppen: Aus¬
lassungen, Zusätze, Fälschungen und Umstellungen 3 ).
Aber das alles sind nur Fehlerformen, keine Fehlerarten; sie sagen
uns Wertvolles über die äußere Erscheinung, wenig aber über die zugrunde
liegenden seelischen Vorgänge. Sie umfassen zudem nur ein beschränktes
Betrachtungsgebiet. Wir machen nicht nur Fehler im Bereiche des Sprechens
und Schreibens, sondern auf allen Gebieten menschlichen Handelns. Da
aber die äußeren Formen je nach der Eigenart eines Betätigungsgebietes
*) Vgl. Meringer nnd Meyer, a. a. O. S. 13ff.
*) Vgl. Wandt, Völkerpsychologie, I. Bd.: Die Sprache, 1. TeiL 3. Aull. 1911, S. 390 - 404.
*) Jakob Stoll, Zar Psychologie der Schreibfehler. (Marbes Fortschritte der Psychologie,
0, 1 and 2.) Leipzig 1913, S. 16.
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Hermann Weimer, Wesen und Arten der Fehler
wechseln, so muß die Gesamtheit der Fehlerformen viel umfangreicher und
mannigfaltiger sein, als die erwähnten Ginteilungsversuche vermuten lassen.
Es mag verlockend sein, dieser Buntheit der Fehlerformen nachzugehen,
aber es ist für unsere Zwecke nebensächlich.
Wichtiger ist es für uns, die seelischen Geschehnisse festzustellen, die den
verschiedenen Handlungen zugrunde liegen. Sie wechseln durchaus nicht
immer mit de^ äußeren Form; vielmehr kann ein und derselbe seelische
Vorgang sich in den verschiedensten Fehlererscheinungen kundgeben, und
umgekehrt können äußerlich ganz gleiche Fehlhandlungen verschiedene
psychische Wurzeln haben. Einige Beispiele mögen dies erläutern. Wir
greifen zur Veranschaulichung der letzten Behauptung eine sehr häufig vor¬
kommende Fehlhandlung heraus, die Schlüsselverwechselung. Ein Schul¬
leiter pflegte in seiner Westentasche am selben Ring zwei Hausschlüssel zu
tragen, die er öfter miteinander verwechselte. Der eine gehörte zur Tür
seines Wohnhauses, der andere zur Haupttür des nahegelegenen Schul¬
gebäudes. Es ist nun mehrfach vorgekommen, daß er eben das Schulhaus
verließ und abschloß und gleich darauf, vor seinem Wohnhaus angekommen,
wieder den Schulschlüssel aus der Westentasche zog, um mit seiner Hilfe
zur Wohnung zu gelangen. Die kurz vorausgegangene Greifbewegung
wirkte also seelisch noch nach und veranlaßte die Wahl des falschen
Schlüssels. Die psychologische Erscheinung, die dieser Fehlhandlung zu¬
grunde liegt, ist die durch G. E. Müller und Pilzecker bekannt gewordene
Erscheinung der Perseveration. Derselbe Herr hat aber auch schon, von
einem Spaziergang kommend, vor der Türe seines Wohnhauses den Schul-
schlüssel herausgezogen, weil in jenem Augenblick seine Gedanken bei Vor¬
gängen und Ereignissen aus dem Schulleben weilten. Hier haben also die
„Schulgedanken“, um gemeinverständlich zu reden, seine Aufmerksamkeit
dermaßen in Anspruch genommen, daß auch die Wahl des Schlüssels durch
sie beeinflußt wurde. Psychologisch gesprochen haben in diesem Falle asso¬
ziative Miscbtendenzen — oder wie andere Psychologen sich ausdrücken —
reproduktive Nebenvorstellungen die Fehlhandlung veranlaßt. Endlich ist
es auch schon vorgekommen, daß derselbe Herr vor einem fremden Hause
den Wohn- oder Schulhausschlüssel aus der Tasche nahm, um mit ihnen die
fremde Tür zu öffnen. Hier hat neben der jedesmal vorhandenen Zerstreut¬
heit (Versagen der Aufmerksamkeit) die liebe Gewohnheit das Vergreifen
veranlaßt. Als dritte psychologische Wurzel des äußerlich den früheren
ganz gleichen Geschehnisses hat sich also die Übermacht gewohnheitsmäßiger
Vorstellungen erwiesen.
Und nun die Umkehrung! Es kann, wie oben bemerkt, auch derselbe
seelische Vorgang äußerlich ganz verschiedene Fehlhandlungen bewirken.
Bleiben wir z. B. bei der irreführenden Macht gewohnheitsmäßiger Vor¬
stellungen! Ein Schüler hat einen Text in z. T. altertümelnder Sprache ab¬
zuschreiben. Es kommt in der Vorlage die Form „angemerket“ vor; der
Schreiber kopiert aber unter dem Einfluß der Umgangssprache „angemerkt“.
Hier hat die Gewohnheit einen Auslassungsfehler veranlaßt. Ein anderer
Schüler hat gelernt, daß der Plural im Französischen meist durch Anhängung
eines s an die Singularform gebildet wird, und diese Regel durch Lesen
und Schreiben hundertfältig geübt. Er hat nun eines Tages die deutschen
Worte: „diese Menschen“ ins Französische zu übersetzen und hängt ge-
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Original from
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H. Scbüßler, Die optische Muskeltäuschung als Intelligenztest für anormale Kinder 25
wohntermaßen ein „s“ an cet, ohne sich im Augenblick bewußt zu werden,
daß das t des Singular bei diesem Plural ausfällt. Hier hat also wieder die
Gewohnheit einen äußerlich andersartigen Fehler, einen Zusatz, veranlaßt.
Schreibt ein Schüler in der ersten Klassenarbeit eines neuen Kalenderjahres
noch die übungsgefestigte Zahl des vergangenen Jahres (etwa 1921 statt 1922),
so ist die psychische Wurzel dieses Verschreibens dieselbe, wie wenn der
Lehrer nach einer Stundenplanveränderung mitten im Schuljahr seine neuen
Unterrichtsstunden vergißt oder wie wenn die Einführung der Sommer- und
der Winterzeit die mannigfachsten Verspätungen oder Verfrühungen
veranlaßt: immer siegen die gewohnheitsgefestigten Vorstellungen über die
neuen, ungewohnten und offenbaren ihre Macht durch ungewollte Fehlhand¬
lungen der äußerlich verschiedensten Art. (Fortsetzung folgt)
Die optische Muskeltäuschung als Intelligenztest
für anormale Kinder.
(Aus der Arbeitsgemeinschaft der „Vereinigung für Kinderkunde“ zu Frankfurt a. M.)
Von Heinrich Schüßler.
1. Einleitung.
Jean Demoor schreibt in seinem Buche über „Die anormalen Kinder“ 1 )
folgendes: ^
„Bei der Untersuchung der Assoziationsfähigkeit wird die Probe auf die
früher erwähnte optische Muskeltäuschung gemacht. Zwei gleich schwere
Gegenstände (Flaschen mit Bleischrot) von sehr verschiedener Größe werden
dem Kinde in beide Hände gegeben — zwei Proben sind notwendig — mit
der Aufforderung, die beiden Gegenstände zu wägen und zu sagen, welcher
von ihnen der schwerere sei. — Diese Probe kann nur mit Kindern gemacht
werden, die mindestens 5 1 /a bis 6 Jahre alt sind; die normalen Kinder
werden behaupten, daß der kleinere Gegenstand der schwerere sei; die
anderen erklären, daß das Gewicht gleich, oder noch häufiger, daß der
größere der schwerere sei.“
Mit meinen jQngsten Kindern — einem Mädchen von 3 1 /a und einem
Knaben von 5 Jahren — habe ich die später beschriebenen Versuche eben¬
falls gemacht. Das Mädchen hat bei den Flaschen die kleinere für die
schwerere erklärt,, während es bei den Papprollen jede für schwer erklärte.
Der Knabe hingegen hat bei allen Versuchen den kleineren Körper für den
schwereren gehalten. Die Altersangaben scheinen also bei Demoor nicht
zu stimmen.
Trifft die andere Angabe Demoors zu, daß alle nicht normalen Kinder
den kleineren Körper nicht für den schwereren halten? Urteilen so alle
Idioten schweren und leichten Grades, aber auch die Imbezillen und Debilen?
Das ist nicht anzunehmen, da Demoor an anderer Stelle 2 ) zugibt, daß von
380 Hilfsschulkindem 370 die kleinere Flasche für die schwerere gehalten
«) Altenburg t912, S. 127.
*) J. Demoor, „Welche Bedeutung haben die Täuschungen der Muskelempfindungen für die
Diagnose des Idiotismus?* Die Kinderfehler. 4. Jhrg. S. 135. Langensalza 1899.
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26
Heinrich Schilder
haben. Trotzdem wird in dem „Grundriß der Heilpädagogik" von Th. Heller 1 )
das „Demoorsche Phänomen“ zur Feststellung des Schwachsinns schlechthin
empfohlen und in einer Fußnote Ley 2 ) genannt, der beobachtet haben will,
daß alle geistig Zurückgebliebenen ausnahmslos das Demoorsche Phänomen
zeigten.
Höfler undWitasek beschreiben in dem 97. ihrer „100 psychologischen
Schulversuche“ 3 ) denselben Versuch in folgender Weise:
„Drei Zylinder von verschiedenem Volumen, aber gleichem Gewicht. Die
Körper werden durch unmittelbares Anfassen auf möglichst gleiche' Weise
gehoben, ln der Regel wird der größte Körper für den leichtesten, der
kleinste für den schwersten gehalten.“
Durch die Worte „in der Regel“ wollen Höfler und Witasek ausdrücken,
daß normale Versuchspersonen auch manchmal anders empfinden und
urteilen. Stimmt das, dann wird die Verwendung des „Demoorschen Phä¬
nomens“ für die Auslese schwachsinniger und schwachbefähigter Kinder ge¬
ringen Grades noch problematischer und muß an einem großen Material
nachgeprüft werden. Andererseits erhebt sich die Frage: wie stark ist der
Prozentsatz bei den Normalen, die das Demoorsche Phänomen nicht zeigen?
Daraus ergab sich die Aufgabe, den Test der „optischen Muskeltäuschung“
an normalen und Hilfsschulkindem nachzuprüfen. Demoor gibt die beiden
Gegenstände in die Hand und läßt sie wägen. Höfler und Witasek lassen
die Zylinder anfassen und heben. Beide Arten wurden als Varianten unserer
Versuche berücksichtigt.
Als ich mit meinen Versuchen begann, erschien eine Veröffentlichung von
H. Friedländer „Über Gewichtstäuschungen“ 4 ), die sich mit demselben
Problem, aber aus anderen Voraussetzungen und zu anderen Zwecken befaßt.
Drei Feststellungen sind für uns wertvoll.
1. „Handelt es sich um volumverschiedene Gegenstände gleichen Gewichts,
so ist demgemäß zu erwarten, daß die Täuschung mit wachsendem absoluten
Gewicht zurückgeht.“ 5 )
2. „Daß die Volumtäuschung beim Heben von Gewichten deutlicher zutage
tritt als bei rein lastenden Gewichten, wird man wohl in erster Linie dadurch
erklären können, daß die Unterschiedsempfindlichkeit im letzteren Falle ge¬
ringer ist.*®)
3. „Die Volumtäuschung wird nicht durch die Wirkung der Übung be¬
seitigt.“ 7 )
2. Versuche.
Ich nahm volumverschiedene Gegenstände von geringem Gewichte, nämlich
zwei Medizinfläschchen und zwei kleine Papprollen. Jeder dieser vier Gegen¬
stände wog .95 g. Die Flaschen waren inwendig mit Eisenlack geschwärzt.
Die kleine Flasche hatte mit Kork eine Höhe von 9 cm und einen Durch¬
messer von 2,5 cni, die große eine Höhe von 13,5 cm und einen Durchmesser
von 4,5 cm. Die Papprollen 8 ) hatten eine Höhe von 10 cm und 6,5 cm und
beide einen Durchmesser von 3,8 cm.
*) 2. Aufl. Leipzig 1912, S. 53. *) Ley, „Arriöration mentale“, S. 154. Brüssel 1904.
*) Leipzig 1918, S. 47. 4 ) Zeitgehr. f. Psych. Bd, 84, S. 268 ff. Leipzig 1920.
*) S. 275. •) S. 278. 7 ) S 279 Anmerkung.
*) Sie entstammen dem B Schwachsinnsprüfungskasten“ von Prof. Dr. W. Weygandt, Hamburg.
(Verlag Job. Müller, Cbarlottenburg.)
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Die optische MuskeltSuscbung als Intelligenztest für anormale Kinder
27
Da ich die Täuschung bei lastendem und gehobenem Gewichte untersuchen
wollte, ergaben sich für jede Versuchsperson vier Versuche. In der Reihen¬
folge der einzelnen Versuche wurde so abgewechselt, daß jeder Versuch
gleichhäufig am Anfang, in der Mitte und am Ende der Vierergruppen vorkam.
Die Instruktion lautete:
„Prüfe die zwei Flaschen (die zwei Rollen), ob sie gleich oder verschieden
schwer sind! (Bei gehobenem Gewicht): Fasse sie an! (Einmal und rück¬
wärts. Wird vorgemacht. Bei lastendem Gewicht werden sie den Kindern
in die Hand gegeben.)“
Als Versuchspersonen wurden Volksschul- und Hilfsschulkinder beiderlei
Geschlechts im Alter von 9—14 Jahren herangezogen. Hilfsschulkinder,
welche geistig so tief standen, daß ihnen die Instruktion nicht verständlich
gemacht werden konnte, schieden aus. Die Versuche wurden jahrgangweise
verrechnet
Die Rohtabellen kann ich des beschränkten Raumes wegen nicht veröffent¬
lichen. Ich hinterlege sie im Frankfurter Schulmuseum. 1 ) Die Hauptergeb¬
nisse enthält die Tabelle S. 28.
S. Ergebnisse.
Als Hauptergebnis kann ich feststellen, daß die Hilfsschüler
nicht anders urteilen als die normalen Volksschüler. Die Hilfs¬
schulknaben übertreffen sogar um einige Prozente im Durchschnitt die Volks¬
schüler in der von Demoor als normal bezeichneten Beurteilung (k), während
die Hilfsschülmädchen bei derselben Gruppe ein klein wenig hinter den
Volksschülerinnen Zurückbleiben. Ich lege diesem Unterschied, wie schon
gesagt, keinen großen Wert bei, möchte aber doch auf die interessante
Reihenfolge bei allen vier Versuchsgruppen hin weisen:
k-Urteile.
Flaschenversuche.
^— -
2. Gruppe.
1. Gruppe.
V.-M. = 99,4<>/o
H.-K. = 95,6o/o
H.-M. = 92,6 0/0
V.-K. = 91,1 0/0
V.-M. = 94,7o/o
H.-M. = 93,4o/o
H.-K. = 85,7 0/0
V.-L. = 84,5 o / 0
H.-M. = 72,30/o
H.-K. = 71,1 0/0
V.-K. = 61,3 0/0
V.-M. = 75,6 0/0
H.-M. = 74,6 °/o
H.-K. = 72,fio/ 0
V.-K. = 66 , 50/0
Zylinderversuche.
-—
3. Gruppe. 4. Gruppe.
V.-M,= 80,4o/o
Abgesehen von den Hilfsschulkindern in der ersten Gruppe, die den
zweiten und dritten Platz miteinander vertauscht haben, ist die Reihenfolge
vollständig gleich. Die Überlegenheit der Mädchen über die Knaben
nimmt nicht wunder, 2 ) wohl aber die der männlichen und weib¬
lichen Hilfsschüler über die männlichen Volksschüler.
Die Täuschung ist um so größer, je größer der Volumunter¬
schied ist Das zeigt deutlich der Unterschied zwischen den Flaschen-und
Zylinderversuchen. Im Gegensatz zu Friedländer ist bei den Flaschen-
') Mühlbergschule, Frankfurt a. M.-Oberrad, Lettigkautweg.
*) H. Schüßler, „Die Entwicklung dee schlußfolgernden Denkens bei Kindern und Jugend-
Heben*. Zeitschr. f. angew. Psycb. Bd. 17, S 848. Leipzig 1920. — H. Scb&filer, „Die Ko-
instroktion in psychologischer Beleuchtung*. Pharus. Jahrgang 1922. Donauwbrth.
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Die beiden Körper sind gleich.
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Versuchspersonen 1 Flaschenversuche Zylinderversuche
F. Schlotte, Eine experimentelle Auslese von Sprachbefähigten in der Volksschule 29
▼ersuchen die Täuschung durch das lastende Gewicht größer als
durch das gehobene. Bei den Zylinderversuchen tritt weder diese, noch
die Friedländersche Gesetzmäßigkeit deutlich zutage. Bs scheint aber eine
Neigung vorhanden zu sein, als wolle sich die Täuschung stärker beim ge¬
hobenen Gewicht geltend machen.
Demoors Angabe, daß die anormalen Kinder häufiger urteilten, der
größere Körper sei der schwerere, wurde durch meine Versuche für Hilfs¬
schulkinder nicht bestätigt. Die Hilfsschüler haben in allen vier Ver¬
suchsgruppen mehr = Urteile als g-Urteile, und die Hilfsschüle¬
rinnen haben nur bei den Zylinderversuchen mehr g- als =Ur-
teile. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den anderen Kindern. Die
Volksschüler haben überall mehr = als g-Urteile, und die Volksschulerinnen
haben nur bei den Flaschen versuchen mehr g- als = Urteile. Auffallend ist
die vollständige Übereinstimmung bei den Knaben und das umgekehrte Ver¬
hältnis bei den Mädchen. Der durchschnittliche Prozentsatz läßt sich leicht
nach der Tabelle feststellen. Er beträgt bei den g-Urteilen der Volksschüler
7,3 °/o und bei den =Urteilen 16,9 °/o. Die entsprechenden Werte bei den
Volks8chQlerinnen betragen 4,7 °/o und 7,8 n /o. Für beide Geschlechter zu¬
sammen erhält man einen g-Wert von 6,0 °/o und einen =Wert von 12,3 ®/o.
4. Zusammenfassung.
1. Die optische Muskeltäuschung ist als Intelligenztest für Hilfsschul¬
kinder unbrauchbar, da sich kein typischer Unterschied zwischen normalen
und Hilfsschulkindern aufzeigen ließ. 1 )
2. Wenn die Beurteilung des kleineren Gegenstandes als des schwereren
mit „normal“ bezeichnet wird, so übertreffen nach meinen Versuchen die
Mädchen die Knaben und sogar die Hilfsschülerinnen und Hilfsschüler die
Volksschüler.
3. Die Beurteilung des kleineren Gegenstandes als des schwereren ist am
häufigsten, das umgekehrte Urteil am seltensten.
4. Die Täuschung ist um so größer, je größer der Volumunterschied ist
5. Bei den Flaschenversuchen war die Täuschung durch das lastende Ge¬
wicht größer als durch das gehobene.
6. 12,3 °/o der Urteile von Volksschulkindern bezeichnen beide Körper als
gleich schwer und 6,0 ®/o erklären den größeren für den schwereren.
Ein e experimentelle Auslese von Sprachbefähigten
in der Volksschule.
Von Felix Schlotte.
Die Untersuchung, deren Ergebnisse ich hier bespreche, wurde vorgenommen,
um aus einer Schar von 79 Zehnjährigen diejenigen herauszufinden, die
sprachlich-logisch befähigt sind. Auf Grund ihrer einseitigen Begabung
l ) Schon Th. Heller wies in dem Aufsatz »Zur Klassifikation des infantilen Schwachsinns*
auf die Ungeeignetheit des Demoorschen Phänomens als allgemeinen Prüfungsmittels wegen
«einer Kompliziertheit hin. Zeitscbr. f. päd. Psych. 11. Jahrg., S. 65. Siehe auch E. Claparfcde,
„L'illosion de poids chez les enfants anormaux et le eigne de Demoor.* Arch. de Psych. 1902
und A. Descoeudres, „L’öducation des enfants anormaux.* S. 116 und 117. Neuchatel 19lf
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30
Felix Schlotte
wurde eine Anzahl Kinder für die in Leipzig einzurichtenden Sprachklassen
vorgeschlagen. Das Kennzeichen dieser Klassenart ist eine Fremdsprache.
Im Gegensatz zu den Werkklassen wird in diesem fünfjährigen Zweige unseres
Volksschuloberbaues besonders das begriffliche Denken gepflegt. Da es außer¬
dem gilt, eine verhältnismäßig große Menge Stoff zu bewältigen, wurde bei
der Auslese auch auf ein gutes Gedächtnis Wert gelegt. Im Hinblick auf
diese Anforderungen der Sprachklassen stellte ich folgenden Untersuchungs¬
plan auf: 1 )
L Prüfung des Gedächtnisses:
s) für kleinere Komplexe,
1. sinnvoll verbundene Reihen (10 Drei wortreihen),
2. Vokabeln (10 Vokabeln);
b) für größere Komplexe (Hamburger Merkfähigkeitsversuch; inhaltliches Merken von
3 langen Sätzen).
0. Untersuchung der sprachlich-logischen Fähigkeiten:
a) Sinn für logische Zusammenhänge
1. in einzelnen Sätzen (Mosaiksätzen),
2 in einer Geschichte (wirre Gedanken).
b) Sinn für logische Ordnungen,
1. Neben- und Oberordnung,
2. Begriffsreiben.
c) Sprachliche Kombinationsfäbigkeit,
1. gebundene Kombinalion i2 Lückentexte)
2. freie Kombination (Zweiwortversuch).
d) Vorsteüungsscbatz, Vorrat und Flüssigkeit der Vorstellungen (Assoziationsversuch).
e) Lautauffassung und Lautdarstellung (nach Dr. Handrick).
Diese Zusammenstellung der Versuche hat sich im großen und ganzen
bewährt, wenn auch die Wahl einiger Teilaufgaben, deren Schwierigkeiten
nicht für diesen besonderen Fall erprobt, sondern nur abgeschätzt worden
waren, nicht die günstigste Zusammenstellung der Schwierigkeitsabstufungen
ergab. Ein Versuch (IIb 2 Ordnen von Begriffsreihen) mußte bei der Aus¬
wertung ganz ausscheiden. Bei der Anweisung zu diesem Versuche war
nicht Bedacht darauf genommen worden, daß das Ordnen von Begriffsreihen
in zwei Richtungen erfolgen kann, vom engsten zum weitesten Begriff oder
umgekehrt. Da ferner wegen der großen Anzahl der Prüflinge bei jedem
Versuch nach reicher Abstufung der Leistungen getrachtet wurde, eine
Scheidung in vollständig richtige oder ganz falsche Lösungen hierzu nicht
genügte, teilweise richtige Lösungen aber wegen der nicht eingehaltenen
Ordnungsrichtung oftmals doppeldeutig waren, mußte dieser Versuch bei der
Auswertung wegfallen.
Die eigentliche Aufgabe einer Prüfung im Rahmen einer Auslese besteht
darin, die aus verschiedenen Klassen — in meinem Falle aus 7 — kommen¬
den Schüler vergleichbar zu machen und zwar in den für die zukünftige
Klasse wichtigsten Arbeitsformen. Aus diesem Grunde war das Ziel der
Auswertung für mich eine Rangreihe gewesen, in der sämtliche 79 Kinder
nach ihren Leistungen an den beiden Prüfungstagen geordnet waren. Hat
man durch Wiederholung solcher Prüfungen unter ähnlichen Verhältnissen
Erfahrungen gesammelt und haben sich die Ergebnisse in annähernd gleichem
') Ober den Gang der Untersuchung unterrichtet eingehend: Pädagogisch - psychologische
Arbeiten aus dem Institut des Leipziger Lehrervereins, Bd. 11. Leipzig 1921. Dürr*sche
Bu chhan dlung.
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Eine experimentelle Auslese von SprachbelBbigten in der Volksschule
31
Grade als richtig erwiesen, so wird das Verfahren durch das Aufstellen von
gewissen Normalleistungen viel einfacher. Es genügt dann, ein Psychogramm
aus den Einzelleistungen jedes Prüflings zu entwerfen und dieses mit einem
Normalpsychogramm für Sprachklassenschüler oder mit einem Profil der
Mindestanforderungen zu vergleichen. Das letzte Urteil wird bei unseren
Eignungsprüfungen stets der Erfolg sprechen; denn es wird dem Unter¬
suchungsleiter nie gelingen, sämtliche Faktoren, die das Ergebnis beeinflussen
könnten, zu beherrschen. Bis zu welchem Grade trotzdem eine Überein¬
stimmung zwischen Vorhersage und Bewährung möglich sein kann, erkannte
ich aus den Urteilen des Lehrers, dem die ausgelesenen Knaben zugewiesen
wurden.
Oben war die Rangreihe als notwendiges Ergebnis der Untersuchung
bezeichnet worden. Es fehlt hierzu noch eine Ergänzung. Die Rangreihe
gibt wohl die Reihenfolge in bezug auf die Würdigkeit an, nicht ohne
weiteres ist aber der Punkt zu erkennen, unter den man bei der Auswahl
nicht herabsteigen darf. Die Art, wie dieser kritische Punkt unter den be¬
sonderen Verhältnissen meiner Untersuchung bestimmt wurde, läßt sich auch
bei anderen Gelegenheiten anwenden. Da Erfahrungen mit Sprachklassen
überhaupt noch nicht bestanden, mußte der Weg der Schätzung beschritten
werden und z“ war in folgender Weise: Bei der Meldung für die Unter¬
suchung waren die Schüler zunächst nur in alphabetischer Reihenfolge auf¬
geführt worden, damit die Unabhängigkeit des Urteils aus den Versuchen
von dem der Klassenlehrer auf jeden Fall gewährleistet würde. Nach der
Prüfung wurden sowohl vom Klassenlehrer wie auch vom Versuchsleiter die
vorgeschlagenen Schüler jeder Klasse für sich nach ihrer Würdigkeit ge¬
ordnet; der Lehrer tat dies an der Hand der Zensuren und seiner Beob¬
achtungen, der VI. benutzte nur seine Rangreihe. Zunächst ließ sich schon
zwischen den Rangreihen der Klassenlehrer und denen des VL eine gute
Übereinstimmung feststellen. Wo die Urteile nicht ohne weiteres zusammen¬
fielen, wurden sie durch Aussprache geklärt. Beim Klassenlehrer halfen
frühere Beobachtungen, der VI. prüfte nach, wie das Gesamturteil aus den
einzelnen Versuchsergebnissen zustande gekommen war. Bemerkenswert
war nur, daß die Klassenlehrer bei dieser Besprechung ihre Meinung zu¬
gunsten des Prüfungsurteils zurücktreten lassen wollten. Mancher Lehrer
urteilte nach dieser Bestätigung seines Urteils von einer unbeeinflußten
Seite mit größerer Sicherheit. An diesem Punkte der Auslese könnte ein
Beobachtungsbogen gute Dienste leisten. — Das Ergebnis dieser Besprechung
war eine gemeinsame Vorschlagsliste für jede Klasse. Von jedem Klassen¬
lehrer ließ ich mir nun in dieser Liste angeben, bis zu welchem Punkte er
im Hinblick auf die aus dem Lehrplan bekannten Anforderungen die Prüf¬
linge vorzuschlagen gedächte. Bei der Vereinigung dieser unabhängig von¬
einander gefällten Urteile stellte sich heraus, daß nur die bessere Hälfte
meiner Rangordnung (39 von 79) ernsthaft in Frage kam. Ein Vorschlag
ging über diese Grenze hinaus, und zwar handelte es sich um 2 Knaben mit
den Rangplatznummern 46'/z und 52'/i. Da diese beiden Knaben in der
Untersuchung nicht vollständig versagt hatten, konnten sie nicht ausgeschlossen
werden; es wäre ja auch möglich gewesen, daß wir den Maßstab zu streng
angelegt hätten. Umsomehr war ich überrascht, als der Sprachklassenlehrer
bereits nach dem ersten Vierteljahr ohne Kenntnis des Prüfungsergebnisses
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32
Felix Schlotte
mir mitteilte, daß die beiden erwähnten Schüler „die Sprachklasse kaum mit
Erfolg durchlaufen würden,“ und sie als solche bezeichnete, „deren Auswahl
er für einen Mißgriff hält“. Eine bessere Bestätigung für die Zuverlässigkeit
des Prüfungsergebnisses hätte ich mir nicht wünschen können. Auch die
Reihenfolge der übrigen Schüler, die mir der Sprachklassenlehrer auf Grund
seiner Erfahrungen angab, stimmte gut mit unserer im voraus festgelegten
überein. — Oben wurde gezeigt, welchen Gewinn die Klassenlehrer von der
Prüfung hatten; hier half das von verschiedenen Seiten abgegebene Schätzungs¬
urteil dem VI.; die Erfahrung hat gezeigt, daß der von mehreren Fachleuten
schätzungsweise bestimmte kritische Punkt richtig bezeichnet worden war. —
Von den vorgeschlagenen Mädchen (20) hat sich eins als ungeeignet er¬
wiesen. Eine Erklärung für das Versagen gerade dieses Kindes, das nach
dem Ergebnis der Untersuchung und dem Lehrerurteil sehr gut geeignet
erschien, ließ sich nicht auffinden.
Überblicken wir das Gesamtergebnis der Auslese!
Aus sieben Klassen waren 79 Kinder vorgeschlagen worden. Geeignet er¬
schienen nach dem Untersuchungsergebnis 39. In zwei Fällen wurde unter
die durch die Prüfung festgestellte Grenze gegriffen, obwohl die Nichteignung
wahrscheinlich war. Die Praxis bestätigte in diesen beiden Fällen das Prüfungs¬
ergebnis. Von den 28') Kindern, die nach der experimentellen Untersuchung
den Anforderungen der Sprachklassen gewachsen erschienen, hat nur ein
Kind versagt. Es ist anzunehmen, daß unter günstigeren Umständen die
experimentelle Untersuchung noch selbständiger und sicherer arbeiten wird.
Was diese Zahlen zu bedeuten haben, zeigt erst richtig ein Vergleich mit
den Klassen, die ohne eine experimentelle Auslese zusammengestellt wurden.
Durch eine Umfrage bei den Sprachklassenlehrern erhielt ich folgende
Zahlen: In 15 verschiedenen Sprachklassen wurden Ostern 1920 insgesamt
475 Kinder aufgenommen. 66 davon wurden als ungeeignet bezeichnet, d. h. l ji.
Man denke sich die Arbeit eines Lehrers in diesem Kreisel Im Laufe des
ersten Jahres wurden 37 dieser ungeeigneten Kinder zurückversetzt; das
bedeutet ein Jahr lang vergeblich aufgewendetes Bemühen, Zerstören mancher
Hoffnung und für lange Zeit nachwirkende Enttäuschung und Beschämung.
Da mit Hilfe der experimentellen Untersuchung das Verhältnis günstiger war,
erscheint es empfehlenswert, hiervon Gebrauch zu machen.
Neben dem Gewinn für die eigentlichen praktischen Zwecke der Unter¬
suchung läßt sich außerdem noch einiges Wertvolle für das Verfahren über¬
haupt ableiten.
Bei der bereits erwähnten Umfrage, die ich nach Ablauf des ersten Jahres
an die Sprachklassenlehrer richtete, bat ich um Auskunft darüber, auf welche
geistigen Fähigkeiten wohl bei der Auslese ein besonderes Augenmerk zu
richten sei. In den meisten Fällen wurden logisches Denken, Fähigkeit zum
Systematisieren und abstrakten Denken gefordert. Dem Denken sollte sich
das Gefühl für Sprachrichtigkeit in der Muttersprache zugesellen, außerdem
ein gutes Gedächtnis, besonders Wortgedächnis. Von anderer Seite wurden
lautliche Begabung und gutes Unterscheidungsvermögen für akustische Wort-
*) Die Zustimmung der Eltern war zur Aufnahme nötig; dadurch kam es, daß 9 Kinder
— meist Knaben — nicht entsandt wurden. Als Grund wurde die unerwünschte Verlängerung
der Schulpflicht um 1 Jahr angegeben.
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Eine experimentelle Auslese der Sprach befähigten in der Volksschule
33
bilder gewünscht Daneben stehen: Konzentration, KombinationsfShigkeit
und Ausdauer.
Der oben angeführte theoretisch aufgestellte Untersuchungsplan zeigt eine
gute Übereinstimmung mit den Forderungen aus der Praxis. Er könnte
also die Grundlage für weitere Untersuchungen bilden. Durch Umfragen
lassen sich die Anforderungen an eine derartige Auslese noch genauer be¬
stimmen. Auch aus den Gründen, die für Rückversetzungen angegeben
wurden, ist mancher Wink zu entnehmen.
Ein anderes Hilfsmittel zur Kontrolle des Verfahrens bietet die Korrelations¬
rechnung. Es hätte natürlich keinen Sinn, wollte man den Korrelations¬
koeffizienten bestimmen für eine Schar von nur wenigen Kindern, die am
Ende einer Auslese mit Gruppen anderer Schüler zu einer Sprachklasse
vereinigt werden. Dazu sind die Zahlen zu niedrig, die Zusammensetzung
solch kleiner Gruppen also noch keine gesetzmäßige. Umstände, die das
Verhalten dieser in die Spracbklassen versetzten Kinder ändern können, sind:
neuer Lehrer, neue Klassengenossen, höhere Anforderungen; die Leistung,
die im bisherigen Kreise als gut galt, wird im Kreise der gleichartig, gleich¬
stark oder besser Befähigten geringer gewertet. Es wäre sonderbar, wenn
diese stark auf das Gemüt wirkenden Umstände sich nicht auch in den
Leistungen einiger bemerkbar machten. Ich glaube, es genügt hier die Fest¬
stellung: Bewährt oder nicht bewährt.
Dagegen wird es gelingen, durch Korrelationsrechnungen die Beziehungen
der einzelnen Versuche zueinander und ihren Einfluß auf das Gesamtergebnis
zu bestimmen. — Die Zahl der Vpp. (79) ist groß genug, so daß man schon
mit einer gesetzmäßigen Verteilung rechnen kann. Bei diesen Berechnungen
mußten die Leistungen von 4 Vpp. ausgeschieden werden, da diese nicht an
sämtlichen Versuchen teilgenommen batten. Unregelmäßigkeit in der Teil¬
nahme wird fast stets Vorkommen, sobald man eine größere Anzahl an
mehreren Tagen untersucht. Es erscheint erstrebenswert, die Untersuchung
auf mehrere Tage aü6zudehnen, damit jedem Prüfling, der an einem Tage
nicht in der günstigsten Verfassung war, Gelegenheit geboten wird, diesen
Ausfall wenigstens zum Teil an den anderen Tagen wettzumachen. Diesem
Vorteil stehen als Nachteil die erwähnten Versäumnisse einzelner Teilnehmer
an einem oder dem anderen Versuchstage gegenüber, ein Umstand, der die
Auswertung erschwert. Verteilt man die Untersuchung auf zwei Tage, wie
ich dies getan habe, und läßt man dazwischen eine Pause von mehreren
Tagen, so ist meines Erachtens den Schwankungen in der Verfassung ge¬
nügend Beachtung geschenkt, und die Wahrscheinlichkeit vieler störender
Versäumnisse ist gering.
Man hat die Art der Prüfungen, die hier angewandt wurde, verschiedentlich
als Fähigkeitsprüfungen bezeichnet. Natürlich sind wir nicht imstande,
die Fähigkeiten unmittelbar zu messen. Das, was augenscheinlich wird und
dem Zählen und Vergleichen zugänglich ist, — zugleich aber auch die Form,
in der die Fähigkeiten erst wertvoll werden, — sind Leistungen. Für die Aus¬
bildung durch die Schule ist die Befähigung zu gewissen Leistungen not¬
wendig.
Der Wert einer Leistung wird in der Hauptsache durch drei Faktoren be¬
stimmt: Güte und Menge des Geleisteten und Zeitdauer zu seiner Erzeu¬
gung. — Die Zeitdauer war für die einzelnen Versuche durch die Ver-
Zeitschrift f. pAdagog. Psychologie. 3
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34
Felix Schlotte
suchsanweisang vorgeschrieben; sie war stets so bemessen, daß nur ganz Lang¬
same das Geforderte nicht hätten leisten können. — Die Menge ist leicht
durch Zählung festzustellen. Mit diesen Feststellungen begnügte man sich
oft in den bisherigen Untersuchungen. Durch die Arbeit im Ausschuß für
Begabungsprüfungen im Leipziger Institute wurde ein Bewertungsprinzip auf¬
gestellt, das die Güte einer Leistung hervorheben sollte. Dieses Bewertungs-
prinzipes, das nach der Güte der Leistung abstuft, habe ich mich auch bei
meiner Untersuchung bedient, und es hat sich als brauchbar erwiesen. Die
Menge des Geleisteten zu bestimmen, ist besonders wichtig, wenn ent¬
schieden werden soll, ob ein Prüfling zu gewissen Dauerleistungen be¬
fähigt ist In unserem Falle schien es mir aber darauf anzukommen, die
einseitig begrifflich Befähigten herauszufinden und nach der Stärke ihrer
geistigen Kräfte zu ordnen. Deswegen wählte ich verschieden schwere
Aufgaben. Die unterschiedliche Schwierigkeit bildete den Widerstand, an
dem die Kräfte erprobt und eingestuft wurden.
Die Bestimmung der Schwierigkeit kann auf dem Wege der vorangehenden
Eichung aller Aufgaben durch Massenversuche geschehen. Wir haben vor¬
geschlagen, die Schwierigkeitsfaktoren der Teilaufgaben aus den Leistungen
der Prüflingsschar selbst zu gewinnen. Das ist natürlich nur möglich,
wenn sie einen gewissen Umfang besitzt; ist die Anzahl der Vpp. groß,
dann ist die Eichung durch sie selbst entschieden sicherer, als die in einem
anderen Kreise vorgenommene. — Ein Beispiel wird am kürzesten in unsere
Denkweise einführen. Der Lückentext »Die Stare“ beginnt:
Wann werden die Stare —? Es ist März, der A ist von den A und
Wiesen weggetaut, auch scheint die A hell und A. Aber die Luft ist
noch rauh und A, und in den Nächten wird alles A zu Eis. Drum
bleibt nur noch ein Weilchen im A Lande, ihr lustigen Al Doch was
seh ich? Das Starenvölkchen ist mit der Schnellpost iA
In der folgenden Übersicht ist zunächst die Anzahl der richtigen Aus¬
füllungen (b) für jede dieser Textlücken (a) angegeben. Im ganzen bearbei¬
teten 79 Vpp. diesen Text 76 Prüflinge fanden eine sinngemäße Ausfüllung
der 1. Lücke, 3 dagegen nicht. Die Häufigkeit der richtigen Lösung ist ein
Maßstab für die Schwierigkeit. Daraus ergibt sich folgende Regel: Je häufiger
die Ausfüllung gelingt, desto geringer ist die Schwierigkeit; je seltener die
Lösung gelingt, desto größer ist wahrscheinlich die Anforderung der be¬
treffenden Aufgabe. Ergänzen wir also die Häufigkeitszahlen (b) zu dem
Werte: Zahl der Vpp. (79) -I- 1 (= 80), so gibt uns diese Differenz zwischen
80 und der einzelnen Häufigkeitszahl (b) für jede Lücke deren Schwierig¬
keit (c) an. Die Zahl 1 würde eine sehr leichte Aufgabe bedeuten, deren
Lösung sämtlichen 79 Vpp. gelang. Schwierigkeit 80 würde anzeigen, daß
nicht eine einzige richtige Lösung der betreffenden Lücke erreicht wurde. —
Einerseits, um die Zahlen zu vereinfachen, und weil andererseits der Ver¬
feinerung des Maßstabes nicht eine ebenso große Empfindlichkeit der Ab¬
stufung entspricht, wurden die für die Schwierigkeit gefundenen Zahlen auf
5 Schwierigkeitsgrade (d) vergröbert. Diese Unterscheidung hat für unsere
Zwecke genügt. Die 1. Lücken dieses Textes sind leicht; das ist für die
Einstellung auf diese Aufgabe wichtig.
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Eine experimentelle Auslese von Sprach befähigten in der Volksschule
35
Zum Vergleiche habe ich die Schwierigkeitsgrade daruntergesetzt, die sich
in einer sogenannten Förderklasse (Schwachbefähigte) ergaben (e). Derselbe
Text bietet diesen schwachbefähigten Schülern größere Schwierigkeiten.
a
Lücke
i
2
3
4
5
6
7
8
9
10
b
Häufigkeit.
76
65
65
75
55
64
64
45
64
53
c
Schwierigkeit.
4
15
15
5
25
16
16
35
16
27
d
Schwierigkeitsgrad (Sprchk.)
1
1
1
1
2
1
1
3
1
2
e
Schwierigkeitsgrad (Ford.) .
2
3
2
1
2
1
2
3
2
2
Dieses Bewertungsprinzip läßt sich sinnentsprechend auch auf die anderen
Versuche anwenden. Im angeführten Beispiel waren die nach ihrer Schwierig¬
keit abzustufenden Teilaufgaben die Lücken eines Textes, im Gedächtnis¬
versuch sind es die einzuprägenden Wörterreihen oder Vokabelpaare, die in
bezug auf ihre Schwierigkeit unterschieden werden sollen. — Der Vorteil
dieser Verrechnungsart wird schon augenscheinlich, wenn man sie einmal
bei einem Proberechnen oder bei der Beurteilung eines Extemporale an¬
wendet. Die Auswertung wird dadurch sicher in ihrer Abstufung gerechter,
als wenn man nur die Zahl der richtigen Lösungen oftmals ganz verschieden
schwieriger Aufgaben feststellt.
Wird diese abstufende Wertung in Verbindung mit einer dem Zweck der
Auslese entsprechenden Mischung der Schwierigkeitsgrade verbunden, so
kann man mit Hilfe des Verfahrens entweder die guten Leistungen oder
auch die niederen beliebig betonen und herausheben. Man braucht nur
diejenigen Schwierigkeitsgrade'bei der Zusammenstellung der Teilaufgaben
zu bevorzugen, die dicht an der Grenze der Leistungsfähigkeit des Durch¬
schnittes liegen. Will man nur die Bestbegabten herausfinden, nimmt man
also verhältnismäßig viel schwierige Aufgaben, soll dagegen ein größerer
Kreis über dem Durchschnitt herausgeschält werden, so stellt man mehr
Aufgaben vom Schwierigkeitsgrade 4 usf.
Das bei dieser Art der Auswertung Wertvolle sind die Abstände der ein¬
zelnen Leistungsurteile, die Reihenfolge der Rangreihe wird dadurch nur
wenig geändert; denn gewöhnlich werden wohl diejenigen Prüflinge, die den
schwierigsten Aufgaben gewachsen sind., auch alle leichteren erfüllen, und
die Schwachen werden wahrscheinlich nicht nur in der Güte, sondern auch
der Anzahl nach weniger leisten. — Die Verteilung der Punktzahlen, mit
denen alle Leistungen beurteilt wurden zwischen dem Höchst- und dem
Nullwerte, hat dann eine ganz bestimmte Regelmäßigkeit aufzuweisen: ihre
Abstände sind groß in dem Teile der Reihe, der durch die Auswahl der
Aufgaben bevorzugt wurde. In meinem Falle waren also die über dem
Durchschnitt liegenden Leistungen fein abgestuft, die schlechten erschienen
dagegen wenig voneinander verschieden. Besonders deutlich zeigt das die
graphische Darstellung. Ordnet man die Leistungen nach ihrer Größe und
trägt man sie als Ordinaten nebeneinander in ein System ein, so fällt die
alle Endpunkte verbindende Linie erst ziemlich schräg ab und zeigt in dem
Teil der niedrigen Werte nur noch eine geringe Neigung. Stellt man die
Häufigkeit der Werte dar, also ihre Anzahl in den gleichen Abschnitten
zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Werte als Ordinaten, so hat
diese Verteilungskurve nicht die regelmäßige symmetrische Glockenlinie,.
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86
Felix Schlotte
sondern erscheint verschoben; der Gipfel liegt dem Ende der schlechten
Leistungen näher und fällt nach der Seite der guten allmählich ab. Diese
Form erstrebte ich in allen Versuchen. (Die Form einer Kurve, in der die
Verteilung der Schwierigkeitsgrade versinnbildlicht werden soll, müßte die*
selbe Gestalt, um die Senkrechte gedreht, zeigen.)
Für die weitere Verwendung des Ergebnisses aus den einzelnen Versuchen
war es nötig, alle die verschiedenen Zahlenreihen derartig rechnerisch zu
behandeln, daß jede auf das Endergebnis mit ungefähr gleichem Gewichte
wirkte. Dies suchte ich dadurch zu erreichen, daß ich alle Zahlenreihen,
die zunächst für die einzelnen Versuche ganz verschiedene Ausdehnung des
Punktspielraumes hatten, auf den gleichen Punktspielraum brächte. Als
festen Punkt der ganzen Reihe benutzte ich den Höchstwert, also die beste
Leistung, und nannte sie in jedem Versuche 100. Alle übrigen Werte wurden
in demselben Verhältnis wie der ursprüngliche Höchstwert entweder ver¬
mindert oder erhöht, so daß jede Vp. innerhalb des Zahlenraumes 0—100
an derselben Stelle stand wie vorher in einem weiteren oder engeren Zahlen¬
raume. Der Abstand aller Vpp. untereinander war verhältnismäßig derselbe
geblieben. Erst durch diese Einordnung aller Zahlen unter den Höchstwert
100 P. wurde ein Vergleich der Versuche untereinander möglich. In Ver¬
bindung mit der Verteilungskurve oder mit dem Durchschnittswerte war ohne
weiteres jedes Punkturteil eine Wertangabe, ein Umstand, der bei der Be¬
sprechung der Versuchsergebnisse und beim Vergleich mit den Zensuren
und Beobachtungen des Lehrers das Prüfungsmaterial übersichtlich gestaltete.
Es ist unmöglich, sich die einzelnen Leistungen von 79 Vpp. vorzustellen
und wertend zu vergleichen; es macht sich hier eine Vereinfachung des
Zahlenmaterials notwendig. Bisher bildete man aus den Rangreihen, die
man aus den verschiedenen Versuchen erhalten hatte, eine sogenannte mittlere
Rangreihe. Dieses Verfahren muß Fehler erzeugen, denn die Platznummern
sollen eigentlich nur eine Reihenfolge angeben; es kommt ihnen nur ein
geringer Maßwert zu. Ich glaubte richtiger zu handeln, wenn ich nicht die
Platznummern aus den Versuchen zusammenzählte, sondern die Punktergeb¬
nisse aller Versuche, die durch die stete Beziehung auf den Höchstwert 100
vergleichbar geworden waren, zusammenfaßte. Auch innerlich bestanden
zwischen den Einzelergebnissen mehrfache Beziehungen. Die Schwierigkeit
war dem Alter angemessen gut getroffen worden, die Höchstleistung fiel
entweder dicht unter den Punkt der überhaupt möglichen idealen Erfüllung
der Aufgaben oder öfter auch mit diesem zusammen und kam im günstigsten
Falle dreimal vor. Außerdem war ja die Mischung der Schwierigkeitsgrade
in den Teilaufgaben für alle Versuche eine ähnliche gewesen, und die Er¬
gebnisse waren nach denselben rechnerischen Wertprinzipien behandelt worden.
Der Widersinn, der scheinbar darin liegt, die psychische Gesamtleistungs¬
fähigkeit aus den Teilleistungen einfach durch Summierung ableiten zu wollen,
wird durch eigenartige rechnerische Auswertung — die Beziehung aller Werte
auf den gleichen Höchstwert in Verbindung mit der Betonung der guten
Leistungen — wettgemacht. Die beiden Maßnahmen haben folgende Wir¬
kung: Eine besonders gute Leistung auf einem Einzelgebiet hat starken Ein¬
fluß auf die Stellung der betreffenden Vp. in der Endrangreihe; dagegen
wirkt ein Versager in irgendeinem Versuche lange nicht mit demselben Ge¬
wicht, weil ja die Abstände in der Gegend der geringen Leistungen nicht so
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Eine experimentelle Auslese von Sprachbefähigten in der Volksschule
37
groß wie im oberen Teile der Reihen sind. Außerdem waren die niedrigsten
Leistungen nicht entsprechend dem Verfahren bei den Höchstleistungen gleich
null gesetzt worden. Diese Bevorzugung der guten Leistungen und Vernach¬
lässigung der Versager war aus folgender Überlegung geschehen: Wir unter¬
suchen mit den Tests die Arbeitsweisen des Bewußtseins möglichst getrennt,
im gewöhnlichen Leben gehen diese Arbeitsformen stark ineinander auf, und
dann kann die Überlegenheit au| einem Gebiete stellvertretend oder wenigstens
unterstützend anderen Gebieten zugute kommen.
Das waren methodische Ergebnisse, die sich vor allem auf die Verrechnung
der Untersuchungsergebnisse bezogen. Wenig Gewinn läßt sich aus solchen
Massenuntersuchungen für die Weiterentwicklung des einzelnen Tests ziehen.
Den rechten Weg zu diesem Ziel hat Schierack-Leipzig 1 ) in seiner Arbeit
gewiesen, indem er die Selbstbeobachtung als Prüfungsmittel für die einzelnen
Tests anwandte. Joh. Schlag ließ eine Klasse 16 jähriger Mädchen über ihre
Innenerlebnisse beim Lösen solcher Tests berichten und hat manchen wert¬
vollen Aufschluß erhalten. Viel weiter wird man aber im Alter nicht herab¬
gehen können; denn dort ist die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung noch nicht in
genügendem Maße geübt. Vor allem wird es den Jüngeren schwer, das, was
sie erleben, in treffende Worte zu kleiden. In diesen Fällen bieten dann
Massenuntersuchungen Gelegenheit, die Beziehungen zwischen den einzelnen
Versuchen aufzudecken. Ich verwandte zu diesem Zwecke nur die Ergebnisse
der Kinder, die an sämtlichen Versuchen teilgenommen halten, und bildete
mir Rangreihen dieser 75 Vpp. für jeden Versuch, für die Summen der
beiden Tage getrennt und eine Endrangreihe über die Punktsummen aus
sämtlichen Versuchen.
Gespannt war ich zunächst darauf, ob sich wohl eine Übereinstimmung
zwischen beiden Prüfungstagen ergeben würde. Man kann es sich ja so
denken, die zwei Tage wären zwei von einander unabhängige Prüfungen,
die an derselben Prüflingsschar mit zwei einander ähnlichen Zusammen¬
stellungen vorgenommen wurden. Die Versuche, die sich gegenüber standen,
waren:
L Tag: a) Gedächtnis für zehn sinnvoll verbundene Dreiwortreihen (Beispiel: Gewinn—Neid-
Zank). B- 0,62].
b) Aulsuchen von Nebenbegriffen und Bilden des dazu gehörigen Oberbegriffes. (Nach
Schierack.) ]-f- 0,69].
c) Ordnen der in Unordnung gebrachten Sätze einer Geschichte. („Wirre Gedanken“.)
[+ 0.491.
d) Ordnen der unbestellten Wörter einiger Sätze. (Mosaiksätze) [-j- 0,59].
e) Behalten des Sinnes einiger langer nur einmal gebotener Sätze, [-f- 0,69].
fl Bilden je eines Satzes zu mehreren gegebenen Wortpaaren, [-f- 0,64].
g) LOckentext „Die Stare“. (Es fehlen allerlei Wortarten.) [-|- 0,70],
2. Tag: h) Vokabel versuch nach Dr. Handrick. (Beispiel: hunfer-Rache). [-f- 0,44].
i) Vorrat und Flüssigkeit der Vorstellungen. (Assoziationsversucb.) [~j- 0,52].
k) LOckentext „Der Buchweizen“. (Nur Bindewortlücken.) [-f- 0,68],
1) Lautauffassung und Lautdarstellung nach Dr. Handrick. [-(- 0,40].
Der Korrelationskoeffizient zwischen den Rangreihen der Versucbstage be¬
trug -+- 0,68. (Die Zahlen über 0,50 bis -t- 1,00 bedeuten nach der
Spearmanschen Formel für Rangkorrelationen eine gute [-J- 0,50] bis voll-
') Päd.-pgych. Arbeiten aus dem Institut des Leipziger Lehrervereins. Bd. 10. Leipzig 1920.
Dünsche Bachhandlung.
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38
Felix Schlotte
kommene [4> 1,00] Übereinstimmung zwischen zwei Rangreihen.) Zwischen
den Ergebnissen des 1. und 2. Tages besteht also eine gute Übereinstimmung.
Diese Tatsache legt die Vermutung nahe, daß durch die Zusammenstellung
der Versuche ein Begabungstypus getroffen ist Wenn die Versuchsgruppen
der beiden Tage noch gleichartiger wären, würde dies wahrscheinlich deut¬
licher in Erscheinung treten. Es ist behauptet worden, bei solchen Prüfungen
treffe man vor allem die Fähigkeit zur Anpassung an neuartige Aufgaben.
Wenn dem so wäre, dann müßte auch Übereinstimmung zwischen den ein¬
zelnen Versuchen untereinander bestehen. Das trifft jedoch nicht zu. Zwischen
den einzelnen Versuchen ergeben sich — abgesehen von den gleichartigen
oder einander sehr ähnlichen — keine Koeffizienten, die einen Zusammen¬
hang verraten.
Ehe ich auf solche Gruppen eingehe, möchte ich die Zahlen erklären, die
ich den einzelnen Versuchen in der Übersicht über beide Prüfungstage
(s. vorher 1) gegeben habe. Sie geben den Grad der Übereinstimmung zwischen
der. Rangreibe jedes einzelnen Versuches und der Endrangreihe aus sämt¬
lichen Versuchen an. Angenommen, es sei durch die Untersuchung gelungen,
die begrifflich Denkenden herauszufinden — die Bestätigung hierfür scheint
der Erfolg, nämlich die Bewährung der ausgelesenen Schüler, zu sprechen —,
dann würden diese Korrelationskoeffizienten Urteile bedeuten über die Brauch¬
barkeit dieser Versuche in solch einem Ausleseverfahren für begrifflich Be¬
gabte. Ehe ich so weit gehe, möchte ich jedoch eine zweite Bewährung dieser
Zusammenstellung unter einfacheren äußeren Verhältnissen und mit den Ver¬
besserungen, die durch die Erfahrung geboten erschienen, abwarten. Eins
kann man jedoch ohne weiteres diesen Zahlen entnehmen und daraus Gewinn
für die Weiterarbeit ziehen. Die Koeffizienten lassen erkennen, in welchem
Grade das Ergebnis jedes einzelnen Versuches zum Gesamtergebnis beigetragen
hat. Da scheint zunächst der Versuch „Wirre Gedanken“ nicht ganz in den
Rahmen zu passen. Die technische Bewältigung dieser Aufgabe macht dem
Prüfling — wie ich bereits bei der Durchführung des Versuches beobachtete —
ziemliche Schwierigkeiten. Der Schüler erhält ein Päckchen Papierstreifen.
Auf jedem der elf Streifen steht je ein Satz einer in Unordnung gebrachten
Geschichte, und nun heißt’s: Ordne die Streifen derart, daß aus den Sätzen
eine zusammenhängende Erzählung wird! Die Vp. hat während des Ver-
suches zwei Gruppen von Streifen vor sich liegen, die bereits geordneten
und die noch der Ordnung harrenden. Eine zweite Klippe ist für manchen
das Aufschreiben der Lösung gewesen. Das Hantieren beim Ordnen und
Aufschreiben sind nun allerdings Nebenumstände des Versuchs, die aber der¬
artig große Anforderungen an die Vp. stellen, daß das Gesamtergebnis stark
beeinflußt wird. Und zwar muß dies in einem ungünstigen, dem eigentlichen
Zwecke des Versuches widerstreitenden Sinne geschehen; denn die technische
Seite würde wohl leichter von praktisch Denkenden erfüllt werden als von
denen, die ich herausfinden wollte, den begrifflich Denkenden.
Im Anschluß an diese Erfahrung drängte sich der Gedanke auf, ob man
nicht bei einer derartigen Auslese einen Versuch einfügen sollte, der einen
hohen Symptomwert für den anschaulichen Typus besitzt. Den dürfte man
natürlich nicht in die Zusammenfassung der übrigen Versuche einbeziehen,
sondern er würde der negativen Auslese dienen. Es ist doch sicher so, daß
ausgeprägte Typen selten sind, meist werden wohl beide Arten des Denkens
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Eine experimentelle Auslese von Sprachbefähigten in der Volksschule
39
nebeneinander In derselben Person bestehen, und eine der Formen wird nur
gegen die andere hervortreten. Hält man aber nur in einer Richtung positive
Auslese, so würde man wohl alle diejenigen herausfinden, die begrifflich gut
begabt sind. Es besteht jedoch die Möglichkeit, daß auch solche Kinder dar¬
unter sind, die zwar begrifflich gut begabt sind, aber auf dem Gebiete des
anschaulichen Denkens noch Besseres leisten könnten. Man entzieht auf
diese Weise den Weikklassen viele gute Begabungen, nimmt den Sprach-
klassen ihren eigentümlichen Charakter und formt sie zu Begabtenkl&ssen um.
Noch empfehlenswerter wäre es, am Ende der Grundschule sämtliche
Kinder allseitig zu untersuchen, nicht um auszulesen, sondern um zu scheiden.
Der Zeitpunkt ist im Hinblick auf die kindliche Entwicklung zwar zu früh,
wir müssen aber vorläufig mit dem Schulaufbau rechnen, wie er jetzt besteht
Ein andrer Versuch, der im Gegensatz zu den übrigen steht, ist der an
letzter Stelle genannte, eine Untersuchung der Befähigung zu genauer Auf¬
fassung der Laute und zu ihrer richtigen Darstellung. — Mit Rücksicht auf
das Erlernen der Fremdsprache scheint diese Prüfung notwendig vor allem,
wenn im fremdsprachlichen Unterrichte der Nachdruck auf das Sprechen ge¬
legt werden 6oll. Ob der ungünstige Ausfall des Versuches auf die zu ge¬
ringe Schwierigkeit des Versuchsstoffes oder darauf zurückzuführen ist, daß
hier zum Teil physiologische Bedingungen (Ohr!) mit untersucht werden,
läßt sich an der Hand dieses einen Materials nicht entscheiden. Vielleicht
wird man damit ähnlich verfahren müssen, wie ich es für die Gedächtnis¬
versuche vorschlagen möchte: Zu dieser Gruppe gehören drei Versuche. Der
Vokabel versuch ähnelt davon den Versuchen, durch die man das Gedächtnis
am reinsten erfaßt — dem Lernen sinnloser Silben —, am meisten. Der
Stoff bestand in zehn Vokabelpaaren wie „ramtos — Vater“; die Einprägung
geschah zweimal durch Vorlesen, gemeinsames Lesen und selbstgewählte Art
des Einprägens. Bei der Abnahme wurde das fremde Wort geboten, die
deutsche Wortbedeutung war zu ergänzen. — Äußerlich ebenso verlief der
Versuch mit Dreiwortreihen. Hierbei wird die Einprägung durch den die
drei Wörter jeder Reihe verknüpfenden Sinn erleichtert. Das Erkennen dieses
Zusammenhanges, das Erfassen der Richtung, in der die Reihe verläuft oftmals
bei der Abnahme wohl gar das Nachschaffen der Reihen aus Einprägungsresten,
das sind Nebeneinwirkungen, die die eigentliche Gedächlnisleistung zurück¬
treten lassen. Noch geringer ist der Anteil der eigentlichen Gedächtnisleistung
sicher dann, wenn gar kein Wert auf das wörtliche Behalten gelegt wird
wie im Hamburger Merkfähigkeitsversuch. — Diese Abstufung der
reinen Gedächtnisleistung spricht auch aus den Korrelationskoeffizienten, die
sich aus dem Vergleichen dieser Versuche untereinander und mit der End¬
rangreihe ergeben.
*
I.
n
HI
IV
I. Vokabel versuch ....
T ^
-i 0,52
4- 0,35
-f 0.44
TL Dreiwortreihen ....
4- 0,52
+ 1
+ 0,57
4- 0,62
JIL 8ätze.
— }- 0,35
+ 0.57
+ 1
+- 0,69
IV. Endrangreihe.
-f 0,44
+ 0,62
+ 0,60
+ 1
Nach den Erfahrungen mit den Gedächtnisversuchen scheint es mir emp¬
fehlenswert, die Untersuchung des reinen Gedächtnisses nur dann in die
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40 F. Schlotte, Eine experimentelle Aaslese von Sprachbefähigten in der Volksschule
Zusammenfassung einzubeziehen, wenn das Ergebnis stark unter dem Durch*
schnitt bleibt, im übrigen aber hierbei keinen Wert auf Höchstleistungen zu
legen. Ebenso wäre mit der Prüfung der Lautauffassung zu verfahren.
Die Ergebnisse meiner Untersuchung sind hier mitgeteilt worden, um zu
zeigen, was eine derartige experimentelle Prüfung im Rahmen einer Auslese
leisten kann. Zugleich wollte ich auf die Punkte hinweisen, an denen die
Weiterarbeit einsetzen möchte: Analyse der speziellen Anforderungen der
Sprachklassen auf Grund der Erfahrung; entsprechende Auswahl der Versuche
und Neugestaltung brauchbarer Tests; längere Beobachtung der nach diesen
Methoden ausgelesenen Schüler; Feststellung von Normalleistungen und Ver¬
einfachung des Verfahrens.
Subjektive optische Anschauungsbüder bei Jugendlichen.
Von Oswald Kroh.
Als ich im Herbst 1917 mit der Einstellung des von Prof. E. R. Jaensch
geleiteten psychologischen Instituts der Universität Marburg an meine Schüler
(Oberrealschule nebst Reformrealgymnasium zu Marburg) herantrat, machte
ich gelegentlich die Feststellung, daß der Vorstellungsmodus einer großen
Anzahl von Schülern von dem der normalen Erwachsenen erheblich abweicht,
und es schien mir, als wenn das Schlagwort von der Konkretheit des
Vorstellens und Denkens der Jugendlichen nicht geeignet sei, dem
beobachteten Tatbestand genügend Rechnung zu tragen. Es zeigte sich näm¬
lich, daß ein erheblicher Teil der Jugendlichen über subjektive optische
Anschauungsbilder verfügte und diese mehr oder weniger gewohnheits¬
mäßig zu gebrauchen pflegte. 1 )
1. Beschreibung der Anschauungsbilder.
Was das subjektive optische Anschauungsbild von einem Vor¬
stellungsbild unterscheidet, wird am besten klar, wenn man die Aus¬
sagen derjenigen Individuen zugrunde legt, die sowohl Anschauungsbilder als auch
Vorstellungsbilder besitzen. Legt man diesen ein postkartengroßes oder kleineres
Bild oder einen Gegenstand von gleicher Größe in normaler Leseentfernung vor,
*) Nachdem V. Urbantschitsch im Jahre 1907 den subjektiven optischen Anschauungsbildern
erstmalig eine monographische Behandlung zuteil werden ließ, die aber infolge der Bevorzugung
abnormer (apsychonomen Formen vorwiegend nur das KuriositSteninteresse befriedigen konnte,
sind inzwischen unter Leitung von E. R. Jaensch aus dem Psychologischen Institut der Uni¬
versität Marburg eine Reihe von Abhandlungen hervorgegangen, die — großenteils in der Zeit¬
schrift für Psychologie sowie der Zeitschrift für Sinnesphysiologie erschienen — als gesonderte
Monographien bei J. A. Barth, Leipzig, berausgegeben werden:
„Ober die Vorstellungswelt der Jugendlichen und den Aufbau des intellektuellen Lebens.*
„Ober den Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre Struktur im Jugendalter.*
Vgl. ferner B. R. Jaenschs Referat „Üoer subjektive Anschauungsbilder*, das demnächst
im Bericht über den 7. Psycbotogenkongreß zu Marburg (1921) erscheinen wird, sowie des Verf.,
im besonderen auch die pädag. Seite berücksichtigenles Buch: 0. Kroh, Subjektive An-
scbauungsbilder bei Jugendlichen, das in Kürze litt Verlag Vandenhoek & Rupprecht, Oöttingen
erscheint, und den IV-i'rag: O. Kroh, Eidetiker im ter deutschen Dichtern. Zeitsohr. f. PsychoI.
Bd. 85 11920).
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Oswald Kroll, Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlieben 41
bo sind sie imstande, selbst nach kurzdauernder, wenige Sekunden langer Be¬
trachtungsich das dargebotene Objekt nicht nur vorzustellen, sondern es sich mit
wahrnehmungsgemäßer Deutlichkeit als Anschauungsbild zu vergegenwärtigen.
Sie geben an, daß sie das Anschauungsbild im eigentlichen Sinne des Wortes
zu sehen glauben; nicht nur haben sie den Eindruck, daß das Auge bean¬
sprucht sei, sondern das Bild erscheint auch wie ein echtes Sehding im Seh¬
raum, zumeist an der Stelle, die durch Konvergenz- und Akkommodationsgrad
der Augen gerade ausgezeichnet ist. So bedeckt dann das Anschauungsbild
eines vorgelegten Gegenstandes den Grund (etwa die Wand), auf den es
projiziert wird. Dabei kann es Vorkommen, daß der Grund an der betreffen¬
den Steile völlig verschwindet, während er ringsherum noch deutlich sichtbar
ist; meist aber bleibt er noch durch das vorgelagerte, durchscheinende Bild
hindurch erkennbar. Sehr oft mischen sich die Farbe des Grundes und die
des Bildes zu einem einheitlichen Eindruck, genau so, wie bei physi¬
kalischer Farbenaddition — etwa bei Mischung entsprechender Spektralfarben
in einem Farbenmischungsapparat oder bei Mischung von Papierfarben auf
einem Farbenkreisel — Farben miteinander verschmelzen. So können Individuen,
die im Besitze subjektiver optischer Anschauungsbilder sind und die wir im
folgenden gemäß einem von Jaensch eingeführten Terminus alsEidetiker
bezeichnen wollen, ein rein graues bzw. mehr oder weniger leicht gelblich
oder bläulich getöntes Quadrat sehen, wenn sie das Anschauungsbild, das
sie von einem blauen Quadrat erzeugt haben, auf ein gleich großes gelbes
Quadrat projizieren oder umgekehrt. 1 ) — Daneben lassen sich Fälle beobachten,
in denen eine derartige Mischung der Anschauungsbildfarben mit den Farben
des Grundes nicht stattfindet, sondern abwechselnd bald mehr der Grund,
bald mehr das Bild im Gesichtsfeld überwiegt. In diesem Falle haben wir
Wettstreiterscheinungen vor uns von der Art, wie man sie auch im Stereoskop,
z. B. als sogenannten Konturenwettstreit, beobachten kann. ,
Allen diesen verschiedenen Erscheinungsweisen ist das gemeinsam, daß
das Anschauungsbild im Sehraum erscheint und in einer bestimmten, wenn
auch lockeren Verknüpfung zu den Objekten der Wahrnehmung steht. 2 )
Die Erscheinungsweise des Vorstellungsbildes ist davon völlig verschieden.
Wohl kann es bei egozentrischer Lokalisation vor, neben oder hinter dem
vorstellenden Individuum erscheinen; aber es wird niemals im eigentlichen
Sinne des Wortes gesehen, demgemäß ordnet es sich auch nie mit den Merk¬
malen eines neuen Empfindungsinhaltes in den Sehraum ein, vor allem kann
von einem Grade der Kohärenz zu den Wahrnehmungsobjekten, wie er in
den oben charakterisierten Fällen vorliegt, keine Rede sein.
Zu diesem Wesensunterschied aber kommen noch andere unter¬
scheidende Merkmale hinzu. Das Anschauungsbild ist in seinen aus¬
geprägten Formen von hohem Detailreicbtum; es ist beständig, denn es ver¬
schwindet oft erst nach minutenlanger Betrachtung; es ist dauerhaft, denn
es kann, mindestens bei gewissen Individuen (vgl. S. 43), noch nach Wochen
und Monaten mit meist nur geringen Abweichungen wieder erzeugt werden.
Ferner sind die Anschauungsbilder in der Regel von geringerer Flexibilität
’) E. R. Jaenscb u. B. Herwig, Ober Mischung von objektiv dargebotenen Farben mit Farben
des Anscbauungsbiides. Zeitscbr. I. Psychol.. Bd. 87.
*) A. Gösser, Gründe des verschiedenen Verhaltens der einzelnen GedScbtnisstufen. Zeitscbr.
L Psychol., Bd. 87, S. 97—128.
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Oswald Kroh
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als Vorstellungsbilder, die bekanntlich leicht zerfallen, sich umbilden, Ver¬
schmelzungen und Mischungen mit anderen Vorstellungsinhalten eingehen.
Ja, es existieren sogar Fälle (S. 44), in denen der Mangel an Flexibilität den
Anschauungsbildern den Stempel der Starrheit aufdrückt.
Neben den absichtlich erzeugten Anschauungsbildern spielen spontan
aufsteigende Bilder von gleichem Charakter eine erhebliche Rolle. Ihre
Analyse liefert schätzenswertes Material für die Untersuchung der Ideale der
Jugendlichen und ihre besonderen Interessenkreise. Besonderen Abarten
dieser spontanen Anschauungsbilder begegnen wir in gewissen Wachtraum¬
formen sowie in den Autoskopien.
Wir deuteten vorhin an, daß der Detailreichtum der Anschauungs¬
bilder verschieden groß sein kann. Es existieren zahlreiche Übergangs¬
formen vom rohen, oft nur aus Konturenteilen oder aus unscharf begrenzten
Farbflecken bestehenden zum scharf gezeichneten, vorlagegemäß gefärbten
Anschauungsbild wahrnehmungsähnlicher Art. Auch hinsichtlich der Größe
der Vorlage, von der ein Anschauungsbild erzeugt werden kann, bestehen
weitgehende Unterschiede. Will man bei Versuchen diesem Umstand Rech¬
nung tragen, so empfiehlt es sich, zunächst nieht über Postkartengröße hinaus¬
zugehen. Ebenso ist die Größe des Gesichtsfeldes, in dem ein Anschauungsbild
simultan vergegenwärtigt werden kann, erheblichen individuellen Differenzen
unterworfen.
Auch bezüglich der Farbigkeit bestehen bedeutende individuelle Unter¬
schiede. Individuen, die sonst vollkommen farbentüchtig sind, können im
Anschauungshild total-farbenblind oder rotgrün-blind sein oder bezüglich
einzelner Farben eine besondere Schwäche aufweisen (Rot-Schwäche, Blau-
Schwäche). Bemerkenswert ist, daß im normalen Sehen beobachtbare Rot¬
grünschwäche sich im Anschauungsbild zu völliger Rotgrün-Blindheit zu steigern
vermag. 1 )
Ihrer räumlichen Erscheinungsweise nach können Anschauungsbild¬
farben sowohl den Charakter von Oberflächenfarben wie von raumabschließen-
den und durchsichtigen Flächenfaiben, wie auch von Raumfarben tragen.
Nicht jeder Eidetiker ist imstande, von jeder Vorlage ein Anschauungsbild
bzw. von allen Vorlagen gleich deutliche Anschauungsbilder zu entwerfen.
Vielmehr offenbart sich hier die auswählende Wirkung gewisser Ten¬
denzen 2 ), die oft einen überraschend deutlichen Einblick in die psychische
Gesarotstruktur gewähren. So können z. B. manche — stark ästhetisch ein¬
gestellte — Eidetiker im Anschauungsbild nur Schönes reproduzieren. Hä߬
liches fällt bei ihnen einfach aus oder erscheint sehr undeutlich (kalotrope
Selektionstendenz). Andere wieder erhalten Anschauungsbilder nur von
solchen Vorlagen, die ihrem Interesse Rechnung tragen (philotrope Tendenz).
Hier mag als bemerkenswertes Beispiel der Fall des von E. R. Jaensch unter¬
suchten Studienreferendars Dr. W. erwähnt werden, der bei seinen erdkund¬
lichen und botanischen Studien in den subjektiven optischen Anschauungsbildern
wesentliche zuverlässige Gedächtnisstützen von hoher Beständigkeit besaß,
die ihm -die Arbeit bedeutend erleichterten, während seine Anschauungsbilder
’) B. Herwig, Ober den inneren Farbensinn bei Jugendlichen nnd seine Beziehungen zo
den allgemeinen Fragen des Licbtsinns. Zeitscbr. f. Psycho!., Bd. 87.
*) E. R. Jaensch, Sitzungsberichte der Gesellsch. zur Beförderung d. ges. Naturwissenschaften
zu Marburg, 1917.
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43
Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlichen
in der mit der Botanik durch die Studienordnung fest verbundenen Zoologie
infolge hochgradiger Flexibilität und starker Tendenz zu assoziativen Misch¬
wirkungen und störenden Abwandlungen mehr schadeten als nützten. Ähn¬
lich beobachtete Verfasser bei einer Reihe von Schälern einen starken Vor¬
rang der Geometrie vor der Arithmetik, der sich ebenfalls unschwer auf die
Mithilfe bzw. das Versagen des Anschauungsbildgedächtnisses zurückführen ließ,
öfter trat auch der Fall ein, dafi ein Schüler von einer bildmäßigen Vorlage kein
Anscbauungsbild erzeugen konnte, während ihm das eidetische Gedächtnis
gegenüber dem Objekt selbst bereitwilligst zur Verfügung stand. Auch in
solchen Fällen zeigt sich die Wirkung einer selektiven Tendenz, der Gegen¬
standstendenz. Aber auch gewisse Änderungen, die sich an einem Anschauungs¬
bild gegenüber seiner Vorlage beobachten lassen, sind als Wirkungen von
Tendenzen verständlich, die auf Erhaltung der Erfahrungsgemäßheit, auf
Vervollständigung des unvollständig Repräsentierten oder auf Weiterbildung
des nur Angedeuteten bzw. Nichtabgeschlossenen gerichtet sind.
Nicht immer sind, wie nach dem Vorausgehenden angenommen werden
könnte, farbige Anschauungsbilder der Vorlage gleichgetönt. In manchen
Füllen treten komplementäre Farben auf. Alsdann ist auch die Dauern
haftigkeit des Anschauungsbildes meist eine beschränkte und in extremen
Füllen seine Erzeugung nur in unmittelbarem Anschluß an die Betrachtung
der Vorlage möglich. Man sieht ohne weiteres, wie nahe ein derartiges
Anschauungsbild dem negativen Nachbild stehen kann. In der Regel bleiben
jedoch noch wesentliche Merkmale des Anschauungsbildes erhalten (große
Beständigkeit usw.), die eine Absonderung von den Nachbildern rechtfertigen.
Daneben existieren jedoch auch ausgesprochene Obergangsformen zum nega¬
tiven Nachbild.
Schon diese kurzen zusammenfassenden Ausführungen mögen einen Ein¬
blick geben in die Fülle und Vielgestaltigkeit der Formen, die wir unter dem
Namen der Anschauungsbilder summarisch begreifen.
Dem Fernerstehenden kann daraus sehr leicht der Eindruck erwachsen,
als handle es sich hier um eine unentwirrbare Mannigfaltigkeit, die besten¬
falls nur individualpsychologisches Interesse haben könne. Doch ordnet sich
das Material bei genauerer Betrachtung zwanglos in gewisse typische Formen.
Es ist das Verdienst von W. Jaensch 1 ), diese Formen als Begleit¬
erscheinungen gewisser psychophysischer Konstitutionstypen er¬
kannt und beschrieben zu haben. W. Jaensch unterscheidet basedowoide,
tetanoide und tetanoid-basedowoide Typen.
Die Träger des B-(basedowoiden) Typs sind sehr häufig erkennbar an ge¬
wissen körperlichen Symptomen: Leichtes Schwitzen, lebhafte Hautreflexe,
niedriger Hautwiderstand, weite Lidspalte, lebhafte Pupillenreaktion und
Glanzauge. Ihre Anschauungsbilder zeigen niemals komplementäre Bildfarben
and sind im allgemeinen sehr deutlich, von hoher Dauerhaftigkeit und ziem¬
lich starker Flexibilität. Der ganze psychische Habitus zeigt meist eine ge¬
steigerte Lebhaftigkeit, starken Mitteilungsdrang, gelegentlich auch Aufmerk-
samkeitsstörungen.
Die Träger des T-(tetanoiden) Typs besitzen in leichteren Fällen keine so
*) Ober Wechselwirkung von optischen, zerebralen und somatischen Stigmen bei Konstitutions¬
typen. Zeitachr. f. die ges. Neuro!, u. Psychiatr., Bd. 59, S. 104H.
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
44
Oswald Kroh
' "1
deutlichen körperlichen Symptome; für sie ist die starke mechanische und
galvanische Überregbarkeit auf motorischem und sensiblem Gebiet besonders
charakteristisch; in ausgeprägteren Fällen gesellt sich dazu noch ein merk¬
würdig ängstlich mißtrauischer Gesichtsausdruck (Uffenheimers Tetaniegesicht).
Die Anschauungsbilder der Tetanoiden stehen dem negativen Nachbild nahe,
erinnern an dieses in ihrer Starrheit und Unbeeinflußbarkeit, oftmals auch
in ihrer komplementären Färbung. Der Tetanoide ist ängstlich und mi߬
trauisch und verschweigt seine Anschauungsbilder gelegentlich, zumal sie ihm
infolge ihrer Starrheit und einer gewissen Neigung zur Persistenz (Zwangs¬
charakter) unheimlich erscheinen.
Der TB-Typ umfaßt die Mischformen beider Typen, wobei sowohl hinsicht¬
lich der genannten äußerlichen Merkmale als auch der Anschauungsbilder
bald mehr der T- und bald mehr der B-Typ überwiegt.
Ebenso wie wir hier die Anschauungsbilder der Tetanoiden zu den nega¬
tiven Nachbildern in Beziehung bringen konnten, ebenso stehen die An¬
schauungsbilder reiner Basedowoider den Vorstellungsbildern (sofern man von
der Erscheinungsweise im Sehraum absieht), nahe. Alsdann ordnet sich die
Mannigfaltigkeit der subjektiven optischen- Anschauungsbilder zwischen nega¬
tives Nachbild und Vorstellungsbild ein.
Trotz der gekennzeichneten engen Beziehungen zu gewissen psychopathischen
Konstitutionsformen kann man die Träger der Anschauungsbilder niemals
schlechthin als bedauernswerte konstitutionelle Psychopathen ansehen. Nur
eine verschwindend geringe Anzahl — sicher nicht mehr als unter anderem
Schülermaterial — fiel aus der Breite des psychisch und physisch als normal
geltenden heraus. (Gerade in diesen Fällen aber offenbarten sich die An¬
schauungsbilder als ein diagnostisches Hilfsmittel von hohem Range, wie
Verfasser in seiner erwähnten Publikation zeigen wird.) Die starke psycho¬
physische Labilität des Jugendlichen bewirkt, daß er sich auch in anderer
Hinsicht sehr oft Formen annähert, die beim Erwachsenen schon als außer¬
halb des Bereichs des Normalen liegend betrachtet werden müssen, die aber
beim Jugendlichen nur selten den Charakter von ausgesprochenen Krankheits¬
bildern tragen. Man befindet sich in Übereinstimmung mit anerkannten
Anschauungen, wenn man zur Erklärung den Umstand heranzieht, daß im
jugendlichen Organismus jenes Gleichgewicht der Stoffwechselvorgänge, im
besonderen der Drüsenfunktionen, das dem gesunden Erwachsenen eigen¬
tümlich ist, noch nicht völlig erreicht wird, daß aber die hohe Umstellungs¬
und Anpassungsfähigkeit dieses Organismus im Laufe der Zeit Ausgleiche
und Abklänge zu schaffen versteht, die einer drohenden Gefahr entgegenwirken.
2. Häufigkeit und Verbreitung der Anschauungsbilder.
Nachdem zunächst das Vorkommen von Anschauungsbildern im Unterricht
gelegentlich festgestellt worden war und schnell improvisierte Klassenversuche
sogar einen hohen Prozentsatz von Eidetikern ergeben hatten, schritten wir
zu einer Untersuchung des gesamten Schülermaterials. Bezüglich der bei
diesen Versuchen verwendeten Methoden verweise ich auf meine ausführlichere
Publikation. Dort werden auch Methoden zum Nachweis der Realität der
Anschauungsbilder angegeben, ebenso wird dort der bei flüchtiger Betrach¬
tung naheliegende Einwand, es handele sich hier um Suggestionswirkungen,
abgewehrt.
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Subjektive optische Anscbauungebiider bei Jugendlichen
45
Im folgenden wird das Ergebnis der Untersuchung sämtlicher Schüler der
Oberrealschule nebst Reformgymnasium zu Marburg mitgeteilt. 1 )
Alter L J.
1
Anzahl der
Schüler
überhaupt
2
Anschauu
hatten da
hai
Anzahl
3
ingsbilder
von über-
lpt
%ßatz
4
Deut
Anschauu
hat
Anzahl
5
liehe
ingsbilder
ten
% satz
6
Verhältnis
von Spalte 5
zu Spalte 3
(in Proz.)
7
19
3
0
0
0
0
_
19
20
7
35
1
5
14
17
41
21
51
7
17
33
16
58
37
05
20
35
54
15
43
32
72
19
44 .
61
14
44
29
66
20
45«/,
69
13
49
27
55
19
40
70
12
45
31
69
20
44
65
11
67
37
65
23
40
62
10
17
10
59
8
47
80
9
3
1
33
0
0
—
Es ist klar, daß die Gruppe der 19 Jährigen sowie die der 9 Jährigen schon
aus fehlerstatistischen Gründen vernachlässigt werden müssen. Dann aber
ergeben sich in Spalte 4 und 6 für die Altersstufen von 10—16 Jahren sehr
hohe Werte mit relativ geringen Schwankungen. Mit dem 17. Jahre setzt
eine rapide Abnahme ein, die vor allem in Spalte 6 deutlich in die Er¬
scheinung tritt und sich hier schon bei den 16 Jährigen anbahnt. Unsere
Obersicht bringt zum Ausdruck, daß vom 10.—16. Lebensjahr im Durchschnitt
65°/it aller Schüler Eidetiker waren — eine Zahl, die übrigens bemerkens¬
werterweise in den beiden stärksten Gruppen, bei den 16- bzw. 11 Jährigen
auch genau erreicht wird. Der Anteil der Eidetiker mit deutlichen und
detaillierten, d. h. aber pädagogisch besonders wichtigen Anschauungsbildern
beträgt auf den Altersstufen vom 10.—15. Jahre durchschnittlich etwa 43 °/o.
In Spalte 7 endlich erkennt man deutlich eine schon früh (mit dem 15. Lebens¬
jahre) einsetzende Tendenz zur Abnahme der Fälle höherer Bilddeutlichkeit
in der Gesamtzahl der Eidetiker.
Sowohl die festgestellten hohen Durchschnittswerte wie auch ihr auffälliges
Zurücktreten von der Pubertät ab kennzeichnen die eidetische Anlage als
eine ausgesprochene Jugendeigentümlichkeit. Dem entsprach ganz das Re¬
sultat parallel gehender Massenversuche an männlichen Erwachsenen (Stu¬
dierenden), bei denen nur etwa 7°/o Eidetiker festgestellt wurden. Was die
geographische Verbreitung der eidetischen Anlage anbetrifft, so legen schon
die Resultate der Typenuntersuchungen von W. Jaensch die Annahme nahe,
daß bedeutende lokale Differenzen bezüglich der Häufigkeit bestehen. Es
ist ja bekannt, daß gerade; die basedowoide und tetanoide Konstitution in
gewissen Gebieten mit auffälliger Häufigkeit Vorkommen, so daß man geradezu
von Basedowprovinzen reden kann. 2 ) So wird man damit rechnen müssen,
l ) Das Alter ist hier durch die erreichte Anzahl von Jahren ausgedrückt, so daß z. B. die
als 17 jährig Bezeichnten ein Durchschnittsalter von 17 */* Jahren haben usw.
*) Der Umstand, daß Wien und seine Umgebung eine solche Basedow-Provinz bilden, macht
verständlich, daß V. Urbantschitsch bei seinen Untersuchungen über subjektive optische An¬
schauungsbilder dort auch bei Erwachsenen auf ein so reiches Material stieß, ein Material allerdings.
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46
Oswald Krota
daß mit der örtlich differierenden, größeren oder geringeren Häufigkeit und
Ausgeprägtheit jener Typen auch die ihnen entsprechenden Anschauungsbild¬
formen bald mehr bald weniger häufig bzw. ausgeprägt auftreten werden. Unter¬
suchungen, die Schaler von E. R. Jaensch in verschie Jenen Teilen des Deutschen
Reiches anstellten, bestätigten diese Annahme. Verfasser konnte z. B. fest¬
stellen, daß in Qöttingen Anschauungsbilder in geringerer Häufigkeit und
Ausgeprägtheit auftreten als in Marburg. Es ist wahrscheinlich kein Zufall,
daß der Schüler, der unter den in Göttingen Untersuchten die deutlichsten
Anschauungsbilder aufwies, aus Schlesien stammte und erst vor wenigen
Jahren zugewandert war. 1 )
Durch eine Tabelle wie die voraufgegangene wird aber die Verbreitung
der subjektiven optischen Anschauungsbilder nur unvollständig erfaßt. Unter
Leitung von E. R. Jaensch sind indirekte Methoden ausgearbeitet worden, mit
deren Hilfe rudimentäre eidetische Anlagen auch bei solchen Jugend¬
lichen nachgewiesen werden konnten, bei denen die sonst verwendeten
direkten Methoden keinen positiven Befund lieferten (vgl. Zeitschr. f. Psychol.,
Bd. 87, S. 73 ff.).
Wenn wir vorhin sagten, daß die subjektiven optischen Anschauungsbilder
in der Regel in einem gewissen Aller verschwinden — bei unseren Versuchen,
die sich über Jahre erstreckten, konnte mehrfach dieses allmähliche Ab¬
klingen und Verschwinden direkt beobachtet werden —, so trifft das nur
teilweise zu. Bei den meisten Menschen lebt vielmehr das Anschauungsbild
' auch später in mancherlei Formen und Verkleidungen weiter. So tragen
fraglos bei der Mehrzahl der Menschen die Traumbilder den Charakter
von Anschauungsbildem. Ähnliches gilt von vielen Synästhesien des
Gesichtssinns (Diagrammen und Chromatismen), von Illusionen usw. Im
besonderen gehören hierher die in der psychologischen Literatur als Sinnes¬
gedächtniserscheinungen beschriebenen spontanen subjektiven Gesichts¬
empfindungen. Auch die Halluzinationen stehen unseren Anschauungsbildern
sehr nahe.
Sogar bei normalen Wahrnehmungsvorgängen lassen sich Spuren
von Anschauungsbildern unschwer nach weisen. Ja, es läßt sich sogar die
Behauptung vertreten, daß das Anschauungsbild dann die Aufgabe einer
zentralen Erfahrungs- bzw. Gedächtniskomponente der Wahrnehmung erfüllt 2 ).
Auch bei der Ausfüllung gewisser Skotome (etwa der Ausfüllung des blinden
Flecks oder der Fovea im Dunkelauge) stoßen wir auf subjektive Gesichts¬
erscheinungen vom Anschauungsbildtyp.
Subjektive Sinneserscheinungen von der Art . der optischen AnschauungB-
bilder lassen sich auch für die anderen Sinne unschwer nachweisen.
Auf taktilem Gebiete scheinen sie etwa die Häufigkeit der optischen An¬
schauungsbilder zu haben, auf akustischem Gebiet sind sie weit seltener.
Auch gustatorische und olfaktorische Anschauungsbilder sind gut bezeugt.
•
das durch seine stark apsycbonome Verbaltungsweise auffalleo muß. (Vgl. hierzu E.R. Jaensch,
Zur Methodik experimenteller Untersuchungen an optischen Anschauungsbildern. Zeitschr. f.
Psychol., Bd. 85, S. 37 ff.)
*) Es liegt nahe, auf der Grundlage einer entwickelten Konstitutionslehre, über die wir zur
Zeit noch nicht verfügen, an das Problem der geopsychischen Erscheinungen sowie der Stammes-
und Rasseforschung heranzutreten.
Vgl. E. R. Jaensch, Die Westmark. Märzheft 1921.
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Subjektive optische Anscbauungsbilder bei Jugendlichen
47
Ihnen allen eignet die Empfindungsgemäßheit, die sie im Bewußtsein ihres
Trägers scharf von Vorstellungen des gleichen Gebietes sondert.
S. Einiges Aber die pädagogische Bedeutung der Anschauungsbilder.
Die pädagogische Bedeutung der Anschauungsbilder beruht, wenn wir von
ihrem Anteil am Aufbau der Wahrnehmungswelt und des intellektuellen
Lebens absehen'), wesentlich auf der hohen Leistungsfähigkeit des
Anschauungsbildgedächtnisses.
Ein Beispiel: Einem 11jährigen Quintaner wurde eines Tages eine Serie
von 19 der verschiedensten Objekte (Attrappen von Topfblumen, Soldaten
und Heren, Inventarstücke aus Puppenküchen usw.) in bunter Folge in zwei
Reihen angeordnet vorgelegt Nach einer Betrachtungszeit von 30 Sekunden
wurden die Figuren abgedeckt. Der Schüler war nun imstande, sämtliche
19 Objekte der Reihe nach sicher anzugeben, sie einzeln nach Form und
Farbe eingehend zu beschreiben, sogar recht genaue Größen vergleiche auch
zwischen nichtbenachbarten Objekten auszuführen. Um festzustellen, mit
welcher Festigkeit die einzelnen Reihenglieder dem Gesamtbilde, das er vor
sich auf grauem Projektionsgrunde sah, eingefügt waren, wurde ihm auf¬
gegeben, bestimmte Vertauschungen unter den Bildern vorzunehmen. Die
Erfüllung der Aufgabe machte ihm keine Schwierigkeiten. Das ursprüngliche
Bild wurde durch diese Manipulation so wesentlich verändert, daß der Ver¬
suchsleiter, um Überblick und Kontrolle zu behalten, die verlangten Um¬
stellungen an der Objektserie an verdeckter Stelle selbst ausführen mußte.
Trotzdem war der Schüler imstande, die Objekte in schneller Folge auch in
der neuen Anordnung ohne Auslassungen und Fehler zu nennen.
Diejenigen Teilnehmer am 7. Kongreß für experimentelle Psychologie in
Marburg, April 1921, die Gelegenheit hatten, dem Referat von E. R. Jaensch
über subjektive optische Anschauungsbilder beizuwohnen, waren Zeugen einer
Leistung, wie sie uns bei unseren Untersuchungen täglich entgegentrat.
Jaensch legte seiner Versuchsperson ein eigens zu diesem Zwecke ge¬
zeichnetes Bild, das eine komische Straßenszene darstellte und eine Fülle
von kleinen Einzelheiten aufwies, vor. Der Schüler hatte das Bild noch nie
gesehen; auch unter dem Bildermaterial, das sonst bei Versuchen verwandt
wurde, kam ein ähnliches Bild nicht vor. Während der Schüler sein An¬
schauungsbild beschrieb, wurde das Bild selbst auf die Leinwand projiziert,
so daß jederTeilnehmer imstande war, die spontan und auf Befragen erfolgenden
Angaben des Knaben zu kontrollieren. Es zeigte sich, daß ihm kaum eine
der auf dem Bild dargestellten Einzelheiten entgangen war. 2 )
Gelegentlich kommt es sogar vor, daß auch solche Vorlageteile nachher
im Anschauungsbild deutlich sichtbar sind, die infolge allzu kurzer Be¬
trachtungszeit oder aus anderen Gründen nicht bewußt aufgenommen waren.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß eine derartige Fähigkeit zu
detaillierter, wahmehmungsgemäßer Wiedervergegenwärtigung des Gesehenen
') BzgL dieser Bedeutung des Anschauungsbildgedflchnisses vgl. die au! S. 40 (Fußnote 1)
«wähnten von E. R. Jaensch herausgegebenen Serien.
s ) Die Verwandtschaft dieser Leistung mit der mancher Blindschachspieler ist nicht gut zu
▼erkennen. In der Tat folgt auch aus den von Binet (La Psychologie des grands calculateurs
et des joueurs d’öchecs) mitgeteilten Aussagen einer Reihe dieser Künstler, daß sie sich bei
ihren Leistungen auf ausgesprochene Anschauungsbilder stützten.
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48
Oswald Kroh
eine Mitgift der Natur darstellt, die in ihrer Bedeutung nicht gut überschätzt
werden kann und die daher weitgehendste Berücksichtigung seitens der Päda¬
gogen verdient. Ihre Bedeutung wird noch erhöht, wenn man die im allgemeinen
leichte Ansprechbarkeit des Anscbauungsbildgedächtnisses und seine enorme
Dauerhaftigkeit — noch nach Monaten waren unsere jugendlichen Vpn.
vielfach imstande, früher einmal projizierte Bilder mit überraschender Treue
wieder hervorzurufen — in Betracht zieht.
Allerdings besteht in der Einengung, die die Ansprechbarkeit des An¬
schauungsbildgedächtnisses durch Versagen der früher erwähnten selektiven
Tendenzen erfahren kann, ein Faktor, der die unterrichtliche Verwendung
der Anschauungsbilder einzuschränken geeignet scheint. Sie ist wohl auch
einer der wesentlichsten Gründe dafür, daß eine Erscheinung von solcher
Verbreitung und Tragweite bisher der Aufmerksamkeit der Pädagogen ent¬
gangen ist 1 )* Aber diese Einschränkung hat nur selten absolute Geltung.
Sehr oft gelang es z. B. dem Verfasser durch kurze Bemerkungen und Hin¬
weise, Erklärungen und Ermutigungen nach erneuter Betrachtung der Vorlage
auch in denjenigen Fällen ein Anschauungsbild hervorzurufen, in denen es
ursprünglich auszubleiben schien. Gerade die philotrope Selektionstendenz,
die hei unserem Versuchsmaterial eine erhebliche Rolle spielte, ist eine
ausgesprochene Funktion des Interesses und erhält durch dieses ihren Wir¬
kungsbereich zugewiesen.
Aus der Feststellung der jeweils wirksamen maßgebenden selektiven Ten¬
denzen erwachsen aber nicht nur pädagogische Aufgaben, nein, ihre Kenntnis
besitzt auch selbst einen hohen pädagogischen Wert, insofern sie Grundzüge
der geistigen Struktur enthüllt. Der Schüler, der sich Häßliches im An¬
schauungsbilde nicht zu vergegenwärtigen vermag, ist so gänzlich auf Schönes
eingestellt, daß der Lehrer davon Kenntnis haben muß, wenn er überhaupt
auf individuelle Behandlung seiner Schüler Wert legt.
Das häufige Vorkommen der Gegenstandstendenz beweist unwider¬
leglich die Berechtigung der alten pädagogischen Forderung, die Schüler mit
den Dingen selbst und nicht nur mit ihren Namen oder Bildern vertraut
zu machen.
Der starke Anteil, den namentlich an den spontanen Anschauungsbildem
die Gegenstände und Probleme der manuellen, technisch konstruktiven —
heute meist außerschulmäßigen — Tätigkeit des Schülers besitzen, zeigt im
Verein mit den oft überraschenden Resultaten jener Tätigkeit, wie sehr der
moderne Arbeitsunterricht der psychischen Struktur des Kindes ent¬
gegenkommt. Die meisten unserer eidetischen Techniker dachten sich ihre
Apparate und Konstruktionen im Anschauungsbilde aus, Bie sahen das In¬
einandergreifen der Räder, die Wirkung der Transmissionen im Anschauungs¬
bild vor sich, ehe sie an den Bau herangingen.
Sie gingen aber nicht bloß an die Arbeit heran, sie brachten sie auch in der
Regel, wenn auch unter oft wochenlangem Bemühen, zu Ende. Denn — und
darin beruht eine der wichtigsten pädagogisch bedeutsamen Wirkungen des
Anschauungsbildes — es drängt zum Ausdruck. Den technisch Inter¬
essierten treibt es an, die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich der Ver¬
wirklichung seiner Pläne entgegenstemmen. Andere zeichnen, erzählen oder
f ) Es ist hier nicht der Ort, auch die anderen Gründe auseinanderzusetzen.
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Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlichen
49
schreiben nieder. Ganze Mappen voll Zeichnungen, Tagebücher voll von
Erzählungen und Gedichten fanden sich in den Händen unserer jugendlichen
Eidetiker. Es war auch sicher kein Zufall, daß mich zuerst ein auf selbständige
Beobachtungen gegründeter naturkundlicher Vortrag eines Schülers, der den
Stempel unmittelbaren Wiedererlebens trug, zu der Annahme führte, in dem
Schüler einen Eidetiker vor mir zu haben. (Es ist nach dem früheren ver¬
ständlich, daß ein derartiger Einfluß des Anschauungsbildes gerade bei den
Vertretern des B-Typs besonders deutlich in die Augen springt Auch im
TB-Typ pflegt die T- Komponente meist nicht oder nur wenig zu stören.
Zudem besteht nach den Untersuchungen von W. Jaensch sehr oft die
Möglichkeit, die T-Komponente durch Calciumgaben zu beseitigen. 1 )
Noch deutlicher aber kann die Wirkung der subjektiven optischen Anschau-
nngsbilder imschriftlichenAusdruckin die Erscheinung treten. Vorbedingung
dafür ist, daß der Stoff jenen Tendenzen genügt, die wir vorhin als für das
Zustandekommen der Anschauungsbilder in manchen Fällen wirksam erkannt
haben. Außerdem darf natürlich der Aufsatz- bzw. Stilunterricht nicht die
hemmenden und uniformisierenden Wirkungen ausüben, die ihm gelegentlich
eigen sind. Je unmittelbarer der Stoff an das intimste persönliche Interesse
des Schülers appelliert, je mehr der Schüler frei ist vom Einfluß der Norm
und Schablone, je freier und ungezwungener er sich bei der Niederschrift
fühlt, desto deutlicher muß der Einfluß des Anschauungsbildgedächtnisses
auf den schriftlichen Ausdruck, sofern er überhaupt besteht, in die Erscheinung
treten. Aus dieser Überlegung heraus ließ ich die Schüler einer Quarta, noch
bevor der erste planmäßige Aufsatzunterricht einsetzte, das Thema „Meine
Lieblingsbeschäftigung“ frei bearbeiten. Den Schülern wurde die Zusicherung
gegeben, daß die Aufsätzchen unzensiert bleiben würden. Es zeigte sich nun,
daß die meisten Arbeiten durchaus konventionell gehalten waren. In trockenen,
einfachen Erzählsätzen waren die „Höhepunkte“ eines normalen Tageslaufes
lose und unanschaulich aneinander gereiht. Der Darstellung fehlten jede
Frische, Unmittelbai keit, Plastik und Einheitlichkeit. Daneben stand ein nicht
unerheblicher Teil von Arbeiten mit gänzlich anderer inhaltlicher und stilisti¬
scher Gestaltung. Irgendeine besonders markante Episode aus dem Leben
oder eine bevorzugte Beschäftigung war herausgegriffen, mit anschaulicher
Plastik und vielem Detail geschildert. Das war kein bloßes Aufzählen, das
waren wirklichkeitsgetönte Ausschnitte aus dem Leben. Bei der Sichtung
des Materials zeigte sich nun, daß die Verfasser dieser Aufsätze Eidetiker
waren. Die Schüler hatten aus ihren Bildern heraus geschaffen und waren
,im Bilde“ geblieben, in einigen Fällen so sehr, daß sie, das Thema aus dem
Auge verlierend, die Schilderung auch dann nicht abgebrochen hatten, als
ihr Gegenstand längst aufgehört hatte, noch eine „Lieblingsbeschäftigung*
zu sein.
Aber darüber hinaus war sogar der besondere Charakter der Anschauungs¬
bilder aus der Darstellung deutlich zu erkennen. Ein Schüler mit akustischen
Anschauungsbildem bevorzugte unverkennbar in seiner Schilderung akustische
Erlebnisse; ebenso kam bei zwei anderen die für ihre spontanen Anschauungs-
') In gleicher Weise konnten ancb die anderen Stigmen des T-Typs durch Kalkbebandlnng
beseitigt oder abgeschwächt werden. W. Jaensch gewann so ein harmloses Mittel, gerade
Anscbanungsbilder vom Charakter der Zwangsvorstellungen zu beseitigen.
Zeltacbrtn f. pfidagog. Psychologie. 4
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50
Oswald Krob, Subjektive optische Ansehauungsbilder bei Jugendlieben
btlder charakteristische Sprunghaftigkeit auch in der Niederschrift deutlich
zum Ausdruck. 1 ) Mit dem Resultat der Analyse stimmte die Aussage der
Schüler, daß sie niedergeschrieben hätten, was sie vor sich sahen, völlig
Überein.
Auch bei Versuchen in anderen Klassen ergaben sich ähnliche Resultate,
wenngleich auf den höheren Stufen der Aufsatzunterricht offenbar schon
eine stark nivellierende Wirkung ausübte und in den untersten Klassen eine
gewisse stilistische Schwerfälligkeit der auch hier bei Eidetikern sichtbaren
Tendenz, lebendig und anschaulich einheitliche Episoden zu schildern, starke
Hemmungen bereitete. Wie sehr man berechtigt ist, die erwähnten Eigen¬
schaften der freien schriftlichen Darstellung mit der eidetischen Anlage in
Beziehung zu bringen, mag noch durch folgende Beobachtung unterstrichen
werden. Der Deutschlehrer einer Klasse, dem ich von meinen Erfahrungen
erzählt hatte, nannte mir auf Grund der ihm vorliegenden Klassenaufsätze
einige Schüler, die „eigentlich Eidetiker sein müßten*. In der Tat stellte
sieb bei einer nachher vorgenommenen Untersuchung heraus, daß diese
Schüler Anschauungsbilder besaßen.
Daß nicht alle Eidetiker an ihren Aufsätzen, auch nicht an ihrem münd¬
lichen Ausdruck erkannt werden können, wird verständlich, wenn man be¬
rücksichtigt, daß unter unserem Material die starren Formen des tetanoiden
» Anschauungsbildes und seine verschlossenen Träger keineswegs selten waren.
Im Zeichnen fiel die durchgängige Zeichenfreudigkeit der Eidetiker, ihre
gute Raumverteilung und der enge Zusammenhang ihrer zeichnerischen Ver¬
suche mit den Gegenständen ihrer spontanen Anschauungsbilder auf. Dagegen
war ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Grade der eidetischen
Anlage und der künstlerischen Gesamtleistung nicht aufweisbar. Welche
Schwierigkeiten dem Eidetiker bei dem Versuch, seine Anschauungsbilder
unmittelbar zeichnerisch zu fixieren, erwachsen können, habe ich a. a. 0.
(s. Fußnote S. 40) zu zeigen versucht.
Ebenso ließen sich auch in den übrigen Unterrichtsfächern sehr häufig
Beziehungen zwischen Arbeitsweise und Leistung einerseits und den Besonder¬
heiten des Anschauungsbild-Gedächtnisses andererseits nach weisen. Desgleichen
bot die Analyse der eidetischen Anlage in vielen Fällen die Möglichkeit, be¬
sondere Verhaltungsweisen der Schüler im Unterricht (besonders lebhafte
Beteiligung, Träumen, Sprunghaftigkeit, Unstetigkeit usw.) befriedigend zu
erklären. Aber auch manche pädagogischen Maßnahmen erfahren durch
die besondere Art, in der der Eidetiker auf sie zu reagieren pflegt, eine neue
Beleuchtung.
Besonders wertvoll war die Analyse der Anschauungsbilder für die Diagnose
leicht psychopathischer Konstitutionen. Gerade hier zeigte sich das
Anschauungsbild als ein Indikator von hohem Rang, der auch leicht psycho¬
pathische Formen schon in ihren Anfängen mit hoher Sicherheit zu bestimmen
gestattet.
Die vorstehenden Ausführungen wollen und können nur ein Totalbild ver¬
mitteln. Genaueres ist den zitierten Publikationen zu entnehmen. Vielleicht
darf aber auch schon auf der Grundlage des hier Angedeuteten gesagt werden,
') Verfasser hat in einer Untersuchung .Eidetiker nnter deutschen Dichtern* (Zeilachr. t
l'sychol., Bd. 86i den Zusammenhang zwischen der eidetischen Anlage einiger Dichter nnd dar
Art sowie den Resultaten ihres Schaffens aufzuzeigen versucht
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Emil Kraepelin, Wesen tmd Ursachen der Homoseznalität
51
daß die subjektiven optischen Anschauungsbilder, die sich überdies als
eine geeignete Grundlage für die Untersuchung wichtiger Probleme der Wahr-
nehmungs- und Denkpsychologie erwiesen haben (vgl. im besonderen die S. 40
zitierten Veröffentlichungen von E. R. Jaensch), sowohl für die allgemeine
wie für die Jugendpsychologie und die auf beiden aufbauenden Wissen¬
schaften eine nicht zu unterschätzende Bedeutung besitzen.
Wesen und Ursachen der Homosexualität')
Von Emil Kraepelin.
Die urwüchsigen Wächter unseres Daseins sind die Triebe, die unser
Handeln ohne Oberlegung in bestimmte Richtungen drängen, unter Umständen
selbst gegen unseren Willen. Ihre Macht verdanken sie ihrer Lebens¬
wichtigkeit; sie sind auf das engste verknüpft mit den Aufgaben der
Selbsterhaltung und der Arterhaltung. Die erstere Gruppe von Trieben,
der Nahrungstrieb, das Schlafbedürfnis, der Betätigungstrieb, die der Abwehr,
der Flucht, dem Angriffe dienenden Triebe, sind vom Beginn des Lebens an
wirksam, während der Fortpflanzungstrieb erst bei einer gewissen Reifung
der Persönlichkeit zur Entwicklung gelangt Sein Hervortreten erfolgt beim
Menschen verhältnismäßig spät, wenn es auch durch Rasse, Klima und per¬
sönliche Veranlagung verschoben werden kann. Beim Tiere vollzieht sich
die geschlechtliche Entwicklung sehr viel früher. Ähnliches beobachten
wir bei gewissen Formen der Idiotie, anscheinend im Zusammenhänge mit
Störungen der Drüsentätigkeit, andererseits bei Entarteten mit unzulänglicher
oder verspäteter Reifung der seelischen Persönlichkeit.
Aus dem Zustande der Geschlechtslosigkeit heraus machen sich zu Beginn
der Entwicklungsjahre zunächst unklare Triebregungen ohne erkennbares
Ziel geltend, die sich in Gefühlen unbefriedigter Sehnsucht und suchenden
Anschlußbedürfnisses äußern. Von den beiden Hauptrichtungen des Fort¬
pflanzungstriebes, dem Begattungs- und dem Brutpflegetrieb, meldet sich
zunächst der erstere, der beim Manne dauernd im Vordergründe bleibt,
während er bei der Frau in der Regel durch den letzteren überwogen wird.
Naturgemäß erreicht der Begattungstrieb längere Zeit hindurch sein Ziel nicht,
nicht nur wegen der Unbestimmtheit seiner Richtung, sondern namentlich
wegen der Hindernisse, die Erziehung, Sitte und Absperrung der Geschlechter
voneinander seiner Betätigung entgegensetzen. Die Folge davon sind, vor
allem beim Manne, nächtliche Ergüsse, weiterhin aber häufig genug die
Selbstbefriedigung, die durch Verführung erfahrener Kameraden besonders
gefördert wird.
An diesem Punkte beginnt die Gefahr. Bei frühem Erwachen und großer
Lebhaftigkeit des Begattungstriebes, wie sie durch persönliche Veranlagung,
aber auch durch Lebenseinflüsse, Bücher, Bilder, Schauspiele, Gefährten, be¬
günstigt werden kann, wird die Neigung zur Selbstbefriedigung sehr stark
und hartnäckig werden können, besonders auch wegen der Leichtigkeit, mit
der sie jederzeit ihr Ziel zu erreichen vermag. Dadurch aber wird nicht nur
') Nach einem für Lehrer und Schulärzte gehaltenen Vortrage.
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i
52 Emil Kraepelin
das natürliche Ziel des Begattungstriebes, die geschlechtliche Vereinigung,
mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, sondern das geschlechtliche
Begehren richtet sich allmählich ganz auf das eigene statt auf das andere
Geschlecht. Allerdings pflegt diese Entgleisung bei sonst gesund veranlagten
Kindern durch die Macht des immer entschiedener hervortretenden natürlichen
Triebes rasch überwunden zu werden; die Selbstbefriedigung bleibt ein ver¬
hältnismäßig harmloses Zwischenspiel, ähnlich wie in sonstigen Lebenslagen,
wo sie als Ersatz der natürlichen Befriedigung auftaucht, auf Schiffen, in
Gefängnissen. Wo aber die Zielsicherheit des Triebes ungenügend ist, wie bei
Entarteten, oder übermäßige geschlechtliche Begehrlichkeit schon früh die
Gewohnheit der Selbstbefriedigung fest einwurzeln läßt, besteht die Gefahr
eines dauernden Abirrens, das sich unter Umständen auch neben normaler
geschlechtlicher Betätigung durch Jahrzehnte hindurch erhalten kann.
Das Auftreten geschlechtlicher Regungen ist von lebhaften Stimmungs¬
schwankungen, Schwärmerei und starker Überschätzung der begehrten Per¬
sonen begleitet; es handelt sich hier gewissermaßen um einen Kunstgriff der
Natur, der die Annäherung der Geschlechter begünstigt. Nunmehr entwickeln
sich sinnlich gefärbte Freundschaften, zunächst natürlich oft zu dem ohne
weiteres zugänglichen gleichen Geschlecht, die unter Umständen auch zu
gegenseitiger geschlechtlicher Befriedigung führen. Damit verknüpft sich in
der ersten Zeit vielfach eine bis zur Abneigung gehende Scheu vor dem
anderen, unverständlich und fremdartig erscheinenden, zudem durch die
Sitte abgesperrten Geschlechte. Sehr bald aber greift die Schwärmerei auch
auf dieses über und drängt nunmehr die sinnliche Zuneigung zum eigenen
Geschlechte rasch in den Hintergrund. Immerhin kann es in diesem Alter
vorübergehend zu einer Art von Doppelgeschlechtlichkeit kommen, indem gefühls¬
selige Anlehnung an das eigene wie an das andere Geschlecht gesucht wird.
Die volle Entfaltung des gesunden Triebes bängt beim Manne von der
Fähigkeit zur Ausübung , des Geschlechtsverkehrs ab. Diese wird gefährdet
einmal durch große Schüchternheit und Ängstlichkeit. Abgesehen von der
Unsicherheit gegenüber dem völlig neuartigen Vorgänge können dabei ent¬
würdigende äußere Bedingungen, ferner die Furcht vor Ansteckung oder
Schwängerung eine erhebliche Rolle spielen. Außerdem aber kann der Ge¬
schlechtsverkehr durch übergroße Erregbarkeit sowie durch Abstumpfung der
natürlichen Regungen infolge von häufiger Selbstbefriedigung vereitelt werden.
Ein derartiger Mißerfolg pflegt, besonders, wenn er sich wiederholt, was leicht
eintritt, verhängnisvoll für die weitere Entwicklung zu werden. Das starke
Unbehagen der Enttäuschung führt zu einer Verstärkung der vielleicht noch
kaum überwundenen Abneigung gegen das Weib und zu einer entschiedenen
Ablenkung des Geschlechtszieles auf das eigene Geschlecht, sei es in Form
der Onanie, sei es in mannmännlichen Beziehungen. Entsprechend allgemeinen
seelischen Erfahrungen wird das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit in ab¬
sichtliches Verschmähen der unmöglich gewordenen natürlichen Befriedigung,
ja schließlich in eine höhere Bewertung der an ihre Stelle getretenen Ver¬
irrung umgewandelt
Eiine sehr bedeutende Rolle spielt bei allen diesen Entgleisungen des Ge¬
schlechtstriebes die Verführung. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, daß
die mannmännliche Liebe im Altertum verbreitete Sitte war und auch heute
noch in südlichen und östlichen Ländern ungleich häufiger ist als bei uns,
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Wesen und Ursachen der Homosexualität
53
sondern auch ihr massenhaftes Auftreten in Großstädten und ihr Anwachsen
in den letzten Jahrzehnten. Es ist in zahllosen Einzelfällen möglich, den
entscheidenden Einfluß entgleister Personen auf die Entwicklung und die
Befestigung geschlechtlicher Verirrungen unzweifelhaft festzustellen. Zu¬
zugeben ist allerdings, daß eine solche Verführung nur dort Erfolg hat, wo
der Boden durch frühzeitige Onanie oder geschlechtliche Mißerfolge vor¬
bereitet ist.
Gegenüber dieser Auffassung, die in der Homosexualität gewissermaßen
das Steckenbleiben der seelischen Geschlechtsentwicklung auf einer Stufe
unvollkommener Reifung erblickt, ist von jeher mit großem «Nachdrucke die
auch heute noch weit verbreitete Anschauung vertreten worden, daß jene
Verirrung durch die besondere Veranlagung der Betroffenen von vorn
herein schicksalsmäßig festgelegt sei. Es soll 6ich um eine weibliche Seele
in einem unglücklicherweise männlich gebauten Körper, um eine Art Zwitter¬
bildung, um Zwischenstufen zwischen männlicher und weiblicher Persönlichkeit
handeln. Die Homosexuellen würden demnach eine besondere Abart, ein
drittes Geschlecht, darstellen, das dieselben Rechte auf staatliche Anerkennung
seiner Eigenart erheben darf wie die beiden anderen.
Zur Begründung dieser Ansicht wird zunächst auf das frühzeitige Hervor¬
treten der Abirrung und ihre triebhafte Eindeutigkeit hingewiesen. Das vor¬
zeitige Erwachen geschlechtlicher Regungen ist, wie früher ausgeführt, Zeichen
einer Entwicklungsstörung und birgt an sich schon die Gefahr der Ablenkung
von dem natürlichen Geschlechtsziel auf die Selbstbefriedigung und späterhin
auf mannmännliche Beziehungen in sich. Von einer Eindeutigkeit kann aber
insofern keine Rede sein, als wir bei diesen Entarteten häufig genug ein
langes, selbst dauerndes Schwanken zwischen beiden Geschlechtern beobachten.
Auch die vielfach stark betonte frühzeitige Abneigung gegen das andere
Geschlecht beweist gar nichts für die ursprüngliche Festlegung der Homo¬
sexualität. Sie läßt sich einfach aus dem Fortbestehen der das Entwicklungs¬
alter einleitenden, ablehnenden Haltung erklären, die weiterhin durch Scheu
oder das Gefühl der eigenen Unfähigkeit verstärkt wird. Daß bei den Er¬
zählungen über geschlechtliche Jugenderlebnisse zweifellos öfters auch nach¬
trägliche Umdeutungen mitspielen, sei nur nebenbei erwähnt. Als besonders
starker Beweis für die scbicksalsmäßige Begründung der Homosexualität
pflegt immer der Umstand angeführt zu werden, daß bei ihr die seelischen
Neigungen wie die gesamte Lebensführung sich dem anderen Geschlechte
annähern, ja, daß auch die Körperbildung solche Übergänge zeigen kann.
Dagegen ist zunächst zu bemerken, daß sich dem eigenen Geschlechte nicht
entsprechende Liebhabereien und Gewohnheiten sehr wohl mit gesundem
geschlechtlichem Empfinden verbinden können, daß sie aber andererseits
naturgemäß die Folge einer Verirrung bilden werden, die sich bewußt oder
unwillkürlich der neuen Rolle anzupassen bestrebt ist. Die Feststellung
körperlicher Angleichungen an das andere Geschlecht aber ist in hohem
Grade willkürlich, und es ist bisher nicht der geringste Beweis dafür erbracht,
daß die beobachteten Abweichungen in irgendeiner gesetzmäßigen Beziehung
zu den Entgleisungen des Geschlechtstriebes stehen. Immerhin wird man
zugeben können, daß auffallendere Abweichungen des Körperbaues im Sinne
des anderen Geschlechtes dem Hinübergleiten in die Homosexualität einen
gewissen Vorschub leisten können.
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54
Emil Kraepeün
Von durchschlagender Bedeutung für die Zwittematur der Homosexuellen
schienen aber endlich die Versuche Steinachs zu sein, dem es anscheinend
gelang, durch Einpflanzung von Geschlechtsdrüsen bei Tieren deren Verhalten
im Sinne der übertragenen Drüse (Weitgehend zu beeinflussen. Abgesehen
davon, daß diese Versuche noch dringend weiterer Nachprüfung bedürfen,
lassen sich die Erfahrungen an Tieren mit überwucherndem Geschlechtsleben
durchaus nicht ohne weiteres auf Menschen übertragen. Die spärlichen Be¬
richte über den Erfolg ähnlicher Eingriffe am Menschen aber sind deswegen
ganz und gar nicht beweiskräftig, weil die Homosexualität, wie die Behandlungs¬
versuche mit der Hypnose lehren, suggestiven Beeinflussungen recht zugänglich
ist. Es muß aber auch betont werden, daß die Anschauung, die Grundlage
der Homosexualität s$i eine Zwitterbildung der Geschlechtsdrüsen, aus all¬
gemeinen Gründen schlechterdings unannehmbar ist Schon die zwittrige
Verbildung der äußeren Geschlechtsteile ist so ungemein selten, daß eine
irgendwie häufigere Mißbildung der Geschlechtsdrüsen selbst, auf denen die
gesamte Erhaltung der Art beruht, durchaus undenkbar erscheint. Be¬
sonders muß aber auch noch auf die Erfahrung hingewiesen werden, daß
bei der seltenen wirklichen Zwitterbildung die Art der Geschlechtsdrüsen das
geschlechtliche Verhalten ihrer Träger keineswegs eindeutig zu bestimmen
pflegt. Erziehung und Gewohnheit scheinen jedenfalls eine weit größere
Rolle zu spielen, so daß unter Umständen erst die Untersuchung nach dem
Tode das wirkliche Geschlecht sicher festzustellen vermag.
Ein helles Licht auf die Entstehungsbedingungen der Homosexualität wirft
aber ihr vielfacher Zusammenhang mit den übrigen geschlechtlichen Ver¬
irrungen. Onanie, Exhibitionismus, Sadismus und Masochismus, Fetischismus
verbinden sich untereinander und mit der Homosexualität so häufig, daß sie
nur als verschiedenartige Gestaltungen derselben Grundstörung, eben des
Abgleitens der Triebrichtung aus der natürlichen Bahn, begriffen werden
können. Außer den besprochenen allgemeinen und persönlichen Vorbedingungen
sehen wir bei diesem Vorgänge ganz gewöhnlich bestimmte Lebenserfahrungen
eine entscheidende Rolle spielen. Am deutlichsten tritt das beim Fetischismus
hervor, dessen mitunter ganz abenteuerliche Gestaltungen ihre Form gewöhn¬
lich unmittelbar durch solche Erlebnisse erhalten. Da es sich dabei oft um
an sich ganz belanglose Vorgänge und Eindrücke handelt, werden wir den
letzten Grund der Verirrung in der ungenügenden Zielsicherheit des früh¬
zeitig erwachenden und darum zunächst unsicheren Geschlechtstriebes zu
sehen haben, die modelnden und ablenkenden Einflüssen unerwünschte An¬
griffspunkte bietet. Bei der Entstehung der Homosexualität ist es ganz be¬
sonders die längere Zeit hindurch getriebene Selbstbefriedigung, die das ge¬
schlechtliche Begehren ganz auf das eigene Geschlecht einstellt und damit
die natürlichen Regungen mehr und mehr in den Hintergrund drängt.
Aus dieser Feststellung muß vor allem die wichtige Tatsache abgeleitet
werden, daß die Homosexualität gezüchtet werden kann, was ohne¬
dies durch ihre ganz verschiedene Verbreitung zu verschiedenen Zeiten, in
verschiedenen Gegenden, Volksschichten und Berufen völlig sichergestellt
wird. In diesem Umstande liegt die ungeheure Gefahr für die unreife Jugend,
zugleich aber auch die Aussicht, durch tatkräftige Bekämpfung der Ver¬
führung Erfolge zu erzielen. Wir dürfen uns darüber nicht täuschen, daß
in den letzten Jahrzehnten, namentlich aber seit Kriegsende, die Wühl-
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Wesen und Ursachen der Homosexualität
55
and Werbearbeit der Homosexuellen eine außerordentliche Zunahme erfahren
hat Die Versendung von einschlägigen Bildern und Flugschriften, ja von
einer eigenen Zeitschrift, ffir die'Erlaubnis zum Straßenverkauf angestrebt
wird, die Vermittlung gegenseitiger Beziehungen durch verblümte Anzeigen,
die „Aufklärung* 1 weiter Kreise durch Vorträge und Films hat einen
ungeahnten Umfang angenommen. Auch Bestrebungen von Wissenschaft*
hchem Anstrich, umfangreiche Bücher und Zeitschriften, die Gründung
des .wissenschaftlich-humanitären Komitee“, neuerdings die Gründung einer
„Akademie für Sexualwissenschaft“, haben vielfach dazu dienen müssen, die
Forderungen der Homosexuellen nach staatlicher Anerkennung zu unter¬
stützen. Dazu kommt das ebenso leichtfertige wie wirksame Verfahren, auf
Grund ganz unzulänglicher Anhaltspunkte alle möglichen hervorragenden
geschichtlichen Persönlichkeiten ohne weiteres zu Vertretern der gleich¬
geschlechtlichen Liebe zu stempeln, endlich die aus der Geschlechtsüber¬
schätzung hervorgehende Neigung der Homosexuellen, sich und ihresgleichen
zu verhimmeln und als die Blüte des Menschengeschlechts hinzustellen.
Diese umfangreiche und vielseitige Wühlarbeit ist nicht ohne erschreckende
Erfolge geblieben. Während der erste in der Deutschen wissenschaftlichen
Literatur 1860 von Casper veröffentlichte Fall wegen seiner Fremdartigkeit
noch großes Aufsehen erregte, pflegen heute schon Schüler und Schülerinnen
mit den verschiedenen Formen geschlechtlicher Verirrungen unangenehm
vertraut zu sein. Die Zahl der jedermann zugänglichen Schriften über
diese Fragen ist ins ungemessene angeschwollen, und in den Großstädten
wimmelt es geradezu von gewohnheits- und gewerbsmäßigen Vertretern der
gleichgeschlechtlichen Liebe.
Die Gefahren dieser ungesunden Entwicklung bedrohen vor allem unser
kostbarstes Volksgut, unsere Jugend! Gerade sie ist es, die, wie beim
natürlichen Liebesspiel, so auch bei der gleichgeschlechtlichen Liebe in
erster Linie begehrenswert erscheint und darum den schwersten Verführungen
ausgesetzt ist. Das ist um so bedenklicher, als bei ihr das Triebleben noch
unentwickelt und schwankend ist und somit ablenkenden Einflüssen am
wenigsten Widerstand entgegenzusetzen vermag. Die frühreifen, geistig reg¬
samen, schwärmerisch und künstlerisch veranlagten Kinder sind besonders
bevorzugt und gefährdet Ihnen kann die Begegnung mit einem Verführer
zum schwersten Verhängnis werden und ihr ganzes Lebensglück vernichten.
Wenn auch für ein Mädchen die Homosexualität verhältnismäßig wenig ins
Gewicht fällt, 60 wird der verführte Knabe nicht nur mit großer Wahrschein¬
lichkeit unfähig zur Erzeugung von Nachkommenschaft, sondern er schwebt
auch dauernd in der Gefahr, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu
werden. Außerdem wird er fast notwendig selbst zum An^teckungaherd, von
dem aus sich das Obel weiter verbreitet.
Diese Überlegungen machen es klar, daß jeder Einsichtige verpflichtet ist,
den Kampf gegen die Ausbreitung der Homosexualität mit allen
Mitteln zu führen, daß aber vor allem diejenigen Stände, denen die Für¬
sorge für das heranwachsende Geschlecht anvertraut ist, die Lehrer und die
Ärzte, in diesem Kampfe vorangehen müssen. Man kann dabei sehr wohl
den Standpunkt einnehmen, daß der jetzt bestehende § 176 des Strafgesetz¬
buches abänderungsbedürftig sei. Daß er nahezu unwirksam ist, hat die
Erfahrung gelehrt, und überdies berührt es das öffentliche Wohl wenig,
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Emil Kraepelin, Wesen und Ursachen der Homosexualität
wenn erwachsene Menschen sich in einer ihren persönlichen Neigungen ent¬
sprechenden, wenn auch noch so ekelhaften Form geschlechtlich befriedigen,
soweit dadurch kein öffentliches Ärgernis' gegeben wird. Um so entschiedener
aber müssen wir den Schutz unserer Jugend und in engstem Zusammen¬
hänge damit die rücksichtslose Unterdrückung jeder öffentlichen An¬
reizung und Anpreisung, sowie jeder persönlichen Verführung Minderjähriger
zur gleichgeschlechtlichen Liebe fordern. In zielbewußter Kleinarbeit gilt
es ferner, alle die Kanäle abzugraben, durch die das Gift jetzt schon der
Jugend zugeleitet wird, und in ihr selbst die Kräfte zu wecken, die sie gegen
seine Einwirkungen schützen. Der erste Schritt auf diesem Wege ist die
klare Erkenntnis vom Wesen und den Entstehungsbedingungen des Feindes,
den es zu bekämpfen gilt. Aus ihr ergeben sich von selbst die Waffen, die
uns gegen ihn zu Gebote stehen, und die Art, wie wir sie anzuwenden haben.
Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik.
Von Aloys Fischer.
In den Untersuchungen über das Pädagogikstudium an den Hochschulen 1 )
versuchte ich, die Grundlagen und Folgerungen der noch immer gegensätz¬
lichen Auffassungen der Erziehungswissenschaft und der Stellung zur Frage
ihrer Akademisierung klarzulegen und zum Ausgleich zu bringen. Oberblicke
ich den Gang dieser Überlegungen, so bahnt sich die Möglichkeit an, zu einer
Art Lehrplan für das Pädagogikstudium zu gelangen, der solche Einrichtungen,
die für die Pflege der Erziehungswissenschaft als reiner Theorie dienlich
sind, und andere, die vor allem auf ihre Nutzbarmachung für den gesell¬
schaftlichen Zweck der Ausbildung von Berufserziehern absehen, in innere
Verbindung zu setzen, vergleichbar etwa der in naturwissenschaftliche und
klinische Studien zerfallenden theoretischen, und der das Praktikum am
Krankenbett und eine geschlossene, geleitete und überwachte Probezeit um¬
fassenden praktischen Ausbildung der Ärzte.
Ein solches Fazit unserer Überlegung dürfte m. E. auch einem in den
Kreisen der Studierenden und Lehrer gespürten Bedürfnis entgegenkommen. J )
Die Zahl der Personen, die ihr hauptwissenschaftliches Studium der Pädagogik
widmen, nimmt zu und wird, einerlei wie die schließliche Regelung der
Lehrerbildung auch ausfallen mag, noch weiter wachsen. Die Studierenden
der Pädagogik sind heute nach dem Gang ihrer Vorbildung und nach den
Endzwecken ihres Studiums noch verschiedener als andere Studentengruppen;
deshalb steht der Einzelne der Frage, wie er seine Hochschulbildung an fangen
und einrichten sdll, oft verlegener und ratloser gegenüber als der Kommilitone,
der etwa Rechtswissenschaft oder Philologie gewählt hat. Die Hochschulen
die den Aufgaben des Studiums und Unterrichts der Pädagogik erst seit
kurzem allgemein näher treten und für sie noch recht ungleich mit den ent¬
sprechenden dinglichen und persönlichen Hilfsmitteln ausgestattet sind, konnten
>) Diese Zeitschrift, 1921, S. 273.
*> Zum Beweis für dies Bedürfnis verweise ich auf den von Otto Karstadt herausgegebenen
.Wegweiser für das Hochschulstudium des Lehrers“ in 2 Teilen, Osterwieck a. Harz (Zickfeldt),
der Obersichten über die geltenden neueren Bestimmungen und praktische Ratschläge enthält.
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Aloys Fischer, Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik
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selbst noch keine Tradition ausbilden, die die Führung des Anfängers über¬
nehmen könnte.
Im Hinblick auf die Lage sowohl der Pädagogik wie ihrer Interessenten
scheint mir ein Generalstudienplan weder möglich zu sein noch den Bedürf¬
nissen zu entsprechen. Deshalb gehen die folgenden Überlegungen von den
auch noch in der nächsten Zeit wahrscheinlichen Hauptgruppen der Studieren¬
den dieses Faches aus und stellen die für die pädagogische Bildung wünschens¬
werten Studien hinein in den Zusammenhang ganzer Berufsbildungsgänge,
die wenigstens in ihrem praktischen Ergebnis noch verschieden sind.
Wer Pädagogik als Wissenschaft studieren will, mit der Absicht, später
selbst als pädagogischer Forscher zu arbeiten, für den muß ich verlangen,
daß er zunächst einmal die pädagogische Praxis so ausgedehnt und tief
als möglich kennen lernt. Das kann geschehen z. B. dadurch, daß er selbst
einige Zeit lehrt und erzieht, womöglich auf allen Stufen des Bildungs¬
prozesses. Die Geschichte der pädagogischen Wissenschaft zeigt, daß aus
solch intensiver und aktiver Berührung mit der Praxis vielfach die frucht¬
barsten Erkenntnisse hervorgewachsen sind. Ich sage, die Berührung mit
der Praxis der Erziehung kann durch eigene Erziehungs- und Lehrtätigkeit
gesucht werden, sie muß aber nicht in jedem Fall auf diesem Wege erstehen.
Es ist unter Umständen noch ergiebiger, durch Reisen, Studienaufenthalte,
Hospitieren, Einblick in die Schulverwaltung und andere Mittel sich eine in
vieler Hinsicht umfassendere und nicht notwendig oberflächlichere Anschauung
von der Erziehungswirklichkeit zu verschaffen.
Wer selbst praktische Erziehungsarbeit leistet, steht unter dem Druck einer
Verantwortung, der unter Umständen die erkennende Geisteshaltung aus-
Bchließt; er wird Erfolge sehen, nicht Einsichten gewinnen wollen. Eine
fortlaufend selbstkritische Einstellung, eine beständig rückschauende Über¬
prüfung seiner Maßnahmen, wie sie für Gewinnung von Erkenntnissen er¬
fordert wird, gefährdet die Zuversicht, jedenfalls die Naivität der Wirkung.
Und wenn der Einzelne als Praktiker auch noch so beweglich und erfinderisch
ist, er wird über einen gewissen Kreis von Möglichkeiten nicht hinauskommen;
es fehlt ihm eine zu vergleichender Erkenntnis wünschenswerte Mannigfaltig¬
keit der Verfahren, Methoden, Personen. Pädagogisches Wirken setzt als
psychologische Bedingung im Erzieher Glauben an sich selbst voraus; als
Einstellung des wissenschaftlichen Menschen ist dieser Glaube gefährlich,
gebiert er leicht die Voreingenommenheit für die eigenen Erfahrungen und
Theorien, Enge des Blickes und vorschnelle Erstarrung. Wer mit wissen¬
schaftlicher Absicht die Praxis anderer betrachtet, wird leichter hinter die
Relativität aller methodischen Standpunkte kommen, als wenn er selbst sich,
teils aus Not und teils aus Gewöhnung, auf eine eigene Art praktischer Arbeit
festlegte. Man kann natürlich geltend machen, daß eigenes pädagogisches
Tun unter Umständen die Innenseite der erzieherischen Tatsachen und Zu¬
sammenhänge näherbringt, während eine „bloße" Anschauung der pädago¬
gischen Praxis anderer leicht an den Äußerlichkeiten haften bleibt; es läßt sich
nicht bestreiten, daß die eigene Praxis nicht nur Nachteile, sondern auch bedeut¬
same Vorzüge hat für den, der erkennen will, was lebendige Erziehung ist,
wie umgekehrt die Beobachtung und das Studium der pädagogischen Vor¬
gänge durch Reisen, Besichtigungen und Kontrollen, durch Vergleich und
Austragung nicht nur Vorzüge, sondern auch Nachteile einschließt. Wenn ich
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Aloys Fischer
recht sehe, ist gerade für einen Theoretiker die größere Mannigfaltigkeit der
Tatsachen, Einrichtungen, Personen, Methoden, Hilfsmittel usw. ein Vorzug; er
verbreitert dadurch die Basis fDr seine Begriffsbildungen; und diese Fülle —
allerdings mehr mittelbarer — Erfahrungen gewinnt man leichter durch die
pädagogische Studienreise als durch versuchsweise Praxis. Die letztere müßte
einen Mann zweifellos an vielerlei Schulen und Anstalten führen, ihn mit den bei¬
den Geschlechtern, den Verschiedenheiten der Begabungen und der Berufsinter-
essen in Berührung bringen, um ähnlich ergiebig zu sein. Am besten wird ein
Mann fahren, wenn er auf beiden Wegen die Berührung mit der Praxis sucht
und gewinnt, in zeitweise eigener Erziehungsübung und zeitweise planmäßiger
Beobachtung. Bedenken wir aber die allgemeinen Verhältnisse eines Studenten
und jungen Gelehrten, so werden wir sagen müssen, daß er für seine doch
theoretischen Endabsichten mehr gewinnt, wenn er, ohne selbst zu lehren
und zu erziehen, möglichst viele Studiengelegenheiten zur Beobachtung der
Praxis ausnutzb
Wenn ich von meinem eigenen Werdegang exemplifizieren darf, so stelle
ich fest, daß ich viele Zeit meines Lebens dazu verwandt habe, mir Kindergärten,
Internate, Schulen aller Art, Versuchsgründungen anzusehen, mit den in ihnen
wirkenden Persönlichkeiten Fühlung zu gewinnen, ihre Lehrpläne, Methoden,
Hilfsmittel zu studieren, ihre Erfolge und Schwierigkeiten auf mich wirken
zu lassen. Immer wieder spüre ich den Impuls, mit der Wirklichkeit, dem
pädagogischen Leben in der Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungen in Be¬
rührung zu kommen, und die kleinen und großen Schranken, die hier dem
außerhalb der Praxis stehenden doch gezogen sind, empfinde ich als beträcht¬
liche Erschwerung gerade der theoretischen Arbeit. Eben diese Wirklichkeit
des pädagogischen Lebens soll ja die Theorie durchleuchten — wie kann sie
das ohne die Möglichkeit umfassenden Blickes auf sie? Freilich hat das
Studium der Praxis beim Theoretiker eine andere Zielung: er will nicht selbst
praktizieren, also auch nicht die Praktiken lernen, sondern er will erkennen
und verstehen. Für jeden, der Pädagogik als Wissenschaft treibt, muß des¬
halb als Verpflichtung die lebendige dauernde Fühlung mit den Wirklichkeiten
des Erziehungs- und Schullebens ausgesprochen werden, für jeden, der Päda¬
gogik mit späterer wissenschaftlicher Endabsicht studieren will, muß durch die
ausbildenden Hochschulen entsprechende Gelegenheit zur Anschauung der Er¬
ziehungswirklichkeit geschaffen werden.
Da die Hochschulen sich in der Regel an Orten mit zahlreichen öffentlichen
und privaten Erziehungs- und Unterrichtsanstalten befinden, dürfte es nicht
schwer fallen, der Vertretung der Pädagogik das Recht zu gewähren, diese
Anstalten und Schulen nach festem Plan und mit Zustimmung der Kollegien
bezw. der praktisch an ihnen wirkenden Lehrer und Erzieher zu Führungen,
Vorweisungen, kurz: zu einem Anschauungsunterricht in Pädagogik heranzu¬
ziehen. In manchen Fällen hat sich der Vertreter der Pädagogik durch persön¬
liche Beziehungen vor allem zu privaten Anstalten helfen können, in anderen
wurden wenigstens Besichtigungen der Gebäude, Lehrmittehammlungen und
anderen toten Inventars gestattet. Wenn in der Gegenwart die Forderung der
Öffentlichkeit des Unterrichts so betont wird, so sollten wenigstens diejenigen
davon Nutzen haben, die selbst wieder Sachverständige ünd Fachleute der
Erziehung werden wollen oder als Forscher zum Ausbau der Einrichtungen
beizutragen in die Lage kommen werden. Nach meinem Dafürhalten wäre
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Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik
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es der kürzeste Weg, wenn die staatlichen Unterrichtsverwaltungen der aka¬
demischen Vertretung der wissenschaftlichen Pädagogik die Ermächtigung
geben, mit einer Anzahl von öffentlichen Erziehungs- und Schulanstalten
eine von allen beteiligten Direktoren und Lehrern gebilligte Vereinbarung zu
treffen, in welcher Weise eine derartige Verwertung für die Zwecke des
Studiums erfolgen kann. Die Modalitäten werden nicht immer und überall die
nämlichen sein können, aber ich bin überzeugt, daß bei gutem Willen immer eine
Form zu finden ist, in der die Arbeit der Anstalten nicht gestört, die Erzieher
und Lehrer sich nicht „beaufsichtigt* oder geschulmeistert fühlen, sondern um¬
gekehrt als Erläuternde und Rechtfertigende aktiv an diesem Demonstrations¬
unterriebt mitwirken und die Studierenden vor dem Wahn bewahrt bleiben, sie
könnten das Gesehene und Gehörte entweder sofort auch machen oder gar besser
machen. Gewiß erfordert dieser Anschauungsunterricht von seinem Leiter
eine eigene Technik der Vorbereitung, Führung, Anleitung zu arbeitsteiliger
Beobachtung und Nachbesprecbung, aber wie der in pädagogischer Endabsicht
betriebene Psychologieunterricht eigene Wege ging und geht , l ) so wird auch
der pädagogische Unterricht neue Bahnen einschlagen müssen und hat es
teilweise schon getan. Für einen Besichtigungsgang z. B. können kleine
Gruppen gebildet werden, von denen jede außer dem möglichst unbeeinflußt
zu lassenden Gesamteindruck Material zu einer bestimmt gestellten Beob¬
achtungsaufgabe etwa die Lüftungsanlagen, die Raumgliederung und die
Ausstattung der Wände, die Manieren der Zöglinge in allen Richtungen
zu sammeln hat. Für die Teilnahme an einer Unterrichtslektion lassen sich
entsprechende Einzelbeobachtungsaufgaben für kleine Gruppen formulieren.
Ich glaube von weiterer Verdeutlichung absehen zu können, ich möchte unter
keinen Umständen den Anschein erwecken, als solle und könne auf diesem
Neuland schon nach besten Rezepten verfahren werden. Zudem hängen ja
'wohl die Beobachtungsaufgaben von dem Endzweck ab, den die Leitung
verfolgt, und deshalb können sie bei denselben pädagogischen Veranstaltungen
beträchtlich wechseln. Für den, der mit theoretischer Absicht an solchem
Anschauungsunterricht teilnimmt, ist das Ergebnis unter allen Umständen
ein Schatz selbstgewonnener Beobachtungen der pädagogischen Wirklichkeit,
Einsicht in die Unerschöpflichkeit wie jeder, so auch der pädagogischen
Realität, Versicherung gegen die Leere bloß konstruktiver Begriffe und die
Zufälligkeit des Materials, Übung für den zergliedernden und kritischen
Geist
In steter Verbindung mit der originalen Anschauung des pädagogischen
Lebens geschieht dann die Einführung in die Geschichte dieses Lebens,
d. h. die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Erziehungszuständen wie
mit den Erziehungsgedanken der Menschheit. Man kann eine so umfassend
intendierte Geschichte der Pädagogik erfolgreich freilich nur auf der Basis
eines historischen Verständnisses der menschlichen Geistesentwicklung über¬
haupt treiben, d. h. auf der Basis von Kulturgeschichte, Gesellschaftswissen¬
schaft und Geschichte der Philosophie. Vermittelt der vorhergeschilderte
pädagogische Anschauungsunterricht die Berührung mit der Erziehungswirk¬
lichkeit der Gegenwart und des eigenen Kulturkreises, so erweitert die Ge-
*) Vgl. dazu meine Ausführungen .Zur Theorie und Technik des psychologischen Demonstrations-
▼eraucha*. (Die Lehrerfortbildung, 2. Jahrg. 1917, S. 3—12 u. 64f.).
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Aloys Fischer
schichte der pädagogischen Ideen und Zustände den Blickkreis räumlich und
zeitlich in weitere Fernen. Selbstverständlich ist die Geschichte der Erziehung
und Erziehungswissenschaft noch in der Entwicklung begriffen, kein Theo*
retiker der Pädagogik kann ungestraft auf die Ärmelfilhlung mit den Arbeiten
der historischen Pädagogik verzichten, ja bis zu einem gewissen Grad wird
er — trotz der sonst empfehlenswerten Arbeitsteilung — auch selbst forschend
sich mit zu betätigen haben. Jedenfalls aber ist die historische Orientierung
in der Vorbereitung nicht zu entbehren, selbst wenn der gelehrte Päda-
gogiker später nur als pädagogischer Psychologe oder als Didaktiker oder als
Organisator schöpferisch arbeiten will. Nun teilt die Geschichte der Erziehung
mit den anderen Teilgebieten der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte das
Schicksal, nicht für sich allein getrieben werden zu können; die Abhängigkeit
der Bildungsideale und Erziehungszustände vom Stand der Wissenschaft, von
der Gliederung der Gesellschaft, von den sittlichen Zuständen, von Wirtschaft,
Kunst und Technik einer Zeit ist eine unlösliche und viel verzweigte, so daß
volles Verständnis einer Erscheinung der Erziehungsgeschichte nur auf den
Grundlagen umfassender kulturgeschichtlicher und kulturphilosophischer
Bildung möglich ist. Für' den Studenten, der sich auf die Mitarbeit an der
pädagogischen Forschung vorbereiten will, bedeutet das, daß er mindestens
mft der allgemeinen Geschichte der Geistesströmungen, wie sie heute das
historische Studium der Philosophie und der Kulturgeschichte schulmäßig
vermitteln wollen, sich bekannt macht. Deshalb muß ich an dieser Stelle
aussprechen, daß auch die beute wachsende Tendenz auf eine von der Philo¬
sophie emanzipierte, selbständige pädagogische Wissenschaft keinem ihrer An¬
wärter erspart, sich philosophisch zu bilden, sowenig jeder Vertreter der Päda¬
gogik verpflichtet werden kann, selbst zu philosophieren oder auch nur die
philosophischen Disziplinen lehrend zu vertreten. In dem noch nicht ab¬
geschlossenen Vorgang der Verselbständigung von immer mehr Sonderwissen¬
schaften aus dem Schoße der Philosophie ist gewiß mit Recht die Pädagogik
jetzt der Soziologie und der Psychologie gefolgt; jedes dieser Gebiete ist heute
umfassend, entwickelt und bedeutend genug, daß es mehr als ausreichender
Inhalt einer akademischen venia und Vertretung sein kann. Trotzdem wäre es
ein verhängnisvoller Irrtum, wenn der pädagogische Forscher meinte, auf all¬
gemein geschichtliche und philosophische Bildung verzichten zu können. 1 )
Die praktische und die geschichtliche Einführung in den Gegenstand der
Pädagogik werden gewöhnlich als propädeutisch betrachtet für das Studium
der pädagogischen Systematik. Auch im gegenwärtigen Zeitpunkt wird die
Beschäftigung mit den systematischen Fragen ein Hauptbestandstück aller
akademischen Studienpläne für Pädagogik bleiben. Aber man darf dabei
folgendes nicht außer acht lassen:
Was man gemeiniglich „System der Pädagogik“ nennt, ist heute in
der Regel System des betreffenden Fachvertreters der Pädagogik; ein be¬
herrschendes System fehlt, ein Stammgut gesicherter, in allmählichem Ausbau
*) In der jüngsten Vergangenheit hat Joh. Kretzschmar in seinem Buch: „Das Ende der
philosophischen Pädagogik 41 (Leipzig, Wunderlich) mit besonderem Nachdruck den Ruf: Los
von der Philosophie! erhoben; aber ich stelle mit Befriedigung fest, daß selbst seine Kritik
gewisser Entwicklungslinien der systematischen Pädagogik die Notwendigkeit philosophischer
Studien für jeden Theoretiker der Erziehung und für jeden wissenschaftlich gebildeten Erzieher
ausdrücklich unerschüttert läßt und in den Aufgaben einer Erziehuogsphilosophie auch noch
einen sachlichen Zusammenhang zwischen Pädagogik und Philosophie wahrt.
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Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik
(il
zu wahrender grundlegender Erkenntnisse ist wohl das Ziel der Forschung,
insofern bleibt die Beschäftigung mit dem Systemgedanken als unentbehr¬
licher Bestandteil der pädagogischen Theorie zu betrachten. Das systema¬
tische Studium hat auf pädagogischem Gebiet keine andere Bedeutung und
kein anderes Endziel als auf philosophischem: es darf nicht darauf hinaus¬
laufen, Proselyten zu machen, Anhänger zu werben, die den wissenschaft¬
lichen Nachwuchs auf irgendein System festlegen; er kann nur pädagogisch
denken lehren wollen, wie die Lehre der Philospphie nur bezweckt. Philo¬
sophieren zu lehren. Auf beiden Gebieten mag die Zahl der Berufenen und
Fähigen außerordentlich gering sein im Verhältnis zur Gesamtzahl der
Studenten, auf beiden Gebieten mögen tatsächlich sehr viele ihr eigenes
Bedürfnis schließlich mit übernommenen und angelernten Begriffen bestreiten.
Die letzte Rechtsgrundlage für den akademischen Betrieb systematischer
Studien bleibt doch: die Weckung des Willens zum eigenen System, oder
bescheidener: die geschulte Fähigkeit, selbständig geistig zu bauen.
Von diesem Gesichtspunkt aus ist nicht nur das persönliche System des
jeweiligen Vertreters der systematischen Pädagogik bzw. Philosophie einzu-
schätzen, sondern auch die Beschäftigung mit den großen Systembildungen der
Vergangenheit. Man kann über sie historisch referieren, man kann sie
aber auch in eindringendem Einzelstudium der Führer zur Erarbeitung eigener
systematischer Grundbegriffe benutzen. Deshalb ist im heutigen Philosophie¬
unterricht der Hochschulen die Beschäftigung mit Platon, Thomas, Descartes,
Kant, Hegel usw. nicht nur im historisch-philosophischen Interesse üblich und
möglich, sondern vor allem im kritisch-systematischen. Durchaus ähnlich ist
die Lage des wissenschaftlichen Pädagogikunterrichtes. Auch sein Ziel ist,
pädagogisches Forschen und Denken zu lehren, und einer seiner Wege ist die
eindringende Vertiefung in die Systeme gsoßer Pädagogiker und Pädagogen,
die Auseinandersetzung mit ihrer Art, Pädagogik zu treiben.
Der pädagogische Anschauungsunterricht, die historische Pädagogik und
das systematische Streben bilden den dauernden Grundstock der Erziehung
des Nachwuchses für die wissenschaftliche Pädagogik. Unter den Verhältnissen
der Neuzeit sind die „Didaktik“ und die „Theorie der Bildungs¬
organisation“ als relativ selbständige Teilgebiete der Bildungstheorie zu
bewerten und zu pflegen; ebenso wenig sind die Geschichte der Schulgesetz¬
gebung und Schulpolitik und die „Einführung in die heutigen
Schulverfassungen des Inlandes und Auslandes“ sind für die Theorie
der Erziehung entbehrlich, so gewiß allerdings in erster Linie die Praktiker
der Erziehung und Schulverwaltung an einer historischen und politischen
Schulkunde interessiert sein mögen. Das Gebiet der Didaktik umfaßt nicht
nur die logischen Voraussetzungen und Grundlagen — die Lehre vom Wissens¬
inhalt als Voraussetzung der Lehre vom Wissenserwerb — nicht nur die all¬
gemeine Methodenlehre des Unterrichts, sondern auch die logischen und
psychologischen Grundlagen, die Hilfsmittel und Verfahrensweisen der speziellen
Didaktiken der verschiedenen Disziplinen und Schulstufen, die Probleme der
Lehr- und Stundenpläne, die Gesichtspunkte der Stoffauswahl und Aufgaben¬
gestaltung. Und ebenso sind die Fragen der Organisation des Bildungswesens
nicht auf die historische und grundsätzliche Erörterung der Schultypen be¬
schränkt, sondern umfassen alle Erziehungsanstalten (Waisenhäuser, Inter¬
nate usw.) und alle Erziehiingsformen.
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62
Aloys Fischer
Schon dieser Umriß rein pädagogischer Vorlesungen und Übungen zeigt
eine beträchtlich weile Spannung und Mannigfaltigkeit. Soweit die päda¬
gogische Theorie aber auch noch auf die anthropologisch-psychologische
Seite des Erziehungsprozesses und Erziehungswesens zu erstrecken ist, ob¬
liegen ihr noch andere Aufgaben: vor allem die „pädagogische Psycho¬
logie“, die sich nicht in reiner Kinderpsychologie und psychologischer
Jugendkunde erschöpft, sondern selbständige Fragestellungen und Gesichts¬
punkte entwickelt und die Berufspsychologie des Erziehers mit einschließt
Zur Mitarbeit an diesen Fragen bedarf die Pädagogik auf der Grundlage
eines Studiums der allgemeinen Psychologie und Anthropologie eines ent¬
sprechend eingerichteten pädagogisch-psychologischen Instituts. Für die
Studierenden der Pädagogik bedeutet der psychologisch-anthropologische
Teil seiner Ausbildung die Mitarbeit in Vorlesungen und Seminaren (Prak¬
tiken) fQr allgemeine Psychologie, pädagogische Psychologie, Anthropologie
vor allem der Kinder und Jugendlichen, wenn er speziellere Absichten
hat, auch der Psychopathologie der Kinder und Jugendlichen, jedenfalls
auch ein Studium der pädagogischen Hygiene.
Soweit endlich die Theorie auch einen anregenden, kontrollierenden und
kritisierenden Einfluß auf die Umgestaltung der Erziehungspraxis bean¬
spruchen darf, braucht sie pädagogische Versuchsanstalten, mindestens
das Recht zu pädagogischen Versuchen. Die Wissenschaft Pädagogik
bedarf für ihre Zwecke keiner Übungsschulen, d. h. Lehrstätten zur Ein¬
übung der unterrichtlichen Technik, sondern Versuchsschulen. Die Be¬
denken der Hochschulen gegen Eingliederung bzw. Anschluß pädagogischer
Versuchsanstalten werden im Lauf der Zeit ebenso verstummen, wie die
einst erhobenen Bedenken gegen landwirtschaftliche, technische und sonstige
Versuchsanstalten verstummt sind, oder in noch früherer Zeit gegen die
Verbindung von Krankenhäusern mit dem Unterricht der Mediziner. Wie
die Verbindung der pädagogischen Theorie mit Erziehungs- und Schul¬
anstalten zum Zweck des planmäßigen, wissenschaftlich geleiteten pädago¬
gischen Versuches in der Praxis erfolgen kann, lasse ich unerörtert; es sind
verschiedene Wege denkbar, wenn auch nicht gleich ergiebig, und die
Ausgestaltung wird durch die örtlichen Verhältnisse bestimmt sein müssen.
Teilweise ist die vorher behandelte Fühlung des akademischen Unterrichtes
mit den Anstalten zum Zweck der Vermittlung von pädagogischer Anschauung
auch ein Wegweiser, wie der wissenschaftliche pädagogische Versuch zu
organisieren wäre.
Verdichten’ wir unsere Überlegungen zu einem Studienplan') für theore¬
tische Pädagogik, etwa mit der Promotion als äußerem Abschluß und unter
Angleichung an die Grundzüge der deutschen Promotionsordnungen, so dürfte
•) Wahrend des Druckes dieser Ausführungen erhalte ich Kenntnis von einer Untersuchung
Otto Brauns Uber die PSdagogik als Lehrfach der Universität und ihr Verhältnis zur Lehrer¬
bildung in der „Schweizerischen Lehrerzeitung“ (1921 Nr. 36). Die mannigfachen Berührungen
mit seiner Begründung der akademischen Stellung der Pädagogik auf ihren reinen Wissen¬
schaftswert, sowie mit der Charakterisierung und Anordnung der einschlägigen Vorlesungs¬
gruppen sind mir als Bestätigung der hier entwickelten Gedankengänge willkommen, durften
fUr jeden von Wert und Interesse sein, der zu diesen Fragen Stellung nimmt. Es ist mir leider
nicht mehr möglich, im Text auf das Einzelne einzugehen, auch auf die durch die Schweizer
Verhältnisse mitbedingten Abweichungen. Ich verweise deshalb den Lehrer naehdrUcklich auf
Brauns Darlegungen selbst.
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Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik
63
ein akademisches Triennium als Gesamtzeit kaum ausreichen. Zunächst
müßten wohl die mit Pädagogik als Hauptfach zu verbindenden Nebenfächer
nach den inneren Bedürfnissen der Pädagogik selbst bestimmt werden; in
Betracht kommen — je nach den geltenden Promotionsordnungen — entweder
Philosophie, oder Psychologie, oder Geschichte, unter Umständen Anthro¬
pologie; außerdem als ein weiteres Nebenfach eine Fachwissenschaft, die als
Stoffgrundlage einer der bestehenden Schulen Wert hat mit Mindestanfor¬
derungen, wie sie für die Zulassung zum höheren Lehramt, die facultas docendi
im betreffenden Fach, normiert sind.
Die Anschauung der pädagogischen Praxis und das Studium der Nebenfächer
haben sich über die ganze Studienzeit, zu verteilen; sie werden deshalb bei
der Aufstellung für die einzelnen Studienhalbjahre nicht mehr ausdrücklich
genannt In dem folgenden Studienplan selbst deute ich nur die eigentlich
pädagogischen Vorlesungen an.
Im ersten Semester hätten die grundlegenden Vorlesungen Platz zu finden:
1. Geschichte der Erziehung und Erziehungswissenschaft im Altertum und
Mittelalter.
2. In Verbindung damit, Lektüre und Interpretation einschlägiger Quellen¬
schriften in seminarischer Behandlung.
3. Geschichte der Philosophie im Umriß oder Einleitung in die Philosophie.
4. Allgemeine Psychologie und
5. in Verbindung damit: Psychologisches Praktikum zur Einführung in
die Methodik der psychologischen Untersuchung.
Im zweiten Semester dürften sich die Fortsetzung und der Abschluß
der einführenden Studien empfehlen:
1. Geschichte der pädagogischen Ideen und Zustände von der Renaissance
bis zur Gegenwart.
2. In Verbindung damit: Lektüre und Besprechung eines Klassikers der
Pädagogik der neuem Zeit (zur Auswahl: Comenius, Rousseau, Herbart,
Schleiermacher, Pestalozzi usw.).
3. Geschichte der neueren Philosophie.
4. Kinder- und Jugendpsychologie mit Teilnahme
- 5. an einem entsprechenden Praktikum oder Seminar.
Im dritten Semester könnten folgen:
1. Systematische Pädagogik (pädagogische Grundbegriffe oder wie man
sonst sagen will) in Verbindung mit
2. seminarischen Übungen zur Theorie der Erziehung entweder wieder
an der Hand eines gut ausgebauten Systems oder beschränkt auf einen der
wesentlichen Teile eines Systems (z. B. Übungen zur Charakterpädagogik,
über Disziplin, Kunsterziehung, Sexualpädagogik usf.).
3. Geschichte der Schulgesetzgebung und Schulpolitik (das Verhältnis von
Erziehung und Gesellschaft klärend).
4 . Fortsetzung der psychologischen Studien in einer Spezialvorlesung über
pädagogische Psychologie.
5. Einführung in die pädagogische Hygiene.
im vierten Semester könnte auf der bisher entwickelten historischen
und systematischen allgemeinen Grundlage die Bildungstheorie im engeren
Sinn aufbauen. Der Studierende muß von diesem Zeitpunkt an die Aus¬
gestaltung seiner Studien teilweise selbst in die Hand nehmen können. Vor
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64
Aloys Fischer
allem gilt das für die Wahl von Spezialvorlesungen und Sonderstudien, die
von jetzt an rStlich werden.
1. Theorie der Bildungswerte.
2. Allgemeine Didaktik und Methodik; in Verbindung damit
3. Übungen zur Didaktik entweder einer Schulstufe oder eines Unterrichts¬
faches (im Wechsel i.
4. Kulturphilosophie oder eine philosophische Wertwissenschaft (Ethik,
Religionsphilosophie, Ästhetik usw.) zur Vertiefung der bildungstheoretischen
Gedanken.
5. Eine pädagogische bzw. didaktische Spezialvorlesung ohne Rücksicht
auf bestimmte Schulgattungen (z. B. Heilpädagogik, Volksbildungswesen,
Jugendpflege, Fürsorgeerziehung, Erziehung des Kleinkindes in Familie und
Kindergarten, Spezialstudium eines Systems oder Abschnitts aus der Ge¬
schichte der Pädagogik usw).
Im fünften Semester kann die Bildungstheorie zum Abschluß gebracht
und das Studium der bestehenden Bildungsverhältnisse unter Auswertung des
inzwischen wohl angebahnten eigenen Standpunkts, der sich konsolidierenden
persönlichen pädagogischen Überzeugungen, begonnen werden. Als Vor¬
lesungen bzw. Übungen kommen in Betracht:
1. Theorie der Schulorganisation.
2. Das Bildungswesen des In- und Auslandes (Schulkunde).
3. Spezialvorlesungen mit entsprechenden Übungen im Zusammenhang mit
der Theorie der Bildungsorganisation (z. B. Lehrplantheorie, Pädagogik und
Didaktik der Volksschule, Pädagogik und Didaktik der höheren Schule, das
Hilfsschulwe&en, Internatspädagogik usw.).
Im sechsten Semester müßte die eigene wissenschaftliche Arbeit im
Mittelpunkt stehen; soweit Vorlesungen und Übungen noch erforderlich sind,
könnten sie sich auf ganz spezielle' Fragen beschränken.
1. Spezial Vorlesungen (aus dem oben umschriebenen Kreise, soweit sie noch
nicht gehört wurden und für die persönlichen Absichten in Betracht kommen).
2. Spezialdidaktik (des mathematischen, historischen, naturwissenschaft¬
lichen Unterrichts, der sprachlichen Fächer usw., zu wählen nach Gelegenheit,
Berufsabsicht und Fachstudium).
3. Die Aufgaben der Schulleitung und Schulverwaltung.
Wie alle Studienpläne ist auch der vorstehend skizzierte nichts als Ratschlag,
eine Möglichkeit, wie man es machen kann, um sich vom Allgemeinen und
Grundlegenden in das Spezielle und Abgeleitete der Erziehungswissenschaft
einzuarbeiten. Es ist möglich, auch anders zu verfahren, denn schließlich
ist der psychologische Prozeß der Bildung einer pädagogischen Anschauung
im einzelnen Forscher unabhängig von der zeitlichen Reihenfolge, in der er
die einzelnen Voraussetzungen dafür erwirbt und von der logischen Ordnung,
in der die pädagogischen Disziplinen sachlich zueinander stehen. Noch ein¬
mal betone ich, daß die Beobachtung der pädagogischen Wirklichkeit und
das Studium einer oder einiger außerpädagogischer Fachwissenschaften während
der ganzen Studienzeit betrieben werden muß, das letztere nach dem aus
der Natur der gewählten Führer sich ergebenden Plan. Und ebenso bemerke
ich, daß mir mit einem solchen Studiengang wohl die Grundlegung selb¬
ständig wissenschaftlicher Arbeit auf pädagogischem Gebiet möglich erscheint.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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nicht ein endgültiger Abschluß. Die Teilnahme an der pädagogischen Literatur
versteht, sich von selbst, als eine die ganze Zeit durchziehende Verpflichtung.
Nach dem äußeren Abschluß seiner Studien müßte der künftige Theoretiker
der Pädagogik selbst entscheiden, wie er seine weiteren Arbeiten einrichtet.
Als Stellungen, in denen er sich eigenen Arbeiten zu widmen vermöchte,
kämen die Aufgabenkreise von Hilfsarbeitern, Assistenten und Bibliothekaren
an pädagogischen Instituten und Seminaren in Betracht, Assistentenposten
an psychologischen Instituten, die Mitarbeit an großstädtischen Schulverwal¬
tungen, die wohl immer mehr dazu übergehen werden, für die Beratung und
fortlaufende Auswertung ihrer organisatorischen Maßnahmen und Erfahrungen
auch Wissenschaftler heranzuziehen. Jedenfalls müßte das selbständige Studium
der Erziehungszustände der Gegenwart auf Studienreisen, die gewissenhafte
Anteilnahme an der pädagogischen Fachliteratur die Gewähr für die not¬
wendig breite Fundamentierung der eigenen Arbeiten bieten. Welche be¬
rufliche und wirtschaftliche Zukunft den reinen pädagogischen Theoretikern
offen steht, möchte ich nicht erörtern; die akademische Laufbahn, in Zukunft
sicher etwas leichter und aussichtsreicher als in den letzten Jahrzehnten, kann
kein Vertreter der Pädagogik empfehlen wollen; sie muß unter allen Um¬
ständen Sache des unbeeinflußten Entscheids bleiben. Ob Pädagogien,
Akademien und andere Einrichtungen für die Lehrerbildung in Betracht
kommen und auch dem Vertreter der Erziehungswissenschaft ein Wirkungs¬
feld bieten, bleibt abzuwarten.
Zu einem in mancher Hinsicht erheblichen andersgearteten Studienplan
kommen wir, wenn wir die Frage der Berufsausbildung für das Lehr¬
amt in den Mittelpunkt des Hochschulstudiums stellen und den Anteil päda¬
gogischer Disziplinen daran abmessen. Eine an die geschichtlich gewordenen
Verhältnisse und die teilweise vorhandene sachliche Verschiedenheit der Auf¬
gaben von Volksschule und höherer Schule anknüpfende Neuregelung wird
hier eine Verschiedenheit der Bildungsbahn für Volksschullehrer und Studien¬
lehrer auch in der Zukunft nicht entbehrlich erscheinen lassen. Es ist sogar
zweifelhaft, ob nicht die Fach- und Berufsschulen in Zukunft ebenfalls einen
eigenen Lehrertyp erfordern, der wenigstens für einen Teil seiner Ausbildung
eigene Wege gehen muß. (Fortsetzung folgt.)
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Die Frage der seelischen Berufseignung vom Standpunkte des Arztes 1 ).
1. Der mit der Jugendsichtung befaßte Arzt beurteilt die seelische Berufs-
eignung vom Standpunkte des körperlichen und seelischen Gesundheits¬
schutzes, ja der Gesundheitssteigerung der Jugend. Sein Urteil setzt soziale
Auskünfte, pädagogische Berichte und die Leistungsprüfung des Fachpsycho¬
logen voraus. Er ergänzt diese Vorermittelungen durch eine Untersuchung
der körperlichen Maß-, Form- und Funktionsverhältnisse, sowie durch eine
zwanglose Fühlungnahme mit den Jugendlichen in freier Unterhaltung.
2. Er verarbeitet sein Eindrucksbild und die Vorermittelungen mit dem
Ergebnis seiner wissenschaftlichen Untersuchung zu einem körperlich-seelischen
Gesamtbild der werdenden Persönlichkeit und durchleuchtet dieses kritisch
*) Aus einem in der Frankfurter Berufsberatungswoche gehaltenen Vortrag Juni 1921.
Zeitschrift f. pÄdagog. Psychologie. 5
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
nach seiner Entstehung aus äußeren Einnassen und innerer Veranlagung.
Seine erste Aufgabe ist die Erforschung des „Grades der Beseeltheit“, also
der Höhe der seelischen Gesamtveranlagung; die zweite: die Feststellung der
seelischen Berufsreife und der Mittel zu ihrer Förderung.
3. Das Ziel der seelischen Gesundheitsförderung deckt sich mit der För¬
derung der Gesamtpersönlichkeit: sie geschieht durch richtige körperliche
Ernährung; durch sinnvolle, miß volle, wechselweise uni rhythmisch ge¬
bundene Beanspruchung »Iler Seelenanlagen und die Pflege ihres Zusammen¬
spiels in Wechselkampf und Wechselhilfe, endlich, durch planmäßige Selbst¬
besinnung in der Richtung innerer Ordnung und Einheitlichkeit. Je ein¬
heitlicher, um so gesunder ist der Mensch, um so größer die seelische
Spannkraft, um so weiterreichend die Seelenwirkung.
4. Das Sondertalent ist um so wertvoller, wenn es einen wertvollen Menschen
offenbart; deswegen ist über der technischen Pflege von Sondergaben die
Pflege der Gesamtpersönlichkeit nicht zu vergessen. Im Berufsmenschen
darf der Mensch nicht vergessen werden.
5. Etwaige Mängel und Schwächen mU 3 sen vom Arzt auf ihren sozialen
und pädagogischen Ursprung, andererseits bis in ihre biologischen Wurzeln
verfolgt werden, um Grad und Grenze der Bildsamkeit annähernd festzustellen
und Ratschläge für die Erhaltung und Förderung der Berufsfähigkeit geben
zu können. Die Aufgabe des Arztes ist also nicht bloß die Erkennung der
seelischen Gesundheit und Berufsreife, sondern vor allem die Angabe der
im Einzelfalle erforderlichen besonderen Berufsbedingungen.
6. Nur seelische Dauermängel dürfen als Berufsausschließungsgründe in
Frage kommen; bestimmte Talente — brauchen noch nicht die Berufswahl
zu bestimmen, sie können es gar nicht ohne weiteres, wenn sie in mehr¬
facher Richtung vorhanden sind. Ob und wieweit sie sich hierzu eignen,
kann nur aus dem Zusammenhang der Gesamtpersönlichkeit beurteilt werden.
7. Die Mannigfaltigkeit der körperlich-seelischen Veranlagungen ist der
Mannigfaltigkeit der gesellschaftlich gewordenen Berufe keineswegs eindeutig
zuzuordnen. Die besondere seelische Artung begrenzt die Berufswahl in der
Mehrzahl der Fälle nur nach der Berufsgruppe, also nur in sehr allgemeiner Weise.
Sie bestimmt weniger die Wahl des Berufes, als die Art seiner Ausübung.
8. Die durch allseitige Ausbildung erzielte größere Freiheit in der Berufs¬
wahl bedeutet zugleich einen höheren Grad seelischer Gesundheit und Stärke;
sie trägt auch die Gewähr der Dauerhaftigkeit in sich durch größere An¬
passungsfähigkeit gegenüber den Forderungen der Zeit, die Einfachheit der
Lebensführung und Vielseitigkeit der Lebensleistung verlangt.
9. Es ist — zumal im heutigen Deutschland — keineswegs durchweg
möglich, daß sich „innerer Beruf“ und „Brotberuf“ decken. Wenn nun
Neigung und Begabung vorwiegend nach bestimmter Richtung weisen, soll
man sie schon zur Erhaltung des seelischen Gleichgewichts wenigstens außer¬
beruflich pflegen.
10. Die Selbsteinordnung des Einzelnen in die Schicksalsgemeinschaft des
ganzen Volkes macht dieses zur Gesinnungs- und Willensgemeinschaft und
gibt gleichzeitig dem Einzelnen auf erkannten und auf unerkannten Wegen
immer wieder die Spannkraft zur Erhaltung und Steigerung seiner eigenen
seelischen Gesundheit und seelischen Berufseignung.
Frankfurt a. M. Dr. med. Fürstenheim.
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Kleine BeitrSge und Mitteilungen
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Eine Umfrage über die Eignung zum Lehrerberuf wird von Prorektor
Dr. F. Schneider (Brühl) veranstaltet. „Gegenwärtig“ — so leitet er sein
Anschreiben ein — „geht man in Deutschland, vor allem in den Groß*
Städten, daran, die Berufswahl zu rationalisieren. Die erstrebte Neu¬
gestaltung der Berufswahl hat zur Voraussetzung die möglichst exakte Fest¬
stellung der körperlichen und geistigen Eigenschaften, welche für den ein¬
zelnen Beruf unentbehrlich sind. Diese Feststellung ist besonders schwierig
bei allen höheren Berufen, so auch beim Lehrerberuf.
Trotz des vielen, das uns die historische Pädagogik an Ausführungen der
verschiedensten Pädagogen über die Persönlichkeit des Lehrers und ihre
Eigenschaften bietet, trotz auch einiger von der modernen Berufsberatungs¬
bewegung angeregten Untersuchungen über die Eigenschaften, welche zum
Lehrerberuf geeignet oder ungeeignet machen, ist das Problem der Berufs¬
eignung des Lehrers noch nicht gelöst Selbst über den Kern des Problems
sind wir wissenschaftlich noch nicht einmal im klaren: genügen Intelligenz,
Fleiß und guter Wille, um ein wirklich tüchtiger Lehrer zu werden? Können
wir von einem jungen Menschen, der diese Dreiheit besitzt, sagen, er eigne
sieb zum Lehrer, er sei berufen zum Lehrerberuf? Nie werden wir
jemanden nur auf diese drei Eigenschaften hin raten, sich der Erlernung und
Ausübung einer der Künste zu widmen. Wir wissen alle, daß da noch ein
notwendiges Attribut hinzukommen muß: künstlerische Begabung. Verlangt
nun vielleicht der Lehrerberuf zu seiner möglichst vollkommenen Ausfüllung
auch noch ein Mehr: pädagogische Begabung? Wenn ja, worin besteht sie?
Wie offenbart sie sich beim Jugendlichen? Wie zeigt sie sich beim Lehrer
in seiner Berufsarbeit? Ist die pädagogische Begabung oder Anlage häufig
anzutreffen? Wenn wir bei der großen Zahl der erforderlichen Lehrer von
ihr auch etwa absehen müssen: welche Eigenschaften muß der künftige
Lehrer unbedingt besitzen, oder welche machen ihn ungeeignet?
Meines Erachtens müßte reiches Material zur Beantwortung der Fragen zu
gewinnen sein, wenn man die in der Lehrpraxis Stehenden dazu hörte. Ich
bitte daher alle diejenigen Kollegen und Kolleginnen, die sich für die Frage
der Berufseignung des Volksschullehrers interessieren, die obigen, besonders
, aber die nachfolgenden Fragen, soweit es ihnen möglich ist, zu beantworten.
Wer außer den Antworten auf die gestellten Fragen Zweckdienliches zum
Thema der Umfrage zu sagen weiß, der fördert die Bearbeitung des Problems,
wenn er es gleichzeitig mitteilt. Die Beantwortung bitte ich an meine
Adresse zu richten.
1. Haben Sie unter Ihren Schülern solche gehabt, die Sie für besonders
geeignet zum Lehrerberuf hielten? Worauf stützten Sie diese Meinung?
Haben Sie Gelegenheit gehabt, solche Schüler im späteren Leben im
Auge zu behalten? Gab deren spätere Entwicklung Ihnen recht?
2. Nehmen Sie eine spezielle pädagogische Begabung an? Wenn ja, worauf
stützen Sie diese Annahme? - Worin besteht sie nach Ihrer Ansicht?
3. Kennen Sie einen Kollegen, der ein intelligenter, fleißiger Mensch ist
und trotz alles guten Willens in seinem Berufe nichts Tüchtiges leistet
oder sich in seinem Berufe nicht wohl fühlt? Woran liegt das nach
Ihrer Ansicht?
4. Welche geistigen Fähigkeiten sind bei einem Ihnen etwa näher be¬
kannten hervorragend tüchtigen Lehrer besonders ausgeprägt?
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
5. Waren in Ihrer Seminarzeit diejenigen, die in den wissenschaftlichen
Fächern am meisten leisteten, die besten Lehrer in der Übungsschule
und auch — soweit Sie es verfolgen konnten — nach der Seminarzeit
im Amt? Oder wie war das Verhältnis?“
Ein neuer Schülerbogen ist vom Institut für experimentelle Päda¬
gogik und Psychologie im Leipziger Lehrervereine herausgegeben
worden. Er ist bestimmt, das Kind durch alle Stufen der Schulbahn zu be¬
gleiten und so einerseits die schulamtliche Listenführung zu vereinfachen
(Wegfall der alljährlich neu anzulegenden Klassenverzeichnisse), andererseits
durch die fortlaufend einzutragenden Befunde dem wirkenden Lehrer die er-
förderlichen Unterlagen zu bieten, wenn er für oin unterrichtliches und er¬
ziehliches Wirken die Gesamtbilder der einzelnen Schüler zu gewinnen sucht
Von anderen artgleichen Entwürfen hebt sich der Leipziger Bogen vorteil¬
haft heraus durch eine sehr zweckmäßige äußere Einrichtung wie vor
allem durch die praktisch gehaltene, auf das Wesentlichste und bestimmt
Durchführbare eingestellte sachliche Gestaltung. Ein beigegebenes Er¬
läuterungsblatt leitet zu seinem Gebrauch recht geschickt an. Der erste
Raumteil dient — ähnlich wie bei der Schülerkarte — den Eintragungen der
Personalien. (Für den Ausdruck „Bildungsstätten“ würde sich besser noch
die bereits eingebürgerte Bezeichnung „Schulbahn“ empfehlen.) Es werden
darnach Angaben über das Elternhaus verlangt („Hygienische Verhältnisse,
Erziehung, soziale Verhältnisse, Geschwistertafel“.) Die beiden nächsten
Seiten nehmen aus der gesamten Schulbahn die Versäumnisse und Zensuren
auf. Für „Bemerkungen“ ist freier Raum bereitgestellt. Weitgehende Auf¬
gliederung zeigt dann die Tafel für die Befunde über die „körperliche
Eigenart“ innerhalb der ablaufenden Schulzeit. Sie trennt die „Ärzt¬
lichen Gutachten“ und die „Beobachtungen des Lehrers“. Zum bequemeren
Darstellen der Entwicklungskurven für Körperlänge und Gewicht ist ein Dia¬
gramm mit eingetragenen Normalkurven eine glückliche Beigabe. Der
„geistigen Eigenart“ , wie sie sich in den wechselnden Jahren der Beob¬
achtung erschließt, steht der Raum von zwei Blattseiten zur Verfügung. —
Wohlbedacht haben hier die Bearbeiter eine Beschränkung auf das unbedingt
Notwendige geübt und auch schlichte Fassungen gewählt. (Aufmerksamkeit,
Auffassung und Beobachtungsfähigkeit, Gedächtnis, Denken und Phantasie,
Charakter, geistige und körperliche Arbeit, Begabungen.) Es wird so der
Bogen gegen Widerstände gesichert sein, wie sie anderwärts mit dem Hin¬
weis auf zu große Arbeitsbelastung des Lehrers und auf Schwerverständlich¬
keit aufgetreten sind. Daß ausdrücklich die Anweisung „Keine Experi¬
mente veranstalten!“ gegeben ist, könnte darum verwundern, weil der
Bogen aus einem Institute für experimentelle Pädagogik hervorgegangen ist.
Verständlich wird die Warnung aus dem Unfug, mit dem hier und da — in
vielleicht gutgemeintem, aber doch höchst schädlichem Eifer — in den
Schulstuben von ungeschulten Händen herumexperimentiert wird 1 ). Solchem
peinlichen Gebaren, das sich — wie wir es erfahren mußten — bei seinem
krassen Dilettantismus auch manchmal gern noch mit dem Gehaben wissen-
*) Vgl. hierzu: „Warnung vor dilettantischer Anwendung von Testprufungen“. Diese Zeitschr.
XX. Jahrg. (1919, S. 353.)
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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schaftlichen Tuns spreizt, in aller Entschiedenheit entgegenzuwirken, for¬
dert einmal der Sinn des Lehrerberufes, dem die Kinder zum Unterrichten
und Erziehen, nicht aber zum fragwürdigen Herumhantieren an ihnen, an¬
vertraut sind und dann auch das Ansehen der pädagogischen Psychologie, die der
um jeden Preis „psychologisch experimentierende Lehrer“ schwer diskreditiert.
Ein ganz anderes freilich ist es, wenn vereinzelt der dazu ausgebildete Pädagoge
zum Forscher wird und nun in streng wissenschaftlicher Einstellung und
Haltung mit einwandfreien Verfahren seine Untersuchungen an Schülern und
Klassen ausführt, als wenn zur Ausfüllung von allgemein eingeführten Listen
nun jeder Lehrer zum Drauflos-Experimentieren verpflichtet würde. Wie da¬
gegen auf Grund gewissenhafter und steter Beobachtung ein zuverlässiges
Bild der geistigen Schülerverfassung ersteht, dazu leiten dann die Erläu¬
terungen zum Leipziger Schülerbogen eingehender an. Sie zeigen die Rich¬
tungen, auf die sich der seine Schüler beobachtende und sich in sie einfühlende
Lehrer einstellen muß, geben auch manche Beobachtungsgelegenheiten und
fügen Beispiele von Eintragungen an. Dabei ist besonderes Gewicht auf
die Erschließung des Gemüts- und Willenslebens gelegt. Wie die Aufstel¬
lungen des Leipziger Bogens nicht bloß aus wissenschaftlichen Erwägungen,
sondern vor allem aus den Erfahrungen der Schulwirklichkeit erwachsen sind,
bezeugen nicht zuletzt die Schlußabteilungen: „Wirkung pädagogischer Ma߬
nahmen“ und „Berufseignung und Berufswahl“.
Die Vereinigung für Kinderkunde im Lehrerverein zu Frankfurt a. M.,
zur Zeit 115 Mitglieder zählend, hat auch im verflossenen Jahre eine rege
Tätigkeit entfaltet. An Gegenständen der Pädagogik wurden behandelt:
1. Gedanken über Erziehung und Unterricht in Gottfried Kellers Grünen
Heinrich. 2. Bericht über die Sitzung der Erziehungswissenschaftlichen
Hauptstelle des D. L.V. 3. Bericht über die Pädagogische Woche an der
Gaudig- Schule in Leipzig. 4. Ostwalds Farbenlehre. 5. Die Durchführung
des Arbeitsschulgedankens im Deutschunterricht auf der Oberstufe. — Im
Gebiete der Psychologie bewegten sich die Themen: 1. Zum Gedächtnis
Wilhelm Wundts. 2. Vorläufiger Bericht über unsere Eichung von Fabeltests.
3. Suggestion und Hypnose. 4. Aussprache über den Frankfurter Beob¬
achtungsbogen. 5. Experimentelle Beiträge zur Blindenpsychologie. 6. Die
pädagogische und experimentell-psychologische Auslese der Begabten für die
Obergangsklasse n. 7. Gedächtnisversuche nach dem erweiterten System
von Netschajeff in einer Förderklasse. — Von den eigenen Arbeiten der
Vereinigung erschien in der Zeitschrift für angewandte Psychologie (Bd. XVII,
Heft 4/6) 1. Schüßler, Die Entwicklung des schlußfolgernden Denkens bei
Kindern und Jugendlichen. Mehrere andere Untersuchungen sind im Gange.
Außerdem stand die Vereinigung in praktischer Mitarbeit bei der experi¬
mentellen Prüfung der Obergangsklasse II. — Auch auf die in den letzten
Jahren eifrig und fruchtbar in den Lehrerschaften gepflegten pägagogischen
Lehrgänge hat sich die Tätigkeit erstreckt. So fand einer, geleitet von den
beiden Mitgliedern Grupe und Klarmann, in Limburg statt. Er zeigte die
Durchführung des Arbeitsschulgedankens im Unterricht. Ein anderer eben¬
solcher Lehrgang wurde in Hanau abgehalten. . Als in Limburg in einer Ver¬
sammlung der Kreisvereine des Allgemeinen Lehrervereins im Regierungsbezirk
Wiesbaden nach einem Vortrage von Schulrat Eckhardt beschlossen wurde,
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
eine „ErziehungswissenschafI liehe Hauptstelle beim Allgemeinen Lehrerverein
im Regierungsbezirk Wiesbaden“ zu schaffen, gaben die beiden Vorsitzenden
des Vereins (Grupe und Schüßler) ihre Zustimmung für ein Zusammen*
arbeiten beider Arbeitsgemeinschaften. Die Vereinigung fQr Kinderkunde
wird einen ihrer beiden Vorsitzenden in die Hauptstrlle entsenden. — Es
bleibt zu berichten, daß die Vereinigung zur Beratyng und Durchführung
herangezogen wurde, als im verflossenen Winter die Stadt Frankfurt a. M.,
angeregt durch eine Denkschrift der Vereinigung, Versuchsschulen einrichtete.
Eine Hamburgische Woche für Erziehung und Unterricht (Arbeits- und
Studienwoche) veranstaltet vom 18. bis 27. April 1922 die Oberschulbehörde
und die Hamburgische Universität in Verbindung mit den Hamburgischen
Lehrervereinen. Diese pädagogische Woche will zeigen, wie die Idee der
Arbeitsschule im Kultur- und Geistesleben unserer Stadt Gestalt gewinnt. Den
Teilnehmern soll ein Einblick in die praktischen Aufgaben und die Art
und Weise der angestrebten Lösungen gegeben werden. Außerdem sollen
die wissenschaftlichen Probleme, die mit der Frage des Arbeitsunterrichts
sowie einigen anderen Aufgaben des heutigen Erziehungs- und Bildungs¬
wesens Zusammenhängen, in Universitätskursen Behandlung finden.
Die Woche ist eine Arbeits- und Studienwoche. Es sind daher außer Vor¬
trägen und Vortragsreihen Arbeitsgemeinschaften in Verbindung mit Volks¬
und höheren Schulen geplant und dafür die Vormittagsstunden von 9 bis
11'li Uhr vorgesehen. Für Einzelvorträge, an denen die Mitglieder aller
Arbeitsgemeinschaften teilnehmen können, sind die Stunden von 12—1 Uhr
und von 5—6 Uhr bestimmt. Die Nachmittage von 8—5 Uhr sollen den
Führungen, Besichtigungen usw. Vorbehalten bleiben.
I. Die Arbeitsschule und ihre Durchführung.
Für die Arbeitsgemeinschaften sind durchweg die Tage vom 18. bis 22. April festgesetzt.
Sie werden nach deutsch-geschichtlichen, naturwissenschaftlich-mathematischen und fremdsprach¬
lichen Gebieten geordnet, und zwar für die Volksschulen und für die höheren Schulen zeitlich
so, daß jeder Teilnehmer möglichst an zwei Arbeitsgemeinschaften teilnehmen kann.
Die deutsch-geschichtliche Gruppe gliedert ihre Arbeitsgemeinschaften nach den Gebieten der
Volksschule (erster Lese- und Schreibunterricht, heimatkundlicher Spraöhunterricht, der Erlebnis¬
aufsatz u. a.) und der höheren Schule. Eine besondere Arbeitsgemeinschaft ist für Staatsbürger¬
kunde geplant.
Die naturwissenschaftlich-mathematische Gruppe bildet Arbeitsgemeinschaften für die Volks¬
schule auf den Gebieten der Biologie, Physik und Chemie zusammen mit einzelnen Schulen und
den für die Fortbildung der Lehrer eingerichteten Laboratorien Für die höheren Schulen soll
durch Vorträge, Demonstrationen und praktische Übungen in Verbindung mit den Einrichtungen
einzelner Schulen in die Probleme und die Praxis des naturwissenschaftlichen und mathema¬
tischen Arbeitsunterrichts eingeführt werden. Die Arbeitsgemeinschaft für Erdkunde wird be¬
sonders durch heimatkundliche Ausflüge in die Elbmarechen, das Elbtal bei Boberg, nach Finken¬
wärder und durch den Hafen die Durchführung des Arbeitsprinzips verdeutlichen. Außerdem
soll zu zeigen versucht werden, wie die Museen als Lehrapparat in den Dienst der Schule ge¬
stellt werden können.
Die fremdsprachlichen Gruppen werden für Englisch, Französisch und Spanisch sowie für
die alten Sprachen gesonderte Arbeitsgemeinschaften bilden.
Zeichnen, Musik, Werkarbeit und Gymnastik werden den allgemeinen Arbeitsplänen ein¬
geordnet.
ln Einzel Vorträgen sollen Probleme der hamburgischen Scbulorgani6ation, die Selbst-
verwalt urg der Schulen, die Entwickelung des Arbeitsunterrichts in den mathematisch -natur¬
wissenschaftlichen Fächern auf den höheren Schulen Hamburgs, die Arbeitsschule und ihre
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Kleine Beiträge and Mitteilungen
71
Durchführung in der Volksschule, die Erziehung zur sozialen Gesinnung in der höheren Schule,
die Schaffung von Schul beimen u. a. zur Darstellung kommen.
Die Arbeitsgemeinschaften, die mit praktischen Obungen verbunden werden, können nur
eine begrenzte Zahl von Teilnehmern aufnehmen. Die geographischen und heimatkundlichen
Vorträge und Veranstaltungen, ebenso die für Werkunterricht und Zeichnen, Musik, Turnen,
Spiel sollen allen Teilnehmern gleichmäßig zugänglich sein. Die Vorträge allgemein pädagogischer
Art, denen eine Aussprache folgen kann, werden in die Stunden von ß—6 Uhr gelegt werden.
Den Teilnehmern, die für die Aufgaben der Berufsberatung Interesse haben, wird Gelegenheit
geboten werden, die in Hamburg bestehenden Einrichtungen kennen zu leinen. Für das Gebiet
der Heilpädagogik werden besondere Arbeitsgruppen gebildet. (Besichtigungen der bestehen-
Schulen und Anstalten für Taubstumme, Blinde, Schwei hörige, Spracbkranke, Schwach¬
sinnige, jugendliche Irre, sowie der Hilfsschulen und Scbulkindergärten). Im phonetischen
Laboratorium der Universität finden Nacbmittagskurse über die Appeizeptionsweisen der Sprache
vom phonetischen Standpunkt aus statt*
Die Versuchs- und Gemeinschaftsschulen.
Vier Volksschulen und eine höhere Schule (Licbtwarkschule) werden schon aus räumlichen
Gründen nur einer sehr zu begrenzenden Zahl von Teilnehmern zugänglich gemacht werden
kßnnen. Ihnen wird in Arbeitf gemeinte) aft mit den Kollegien dieser Schulen ein Einblick in
das Wesen des hier unternommenen Versuchs, mit den Eltern und der Jugend selbst das Schul¬
leben neu zu gestalten, gegeben werden können. Es wird Vorsorge getroffen werden, auch den
Teilnehmern, denen die Mitarbeit nicht zu ermöglichen ist, duich Vorträge u. a. mit der Art der
von diesen Schulen übernommenen Aufgaben bekannt zu machen. Die Arbeit mit den Kollegien x
dieser Schulen schließt die Teilnahme an den unter 1 gei annten Arbeitsgemeinschaften aus.
Für die Anmeldung wird um die Angabe gebeten, ob die gemeinsame Arbeit mit den Kollegien
dieser Schulen gewünscht wird.
II. Wissenschaftliche Kurse der Hamburgischen Universität
Innerhalb der pädagogischen Woche veranstaltet die Hamburger Universität wissenschaftliche
Knfse von zwei- bis vierstündiger Dauer, die zum größten Teil in den Tagen vom 24.-27. April
toUfinden.
A. Kurse zur Pädagogik und Jugendkunde.
AlsEinzelthemen werden behandelt: Grundfragen der Pädagogik. Die gefährdete Jugend osw.
Aofierdem veranstaltet das Psychologische Laboratorium einen pädagogisch-psychologischen
Sonderlehrgang für solche Lehrkräfte aller Schulgattungen, die sich speziell mit schulpsycho¬
logischen Aufgaben und mit der psychologischen Schulung der Lehrerschaft durch Vortiäge und
Arbeitsgemeinschaften beschäftigt haben oder zu beschäftigen gedenken. Eine nähere Bekannt¬
schaft mit der modernen wissenschaftlichen Psychologie muß vorausgesetzt werden. Der aus
mehreren Teilkursen bestehende Lehrgang erstreckt sich auf Psychologie der reifenden Jugend,
Begabungs- und Berufseignungsforschung, psychologische Vertiefung des Lehrerurteils; er muß
im Ganzen belegt werden. Die Teilnehmerzahl ist beschränkt
B. Fachwissenschaftliche Kurse
insbesondere über die Bedeutung der wissentcbaftlichen Methoden und Forschungsergebnisse
für den Unterricht.
Ans folgenden Gebieten sind bisher Kurse (z. T. mit Demonstrationen und Exkursionen) an¬
gemeldet: Philosophie. Allgem. Sprachwissenschaft. Klass. Philologie. Heuere Sprachen und
Literaturen. Deutschkunde. Völkerkunde. Kunstgeschichte. Mathematik. Physik. Biologie.
Erdkunde. Geologie. Meteorologie. Siedlungswesen.
III. Ausstellungen.
Während der Woche finden eine Reibe von Ausstellungen statt, und zwar: 1. die zeich¬
nerische Begatang. 2. Werkarbeiten von Lehrern und Schülern. 3. Einfache Apparate aus der
Hand des Schülers und des Lehrers und einfache Versuchsanordnungen für den natuiwissen¬
schaftlichen Unterricht. 4. Der Arbeitsunterricht in Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und
Erdkunde (Oberrealschule auf der Uhlenhorst). 6. Heimatkunde. 6. Schrift und Schreiben. 7. Scbul-
gesehichtliche Ausstellung.
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Literaturbericht
IV. Sonstige Veranstaltungen.
Ostermontag, den 17. April: Dampferfahrt nach Cuxhaven (Elbmündung). Dienstag,
den 18. April: Gemeinsamer Festabend im Cnriohaus (Lehrervereinshans). Mittwoch, den
19. April: Konzert in der Michaeliskirche. Freitag, den 21. April: Vorstellungen der Jugend¬
wanderbühne und der Spielgruppen verschiedener Schulen. Sonnabend, den 22. April:
Dam pferfahrt dnrch den Hafen. Sonntag, den 23. April: Spiel- und Sportfest. Außerdem
finden täglich nach Verabredung mit dem Geographie-Ausschuß Führungen durch Stadt und
Hafen statt.
Alle Anmeldungen sind mit Angabe der gewünschten Arbeitsgemeinschaften und einer MiU
teilung, ob die Teilnahme an den Kursen der Universität gewünscht wird, bis zum 1. Februar 1922*
an die Geschäftsstelle der Oberschulbehörde, Dammthorstraße 25, zu richten.
Sobald eine Obersicht Über die Zahl der Teilnehmer vorliegt, wird der endgültige Arbeitsplan
nach Tagen und Stunden geordnet zugesandt werden. — Die Teilnehmerkarte kostet M. 50.—.
Die Veranstaltungen der Universität sind einzeln gegen besondere noch festzusetzende Gebühren
zu belegen. Ebenso werden die Zulaßkarten zu den „Sonstigen Veranstaltungen“ (IV) beson¬
ders berechnet Der Zutritt zu den Ausstellungen ist auf Grund der allgemeinen Teilnehmer¬
karte frei. — Es soll versucht werden, möglichst vielen Teilnehmern Wohnung und Ver¬
pflegung preiswert zu beschaffen. Wer daher private Unterkunft wünscht, wird gebeten, dies
bei der Anmeldung anzugeben.
Nachrichten. 1. Johannes Trüper, der Begründer und Leiter des Er¬
ziehungsheimes Sophienhöhe bei Jena und Herausgeber der Zeitschrift für
Kinderforschung nebst ihren „Beiträgen“ ist am 1. November 1921 im Alter
von 60 Jahren gestorben.
2. Im 67. Lebensjahre starb im Dezember 1921 Provinzialschulrat Dr. Paul
Cauer, Professor für klassische Philosophie, praktische Pädagogik, Didaktik
und Geschichte des höheren Schulwesens an der Universität Münster.
3. Provinzialschulrat Dr. Wilhelm Kahl, Privatdozent für Pädagogik,
wurde zum Honorarprofessor der Universität Köln ernannt.
4. Dr. Fritz Giese in Halle erhielt an der rechts- und staatswissen¬
schaftlichen Fakultät mit der Ernennung zum Professor einen Lehrauftrag für
Vorlesungen und Übungen über Wirtschaftspsychologie.
Literaturberfcht
Eine neue psychologische Zeitschrift.
Psychologische Forschung, Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften.
Herausgegeben von K. Koffka (Gießen), W. Köhler (Berlin), M. Wertheimer (Berlin), K. Goldstein
Frankfurt a. M.), H. Gruhle (Heidelberg).
Verlag Springer, Berlin. Bd. I, Heft 1/2. Preis des Bandes (20—30 Bogen) 86 M.
Unter dem Titel „Psychologische Forschung“ beginnt eine neue Zeitschrift zu erscheinen,,
die einen bemerkenswerten Fortschritt unserer wissenschaftlichen Arbeit einzuleiten verspricht.
Das was sie von den anderen der allgemeinen Psychologie dienenden Zeitschriften unterscheidet,
ist die Geschlossenheit des Standpunktes und der Richtung, ln ihr gewinnt die „gestalt-
psychologische“ Auffassung des Seelenlebens ihr ständiges Organ. Eine Gruppe jüngerer
Psychologen, die bisher im Stillen, aber eifrig arbeitete, hatte schon dem letzten Psychologen¬
kongreß in Marbnrg eine besondere Note gegeben; nun erhält sie auch für den Femerstehenden
deutlichere Umrisse durch diese Zeitschrift Der geistvolle Anreger ist Max Wertheimer, der
bisher nur wenig veröffentlicht hat, aber auf seine persönlichen Freunde und Jünger, einen
außerordentlich tiefgehenden Einfluß ausübt; (ihm reiht sich der) durch seine Untersuchungen
an A nthropoiden schnell bekannt gewordene Wolfgang Köhler (jetzt G. E. Müllers Nachfolger
in Göttingen), ferner die Psychologen Koffka und Gelb, die Psychiater Goldstein und Gruhle an.
Die psychologische Grundüberzeugung, welche dieser Richtung eigen ist, kommt in den
knappen „Prinzipiellen Bemerkungen“ Wertheimers programmatisch zum Ausdruck. Der Kampf
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Literaturbericht
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gilt den zwei Thesen, die — ausgesprochenermaßen oder unbewußt — den größten Teil der
exakt-psychologischen Arbeit bisher beherrschten: der Mosaik- oder Bündelthese und der Asso-
riationstbese. Bestritten wird jeder Versuch, das psychische Geschehen von den „Elementen“
her zu erklären, die sich summativ aneinanderknüpfen und durch beliebiges Beieinandersein
rar Synthesis gebracht werden. Dieser Auffassung wird die Gegenthese gegenübergestellt:
,Das Gegebene ist an sich, in verschiedenem Grade gestaltet: gegeben sind mehr oder weniger
bestimmte Ganze und. Ganzprozesse, mit vielen sehr konkreten Ganzeigenschaften, mit inneren
Gesetzlichkeiten, charakteristischen Ganztendenzen, mit Ganzbestimmtheiten für ihre Teile.
^Stöcke“ sind zu allermeist in konkreter Weise als „Teile“ in Ganzvorgängen aufzufassen.“
Für den Kenner der personalistischen Psychologie leuchtet sofort die Verwandtschaft beider
imchauungen ein; denn auch der Personalismus führt ja — sowohl in der Weltanschauung
Oberhaupt, wie auch speziell im Psychologischen — den ständigen Kampf gegen den Versuch,
Ganzheiten aus Teilen entstehen zu lassen, also gegen eine Mechanismus- und Aggregattheorie
des Seelischen. Zum mindesten in der Abwehr sind somit beide Richtungen identisch. Aber
auch im Positiven sind so viel Berührungspunkte da, daß sich eine Gemeinsamkeit der Arbeit
als sachliche Notwendigkeit aufdrängt Zurzeit besteht noch der Unterschied in der Auswahl
der Probleme. Der Personalismus wendet den Gestaltungsgedanken vornehmlich auf die „Person“
selbst als unitas multiplex an und sucht alles einzelne Psychische durch seine Zweckbeziehung
za der sich ständig gestaltenden Einheit persönlichen Lebens zu verstehen; bei ihm spielen
daher die Gestaltprinzipien der Disposition, der Entwicklung, der Anlage usw. eine vorherrschende
Rolle. Die Gestaltspsychologie dagegen hält sich an die Bewußtseinsphänomene als solche und
knüpft daher viel unmittelbarer, wenn auch polemisch, an die bisherige experimentelle Labo-
ratoriumsarbeit an. Es sind insbesondere die Probleme der räumlichen Wahmebmung, der Be-
wegungsauffassung, dann aber auch gewisser Denkphänomene, die hier in äußerst fruchtbarer
Weise behandelt werden. Gründlichste Experimentaltechnik wird genau wie bei den bekämpften
Psychologen angewendet, aber nun nicht, um etwa bei einem bestimmten Phänomen der Raum-
vahmehmung oder des Denkens aufzuzeigen, welche „Elemente“ daran beteiligt sind, sondern
am diejenigen Gesetzmäßigkeiten zu finden, die der strukturierten Raumgestalt oder Bewegungs¬
testalt oder Gedankengestalt innewohnen und von sich aus erst die einzelnen Bestandsstücke
in Ihrer psychischen Elementarbeschaffenheit bestimmen. Die ausführliche Spezialuntersuchung
von Czermak und Koffka über „Bewegungs- und Verschmelzungsphänomene“ bietet ein Beispiel
hierfür.
Bemerkenswert ist dann weiter die erfolgreiche Anwendung der Gestaltsgesichtspunkte auf
psychopathologische Fälle: Hier ist es insbesondere die Frankfurter Hirnverletztenuntersuchungs-
station von Professor K. Goldstein, die zu theoretisch und praktisch gleich wichtigen Ergebnissen
über* die Struktur von Wahmehmungs- und von Denkstörungen gekommen ist. Diese sind
nun Teil bereits an anderen Stellen veröffentlicht; zum Teil werden sie in der neuen Zeitschrift
erscheinen. Den Anfang macht hier eine Arbeit von W. Fuchs.
Schließlich sei noch mit einem Wort auf Köhlers Beitrag „Zur Psychologie des Schimpansen“
eingegangen. Köhler gibt hier eine Art Nachlese zu seinen früheren Spezialuntersuchungen,
die sich sämtlich mit den Schimpansen der deutschen Anthropoidenstation in Teneriffa befassen.
In ihrer Gesamtheit bilden diese Affenuntersuchungen die weitaus besten Beiträge zur Tier¬
psychologie, die uns das letzte Jahrzehnt gegeben hat. Bezogen sich die früheren Darstellungen
K/s auf die Intelligenz und die einfacheren „Strukturfunktionen“ der Menschenaffen, so werden
diesmal in zwangloser Form vornehmlich die Erscheinungen des Gemüts- und Willenslebens
behandelt, das Verhalten zur Gruppe, zum Menschen, zu anderen Tieren, Kameradschaft, Haß,
Furcht, Sexualleben, Spiel. Aber auch auf gewisse geistige Funktionen, so das Verhalten zur
Zeit nach rückwärts und vorwärts, das Erkennen des Spiegelbildes oder von Photographien usw.
BDt sehr interessantes Licht. Besonders lehrreich ist die Lektüre gerade für den Kindes-
Psychologen. Die Übereinstimmung der K.'sehen Beobachtungen mit Feststellungen, die
vir and andere in dem ersten Lebensjahre des Menschenkindes machen konnten, ist geradezu
verblüffend, und es würde eine höchst dankenswerte wissenschaftliche Aufgabe sein, die Ver¬
gleichung beider psychischer Gebiete systematisch durchzuführen; denn wir würden dann mit
einer ganz anderen Deutlichkeit als bisher die Grenzstellen aufzeigen können, an denen auch
das höchste tierische Seelenleben gegenüber dem immer weiter fortschreitenden menschlichen
endgültig Zurückbleiben muß 1 ).
’) Obige Zeilen waren bereits geschrieben, als ein Buch erschien, das der dort auf¬
gestellten Forderung zum Teil zu’ entsprechet sucht. K. Koffka veröffentlicht soeben „Di*
Grundlagen der psychischen Entwicklung. Eine Einführung in die Kinderpsychologie“ (Zickfelu,
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Literaturbericht
Das Wagnis, unter den gegenwärtigen schwierigen Verhältnissen eine neue Zeitschrift zu
beginnen, ist nicht gering, wir möchten der Hoffnung Ausdruck geben, daß der „Psychologischen
Forschung 44 dies Wagnis glücken möge.
Hamburg. William Stern.
Elnzelbesprechungen.
Prof. Heinrich Ernst Ziegler, Tierpsychologie. Sammlung Göschen. Berlin und
Leipzig 1921. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. 118 S. 6 M.
Wer in diesem Bändchen einen geschlossenen und ebenmäßig ausgebauten, das Wesent¬
liche in guter Übersicht daistellenden Abriß der Methoden und Ergebnisse der tierpsychologi-
achen Forschung erwartet, wird enttäuscht sein. Was Ziegler bietet, ist einseitig naturwissen¬
schaftlich eingestellt, bewegt sich teilweise in vulgärpsychologischen Begriffen und Auffassun¬
gen, übergeht wichtigste Gebiete, befriedigt auch nicht im Aufbau. Im ersten Teile wird, mit
den Auffassungen in den alten Religionen und bei der älteren griechischen Phil« sophie be¬
ginnend, ziemlich eingehend ein Obeiblick über die Geschichte der Tierpsychologie gegeben,
auf den man gern zugunsten anderer Tatsachen- und Gedankenkreise verzichtet hätte. Der
zweite Teil — Grundbegriffe der Tierpsychologie — behandelt ausführlich und gut den In¬
stinkt, um dann — sich 6ehr allgemeiner Begriffe bedienend — über die Gefühle und das
Gedächtnis wegzugleiten und bei der Betrachtung der höheren Verstandestätigkeiten nicht viel
mehr zu bieten als einen kurzen Bericht über die Köhlerschen „Intelligenzprüfungen an anthro¬
poiden Affen 44 und über die „Klopfsprache bei Pferden und Hunden“. Der dritte Teil ist ent-
wicklungegefchichtlicb eingestellt. Es werden hier die Protozoen, die Cnidarier, sodann die
Würmer, Arlhiopoden und Mollusken, schließlich die Wiibeltiere entsprechend ihrer körper¬
lichen Organisation als ..pfycbische Stufen 44 unterschieden und vorwiegend nach ihn m Nerven¬
system und in ihien Reakticnsweisen dargestellt. Ein Schlußwort erörtert dann noch, wie mensch¬
liches Seelenleben zwar den höchsten Stufen tierischer Erscheinungen nahesltht, wie aber
seelisches Tierleben nicht von der Psychologie des Menschen aus gedeutet weiden darf. — Ein
Vorzug des Zieglersehen Buches sind seine reichen Hinweise auf Beispiele. Einige beigegebene
schematische Dai Stellungen verschiedener Nervensysteme begleiten den Text. Es bleibt nach
Zieglers GörchenLändcben das Bedürfnis eines Grundriß der Tierpsychologie in einer Dar¬
stellung, wie sie die Sammlungen Wissenschalt und Bildung, Natur- und Geisteswelt und
Göschen pflegen, immer noch offen,
Leipzig. Otto Scheibner.
Rorschach, Hermann, Psychodiagnostik, Methodik und Ergebnisse eines wahr¬
nehmungsdiagnostischen Experimentes (Deutenlassen von Zufallsformen). Bern und
Leipzig 1921. Ernst Bircher. 174 S. 60 M.
Das Buch ist zunächst für den Mediziner, speziell den Psychiater geschrieben, aber der in
dem Werk ausgearbeitete „Formdeute versuch“ wird für den Pädagogen und Berufsberater eine
ebensolche Bedeutung erlangen wie für den Psychiater.
Der Verfasser benutzt einen Testapparat von 10 Tafeln, deren Jede durch Pressen von Tinten-
klexen gewonnene Figuren enthält. Die Versuchsperson wird aufgefordert, zu sagen, was für
Figuren sie in diesen Tintenklexen wahrnimmt. Die Aussagen werden genau protokolliert und
alsdann nach bestimmtem, genau kritisch ausg<arbeitetem Verfahren statistisch ausgewertet. Es
wird z. B. unterschieden, ob vorwiegend ruhende Formen wahrgenommen oder ob Bewegungen,
kinästheti8che Momente hineingedeutet oder ob die Farben — bei den mehrfarbigen Figuren —
stark mitverwertet werden. Ferner wird unterschieden, ob die Teribilder als Ganzes oder in
Teilen erfaßt werden usw. So erlaubt die Berechnung alsdann, verschiedene Typen aufzn-
stellen: Theoretiker, Praktiker, Phantasiemenschen, Nörgler, Pedanten, Abstrakte usw. Das Ver¬
hältnis der Bewegungs- und Faibmomente zueinander repräsentiert das Verhältnis der introver-
siven, auf Innerlicbkeitsarbeit gewandten, zu den extratensiven, auf die Außenwelt gerichteten
Momenten einer Versuchspeison. Dieses Verhältnis, als »Erlebnistypus“ bezeichnet, gestattet, den
introversiven, extratensiven, koartierten und ambiäqualen Erlebnistypus zu unterscheiden.
Osterwieck 1921, 278 S.) Gemeint sind die ersten Lebensjahre. Im Mittelpunkt des Buche$ steht
die Psychologie der frühkindlicben Neuleistungen und Lernprozesse; und weitgehend werden
zu deren Verständlichmachung im Sinne der Gestaltspsychologie die Parallelen aus Köhlen and
sonstigen Tieruntersuchungen herangezogen.
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Literaturbericht
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Je mehr die Farben über die Kinästhesien überwiesen, um so labiler ist die Affektivität
der Versuchsperson; je mehr die Kinästhesien überwiegen, um ao stabilisierter ist die Affektivität.
Aus diesen kurzen Bemerkungen geht schon hervor, welche Bedeutung dieser Versuch in
der Hand des Psychologen und Pädagogen gewinnen kann. Ausgehend von der Fragestellung:
Mit welchen Gedanken beschäftigt sich die Versuchsperson in freien Momenten, in denen sie sich
selbst ganz überlasten ist, läßt sich mittels des „Formdeutevereuchs“ in 20—30 Minuten ein
Oberblick gewinnen über wesentliche charakterologische Eigentümlichkeiten, über die affektive
Veranlagung usw. der Versuchsperson. Dt. Römer, ein langjähriger Mitarbeiter Dr. Rorschachs,
verwendet bei der Berufsberatung der Akademiker den psychodiagnostischen Versuch in weitem
Maße. (Vgl. den Bericht im Sammelbande des 7. Kongresses für experimentelle Psychologie.
Marburg 1921, J. A. Barth, Leipzig.)
Dortmund. Bruno Krause.
Gertmd Bäumer und Lili Droescher. Von der Kindesseele. Beiträge zur Kinder-
psychologie aus Dichtung und Biographie. Leipzig 1921. 467 S. 4. Auflage. R. Voigt 1 ändere
Verlag. 30 BL
Wir haben, als die schöne Sammlung erstmals erschien, ihre Bedeutung als wissenschaftliche
Erkenntnisquelle und ihren Wert als eine Handreichung für den psychologischen Unterricht an
Eraieherbildungsschulen gegenüber anderen Meinungen auf ein geringes Maß zu rückgeführt,
ohne ein Verdienst der beiden Herausgeberinnen damit verkennen zu wollen, und wir
halten unsere bedingte Eiqschätzung des Buches, dem wir unterdessen wer weiß wie oft reichen
literarischen Genuß verdanken, auch heute, wo ihm das stärkere Hervortreten einer «verstehen¬
den Psychologie* günstig geworden ist, noch aufrecht. Sch.
Walter Georgi, Briefe deutscher Ferienkinder aus Skandinavien. Jena 1921.
Diederichs. 161 S.
Dem Verfasser waren vom Roten Kreuz ungefähr 25000 Briefe und Karten in die Hand
gegeben, die deutsche Ferienkinder aus Skandinavien und Finnland nach der Heimat ge¬
schrieben batten. Ein außerordentlich wertvolles Material für kinderpsychologische Forschung,
unvergleichlich ergiebiger und aufschlußreicher als noch so große Sammlungen von Schul¬
aufsätzen, auf die sich vielfach Jugend kund liehe Untersuchungen gründen. Losgelöst aus dem
tagtäglichen Lebenszusammenhang des «Zubause*, in der Fremde überwältigt von tausend
Neuem, brechen diese Ferienberichte ungekünstelt, kinderecht und naturwüchsig heraus aus
innerer Ergriffenheit und Erlebnistiefe. Es lohnte sich, unter den verschiedensten Fragestellungen
das Material auszuwertep. Ergibt doch schon ein erster Blick auf herausgegriffene Proben
wichtige psychologische Funde: wie Dänemark ganz anders auf Gemüt und Denken der Ferien-
kmder wirkt als Norwegen und Finnland, wie sich die Standeszugehörigkeit der Kinder — ob
Arbeiter-, Bürger- oder Adelskind — in den empfangenen Eindrücken widerspiegelt, wie Alters¬
stufen, Knaben und Mädchen usf. scharfe Typenbilder zeigen usf. Die Auswahl aber, die Walter
Georg! aus dem unschätzbaren Material getroffen bat, geschah nicht für wissenschaftliche Ver¬
wertung. Immerhin vei dient sie auch die Beachtung des Psychologen.
Leipzig. Otto Scheibner.
G. F. Hartlaub, Der Genius im Kinde. Zeichnungen und Malversucbe begabter Kinder.
Breslau 1922. Hirt 184 S. u. 91 Abb. auf Kunstdruckpapier. Geh. 60 M., geb. 72 BL
Das vom Verlag glänzend ausgestattete Buch ist erwachsen aus der Mühe um die 1921
in Mannheim veranstaltete Ausstellung hochentwickelter zeichnerischer Kinderleistungen, einer
Ausstellung, di* „ein wesentlich anderes Bild als die mechanischen Schul k inderarbeiten“ (S. 57)
ergab. Auf über 90 Tafeln führt es in technisch vollendeter Wiedergabe eine Auswahl der
kindlichen „Kunstwerke“ unter beigetügten Hinweisen au! ihre Entstehung und Deutung vor,
und ein in sich selbständiger Text leitet die wertvolle Sammlung ein. In diesen textlichen Aus¬
führungen will Hartlaub, bewußt auf romantische Auffassungen zurückgreifend, binführen zu
einem tief* ren Verstehen de$ kindlichen Gestaltens, wie es triebkräftig als Naturgabe aus dem
weidenden Geiste bervoi bricht, wie es einen höchsten Eigenwert in sich trägt und wie es des
Schutzes gegen unverständige und ebrfurchtslose Verscbulmeisterung durch die Erwachsenen
bedarf. Es ist vorwiegend eine verstehende Psychologie, mit der Hartlaub das erlebnistiefe
Walten im freien kindlichen Schaffen aufzuschließen sucht, wiewohl er dabei gern seinen Glauben
an den „Genius im Kinde** mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen stützt (vgl.
den trMUichen Abschnitt „Anmerkungen und Exkurse'*), und es ist eine lose verbundene Reihe
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Literaturbericht
geistvoller, mitunter ästhetisierender Essays, in denen er vom Wesen des kindlichen Darstellend
Zeugnis gibt. „Träumen und Spielen**, „Zeichen und Gesicht“, „Schmuck und Gebärde“, „Er¬
findung und Gesinnung** überschreiben sich einige seiner feinsinnigen Feuilletons, die nicht frei
von schöngeistigem Überschwang bleiben, aber von denen sich schließlich auch der auf schlich¬
teren Ton eingestellte. Fachpsychologe nicht ungern auf gefühlsgetragenere Betrachtungen ein¬
stimmen lassen wird. Was an pädagogischem Gehalte in den Darlegungen Hartlaubs ruht
— vgL besonders den Abschnitt „Unterweisung“ S. 70 ff. —, ist erheblich, wenn auch zu einem
Teile schon gesicherter Ertrag aus den Jahren, in denen ,,Kind und Kunst“ als Schlagwort um¬
lief. Wir danken dem Buche manche Förderung."
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Kurt Finkenrath, Die Jugend zur Geschlechterfrage. Zeitschr. f. Sexualw.
7. Heft. Oktober 1921.
Die wichtigste Stoffquelle zur Kenntnis der geschlechtlichen Anschauungen der Jugend sind
selbstgeschriebene Äußerungen. Es kommen in Betracht: Bier- und Schülerzeitungen, Studenten-
und Schülerpoesie, jugendliche Briefwechsel, Tagebücher und Aufsätze in Jugendzeitschriften.
Nur letztere sind hier berücksichtigt. Es zeigen sich 3 Hauptrichtungen: 1. eine gro߬
städtische, frühreife, jüdische, die das „Recht der Erotik a fordert, 2. eine zarte, weihevolle,
gefühlsreiche, die Kameradschaft und tiefverbundene Gemeinschaft zwischen den Geschlechtern
erstrebt; sie zeigt sich in der Wandervogeljugend, 3. eine, die vom vorherrschenden Denk¬
vermögen beherrscht, die soziale Frage und die hygienische Seite in den Vordergrund stellt:
ihr gehört die studentische Literatur an. Das Material stammt aus* der Vorkriegszeit und ist
im ganzen sehr einseitig.
Löbau i. Sa. Heinz Burkhardt.
Wilhelm Heinitz (Hamburg), Können wir sprechen, was wir singen? Vox, Internat.
Zentralbl. f. experim. Phonetik, 1921. Heft 4.
Verf. ließ von Versuchspersonen bekannte Liedanfänge (Was blasen die Trompeten? Husaren
heraus! — Allein Gott in der Höh* sei Ehr! — Stille Nacht, heUige Nacht, alles schläft, einsam
wacht. — Es ist ein Ros* entsprungen — u. ä.) sprechen. Die Assoziation mit der musikalischen
Vertonung erwies sich so stark, daß bei den meisten Vp. kein natürliches Sprechen erfolgte.
Rhythmik, Dynamik und Dauer wurden beeinflußt. Das kann durch sinngemäßes Deuten der
dichterischen Absichten vor der Einübung der Vertonung vermieden werden. Die Versuche
lassen sich leicht wiederholen.
Löbau i. Sa. Heinz Burkhardt.
F. Reinkemeyer, Förderung der Begabten. Richtlinien und Vorschläge zur Neugliederung
der Volksschule. Köln 1921. M. du Mont-Schaubergsche Buchhandlung. 32 S. 5,50 M.
Die Volksschule — so wird ausgeführt — darf nicht die Förderung einer Spitzengruppe
von Hochbegabten betreiben, sie muß vielmehr darauf zukommen, eine breitere Schicht der
Begabteren zu befreien von dem Bleigewichte der Schwächeren im Geiste, Entscheidend soll
dabei aber nicht einzig die rein intellektuelle Fähigkeit sein, sondern es gilt, das Gesamtbild
der seelischen Verfassung der Schüler zu bewerten. Die Scheidung, bei der Lehrerbeobachtung
und Testanwendung vereint wirken möchten, wird verlegt auf das Ende des 4. oder 3. Schul¬
jahres. Der Volksschulkörper weist dann drei Klassenzüge auf: Zu der Normalschule zählen
Gut- und Bestbegabte mit höherer Spannkraft; die Entlastungsklassen vereinigen die Schwächeren
und von den besser Veranlagten solche mit geringerer Energie; der Sammelklasse aber werden
ausgesprochen Schwachbegabte zugewiesen. — Der Schrift mangelt die von ihrem Gegenstand
unerläßlich geforderte tiefere psychologische Durchleuchtung. Die praktisch-pädagogischen Ge¬
danken und Vorschläge bringen, von Untergeordnetem abgesehen, kaum wesentlich Neues.
Sicher wäre die Schrift nicht geschrieben worden, hätte sich ihr Verfasser, wie es bei einer so
lange und gründlich erörterten Frage selbstverständliche literarische Pflicht ist, im Schrifttum des
Gebietes umgesehen. Erst nach Abschluß seiner Arbeit, so heißt es im Vorwort, hat er zu einer
der Schriften Sickingers; gegriffen und mit seltsamer Pose bekennt er, daß ihm dies genüge.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Johannes Prüfer, Theorie und Praxis in der Erziehung. Ein Buch zur Vertiefung des
pädagogischen Denkens. Leipzig 1917. J. Klinkhardt. 88 S. 9 M.
Wer die pädagogischen Arbeiten von Johannes Prüfer verfolgt hat, kennt ihn als einen der
wenigen Denker, die über das Gebiet der Schulerziehung hinausblicken und die zentralen^ragen
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Literaturbericht
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der sittlichen Bildung und Erziehung für die ausschlaggebenden halten. Seinen originalen
Forschungen über Fröbel verdanken wir ein wesentlich verbessertes und gereinigtes Bild dieses
Mannes und seiner Bestrebungen ; Prüfers Geschichte der Erziehung des Kleinkindes ist noch immer
der beste Oberblick über Familien- und Früherziehung in ihrer Entwicklung. Aus dem gleichen
Gedanken- und Interessenkreis erwuchs die von ihm ins Leben gerufene „Deutsche Gesellschaft
zur Förderung der häuslichen Erziehung“ nnd wirkt deren von ihm geleitete Zeitschrift „Eltern
und Kind“. Feinsinnig und gemütvoll als Persönlichkeit besitzt Prüfer einen guten Blick gerade
für die eigentlichen Erziehungsfragen, die pflegliche, entwickelnde und bessernde Arbeit am sitt¬
lichen Kern der werdenden Persönlichkeit. Er wird nicht müde — hierin mit seinem Vorbild
Fröbel natur- und wahlverwandt —, die Erziehung als die für das moralische Schicksal des
Einzelnen und der Menschheit bestimmende Macht klarzulegen und so zur Vertiefung der päda¬
gogischen Verantwortlichkeit beizutragen.
ln den vier Kapiteln (1. Die pädagogische Idee, 2. Pädagogik als Wissenschaft, 3. Die prak¬
tische Erziehung, 4. Pädagogische Kultur) des klar und flüssig geschriebenen Buches, das ich
Eltern und Berufserziehern für eine Stunde der inneren Sammlung, der Besinnung und Ver¬
tiefung warm empfehlen möchte, entwickelt er seine Philosophie der Erziehung Im ersten Ge¬
dankenzug bestimmt er wesentlich in einer Auseinandersetzung zwischen Natorp und Fröbel die
Natur der „Ideen“ als freier und aktiver Schöpfungen des Geistes, die dem Wirklichen als un¬
bedingte Zielstellungen vorleuchten, als voraussetzungslose Willensrichtungen und Forderungen
vorangehen, nicht als Zusammenfassungen oder Folgerungen aus ihm abstrahiert sind, ln dem
Verhältnis von Idee und ^Wirklichkeit wurzelt das pädagogische Tun in seinem umfassenden
Sinn. „Selbstbewußte Entwicklung vermag sich allein zu denken unter der Idee eines Zieles,
das sie erreichen soll“ (Natorp). So wird zur pädagogischen Idee der wesensnotwendige Glaube,
daß jeder empirische Mensch stehe im Dienst der unendlichen Aufgabe, das Menschliche zu ver¬
wirklichen, berufen, die unbedingten Forderungen des Geistes zu leben. Was sich aus dieser
Grundeinstellung an Folgerungen für den pädagogischen Optimismus, für die pädagogische
Auffassung der Freiheit, für den ursprünglich behütenden, nur allmählich und bedingt auch vor¬
schreibenden, fordernden und eingreifenden Charakter der Erziehungsmaßnahmen, über Recht
und Grenzen des lndividualisierens in der Erziehung ergibt, wird in einer immer zu Herzen
gehenden Selbstbesinnung verdeutlicht und veranschaulicht
Aus dieser grundlegenden Einsicht, die den philosophischen Gedanken vor der Vermengung
mit der Wirklichkeit (S. 30) sicherstellt, leitet sich auch Prüfers Auffassung der Pädagogik als
Wissenschaft her. Philosophische Systeme der Erziehung bleiben Theorie, darum beschränkt in ihrer
Geltung und Anwendungsfähigkeit für das reale Leben; auch induktiv gewonnene, psycho¬
logisch fundierte, sozusagen technische Systeme der Pädagogik, die auf der Beobachtung der
Wirkungen in früheren Fällen beruhen, können unbedingte Verbindlichkeit für die Praxis nicht
beanspruchen, weil der Effekt erziehenden Tuns in der Sphäre der menschlichen Freiheit liegt,
die eine völlige Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit ausschließt. Durch solche Überlegungen
wird die Normativität der Pädagogik beschränkt und eine deskriptive Erfassung und Durch¬
dringung der Erziehungstatsachen selbst als der innerste Sinn einer von den Forderungen und
Bedürfnissen der Praxis emanzipierten reinen pädagogischen Theorie herausgestellt. Der Ver¬
fasser hat recht, wenn er diese Auffassung als erst in der Bildung begriffen bezeichnet, aber
auch, wenn er ihr eine sichere Zukunft prophezeit
Im dritten Gedankenkreis gibt Prüfer eine auf breiter Erfahrungsgrundlage ruhende Zer¬
gliederung des erziehenden Tuns und entwickelt dabei die einzelnen Voraussetzungen, Hilfsmittel,
Hemmungen der praktischen Erziehungsarbeit. Die Analyse des erziehenden Aktes, d. h. des
„Wesens“ all der im einzelnen außerordentlich verschiedenen Akte, die im Dienst der päda¬
gogischen Idee eben pädagogische werden, ist unstreitig die wichtigste Aufgabe der Erkenntnis;
Prüfer hat (in nicht wenigen Einzelaufsätzen seitdem) weitere Momente verdeutlicht Indem er
vom einzelnen Erziehungsvorgang aus Licht fallen läßt auf die weiteren Zusammenhänge, wird
dieses Kapitel ein Grundriß der praktischen Erziehungslebre, besinnlicher als die sonst üblichen
schulmäßigen Abhandlungen über Aufgabe und Grenzen der Erziehung, über Autorität, Vorbild,
Erziehungsmittel, Lohn, Strafe usw., der Vielfältigkeit der Tatbestände feiner angepaßt als die
starren Nonnen, die sonst deduziert zu werden pflegen. Auch wenn Prüfer selbst es nicht
deutlich ausspricht, die zugrunde liegende Meinung möchte ich entschieden teilen: kein Er¬
ziehungsmittel ist eindeutig — kein Erziehungsfall generalisierungsfähig. Deshalb ist ja die
praktische Erziehung von vollendet vorbildlicher Gestalt eine so seiten getroffene Leistung der
seltenen Erzieherbegabung, die nur sehr ungefähr ersetzt werden kann durch die lernbare Technik,
die wissenschaftliche Reflexion and die willige Nachfolge. Jede gelungene Erziehung eines
Kindes durch seine Mutter, seinen Vater, jedes Einzelbeispiel einer wenigstens im Grundriß
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Literaturbericht
richtigen und sich bemühenden Bildungsarbeit enthält ein geniales Moment — nur haben wir
noch immer nicht Bückktaft genug, diese Genialität im Kleinen und Alltäglichen, im Praktischen
und Lebendigen zu sehen. Wenn wir das Geniale im Wirken des rechten Erziehers sehen
sollen, dann muß es schon in beträchtlichen Ausmaßen auf treten oder — was für das Wirken
selbst durchaus belanglos ist — in einer Nachfolgergemeinde oder im literarischen Werk ver¬
stärkten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben.
Für den reifsten und interessantesten Teil der Schrift halte ich das Schlußkapitel über
pädagogische Kultur. Prüfer bewegt sich hier auf einem Gebiet, dem der Hauptteil seiner
historischen Forschung und seiner praktischen Wirksamkeit gegolten hat und noch gilt. Er¬
ziehung als Institution und die Institutionen der Erziehung, der persönliche Faktor in allem In¬
stitutionellen, der pädagogische Beruf in allen seinen Zielarten und die Verantwortlichkeit der
ganzen Gesellschaft, nicht nur der berufsmäßigen Erzieher in ihr, treten als die wesentlichen
Momente einer pädagogischen Kultur stärker hervor — sie selbst aber ist das lebendige Be¬
wußtsein einer Gesellschaft vom Wert der Erziehung und der reine Wille zu immer besserer
Erkenntnis und Übung der Erziehungspflichten. Bildung und Leben einer organischen Tra¬
dition in Erziehungsdingen — das ist das Kennzeichen pädagogischer Kultur. Ob wir — -trotz
unseres hochentwickelten rationellen Erziehungs- und Bitdungswesens und trotz der Höhe des päda¬
gogischen Professionalismus — eine solche vom Volk getragene pädagogische Tradition schon
haben? Ob überall schon Sinn und Bedeutung der Erziehung in lebendiger F.insicht erfaßt und
in wirkender Anteilnahme als Sache der Gesellschaft gefördert werden? Oder ob wir ein Volk
der Lehrer und Erzieher, aber noch kein erzieherisches Volk sind? E 9 sind Fragen von beträcht¬
licher Tiefe, mit denen Prüfer seinen Leser entläßt, er selbst hoffnungsfreudig und erziehungs¬
gläubig, von der Möglichkeit pädagogischer Volkskultur innerlich überzeugt und aus diesem
Glauben fähig, pädagogisches Leben zu wecken.
München. Atoys Fischer.
Elise Deutsch, Jugendlichen-Pädagogik. Aus der Erfahrung dargestellt als Ratgeber
für Klassenführung und Schulleitung, sowie als Anleitung für den Gebrauch an Seminaren
der Fach- und Fortbildungsschullehrerinnen, sowie zum Selbstunterricht Leipzig 1921.
Teubner. 103 S. 6 M.
Diese Handreichung für Lehrerinnen an Mädchenfortbildungsschulen sei hier angezeigt weil
sie den ernstlichen Versuch unternimmt, gegenüber der ausschließlichen Lehranstalt den Ge¬
danken der Erziebungsschule in den Vordergrund zu rücken und in diesem Sinne sich bemüht,
das Wirken der Lehrerin auf jugendkundliche Einsichten zu gründen. Was freilich in den drei
ersten Abschnitten an Soziologischem und Psychologischem über das Jungmädchen ausgeführt
wird, ist zu diesem Zwecke nicht ausreichend, zum Teil aus großstädtischen Erfahrungen
heraus vorschnell verallgemeinert und in den pädagogischen Folgerungen mitunter doch etwas
gar zu verständig und hier und da fast tantenhaft. ohne die Grundstimmung de9 Jungseins mit
der Jugend. Über viel Äußerlichem der „Geschäftsführung“ ist zum schweren Schaden des
Buches versäumt, den Geist zu fordern und darzustellen, der im Sinne des ArbeitsschuJ-
gedankens den Unterricht an den für unser Volk so bedeutsamen Mädchenfortbildungscbulea
durchwalten müßte und der dann ohne allzu ausgeklügelte Küustlichkeiten an Erziehungs¬
praktiken ganz natürlich von sich aus eine tiefe, natürliche, echte erziehliche Wirkung aus¬
üben wird.
Leipzig. Otto Scheibner.
Die Arbeitsschule, Beiträge aus Theorie und Praxis, heransg. vom Leipziger Lehrerverein.
3. Aufl. Leipzig 1921. Klinkhardt 188 S. 20 M.
Das bekannte Buch, das aus der methodischen Abteilung des Leipziger Lehrervereins
hervor^egangen ist und eine Sammlung von Aufsätzen zur Ausgestaltung der Arbeitsschule ent¬
hält, die die Lehrer P. Vogel, R Sieber (f 1915), K. Rößger und 0. Erler zu Verfassern haben,
bringt in der vorliegenden Auflage zwei völlig neue Beiträge; die übrigen, die R. Siebers aus¬
genommen, sind ergänzt Ganz auf den Volksschulunterricht eingestellt, behandelt es nach einer
allgemein orientierenden Einleitung den Begriff der Arbeitsschule (unverändert), die Verstandes-
und Willensbildung in ihr (unverändert!, die Reform des Elementarunterrichts, die Leipziger
Versuchsklassen (neu), Beispiele aus dem Gesamtunterricht der Oberstufe (neui, den Bau unseres
Hauses und unserer Wohnung, Sellerhausen vor 100 und vor 1000 Jahren als heimatkundliche
Frage, endlich Material und Werkzeug sowie ihre Bildungswerte betreffende Fragen. Die
Arbeiten sind aus dem Studium der wichtigsten Schriften über den Arbeitsschulgedanken und
über die Entwicklung des Kindes sowie vielfachen Erfahrungen der Praxis hervorgegangen;
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Literaturbericht
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überall zeigt sich eifriges Bemühen um neue Wege, ernsthaftes Suchen nach Umbildung der
vorhandenen Unterrichtsformen und -Verhältnisse in bessere im Sinne des Arbeitsschulgedankens,
sieht ein biofies Schmieden schöner Pläne, um sie beziehungslos dem Vorhandenen gegenüber-
zusteliea. — „Die neue Schule muß aus der alten organisch hervor wachsen. 4 * Die neue Schule
ist aber diejenige, welche von der natürlichen Entwicklung des Kindes ausgeht und in eigen-
tätiger Schülerarbeit alle Kräfte im Kinde entwickelt, in welcher der Geist der werktätigen
Arbeit und der Menschenliebe lebt und in der das Leben der Gegenwart und der Heimat pulsiert.
Zwei Leitgedanken erscheinen besonders betont als für die in dem Buch vertretene Auffassung
charakteristisch, der eine ausdrücklich, der andere mehr tatsächlich durch die Art der Stoff-
•aswahl: 1. Die Entwicklung des Kindes soll für alle Erziehung Gesetz und Regel geben, sie
soll sich in jeder Phase so vollkommen als möglich darsteüen; 2. Die Einstellung des Kindes
im Volksschalalter gehe besonders auf die äußere, technische Seile des uns umgebenden Lebens,
md deshalb sei eine so (d. h. technisch) orientierte, großaugelegte Heimat- und Kulturkunde
als konzentriertes Fach, gleichsam der einzig angemessene Stoffplan für die Arbeitsschule, die
auf Grund dieses „Konzentrationsfaches 14 auf allen Stufen ihre Arbeit als Gesamtunterricht (im
Sinne der alle Aufgaben und Betätigungen verwebenden Unterrichtsgestaltung, nicht in einer
anderen Bedeutung!) durchzuführen habe. Der erste Leitgedanke verführte wenig zu Einseitig¬
keiten, soweit ich sehen konnte, da Entwicklung auch von der Umgebung abhängig gedacht
wiid. Um so mehr der zweite: der Technizismus tritt in den vermi leiten Vorstellungsinhalten
and angewandten Betätigungsformen allzu stark hervor. Das Wertvolle darin sei durchaus nicht
verkannt; aber e-i gibt doch auch noch andere Schichten und Bezirke in unserem Leben, denen
die Kinder Verständnis und Teilnahme entgegenbringen und die auch unter das Ideal des
schaffenden Menschen fallen Für eine kommende Auflage möohte ich empfehlen, die psycho¬
logischen Ausführungen einer erneuten Nachprüfung zu unterziehen, die Literatur sorgfältiger an-
»führen, die einzelnen Abschnitte klarer und straffer zu gliedern, so daß sie durchsichtiger, im
Fortschreiten des Gedankens eindrucksvoller werden; dann lassen sich die Wiederholungen, auch
innerhalb der einzelnen Abschnitte, leichter vermeiden. Diese Mängel sind zum Teil in dem
gegenwärtigen Stand der Behandlung solcher Fragen begründet; wir haben noch keinen Besitz
von festen Formen für die Darstellung der Fragen der Arbeitsschuldidaktik, und in die Grund¬
formen der herkömmlichen Didaktik passen diese neuen Gedanken und Versuche nicht ohne
weiteres hinein. Über die einzelnen Darlegungen kann hier nicht eingehender berichtet werden.
Besonders hingewiesen sei auf den Bericht über die Leipziger Versuchsklassen. Die grund¬
legenden Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen) werden erst im letzten Vierteljahr mehr
systematisch in Angriff genommen, trotzdem wurde am Eude der drei unteren Schuljahre das
ftbliche Unterrichtsziel erreicht, ln diesem Zusammenhang möchte ich einen in einer solchen
äehrift scheinbar sehr auffallenden und merkwürdigen Satz anführen (er ist von mir gesperrt,
tan ich bin der gleichen Meinung): „... das Kind kann . .. mehr Stoff verarbeiten, al
ihm die gegenwärtige Volksschule bietet, nur muß er ihm gemäß ausgewählt sein und
B der rechten Weise von ihm verarbeitet werden können 44 (S. 73). — Das Besondere und
Wertvolle der Schrift liegt darin, daß hinter den Ausführungen jeweils der Wille und die Er-
ktarang des praktischen Versuches steht; man kann nur wünschen, daß sich recht viel Fähige
Baden, die in dem gleichen Geist der Umsicht, der Besonnenheit und der Tatkraft neue Wege
der Unterrichtsgestaltung versuchen und über ihre Absichten uni Erfahrungen berichten.
Tübingen. Gustav Deuchler.
0. Erler, Bilder aus d. Praxis d. Arbeitsschule. Lpzg. 1921. Klinkhardt. 124 S. 16,75 M.
Der Verfasser, Mitarbeiter an der von der methodischen Abteilung des Leipziger Lehrer-
voreins heraasgegebenen Schrift „Die Arbeitsschule 44 , gibt uns durch seine „Bilder 44 einen
schönen Einblick in seine eigne praktische Ausgestaltung des Arbeitsschulgedankens. Er gibt
aber nicht bloß „Bilder 4 *, sondern auch grundsätzliche Betrachtungen über die innere und äußere
Organisation der Arbeitsschale, wobei er seine Grundanschauungen von dem inneren Wesen
and der äußeren Ausstattung der Arbeitsschule darlegt, ln seinem Bild von der Arbeitsschule
hat er den Werk-, Ausdrucks-, Darstellung^- und Selbsttätigkeitsgedanken als ein Ineinander
ton körperlicher und geistiger Arbeit innig verwoben und unter den Leitgedanken der
Kalturarbeit gestellt. Der Arbeitsgedanke ist ihm also nicht bloß ein methodischer und
organisatorischer Gesichtspunkt, sondern auch ein inhaltlicher, das Wertbewußtsein erfüllender.
Damit ist aber zugleich die Gefahr heraufbeschworen, daß das Kind zwar „zu einem tätigen
Glied der Kulturgemeinschaft erzogen 44 , aber nicht „der Mensch in ihm entwickelt 44 wird, und
dieser Gefahr ist Erler, wie ich glaube, nicht ganz entronnen. Eine zweite kommt hinzu. Der
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Literatur bericht
V erfasser (aßt den Begriff der Kulturarbeit zu eng. Er sieht in ihr doch im wesentlichen oder
wenigstens vorwiegend die technischen Einrichtungen des heutigen Lebens, und das macht sich
dann auch in den Einzelbildern (S. 21 ff.) und insbesondere bei dem Arbeitsplan für die Ober¬
stufe (S. 16—21) geltend; diesen kann man vielleicht am besten als „Lebensbilder unserer
technischen Arbeit (i. w. S.) und Einrichtungen“ bezeichnen: Die Arbeit an und im Hause
(5. Schul].); die A. im Garten und auf dem Feld (6. Schul].); die A. im Handel und Verkehr
(7. Schul].); die A. in Industrie und Bergbau sowie in der Verwaltung von Reich, Staat und
Gemeinde. Zweifellos kommt darin die geistig-geschichtliche Welt an Umfang, Gewicht und
Eigenart zu kurz, in der Gesamteinstellung wie auch in den Einzelausführungen. Daß die
Schüler des Verfassers diesem Arbeitsplan Verständnis und Interesse entgegengebracht haben,
darf auch, abgesehen von der anregenden Kraft des Lehrers, ohne weiteres angenommen
werden; denn diese soziale Schicht atmet die gleiche geistige Luft, die der Arbeitsplan aus¬
strömt. Soll aber das heranwachsende Geschlecht positiv mitarbeiten an der Gestaltung unseres
sozialen, politischen und geistigen Lebens, so scheint mir dies nicht möglich zu sein, ohne daß
ein Arbeitsplan verwirklicht wird, in dessen Aufbau der des Verfassers etwa die eine Hälfte
ausmacht, die andere Hälfte der geistigen und geschichtlichen Welt entstammt; denn Mitarbeit
am Ganzen setzt ein diesem Ganzen entsprechendes Wertgefüge im einzelnen voraus und den
Grund dazu bat die Schule zu legen. Das ist der wichtigste Einwand, den ich zu machen
habe. Die Grundgedanken der Arbeitsschule dürften bei einer zweiten Auflage in schärferer
Gliederung dargelegt werden. Die Abbildungsart S. 13 ist nicht recht verständlich. Ob die
vorgelegte Art, an Gesamtbildern zu arbeiten, bei der die eigentätige Erarbeitung der exakten
Begriffe und Gesetze in den Hintergrund tritt, diese vielmehr immer bloß auftreten und entwickelt
werden, wenn es das Verständnis des Gesamtbildes verlangt, für die wissenschaftliche Er¬
ziehung der Unterstufe der Studienschule in Betracht kommen kann, erscheint mir fraglich.
Aber das nur nebenbei; der Verfasser ist wohl selbst nicht der Meinung. Die Art, wie alle
Arbeite- und Erlebnisgebiete im Unterricht in das Ganze des Planes hinein verwoben wird, zeugt
von großer unterrichtlicher Gestaltungskraft. Ich möchte deshalb dem Buch recht viele wünschen,
die in und nach ihm eigentätig gestaltend zu arbeiten verstehen; denn es ist für die Praxis
geschrieben. Aber solche Schriften, die die wirkliche Arbeit an der Praxis der Arbeits¬
schule darstellen, sind auch für die Theorie derselben von nicht zu unterschätzendem Wert,
weil doch nur an ihnen die Grundsätze und Grundanschauungen in kritischer Analyse zur
Klarheit herausgearbeitet werden können.
Tübingen. Gustav Deuchler.
Mitteilungen.
1. Der Chemnitzer Erziehungsbogen ist dank der ideellen und finanziellen Unterstützung
des städtischen Schulamtes und der Berufsberatungsstelle der Stadt Chemnitz vollständig um¬
gearbeitet worden und in neuer Form erschienen. Die wesentlichste Neuerung besteht darin, daß alle
Fragen, Beobachtungshinweise usw. aus dem Bogen herausgenommen und in einer gesonderten
„Anleitung zu planvoller psychologischer Beobachtung“ zuaammengefaßt worden sind. Der
neue Bogen enthält nur ein Schema von 11 Hauptgruppen, in da6 nach Belieben ausführliche
oder kurze Beobachtungsergebnisse eingetragen werden können. Auf Anregung der Chemnitzer
Berufsberatungsstelle wurden Fragen und Beobachtungahinweise anfgenommen, die sich auf die
Berufsberatung beziehen. Die Berufsberatungsstelle hofft durch dieses Zusammenarbeiten mit
der Schule wertvolle Aufschlüsse über die Berufseignung der Jugend zu erhalten. In der Er¬
kenntnis des erzieherischen Wertes des psychologischen Beobachtungsbogens hat das Schulamt
die Einführung zunächst in den beiden oberen Klassen der Chemnitzer Volksschulen empfohlen.
Der Bogen kann zum Gesamtpreise von 1,50 M. (firziehungsbogen 0,60 M., Anleitung dazu 0,00 M.)
ausschließlich Porto durch Herrn R. Mütze, Chemnitz, Kurfiirstenstr. 17, 111, Gemeindegiro
Chemnitz C 210, geliefert werden.
2. Der Frankfurter Beobachtungsbogen von Eckhardt und Schüßler nebst Anleitungs¬
heft ist in 2, Auflage bei Julius Beltz, Langensalza, erschienen.
3. Zur Psychologie der proletarischen Jugendbewegung (vgl. die Aufsätze von
C. Bondy und W. Stern im letzten Heft, Bd. 22, S. 36911.). Die dort angekündigte Veröffent¬
lichung des Buches von Curt Bondy über „Die proletarische Jugendbewegung“ erscheint dem¬
nächst im Freideutscben Verlag von Saal, Lauenburg a. d. Elbe.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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i ER undH-GAUDIG :
jumsjta
D ie Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle
Pädagogik (Verlag
jährlidiin 12 Heften zum 3
und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen. Briefe und Manu¬
skripte sind an den geschäftsführenden Schriftleiter Seminar-Oberlehrer
O. Scheibner, L.-Gohlis, Ehrensteinstraße 34, zu richten. Be¬
sprechungs-Büchersendungen und dergl. an die Verlagsbuchhandlung
QUELLE *<D MEyER, Leipzig, Kreuzstraße 14
QUELLE <£> MEyER) erscheint
von 24. — M. für das I. Halbjahr 1922
VERLAGSBUCHHANDLUNG BLEYL « KAEMMERER IN ORESDEN-BLASEWITZ
Postscheckkonto Leipzig 25030 — . .. .
ZILLERS BOTSCHAFT
vom erziehenden Unterricht
Von Professor Dr. KARL JUST
VIII und 101 Seiten / Preis bei portofreier Zusendung Mark 9,35
AUS DEM INHALT:
1 Das Ziel des erziehende» Unterrichtes ! Kap, U Der interessante und der Interesse ertrec&tnde
c Die Erztehurjgsschulen Stätten allgemeiner j Unterricht
Menschenbjtdujig „ 12 Der nutzbringende Unterricht
I Der Mittelpunkt des erziehenden Unterrichts 11 PersönUrhkeJtshildung
I Der Stützpunkt des Erziehers „ H Die Konzentration des Unterrichts u. die Kultur»
» Der Unterricht die stärkste uädagogJsthe Kraft stufen
i Der besondere Zweck des Unierrkhfs, „ 15 Der Ausgangspunkt des erziehenden Umerridits
r Das Interesse als Übergang vom Wissen zvim „ 16 Die Schonung der Eigenart des Kindes
Wollen „ V Das Lehrv erfahren
i Die l lauptridimngen des erziehenden Unterrichts „ 1^ Die Persönlichkeit des Lehrers
f Der frohe Unterricht Familie und Schule
1 Der freie Unterricht ,. 20 Kern- und Leitwortc Zillcrs
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
iiiuiuiuiiiiiMuiinuiHiMuiiiHiintiiiuiiiiHiiiii'HirMMinMHiiiiuiuiHiiruiiiViiiinHinVt'nrMVHiiiMiniiMHiiiiiHuiuiiTiiiiiffnt
PROFESSOR DR. A. FISCHER
(Ergiefpwg aU 33eruf
54 Setten ©efyejtet *271. 5
©d>arff{nn»ge Qluöftibrungen über t>aß 2Brfm Jc&er CPrjfehung, (ßre
Aufgaben un£> tßre 3fcfe. Cinc ^öeruf^fojiologtc brö S’rfjrcrftont'cö.
Grundsätzliches über die Volkshochschulfrage.
(Bericht und Gedanken über die neunte staatliche Volkshochschultagung vom August 1921
in Weilburg.)
Von F. E. Otto Schultze.
Vom 1. bis 12. August fand in Weilburg eine Tagung statt, zu der die
Abteilung UV des preußischen Ministeriums der Wissenschaft, Kunst und
Volksbildung eingeladen batte. Diese Zusammenkunft sollte den Teilnehmern
Gelegenheit geben, „in gemeinsamer Arbeit den Volkshochschulgedanken zu
klären und zu vertiefen“. Sie führte von den verschiedensten Seiten her
zur Erörterung des Volkshochschulproblems. Besonders oft wurden grund¬
sätzliche Fragen besprochen. Eine etwas tiefer schürfende Betrachtung wird
uns unvermerkt zu dem allgemeinen und grundsätzlich wichtigen Problem
der Bildung und Erziehung der Erwachsenen führen. Aus solchen
Gründen ist ein eingehender Bericht und sind Reflexionen zu einer Ver¬
öffentlichung an dieser Stelle berechtigt.
Zunächst sei einiges Wenige über den charakteristischen äußeren Rahmen
der Verhandlungen gesagt, dann sollen die theoretischen Grundfragen er¬
örtert werden.
Ea waren etwa 40 Männer und Frauen erschienen: die Ministerialreferenten von UV, Ver¬
baler des Provinzialkollegiums und der verschiedenen Schularten, sowohl von Universitäten,
als auch von Ober-, Mittel- und Volksschulen, ferner Leiter von Volkshochschulen und Mit¬
arbeiter von Volksbildung8einricbtungen, so auch von der Arbeiterakademie in Frankfurt, einige
Pfarrer usw. Der größere Teil der Anwesenden hatte praktische Erfahrung auf dem Gebiete
des Volkshochscbulwesens, einige suchten erst Berührung damit zu bekommen. — Die Tagung
War in folgender Weise organisiert: Die Regierung hatte die Teilnehmer eingeladen und er¬
leichterte ihnen ihre Unkosten durch Übernahme des Fahrpreises der Eisenbahn, sowie durch
Gewährung des Tagegeldes von 20 M. Vorträge fanden mit einer Ausnahme nur vormittags
statt: ihre Dauer betrug 1 —1 */» Stunden. Es folgte eine kurze Frühstückspause und dann
linden die Diskussionen statt, die meist 27s-3 Stunden währten. Die Gesamtdauer der Tagung
war gut ausreichend; eine längere Ausdehnung oder eine wesentliche Abkürzung hätte niemand
gewünscht.
Die Vorträge betrafen die Probleme der Volksbildung (Picht), die Grundtypen der Volks-
bildungsarbeit (von Erdberg)/ die staatliche Volkshochschule (Heller), das Volksbochschul-
beim (Kocht, die Methode des Volkshochschulunterrichls (Wegener: die philosophische Me¬
thode; Heller: Pädagogik der Arbeitsgemeinschaft). Die Organisationsfrag^n wurden von
Picht, das Verhältnis von Volksschule und Weltanschauung von Antz behandelt. Eine Be¬
schreibung von Einzelkursen erfolgte durch Bluntschli (am Beispiel des Knochengewebes) und
dnich Ehrenberg (an Kunstformen).
Kurze und gelegentliche Berichte aus der Praxis der Volkshochschulen gab Bräuning-
OVtavio, er schilderte die University tutorial classes; Pfarrer Ritter erzählte von seinen Er¬
fahrungen an einer Bauernhochschule, die er fünf Monate lang mit 20 Jungen Bauern abge-
halten hatte. Weidenfeller berichtete von Erfahrungen aus Griesheim, Bryk von Höchst und
Haas von Wiesbaden. Picht konnte wiederholt sehr wertvolle Einzeltatsacben aus verschiedenen
Teilen Preußens wiedergeben, von denen er infolge seiner Stellung als Ministerialreferent
gebürt hatte.
Es ist unmöglich, ein eingehendes Referat über all das zu geben, was in
Ä Stunden an Vorträgen und Diskussionen gesagt wurde. Es ist zu hoffen,
Trftashrif! f. pftdagog. Psychologie. 6
i
* IC: l> :
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Google
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
F. E. Otto Schultze
82
daß mancher Vortrag veröffentlicht wird. Ich werde deshalb hier in der
Hauptsache nur die Ergebnisse in einer sachlich bedingten Reihenfolge in
meiner persönlichen Auffassung zu entwickeln versuchen. Wo die Meinungen
ernstlich auseinander gingen, werde ich es berichten.
Die theoretischen Fragen drängten sich unbedingt und immer wieder von
selbst in den Vordergrund. Dies lag zum Teil an der Sache und ihrer
großen Bedeutung, denn sie greift in die tiefsten Voraussetzungen unserer
Kultur hinein; zum Teil lag es an der Eigenart der Vortrags- und Debatte-
redner, zum Teil an der deutschen Neigung, in Theorie zu zerfallen. Leider
fehlte oft das Gegengewicht der Praktiker, die unnötig und zu unrecht stark
zurückhielten. (Dabei hörte ich oft die Bemerkungen „Wann kommt etwas
Praktisches? Wir wollen wissen, wie es gemacht weiden soll“.) Es wäre
zumal für die weitere Ausgestaltung der Volkshochschulen sehr vorteilhaft
gewesen, wenn die Diskussion über den sehr anregenden Vortrag von Picht
über Organisation der Volkshochschulen auf zwei Tage ausgedehnt worden
wäre und wenn man in der Debatte die Einzelfragen getrennt und der
Reihe nach behandelt hätte.
Um ein. richtiges Bild von der Tagung zu geben, muß hervorgehoben
werden, daß sie eine wirkliche Arbeitsgemeinschaft war. Die Vorträge waren
durchweg ernst durchdacht; die Diskussion bewegte sich mit ganz seltenen
Entgleisungen auf der Höhe grundsätzlicher Auseinandersetzungen und blieb
es auch — trotz mancher parteipolitischer Gegensätze. Die Sache erfordert
es, auf ein wenig erfreuliches Symptom hinzuweisen: wiederholt verstanden
die Redner einander überhaupt nicht oder mißverstanden sich sogar recht
gründlich. Zum Teil ging dies aus philosophischer oder parteipolitischer
Einstellung hervor, zum Teil aber aus ungenügender Kenntnis der philo¬
sophischen und besonders der pädagogischen Voraussetzungen. Es zeigte
sich der Tiefstand unserer theoretischen Pädagogik recht deutlich auch hier,
manchmal in recht beklagenswerter Weise. Wäre dieser besser imstande,
so hätten sich wohl auch Gegensätze überbrücken lassen, die infolge des
Mangels einer breiten theoretischen Grundlage als Klüfte bestehen blieben.
Was die geistige Einstellung der Mitglieder der Tagung betrifft, so mußte
in unserer intellektualistischen Periode angenehm und erfreulich befremdend
wirken, daß der Begriff der Lebenswahrheit eine starke Rolle spielte
und oft durch die Reden hindurchklang. Wegen er bezeichnete als sein
Ziel der Volkshochschule das: „Ich will der Geburtshelfer des werterfüllten,
gehaltvollen Menschen sein.“ Koch. forderte „Freiheit von der Tyrannei
des Zwecks, von Büchern und Buchstaben!“ und positiv gewandt „Lebens¬
wahrheit, Lebensoffenbarung, Lebenstheorie, Lebensführung!“ Bluntschli
gebrauchte wiederholt die Wendung von dem Leben, das in seinem Flusse
Ausgang und Ziel der Erziehung sei. Worte wie die: „Wille, Ahnung und
Charakter müssen bei aller Volkshochschularbeit mitschwingen.“ Oder
„Toleranz und Brüderlichkeit sind die Grundforderung des Volkshochschiil-
betriebes“ — wurden oft gehört
Dementsprechend mußte es zu offener Wendung gegen den Intellektualis¬
mus kommen, der im Grund in der Praxis allzuoft eine Einstellung auf
Besser-, Genauer- und Nochbesserwissen ist. Mancher wollte von der
Theorie um ihrer selbst willen nichts wissen und fragte: „Hat sie denn wirklich
Selbstwert?“ Heller sagte: „Es braucht kein Mensch Erkenntnistheorie“;
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Original from
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Grundsätzliches Über die Volkshochschulfrage
83
Ehren bergr „Die Philosophie gehört nicht an die Volkshochschule.* Suhr
zitierte den Ausspruch eines Studenten vom letzten Erlanger Studententag:
„Wir wollen keine Wissenschaft.* Gegen die Universitäten und Universitäts¬
lehrer wurde manche Stimme laut, auch von seiten von Universitätsvertretern.
Der Fähigkeit der Universitätslehrer wurde kein großes Loh gespendet Der
Skeptizismus gegen die Wissenschaft ging so weit, daß man vereinzelt eine
wissenschaftliche Untersuchung im Bereich der Werte für überhaupt un¬
möglich hielt.
Ziel und Aufgabe der Volkshochschule.
Das Ziel der Volkshochschule war das am meisten umstrittene Thema.
Zu einer vollen und allseitigen Klärung ist man nicht gekommen. Daß es
sich nicht um einen neuen Facbhocbschultypus handeln kann, bedurfte
keiner Erklärung. Fachhochschulen setzen die Reifeprüfung der Oberschulen
voraus; für sie genügt nicht die natürliche Altersreife der Besucher, ein
Moment, dessen Bedeutung der Fernstehende kaum kennt und stark unter¬
schätzt, das aber von den Praktikern genügend erkannt und auch hier an¬
erkannt würden ist.
Als erste Forderung ist die zu stellen: die Volkshodhschule muß vollwertig
sein, ein neues, ein bestimmtes „Niveau* in Stoff und Methode haben I Der
bloße Unterbaltungsvortrag schafft noch keine Volkshochschule, noch weniger
heißt es im Gegensatz zu einigen Bestrebungen freideutsch-jugendlichen
Ursprungs: „Oberall wo getanzt wird, ist Volkshochschule.* Unbedingt muß
die Volkshochschule eine Stätte ernster geistiger Arbeit sein. Schon darum
ist die Arbeitsgemeinschaft der wesentliche Typus des Unterrichtes. Den
Gedanken, daß man wegen des Hocbschulcharakters eine ganze Anzahl
Lehrstoffe, wie Kleintierzucht, den guten Ton in allen Lebenslagen und
andere nützliche und unterhaltsame Dinge nicht hochschulmäßig behandeln
könnte, möchte ich (z. B. in bekannter Anlehnung an Plato) nicht a priori
verwerfen; wohl aber sind derartige Stoffe aus praktischen Rücksichten von
der Volkshochschule zu verbannen und dem allgemeinen Volksbildungs¬
wesen, also den einfachen Belehrungsvorträgen zuzuweisen. Daß Steno¬
graphie, Rechtschreibung, Kopfrechnen, Maschinenschreiben und ähnliche
Fächer Aufgaben der Volksbildung sind, wird niemand bestreiten; noch
weniger ist zu leugnen, daß immer und immer wieder Kurse über solche
Stoffe verlangt werden; aber Hochschulaufgaben sind sie natürlich nicht, ln
diesem Sinne wurden auch die Kurse einer ländlichen Volkshochschule als
nicht hochschulmäßig zurückgewiesen, denn sie waren im Grunde nichts
als Modifikationen von lanowirtscfaaftlichen Winterschulkursen. Darüber,
daß sie als volksaufklärend sehr fruchtbar sein könnten und würden, waren
natürlich alle einig.
Es kommt wie bei jedem Unterricht, so auch beim üblichen Hochschul-
und beim Volksbocbschulunterricht in formaler Hinsicht darauf an, die
geistigen Kräfte der Beobachtung, des Urteils und der Kritik zu wecken
und zu stärken, damit die Besucher sich der kritischen Selbständigkeit des
Denkens annähern. In materieller Hinsicht aber müssen diejenigen Kennt¬
nisse und Eikenntnisse vermittelt werden, die unser Leben befruchten und
auf eine höhere Stufe entwickeln können. Die Stoffbehandlung muß ihren
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
84
F. £. Otto Schultz«
Schwerpunkt in der Durchknetung in der Arbeitsgemeinschaft suchen. Wurden
diese Forderungen allgemein zugestanden, so kam es andererseits zu Dis¬
kussionen Ober die Art der Stoffbietung.
A. Die Unterrichtsmethoden.
a) Die fachliche, gedankliche Entwicklung des Lehrstoffes.
Der Vortrag von Wegener Aber die philosophische Methode gab den
Hauptanlaß, Aber dieses Thema zu diskutieren; Hellers Vortrag Aber die
Taktik und Pädagogik der Volkshochschule und Bluntschlis Demonstrationen
gaben weiteres Material. Leider kam man daraus nicht zur allgemeinen
Klarheit, daß drei Wege der Stoffbehandlung grundsätzlich geschieden werden
mAssen.
Wenn ich einen Stoff schulmäßig entwickele, so wende ich mich an den
Verstand. Ich baue ihn auf, teils rein darstellend (Vortrag), teils t maeutisch)
fragend (Lehrgespräch). Was hierAber von Herbart in seiner Lehre von
den Formalstufen entwickelt worden ist, ist nicht stets glAcklich gesagt.
Jedenfalls ist es von seinen Nachfolgern vielfach ganz schulmeisterlich in die
Breite getreten worden. Wer den Sinn solcher Lehren nicht verstanden hat,
schimpft Aber sie als etwas ganz Unnötiges und Wertloses. Der geborene
Lehrer und Schulmeister im guten Sinne beherrscht und wendet aber die
Formalstufen an, ohne Aberhaupt von ihnen gehört zu haben und ohne daß
der SchAler es irgendwie störend merkte. Im Gegenteil empfindet dieser sie
als Grundlage der Klarheit und Einfachheit. Deshalb sind die großen Forscher
fast ausnahmslos gute Universitätslehrer, denn in ihren Vorlesungen tritt von
selbst klar zutage, wie die Gedanken der Forschung sich aus ihren Voraus¬
setzungen zwingend und Aberzeugend ergeben. Als Forscher sind diese
Leute gewohnt, neue Ergebnisse systematisch herauszuarbeiten, d. i. induktiv
zu finden; was sie fAr sich tun, bringen sie vor dem Hörer ganz von selbst
zur Anwendung. Ist nun ein Lehrer nicht hochschulmäßig erzogen, sondern
nach der Methode der Lernschule gebildet, so hat er unendliche Schwierig¬
keiten mit der Stoffdarstellung und Entwickelung. Die Methoden Herbarts
sind dann in ihm nicht vorbereitet, er kann sie nicht anwenden, sofern er
nicht innerlich zum freien schöpferischen Geist veranlagt ist.
Wenn auch die Grundforderungen der Stoffentwickelung einfach und durch¬
sichtig sind, so ist doch die Anzahl der Möglichkeiten, in denen man seinen
Unterricht ausbauen kann, sehr groß, ja unerschöpflich. Der eine wird mehr
anschaulich, der andere mehr abstrakt, dieser mehr induktiv, jener mehr
deduktiv Vorgehen. Man darf nun deshalb, weil der Forscher am besten
Aber die Wege der Wahrheit Bescheid weiß, noch nicht meinen, daß er auch
den Ungebildeten am geschicktesten zu seinen Zielen zu fAhren versteht.
Es wäre weit verfehlt, wollte man behaupten, daß alle großen Lehrer und
Forscher und die ersten Philosophen der Universitäten auch am besten zu
Lehrern an Volkshochschulen geeignet sind, oder daß sie zu Lehrern an den
Seminarschulen passen, die man frAher oder später zur Ausbildung von
Volkshochschullehrern wird errichten mAssen. Diesen zuletzt genannten Ge¬
danken vertrat Wegener; Heller und Hemerlink traten ihm sehr lebhaft
entgegen. — Bei allen diesen Fragen mAssen naturgemäß neben den logisch
methodologischen Gesichtspunkten der Unterrichtsgestaltung auch die psycho-
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Grundsätzliches Aber die Volkahochschalfrege
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logischen berücksichtigt werden. Das ist natürlich eine Binsenwahrheit, und
doch traten, wie so oft, auch auf der Weilburger Tagung uralte Forderungen
auf den Plan, die den Anspruch erhoben, neue Gedanken zu sein. So wurde
z. B. als etwas besonderes gefordert, daß man von der „Anschauung* aus¬
gehen müsse. Andere Gedanken wirkten dagegen anregend, so z. B., daß
das Großstadtasphalt unterrichtlich für die Entwickelung von Werten betrüblich
wenig Material gibt, daß es vor allem für die Grundlage einer Heimatkultur
nichts bietet. Bluntschli wies ferner sehr anschaulich auf die Forderung
hin, zun&chst singulär zu denken und nicht sogleich zu typisieren, d. h.
nicht allzu früh zu verallgemeinern. Der Sinn für Einzelheiten muß sowohl
für Beobachtung als auch in der gedanklichen Ausbeutung kräftig entwickelt
werden; das physiologische oder funktionelle Denken darf gegenüber dem
reinen anatomischen und auf die Form allein achtenden nicht" zurücktreten,
oder mit anderen Worten: der Sinn für die Mannigfaltigkeit und deren Wert
•und das Verständnis für Funktionen, für den Zusammenhang zwischen Ge¬
stalt, Zweck und Leistung müssen erst geweckt und geschult werden.
b) Die Methode der Einfühlung und Wertfindung.
Auf dem Wege zu den Dingen, den wir mit unseren Sinnen und mit
unserem Denken zurücklegen, können wir mitunter stehen bleiben und uns
dem Eindruck unseres Gegenstandes unmittelbar und gedankenfrei hingeben.
Dann kann es — vorausgesetzt, daß wir dazu fähig sind, oder daß der
Gegenstand dazu geeignet ist — geschehen, daß sich eigentümliche Erlebnisse
zwischen die Akte unseres Schauens und Denkens einschieben, die dem
bloßen Verstand durchaus fremd sind. Wir spüren dann etwas von dem
Hauch und der Eigenart unseres Gegenstandes, von seiner inneren Größe
und seinem Werte. Dieses gefühlsmäßige Erleben ist es, das hervorzuheben
uns nunmehr am Herzen liegt. Schopenhauer bat sehr schön gesagt: man
muß vor einem Kunstwerk stehen, wie vor einem König und warten, bis es
einen anspricht.
Die Erfüllung dieser weisen Forderung führt uns tausendmal schneller als
alle geschichtliche Betrachtung ins Innere der Dinge. Wie vor Kunstwerken
müssen wir aber auch vor den Gebilden der Natur und den Erscheinungen
des Lebens und Alltags stehen zu bleiben vermögen; dann beginnt das Gemüt
zu sprechen und den Wert der Dinge vor uns zu enthüllen. Eine gleiche
Wirkung vermag die so wenig Menschen verliehene Kunst des Erzählens und
die Gewalt der zündenden Rede in uns auszulösen. Nur diese Weise der
Stellungnahme zum Gegenstand läßt dem Betrachter und Hörer dessen Wert
gefühlsmäßig klar, ja oft übeihaupt erst bewußt werden. Um solche Gefühle
zu wecken, ist es z. B. im Kunstunlerricht nötig, das Gefühl durch besondere
Darbietungen erst zu wecken. Im Volksbildungsbetrieb werden Massen¬
wirkungen in Form von Tbeateraufführungen, Konzerten und ähnlichen Ver¬
anstaltungen in diesem Sinne besonders zweckmäßig sein, denn es ist zweifellos,
daß man als Glied einer Masse (es ist an den Begriff der Massenpsychologie
zu erinnern) leichter hineingerissen wird, denn als einzelner. Es ist gut, daß
man dabei den Kopf in gewissem Sinn verliert, denn man fühlt dafür wärmer
und stärker und kommt zu einem Wertgenuß des GeLotenen (von Erdberg).
Heißt es so, sein Herz der Kunst und dem Schönen widmen, so ist damit
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F. E. Otto Schultze
etwas gesagt, das scheinbar mit dem Unterricht oder dem Studium nichts zu
tun hat Und doch ist es der Fall. Was will denn die akademische Freiheit?
Weshalb ist sie uns trotz aller ihrer Mißbräuche so unendlich viel wert?
Weil sie am ehesten den Weg zur Sache öffnet und zwar dadurch, daß wir
uns frei und ungehemmt mit ihr beschäftigen und auseinandersetzen können.
Derb gesagt: man muß sich einmal tüchtig in das Gras hinein knien und
fressen können, wie es einem gerade behagtl Dadurch bekommt man über¬
haupt erst den Geschmack an der Wissenschaft, Freude an der wissen¬
schaftlichen ArbeitI Psychologisch gesprochen heißt das: die Reize, die in
der wissenschaftlichen Arbeit liegen und den Gegenstand der meisten Wissen¬
schaften bilden, sind für den Anfänger so fremd und darum so schwach,
daß sie oft erst durch eine recht häufige Wiederkehr, also mit einer langen
Latenzzeit und durch starke Summation zur Wirksamkeit gelangen; dann aber
sind sie groß, großartig und bedeutend.
Vom gleichen Gesichtspunkt aus sind noch andere Momente in der Volks¬
hochschule von der allergrößten Bedeutung. Bs sind die Unterschiede des
Standes, der Welt- und Parteiauffassung zwischen Lehrern und Hörern. Jeder
nur ganz flüchtige Kenner des Volkshochschulwesens weiß, wie schwer es
ist, selbst auf wissenschaftlichem Gebiete Arbeiter und Bürger zusammen
zu bringen. Der Arbeiter sagt ganz einfach zum Bürgerlichen: „Ihr steht
auf einem anderen wirtschaftlichen Boden und seht und erlebt die Dinge
anders als wir. Was für Euch gilt, gilt nicht für uns.* 4 Persönliche Kälte
und schulmeisterliche Art können dabei nicht minder schaden. Auch nur
eine Andeutung eines Überlegenheitsgefühls seitens des Lehrers schadet seiner
Sache ungeheuer. In dieser Hinsicht sind die Hörer oft hochgradig empfindlich.
„Der sieht einen als dumm an“, „der denkt, man ist ein ganz ungebildeter
Mensch a usw., sind Redewendungen, die man gelegentlich im Anschluß an
die Volkshochschulvorlesungen über den Dozenten hören kann. Dieser Ge¬
fahr gegenüber wurde von verschiedenen Seiten auf das energischste betont,
der Lehrer müsse sich so einstellen, daß er vom Hörer ebensoviel empfange,
als dieser ihm biete. Dazu — das bekenne ich offen — bin ich in den
wenigsten Fällen in der Lage, obschon ich weiß, daß mir mancher Hörer
in seiner menschlichen Anlage überlegen ist. Es wäre auch traurig, wenn
die Wissenschaft so leicht zu ergänzen und zu kritisieren wäre, daß man als
Forscher von jedem Volkshochschulbesucher in seinem Fach ohne weiteres
lernen könnte. Dies geht sicher nur in einigen außerwissenschaftlichen
Dingen; so in der Politik, wo wir alle, selbst die Geschichtsprofessoren so
sehr im Dunkeln tappen und oft von Vorurteilen befangen sind, daß wir von
einem klar blickenden Gliede der ungebildeten oder halbgebildeten Volks¬
schicht manches, sogar grundlegendes lernen können. Wenn ich als Dozent
Anregungen für mein Fach empfangen kann, so werde ich sie dankbar an¬
nehmen. Allein, wenn z. B. wie Bräuning-Octavio berichtet, im Jahre 1907
ein Arbeiter in Oxford bei einer Sitzung von Universitätsvertretern und
der Arbeiterschaft erklärte: „die Arbeiterschaft kann Oxford mehr geben, als
Oxford der Arbeiterschaft“, so ist diese Äußerung nichts als eine Verblendung
des Arbeiters. Geld und politische Macht sind an dieser Stelle nicht ent¬
scheidend, sondern geistige Güter, und die sind bei dem Arbeiter als Fertig¬
ware überhaupt nicht da. Was da ist, sind Seelen, die befruchtet werden
können, und zwar viel mehr erstaunlich fruchtbare und empfänglichere Seelen,
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Grundsätzliches über die Volksboch6cbulfrage
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als mancher Hochschulprofessor glaubt. In gleicher Weise muß man auch
versuchen, die Hemmung der Standesvorurteile zu zerstören, indem man,
zumal den Bauern und Arbeitern gegenüber, den gemeinsamen Standpunkt
reiner Menschlichkeit geltend macht. Man muß in seinen Darlegungen auf
die einfachsten Grundgedanken zurückgehen und dem Volkshochschulbesucher
in der schlichtesten Weise zeigen, daß im Lehrstoff etwas gegeben ist, was
ihn als Mensch genau so angeht wie alle anderen Menschen. Und zwar
muß er das nicht bloß dumpf ahnen, sondern gefühlsmäßig stark erleben.
Hierbei den richtigen Ton zu finden, ist nicht stets leicht und manchem so¬
gar nicht einmal gegeben; jedoch eine auf Gefühlswirkung zurück¬
gehende Atmosphäre der Offenheit, Warmherzigkeit und Ritter¬
lichkeit zu schaffen, ist zweifellos eine unbedingte .Forderung,
die der Volkshochschullehrer zu erfüllen hat. Sie ist nichts als eine
Selbstverständlichkeit, denn sie ist ein allgemein menschliches Postulat, für
das man an anderer Stelle das Wort Liebe gebraucht. Ich gestehe, daß mir
dieses Wort in seiner Vieldeutigkeit und Abgebraucbtheit in der wissenschaft¬
lichen Rede unangenehm ist und daß es im öffentlichen Verkehr wie eine
Indiskretion verletzt, wenn es jemand hemmungslos gebraucht; ein Ersatz dafür
fehlt aber. So kann ich denn nur noch auf nahestehende Begriffe wie
Brüderlichkeit, Toleranz, Solidarität usf. hinweisen. Das w r as an dieser Stelle
daran wichtig ist, ist die seelische Tatsache, daß bei Abstimmung des Verkehrs,
der Arbeit, des Unterrichtes auf Wärme und Liebe alles leichter und besser
geht als in der Frostigkeit innerer Ferne. Die Beziehungen von Mensch zu
Mensch werden schneller angeknüpft, man versteht schneller und besser, was
der andere will, und findet leichter Mittel und Wege der Verständigung und
des gemeinsamen Schaffens.
Noch eine dritte Quelle, die ein frohes und freudiges Fühlen hervorquellen
läßt, muß auch in der Volkshochschularbeit eröffnet werden, es ist die Sache
selbst in ihrem Arbeitswert.
Der Vorgang der Anteilnahme des Gemütes an der Einführung von Lehr¬
stoffen ist so wichtig, daß man, wenn man sich seine Ausbeutung zum Ziel
setzt, mit Fug und Recht von einer Unterrichts- bzw. Erziehungsmethode
reden kann. Sie ist so wichtig, daß sie ohne Zweifel nicht selten sogar die
Voraussetzung der zuerst betrachteten Methode der gedanklichen Stoff¬
entwicklung ist. Mit ihr wird gewissermaßen der fruchtbare Boden der Seele
überhaupt erst einmal aufgerissen und zur Aufnahme des Samens vorbereitet.
Daß man mit der Verwendung dieser Methode sparsam verfährt, ist selbst¬
verständlich; Begeisterung ist keine Alltagsware. 1 )
Naturgemäß kann man Gefühls^ und Verstandeswirkung nicht von¬
einander trennen; solche Loslösung ist angesichts der Organisation der Seele
unmöglich. Es geschieht an dieser Stelle nur in der Theorie, um die Prin¬
zipien des Unterrichtes und der Erziehung, zumal der Erwachsenen klar
herauszuheben. Wir würden den Sinn der akademischen Freiheit einseitig
beurteilen, wollten wir ihn nur in dem Verhältnis von Verstand und Gefühl
sehen; er liegt noch in manchem anderen, so in der Erwerbung der Methoden
des Denkens, wie sie sich aus der Natur des Studierenden heraus entwickeln.
*) Interessant war Kochs Bericht vom dänischen Volkshocbschulwrsen; er sagte, dafi dort
die Wirkung auf die Begeisterung viel stärker entwickelt sei als bei uns.
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F. E. Otto Schultze
Auch da muß jeder nach seiner Fagon selig werden. Weiter führte sie uns
zur wissenschaftlichen Geduld; wir lernen vorurteilslos abwarten, was bei
unserer Arbeit herauskommt. Das aber ist wesentlich, denn aus den scheinbar
nebensächlichsten Erscheinungen, ja aus Spielereien heraus — man denke
an die Anfänge der Lehre von der Elektrizität — können die größten Er¬
folge und Werte erwachsen. Diese Einstellung zu finden, kostet zweifellos
viele Jahre innerer Entwicklung. Weil sie aber zur inneren Einstellung der
Menschen zur Sache gehört, ist sie auch eine Teilaufgabe des Volkshoch¬
schulunterrichtes, der nur schulmäßig sein kann, wenn solche Imponderabilien
entwickelt werden. Schnellfertiges Urteilen ist des Gebildeten unwürdig.
Aus all diesen Erörterungen muß die große Bedeutung der Gefühle für die
Verarbeitung von Lehrstoffen und für ihre Verwertung zum Ausdruck kommen.
Eröffnet man den Quell des Gefühles sowohl vom Stoff als von den Menschen
her, die an ihn gebunden sind (in diesem Fall vom Lehrer und vom Hörer
her), so schafft man seinen Hörern einen geistigen Besitz, den sie bisher nicht
hatten und der für sie unmittelbaren Wert hat. Nicht äußerer Nutzen und
Vorteil ist es, der den Studierenden mit einem neuen Inventarstück seiner
Seele verbindet, sondern der Wert der Sache selbst, die ihn zu fesseln
begonnen hat; darum heißt es, bewußt den Volkshochschulbesucher zum
Selbstwertstandpunkt führen. Er ist es, von dem aus allein wir die
Kulturgefahr des Intellektualismus und den übertriebenen Relativismus, sowie
der einseitigen Einstellung auf technisch-dynamische Ideale vermeiden können.
Natürlich hat auch der Satz: „Wissen ist Macht“ sein gutes Recht Sobald
er aber seine Berechtigung aus parteipolitischen Wurzeln herzuleiten sucht
und man Volkshochschule treibt, damit der Arbeiter Macht bekommt, so muß
man sich grundsätzlich dagegen wehren. Deshalb fand ein sozialdemokra¬
tischer Vertreter mit solchen Äußerungen Widerspruch von allen Seiten.
Man kann die Tatsache des Selbstwertes kaum unterschätzen, denn ihre
seelische Bedeutung ist unvergleichlich groß. Sie schafft vor allem Ruhepunkte,
die man um ihrer selbst willen auftucht, an denen man sieb wohl fühlt und
über die man nicht ohne weiteres hinweg soll. Die Selbstwerte vermögen
ferner etwas, was Drill und Zwang nie fertig bringen: die innere Bindung
an die Sache und die freiwillige Unterordnung unter sie. Sie schaffen
damit Freiheit, Verantwortlichkeit und inneren Halt der Persön¬
lichkeit, also die Schwerpunkte, um die sich alle Einzelwerte gruppieren
und um derentwillen alles geschieht. Schließlich sind sie eine Hauptquelle
der Energieentwicklung, und in dieser Hinsicht ist ihnen nur die Macht
der Gewöhnung gleich zu stellen; diese bleibt ihr aber an innerem Wert
weit unterlegen, weil sie der geistigen Verarbeitung und Stellungnahme der
Persönlichkeit innerlich direkt entgegengesetzt ist. In diesem Zusammenhang
muß einem auch klar werden, daß und warum Lust und Liebe die Fittiche
zu großen Taten sind. Um gleichgültiger Dinge willen kriecht kein Hund
hinter dem Ofen hervor; um wertloser Dinge willen setzt kein Mensch sein
Leben auf das Spiel. Nur das Besondere zieht, nur das Große und das
Schöne erheben über den Alltag. Um der gleichen Tatsache willen befriedigt
es Lehrer und Hörer so tief, wenn ein Vortrag oder eine Arbeitsstunde als
Glanzpunkt aus dem Alltagsleben herausleuchtet oder wenn sie zu Lieblings¬
stunden oder gar zu einem Augenblick innerer Erhebung und Weihe werden.
Sie können nicht oft kommen, aber wenn sie da sind, sind sie unmittelbar
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Grundsätzliches Ober die Volkshocbschulfrage
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und an sich schön. Unser Volk kann nur seelisch gesunden, wenn es echten
Kulturwert, also Selbstwerte schafft und sich aneignet und um ihrer willen
ringt und kämpft.
Zweifellos sind alle Werte nur „individuell", d. h. vom Individuum ab¬
hängig, nur im Individuum Oberhaupt möglich und in ihm gegeben, von ihm
aus allein wirksam. Sie sind aber darum nicht ohne weiteres schlechthin
blofi relativ oder gar wertlos. Selbst wenn sie bloß relativ wären, wären sie
doch bereits eines, nämlich eben Werte. Aber sie können zugleich sehr wohl
den Anspruch auf objektive Geltung erheben und können auch in dem Sinne
„objektive" Werte sein, wenn sie allgemein menschlich sind, d. h. für alle
Menschen gelten; dabei bleibt es gleichgültig, ob sie von allen Menschen
verstanden oder gar anerkannt werden.
Dieses ungemein wichtige philosophische Rätsel, das zumal in unserer Zeit
wieder allgemeine Beachtung zu erfahren beginnt, wurde auf der Tagung
wiederholt gestreift, konnte aber ebensowenig wie auch hier im Zusammen¬
hänge eines Referats prinzipiell erörtert werden. Ohne die hier entwickelte
psychologische, d. i.-auf die Einzelseele gerichtete Einstellung, ist es jeden¬
falls nicht zu verstehen.
B. Die philosophische Methode.
Neben den beiden Methoden der intellektuellen Einführung unserer Er¬
kenntnisse und ihrer gefühlsmäßigen Erhebung zu Werten, zumal zu Selbst¬
werten, erhebt eine dritte Methode ihre Rechte; es ist die philosophische.
Sie wurde von Wegener an einer großen Anzahl von Beispielen entwickelt.
In der Naturwissenschaft führt sie zu dem Hintergrund der Naturphilosophie
als dem Momente, das ihrer Behandlung erst vollen Wert schafft. In der
Mathematik ist die Einsicht in das philosophische Problem der bloßen Gültig¬
keitsnatur und der Irrealität der mathematischen Gebilde eine Hauptaufgabe
des Volkshochschulunterrichts; in den Geisteswissenschaften sind die Wert¬
systeme, in die jeder Mensch und jedes Zeitalter unvermeidlich eingespannt
sind, nachzuweisen. Allenthalben handelt es sich somit darum, die Lehr¬
stoffe in Beziehung zu dem großen philosophischen Hintergrund
der Ewigkeitsfrage zu setzen. Nicht die Einzeltatsacbe und ihre Struktur
als solche ist an dieser Stelle Gegenstand der Untersuchung, sondern ihre
weiteren Zusammenhänge und ihre allgemeinsten Voraussetzungen und Prinzi¬
pien. Welthistorischer und philosophischer Überblick und Tiefsinn sind zu
schulen; der Mensch ist zum überindividuellen Denken zu erheben und auf
die Ewigkeitsfragen einzustellen. In diesem Sinne ist Volkshochschularbeit
eine Arbeit der Heiligung. Das Leben ist ein heiliges Gut, sagte Koch
mit großer Überzeugungskraft und Eindringlichkeit. Damit rücken wir weit
ab von bloßer Unterhaltung oder ästhetischer Feinschmeckerei und stehen
mitten auf dem Boden der letzten Lebenswerte.
Unter den Voraussetzungen, die bei einer philosophischen Besprechung
vieler Stoffe sich herausheben müssen, gehören, wie diese Überlegungen ohne
weiteres verstehen lassen, auch die mehr oder minder zufälligen, von ört¬
lichen und zeitlichen Einflüssen abhängigen Werteinstellungen, die in jedem
Menschen wirksam sind. Meist sind sie ihm gar nicht bewußt, die Zeit, die
Umgebung und die Erziehung haben sie ihm tief eingefleischt. Ruhige,
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F. E. Otto Scbultze
sachliche Auseinandersetzungen müssen sie ihm meist erst bewußt und dann
klar machen. In dieser Hinsicht kann gerade der Volkshochschulbetrieb eine
besondere Bedeutung bekommen, weil sich hier Klassengegensätze treffen,
die einander sonst nicht berühren. Es kann z. B. ein rechtsradikaler Hoch¬
schullehrer mit einem kommunistischen Arbeiter in Beziehung treten und zu
Ansichten kommen, zu denen ihm der lautlose Zuhörerkreis der Vorlesungen
seiner Universität keine Gelegenheit geboten hätte. In den Fragen der Alltags¬
politik sind in diesem Sinne große Segnungen aus gegenseitigen Aussprachen
von Lehrern und Hörern zu erwarten. Auch in religiösen und philosophischen
Dingen wird mancher Lehrer von seinen Schülern infolge deren natürlicher
Arbeitsreife manches lernen können, was er sonst nicht gesehen hätte.
Zweifellos setzt die philosophische Methode die fachwissenschaftliche voraus,
aber sie ist es, die dem Unterricht den eigentlichen Volkshochschulwert gibt
Wegeners Darstellung fand viel Widerspruch, zum Teil weil die philosophische
Methode infolge ihrer isolierten Darstellung im Sondervortrag ein gewisses
Übergewicht erlangte, zum Teil weil sie vielen Lehrern einfach nicht liegt,
während sie anderen, allerdings wenigen, selbstverständlich ist.
Volle Durchgeistigung des Lehrstoffes ist das Prinzip seiner
hochschulmäßigen Darstellung.
Mit den Überlegungen der letzten Abschnitte'uind wir zu sehr ernsten und
grundsätzlichen Fragen gekommen. Es heißt wie bei aller Schulung, auch
in den Volkshochschulen Kulturleistungen zu vollbringen, nämlich die Hörer
möglichst tief in das geistige Leben hineinzuführen.
Den Ausgangspunkt bildet stets der Alltag, in dessen Wertung der Mensch
nun einmal nicht viel mehr als ein Gewohnheitstier ist. Er handelt hier
nach seinen Regeln und Vorbildern, über die er sich mehr oder weniger
viel, meist aber herzlich wenig Gedanken macht. Er ist dort ein praktisches
Instinkt- oder ein gefühlsmäßig reagierendes Gewohnheitsgeschöpf. Über
diesen Standpunkt der Gasse, des Kellers, des Ladens und des Bureaus soll
er sich erheben lernen, damit er zu einem freien Höhenstandpunkt kommt
und in der frischen Luft des Geisteslebens den Weitblick des Gipfelpanoramas
genießen und verstehen lernt. Ein Prozeß der Durchgeistigung in Form einer
tiefen innerlichen Auseinandersetzung mit dem Sinn der Dinge der Welt muß
eingeleitet und möglichst weit durchgeführt werden. Es ist schon hinsicht¬
lich der Zweckmäßigkeit nicht das gleiche, ob eine Krankenschwester einen
neuen Apparat nach der Gebrauchsanweisung zum Desinfizieren benützt oder
ob ein gut ausgebildeter Arzt das gleiche tut; es ist nicht dasselbe, ob eine
Viehmagd einen Stall allein reinigt oder ob der Tierarzt sie dazu anleitet
und die Aufsicht hat. Der Durchgebildete sieht mehr und geht der Sache
und der Einzelerscheinung anders auf den Grund. Der Handlanger und der
Subalterne bleiben stets mehr oder minder an der Oberfläche kleben. Wenn
Plato lehrt, alle Staatenlenker sollten Philosophen sein, so entspricht das
durchaus der gleichen Überlegung und unserem Ideal. Das Ziel, auf das
wir hinstreben, liegt also nicht im Bereich des bloß Nützlichen, sondern in
der Hinführung zu Selbstwerten und zur Durchgeistigung des Lebens. Innere
Sicherheit und Zufriedenheit, Glück im höchsten Sinne ist das Endziel aller
dieser Bestrebungen.
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Grundsätzliches Uber die Volkshocbscbaltrage
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Weg, den man hierbei zu gehen hat, hat man vielfach als den der
lg bezeichnet; das ist insofern richtig, als der reife oder, wenigstens
lezu reife Mensch (unreife gehören nicht in die Hochschule, auch nicht
die Volkshochschule) bereits eine Menge Erfahrungen und Kenntnisse
jlpsitzt und es praktisch bis zu einem gewissen Qrade nur darauf ankommt,
'Uesen Besitz zu klären. Es scheint tatsächlich nicht viel mehr nötig zu sein,
als eine Bewußtmachung der bereits vorhandenen Lebenswerte. Aber im
Grunde ist es doch viel mehr, denn man kann darin nicht gründlich genug
Vorgehen. Man muß sich als Lehrer darüber klar sein, daß wir stets eine
mehr oder minder große Anzahl von Individuen vor uns haben und daß in
denselben bestimmte seelische Prozesse ablaufen. Es muß der ganze Schatz
geistiger Voraussetzungen, zumal der Anschauungen und Erfahrungen einer
gründlichen Durchsicht unterzogen werden. Aus ihnen müssen durch eigene
Arbeit der Hörer die bereits allgemein (m. a. W. phylogenetisch oder über-
(ndividuell) feststehenden und gültigen Ergebnisse der Wissenschaft neu
id. h. ontogenetisch oder individual-immanent) aufgebaut und gefunden
werden. Es werden so geistige Erzeugnisse geschaffen, die wir, weil wir
de mit dem schlichten Namen von Kenntnissen bezeichnen, in ihrer Eigenart
als seelische Produkte allzuleicht verkennen und in ihrer Struktur unterschätzen.
Schon die einfachsten Urteile sind gleichsam Aufbauten. Zwar sind Subjekt und
Objekt eines neuen Urteiles oder Gedanken jeweils als Begriffe in uns be¬
reits vorgebildet. Indem sie aber das Urteil bilden, geben sie etwas Neues,
eben den Einfall, den Gedanken, den tieferen Sinn, oder wie man sich aus-
drücken mag. Dieser Sinn fehlte vorher. Indem er sich neu bildet, kann
er uns trotz und gerade in seiner größten Einfachheit sogar als Erleuchtung
und Offenbarung erscheinen. — Daß dieser Vorgang der geistigen Neubildung
im Lernenden ein ganz anderes Faktum ist als das Denken im Unterrichtenden,
kann nicht genug hervorgehoben werden.
Hat sich im Lernenden ein neuer Gedanke von mehr oder minder
großem Umfang gebildet, so muß er zu allem sonstigen einschlägigen Geistes¬
inventar seines neuen Trägers in Beziehung gebracht werden. Dieser muß
seine Folgerungen aus ihm ziehen und die Bedeutung des neuen Stoffes
erkennen. Die so eingeleiteten intellektuellen Akte sind aber nicht lebens¬
kräftig und lebenswarm, sondern wertlos, wenn sie nicht gleichzeitig sich
mit den Akten der inneren Hingabe und Wertung verbinden. Es muß also
auch hier wieder unser feinstes Seelenorgan, das Gemüt, in die Denkarbeit
eingreifen und die philosophische Betrachtung, die Arbeit erweitern und ver¬
tiefen. In dieser Weise muß der Alltagsmensch den allertiefst eingefleischten
Nützlicbkeitsstandpunkt Schritt für Schritt überwinden lernen; er muß zum
Staunen kommen; er muß innerlich erschüttert werden und das Gefühl der
Ahnung des tiefen Sinnes bei allem Denken spüren. Von diesem Standpunkt
aus wird es selbstverständlich, daß jede Aufgabe geistiger Verarbeitung den
Forderungen der genannten drei Methoden der intellektuellen Durchdringung,
der Einfühlung und der Selbstwertfindung, sowie der philosophischen Er¬
gründung Genüge leistet.
An solches Arbeiten können und müssen bestimmte Forderungen gestellt
werden, wenn es wirklich hochwertig sein und Hocbschulcharakter besitzen soll.
1. Es muß vom Geist absoluter Sachlichkeit durchdrungen sein. Subjek¬
tive Voraussetzungen, zufällige Neigungen und Wünsche müssen ausgeschaltet
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F. E. Otto Schnitze
sein oder, wo sie sich nicht ausschliefien lassen, müssen sie bewufit gemacht
werden und die Objektivität (d. i. Allgemeingültigkeit) des Ergebnisses muß
als beschränkt oder gar nicht vorhanden erkannt werden. Damit ist die
Scheidung von objektiver und subjektiver Wahrheit und der Geist der
Wahrhaftigkeit als Grundbedingung aller geistigen Auseinandersetzung
klar gefordert. Ebenso ist die Fähigkeit und der Zwang streng, solide,
nüchtern, logisch und klar aufzubauen und überindividuell, sub specie
aeternitatis, zu denken als Ziel gesetzt.
2. Gedankenlosigkeit und gewohnheitsmäßige Selbstverständlichkeit müssen
schwinden. Nichts- ist selbstverständlich, alles will durchdacht, durchforscht
und in seinem Werte erfaßt, Vorurteil und Befangenheit müssen erkannt und
überwunden werden. Man muß aus seinem dogmatischen Schlummer zum
Wachleben der Problematik und Kritik erweckt werden. Man muß
wissen, daß allenthalben etwas los ist, daß Probleme vorliegen; man muß
sehen lernen, wo Mängel, Bedürfnisse und Nöte, geistige, seelische und
intellektuelle Nöte sind, die beseitigt werden müssen.
3. Man darf infolge der großen Bedeutung der Gedankenarbeit, die für
alle innere Auseinandersetzung unentbehrlich ist, nicht einseitig werden und
dem Intellektualismus frönen. Man muß unmittelbar und lebensnahe
bleiben, stets auf Aufsuchung, Bewahrung und Beherrschung von Lobens¬
werten bedacht sein.
C. Der Zweck der Volkshochschule und ihre Beziehung zur Volksbildung
und Volkserziehung.
Hat man einmal klar erkannt, wie tief das Schulproblem in unser ganzes
geistiges Leben verwachsen ist, so wird man leicht noch einen Schritt weiter
gehen und zugeben, daß ein hochstehender Unterricht noch andere, tief¬
greifende Wirkungen auch auf Funktionen der Seele haben muß, die hier
noch nicht genannt sind, nämlich und zumal auf den Willen. In wie hohem
Maße der Volkshochschulunterricht aktuell werden kann, zeigt ein von
Wegener berichteter Fall: In Schlesien wurde in einer Arbeitsgemeinschaft
das Koalitionsrecht der Arbeiter behandelt. Im Anschluß an diesen Kurs
traten die Arbeiter in Streik 1 — Vergessen wir auch nie die Erfahrungen,
die uns die Münchener Räterepublik gebracht hatte. Die Theoretiker und
Idealisten vom grünen Tisch sind trotz aller Harmlosigkeit ihrer guten
Charaktere allzuleicht gemeingefährliche Herren, zumal wenn sie etwas
Temperament haben. Selbstbewußtsein fehlt ihnen selten, Hemmungen noch
weniger. Wer Nihilisten in der Vorkriegszeit persönlich gekannt hat, dem
waren die Vorgänge in München und sind die in Moskau hinsichtlich der
Führerleistungen eine psychologische Selbstverständlichkeit. Wir dürfen also
nicht verkennen, daß die Volkshochschule nicht unschwer zu einem Spiel
mit dem Feuer werden kann. Wegener zitierte Hartmann, weil dieser
den Standpunkt vertrat: „Wir lehren in der Volkshochschule nur objektive
Wissenschaft; welche Stellung der einzelne dazu nehmen soll, mag er in
seinem stillen Kämmerlein herausfinden." Wer wird diesen Standpunkt
angesichts solcher Erfahrungen teilen? Wir müssen uns dessen bewußt sein,
daß wir Wasser auf eine abschüssige Ebene schütten, wenn wir in offene
und tatkräftige Seelen Geistesstoffe senken: Denken und Erkennen leiten
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Grundsätzliches Aber die Volkshochschulfrage
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auf solchem Boden unmittelbar zum Planen und Handeln über. Soll es
uns gleichgültig sein, in welchem GeiBt unsere Hörer das Gesagte aufnehmen?
Sollen wir bloß darüber wachen, daß unsere Zuhörer richtig verstehen, was
wir meinen? Keinesfalls! Wir müssen dem Geist und der Gesinnung folgen,
mit der sie es verarbeiten. Die Willensmomente, zu denen unsere Lehren
unausbleiblich in Beziehungen treten, sind sorglich zu bedenken und soweit
wir es vermögen, sachgemäß zu beeinflussen. Daß wir dem Hörer bei seiner
Stellungnahme nur helfend zur Seite stehen, ihm im übrigen volle Freiheit
der Entschließung lassen, ist selbstverständlich. In der Klärung und im
Durchdenken der Folgen wird er uns jedoch brauchen können. So müssen
wir selbst uns der Folgen unserer Lehre für das Handeln bewußt sein; in
der Hinleitung zum Wollen liegt der wesentliche Unterschied zwischen
Unterricht und Erziehung; der Volkshochschullehrer aber muß sich seiner
Mission als Volkserzieher ebenso bewußt sein, wie der Schullehrer seiner
einzelerzieherischen Aufgaben. Sonst ist er Intellektualist oder Ästhet.
Gegen derartige Gedanken wurde auf der Weilburger Tagung eingewendet:
„Die Volkshochschule kann die Hörer nicht erziehen, denn diese kommen
mit fertigem Charakter. 8 „Es ist töricht, aus jedem Volksgenossen eine
Persönlichkeit machen zu wollen“ usf. Solche Einwände können verblüffen,
und doch sind sie nicht in allem richtig. Wenn man z. B. die innere Ent¬
wicklung eines Arztes oder Richters von seinem Staatsexamen an bis hin
zu seinem 50. Jahre betrachtet, so muß man unbedingt zugeben, daß sie
wesentlich über das hinausgegangen ist, was der studierte Mann mit 25 Jahren
war. Gerade die innere Ausreifung auf Grund der Bewertung und das Ver¬
ständnis für das allgemein Menschliche hatten sich seitdem erst im eigent¬
lichen Sinne herausgebildet und zur vollen Bewußtheit erhoben. Unter den
Volkshochschulbesuchern haben wir aber vielfach Menschen, die noch nie
% gezweifelt, vielleicht auch noch nie im hohen Sinne gestaunt haben, denen
bis dahin vielleicht noch nie eine Offenbarung aufgegangen war und die
doch sehr wohl dazu befähigt sind. Wir wissen ja, daß wir sie erst einmal
zum Fragen, also zur ersten Äußerung selbständigen Denkens auf wissen¬
schaftlichem Gebiete bringen müssen. Wenn wir sie nun zur Auseinander¬
setzung mit den Lebenserscheinungen und Lebensrätseln anregen, so besteht
nicht nur die Aussicht, sie zu unterhalten, sondern sie zu befruchten, ja
ihre Persönlichkeit um- und auszugestalten, nur muß man dazu Zeit und
Geduld haben. Echte Erkenntnisse wirken tatsächlich lebenformend
und stilbildend. Sollte der Lebensstil einer Ehe nicht grundsätzlich von
den Gedanken abhängen, die sich die Gatten über die Ehe machen? und
ebenso der Lebensstil des Staates von der Staatstheorie seiner Bürger?
Lebens- und Erziehungsziel decken sich. Beim Erwachsenen ist das deut¬
licher als bei Kindern. Die Selbsterziehung des Gereiften ist und bleibt
seine wichtigste Leistung; sie hört nie auf. Darum ist es so wichtig, trieb-
kräftige Samen zu streuen, und darum weise ich noch einmal auf die Forde¬
rung der Erfassung von Selbstwerten in Kirnst, Wissenschaft und Obersinn¬
lichkeit zurück.
Bei Durchführung dieser Grundgedanken kann man nicht ausschließlich
und einseitig auf dem l’art pour l’art- Standpunkt oder auf dem reinen
Forscher- oder bloßen Predigerstandpunkt stehen bleiben, sondern muß die
Beziehungen zu allen aktiven Lebenskräften suchen und ihre Arbeit richtig
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P. E. Otto Schultze
beeinflussen. Diese Aufgabe fand durch Koch eine glückliche Formulierung.
Er sprach von den Aufgaben, die dem Volkshochschulheim als der höchsten
Form der Volksbildungsbestrebungen gestellt werden müssen und unterschied
dabei Lebensoffenbarung, Lebenstheorie und Lebensleitung. Diese letzte
Aufgabe muß jeder Volkserzieher im Auge haben und muß in ihrem Sinne
wirken, soweit es ihre äußeren Umstände gestatten.
Was wir als „Leben“ zu bezeichnen haben, ist ungemein schwer zu sagen.
Das Wort spricht sich so leicht aus, ist sehr beliebt und enthält die schwie¬
rigsten Probleme. Man wird es allgemein vielleicht fassen als „Entfaltung
der im Menschen angelegten Kräfte in Anpassung an die Anforderungen
der Außenwelt“. In Anbetracht der individuell so großen Verschiedenheit
der seelischen Anlage wird man davon absehen* allgemeine Lebensziele auf¬
zustellen. Denn alle Wertung ist von den Anlagen des Wertenden ab¬
hängig; die Werte aber, also das, wofür man sich interessiert, wozu man
sich wendet und wofür man sich einsetzt, müssen von Mensch zu Mensch
verschieden sein. Dazu kommt der Zufall der' örtlichen Umgebung. Der
eine wird in seinem stillen Erdenwinkel ganz andere Eindrücke verarbeiten
und ganz anderen Ansprüchen gerecht zu werden haben, als der andere
ihm sonst Gleichgeartete in der Weltstadt an exponierter Stelle. Gemeinsam
kann nur das sein, daß wir nicht in bloßer Befriedigung der sinnlichen Be¬
dürfnisse, sondern in der Erhebung ins Geistige die eigentliche Lebens¬
aufgabe erblicken. Mag es sich um die Auffassung und das Verständnis
des Entgegentretenden handeln, um die Zielsetzung, die dieses fordert, oder
um die Verwirklichung von Zielen, Aufgaben und Plänen: je tiefer und
weiter blickend, je ernster und selbständiger diese geistigen Akte in einem
Menschen erfolgen, umso höher werden wir ihn einschätzen. Jeder Volks¬
genosse müßte in diesem Sinne erzogen sein und werden. Bei jedem kann
es in mehr oder minder weitgehendem Maße geschehen, denn die Durch¬
schnittsanlage des Mannes und der Frau aus der breiten Masse ist nicht
anders, als die Anlage derer, die unsere studierten Berufe erfüllen.
Man muß eine umfassende Vorstellung der Aufgaben der Volksbildung
und Volkserziehung besitzen, um sich einseitigen Meinungen mit der dazu
nötigen Energie entgegenzustellen. Auch auf der Weilburger Tagung traten
derartige Orientierungen zutage. Zumal äußerten sich sozialdemokratisch
denkende Teilnehmer in solchem Sinne. So muß z. B. meines Erachtens eine
ausschließliche Einstellung der Volkshochschule auf die Arbeiterschaft unbedingt
verworfen werden. Oder wenn es hieß: „Bildung ist die Gestaltung des
Individuums, soweit es als Glied des Ganzen diesem gemäß zu sein hat*,
so scheint der Prüfstein aller Lebenswerte im Grunde nur der Wert zu sein,
den ein Geisteserzeugnis für die Gemeinschaftsbildung besitzt. Das klingt,
als wäre soziale Erziehung und Erziehung überhaupt dasselbe. Zweifellos
ist das Ziel der Brüderlichkeit, der Toleranz, der Solidarität, der Liebe, oder
wie man sich ausdrücken mag, für uns alle sehr schön, wichtig und un¬
entbehrlich, also Pflicht, aber es steht doch nicht allein da. Selbsterziehung
im weitesten Sinne des Wortes ist nicht minder wichtig. Bildung auf den
Gebieten der Kunst, Wissenschaft und Obersinnlichkeit lassen sich nicht in
soziale Aufgaben auflösen. Kochs Schilderung des gebildeten Bauern, so
wie ihn der Weilburger Riehl dargestellt hat, zeigte deutlich, daß zu seiner
Verwirklichung viel mehr nötig ist als soziale Ideen. Auch der gebildete
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Grundsätzliches über die Volkshochschulfrage
95
Bauer besitzt warme Menschlichkeit, aber seine Kultur umfaßt mehr. Alles,
was von der Ofenbank und ihrem Bildungswert gesagt wurde, zeichnete ein
anderes Ideal und war auf den wesentlich umfassenderen und gesünderen
Begriff der Heimatsliebe und Heimatsgestaltung gerichtet. Zur Heimat
gehört der Mensch und seine ganze Umgebung, nicht bloß der Mensch mit
seinem Sorgen, Ringen und Ängsten um Recht und Macht, sondern die Seele
mit ihren zahllosen Fähigkeiten, die sich alle entfalten wollen, die ihrem
Besitzer Freude und Friede bringen und sein Leben erheben und es ihm
erhaben, ja heilig machen. Das Leben ist ein heiliges Gutl — ist Kochs
Satz, den ich an dieser Stelle nochmals zitieren möchte. Er kennzeichnet
das Ziel des Volkserziehers am besten. Fraglich kann nur sein, wie weit
man diesen Begriff ausdehnt. Den weitesten Umfang, wie wir ihn mit den
Worten „Geistesleben der Menschheit“ umreißen können, werden nur ganz
wenige erfassen können, aber beobachtende, verstehende und gestaltende
Teilnahme an dem Bildungsprozeß des Menschen in einem möglichst weiten
Umfange bleibt doch unser Ziel. Heimatsliebe und Heimatsgestaltung aber
ist nur das nächstliegende und meist auch realisierbare Ziel der Volkserziehung.
Es lag eigentlich in der Luft, daß das Problem der Erziehung des Ge¬
meinsinnes durch die Volkshochschule auf das eingehendste diskutiert
wurde. Dennoch geschah es nicht. Warum wohl? Vielleicht weil man
wußte, daß jede Schule als Schule dazu unfähig ist. Ideen oder Ideale
kann man dort wohl besprechen, aber für sie erziehen, d. h. den Willen zu
ihnen anregen, stärken und zur Tat bringen und üben — das gelingt in
solcher Umgebung nicht. Die Verkehrsforraen und die Arbeitsweise der
Vorträge und Arbeitsgemeinschaften kann persönliche Bekanntschaft zwischen
Unbekannten vermitteln, kann Freundschaften stiften, hier und . da auch
soziale Gegensätze überbrücken. Sie kann also den Gemeinschaftssinn
wohl anregen, aber viel mehr vermag sie nicht. In diesem Sinn ist allein
vom Volkshochschulheim wertvolles zu erwarten. Von der Errichtung solcher
Volksbildungsstätten im großen Stil sind wir aber noch weit entfernt; nie
kann Volkshochschule und Volkshochschulheim identisch werden. Haften
so der Volkshochschule hinsichtlich ihres Erziehungswertes große Mängel an,
so treten diese noch deutlicher hervor, wenn man sie auf die Gegenwart
unseres deutschen Volkes beschränkt. Wie kann man bei solcher Zerklüf¬
tung einer Volksgemeinschaft Einheit und Zusammenarbeit schaffen? Es
war tief niederdrückend, zu hören, was die Praktiker sagten tmd erzählten.
Schroff sprach ein Sozialist seine Auffassung aus: „Es stehen sich zwei Welten
gegenüber; der Gegensatz kann nur durch Kampf überwunden werden.“
Von anderer Seite her wirkte es fast rührend, als ein wohlmeinender bürger-
lieber Volkshochschulleiter versicherte: „Wenn man die Arbeiterführer davon
überzeugt, daß wir das Gute wollen, so werden die Arbeiter schon kommen.“
Sollten ihm nicht örtliche Zufälligkeiten einen allzu starken Optimismus ein¬
gegeben haben? Mit welcher niedrigen Gesinnung tritt man ferner in Klein¬
städten demjenigen gegenüber, der Volksbildungsbestrebungen zu verwirk¬
lichen sucht. Hiervon erzählte zumal Körber. Versucht z. B. ein Lehrer
oder Oberlehrer in diesem Sinne zu wirken, so heißt es: „Er will sich eine
Nebeneinnahme schaffen.“ Daß er selbstlos ist und Ideale erstrebt, erkennt
die Masse nicht an. Der Bauer wittert in den Volkshochschulbestrebungen
'womöglioh eine neue Form der Besteuerung. Schwarte erzählte, daß er
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96
F. E. Otto Schultze, Grundsätzliches über die Volkshochschulfrage
mit einem Bauern abends von x lt9 bis */ 4 12 gesessen und verhandelt hätte.
Es schien alles in die besten Wege geleitet zu sein. Nachts l j-A2 auf dem
Bahnhofe rückte der Bauer endlich mit seinen eigenen Gedanken heraus,
und alle Mühe war vergeblich gewesen. Immer und immer wieder wurde
von den „Welten“ gesprochen, die nebeneinander bestehen. Günstigenfalls
hieß es, sie suchen einander. Fast ausnahmlos wurde zugegeben, daß das
Mißtrauen des Arbeiters gegen die Bürgerlichen alle fruchtbare Arbeit hint¬
anhält. Man kann fast von einer Lehre von der doppelten Wahrheit reden.
Die Sozialisten glauben, eine andere Wissenschaft zu haben als die Bürger¬
lichen. Wir werden darin an die Renaissance erinnert, nur daß es damals
die Kirche war, die da meinte, die wahre Wissenschaft zu vertreten. Am
weitesten und tiefsten ist die Kluft zwischen Arbeitern und Bauern! Es sei
ausgeschlossen, daß sie je zusammenkämen. Die größte Gefahr aber für
unser Gemeinschafts- und Geistesleben sei die Unmoral der bäuerlichen
Wirtschaft. Erfreulich war, daß Picht erzählte, man könnte bei zäher
Arbeit doch Erfolg haben. Er hat in Berlin ein ganzes Jahr dazu gebraucht,
um die U.S.P. für die Volkshochschule zu gewinnen. Die größten Zeit¬
verluste brachte es ihm, daß die Partei Vertreter auch dann, wenn sie sach¬
lich gewonnen waren, versicherten, sie hätten von der Partei keinen Auf¬
trag. Obschon dieser Zug genügend bekannt ist, muß man ihn doch aus¬
drücklich immer wieder in Rechnung stellen. — Möchte es doch in abseh¬
barer Zeit dahin kommen, daß wir Deutsche aus den verschiedensten Volks¬
schichten wieder miteinander reden!
Zusammenfassung.
Fassen wir unsere Meinung über die Stellung der Volkshochschule
zusammen, so werden wir sie nicht neben das Volksunterhaltungs- und Volks¬
bildungswesen stellen, sondern sie zwar unterordnen, aber ihr doch die
Zentralstellung im Volksbildungswesen geben.') Forderungen wie die von
Erdberg, Wegener und anderen: sie ist keine Berufsschule, keine Partei- und
Betriebsräteschule — werden wir ohne weiteres, unterschreiben. Sie muß
neutral sein und sich wegen ihres Niveaus als Volkshochschule auf die
Bildung und Erziehung des Erwachsenen im höchsten Sinne beschränken,
sowohl gegenständlich (Kosmetik, Mutterschaftspflege, Sport usw. sind nicht
Aufgabe der Volkshochschule) als auch in der Hörerauswahl (sie kann nur
mit wenigen rechnen, nicht mit Massenveranstaltungen). — Die freien Vor¬
träge und Vortragsreihen werden mehr der Unterhaltung und Anregung
dienen. Feste, Feiern und Schaustellungen können ihre Anziehungskraft
erhöhen, ihre Gefühlswirkung verstärken und ihre Kasse aufbessern. Allmählich
müssen die Vorträge durch Verbindung mit dem Lehrgespräch in den sich
anschließenden Besprechungen die näher interessierten Hörer heranziehen
und für die Arbeitsgemeinschaft gewinnen. Diese bilden die eigentliche
Volkshochschule; hier ist echte Hochschularbeit zu leisten, die sich an hoch-
schulmäßigen Arbeitsstoffen zu bewähren hat und so Vollwertiges schafft.
') Den Namen Volkshochschule werden wir, nicht bloß weil mancher Parlamentarier darüber
lächelt und mancher Hochschulprofessor den Volksbochscbullehrer über die Achsel ansiebt, sondern
um der Gefahr einseitiger intellektualistiscber Bestrebungen zu entgehen, am besten vermeiden.
Der Name Volksbildungsheim, wie er z. B. in Frankfurt üblich ist, dürfte am zweckmäßigsten sein.
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Albert Huth, Anleitung cur Schüler-Personalbeschreibung
97
Wenn jemand eine Anzahl solcher Kurse (ich schätze 4—6, die sich auf ver¬
schiedene Semester verteilen) durcbgemacht bat, so wird er zu einem mehr
oder weniger weitgehenden, selbständigen Urteilen und Werten gekommen,
zu einer wesentlich fruchtbareren Verarbeitung der freien Vortiäge und zu
eigenem Lesen von wissenschaftlichen Werken fähig geworden sein. — Das
Volkshochschulheim steht über der Volkshochschule und den Arbeits¬
gemeinschaften. Es schließt ihre Arbeitsformen ein und ist ihnen durch die
starke Wirkung auf die Willenskräfte und die Persönlichkeit weit überlegen.
Von hier aus kann eine wirkliche Vertiefung und Befruchtung der Besucher
im Sinn einer wahren Volkserziehung stattfinden.
Anleitung zur Schiller-Personalbeschreibung.
Von Albert Huth.
Die Begründung der folgenden Beobachtungsanweisung ist in meiner Ab¬
handlung „Grundsätzliches über Personalbogen“ gegeben (Zeitschr. f. pädag.
Psychol., XXII, 3/4, 1921).
Es galt zunächst eine allgemeine Beobachtungsanleitung zu schaffen, der
dann später Sonderhinweise für die Zwecke der Hilfsschule, Mittelschule,
Begabtenschule, Berufsberatung usw. folgen werden. Diese Aufgabe hat die
Arbeitsgruppe für Begabungsforschung im Päd.-Psych. Institut München in
Angriff genommen. Im Anschluß an die Vorlesungen über Personalbogen
wurden für jedes der sechs Hauptgebiete Referenten aufgestellt; sie sollten
nicht nur die in der Literatur gegebenen Vorarbeiten benutzen, sondern vor
allem versuchen, ihre eigene Schulklasse in dem betreffenden Punkt so aus¬
führlich wie möglich zu beurteilen und aus diesen Teil-Personalbeschreibungen
eine Gliederung zu abstrahieren. In gemeinsamen Sitzungen wurden die
Unterpunkte festgelegt und Beispiele und Beobachtungsmöglichkeiten an¬
gegeben. Großen Dank schulde ich für die Übernahme von Referaten Herrn
Ettmayr (körperliche Entwicklung), den Herren Fink, Ganzenmüller und
Hartmann (außerschulische Lebenskreise), Fräulein Dannegger (Lebenskennt¬
nisse und Schulleistungen), den Herren Brückl und Niederländer (Verstandes¬
entwicklung), Hofgärtner und Herzog (Gefühls- und Willensentwicklung),
Ungemach und Fassoli (sittliche Entwicklung).
Die später erscheinende Sonderanweisung wird auch eine Abteilung für
die Personalaufnahme der Schulneulinge enthalten; die der Elementarklasse
eigentümlichen Fragen sind also hier nicht berücksichtigt.
Die Gliederung der Verstandesentwicklung ist durch Anregungen des Herrn
Professor Dr. Aloys Fischer stark beeinflußt.
Hoffentlich hat das Bestreben, jn der folgenden für jeden Lehrer be¬
stimmten Beobacbtungsanweisung die Fremdwörter möglichst auszuschalten,
der Klarheit der Begriffsbestimmung nicht geschadet.
. I. Körperliche Entwicklung.
Bedeutungsvolle Erscheinungen aus der Vorschulzeit und an den nächsten
Verwandten, die bei der Schulaufnahme noch nicht vermerkt wurden, können
jederzeit nachgetragen werden. Der durch den Schularzt auszufüllende Ge¬
sundheitsbogen ist zur Ergänzung einzulegen.
Zeitschrift f. pgdagog. Psychologie. 7
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98
Albert Huth
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
A. Allgemeiner Körperzustand.
1. Entwicklungs¬
zustand
2. Krankheiten:
a) innere.
b) äußere
c) Absonderungen u.
Geschlechtsteile
d) Nerven.
3. Mißbildungenu,
krankhafte Zu¬
stände
Ernährungsverhältnisse — Körperkraft — Einfluß von
Witterung und Witterungswechsel — Einfluß von
Tages- und Jahreszeiten auf den Körperzustand —
Rechts- oder Linkshändigkeit
Herzfehler, Lungenleiden (Tuberkulose), Verdauungs¬
störungen und Darmkrankheiten, Leisten- oder
andere Brüche.
Drüsen und Fisteln — Hautausschläge, Fußschweiß,
Kropf, Mandelschwellungen, Wucherungen in der
Nasenhöhle, Mittelohrentzündung.
Bettnässen, Kotlassen, Selbstbefleckung.
Nervenschwäche, ständige Kopfschmerzen, Anfälle.
Verkrümmungen der Wirbelsäule und der Glieder,
Zahnarmut und -mißbildung, Hasenscharte usw.
B. Sinnesfehler und Sprachstörungen.
1. Gesichtssinn . . .
2. Gehörsinn . . . .
3. Niedere Sinne . .
4. Sprachstörungen .
Kurz-, Weit-, Schwachsichtigkeit, Farbenblindheit,
Augenmaß und Schätzen, Treffsicherheit usw.
Schwerhörigkeit, Tonunterscheidungsvermögen.
Geruch, Geschmack, Wärme-, Kälte-, Druck- und
Gelenkempfindungen.
Stammeln (Ausfall von Mitlauten), Lispeln, Stottern
(Stocken beim Beginn einer Silbe),”Pöltern (über¬
hastetes Sprechen), Näseln (infolge Wolfsrachen),
auffallend langsames Sprechen usw.
C. Hervorstechende körperliche Geschicklichkeiten
oder Ungeschicklichkeiten.
1. Körperbeherr¬
schung
2. Handgeschicklich¬
keit u. Bewegungs¬
beherrschung
3. Körperliche Lei¬
stungsfähigkeit . .
Ungeschicklichkeit, Umständlichkeit, besondere Lang¬
samkeit, mangelhafte Zuordnung von Bewegungen
zueinander.
Stärke und Ausdauer der Körperleistung.
II. Außerschulische Lebenskreise des Kindes.
Die Erforschung der häuslichen Verhältnisse erfordert Takt und Uradcht und das Material
bleibe ein Stück Amtsgeheimnis. Es werde nie absichtlich durch irgendwelche Ausfragerei
gesammelt, sondern ergebe sich gelegentlich bei Elternabenden, Klassenbesuchen der Eltern y
Heimbesuchen des Lehrers usw.
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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung
99
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
A. Das Elternhaus oder dessen Ersatz.
1. Die Eltern:
a) Charakter . .
b) Ehelicher Zusam¬
menhalt
c) Verhältnis zu
u) Religion . . . . j
ß) Politik.
y) Vergnügungen,
d) Liebhabereien .
d) Stellung zu Erzie¬
hung u. Bildung:
u) Bildungsgrad
der Eltern
ß) Eig. Erziehungs¬
grundsätze und
Erzi ehungsmittel
y) Stellungnahme
z. Schulerziehung
2. Übrige Hausge¬
nossen:
a) Verwandte ....
b) Fremde.
3. Wirtschaftliche
Verhä ltnisse:
a) des Vaters ....
b) der Mutter . . . .
c) der übrigen Ange¬
hörigen .
4. Wohnung und
Verpflegung:
a) Wohnung.
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Ordnungsliebe, Sinn für Häuslichkeit, Lässigkeit und
Gleichgültigkeit, Sparsamkeit, Fleiß, Genußsucht,
Bequemlichkeit, Leumund, Gerichtsstrafen; Herzens¬
bildung, Gemütsroheit, Jähzorn, Gewalttaten.
Scheidungsprozesse, gegenseitige Gleichgültigkeit und
Ungebundenheit, überwiegender Einfluß des Vaters
oder der Mutter; öfterer Streit.
Frommgläubigkeit, Teilnahme an Kirchenfesten, Frei¬
sinn, Sonntagsruhe.
Führer im Parteileben, in Vereinen.
Wirtshaus, Volksbelustigungen, Kartenspiel.
Kunst und Sport; Theater, Konzert, Zeichnen, Malen,
Basteln, Hausmusik; Sportsaiten; Wanderungen.
Allgemeinbildung, Fortbildungsbestreben, Sinn für
höhere Interessen oder Stumpfheit und Gewöhn¬
lichkeit; Umgangssprache und Umgangsformen.
Interesse am Kinde, Liebe zum Kinde, Gewöhnung
zur Schule oder Abhaltung von der Schule, Strafen
und Belohnungen, Nachhilfe bei Schulaufgaben.
Klassenbesuche, Teilnahme an Schulfeiern, Eltern¬
abenden, Schulreisen.
Geschwister (Zahl, Alter, hervorstechende Eigen¬
schaften), Großeltern, weitere Verwandte, Paten.
Dienstboten, Untermieter usw.
Beruf und Verdienstmöglichkeiten, Arbeitslosigkeit,
öftere Abwesenheit; Arbeitsstätte der Eltern (in der
Natur, in Fabrik-, Geschäfts- u. Wirtschaftsräumen,
Werkstätten, Schreib-. Studier- u. Künstlerstuben),
besondere Schwierigkeiten, Verantwortlichkeit und
Gefahren des Berufs, Auszeichnung im Beruf.
Mithilfe im Erwerb, im Geschäft des Mannes oder bei
fremden Leuten, Arbeitszeit, öftere Abwesenheit.
Mithilfe im Erwerb, Stellvertretung der Eltern.
Eigenhaus od. Mietwohnung, Garten- od. Hofbenutzung,
Lage (Vorder- oder Rückgebäude, Nähe lärmender
Betriebe), Zimmerzahl, abgeschlossene oder Teil-
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100
Albert Huth
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
b) Schlafgelegenheit
des Kindes
c) Kleidung, Wäsche
und Schuhwerk .
d) Nahrung . . . . .
5. Beschäftigun¬
gen des Kindes:
a) pflichtmäßige . . .
wohnung, Untermieter; Lichtverhältnisse; Platz fOr
Schularbeiten, Zustand der Wohnung, Ungeziefer,
Ordnung und Reinlichkeit, Ausstattung, Geschmack
der Einrichtung.
Schlafzimmer, Bettgenossen oder allein im Bett; Not-
liegestätte, Bettenzahl und Zahl der zum Schlafen
benutzten Zimmer in der Familie; öfteres Schlafen
außerhalb der Wohnung.
Anzahl, Reinlichkeit, Schonung.
Regelmäßigkeit, Durchesser oder Näscher, Schul¬
speisung.
zum Gelderwerb (Zeitung- und Milchaustragen, Auf¬
treten in Theatern, Modellstehen), Art und Zeit, Be¬
zahlung; Helferdienste im Haus und im Eltemberuf
(Tier-u. Pflanzenzucht); Kinderpflege, Besorgungen;
Heimarbeit der Eltern. — Zur eigenen Fortbildung:
Hausaufgaben, Musikstudien, Ausbildung in der
Ballettschule usw.
b) freiwillige
6. Lebensgewohn¬
heiten:
a) Taschengeld und
dessen Verwen¬
dung
b) feste Hausordnung
c) der Sonntag . . .
d) Familientraditio¬
nen .
Spiel, Sport und Wandern, Vorliebe för unterhaltende
oder lehrhafte Spiele, Beschäftigungsspiele, Spiel¬
zeug, Spielplatz, Spielzeit usw. - Schwimmen und
Radfahren. — Handarbeiten: Laubsägen, Basteln,
weibl. Handarbeiten usw. — Weihnachtsgeschenke.
Sammeln; Zeichnen und Malen. — Lektüre, Zei¬
tung, eigene oder geliehene Bücher; Theater, Kon¬
zert, Kino; sonstige geistige Beschäftigungen. —
Sei bst schöpfen sehe Tätigkeit des Kindes.
Herkunft und Höhe des Taschengeldes, Näschereien,
Alkohol, Zigaretten, Schundbücher, Kino usw.
Beschäftigung am Abend, an freien Nachmittagen;
Schlafzeit, Kind im Besitz des Hausschlüssels.
Kindergottesdienst, der Sonntagnachmittag.
bei Adelsgeschlechtem usw.
B. Die übrigen Lebenskreise des Kindes.
1. Kameraden . . . .
2. Unter Leitung von
Erwachsenen ste¬
hende Einrichtun¬
gen .
Freundschaft (Alter, Grund der Freundschaft, Wechsel
in der Freundschaft), Spiele außer Haus, Gassen-
leben, Jugendvereine und Klubs usw.
Hort, Ferienkolonie, Jugendwandergruppen usw.
J
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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung
101
Hinweise
ffir die Beobachtung
Beispiele
3. Anstalten, sonsti¬
ger Familienersatz
Regelmäßiger Aufenthalt bei Großeltern oder Paten usw.
HF. Lebenskenntnisse und Schulleistungen.
A. Lebenskenntnisse.
1. Einsicht in Lebens¬
verhältnisse:
a) Wissen Ober die
eigene Persönlich¬
keit
BeiVerteilungvonSchul-
imtern, in der Selbst¬
regierung uew.
b) Einsicht in die Fa¬
milienverhältnisse
Gelegentl. Mitteilungen
der Kinder im Unterricht
u. bei vertraulichen Be¬
sprechungen usw.
e) Besondere Kennt¬
nisse aus dem Er¬
werbs- und Wirt¬
schaftsleben. . . .
d) Prakt. Menschen¬
kenntnis und Men¬
schenbeurteilung .
e) Vertrautheit mit
staatlichenVerhält-
nissen.
f) Wissen Ober das
Geschlechtsleben .
2. Sachkenntnis:
a) Das Durchschnitts¬
maß Qbersteigende
Orts- und Natur¬
kenntnisse
b) Material-u. Spezial¬
kenntnisse
c) Kenntnisse Ober d.
wirklichen Wert d.
Gegenstände d. täg¬
lichen Lebens
d) Kenntnisse aus d.
Gebiete d. Kunst.
Selbstbeurteilung, Kenntnis der eigenen Stellung in
Haus und Schule (Beliebtheit, Gönner, Gegner),
Lebensziele (Ideale) und Kenntnis der Wege zu
deien Verwirklichung.
Einsicht in Erwerbsleben, soziale Stellung, politische
und religiöse Stellungnahme der Familie; Miterleben
von Geburten, Unglücks- und Todesfällen im Hause
oder in nächster Verwandtschaft, Zeuge von Selbst¬
morden, Verbrechen, gewaltsamen Naturereignissen
oder Verkehrsunglücken; Zeugenschaft vor Gericht.
Einsicht in bestimmte Berufskreise, soziale Verhältnisse.
Einschätzung von Mitspielern, Spielkameraden usw.
Verfassung, Politik, Weltkrieg.
Aufklärung durch wen, wann, wie, wieweit?
Vielfache Heimatwanderungen, Reisen, öfterer Wechsel
des Wohnorts, Landleben.
durch Lektüre, Sammeln, Beihilfe in gewerblichen
Betrieben.
Messen, Schätzen und Verwerten des Geldes (wie weit
reicht man mit 20 M.?).
Baukunst, Bildhauerei, Malerei, Musik, Dichtkunst usw.
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102
Albert Huth
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
1. Im allgemeinen:
a) Leistungsrichtung
Gelegentliche Bemer¬
kungen der Schüler in
mündlicher Aussprache
oder in freien Aufsätzen.
Bei n Lern fächern“ und
„Verstandesfä ehern“,im
Gesangsunterricht, auf
SchülerwanderüMgen, in
den Pausen und nach
dem Unterricht bei ge¬
legentlichen Ausspra¬
chen. I
b) Gegenseitiges Ver¬
hältnis der Leistun¬
gen verschiedener
Gebiete
i
2. In einzelnen
Fächern: |
a) Religion:
Beobachtungenwährend j
des Religionsunterrichts |
des Geistlichen und des
Lehrers, beim ßeicht-
bezw. Konfirmations¬
unterricht, bei gelegent¬
lichen Aussprachen mit
den Schülern.
Beobachtungen in der
Kirche, im Schulguttes-
dienst, im Kindeigottes-
dienst.
B. Schulleistungen.
aa) Lieblingsfach, Lieblingsinteressen, Sonderschwä¬
chen und Sondertalente; Hauptrichtung des Inter¬
esses (Vorliebe für mehr körperliche oder mehr
geistige Beschäftigungen).
bb) Ursache der Gesamtschulleistung: Fleiß oder Be¬
gabung.
cc) VorherrschendeRichtungderSchtllerfragen: Fragen
nach Grund und Ursache, Herausheben von Un¬
wahrscheinlichkeiten, von weiteren Möglichkeiten,
rein praktische Fragen, Fragen nach Einzelheiten,
kritisierende (spitzfindige) und Geschwätzigkeits¬
fragen.
Grund besonders guter oder besonders schlechter
Leistungen. — Überwiegen der rechnerisch natur¬
wissenschaftlichen, der sprachlich-geschichtlichen,
der technisch-künstlerischen, der rein praktischen
Leistungen und Interessen.
aa) Auffallende Vorliebe oder Abneigung für religiös¬
sittliche Belehrung (Katechismus) oder für biblische
Geschichte.
bb) Aufnahme religiöser Eindrücke: mechanisch-ge¬
dächtnismäßiges Behalten, innerliches Miterleben,
religiöse Schwärmerei, Skrupelhaftigkeit, Grübelei,
Glaubenszweifel, philosophierendes Denken, Reli¬
gionsspötterei.
cc) Ausdruck religiöser Erlebnisse: rein äußerlich reli¬
giöse Übung, Bigotterie, religiöse Denk- und
Handlungsweise.
b) Sachunterricht . .
c) Sprachunterricht.
u) Mündlicher Aus¬
druck
Im gesamten mQnd-
lichen Unterricht, be¬
sonders im Leseunter¬
richt, bei Vorbereitung
von Schulfeiern, bei
Schülervorträgen, bei
dramatischerUestaltung
von Lesestücken.
Bevorzugtes Gebiet.— Selbständige Mitarbeit (Sammeln
von Beobachtungen, Verwendung von Erfahrungen,
Leichtigkeit im Erkennen des Gesetzmäßigen, selb¬
ständiges Experimentieren, Anfertigen von Modellen).
Sprachtechnik: Lautreinheit, Mundart, Eintönigkeit
oder Wandlungsfähigkeit. Lesefertigkeit und Vortrag
(schnelles, flüchtiges, fehlerhaft es,stotterndes,stocken¬
des, langsames, sicheres Lesen). Betonung in ge¬
bundener und ungebundener Rede. Freie Rede:
Leichtigkeit bezw. Schwerfälligkeit im Nacherzählen,
im vorbereiteten oder freien schaffenden Ausdruck
eigener Gedanken;Sprunghaftigkeit, Wiederholungen,
Weitschweifigkeit, Verlieren des Gedankenganges.—
Fähigkeit zu dramatischer Gestaltung a) eines er¬
zählten oder gelesenen Tatbestandes, b) einer ein¬
gelernten Rolle.
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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung
103
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
ß) Schriftlicher
Ausdruck
Im Aufsatz; in Berichten
über den Sachunterricbt
oder Über SHbsterlebtes,
in Briefen an den Lehrer
während der Ferienzeit.
d) Rechnen u. Raum¬
lehre
Im Rechnen und Raum-
lehreunterricht, bei der
Anwendung des Gelern¬
ten im Sachunterricbt
e) Fertigkeiten. . . .
Im Singen, bei Vor¬
bereitung von Schul¬
feiern, beim Zeichnen
und Modellieien, bei
Bildbetracbtnngen.
Gedankengehalt (eigene Gedanken und selbständige
Gliederung oder Wiedergabe fremden Gedankenguts
oder Erweiterung desselben; Neigung zu religiösen
oder psychologisch einföhlenden Zusätzen; zu Natur-
8childerungen,romantisch-schwärmerischenErgQssen,
Unwahrscheinlichkeiten usw.). Sprachliche Form
(Wortschatz, Sprachgefühl,Stil: sachlich,breit,knapp,
geschmackvoll, urwüchsig, ungepflegt). — Äußere
Darstellung: Sauberkeit, Schrift, Rechtschreibung,
Sprachlehre, Zeichensetzung.
Zahlenvorstellung (Fähigkeit zur abstrakten Zahlvor¬
stellung), Zahlengedächtnis. Mechanische Rechen¬
fertigkeit; langsames oder rasches Verständnis neuer
Aufgaben; Mehrleistung im Kopf-oder Ziffernrechnen,
bei reinen Zahlen oder eii gekleideten Beispielen;
Fähigkeit zur Anwendung außerhalb der Rechen¬
stunde. Räumliches Anschauungsvermögen.
Auffallend gute oder schlechte Leistungen und ihre
Ursache (Anlage, Vorbildung, Neigung, Nachhilfe),
musikalische Begabung, absolutes Gehör, rhythmische
Gymnastik; schauspielerische Begabung, Zeichen¬
fähigkeit, perspektivische Darstellung, Verständnis
und Nachbildung von Farbe und Formen.
IV. Verstandesentwicklung.
A. Hilfstätigkeiten des Verstandes.
4. Aufmerksamkeit
Beim Stunden Wechsel,
beim Betrachten von
Bildern, Pflanzen und
Modellen, beim Wechsel
zwischen körperlicher
und geistiger Arbeit,
zwisch. Pause u. Arbeit.
Aufmerksamkeit bei
gleichzeitigem Mit¬
schreiben, Darstellen,
Turnen, Zeichnen. —
Gleichzeitig auf die
Worte des Lehrers und
aufVeranschaulichungB-
mittel achten.
2. Auffassungsfähig¬
keit (Apperzeption)
ln und außer der Schule,
in der Unterhaltung, im
Sach- und Sptachunter-
ricbt; bei 'iheatervor-
stellungen, Ausflügen,
Erlebnissen.
Leichte oder schwere Erregbarkeit der Aufmerksam¬
keit im Unterricht und außerhalb der Schule. —
Ausdauer, starke Ablenkbarkeit der Aufmerksam¬
keit. — Konzentration der Aufmerksamkeit. — Um¬
stellung der Aufmerksamkeit auf neue Stoffe, Gleich¬
mäßigkeit der Aufmerksamkeit, für welche Stoffe
besonders ausgepiägle Aufmerksamkeit? Schwan¬
kungen der Aufmerksamkeit, Abhängigkeit dieser
Schwankungen von der Selbsttätigkeit, Verteilungs¬
fähigkeit der Aufmeiksamkeit. — Äußere Haltung
beim aufmerksamen Zuhören (auch äußerliche Auf¬
merksamkeitshaltung oder Fingerspiel bei innerer
Aufmerksamkeit).
Reichtum, Klarheit, Genauigkeit, Selbständigkeit und
Vielseitigkeit der Beobachtungen und Anschauungen,
Schnelligkeit der Auffassung für äußere Eindrücke,
für innere Seelenvorgänge (Einfühlung). — Ergiebig¬
keit der Beobachtung (frei, mit Anleitung); subjek¬
tiver (einfühlender) oder objektiver (sachlicher)
Beobachtungstypus. — Grundlage der Sachvorstel-
lungen sind voiwiegend Gesichts-, Gehörs- oder
Bewegungseindrütke (Verwechslung von ähnlich
aussehenden Buchstaben, von ähnlich klingenden
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104
Albert Huth
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
3. Gedächtnis
(Reproduktion)
Wiedergabe von Lese¬
stücken. im Sacbunter-
richt, Wiedergabe von
Gelerntem. — Nach¬
ahmungsspiele.
Richtige Wiedergabe v.
einmal gebürten oder
gelesenen Stoffen sofort
oder nach einiger Zeit.
4. Phantasie.
Beim Spielen, Turnen,
Bauen, Formen, Gestal¬
ten, Theaterspielen;
eigenartige Zusammen-
stellungvonOrnamenten
im Zeichnen und in
Handarbeiten. Aufsatz.
Lauten). — Art des Lernens: Mit dem Auge ohne
Mitsprechen, mit halblautem Sprechton, mit leisen
Sprechbe Regungen, mit Hand- und Schreibbewe¬
gungen, mit lebhaftem Mienenspiel. Typ des Lernens:
schnell, langsam.
Art des Gedächtnisses: vorwiegend verstandesmäßig
(dem Inhalt nach) oder mechanisch (dem Wortlaut
nach) oder mit Gedächtnishilfen. — Umfang des
Gedächtnisses: wird viel oder auch vielerlei auf
einmal gemerkt. — Sondergedächtnisse für be-
stimmle Gebiete (Zahlen, Namen, Personen, Farben,
Formen, Orte, Begebenheiten, sprachliche Zusammen¬
hänge usw.) oder allseitiges Gedächtnis. — Treue
(Genauigkeit, Dauerhaftigkeit) oder Flüchtigkeit des
Gedächtnisses; Verwendbarkeit (Dienstfertigkeit) des
Gedächtnisses; Versagen bei unvermittelt gestellten
Gedächtnisfragen. — Fähigkeit zur genauen sprach¬
lichen Wiedergabe gemachter Wahrnehmungen,
Unterstützung der Wiedergabe durch Gesten, Zeich¬
nungen, Modellieren, freies Gestalten usw. — Be¬
vorzugung von Gesichts- oder Gehörseindrücken
oder von Tätigkeiten bei der Reproduktion (in Er¬
zählungen und freien Aufsätzen usw.).
Phantasiebegabt oder rein sachlich-nüchtern; Erreg¬
barkeit der Phantasie, phantasievolle Zusätze bei
der Wiedergabe von Gelesenem und Gehörtem,
Ausmalen bis ins Kleinste, Selbstvortäuschung an¬
geblicher Erlebnisse. Äußerung der Phantasie;
Phantasievorstellung von Vorbildern und Idealen. —
Neigung zur Übertreibung; Beherrschung d. Phantasie.
B. Haupttätigkeiten des Verstandes.
1. Beschreiben, Be¬
nennen u. Charak¬
terisieren
Im gesamten Unterricht,
besonders im Sach- und
Zeichenunterricht.
2. Unterscheiden
u. Vergleichen
Belm Rechnen und in
derRaumlebre, imHand-
fertigkeitsunterriclit.
Vergleichen im Lese-,
Sach- und Religions¬
unterricht.
Beschreibungen und Schilderungen von Gegenständen
und Erlebnissen (sprachlich, zeichnerisch, plastisch,
mimisch). — Benennen von seltener gesehenen
Gegenständen, von farbigen und farblosen Bildern,
von Personen, Farben, Tönen verschiedener In¬
strumente, Tasteindrücken, Gerüchen, Geschmäk-
kern. — Charakterisieren dieser Dinge. — Versuche
zu Definitionen von Gegenständen und Abstrakten,
Finden des Gattungsbegriffes oder Definition durch
Stoff, Farbe, Form und andere Eigenschaften.
Vergleich von Gesichtswahrnehmungen: Augenmaß,
Färb- und Formvergleich, Entfernungsschätzen. —
Angabe des Unterschiedes zwischen konkreten
Gegenständen und abstrakten Begriffen; Vergleich
von mehr als zwei Dingen; Vergleich von Tönen,
von Tasteindrücken, Gerüchen, Geschmäckern. —
Auffinden von Gleichheiten, von feinen Unterschie¬
den; Heraussuchen des wesentlichen unter gegebenen
Gliedern einer Reihe.
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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung
105
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
3. Kombinieren und
Ergänzen
Im Sprachunterricht.
4. Kritikfähigkeit u.
Verständnis
Korrektur von Mitschü-
lerarbeiten, im Aufsatz¬
unterricht
5. Abstraktionsfähig'
keit und Denken
Rechnen und Sprach¬
lehreunterricht, Kate-
chUmus unterricht, prak¬
tische Arbeiten.
6. Schlußfolgern und
Urteilen
Rechnen, Sachonter-
ricbt, praktische Arbei¬
ten.
ZusammenfQgen der Teile zu einem Ganzen; Er¬
gänzen unvollständiger Sätze, Ergänzen von Figuren,
von Rechenaufgaben; Ergänzen von Stichwörtern
zu einer sinnvollen Erzählung; Kombination einer
Geldsumme aus bestimmten Geldsorten, Finden
von Reimen, Finden von Beziehungen zwischen
gegebenen Gegenständen oder Begriffen.
Finden von Fehlern, Kritik von Sprichwörtern, Nach¬
bilden einer Geschichte mit gleichem Sinn, Schlag¬
fertigkeit und Witz, Selbstkritik auf den verschie¬
densten Gebieten.
Verständnis fOr Abstrakta, selbständiger Gebrauch von
Abstrakten; selbständige Anordnung von Gegen¬
ständen und Erscheinungen unter Abstrakta, Fähig¬
keit zu abstraktem Denken; Finden des Gemein¬
samen zwischen gegebenen Gliedern einer Denkreihe,
Erfassen von Zusammenhängen; Fähigkeit zur Be¬
griffsbildung; zeitlicher Ablauf des Denkens; rich¬
tiges Neben-, Unter- und Oberordnen.
Rein sachliches Urteil, Urteil auf Grund seelischer
Einfühlung; Finden des Wahrscheinlichsten bei ge¬
gebenen Umständen, Finden des Zweckmäßigsten
bei gegebenen Verhältnissen. Selbständigkeit des
Urteils, Gründlichkeit im Urteilen. Geistesgegenwart.
C. Äußerung des Verstandes.
1. Organisationsform
des geistigen Be¬
sitzes
Bei gelegeatlicben Wie¬
derholungen. bei Ab-
Schweifungen auf ent¬
legene Stoffgebiete.
2. Anpassung»- und
Einfühlungsfähig-
keit („Intelligenz“
im engeren Sinne)
Festigkeit und Reichtum der Assoziationen, mehr ur¬
sächliches (kausales) oder mehr geschichtliches
Denken; Ordnung im Vorstellungsleben, feste Be¬
ziehungen zwischen dem Gelernten; Fähigkeit, auch
außerhalb der Lehrstunde über das Wissen zu ver¬
fügen.
Einfinden in neue Situationen und neue Einrichtungen,
in neue Lehrstoffe und Aufgaben, neue Lehrweisen
und neue Lehrer. (Beruht eine etwaige Langsamkeit
auf Vorsicht oder Schwerfälligkeit?
V. Gemüts- und Willensentwicklnng.
A. Grundlagen der Gemüts- und Willensentwicklung.
(Verhältnis zur Verstandesentwicklung.)
Bel gemüt »e rechtstem-
den Unterrichtsstoffen,
bei besonderen Ereig¬
nissen im Familien¬
leben, beim Spiel, nach
einem Tadel oder Lob.
Starkes oder gering entwickeltes Gefühlsleben. — Vor¬
herrschender Gefühlston (Lust oder Unlust), Ge¬
fühlslage. — Die Gefühle sind nur oberflächliche
Anwandlungen oder sie wirken lang im Bewußt¬
sein nach. — Leichte oder schwere Erregbarkeit der
Gefühle, Steigerung zu Affekten. — Beherrschung
der Gefühle. Temperament. — Erlebnisse, die das
Gemütsleben entscheidend beeinflußt oder dem
Willen eine bestimmte Richtung gegeben haben.
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106
Albert Huth
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
B. Inhalte der Gemüts- und Willensentwicklung.
1. Logische Werte u.
Erkenntnisgefühle
Beim entwickelnden Un¬
terricht, im Rechnen,
in der Sprachlehre.
Freude am Suchen neuer Erkenntnisse, Freude an
eigenem Forschen, Freude an Zahlenzusammen¬
hängen, Freude am Finden sprachlicher Ableitungen
und sprachlicher Zusammenhänge.
2. Ethische Werte u.
sittliche Gefühle
BeimSpiel, Beobachtun¬
gen über das außer¬
schulische Verhalten.
Terrarien- u. Aquarien¬
pflege.
3. Ästhetische Werte
u. ästhetische Ge¬
fühle
Zeichen-. Gesangsunter¬
richt, Kunsterziehung,
Arbeitsunterricht auf
der Oberstufe.
Bescheidenheit, Verträglichkeit (Flegelhaftigkeit und
Roheit); Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit; Haß, Rach¬
sucht, Grausamkeit usw. Verhalten des Schülers
gegen Eltern und Geschwister; Stellungnahme zu
geschichtlichen Personen, berühmten Zeitgenossen,
Personen der Dichtkunst. — Verhalten zu Tieren
und Pflanzen, Tierquälerei, Tier- u. Pflanzenpflege,
Schülerfreundschaften und -feindschaften.
Gemütsbeeinflussung durch Bilder, Musik, Dichtungen;
Empfänglichkeit für die Schönheiten der Natur;
guter Geschmack in der Beurteilung von Bildern
und Literatur; Veiurteilung von Kitsch; Gefühl für
Proportionen, Gestalten, Rhythmus, Farbkombina-
tionen usw.; Empfinden für die Zweckmäßigkeit
der Form in kunstgewerblichen Gegenständen.
4. Religiöse Werte u.
religiöse Gefühle
Religionsunterricht,
Kindergottesdienst usw.
Gleichgültigkeit oder Neigung für religiöses Verhalten
zu Kultushandlungen; Gefühl der Abhängigkeit (der
Demut). — Gefühl der Gottähnlichkeit (Gottsuchen).
5. Soziale Werte und
soziale Gefühle
Einordnung in die Klas-
sengemeinschaft. Äuße¬
rungen bei staatsbürger¬
lichen Belehrungen;
Hilfeleistung bei sozia¬
len Maßnahmen, Ver¬
halten bei Schulreisen
usw.
6. Personalwerte und
Selbstgefühle:
a) Kraftgefühle . . .
Teilnahme (Mitleid, Mitfreude); Herrschsucht, Rück¬
sichtslosigkeit, Unbotmäßigkeit,Unterwürfigkeit; Teil¬
nahmslosigkeit, Neid, Mißgunst, Schadenfreude, Ver¬
achtung, Feindseligkeit; Verhalten gegen Lehrerund
Geistliche, gegen jüngere und ältere Personen, gegen
Kranke (Hilfsbereitschaft, Gewalttätigkeit); Verhalten
gegen Erwachsene (Bekannte und Fremde), Anstand,
Vergeltungsgefühle. — Verhalten zu Familie, Klasse,
Erziehungsanstalten: Streben nach Anschluß oder
Absonderung, Einordnung, Übernahme von Pflichten,
Hintansetzung eigener Wünsche, Verhalten zu Ge¬
meinde, Staat, Glaubensgenossenschaft: Anteilnahme
am Geschick des Volkes.
Stärke, Überlegenheit, Sicherheit, Konkurrenzfähigkeit
(und das Gegenteil), richtiges Verhältnis zwischen
Unternehmungsfreudigkeit und Arbeitslust; Mut,
Kühnheit, Waghalsigkeit (Furchlsamkeit, Verzagt¬
heit); Verhältnis zwischen Kraftgefühl und Lei¬
stungen; Versuche, die Überlegenheit ?u mißbrauchen
oder die Schwäche durch Erweckung von Mitleid
auszunützen.
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Anleitung zur Schfiler-t’ersonalbeschreibung
107
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
b) Ehrgefühle ....
Ehrsucht, Ehrgeiz, Anerkennungsbedürfnis, sich zu¬
rückgesetzt fühlen, Gleichgültigkeit, Ehrlosigkeit,
Ehrgefühl und Pflichtbewußtsein, Abenteuersucht,
übertriebener Sport; treibt das Ehrgefühl zu be¬
sonderen Leistungen über das vorgeschriebene Maß
hinaus.
c) Eigenwertgefühle.
1
Selbstüberhebung (Hochmut, Stolz, Dünkel); normales
Selbstbewußtsein; Unterschätzung; ist das Urteil des
Kindes über sich selbst selbständig gebildet oder
durch andere beeinflußt: Selbstbeurteilung auf Grund
von Äußerlichkeiten: Stolz auf Rang, Abstammung,
Vermögen der Eltern, Eigenbesitz — Verschämtheit
wegen Armut, wegen geringen Standes der Eltern
usw. Eitelkeit auf Körpervorzüge, Kleider, Gesell¬
schaftsstufe. Selbstbeurteilung auf Grund von körper¬
lichen, geistigen und sittlichen Leistungen: berech¬
tigt oder unberechtigt; Verhalten bei Erfolgen und
Mißerfolgen, Gleichgültigkeit oder Unzufriedenheit
gegen sich selbst; übertriebene Selbstkritik.
C. Erscheinungsform und Ablaufsweise der Gemüts- und Willens
entwicklung. ,
1. Arbeit
2. Ermüdung.
Bei Hitze, Kopfrechnen,
längerem Schreiben,
Turnen, gegen linde der
Stunde, des Tages, der
Woche, des Vierteljahre.
3. Arbeitsweise . . .
4. Verfolgung von
Zielen
5. Ansätze zur Cha¬
rakterentwicklung
Arbeit zu verschiedenen Tages- u. Jahreszeiten, nach
Turnstunden, Ferien, Krankheiten, bei großer Hitze
od. Kälte. — Besondere Ursachen guter od. schlechter
Leistungen. Obungsfähigkeit. Arbeitsleistung bei
vorgegebener oder beschränkter Zeit (Teilauftiäge,
Beobachtungsaufgaben, langfristige Aufträge).
Rasche Ermüdung oder langer Widerstand gegen die
Ermüdung; besondere Anlässe starker Ermüdung;
Erholungsfähigkeit (körperlich und geistig): Übungs-
fähigkeit(Gewöhnung,Beispiel); besonders ermüdende
Fächer; Äußerung der Ermüdung: Verschlechterung
oder Verlangsamung oder beides.
Tempo der Arbeit: flink, langsam. — Art der Arbeit:
praktisches Zugreifen, logisch richtiges Vorgehen,
Durchführung in Teilen, Drauflosarbeiten (Ökonomie
des Handelns). — Gleichmäßigkeit oder Schwankung
in der Arbeit. — Art der Durchführung: sorgfältig,
schlampig, nur durch ständige Verbesserungen brauch¬
bar oder auf den ersten Entwurf gut.
Tatendrang, nimmermüde, Energie. Ausdauer, Ziel-
strt bigkeit (Kons< quenz) und Zielbewußtheit. —
Überwindung von Hindernissen. (Anstrengungen,
Hunger und Durst, Langeweile, Widersetzlichkeit
des Materials oder der Personen).
Selbstbeherrschung, Zurückhaltung, Draufgängertum.—
Ruhe, Kaltblütigkeit, Entschlußfähigkeit; Entschieden¬
heit, Nachgiebigkeit, Wankelmut; Willensstärke, Be¬
harrlichkeit. — Sorglose Gleichgültigkeit, nervöse
Gereiztheit, Ungeduld, Trotz.
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108
Albert Huth
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
D. Auswirkungen der Gemüts- und Willensdntwicklung.
1. Sondergebiete der
Betätigung
2. Selbständigkeit . .
3. Wirkung auf an¬
dere
Beim Spiel, in der Selbst¬
regierung, in der Vor¬
bereitung von Schul¬
feiern; auf Schulreisen.
Überwiegend körperliche oder geistige Betätigung;
landwirtschaftliche u. gewerbliche Interessenrichtung.
Selbständiges Fragestellen; Widerspruchsgeist; Ver¬
antwortungsfreude; Selbständigkeit in der Arbeit
(Abschreiben).
Führereigenschaften, suggestive Wirkung auf andere
und suggestive Beeinflussung durch andere, organi¬
satorische Begabung, Sinn für Recht und Ordnung,
sprachliche Überzeugungsfähigkeit (Überredungs¬
kunst, Begeisterung, Beweisführung«; Wirken durch
persönliches Beispiel: der Schüler im Urteil seiner
Kameraden. — Versuche, andere zur eigenen An¬
sicht zu überzeugen, Neigung zum Organisieren.
VI. Sittliche Entwicklung.
A. Mittelbare Tugenden.
1. Ordnung (räumlich
und zeitlich)
2. Reinlichkeit. . . .
3. Anstand
Pünktlichkeit, Verhalten vor dem Unterricht, in den
Pausen und nach dem Unterricht; Ordnung in den
Schulsachen, Verhalten auf Unterrichtsgängen; Ver¬
waltung von Schülerämtern.
Körper, Anzug, Schulsachen; im Schulhaus (Schul¬
zimmer, Treppen, Gänge, Hausflur, Aborte, Spiel¬
platz), Eitelkeit.
Haltung, Ausdrucksweise, Umgangsformen (Nägelkauen,
Eßgier, Anrempeln; Freundlichkeit, Verhalten beim
Grüßen und Gehen; zuvorkommend, dienstfertig,
gefällig).
B. Grundlagen der sittlichen Entwicklung.
1. Verhältnis zur
Verstandesent-
wicklung.
2. Vorwiegende Be¬
weggründe zum
Handeln:
a) Triebe und Ge¬
wohnheiten
b) Äußere Anlässe .
c) Eigene Entschlüsse
3. Entwicklung des
Pflichtgefühls
Übereinstimmung von Einsicht und Handeln, überlegte
Entscheidungen oder triebhafte Entschlüsse, kindi¬
sches Wesen oder ernste Reife.
Neigungen, Affekte, Leidenschaften; gedankenloses
Nachmachen, mechanische Angewohnheiten.
Muß zu allem getrieben werden; Erziehungsma߬
nahmen (Belehrung, Überwachung, Versprechungen
und Drohungen, Belohnungen und Strafen); ver¬
steckter Zwang durch bestehende Vorschriften und
bestehende Verhältnisse; folgt allen zufälligen An¬
regungen.
(vergl. die Zusammenstellung unter C).
Ausgeprägtes Pflichtgefühl, Rechts- und Verant¬
wortungsbewußtsein.
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Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung
109
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
C. Inhalte des sittlichen Bewußtseins (Pflichtenkreise, die das Kind
kennt, und Beweggründe seines Handelns).
1. Pflichten gegen
Gott und religiöse
Gern einschaften
2. Pflichten gegen
Mitmenschen
a) Gegen Einzelne
aa) Gleichgeordnete
ßß) Übergeordnete
b) Gegen die Gesamt¬
heit
3. Pflichten gegen
sich selbst
Kenntnis der Gebote Gottes und der Kirche; Bewußt¬
sein der Abhängigkeit von Gott, Erkenntnis der
eigenen Nichtigkeit (Demut, Ehrfurcht, Bewunderung);
Vertrauen auf Gott (Liebe, Dankbarkeit); Hoffnung
auf Seligkeit, Furcht vor Fegefeuer und Hölle;
religiöse Handlungen: Beten, Fluchen, Sonntag hei¬
ligen; Bewußtsein eines religiösen Lebenszweckes;
religiöse Begründung aller Pflichten; religiöse Gleich¬
gültigkeit, Heuchelei, äußere Werke, Kirchenbesuch,
Stellung zur Beichte bezw. Konfirmation.
Kameraden (ehrlich, verträglich, wohlwollend, rück¬
sichtsvoll, feinfühlig); Einfügung in die Gesamtheit;
Wertschätzung in der Meinung anderer; Ehrgeiz,
Ruhmsucht, Selbstgefälligkeit, Hochmut; Geduld,
streitsüchtig, jähzornig (Tätlichkeiten, Messerstechen
usw.), Herrschsucht, Neid, Eigensinn, Geiz, Mutwille,
Prahlerei, Angeberei, Schadenfreude; Nachäffen. —
Wohltätigkeit, Hilfsbereitschaft, Opferfreudigkeit,
Gemeinsinn.
Eltern, Lehrer, Geistliche, ältere Personen: Hilfsbereit¬
schaft, Ehrfurcht vor dem Alter, zuvorkommend,
Liebe, Anhänglichkeit. — Gehorsam (aus Furcht
vor Strafe, aus Achtung und Ehrfurcht, aus Liebe,
aus Einsicht in die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit
des Befohlenen). — Dankbarkeit, Sparsamkeit, Rück¬
sichtnahme (Schonung von Kleidernund Schulsachen);
Bescheidenheit. — Wahrhaftigkeit: Lüge aus
Irrtum, Falschheit, Angst, Prahlerei, Verlegenheit,
Schmeichelei, Selbstsucht, Trotz, Neid, Rachsucht,
Scham, Hingebung, auf Befehl; Kniffe, Ränke,
Verstellung und Heuchelei; Offenheit.
Beruf, Partei, Staat, Heimat, Vaterland, Menschheit. —
Duldung und Achtung gegenüber Andersdenkenden;
Mitleid und Milfreude; Sinn für Recht und Billigkeit;
Pflichten gegen den „Nächsten“. — Stehlen aus
Not, aus Habsucht, auf Befehl; Betrug.
Fleiß: im Verhältnis zur Begabung, abhängig von
äußeren Antrieben; Streberei; Unterdrückung eigener
Wünsche. — Selbstmordgedanken und -versuche. —
Genußsucht: Eßgier, Trinken, Glücksspiel, Schulden¬
machen. Leichtsinn. — Selbstachtung: Rücksicht
auf Gewissen, Ehre, Ruf, Ansehen; Furcht vor der
schlechten Handlung, ihren Folgen, Hoffnung auf
Belohnungen, Sorge für die Zukunft. — Das Ge¬
schlechtliche: Schamhaftigkeit, unkeusche Reden
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
110
Albert Hufh, Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung
Hinweise
für die Beobachtung
Beispiele
4. Pflichten gegen¬
über den Dingen
der Natur
und unsittliche Zeichnungen; Verhalten beim Baden
und in Aborten, Verhalten gegenüber dem Nackten;
Aufklärungssucht; Aufdringlichkeiten gegenüber dem
andern Geschlecht, Ritterlichkeit der Knaben gegen¬
über den Mädchen; geschlechtliche Handlungen:
Selbstbefleckung, gegenseitige Masturbation, Ge¬
schlechtsverkehr, Gleichgesclilechligkeit.
Tiere: Pflege, Quälerei. — Pflanzen: Pflege, mut¬
willige Beschädigungen. — Freude an der Natur,
Wandertrieb.
D. Stellungnahme des Kindes zu Erziehungsmaßnahmen.
1. Bei Gewöhnung
und Aufsicht
2. Bei Beispiel und
gutem Rat
S. Bei Bitten, Auf¬
gaben, Aufträgen,
Befehlen
4. Bei Belohnungen,
Drohungen, Strafen
Einfügen, Widerstreben, absichtliche Verstöße; Lenk¬
samkeit, scheinbarer Gehorsam, Haß gegen jeden
Zwang, Stellung zur Selbstregierung.
Einfluß des guten oder bösen Beispiels; läßt sich mit¬
reißen im guten oder schlechten Sinn; macht sich
über das gegebene Beispiel lustig; fühlt sich über
gute Ratschläge erhaben; ist dankbar und folgsam
für jeden Rat.
Zuverlässigkeit der Ausführung, offener Ungehorsam,
bedingungslose Ausführung, Kritik am Befehl, Eigen¬
sinn und Trotz, Vergeßlichkeit.
Belohnung wird Ansporn zu neuer Leistung, zur Selbst¬
zufriedenheit; Nachlassen der Leistung, Ablehnung
der Belohnung; Erfolg von Drohungen; Strafe er¬
scheint als notwendige Folge der Handlung, bewirkt
Reue und Scham; Kritik an der Strafe, Widerstand
gegen die Strafe, betrachtet den Strafenden als
Feind; Wirkung der Strafe: bessernd, witzigend,
wirkungslos, macht trotzig oder verstockt; Rach¬
sucht: besondere Art der Strafe.
Zur Frage der psychologischen Schülerbeobachtung
im Dienste der Berufsberatung.
Von Otto Bobertag.
Die Mitwirkung der Schule an der Berufsberatung unserer Jugend, die seit
kurzem einen Gegenstand lebhafter Erörterungen in pädagogischen Kreisen
bildet, umfaßt neben berufsethischer Aufklärung und berufskundlicher Unter¬
weisung als dritte Teilaufgabe die Beobachtung und Beurteilung der Schüler
inbezug auf ihre Anlagen und Neigungen, soweit diese für die Berufswahl
inbetracht kommen. Darüber, daß eine systematische, praktisch verwertbare
Schülerbeobachtung nur an der Hand eines geeigneten Beobachtungsbogens
durchgefüührt werden kann, ist man sich jetzt wohl im allgemeinen einig.
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O. Bobertag, Zar Frage der psychol. Schülerbeobachtung im Dienste der Berufsberatung \\\
und die Frage, ob es erwünscht oder sogar notwendig sei, in den Schulen
Personalbogen im Dienste der Berufsberatung einzuführen, wird daher gegen¬
wärtig von vielen Pädagogen bejaht. Es ist auch bereits eine ganze Reihe
solcher Bogen herausgegeben, gelegentlich auch über gute Erfahrungen, die
mit ihnen gemacht worden seien, berichtet worden. Obgleich es daher nahe
liegt, die Einführung von Beobachtungsbogen ohne weiteres zu empfehlen,
sollten die Schwierigkeiten, die hier zu überwinden sind, genau ins Auge
gefaßt werden. Keinerlei Bedenken lassen sich natürlich dagegen anführen,
daß die Bogen Angaben über die Schulleistungen, sowie über die körper¬
lichen Anlagen und den Gesundheitszustand der Kinder enthalten sollen.
Anders verhält es sich mit den psychologischen Beobachtungen, deren
Ergebnisse gleichfalls in den Bogen verzeichnet werden sollen.
Die psychologischen Beobachtungsbogen haben nur insoweit einen Sinn
und eine Berechtigung, als man die Gewähr dafür hat, daß die Lehrer sie
gewissenhaft und richtig ausfüllen. Nun wird es zweifellos immereinen
gewissen Prozentsatz von Lehrern geben, die dies tun werden, auch ohne
besonders dazu angeleitet worden zu sein. Es muß jedoch als ausgeschlossen
gelten, daß dieser Prozentsatz die Mehrzahl ausmacht. Man wüide wohl
zwar durch Vorschrift erreichen können, daß von den meisten oder vielleicht
sogar allen Lehrern irgendeine Ausfüllung der Bogen vorgenommen wird,
aber deren Ergebnis würde wertlos sein. Die große Mehrzahl der Lehrer
ist ohne vorherige eingehende Beschäftigung mit den Fragestellungen der
psychologischen Schülerbeobachtung, ohne Anleitung dazu und ohne Vor¬
übung darin gar nicht imstande, solche Schülerbeobachtung in systematischer
Weise praktisch'zu betreiben. Die in den Bogen vorkommenden psychologi¬
schen Begriffe sind ihnen z. T. unklar oder sie verstehen sie individuell
verschieden; ihre Ausfüllungen sind z. T. mißverständlich oder widersprechen
sich; über den psychologischen Gehalt der Beobachtungsgelegenheiten herrscht
gleichfalls keine Klarheit und E nigkeit, und schließlich ist die Kenntnis der
Beziehungen zwischen beobachteten Eigenschaften und Berufseignung vielfach
mangelhaft. Dazu kommt, daß die Aufmerksamkeit des Lehrers während
des Unterrichts doch in erster Linie dem Lehrstoff und Lehrverfahren, außer¬
dem noch der Disziplin, daher nur nebenbei der psychologischen Beobachtung
seiner Schüler zugewandt ist; wenn diese daher überhaupt erfolgen soll, so
muß der Lehrer ihre Methodik und Technik vollständig beherrschen, um sie
fruchtbar gestalten zu können. Bei der großen Verantwortung, die die Schule
hier auf sich nimmt — auf Grund der Ausfüllung der Bogen soll ja doch
über das Berufsschicksal des Schülers mit entschieden werden —, sollten
die maßgebenden Stellen, die Schulbehörden, keinem Lehrer einen Beob¬
achtungsbogen zur Ausfüllung in die Hand geben, ohne die Gewähr dafür
zu haben, daß er sachgemäß ausgefüllt werden kann.
Zu dem ganzen Problem erhebt sich übrigens noch eine Vorfrage, die hier
nur angedeutet werden soll. Es ist nämlich zu berücksichtigen, daß eine
sichere Entscheidung über den objektiven Wert selbst der gewissenhaftesten
Bogenausfüllung erst zu erlangen ist auf Grund der Feststellung: 1. daß die
Beobachtungen bzw. Urteile verschiedener Lehrer über denselben Schüler
im wesentlichen übereinstimmen; 2. daß sie auch mit den Erfahrungen
genügend übereinstimmen, die mit dem betreffenden Schüler nachher,
während der Lehrzeit, gemacht werden. Eine allen wissenschaftlichen
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112
Otto Bobertag
Anforderungen entsprechende Fundierung der Beteiligung der Schule an der
Berufsberatung (in Gestalt einer Ausfüllung von Beobachtungsbogen) würde
also eigentlich eine große statistische Vorarbeit erfordern, deren Ergebnisse
über die beiden genannten Punkte Aufschluß zu geben hätten.
Der beste Weg nun, um die Lehrer in ihrer Allgemeinheit zur sachgemäßen
Ausfüllung psychologischer Beobachtung6bogen zu befähigen, ist zweifellos
der, daß sie schon während ihrer Berufsausbildung gründlichen Psychologie¬
unterricht erhalten und zum Ausfüllen solcher Bogen unter Anleitung und
Korrektur angehalten werden (Übungsschulen). Für die gegenwärtig schon
im Amt befindlichen Lehrer ist dieser Weg nicht gangbar. Als einzig mög¬
licher Ersatz erscheint die Veranstaltung von Kursen oder Arbeitsgemein¬
schaften, in denen, unter Leitung eines psychologisch genügend vorgebildeten
Schulmannes, die Lehrer in die Probleme und in die Technik der Schüler¬
beobachtung eingeführt würden. Auch wäre zu erstreben, daß die Lehrer¬
schaft mit den Berufsberatungsstellen in möglichst enge Verbindung trete,
um deren besondere Wünsche hinsichtlich der von der Schule zu leistenden
Vorarbeit zur Berufsberatung entgegenzunehmen u. dgl. m.
Wenn die Lehrer in ihrer Allgemeinheit in den Stand gesetzt sein werden,
die psychologischen Beobachtungsbogen auszufüllen, dann werden sie dies
voraussichtlich auch allgemein tun wollen. Nach allen bisher vorliegenden
Erfahrungen ist das nämlich bei den meisten nicht der Fall. Der Haupt¬
grund hierfür ist natürlich bis jetzt die gefürchtete Mehrbelastung, denn
freilich erfordert diese psychologische Nebenarbeit eine nicht unbeträchtliche
Zeit, namentlich dann, wenn der Lehrer — was doch gewünscht wird —
seine Schüler auch außerhalb der Schule beobachten, vielleicht sogar das
Urteil des Elternhauses anhören und schließlich auch noch mit dem Berufs¬
amt in Verbindung stehen soll. Es wird kaum möglich sein, dem Lehrer
diese ganze Arbeit neben seinem regelrechten Schuldienst zuzumuten.
Ein Ausweg aus dieser Schwierigkeit dürfte sich aber finden lassen,
wenigstens dann, wenn man die Führung von Beobachtungsbogen grund¬
sätzlich nur im letzten Schuljahr fordert. Es wird zwar von verschiedenen
Seiten, gerade auch von pädagogischen Praktikern, verlangt, daß jeden Schüler
ein Beobachtungsbogen während seiner ganzen Schulzeit begleite. Die Ver¬
wirklichung dieses Gedankens dürfte jedoch gänzlich unmöglich und auch
kaum notwendig sein. Will man psychologische Beobachtungsbogen, unter
Absehung von der Berufsberatung, allgemein, d. h. in allen Klassen ein¬
führen, so würde sich dies vielleicht (entsprechende Lehrerbildung voraus¬
gesetzt!) durchsetzen lassen, wenn man sich auf die irgendwie auffallenden
Kinder beschränkte: die intellektuell stark untemormalen, die hochbefähigten
und die psychopathischen, schwer erziehbaren, sittlich gefährdeten Kinder, —
zusammen schätzungsweise 10—15°/o der Gesamtheit. Was die Beobachtung
im Dienste der Berufsberatung anlangt, so würde diese jedoch auf das letzte
Schuljahr beschränkt werden können und müssen. Die Gründe, die hierfür
sprechen, sind des Näheren folgende:
1. Die für die Berufswahl wichtigen Eigenschaften treten auf früheren
Altersstufen meist noch nicht deutlich genug hervor; es kommt hinzu, daß
die Individualität vieler Kinder sich in den Entwicklungsjahren nicht unwesent¬
lich verändert und neue Züge offenbart, so daß frühere Beobachtungen im
allgemeinen überflüssig, z. T. sogar irreführend sein würden.
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Zur Frage der psychologischen Schfllerbeobacbtung im Dienste der Berufsberatung H3
2. Die Eigenschaften, die für die Berufswahl maßgebend sind, sind andrer-
aeits bei manchen Kindern (ausgesprochene Talente!) so leicht feststellbar,
daß sie keiner jahrelangen Beobachtung bedflrfen, die in diesem Falle also
nur eine unnütze Arbeit wäre.
3. Wenn die Beobachtungsbogen nacheinander in die Hfinde verschiedener
Lehrer gelangen, so entsteht die Gefahr, daß der eine sich auf den andern
verlSßt und selbständige Beobachtungen nicht anstellt, wodurch Voreinge¬
nommenheiten und Irrtflmer festwurzeln, die dem Schüler nur nachteilig
werden können, — oder umgekehrt die Gefahr, daß infolge gegenseitigen
Mißtrauens der Lehrer die Beobachtungsergebnisse z. T. illusorisch gemacht
werden.
4. Ein gewisser, nicht angebbarer Prozentsatz der Kinder nimmt die Ein¬
richtung der Berufsberatung überhaupt nicht in Anspruch; die Ergebnisse da
psychologischen Beobachtung dieser Kinder werden also nie benutzt Es.
empfiehlt sich nicht, nutzlose Beobachtungen länger auszudehnen, als unver¬
meidbar ist
5. Es Bollte zwar, wie angedeutet, als erstrebenswert gelten, daß alle Lehrer
befähigt werden, psychologische Schülerbeobachtung zu treiben; man wird
aber auch bei anderer als der bisherigen Lehrerbildung damit rechnen müssen,
daß immer nur ein Bruchteil der Lehrer ein solches Maß von Interesse und
Fähigkeit für psychologische Schülerbeobachtung besitzt, daß diese ihnen im
Sinne einer Vorarbeit für die Berufsberatung zugewiesen werden darf. Nur
solchen Lehrern sollte die hier zu leistende Arbeit anvertraut werden, die
sich aus eigenem Antriebe dazu bereit erklären und auch bereits ihre Be¬
fähigung dazu erwiesen haben. Man wird nun wohl darauf rechnen können,
daß sich an jeder Schule — es brauchen zunächst nur städtische Verhältnisse
berücksichtigt zu werden — mindestens eine Lehrkraft finden wird, die
geeignet wäre, die Ausfüllung der Beobachtungsbogen im letzten Schuljahr
zu übernehmen; es würde dann, allerdings wohl notwendig sein, daß diese
Lehrkraft dauernd den Hauptunterricht in der Abschlußklasse übernähme,
wie das jetzt in der Regel die -Schulleiter tun. Die nicht aus der obersten
Klasse abgehenden Schüler würden bei diesem Modus natürlich nicht ver¬
nachlässigt zu werden brauchen.
Bei einer solchen Organisation der Mitarbeit der Schule an der Berufsbe¬
ratung würde sich nun auch die früher berührte Schwierigkeit beheben lassen,
die in der Mehrbelastung der Lehrer durch den Zwang zur Ausfüllung der
Bogen liegt. Wenn zunächst nur eine Lehrkraft an der Schule mit der sy¬
stematischen psychologischen Schülerbeobachtung zu tun hätte — in der sie
sich bald große Übung erwerben dürfte —, so würde es wohl möglich sein,
sie im übrigen Schuldienste etwas zu entlasten, ihr etwa 4—6 Stunden wöchent¬
lich weniger zu übertragen. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß die betreffende
Lehrkraft in dauernder Verbindung mit dem zuständigen Berufsamt stehen
müßte; die Notwendigkeit dieser Verbindung ist zugleich ein weiterer Grund
dafür, daß die Zahl der Persönlichkeiten, die an der Schule für die Berufs¬
beratung wirken, möglichst eingeschränkt werde.
Wenn die Mitarbeit der Schule an der Berufsberatung in der durch die
Schülerbeobachtung angezeigten Richtung gesichert werden soll, werden üb¬
rigens die Berufsämter ihrerseits darauf bedacht sein müssen, daß sie dem Lehrer
nicht durch Indiskretion gegenüber den Eltern der Schüler die Berichterstat-
Zeitschrift t. pfidagog. Psychologie. 8
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114 0. Bobertag, Zur Frage der psychol. Schalerbeobachtung im Dienste der Berufsberatung
tung an das Berufsamt verleiden, wie dies gelegentlich vorgekommen ist.
Eine solche Indiskretion hat die Tendenz, das vielfach ziemlich gespannte Ver-
hältnis zwischen Elternschaft und Lehrerschaft, das durch die Einrichtung
der politischen Elternbeiräte geschaffen ist, noch mehr, auch zum Nachteil
der Schüler, zu gefährden; und diese ist umso bedauerlicher, als die Eltern
doch gerade in Gemeinschaft mit den Lehrern das Berufsamt unterstützen
und ihm Vorarbeiten sollten.
Zwei Bemerkungen erscheinen zum Schluß nicht überflüssig.
1. Die Möglichkeit einer psychologischen Schülerbeobachtung beruht au f
dem Vorhandensein von Beobachtungsgelegenheiten, und diese sind um so
zahlreicher und günstiger, je mehr der Unterrichtsbetrieb darauf zugeschnitten
ist, die Fähigkeiten, Interessen und Neigungen der Kinder in freier Selbst¬
tätigkeit hervortreten zu lassen. Und dies wiederum wird um so mehr der
Fall sein, je mehr der Unterricht im Sinne der Arbeitsschule erteilt wird. Da¬
bei ist auf die handwerkliche Fähigkeit der Schüler besonderes Gewicht zu
ligen, da für die Berufsberatung der Volksschuljugend die Eignung und die
Neigung zu handwerklichen Berufen die weitaus größte Bedeutung hat. Aus
den Beobachtungen, die der Lehrer im Werkunterricht an seinen Schülern
anstellen kann, muß sich deren Berufseignung im weiten Umfange ganz von
selbst und ohne besonders darauf gerichtete Bemühungen ergeben.
2. Wenn es zur amtlichen Einführung von Beobachtungsbogen in der
Schule zum Zwecke der Berufsberatung kommen sollte, so würde es sich
empfehlen, die Vorarbeiten hierzu einer besonderen Kommission zu über¬
tragen, die aus Vertretern der Lehrerschaft, der Berufsämter und der wich¬
tigsten für die Volksschuljugend in Betracht kommenden Berufe selbst zu
bestehen hätte. Diese Kommission würde die Aufgabe haben müssen, einen
endgültigen Beobachtungsbogen nebst Anweisungen zu seiner Ausfüllung aus¬
zuarbeiten, nachdem sie womöglich durch Umfrage festgestellt hätte, welche
praktischen Erfahrungen bis jetzt mit solchen Beobachtungsbogen gemacht
worden sind. Der endgültig einzuführende Bogen sollte dann auch erst
probeweise zur Verwendung kommen, um die mit ihm gemachten Erfahrungen
zu einer letzten Redaktion des Bogens zu verwerten.
Zur Feststellung der Sprachbefähigung bei Volksschülera.
Ergebnisse einer Nachprüfung der Schlotteschen Untersuchungen
an Zehnjährigen *).
Von Marx Lobsien.
Die Untersuchungen Schlottes über die sprachlich-logische Befähigung
Zehnjähriger wiederholte ich an einer Kieler Knabenmittelschule. Die
Ergebnisse decken sich teilweise, scheinen andererseits aber Mängel jener
Methode aufzuweisen. Ich stelle sie kurz zusammen.
Vorerst eine Bemerkung über meine Prüflinge: Ihre Zahl ist gering, nnr
25 zehneinhalbjährige Knaben konnte ich untersuchen. Außer dem Alters-
*) Hierzu vergleiche mau die Abhandlung von Schlotte S. 29 ft. des laufenden Bandes di<
Zcitschiift.
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Marx Lobsien, Zur Feststellung der Sprachbefiihigung bei Volksschülern
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unterschied von durchschnittlich einem halben Jahre gilt noch zu bedenken,
daß meine Prüflinge bereits l ji Jahr in einer Fremdsprache unterrichtet worden
waren. Die Altersdifferenz veranlaßte, wie einwandfrei festgestellt werden
konnte, keine Beeinflussung der Versuche, der Umstand aber, daß die Schüler
bereits Gelegenheit gehabt hatten, im Englischen zu zeigen, was sie zu leisten
vermochten, gab die mir sehr willkommene Gelegenheit, die Leistungen nach
dem Befund der Prüfung und die Schulleistungen in der Fremdsprache zu
vergleichen, jene also an diesen zu bewähren. Daß bei einer so geringen
Anzahl von Prüflingen das Endurteil nur vorsichtig gefällt werden darf, liegt
auf der Hand, doch unterlasse ich nicht, zu bemerken,-daß der Sprachunter¬
richt von einer erfahrenen und ausgezeichneten Lehrkraft erteilt worden war.
Zunächst mögen die Versuchsergebnisse in Leipzig und Kiel kurz ver¬
glichen werden. Die prozentuale Erfüllung zeigt verhältnismäßig große
Übereinstimmung, wie folgende Übersicht beweist:
Leipzig Kiel
1. Vokabelversucb. 80 29.6
2. Vorstellungsreichtum.(30) (01.4)
5. Freie Kombination. 44 88.7
4. Gebundene Kombination. 47 46,2
6. Ober- und Nebenordnung.60 49,8
6. Lautaulfassung.61 67
7. MosaiksStze. 62 63
8. WortgedSchtnis. 64 64
9. SatzgedSchtnis. 75 73,1
Die prozentuale Erfüllung der ersten und letzten Versuchsart ist am be¬
denklichsten und weist darauf hin, daß da wie hier die Methode zu schwer,
bezw. zu leicht war.
Ich begnüge mich damit, diesen Vergleich der Prüfungsergebnisse in Leipzig
und Kiel allein hierher zu schreiben und weise nur auf den verschiedenen
Anteil bin, den die einzelnen Prüfungsergebnisse meiner Untersuchungen
an der Prüfungsendreihe haben. Mit Hilfe der Korrelationsrechnung ergab
sich: die Gedächtnisrangreihe, die aus allen Gedächtnisversuchen bestimmt
ward, stand zur Gesamtrangreihe im Werte 0,75, die der sprachlich-logischen
= 0,86. Allerdings standen beide im Verhältnis 0,49, also durchaus nur in
mittlerer Korrelation. Insbesondere ergaben sich
Korrelation zur Endreihe:
1. Logischer Zusammenhang.
2. Logische Ordnung.
5. Gebundene Kombination.
4. Freie Kombination..
6. Vorstellungsreichtum.
6. Laulauffassung..
0,69 \
0,73 j
0,581
0,41/
0,86
0,61
0,23
0,32
Die Fähigkeiten, die nach allgemeiner Überlegung für die Spracherlernung
besonders bedeutsam sind: Vokabelgedächtnis und Kombination und
Lautauffassung standen zur Endreihe in der Korrelation 0,40, ward das
Vokabelgedächtnis ausgeschaltet = 0,50.
Das Vokabelgedächtnis stand zum Gesamtgedächtnis, soweit es
durch die vorliegenden Versuche geprüft wurde, in der Korrelation 0,42, da¬
gegen das Vokabelgedächtnis allein zur Endreihe im Verhältnis — 0,08.
8 *
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Marx Lobsien, Zur Feststellung der Sprachbef&bigung bei Volksschtllem
Demnach scheinen die Ergebnisse meiner Nachprüfung den Vokabel* und
den Lautauffassungsversuch in der vorliegenden Gestalt als wenig günstig zu
erweisen.
Vergleichen wir nun die Rangreihen, die die Prüfung an die Hand gab,
mit der Reihe der Spracbleistungen nach halbjährigem Unterricht im Eng¬
lischen! Der Vergleich stößt sicher auf mancherlei Bedenken. Ich gehe
darauf weiter nicht ein, zeige nur, wie die Sprachleistungsreihe gewonnen
wurde. Als Grundlage dienten zehn im Laufe des Halbjahres angefertigte
Klassenarbeiten, zwei grammatische Diktate, ein Vokabeldiktat und ein Diktat,
das Lautauffassung und Lautwiedergabe erkennen lassen sollte. Jenes wandte
sich an den bisher erlernten Wortschatz, dieses verlangte von den Prüflingen,
daß sie 35 neue Wörter aus dem Wortklange des geübten Vokabelschatzes
heraus richtig niederschreiben sollten. Die Verrechnung der Rohergebnisse
geschah, soweit möglich, in ähnlicher Weise wie bei den Testversuchen.
Der Vergleich ergab eine Korrelation von 0,37, nur die ersten und letzten
Nummern ergaben Obereinstimmung, dazwischen lagen aber erhebliche Ab¬
weichungen.
Man kann darauf hinweisen, daß der Sprachlehrer seine Reihe auf einer
engeren Grundlage aufgebaut, daß er die Testversuche, die Intelligenz, die sich
im Sinn für logische Verhältnisse äußert, viel deutlicher berücksichtigt habe.
Wir greifen daher die Versuchsreihen heraus, die zu der Lehrerreihe vermut¬
lich in engerer Beziehung stehen: Gedächtnis, Kombinationsfähigkeit
und Lautauffassung. Die Berechnung ergab die Werte 0,37 und 0,48 (Ge¬
dächtnis ausgeschieden). Man erkennt, daß eine sichere, übereinstimmende
Auswahl nicht möglich ist
Besonders bemerkenswert ist die Korrelation des Vokabelgedächtnisses
zur Sprachrangreihe. Die Korrelation zur Testrangreihe ergab 0,03, hier
die zur Lehrerreihe 0,07; es bestand nach der Rechnung hüben wie drüben
keine Beziehung. Ein gutes Vokabelgedächtnis gibt anscheinend auch für
den Elementarunterricht keine Gewähr für gute sprachliche Leistungsfähigkeit.
Ein umfänglicheres Urteil erlaubt ein Vergleich der einzelnen Testleistungen
zu der Test- und Lehrerrangreihe. Ich bezeichne jene als t, diese als 1«
Logische Leistung: t —0,85, 1 — 0,80
insbesondere: t: Ordnung 0,73—Zus. 0,69; t — 0,83, 1 = 0,36
Gedächtnis: t —0,75, 1 — 0,48
insbesondere: t —Vok.—0,02, Wort 0,58, gatz 0,69; 1 — 0,07 0,60 0,53
Kombination: t — 0,61, 1 — 0,28
insbesondere: t—geb. 0,58, frei 0,41, 1— 0,36 0,10
Vorstellungsreichtum: t — 0,23, 1 — 0,29
Lautauffassung: t — 0,32, 1 — 0,37
Mit Ausnahme der Kombinationsprüfung ergibt sich leidliche Überein¬
stimmung.
Aus dem Gange der Kurven scheint hervorzugehen, daß in der Testrang¬
reihe die logischen und Gedächtnisleistungen sich ungleich klarer ausprägen
als die spezifisch sprachlichen. Es liegt der Sprachbefähigung noch ein Etwas
zugrunde, das der vorliegenden Methode, wenigstens in ihrer jetzigen Form,
nicht erfaßbar scheint
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W. Alter, Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen \yj
Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände
bei Schulneulingen.
Nach einer Vorlesung vor der Hauptversammlung des Lippischen Lehrervereins.
Von W. Alter.
Meine Herren! Die hohe Aufgabe, die Sie zu wirken haben, ist meinem
Beruf eng verknüpft; auch wir Irrenärzte nehmen teil an jener Fülle von
Beziehungen, die Sie und Ihre Tätigkeit allen Gebieten des Lebens und allen
Möglichkeiten des menschlichen Werdens verbindet. Ihr Einfluß bedeutet in
der Entwicklung jener Einzelseele, der unser Forschen und — wo es nottut
— unsere Hilfe dient, eines der wichtigsten, entscheidendsten und nach¬
haltigsten Erlebnisse. An Ihrer Hand tritt das Kind zum ersten Male über
die Schwelle des großartigen Palastes, den unsere logische und methodische
Geistesarbeit errichtet hat; Sie eröffnen dem phantastischen Denken, dem die
Kinderseele in ihren unbegrenzten Möglichkeiten so gerne nachgeht, ein
weites und wundervolles Neuland; Sie gewöhnen diese Geistesrichtung aber
auch an die Gebundenheit der Grenzen und Ziele, die sie aus einer gaukelnden
Verführung zu einer unentbehrlichen und wegweisenden Führerin der logischen
Begriffsfolgen umformt.
Aber der Mensch lernt in Ihrer Obhut nicht nur die Weite seines kindlichen
Ich in die strenge Ordnung des methodischen Denkens einzugrenzen; er lernt
bei Ihnen auch das methodische Arbeiten durch eine planmäßige Anspannung
des Könnens zum Wissen. Und er erwirbt auf diesem Wege zum Wissen
schließlich an Ihrer Hand jenes geheimnisvolle höchste Gottesgeschenk, das
die geistige Menschwerdung vollendet: die Fähigkeit, Eindrücke und Gefühle
zu Urteilen und abstrakten Begriffen zusammenzuschließen und das Verhältnis
des Ich zur Umwelt auch in dem Wechselspiel, das den Willen darstellt, den
hohen Gesetzen unterzuordnen, die wir als Moral und Ethik begreifen. Es
ist die großartigste Wiederholung der Erschaffung des Geistes, die Ihr Beruf
immer aufs neue umfaßt; und Sie sind besonders glücklich zu preisen, weil
Ihr Feld jene unermeßliche und in jedem Bilde neue Welt der Geister in
ihrer köstlichsten Maienblüte umspannt.
Aber diese schöne und stolze Aufgabe ist auch ein schweres Werk; das
kann niemand besser würdigen, als ein Angehöriger meines Berufes, dem
ja vor anderen die Schwierigkeiten bekannt sind, die sich aus der unendlichen
Vielgestaltigkeit der geistigen Objekte unseres Wirkens ergeben. Es sind in
vielem ähnliche Ziele, und es sind darum auch in weiten Strecken gleiche
Wege, die unsere Berufe vereinen; Ihnen, wie uns erwächst aus der Arbeit
an dem höchsten Schöpfungswunder, dem Menschengeist, die Notwendigkeit,
dieses Wunderwerk eingehend zu studieren und zum mindesten in den Be¬
ziehungen genau kennen zu lernen, die im Kreise des beruflichen Wirkens
geltend werden.
Und es sind da vorab für Sie wieder ganz bestimmte Beziehungen, in denen
diese Notwendigkeit eine besondere Bedeutung und eine für Ihre ganze Arbeit
ausschlaggebende Wichtigkeit erlangt: es sind das die psychologischen
Probleme, die sich in den Anfängen der Schulzeit bei der Einwertung der
kindlichen Geisteszustände ergeben. Jedes Kind, das zum ersten Mal der
Schulpflicht genügt, bedeutet in seiner geistigen Eigenart ein Rätsel, das
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W. Alter
gelöst — und zwar richtig gelöst — werden muß, wenn Ihre Arbeit Erfolg
haben oder gar auf dem kürzesten Wege die besten Leistungen bewirken soll.
Die Mehrzahl dieser Rätsel erfordert trotz aller Not der Zeit kein besonderes
Kopfzerbrechen; die gesunden Kinder von regelmäßiger Geistesart bilden eine
erfreulich große Mehrheit — die allerdings sicherlich größer erscheint, als sie
es wirklich ist: denn es ist unvermeidlich, daß der Gesamteindruck frischer
Gesundheit, den diese große Schar vollwertiger Schulrekruten ergibt, eine
Reihe von unregelmäßigen Geisteszuständen dadurch überdeckt, daß er jene
besondere Einstellung und Aufmerksamkeit nicht in Übung hält, die zur
Ermittlung abwegiger Geisteszustände unentbehrlich ist. Dieses Verwaschen
der Grenzen wird naturgemäß am stärksten Formen von flacher uAd wenig
ausgeprägter Abweichung betreffen; aber es ist gerade da von besonderem
Nachteil. Denn diese leicht abnormen Kinder werden immer mehr zum
wichtigsten Problem der Pädagogik — weil bei ihnen zum Guten und zum
Bösen die weitesten Möglichkeiten gegeben sind. Sie können, wenn ihre
Eigenart verkannt wird, in der Schule unendlich viel mehr verderben, als
erwerben; sie sind später immer in Gefahr, in die Kriminalität hineinzutreiben
oder zur Geisteskrankheit zu entgleisen. Aber sie sind auch dem entgegen
da, wo ihrer Eigenart das richtige Verständnis entgegenkommt, die lohnendsten
und dankbarsten Objekte jener heilpädagogischen Bestrebungen, die heute
auch die praktische Tätigkeit des Lehrers mit der des Arztes so eng verbinden
und unentbehrlich sind, wenn das kostbare Material, das selbst der ärmste
Kindergeist noch darstellt, zu seinen besten Möglichkeiten geformt und ge¬
bildet werden soll.
Nach den gegebenen Verhältnissen muß auch eine solche heilpädagogrische
Arbeit in weiten Grenzen im Rahmen der Normalschule geleistet werden: Sie
alle, meine Herren, müssen im Kreis Ihres Wirkens neben den Anforderungen
der regelmäßigen Schulung auch den besonderen und schwierigen Aufgaben
zu genügen suchen, die durch Kindergeister von regelloser oder regelwidriger
Eigenart gestellt werden. Deshalb hoffe ich Sie besonders und ganz allgemein
zu interessieren, wenn ich Ihnen aus meinem Fachwissen einige Anhaltspunkte
zur Erkenntnis solcher Eigenart darzustellen versuche. Ich werde dabei
manches Altbekannte und Ihnen praktisch längst Geläufige nicht umgeben
können; ich bitte das aus der großen Bedeutung der Sache freundlichst zu
entschuldigen und zu berücksichtigen, daß grade uns Irrenärzten jeder Hinweis
wichtig erscheinen muß, der die Erkenntnis solcher Kinder fördert — weil
sie ebensooft die Vorstufen zu Fällen unserer Wirksamkeit bedeuten. Wir
sind gegenüber diesen Vorstufen machtlos; aber Sie können der Volksgesund¬
heit und der werdenden Generation Großes leisten, wenn Sie durch eine
frühzeitige Feststellung solcher Zustände zur Vorbeugung und Verhütung
geistiger Entgleisungen beitragen und mitwirken. Meine Ausführungen wollen
und sollen Ihnen dazu nur ein paar Richtungspunkte erinnern oder hervor¬
heben; ich will Ihnen nicht einzelne Zustandsformen und Krankheitsbilder
schildern, sondern ganz allgemein diejenigen Eigentümlichkeiten besprechen,
deren Nachweis bei einem Schulrekruten die Möglichkeit eines abwegigen
oder minderwertigen Geisteszustandes vermuten läßt. Ich brauche dabei kaum
zu betonen, daß eine solche Vermutung zunächst oft nur als ein Anlaß au
besonderer Achtsamkeit und zu weiterer sorgfältiger Prüfung gewertet werden
darf; in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der hierhier gehörenden Fälle
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Zar Erkenntnis abwegiger and krankhafter Geisteszustlnde bei Schulneulingen H9
kann erst diese weitere Prüfung sichere Urteile gewährleisten. Die Erkenntnis
des Geistes läfit sich ebensowenig schematisieren und generalisieren, wie
die geistige Erkenntnis; die Schule muß gerade in diesen Fällen am strengsten
individualisieren, wenn sie der besonderen Eigenart solcher Kinder gerecht
werden soll. Aus diesem Grunde sind auch zu solchen Prüfungen und Unter¬
suchungen die generalisierenden und schematisierenden Forschungsmethoden
nur von beschränktem Wert« und bedingtem Nutzen. Eine geistige Eigenart
kann beim Kinde ebenso wenig, wie beim Erwachsenen aus einer einseitigen
Verfolgung eines ihrer Anteile erschlossen werden: wer wirklich Seelenkunde
treiben will, muß immer die ganze Persönlichkeit seiner Objekte erfassen
und zur Bewertung verwerten. Jede Untersuchunggart, die dieser Forderung
nicht genügt, muß unter Umständen zu erheblichen Fehlurteilen führen; schon
aus diesem Grunde sind die reinen Intelligenzprüfungen, die heute vielfach
zur Erforschung kindlicher Geisteszustände benutzt werden, in ihren Ergeb¬
nissen immer sehr vorsichtig zu bewerten; sie offenbaren weiter nichts, als
eine mehr oder weniger große intellektuelle Schlagfertigkeit — und das ist
ein Wesenszug, der gerade bei Kindern nicht überschätzt werden darf, weil
da dem Gefühlsleben, der Affektivität, eine noch größere Vorherrschaft zu¬
kommt, als ihm ohnehin gegeben ist. Es ist Ihnen ja bekannt, daß die Aus¬
bildung des Gefühlslebens dem Werden der Vorstellungen immer vorangeht;
schon aus diesem Grunde müssen Störungen des Gefühlslebens belangreicher
und bedeutsamer sein, als Störungen der Verstandesseele. Sie sind aber auch
zweifellos viel wichtiger; intellektuelle Defekte bedeuten sehr oft nur Un¬
begabtheit oder einfachen Schwachsinn aus äußeren Ursachen; Störungen
des Gefühlslebens beweisen ausnahmslos das Hereinspielen krankhafter Vor¬
gänge; ihr Auftreten signalisiert immer eines der eigentlichen und großen
Probleme der Pädagogik. Sie lassen sich in kein Schema fassen und nach
keinem Schema kurieren; sie sind nur durch eine Erziehung heilbar, in der
äie Intuition und das Können mehr bedeuten als das Wissen. Schon aus
diesem Grunde leistet die intuitive Erkenntnis, die durch Wissenschaft ge¬
stützt, aber nicht in starre Formen gepreßt ist, gerade zur Erforschung der
Kinderseele die beste Arbeit; wer aus den sicheren Voraussetzungen der Er¬
fahrung unbefangen zum Urteil strebt, wird nicht selten schon auf den ersten
Blick oder nach kurzer Bekanntschaft zu klarer Einsicht gelangen.
Denn gerade die allgemeinste Betrachtung ergibt sehr oft schon deutlichste
Fingerzeige zur Lösung unserer Rätsel — und diese nächsten Anhaltspunkte
sind sogar oft besonders wertvoll; sie gestatten vielfach von vornherein Zu¬
stände auseinander zu halten, die einer schematischen Untersuchungsform
gleichwertig erscheinen müssen, während sie in Wirklichkeit grundverschiedene,
je nach Art, Entstehung und Aussichten überhaupt nicht vergleichbare Zu¬
standsbilder bedeuten.
Ich will das an einem einfachen Beispiele erläutern: Stellen Sie sich drei
Knaben vor, die zur ersten Schulstunde herankommen. Bei allen dreien er¬
gibt der erste Eindruck, die erste Ansprache geistige Mängel; eine eingehende
Prüfung bestätigt diesen ersten Eindruck zu der fast vollkommenen Über¬
einstimmung einer mäßigen aber deutlichen intellektuellen Schwäche: und
doch handelt es sich um diei grundverschiedene Zustände. Sie werden ohne
weiteres diese grundsätzliche Verschiedenheit erkennen, wenn ich Ihnen einige
besondere Kennzeichen der drei Kinder angebe: zwei sind groß und kräftig,
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120
W. Alter
der eine davon hat eine Hasenscharte und einen auffällig mißgebildeten
Schädel, der andere fällt nur durch sein verwahrlostes Äußere auf; der dritte
Knabe ist blaß, klein und schwächlich. Meine Herren! Die Deutung dieser
Kennzeichen ist ja klar; der erste Knabe ist der einzig wirkliche Geistes¬
schwache, sein mangelhafter Geisteszustand bedeutet eine minderwertige An¬
lage. Der kleine Strolch kann dagegen in Wirklichkeit sehr gut veranlagt
sein, er erscheint nur schwachsinnig, weil er duröh Nachlässigkeit und Stumpf¬
sinn seiner Angehörigen in seiner geistigen Entwicklung vernachlässigt worden
ist Auch der dritte Rekrut täuscht mit dem Eindruck der Geistesschwäche;
er erscheint minderwertig, weil er durch Kinderkrankheiten zurückgeblieben
ist. Meine Herren: drei solche aufdringliche Schulbeispiele werden Ihrer Be¬
urteilung sicherlich sehr rasch zu denselben Schlüssen auffallen — aber es
sind eben Zweckbeispiele, die die in Wirklichkeit meist vorhandenen Ver¬
wicklungen vermeiden. Denn es ist leider nicht ungewöhnlich, daß auch
körperlich gut gepflegte Kinder aus wohlhabenden Familien eine mehr oder
weniger hochgradige geistige Vernachlässigung erfahren; es ist sehr häufig,
daß sich eine solche Bildungsschwäche auf eine ungünstige Veranlagung auf¬
pfropft also auf eine reelle geistige Minderwertigkeit — und es ist schließlich
auch gar nicht selten, daß sich eine solche grundsätzliche Minderwertigkeit
mit einer besonderen Anlage zu Erkrankungen verkuppelt und dadurch der
Entwicklung meines dritten Beispiels nahetritt. Aber gerade weil die Sachlage
meist so verwickelt und innerlich nach der einen oder der anderen Richtung
hin kompliziert ist, bedeutet jeder Anhaltspunkt, den d e erste Betrachtung
ergibt, einen wertvollen Trumpf in dem Rätselspiel der Seelenerkundung:
Wer seinen Blick auf beachtenswerte Äußerlichkeiten solcher Kinder einge¬
stellt oder noch besser geradezu dressiert hat, vermag sehr oft aus solchen
auffälligen Merkmalen buchstäblich auf den ersten Blick ein Urteil zu fällen,
das das Verhältnis zwischen Kind und Schule von seinen ersten Anfängen
an zu beider Segen in die rechten Wege leitet: ein sorgfältiges Achtgeben auf
das Äußere der Schulrekruten ist gerade für die Zwecke, die ich geltend
machen möchte, sehr wichtig und von großer Tragweite.
Denn körperliche Mängel, Mißbildungen oder Gebrechen bedeuten eben
ganz allgemein Signale des Ungewöhnlichen: und der Geist des Kindes ist
noch so eng an das Gefängnis des Leibes gebunden, daß dem schadhaften
Gefäß in der Regel auch ein schadhafter Inhalt entspricht. Natürlich kann
eine fortgesetzte Beobachtung selbst gehäufte äußere Warnzeichen zur Be¬
deutungslosigkeit entwerten: aber man darf sie trotzdem nie übersehen und
in keinem Falle die aus ihnen möglichen Folgerungen eher preisgeben, als
bis man der geistigen Intaktheit ihrer Träger sicher ist. Aus ihrer großen
Bedeutsamkeit ist ihre genaue Bekanntschaft für jeden Erzieher, der heil-
pädagogische Wirkungen verfolgen und erstreben will, ganz unerläßlich; und
aus dem gleichen Grunde ist es notwendig, daß man den Kreis der zur
psychischen Beurteilung auswertbaren Äußerlichkeiten nicht einzuschränken
sucht, sondern in seinen weitesten Möglichkeiten erfaßt
In dieser grundsätzlich gebotenen weiten Ausdehnung des Bereichs der
körperlichen Verdachtsmomente muß in den Lebensjahren, die hier in Frage
stehen, schon jede erhebliche körperliche Vorreife und noch mehr jedes merk¬
bare Zurückbleiben hinter den Gleichaltrigen als ein Hinweis auf die Mög¬
lichkeit geistiger Schwäche beachtet und bewertet werden. Kinder, die älter
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Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen 121
oder jünger aussehen, als sie wirklich sind, schwächliche, blutarme und schlecht
ernährte Kinder müssen — besonders in ländlichen Lebensverhältnissen und
bei einer Herkunft aus erwerbssicheren Kreisen — stets als kranke Kinder
gelten. Bestehen bei ihnen überdies noch Augenentzündungen, Ohrenleiden,
Ausschläge oder Drüsenleiden, zeigen sie die wohlbekannten Folgeerscheinungen
der englischen Krankheit, üble Ausdünstungen oder Geruch aus dem Munde,
— so wird man sehr oft nicht fehlgehen, wenn man eine geistige Minderung
aus körperlicher Ursache oder wie die Franzosen sagen: eine arrieration ma¬
terielle erwartet und daraus von vornherein die mildeste Beurteilung und eine
besonders wohlwollende und unermüdlich nachhelfende Pädagogik geltend
werden läßt.
Dieselbe Stellungnahme wird noch entschiedener gerechtfertigt und not¬
wendig sein, wenn der erste Eindruck neben solchen Befunden oder in ver¬
einzeltem Auftreten noch ein oder das andere jener körperlichen Anzeichen
ergibt, die als Merkmale der Entartung oder als Offenbarungen schwerer
Nervenleiden gedeutet werden müssen.
Sie wissen ja alle, daß der Begriff der Entartung der an eine schlechte
Keimanlage oder an eine ungünstige Keimentwicklung gebunden ist, in der
Entstehung abwegiger, ungewöhnlicher und krankhafter Geisteszustände eine
ganz außerordentlich große Rolle spielt Die Entartung bedeutet immer eine
Verschiebung gegenüber den gewöhnlichen Bahnen und den gesunden Grenzen
der Entwicklung: sie wird oft nur in der geistigen Bilanz geltend, aber sie
gewinnt auch nicht selten für die Gestaltung des Körpers einen charakteristischen
Einfluß, der dann die sogenannten Entartungszeichen zur Ausbildung ge¬
langen läßt.
Als solche Entartungszeichen sind zu bewerten: Mißbildungen des Kopf*
Schädels, auffallende Ungleichmäßigkeiten der Gesichtshälften, Mißbildungen
der Nase, Verschiebungen in der gewöhnlichen Stellung der Kiefer, Störungen
in der Zahnreihe und Ohrverbildungen. In noch höherem Grade sind Hasen¬
scharten, Wolfsrachen, angeborene Verkrüppelungen und Mängel an den
Gliedern in diesem Sinne zu beachten; sie paaren sich besonders häufig mit
einer seelischen Mißbildung und sind daher stets Wegweiser zu ungewöhn¬
lichen Geisteszuständen.
Solche Wegweiser sind aber auch ausnahmslos alle jene — zum Teil sehr
auffälligen — körperlichen Eigentümlichkeiten, die überstandene oder fort¬
wirkende Nervenleiden anzeigen. Es handelt sich dabei natürlich um Dinge,
die nach Wesen und Entstehung sehr verschieden sind;, ich lasse das hier
ganz außer Betracht und hebe sie nur hervor, weil der Erzieher eben grund¬
sätzlich einen abnormen Geisteszustand erwarten soll, wenn er ihnen be¬
gegnet In erster Linie stehen da Lähmungen und Bewegungsstörungen
einzelner Glieder, Schwächen und Mängel des Ganges und vor allem die
Gebrechen im Sprechmechanismus: sie bedeuten immer den Ausdruck
schwerer Nervenleiden. Die kindlichen Sprachstörungen sind überhaupt stets
sehr belangreich für die Einschätzung zur Schulerziehung; Kinder, die stottern
oder .beim Sprechen stocken, sind immer vorsichtig zu bewerten. Kinder,
die auffallend langsam und mit schwerer Zunge reden, sind stets auf Narben
am Schädel, im Gesicht oder an der Zunge nachzusehen: man muß bei ihnen
von vornherein an die Möglichkeit einer zur Zeit herabgeminderten oder ganz
ruhenden Epilepsie denken, deren Bestehen selbst den Eltern unbekannt sein
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W. Alter
kann. Es gibt in größerer Zahl, als gemeinhin angenommen wird, Epileptische,
die nur in der ersten Kindheit an Krämpfen leiden und dann scheinbar ge¬
sund sind, bis in den Entwicklungsjahren die Krankheit aufs neue losbricht.
— Daß bei offenkundigen Krampfzuständen, bei Kindern, die sich verun¬
reinigen, die an Ohnmächten leiden, die Zuckungen, ein allgemeines oder auf
einzelne Glieder beschränktes Zittern, zwangsmäßige Bewegungen oder irgend
eine Art von Veitstanz-Erscheinungen aufweisen, erst recht eine geistige Be¬
einträchtigung angenommen werden darf, versteht sich von selbst: solche
Feststellungen müssen unbedingt zu dem Schlüsse bewertet werden, den alle
anderen körperlichen Gebrechen, Mängel und Mißbildungen bei Schulrekruten
zum mindesten zur Möglichkeit in Erwägung stellen sollen. Gerade eine solche
gewissenhafte Würdigung der körperlichen Befunde ist in vielen Fällen das
nächste und wirksamste Mittel, um den Gefahren vorzubeugen, die aus einem
Übersehen oder Mißachten der geistigen Eigenart seelisch mißgebildeter
Kinder immer gegeben sind — und leider auch sehr oft geltend werden,
wenn die seelischen Wesenszüge, die solchen Kindern als trauriges Kenn¬
zeichen anhaften, zu Eigensinn, Ungezogenheit und Schlechtigkeit verkannt
werden. Denn das ist leider das gewöhnliche Schicksal, das solchen Geistes¬
zuständen widerfährt: sie erleiden eine in jeder Beziehung schädliche Ver¬
kennung und am häufigsten deshalb, weil sie aus einer grundsätzlich irrigen
und deshalb immer irreführenden Stellungnahme betrachtet und beurteilt
werden.
Es klingt paradox, aber es ist eine wichtige Wahrheit: wenn Sie Irrtümer
bei der Beurteilung abwegiger Seelenzustände vermeiden wollen, müssen Sie
das ausschalten, was sonst die Schule von Ihnen am dringlichsten fordert:
die Subjektivität der Persönlichkeit und das eigene Empfinden. Das Beste
in Ihrer Arbeit und alles Nachhaltige beruht auf in der rechten Weise zur Er¬
mahnung, zum Lobe, zum Verweis und zur Strafe angewandten eigenen Ge¬
fühlen, auf einem Wirksamwerden Ihrer eigenen Affekte. Gerade diese höchste
Fähigkeit müssen Sie aber unbedingt zurückdrängen, wenn Sie an die Be¬
trachtung und Ermittlung ungewöhnlicher kindlicher Geisteszustände heran¬
treten. Affekte bedeuten immer Vorurteile und in Ihrem Falle berufsmäßige
Vorurteile in moralisierender Richtung. Solche Vorurteile bilden überall starke
Hemmungen für ein Verstehen seelischer Mißbildungen: wer einen fremden
oder gar fremdartigen Geisteszustand moralisierend betrachtet, gerät immer
selbst in eine veränderte Affektlage und daraus in die fast unvermeidliche
Gefahr, die fremden Affekte falsch zu beurteilen und das ganze fremde Ge¬
mütsleben in seinen wesentlichen Voraussetzungen und Bedingungen zu ver¬
kennen. Es kommt hinzu, daß wir alle gewohnt sind, Gefühle an Vor¬
stellungen zu messen und durch Vorstellungen zu bewerten: auch das ist
falsch, wenn man die Gefühle von Kindern und besonders von geistig ab¬
normen Kindern richtig verstehen will. Die kindliche Affektivität ist nicht
durch Vorstellungen meßbar oder verständlich: sie kann nur aus ihren
Äußerungen erschlossen und bewertet werden.
Deshalb kann man diese wichtigste Eigentümlichkeit der geistig abwegigen
Kinder — und ihren ganzen Seelenzustand — nur dann richtig begreifen,
wenn man ihr Wesen ganz vorurteilslos, in naturwissenschaftlich nüchterner
Tatsachendarstellung und in streng objektiver Schlußfolgerung betrachtet:
jede andere Betrachtungsweise muß im wesentlichsten versagen, wenn es gilt,
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J
Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen 123
aus Unerzogenheit und Ungezogenheit die Grenzen der Erziehbarkeit zu be¬
stimmen. Denn Unerzogenheit und Ungezogenheit erscheinen eben auf rein
geistigem Gebiet in der Regel als die offensichtlichsten Merkmale minder¬
wertiger Kinder — und sehr oft als besonders gefährliche Merkmale, weil sie
die eigentliche Eigenart solcher Seelenzustände verdecken und schematisieren.
Diese eigentlichen Seelenzustände der geistig minderwertigen Kinder sind
nun ganz außerordentlich vielgestaltig — so vielgestaltig, daß die allen Be¬
griffe des Schwachsinns und Blödsinns nicht im Entferntesten der Fülle dieser
Erscheinungen gerecht zu werden vermögen. Sie versagen aber auch des¬
halb, weil ihre Anwendung den Kernpunkt des ganzen pädagogischen Problems
verlagert: es ist nicht die Hauptsache, daß die blödsinnigen, d. h. die nicht
schulbaren Kinder ausgesondert werden, sondern es ist, wie gesagt, die eigent¬
liche Problemstellung der neuen Pädagogik, daß die geistig nicht vollwertigen
oder nicht vollgesunden Kinder weder übersehen noch verkannt, sondern in
ihrem Ausnahmezustand richtig ermittelt, genau ausgewertet und danach zweck¬
mäßig behandelt werden.
Bei den blödsinnigen Kindern ist in der Normalschule alle Zeit und jede
Arbeit vergeudet: ihre Einschulung muß daher unbedingt vermieden oder —
wo sie erfolgt ist — rückgängig gemacht werden. Ihre Erkennung ist nie schwer.
In der Regel verrät sie schon ihr körperlicher Zustand, die scharfe Heraus¬
setzung von Entartungszeichen oder von Merkmalen schwerer Nervenleiden.
Am augenfälligsten ist meist die Ungeschicklichkeit und die Formenarmut
ihrer Bewegungen — als deren Teilerscheinung fast immer mehr oder weniger
hochgradige Sprachstörungen bestehen. Und wenn solche körperliche An¬
zeichen fehlen, dann fällt bei blödsinnigen Kindern meist von vornherein eine
Reihe von charakteristischen geistigen Wesenszügen auf. Besonders leicht
und besonders belangreich ist da immer die Feststellung, ob und in welchem
Umfange die Anfänge des Persönlichkeitsbewußtseins — die jeder gesuude
Schulrekrut besitzen muß — entwickelt und gegeben sind. Man darf ohne
weiteres eine hochgradige geistige Minderung annehmen, wenn ein Kind, das
zur Schule kommt, von sich noch in der dritten Person spricht, wenn es
rechts und links nicht unterscheiden kann und seine Körperteile nicht zu
bezeichnen weiß. Ebenso bedeutsam, wie diese Feststellung aus dem Per¬
sönlichkeitsbewußtsein sind die Ergebnisse einer anderen im ersten Augen¬
blick möglichen Prüfung: hochgradig schwachsinnige Kinder sind außerstande,
2 bis 3 gleichzeitig erteilte Aufträge hintereinander auszuführen. Belassen
diese leichten Prüfungen noch Unsicherheit, dann offenbart jedem einiger¬
maßen geschulten Beobachter schon eine kurze Bekanntschaft mit solchen
Kindern das Fehlen jenes Grades von Willenskraft, der beim gesunden Kinde
die ursprünglichsten Triebhandlungen mit Sicherheit zurückhält, und vor allem
hochgradige Mängel des Gefühlslebens: sie zeigen sich in der Empfindungs¬
schwäche, die solchen Kindern eigen ist und besondere auffallend in ihrer
Gleichgültigkeit gegen Schmerzreizungen und Geschmacksunterechiede hervor¬
tritt: sie imponieren aber auch in jeder anderen Beziehung zu dem eigentlich
klassischen Wesenszug: zu dem Mangel jeder geistigen Regsamkeit; die Kinder
sind nicht nur unfähig zum Lernen, sondern auch außerstande, aufzumerken,
aufzufassen und zu begreifen.
Gerade dieser Stumpfsinn der hochgradig schwachsinnigen oder nach dem
alten Sprachgebrauch: blödsinnigen Kinder grenzt diese Zustände sehr scharf
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W, Alter
ab gegen jene Gruppen von Schulrekruten, die in Wirklichkeit nicht geistes¬
schwach sind, sondern nur aus geistiger Schwerfälligkeit und aus Unbildung
durch soziale Verwahrlosung schwachsinnig erscheinen oder infolge von Krank¬
heiten in ihrer geistigen Entwicklung zurückgeblieben sind. Bei diesen drei
Gruppen besteht — wenn es sich um unkomplizierte Fälle handelt — immer
eine deutliche Fähigkeit zum Aufmerken und eine ganz gesunde geistige
Regsamkeit, die zwar bei den durch Krankheit Schwachen zu rascher Er¬
müdung neigt, die sich aber auch da durch ihre ungestörte und allgemeine
Neigung zum Behalten und Bewahren meist sehr deutlich abgrenzen läßt
gegen jene ungesunde und unechte geistige Regsamkeit, die wieder, als eine
freilich anders geartete affektive Störung, eines der hervorstechendsten Kenn¬
zeichen jener großen Gruppe von minderwertigen und nervösen Kindern dar¬
stellt, für die ich Ihr besonderes Interesse fesseln möchte.
Diese Gruppe, die sich aus einfacher nervöser Reizbarkeit, aus ererbter
nervöser Schwäche, aus schlechter Veranlagung durch Entartung, aus hyste¬
rischen und epileptischen Zuständen — kurz aus allen möglichen Anlässen
zur seelischen Mißbildung rekrutieren kann: diese große Gruppe kennzeichnet
sich überall und ausnahmslos durch eine grundsätzliche Disharmonie der
geistigen Entwicklung, durch ein nicht immer offenkundiges, aber stets nach¬
weisbares Wechselwesen aus Vorreife und Rückständigkeit, aus einer un¬
gleichmäßigen Obertreibung und Herabsetzung von bestimmten Charakter¬
zügen, die wir in jedem gesunden Kinde angedeutet finden.
Und wie ein erster und sichtbarster Ausdruck dieses Wechselwesens
präsentiert sich bei solchen Kindern das Verhalten der Regsamkeit in zwei
Richtungen. Einmal in einer ganz frappanten Launenhaftigkeit: die Regsamkeit
bleibt da immer wählerisch und muß schon durch dieses den normalen Schul¬
rekruten fremde elektive Verhalten auffallen. Vieles, was alle anderen Kinder
lebhaft interessiert, läßt sie ganz gleichgültig, irgendein Sondergebiet, manches,
was andere kaum berührt, erweckt und steigert sie zu den höchsten Leistungen.
Aber diese höchsten Leistungen — und darin liegt die zweite Störung der
Regsamkeit — erscheinen eben nur dem flüchtigen Zusehen ungestört oder
gar besonders glänzend und schlagfertig: jede genauere Prüfung, jede längere
Inanspruchnahme erweist sie als eitel Schein und Strohfeuer. Das kommt
daher, daß die Aufmerksamkeit, die die Führerin jeder geistigen Regsamkeit
darstellt, bei diesen Kindern nur in ihrer ersten Hälfte, in der Weckbarkeit
gegeben ist: dagegen fehlt ihnen das, was die Aufmerksamkeit erst wirksam
und nützlich macht, was zum Aufmerken und zum aufmerksamen Denken
führt: die Haftbarkeit. Deshalb sind alle diese Kinder innerlich unstet, inner¬
lich zerfahren und mehr oder weniger unfähig, sich zu sammeln und zu
fixieren. Auch diese Eigentümlichkeit wird oft schon auf den ersten Blick
im äußeren Verhalten bemerkbar: auch da fehlt alles Ausgeglichene. Vor¬
laute Aufdringlichkeit wechselt mit ängstlicher Scheu und Schreckhaftigkeit
im Gesicht und an den Gliedern; im Mienenspiel und in der Haltung besteht
nicht selten eine Unruhe, die bald unwillkürlich als Zucken und Zittern er¬
scheint, bald zu allerlei Bewegungen; Manieren und Angewohnheiten drängt.
Das sind die Kinder, die sich ewig kratzen und reiben, die an den Nägeln
kauen, mit der Zunge spielen und allerlei solche Unart treiben. In hoben
Graden kann dieses Verhalten dazu führen, daß solche Kinder mit bestimmten
Formen von schwerer Geistesschwäche verwechselt werden; auch da besteht
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Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen 125
fortwährende oder -doch im Verhalten überwiegende Bewegungsunruhe,
bei diesen Blödsinnigen trägt die Bewegungsunruhe auch dann, wenn
in den Formen abwechslungsreich erscheint, immer das Gepräge des Ein-
Minigen, Starren und Mechanischen; sie drängt immer den Eindruck einer
'.fÄnlosen stereotypen Form Wiederholung auf, während bei den minderwertigen
lEndern auch in der Bewegungsunruhe immer jenes Fahrige, Flattrige und
jÜBgleichmäßige vorwiegt, das ihr ganzes Wesen beherrscht.
.. Schon dieses unstete und ungleichmäßige Wesen wird oft als Ungezogen¬
heit verkannt; noch häufiger widerfährt ein solches Fehlurteil — mit besonders
-aebädlichen Folgen für die pädagogische Einwirkung — dem seltsamen und
>jrie ich schon sagte, ganz außerordentlich wichtigen und charakteristischen
Gefühlsleben solcher Kinder.
Diesem Gefühlsleben ist nicht nur in seinem Einfluß auf die Regsamkeit,
sondern auch in jeder anderen Äußerung das unselige Merkmal grundsätz¬
licher Ungleichartigkeit aufgeprägt. Schon bei gesunden Kindern ist ja die
Stimmungslage sehr viel labiler als beim normalen Erwachsenen; das Kind
ist immer ein Spielball seiner Gefühle und auch manchmal nicht hinlänglich
begründeten Schwankungen und Umschlägen der Stimmungslage unterworfen.
Launenhaftigkeit ist deshalb noch kein krankhafter Wesenszug; sie wird aber
krankhaft, wenn die unbegründeten und nicht nachfühlbaren Verstimmungen
überwiegen und die Änderungen und Ausschläge der Stimmung ganz jäh¬
explosiv und zu den äußersten Graden erfolgen. Noch bedeutsamer sind
dauernde Verlagerungen der Stimmungslage in Form anhaltender Verstim¬
mungen ohne zureichenden Grund und vor allem die eigentlichen Mängel
der Affektivität, die Minderwertigkeit in der Qualität der Gefühle.
Allen Kindern dieser Gruppe fehlt trotz der quantitativen Ergiebigkeit ihrer
Verstimmungen die qualitative Feinheit des gesunden kindlichen Stimmungs¬
lebens, sein Reichtum, seine Mannigfaltigkeit und seine Abstufbarkeit. Diese
Erscheinung offenbart sich sehr oft schon ganz kennzeichnend in der schiefen,
unrichtigen und unzulänglichen Einschätzung und Bewertung, mit der solche
Kinder an ihre persönliche Umgebung und besonders an eine neue persön¬
liche Umgebung herantreten; die Kinder vermögen da in der Regel gemütlich
nicht richtig zu distanzieren. Und ebenso charakteristisch erscheint dieser
Zug im Bereich der auf das Selbst, auf das eigene Ich bezüglichen Gefühle.
Auch da mangelt die Fähigkeit, abzustufen und Abstand zu nehmen: in der
Regel zu dem Erfolg, daß ein gesteigertes Selbstgefühl mit Selbstgefälligkeit
und Selbstzufriedenheit als Empfindlichkeit und Eitelkeit hervortritt — was
den unorientierten Erzieher wieder leicht veranlaßt, eine besonders arge Un¬
gezogenheit anzunehmen und zu bestrafen. Aber auch hier berühren sich
die Extreme; denn die scheinbar ganz artigen Schulrekruten, die Stillsitzer,
die ohne jedes Anzeichen von Ungeduld und Langerweile und ohne jede Be¬
tätigung die längste Zeit in größter Gleichmütigkeit verharren, sind auch
immer abnormer Geistesart verdächtig: Gleichgültigkeit gegen neue Eindrücke
ist eine Eigenschaft, die in gesunden Grenzen erst später erworben wird und
dem schulreifen Kinde grundsätzlich abgeht. Sie ist deshalb immer als ein
Hinweis auf die Möglichkeit eines ungewöhnlichen Geisteszustandes zu be¬
werten und am meisten in der ersten Schulzeit. Es kommt da gar nicht selten
vor, daß geistig minderwertige Kinder durch das neue Erlebnis der Schule
za einer eigentümlichen seelischen Abscbließung veranlaßt werden, die oft
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W. Aller
nur den Eindruck solcher Gleichmütigkeit erweckt, manchmal aber auch so
weit geht, daß sie den Stumpfsinn blödsinniger Kinder vortfiuscht oder —
und das noch häufiger — als starrköpfiger Trotz erscheint. Diese Auffassung
wird dann nicht selten dadurch gefördert, daß sich solche Zustände schein¬
bar argen Eigensinns gelegentlich und plötzlich in Ausbrüche von heftiger,
ja maßloser Erregung entladen können. Ein solches Verhalten ist ausnahms¬
los ein Anzeichen einer sehr erheblichen Seelenstörung, die wie jede andere
geistige Entgleisung aus Erkenntnis und mit Verständnis behandelt werden
muß, wenn sie sich nicht nachhaltig vertiefen und zu einer unüberwindlichen
Opposition gegen jede pädagogische Einwirkung, das heißt zu einer Gefahr
für das ganze Leben entwickeln soll.
Gerade das macht ja überhaupt die Bedeutung der Affektivität in der kind¬
lichen Minderwertigkeit so sehr groß: wer sie nicht beachtet oder unter¬
schätzt, kann nie die rechte Anschauung und deshalb auch nie den richtigen
Weg zu solchen kränklichen und oft gerade in der Verkennung seelische Not
erleidenden Kinderseelen finden: alle Möglichkeiten der Heilerziehung be¬
ruhen auf einer genauen Erkenntnis und einer sicheren Beherrschung des
krankhaften Gefühlslebens der Kinder, an denen sie wirken soll.
Auch aus diesem Grunde muß die Rücksicht * auf das kindliche Gefühls¬
leben immer in den Vordergrund gestellt werden — wenn man daneben
auch — besonders zu den praktischen Zwecken der Schule — die intellek¬
tuellen Störungen nicht übersehen oder vernachlässigen darf. Eine ein¬
gehende und genaue Prüfung dieser intellektuellen Störungen verlangt grund¬
sätzlich die Anwendung bestimmter psychologischer Untersuchungsformen.
Viele dieser Prüfungen sind so einfach, daß sie jeder Gebildete anzuwenden
und auszuwerten vermag: für die praktische Arbeit, die Ihnen obliegt, sind
sie aber durchweg zeitraubend, wenn sie nicht im Rahmen der Schularbeit
selbst erledigt werden können. Auch das ist für manche wertvolle Erprobungen
durchführbar und angängig: der Anschauungsunterricht und die Schreibstunde
gewährleisten da Möglichkeiten, die sehr nützliche Ergebnisse erzielen lassen.
Aber diese Erprobungen kommen naturgemäß für die Zwecke, die meine
Ausführungen in erster Linie betreffen wollen, in der Regel zu spät: auch
da gibt es jedoch wieder einige Hilfsmittel, die ohne große Umstände gleich
bei der ersten Bekanntschaft eine in weiten Grenzen verläßliche Beurteilung
ermöglichen. Zunächst gibt es auch hier ein einfaches äußeres Merkmal,
das dem Geübten vielfach schon auf den ersten Blick einen fein unter¬
scheidenden Einblick gestattet: es ist das Verhalten der sogenannten Denk¬
furchen auf der Stirn. Jeder normale Schulrekrut zeigt zum mindesten eine
Andeutung dieser Furchen. Bei den hochgradig schwachsinnigen Kindern
sind sie entweder zur Grimasse erstarrt oder — und das ist die Regel —
überhaupt nicht vorhanden. Bei der großen Gruppe der minderwertigen
Kinder, die uns hauptsächlich interessiert, sind sie dagegen in der weitaus
überwiegenden Mehrzahl der Fälle sehr erheblich und immer deutlich ver¬
tieft: meine Herren, dieses Kennzeichen ist so klar, daß ich seine Beachtung,
zu der freilich Obung gehört, dringend empfehlen kann. Es ist aber nicht
nur bedeutsam, sondern auch bedeutungsvoll: denn es verrät beim Blödsinnigen
das Fehlen des Denkens und beim geistig Minderwertigen die kennzeichnende
Eigenart der intellektuellen Leistungen: die Erschwerung der Denktätigkeit,
die diesen Kindern aus drei wesentlichen Mängeln erwächst: aus einer un-
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Zar Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen }27
gewöhnlichen Armut an Vorstellungen, aus einer mehr oder weniger starken
Herabsetzung der Fähigkeit zur VorstellungsverknQpfung und aus dem Unzu-
reichen zur Urteilsbildung.
Ich will Sie zur Würdigung dieser Erscheinungen nicht in die Weite einer
psychologischen Erörterung führen und mich auch da nur auf das praktisch
Wesentliche beschränken.
Die Armut an Vorstellungen offenbart Ihnen bei solchen Kindern jede
Prüfung des Gedächtnisses. Sie wissen, daß das Gedächtnis sonst gerade bei
Kindern seine Glanzleistungen entfaltet und zwar — was für unsere Zwecke
besonders wichtig ist — auch in der großen Gleichmäßigkeit, mit der es die
von allen Sinnen vermittelten Eindrücke auf nimmt und auf bewahrt: das ge¬
sunde Kindergedächtnis enthält nicht nur alles Wesentliche des bisherigen
Lebenskreises, sondern es ist auch im Festhalten verschiedener Eindrücke
und Vorstellungsgruppen ganz unparteiisch verfahren. Das minderwertige
Kind zeigt auch auf diesem Gebiet die charakteristische Note des Unausge¬
glichenen. Es hat in der Regel nicht ein aus allen Sinnesgebieten gleich¬
mäßig zusammengestelltes Gedächtnis, sondern es Uberwiegen bei ihm —
zumeist sehr deutlich — die Erfahrungen aus einem bestimmten Sinnesgebiet:
entweder die optischen Erinnerungen oder die Erlebnisse, die das Gehör
eingeprägt hat, oder schließlich die Erfahrungen aus Gefühl und Bewegung.
Diese Erscheinung, die freilich erst in genauerer Prüfung deutlich hervortritt,
wird dem geschulten Beobachter meist auch aus dem gewöhnlichen Verkehr
merkbar und bedeutsam. Wer sie nicht nutzbar zu machen versteht, kann
zu derselben Erkenntnis einer abwegigen Gedächtnisbildung auch aus anderen
einfachen Prüfungen gelangen. Einmal kann zu diesem Zweck die Fähigkeit
zur Farbenbenennung geprüft und verwendet werden: auch da offenbart das
minderwertige Gedächtnis fast immer beträchtliche Mängel. Noch charakte¬
ristischer ist eine Untersuchung aus der Fragestellung, ob die Kinder in dem
Alter, in dem sie zur Schule kommen, nahverwandte Eindrücke in getrennten
Bezeichnungen auseinanderhalten. Es ist sehr häufig, daß Kinder mit schlechter
Gedächtnisbildung verschiedene Gegenstände ähnlichen oder gleichen Zweckes,
wie Bank, Stuhl, Sessel, Sofa mit einem Ausdruck bezeichnen: es beweist
dann unmittelbar den von meinen Ausführungen bevorzugten leichteren Grad
geistiger Minderwertigkeit, wenn sie trotzdem die ihnen richtig benannten
Gegenstände richtig anerkennen.
Diese Erscheinungen bedeuten natürlich nicht nur Mängel des Gedächtnisses,
sondern auch schon ein Anzeichen jener Schwäche der Vorstellungsver¬
knüpfung, die den zweiten großen intellektuellen Mangel geistig minder¬
wertiger Kinder darstellt. Diese Eigentümlichkeit, die sehr wichtig ist, läßt
sich mit dem vielen von Ihnen wohl bekannten Assoziationsversuch auch in
der Schule leicht prüfen: sie ergibt da dieselben Anzeichen, die Ihnen Kinder,
die als denkfaul gelten, so oft in Ihrer Alltagsarbeit aufdrängen: große Pausen
zwischen Frage und Antwort, die das langsame Werden der Vorstellungen
anzeigen; das geistige Wiederkauen aus einem durch seelische Unbehilflichkeit
bedingten Klebenbleiben an den einmal geformten Vorstellungen und schlie߬
lich Leistungen, die entweder die ärmlichsten, naheliegendsten und trivialsten
Lösungen bedeuten oder aus offensichtlicher Gleichgültigkeit gegen die Frage
abschweifen und danebenhauen. Im eigentlichen Assoziationsversuch tritt dazu
noch die Neigung, sinnverwandte, aber nicht gebräuchliche Reaktiohsworte
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128
W. Alter
zu bilden und die Klangwirkung des Reizwortes seiner Begriffswirkung vor¬
zuziehen : das ist gleichzeitig ein Beweis für die auch sonst leicht feststell¬
bare Schwfiche der Eegriffe, die bei solchen Kindern besteht Oft arbeiten
sie ganz geläufig mit Worten, zu denen ihnen jeder Begriff fehlt: es ist
manchmal geradezu verblüffend, wie dann so ein Kind ein Objekt, dessen
Bezeichnung es glatt gebraucht, gar nicht erkennt, wenn man es ihm zeigt
oder in den wesentlichen Einzelheiten beschreibt. Diese Erscheinung, deren
Auftreten in höheren Graden oder für alltägliche Gebrauchsgegenstände immer
schwere Geistesschwäche anzeigt, bedeutet nebenbei in jedem Falle den Aus¬
druck jenes dritten intellektuellen Gebrechens, das ich oben erwähnt habe:
des Ungenügens zur Urteilsbildung. Denn eine Urteilsbildung ist ja unter
normalen Verhältnissen zur Herstellung des Begriffs aus der Wahrnehmung
unerläßlich und notwendig. Diese Unzulänglichkeit der Urteilsbildung ist bei
den minderwertigen Kindern aber nicht nur wegen der damit unvermeidlichen
intellektuellen Einbuße belangreich, sondern auch wegen der tiefgreifenden
Folgen, die sich aus ihr für das allgemeine Verhalten und das ganze Wesen
solcher Kinder — sehr zu ihrem Schaden — ergeben. Das gesunde Kind
lernt die Begriffe des Guten und Schlechten, des Rechten und Unre< hten, kurz
das Auswerten des Moralischen — ganz ausschließlich aus Urteilsbildungen,
die ihm durch die Erziehung nahegelegt oder aufgezwungen werden. Das
minderwertige Kind muß also grundsätzlich — weil es zu solchen Urteils¬
bildungen nur in beschränktem Maße imstande ist — auch in der Ausbildung
dieser Bewertungen minderwertig bleiben: das heißt: es muß dauernd oder
doch unverhältnismäßig lange unmoralisch oder sittlich verkrüppelt erscheinen.
Es ist auch da — und gerade da — sein Schicksal, verkannt zu werden und
Strafe zu erleiden, wo es Mitleid und Erbarmen braucht: auch diese Wesens¬
züge der minderwertigen Kinder darf man eben nicht moralisierend betrachten;
sie müssen unbedingt und ganz klar als Anzeichen krankhafter Eigenart, ge¬
würdigt und verstanden werden, wenn sie nicht nur äußerlich, sondern auch
in ihren seelischen Voraussetzungen und nachhaltig gebessert werden sollen.
Zu diesen Wesenszügen gehört in erster Linie die ganz außerordentlich
große und scheinbar unausrottbare Neigung zur Lüge, die so oft bei diesen
Kindern besteht. Sie bedeutet an sich nichts anderes als eine der oben be¬
tonten Übertreibungen normaler Kinderart: auch das normalste Kind vermag
zur Zeit der Schulreife die Wahrheit noch nicht zu begreifen, weil die Aus¬
gestaltung seiner Bewußtseinsleistungen ihm nur eine sehr mangelhafte Re¬
produktionstreue gewährleistet und diese Mangelhaftigkeit noch durch über¬
wertige Affekte und durch eine zügellose Phantasie unterstreicht Aber das
gesunde Kind lügt doch nur, wenn es üble Erfahrungen vermeiden will oder
im Banne phantastischen Erlebens steht — also im wesentlichen in passiver
Form. Das geistig minderwertige Kind lügt dagegen auch aktiv: das heißt
auch da, wo es sich durch die Lüge weder Unliebsames erspart noch von
phantastischen Vorstellungen durch Entäußerung befreit; es lügt nicht allein
aus Mangel an Reproduktionstreue, sondern aus Unfähigkeit die Wahrheit
zu sagen: weil seine schwächeren Fähigkeiten ihm den Wert der Wirklich¬
keit, die Realität der Dinge und der Erlebnisse belanglos und unerheblich
erscheinen lassen. Gerade deshalb wird das geistig minderwertige Kind oft
besonders streng getadelt und gestraft: auch da ist eine verständnisvolle Heil¬
pädagogik angebrachter und wirkungsvoller. Noch weit mehr gilt das von
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Zar Erkenntnis abwegiger and krankhafter Geisteszustände bei Schnlneolingen 129
einer anderen Eigenart, die leider immer zu der Annahme einer besonderen
Lasterhaftigkeit verkannt wird: von dem frühzeitigen Auftreten sexueller
Regungen. Ein solches vorreifes Geltendwerden geschlechtlicher Empfindungen
bedeutet immer und ganz ausnahmslos ein vollwertiges Anzeichen einer un¬
gesunden und abwegigen Veranlagung — auch da, wo es scheinbar durch
den schlechten Einfluß von sittlich verwahrlosten Erwachsenen oder Halb¬
wüchsigen herausgesetzt wird.
Ebenso grundsfitzlicb psychopathisch, also krankhaft bedingt ist ein anderer
Zug, der bisweilen gerade in der allerersten Schulzeit zum ersten Mal hervor¬
tritt: die Neigung mancher solcher Kinder zu einem planlosen und ziellosen
Fortlaufen — gleichviel, ob einer solchen Flucht eine mehr oder weniger
nacbfühlbare Verstimmung vorausgegangen ist oder ob sie aus heiterem
Himmel erfolgt. Zustände der letzteren Art, plötzliche geistige und gemüt¬
liche Schwankungen aus einem Zustand von scheinbar ausgeglichener B Seelen-
ruhe und Behaglichkeit bedeuten überhaupt bei jungen Kindern stets Alarm¬
signale seelischer Mißstände: erst in den Entwicklungsjahren wird eine jähe
Sprunghaftigkeit der Strebungen physiologisch und belanglos. Ein eben
solches Anzeichen von disharmonischer Entwicklung und ungesunder Vor¬
reife ist bei Scbulrekruten das Auftreten von Überschwänglichkeiten in Ge¬
fühlen und Affekten für irgendwelche — selbst für die nächststehenden —
Personen der Umgebung. Bei gesunden Kindern steht in den Jahren, die die
Schulzeit eröffnen, das Ich mit naiver Selbstverständlichkeit ira Zentrum des
Lebens: deshalb ist kein gesundes Kind geneigt, einen anderen zu bewundern,
zu verehren oder überschwänglich zu lieben. Kinder, die schon in der ersten
Schulzeit schwärmerische Neigungen zeigen, sind abnorme Persönlichkeiten:
der Egoismus ist eben die normale Eigenschaft des Kindes.
Aber er trägt da in der rechten Art doch auch immer einen sehr deutlichen
kommunistischen Einschlag: gesunde Kinder sind im Guten und im Bösen
keine Eigenbrödler — diese fragwürdige Note deutschen Wesens entwickelt
sich erst später —, sondern sie sind immer bereit und immer bestrebt, in
Herdengleichheit und als Masse zu empfinden, zu leiden und zu kämpfen.
Kinder, die dem entgegen ohne kameradschaftliche Instinkte als Einspänner
abgeschlossen und für sich bleiben, sind Abnormitäten: eine eingehende Be¬
achtung wird an ihnen immer noch andere Züge abwegiger Geistesart heraus-
-zusetzen vermögen. Später werden solche Kinder dann manchmal nicht nur
rege Teilhaber, sondern geradezu Führer der Schülergemeinschaft: oft Führer
zu allem Schlechten und gefährliche Gegner der Lehrer. Sie bleiben aber
auch da meist innerlich allen anderen fremd und vereinzelt: sie schließen
sich nur an, weil eine frühzeitig geltend werdende und in ihrem Wesen tief
begründete Neigung zum Gegensätzlichen und Quertreiberischen rücksichtslos
nach Betätigung drängt Das ist dann schon ein offenkundiger ethischer
Defekt, während die fiübzeitig auftretende Neigung zu Diebstählen, die
viele minderwertige Kinder auszeicbnet, nur eine ebensolche einseitige Über¬
treibung einer normalen Kindeseigenschaft darstellt, wie der Hang zum Lügen
und Betrügen und die Neigung zur Grausamkeit, die als krankhaft bald
durch das Fehlen jeder vorstellungsmäßigen Begründung, bald durch die Ent¬
stehung aus frühzeitigen Sexualverkuppelungen gekennzeichnet wird. Denn
auch das normale und gesunde Kind besitzt gegenüber seinen Trieben und
Gelüsten keinen Respekt vor fremdem Eigentum und vor fremdem Leiden.
Zeitschrift I. ptdagog. Psychologie. ®
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130 W. Alter, Zar Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen
Das Kind lernt eben nicht durch ein selbständiges inneres Geftthl, sittlich zu
handeln, sondern nur durch Nachahmung und aus der frühzeitig auftretenden
Fähigkeit, Angenehmes zu schätzen und Unangenehmes zu verabscheuen. Ethik
und Moral sind abstrakte Begriffe, und Abstraktionen vermag auch das best¬
veranlagte Kind erst am Anfang der Pubertät zu erfassen. Bis dahin ver¬
steht es nur aus dem Wert der Belohnungen und dem negativen Wert der
Strafen zu urteilen; alle Hemmungen und Förderungen der Erziehung können
daher nur durch diese psychologischen Mechanismen erreicht werden.
Diese Mechanismen sind bei dem krankhaft und abwegig veranlagten Kinde
durch die vorhin besprochene Urteilsschwäche beschränkt: das erklärt die
moralischen Mängel solcher Kinder. Aber diese Beschränkung repräsentiert
immer nur eine Beeinträchtigung und keine Ausschaltung der Voraussetzungen
zur Erziehbarkeit, die von jenen Mechanismen,, gewährleistet werden. Das
bedeutet den letzten und wichtigsten Unterschied, der diese Kinder von den
blödsinnigen Kindern trennt: im Blödsinn sind jene Mechanismen grund¬
sätzlich nicht in einer solchen Gangbarkeit gegeben, daß sie praktisch nutz¬
bar gemacht werden können. Deshalb sind Blödsinnige nie einer Erziehung,
sondern immer nur einer beschränkten Dressur zugänglich, die schon wegen
ihrer ganz besonderen Ansprüche ausschließlich in Blödenanstalten getrieben
werden sollte: auch deshalb, weil sie überall schadet, wo sie nicht unbedingt
notwendig ist.
Dagegen ist jene große Gruppe von im weitesten Sinne schwachsinnigen
Kindern, die ich Ihnen in einigen Arten und Zügen zu kennzeichnen gesucht
habe, nach jener ausschlaggebenden seelischen Beschaffenheit immer schul¬
fähig und unter Umständen sogar zu großen Erfolgen erziehbar —, wenn ihre
Eigenart richtig erkannt, gewürdigt und bewertet wird.
Die Anfänge einer solchen richtigen Erkenntnis derartiger Zustände werden
immer in weiten Grenzen eine Leistung der Normalschule bleiben müssen:
nur wenn Sie alle, meine Herren, auch auf diesem Gebiet das rege Interesse
und das gewissenhafte Pflichtgefühl, das Ihr Stand allen Fragen der Volks¬
gesundheit entgegenbringt, zur Erfahrung anleiten und zur Wirksamkeit an¬
wenden, kann diesen geistig minderwertigen Kindern, die leider eine große
und heut noch zumeist verkannte Gruppe bilden, das Recht einer verständ¬
nisvollen Würdigung zuteil werden.
Eine solche verständnisvolle Würdigung kann dann schon in der Normal*
schule sehr viel Gutes leisten: sie sichert den abnormen Kindern das Auf¬
merken des Lehrers und die zu ihrem Zustand rücksichtsvolle Bemessung
der Ansprüche: sie schützt vor falscher Beurteilung und unrichtiger Behand¬
lung. Aber sie schützt auch den Lehrer selbst gegen den Einfluß der Er¬
regungen, die viele solcher Kinder jedem unorientierten Pädagogen bereiten
können — und die oft zu üblen Folgen führen, weil gerade die geistig Minder¬
wertigen schärfere erziehliche Einwirkungen nicht selten durch ganz maßloße
körperliche und geistige Reaktionen diskreditieren. Die Mehrzahl der Klagen
wegen Überschreitung des Züchtigungsrechtes entsteht aus der Züchtigung
von geistig Minderwertigen, die nicht als solche erkannt sind: es ist deshalb
in gewissen Grenzen auch Selbstschutz, meine Herren, wenn Sie sich be¬
mühen, Ihre Kenntnisse von der Eigenart solcher Kinder und deren Erkennt¬
nis auszubauen und zu vervollkommnen. Auch deshalb, weil solche Kinder
noch in anderer Beziehung Ihrem Wirken schädlich und gefährlich werden
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William Stern, Der Formvariator
131
können: sie sind nicht nur die gegebenen Erreger aller Epidemien von geistiger
Ansteckung, die in Schulen Vorkommen können, sondern unter Umständen
eben auch Aufwiegler und Vergifter jener „öffentlichen Meinung“ unter den
Schulkindern, die Sie, meine Herren, auf Ihrer Seite haben und behalten
müssen, wenn Sie nützliche Arbeit leisten sollen.
Aber vor allem ist die eingehende Kenntnis solcher Zustände und ihre
möglichst weitgehende Ermittlung deshalb notwendig, weil nur aus einer
klaren Obersicht der Sachlage die zweckmäßigen pädagogischen Einrichtungen
betrieben und getroffen werden können. Alle diese Kinder sollten eben gar-
nicht Objekte der normalen Schulung bleiben, sondern grundsätzlich möglichst
ausschließlich und vor allem frühzeitig heilpädagogischen Einwirkungen unter¬
stellt werden: sie gehören unbedingt in Nebenklassen und Nebenschulen —
die allerdings, wenn sie wirklich den notwendigen Ansprüchen genügen sollen,
in zweierlei Form errichtet werden müssen: als Hilfsklassen für einfach Un¬
begabte und Zurückgebliebene und als Sonderklassen für krankhaft Minder¬
wertige. Es ist ein prinzipieller und schwerer Fehler, wenn man diese grund¬
verschiedenen Gruppen ohne weiteres zusammen wirft: denn bei den einfach
Unbegabten und Zurückgebliebenen ist keine Heilpädagogik, sondern nur eine
auf den Einzelnen eingestellte und besonders liebevoll nachhelfende Schulung
nötig. Dagegen kann bei den krankhaft Minderwertigen die Schule nur dann
wirklich nützliche Arbeit leisten und nachhaltig späteren Entgleisungen Vor¬
beugen, wenn sie sich nach den Grundsätzen der Heilerziehung aus sach¬
gemäßer Individualisierung der richtigen Formen und der wirksamsten Ma߬
nahmen bedient
Und dieses Ziel muß eben auf jedem möglichen und aussichtsvollen Wege
angestrebt werden, weil gerade in diesen Kindern die Keime zum Guten und
Bösen so eng aneinander liegen und weil da die Saat des Bösen, das
heißt die Anlagen der Krankheit, so leicht zu den schlimmsten Folgen und
den schwersten sozialen Schäden aufwuchem können.
Wenn Sie, meine Herren, dazu helfen wollen, solche Folgen und Schäden
zu verhüten, dann werden Sie Ihren schönen und stolzen Beruf zur edelsten
Vollendung krönen; denn dann werden Sie aus Lehrern der Geister Erzieher
der Seelen und die vornehmsten Helfer in jener großen Arbeit, die durch
Vorbeugung und Verhütung die geistige Gesundheit und damit die Kraft und
Stärke unseres Volkes zu wahren und zu erneuern sucht.
Der Formvariator.
Ein Hilfsmittel zur Prüfung und Erziehung der dynamisch-geometrischen
Raumauffassung.
(Ans dem Psychologischen Laboratorium der Hamburgischen Universität.)
Von William Stern.
I.
S'udien, die über die Prüfung der räumlichen Auffassungsfähigkeit in
unserem Laboratorium ange*tellt wurden, führten mich zur Herstellung eines
einfachen und handlichen Hilfsmittels, das über den ursprünglichen rein
psychologischen Zweck hinaus auch als Lehrmittel verwendbar sein dürfte.
Ich bezeichne es als „Formvariator“, um auszudrücken, daß es die Umwand-
9 *
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William Stern
lung einer geometrischen (zwei- oder dreidimensionalen) Form in mannig¬
fache andere Formen ermöglicht. Die Wandlungsfähigkeit unterscheidet den
Formvariator von all den zahlreichen Modellen, die sonst zur Demonstration
räumlicher Gebilde verwandt werden.
Es ist ein wesentlicher Zug gewisser Begabungen, insbesondere der tech¬
nischen, daß man sich nicht nur ruhende Formen, sondern auch ihre Ver¬
schiebungen und Projektionen, ihre durch bestimmt gerichtete Kräfte be¬
wirkte Oberleitung in andere Formen innerlich vorstellen kann. Hier scheint
eine bisher nicht genügend beachtete Differenzierung der geometrischen Be¬
gabung vorzuliegen: die stabil-geometrische Anschauungsfähigkeit (die sich
auf ruhende Formen, ihre Teile, ihre Beziehungen usw. erstreckt), kann re¬
lativ gut ausgebildet sein ohne entsprechende Ausbildung dynamisch¬
geometrischer Leistungsfähigkeit, wie sie mit dem Formvariator
geprüft wird.
Zu einer näheren psychologischen Analyse dieser Fähigkeit ist hier
nicht der Ort. Nur soviel sei gesagt, daß eine bei aller geometrischen Be¬
gabung zu berücksichtigende Scheidung hier besonders wichtig werden
dürfte, nämlich die zwischen der sinnlichen Anschauungsfähigkeit und der
logisch-konstruktiven Fähigkeit. Man nehme die folgende Aufgabe: ein un¬
regelmäßiges Viereck sei ohne äußere Anschauungshilfe vorgestellt. In
welche Form kann es verwandelt werden, wenn die Seitenlängen unver¬
ändert bleiben, aber die Winkel beliebig verkleinert oder vergrößert werden
kennen? Die nächste Verwandlung ist hier offenbar die in ein Dreieck,
indem zwei benachbarte Seiten zu einer Geraden gestreckt werden. Bei
einer so leichten Aufgabe ist das Finden dieser Antwort zweifellos auf rein
logischem Wege möglich; das bloße unanschauliche Wissen um Längen und
Winkelstreckung genügt dazu. Aber es ist auch möglich, daß man die
Lösung wesentlich durch innere Anschauung findet: sei es rein visuell,
indem man das Viereck aus der Ausgangsform durch Streckung allmählich
in das Dreieck übergehen sieht, sei es mit Zuhilfenahme motorisch-kin-
ästhetischer Anschauung, indem man den Bewegungsakt des Gerade¬
biegens der beiden Schenkel innerlich vorstellt. Vermutlich wirkt bei allen
derartigen Leistungen beides zusammen; festzustellen, wie dies geschieht,
wird Sache künftiger generell-psychologischer Untersuchung sein. Differentiell¬
psychologisch aber ist zu bemerken, daß der Anteil des visuellen, des
motorischen und des unanschaulichen Faktors von Mensch zu Mensch stark
variieren kann. Die sich hier ergebenden Typen und Gradabstufungen, ins¬
besondere auch die Möglichkeit der Kompensation einer geringeren Visualität
durch logisch-konstruktive Hilfen bedürfen wiederum eigener Untersuchung.
Bei diagnostischen Feststellungen über die Leistung der dynamisch-geometri¬
schen Auffassungsfähigkeit darf man sich jedenfalls nicht begnügen mit
der Feststellung der Lösung oder Nichtlösung bei einem aufgegebenen Test;
die Lösung muß vielmehr in ihrer psychologischen Struktur noch besonders
gewürdigt werden.
Didaktisch kann die bewegliche Form dazu dienen, die verschiedenen
Inhalte des Geometrieunterrichts auseinander zu erzeugen, wie auch die
Fähigkeiten des Schülers zu geometrischer Auffassung systematisch zu
entwickeln. Wird nun gar der Formvariator nicht nur vom Lehrer zum
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Der Formvariator
133
Vorzeigen benutzt, sondern dem Schüler selbst in die Hand gegeben (was
bei Massenanfertigung künftighin möglich sein dürfte), dann kann die Ver¬
bindung von manueller Selbsttätigkeit mit optischer Anschauung in einem
bisher nicht möglichen Mafie dem Raumlehreunterricht dienstbar gemacht
werden. Damit ist aber zugleich — durch die Möglichkeit, sehr verschiedene
Wandlungsaufgaben zu stellen — auch der intellektuellen Selbsttätigkeit ein
weiter Spielraum gegeben. 1 )
Der Grundgedanke des Formvariators besteht darin, daß ein Raumgebilde
aus starren, aber völlig gelenkig miteinander verbundenen Stäben
hergestellt wird. Jeder Stab kann also gegen jeden anderen, mit dem er
an einer Ecke zusammenstößt, beliebig nach allen drei Dimensionen gedreht
werden, ohne aber die Verbindung mit ihm zu verlieren. Eine Grenze der
Verschiebbarkeit ist nur dadurch gegeben, daß erstens die Länge der Stäbe
unveränderlich ist und daß zweitens die Verschiebung des Stabes a gegen b
nicht nur von diesen beiden Stäben, sondern auch von der ebenfalls un¬
lösbaren Verbindung jedes der beiden mit anderen Stäben c, d usw. ab¬
hängig ist
Theoretisch können natürlich unzählige zwei- und dreidimensionale Raum¬
gebilde als Variatoren hergestellt werden. Doch wird sich sehr bald nach
dem Höchstmaß der psychologischen und pädagogischen Verwendbarkeit
eine enge Auslese heraussteilen. So werden alle Formen, die Dreiecke ent¬
halten, auszuscheiden sein, da das Dreieck selbst bei völliger Beweglichkeit
in den Gelenken unwandelbar ist (jede Verschiebung hätte nämlich Streckung
oder Kürzung von Dreieckseiten zur Folge, was bei starren Stäben un¬
möglich ist).
Als zweidimensionale Form, die etwa für den Anfangsunterricht in der
Raumlehre in Betracht kommt, wäre das regelmäßige Achteck zu benutzen.
Aus ihm lassen sich Dreiecke und Vierecke verschiedener Art, Sechsecke,
drei- und vierstrahlige Sterne usw bilden. Unvergleichlich mannigfacher
ist aber die dreidimensionale Form des Würfels; auf ihn beschränken sich
die folgenden Betrachtungen.
H.
Ein solcher „Variatorwürfel“ 2 ) ist ein Gerüst aus zwölf 10cm langen
Holz- oder Metallstäben, die durch elastische Eckenverbindungen miteinander
gelenkig verknüpft sind. Bekommt man einen solchen Würfel in die Hand,
so ist seine proteusartige Beweglichkeit geradezu überraschend; unwillkürlich
erzeugt man immer wieder neue Formen, und willkürlich lassen sich Auf¬
gaben von verschiedenstem Schwierigkeitsgrad daran lösen.
Mit dem Würfel sind drei verschiedene Verfahrungsweisen vorzunehmen,
die je nach dem psychologischen, psychotechnischen oder didaktischen Zweck
entweder einzeln angewendet oder miteinander verbunden werden.
1. Die Vorstellungsmethode. Sie stellt fest, wie weit geometrische
Wandlungsaufgaben ohne Anschauungshilfen gelöst werden können. Mit
') Daß der Formvariator auch in der Reihe der Spielzeuge eine Rolle spielen könnte, sei
nur nebenbei erwähnt.
*) Musterschutz angemeldet. Anfragen sind vorläufig zu richten an die Werkstatt des
Laboratoriums, Hamburg, Domstr. 5.
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134
William Stern
einer solchen Probe sollte jede psychologische und didaktische Verwertung
beginnen, noch ehe der Würfel oder eine andere Variatorfigur bekannt
geworden ist. Freilich muß man hier mit ganz einfachen Aufgaben an¬
fangen, und auch für diese wird bei den weitaus meisten Prüflingen sehr
bald die Grenze erreicht sein; man muß dann zu den anderen Verfahrungs-
weisen übergehen, die aber möglichst immer mit erneuten Anwendungen
der Vorstellungsmethode verbunden sein sollten.
Vorstellungsaufgaben können in drei typischen Frageformen auftreten:
a) Kann aus dem Würfel ein Dreieck (Sechseck usw.) hergestellt werden?
b) Welche Figur entsteht, wenn der Würfel so und so verschoben wird?
c) (nach Lösung von a) oder b). Wie ist die „Stabbesetzung“ ? d. h. wie¬
viel Stäbe liegen bei den einzelnen Figurseiten aufeinander? — Auf¬
gabe c) ist aus dem Kopf nur bei sehr leichten Aufgaben a) und b)
lösbar und verrät bei richtiger Lösung eine hohe geometrische Vor¬
stellungsfähigkeit.
Die Prüfung mit der Vorstellungsmethode wird zur Zeit im psychologischen
Laboratorium etwa in folgender Weise vorgenommen (die Anweisung ist von
Herrn Dr. R. Peter und Frl. Stadelmann ausgearbeitet):
Denke Dir ein Dreieck aus festen Stäben gebildet! Denke Dir ein auf gleiche Weise ge¬
bildetes Viereck oder Fünfeck oder Sechseck. Die festen Stabe, die die Seiten dieser Vielecke
bilden, sollen an den Ecken durch bewegliche Gelenke verbunden sein; so, wie wir es hier
bei diesem Zirkel sehen.
Dann kann man in manchen Fällen durch Verschieben aus den Vierecken andere Vier¬
ecke bilden.
1. Kann man ein so gebildetes Dreieck verschieben?
2. Kann man ein so gebildetes Viereck verschieben?
3. Zeichne ein Viereck, das zu einem Dreieck verschoben werden kann.
4. Zeichne ein Viereck, das nicht zu einem Dreieck verschoben werden kannl
Denke Dir aus sechs festen Stäben eine dreiseitige Pyramide gebildet. In den Ecken sind
die Stäbe durch allseitig bewegliche Gelenke verbunden.
5. Kann man durch Verschieben aus dieser dreiseitigen Pyramide eine neue Figur erhalten?
Begründung angeben.
6. Denke Dir einen Würfel aus Stäben mit Gelenken an den Ecken. Er steht mit einem
seiner Quadrate auf dem Tisch. Eine Seitenfläche ist Dir zugekehrt. Die Grundfläche bleibt
in ihrer Lage. Die senkrechten Kanten werden seitlich geneigt (entsprechende Bewegung), bis
sie wagerecht liegen. Was für eine Figur entsteht dann?
Zeichne diese Figur und gib an, wie die Stäbe des Würfels auf die Seiten der Figur ver¬
teilt sind.
7. Denke Dir in dem eben beschriebenen Würfel zwei gegenüberliegende Ecken durch eine
Raumdiagonale verbunden. Schiebe dann diese gegenüberliegenden Ecken auf der Raumdiago¬
nale gegeneinander, bis sie sich in der Mitte treffen. Was für eine Figur entsteht dann?
2. Die Anschauungsmethode. Versagt der Prüfling bei der Forderung,
rein im Kopf die Verschiebungen vorzustellen, so zeigt man einen Variator,
aber noch ohne ihn vom Prüfling selbst benutzen zu lassen. Schon
der bloße Anblick des unbewegten Variators kann eine beträchtliche Hilfe
bedeuten; von der sichtbaren Ausgangsfigur aus können die Verschiebungs¬
figuren nun leichter in der Vorstellung realisiert werden. Augenbewegungen,
welche die imaginären Drehungen und Richtungsänderungen der Stäbe be¬
gleiten, vorgestellte Projektionen auf die sichtbare Tischfläche usw. erleichtern
die Lösung. So ist z. B. die Aufgabe: „Was wird aus dem auf die Spitze
gestellten Würfel, wenn er platt gedrückt wird?“ (Antwort: ein Sechseck;
nur für ganz wenige Menschen rein aus der Vorstellung lösbar; ganz anders.
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Der Formvariator
135
wenn der Experimentator oder Lehrer den Wfirfel ruhig so hält, daß nur
eine Ecke den Tisch berührt, und nun den von oben auf die obere Spitze
ausgeübten Druck vorstellen läßt. Eine noch stärkere Hilfe besteht natürlich
darin, daß der Prüfer oder Lehrer die Ausführung irgendeiner Aufgabe
(z. B. Umklappen des Würfels zum Rechteck) Vormacht, und nun bei der
nächsten Aufgabe wieder die Losung in der Vorstellung oder aus der
ruhenden Anschauung heraus fordert.
3. Die Herstellungsmethode. Hier wird nun der Variator dem Prüf¬
ling oder Schüler selbst in die Hand gegeben, sei es zu spontaner Betätigung,
sei es mit vorgeschriebenen Aufgaben. Überläßt man ihm selbst, damit zu
hantieren, so ist es besonders lehrreich, wie groß die Anzahl und Ver¬
schiedenheit, Kompliziertheit und Eigenart der Formen ist, auf die er von
selbst k(mmt. Stellt man bestimmte Aufgaben, so kann man — je nach
der psychologischen oder pädagogischen Absicht — den Schüler ganz allein
die Lösungen finden lassen, oder sie ihm vormachen, oder sogar die einzelnen
Handgriffe schrittweise mit ihm zugleich ausführen. Sowohl beim spontanen
wie reaktiven Verhalten kommt es übrigens nicht nur auf die Ergebnisse,
also die konstruierten Endformen, sondern auch sehr auf die Arbeitsweise
au: ob sich Systematik oder Sprunghaftigkeit oder Perseveration zeigt, ob
sich der Prüfling auf den Zufall verläßt oder mit intuitiver Sicherheit auf
die Lösung zusteuert oder logisch-konstruktive Hilfen verwendet
III.
„ Aufgaben und Lösungen.
Um die konkrete Verwendung des Würfels zu ermöglichen, nennen wir
zunächst eine Reihe von typischen Gebilden, die aus ihm herzustellen sind
(vgl. die Abbildungen S. 136).
Der Leser möge sie als Aufgaben betrachten und selbst ihre Lösung
versuchen, ehe er die weiter unten gegebenen Beschreibungen der Haupt¬
lösungen nachliest a bedeutet die Länge einer Würfelseite. Die den Figuren
beigesetzten kleinen Ziffern geben die Stabbesetzung der einzelnen Figuren¬
seiten an. Die gesperrt gedruckten Bezeichnungen stellen besonders interessante
und schwierige Aufgaben dar.
A. Ebene Gebilde. Quadrat mit ungleicher Stabbesetzung (ü), Quadrat mit gleicher Stab¬
besetzung (HO. Rbomboid, Rhombus (XVI), Dreieck (XII), Sechseck iXVill), Viereck mit
angesetztem Stiel (Xm), Kreuz (IX), Gerade von den Lingen 8a (V) oder 2a oder a.
B. Raumgebilde. Gerade nnd schiele vierseitige Prismen. Dreiffifiiges Stativ (XXI),
Laterne <XX), Adventstern (XIX), Biscbofsmfitze iXXIIi. vierseitige Pyramide (XXIV), Te¬
traederzwilling (2 dreiseitige Pyramiden, die eine Kante gemeinsam haben (XXIII). 2 aut
der Spitze stehende aufeinander senkrechte Quadrate mit gemeinsamer Diagonalachae, die
aber nur imaginir ist (nicht durch Stfibe repräsentiert wird, XXV).
Zn A: Erzeugung der Flächengebilde.
Die ebenen Figuren sind entweder von WSrfelseiten oder von Wflrfelecken her zu erzeugen.
Drückt man gegen eine Seitenfiäcl e des Würfels und klappt ihn bis zur Ebene, so entsteht ein
Rechteck mit den Seitenlängen a und 2 a (1). Dieses IBßt sich durch Winkelverscbiebungen in
der Ebene znm Rhomboid wandeln und schließlich bis zu einer Geiaden von Sa Länge strecken.
(V. Die Gerade bat in ihren drei Teilen die Stabbesetzungen 8, 6, 8.)
Gebt man nochmals vom Rechteck ■!) aus, das aus zwei Quadraten besteht, so kann man
diese zusammenklappen, und es entsteht ein Quadrat mit der Stabbesetzung 2 , 4,2, 4 (II). Dies
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136
William Stern, Der Formvariator
Quadrat kann durch Winkelverschiebung zum Rhombus und schließlich zur Geraden von der
Länge 2a und der Besetzung 6, 6 verwandelt werden.
Der andere Ausgang ist von den Ecken her, und zwar geht man hierbei von zwei am weitesten
entfernten Ecken aus, also solchen, die an den Polen einer Raumdiagonale liegen. Zieht man
Dreidimensionale Darstellung.
an diesen Ecken den Würfel auseinander, so erhält man direkt die Gerade 3 a (V. Besetzung 3,
ß, 8), die oben anders konstruiert wurde. Drückt man dagegen die Ecken aufeinander (d. h»
drückt man den Würfel in der Richtung der Raumdiagonale platt), so entsteht das reguläre
Sechseck (XV111).
Besondere Besprechungen erfordern das Dreieck (XII) und das gleichbesetzte Quadrat (IO).
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Aloys Fischer, Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik
137
Tritt man an einen unvorbereiteten Prüfling mit der Dreieckaufgabe heran, so versagt er meist;
er hftlt nicht nur in der Vorstellung ihre Ausführung für unmöglich, sondern bekommt auch
die Lösung mit dem Würfel in der Hand nicht zustande. Und dabei ist sie außerordentlich
einfach; man muß erst die Gerade (V) von der Länge 8a erzeugen und nun die beiden äußeren
Thilo des Gebildes gegeneinander neigen, wodurch das gleichseitige Dreieck (XII) mit den
Seitenlängen a und der Besetzung 8, 6, 8 entsteht Ein umständlicherer Herstellungsweg geht
vom Sechseck aus; dies besteht aus sechs Dreiecken, die man durch Aufeinanderklappen schließlich
zu einem Dreieck verwandeln kann.
Ebenso interessant ist das Quadrat mit gleicher Besetzung (UI). Es wird von den meisten
nicht gefunden, weil hierzu ein sonst nicht vorkommender Handgriff gehört: die Drehung einer
ganzen Fläche gegen eine andere. Man muß vom stehenden Würfel ausgehen und die obere
Fläche, ohne ihre horizontale Lage zu verändern, in sich um 90 Grad drehen, während man
die Unterfläche festhält: dann senkt sich die Oberfläche auf die untere, und die vier senkrechten
Kanten legen sich auf je eine Seite der unteren Fläche, damit hat jede Seite des entstehenden
Quadrats drei Stäbe.
Zu B: Erzeugung der Haumgebilde.
Daß durch seitlichen Druck der Würfel in die verschiedensten geraden und schiefen Prismen
verwandelt werden kann, ist ohne weiteres klar.
Wird in einem solchen Prisma die obere Grenzfläche bis zum Zusammenfallen je zweier
Stäbe zusammengedrückt, während die untere unverändert bleibt, so entsteht die »Bischofs¬
mütze* (XXII).
Besondere Formen entwickeln sich, wenn man wieder von den Ecken ausgeht Wird eine
einzige Ecke zusammengedrückt zu einem dreifach besetzten Pfahl, während die übrigen Stäbe
auseinanderklaffen, so gibt es eine „Laterne* (XX). Regelmäßige Gebilde eigentümlicher Art
entstehen durch gleichmäßige Behandlung von vier alternierenden Ecken. Man muß vier Ecken
answählen, indem man von einer Ecke in den Flächendiagonaien zu drei anderen Ecken fort-
schreitet Macht man diese vier gleichzeitig spitzer, so findet bei den vier anderen Ecken die
ftrtgegengesetzte Veränderung statt, sie werden stumpfer und stumpfer und schlagen schließlich
um in konkave Ecken, ln diesem Augenblick haben wir den vierzackigen »Adventsstern* (XIX)
gewonnen. Wird weiter fortgefabren, bis die zugespitzten Ecken zu vier Pfählen geworden
sind, dann bildet die Figur ein dreifüßtges Stativ (XXI).
Eine andere Gruppe von Formen sind aus dem zum Sechseck plattgedrückten Würfel (XVIH)
abzuleiten. Hält man den Mittelpunkt des Sechsecks fest, so daß die dort zusammentreffenden
Strahlen nicht auseinanderfallen, hebt aber die Ränder, so entsteht ein tütenartiges Gebilde
(XXIX). Klappt man eine Ecke des Sechsecks auf die ihr gegenüberliegende hinüber, so ist
der Tetraederzwilling (XXIHt erreicht- Mit zu den schwersten Aufgaben gehört die vierseitige
Pyramide (XXIV). Man klappt eine Ecke des Sechsecks zur zweit nächsten Ecke (also nicht
zur symmetrischen) hinüber. Dann entsteht zunächst eine pyramidenförmige Tüte mit einem
zweigliedrigen Henkel (XXVH). Dieser Henkel wird nun gegen die eine Tütenseite umgeklappt,
und die gewünschte Form ist erzielt
Ebenfalls sehr schwer sind die zwei auf der Spitze stehenden, zueinander senkrechten
Qnadrate (XXV). Man findet den Zugang zu ihnen von dem Quadrat mit gleichbesetzten
Seiten (III), das an sich schon schwer zu finden ist Stellt man dies Quadrat auf eine Spitze,
so lassen sich nun ohne weiteres je ein halbes Quadrat nach rechts und nach links heraus¬
klappen, während das ursprüngliche Quadrat in der Besetzung 2, 1, 2, 1 bestehen bleibt
Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik.
Von Aloys Fischer.
(Schluß.)
Die Ausbildung für den Volksschuldienst wird künftig, wenn die
Forderung der Reichsverfassung durchgeführt wird, auf eine Vorbildung durch
die bestehenden oder eine neue, den bestehenden gleichwertige und gleich¬
berechtigte höhere Schule aufbauen können. Für ihre Ausgestaltung scheinen
mir maßgebend sein zu müssen a) der aus der Vergangenheit der Lehrer-
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Aloys Fischer
bildung zu bewahrende Gedanke der tätigen und fibenden Einführung in die
Praxis der Schule; b) der aus den Diskussionen der Gegenwart wohl zu
einstimmiger Annahme gelangte Gedanke eines wissenschaftlichen Studiums
der Pädagogik, zu dem künftig Alter und Vorbildung durchaus gegeben sein
werden, und c) der Gedanke des Studiums von mindestens einer Fachwissen¬
schaft, die mit den Lehr- und Erziehungsaufgaben der allgemeinen Pflicht¬
schulen in innerem Zusammenhang steht.
Nach Pressenotizen') scheint mir die in Sachsen geplante Regelung als
der bemerkenswerteste Vorschlag, wonach das wissenschaftliche Hoch¬
schulstudium der Volksschullehrer mindestens sechs Semester dauert und Päda¬
gogik, Philosophie und Staatsbürgerkunde als Pflichtfächer umfaßt, die prak¬
tische Ausbildung daneben in einem selbständig neben der Hochschule be¬
stehenden pädagogischen Institut erfolgen soll. Für Württemberg 2 ) hat der
erziehungswissenschaftliche Ausschuß des württembergischen Lehrerbundes
einen Entwurf Gustav Deuchlers vorgelegt, der, bis ins einzelne überlegt,
eine dreijährige Studiendauer für erforderlich hält und auf der Kombination
der theoretischen Arbeit in der Erziehungswissenschaft mit ihren Voraus¬
setzungen, praktischer Ausbildung und des Studiums einer Fachwissenschaft
oder eines Sondergebietes beruht.
Ohne auf die Berührungen mit diesen oder verwandten Plänen im einzelnen
einzugehen, möchte ich einen auf drei Jahre berechneten Ausbildungsgang
für Volksschullehrer vorlegen.
Im ersten Halbjahr:
1. Geschichte der pädagogischen Ideen und Zustände im Oberblick (4 Stunden),
2. vertieft durch seminarische Übungen an einschlägiger klassischer Lite¬
ratur (2 Stunden).
3. Grundzüge der Psychologie (4 Stunden).
4. Pädagogischer und didaktischer Anschauungsunterricht: Einführung in
die Erziehungs- und Bildungseinrichtungen am Hochschulort mit vorbereiten¬
den und anschließenden Erläuterungen und Besprechungen.
5. Volkswirtschaftslehre.
Im zweiten Halbjahr:
1. Allgemeine Geschichte der Philosophie.
2. Ethik und Kulturphilosophie.
3. Fortsetzung des pädagogischen und didaktischen Anschauungsunterrichts,
Schulbesuche in allen Klassen und Fächern einer vollausgebauten Volksschule.
4. Pädagogische Psychologie mit angeschlossenem Praktikum.
5. Staatsbürgerkunde.
Vom dritten Halbjahr an tritt neben die Beschäftigung mit den er¬
ziehungswissenschaftlichen Fächern die Einführung in die Praxis der Volks¬
schularbeit an einem pädagogischen Berufsinstitut in Verbindung mit einer
Obungsscbule unter reichlicher Heranziehung des Kandidaten zu versuchs¬
weiser eigener Lehrtätigkeit.
') „Die deutsche Schule“ 1921 (Juniheft), die „Allgemeine deutsche Lehrerzeilung“ 1921 Nr. 28
bringt Mitteilungen über ähnliche Pläne in Braunscbweig.
*> Vgl. Gustav Deuchler, Ober Lehrerbildung. Leitsätze des erziehungs wissenschaftlichen
Ausschusses des württembergischen Lehrerbundes (diese Zeitschrift 1921, S.843L).
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Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik
139
An der Hochschule selbst werden die theoretischen Studien fortgesetzt,
und zwar folgt auf die philosophisch-psychologische und historische Vor¬
bereitung jetzt
1. Systematische Grziehungs- und Unterrichtslehre.
2. Pädagogische Obungen.
3. Geschichte der Volksschule.
Im Institut wäre zu behandeln
a) Lehrstoff- und Lehrmittelkunde des Volksschulunterrichts.
b) Zuteilung an einen Obungsschullehrer zu genauerer Erkenntnis der
stofflichen und methodischen Vorbereitung und Durchführung des einschlägigen
Pensums, zu dauerndem Hospitieren in dessen Unterricht und zu gelegent¬
licher Mithilfe.
Im vierten Halbjahr folgt im theoretischen Studiengang
1. Die Methodik und Didaktik des Volksschulunterrichts.
2. Wissenschaftliche Übungen zur Theorie des Lehrplans und zur Methodik.
3. Schulgesundheitslehre.
Im praktischen Teil der Institutsausbildung wird
1. die Behandlung der Schulstoffe und Lehrmittel der Volksschule fort¬
gesetzt, besonders erweitert
2. nach der Seite der. Heimat- und Volkskunde.
3. In der eigenen Lehrtätigkeit hat der Übergang von der Rezeption und
Mitarbeit zum eigenen Lehrversuch zu erfolgen: Ausarbeitung von Lektionen,
Probelektionen, Ausarbeitung und pädagogische Verwertung gemachter Be¬
obachtungen und Erfahrungen.
Das fünfte Halbjahr hätte im theoretischen Unterricht zu behandeln:
1. Die Volksschulkunde (die Arten und Organisationsformen der heutigen
Volksschule usw.) (Schulgesetzeskunde, Scbulverwaltungsrecht, Schulleitung).
2. Überblick über das höhere Schulwesen, sowie das Fach- und Berufs¬
schulwesen zur Ergänzung.
3. Die vertiefende Bearbeitung der allgemeinen Erziehungs- und Unterrichts¬
lehre.
Im übrigen bliebe im fünften und sechsten Halbjahr Zeit für den gesam¬
melten Betrieb des gewählten Fachstudiums.
In der praktischen Ausbildung (Meisterlehre) käme m. E. mit dem fünften
Halbjahr die noch geleitete, im Dienst der Ausbildung stehende ganze oder
teilweise Übernahme einer Schulklasse, das Schulpraktikantenjabr.
Im sechsten Halbjahr könnte das theoretische Studium neben der Dienst¬
leistung als Praktikant vorzugsweise der Vorbereitung auf die als Abschluß
nicht wohl vermeidliche Anstellungsprüfung ausgestaltet werden.
Daß sich ein etwa in dieser Form aufgebauter Lehrerbildungsgang zweck¬
mäßig nur an einem Hochschulort verwirklichen läßt, liegt auf der Hand;
sollte es in Deutschland aus materiellen oder politischen Gründen zu einer
Teilung der theoretischen und praktischen Ausbildung kommen müssen, so
wäre ra. E. das Hochschulstudium mit seinen theoretischen Zielen auf zwei
Jahre zusammenzudrängen und mindestens von einem pädagogischen An¬
schauungsunterricht zu begleiten, die praktische Ausbildung in einer Art
Meisterlehre an einem pädagogischen Institut oder an einer Übungsschule nach
Abschluß der Studien in der Dauer mindestens eines Jahres durchzuführen.
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140
Aloys Fischer
Für die Berufsausbildung von Lehrern an höheren Schulen könnte
an die bestehenden Einrichtungen angeknöpft werden. Nach meinem Dafür¬
halten trifft die bayrische Prüfungsordnung für das höhere Lehramt mit einer
Forderung unbedingt das Richtige: mit der Forderung eines mindestens drei¬
jährigen Fachstudiums. Nun beträgt die gesetzliche Studienzeit im ganzen vier
Jahre; es ist die Frage, ob das vierte Studienjahr (der Zeit nach wohl als das erste
an der Hochschule zu betrachten) nicht zweckmäßig für Auslese und Vorbereitung
auf die pädagogische Seite des künftigen Lehrberufs ausgenützt werden könne.
Ich möchte dies jedenfalls vorschlagen und empfehlen, denn erfahrungsgemäß
pflegt ein größerer Teil unserer Kandidaten sich heute ohne jede Orientierung
auf den Gelehrten einzustellen und erlebt den Übergang von der Hochschule
in die Schulstube des Gymnasiums oder der Oberrealschule als eine schwere
und enttäuschende Umstellung. Die vielfach noch bestehende Vorschrift, die
vom Lehramtskandidaten den Ausweis über eine gewisse Zahl außerhalb
seiner Fächer liegender sogenannter philosophischer Vorlesungen verlangt, böte
eine weitere Möglichkeit, hier stärker auf eine Richtung des Denkens und
Wollens zum Erzieherischen hinzudrängen. Ich verkenne nicht, daß ein
Altphilologe, Neuphilologe und Deutschphilologe nicht an der Geschichte der
Philosophie Vorbeigehen kann, auch Logik und Methodenlehre, Ethik und
Kulturphilosophie scheinen mir je nach Umständen zur Fundierung und Ver¬
tiefung der fachlichen Studien, zur Weitung des Horizonts schlecht entbehrlich.
Aber wie ich aufgezeigt habe, stehen derartige Vorlesungen auch in einiger
Wechselwirkung mit pädagogischen; eine Zersplitterung und Überlastung wird
vermieden, wenn dieser Zusammenhang sorgfältig beachtet und ausgebaut wird.
Aus solchen Erwägungen heraus möchte ich vorschlagen, daß auch der
Kandidat für das höhere Lehramt im ersten Jahr Pädagogik studieren solL
Wenn ich die wesentlichen für ihn empfehlenswerten Teilgebiete wieder
einzeln und unter Verteilung auf die beiden Halbjahre bezeichne, so bitte
ich dabei nicht zu übersehen, daß in dieser Zeit sowohl Vorlesungen zur
allgemeinen Geistesbildung wie auch einführende Vorlesungen aus dem Ge¬
biet der Fachstudien entfallen sollen; ich beschränkte mich daher auf ein
Minimum von Vorlesungen für die pädagogische Bildung.
Im ersten Semester scheint mir a) Geschichte der Erziehung und Er¬
ziehungswissenschaft wünschenswert oder einer ihrer großen Abschnitte. Die
Altphilologie wird dabei den Nachdruck auf die auch in den griechischen und
römischen Privataltertümern und in der Geschichte der nationalen Literaturen
von Hellas und Rom wichtige antike Pädagogik den Nachdruck legen oder —
dies gemeinsam mit jedem Anwärter für das Lehramt an höheren Schulen —
die pädagogische Entwicklung seit dem Beginn der neueren Zeit vorzugsweise
betonen, in deren Mittelpunkt ja bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts die
höhere Schule stand. Verbindet der Studierende diese pädagogische Vorlesung
mit entsprechenden aus dem Gebiet der Geschichte der Philosophie, der Kultur-?
Philosophie oder der Kulturgeschichte, so wird er sich eine hinlängliche
Orientierung über die geschichtliche Seite der Erziehung erarbeiten können.
Die Teilnahme an einer pädagogischen Seminarübung im ersten oder besser
im zweiten Semester wird zur Vertiefung beitragen. Jedenfalls aber müßte
mit den theoretischen Studien b) die Teilnahme an dem einführenden päda¬
gogischen Anschauungs- und Demonstrationsunterricht verbindlich sein, da¬
mit der Kandidat selbst einen Augenschein des pädagogischen Tuns und Klar-
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UNIVERSITY OF MICHtGAN
Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik
141
heit Aber seine persönliche Eignung dafür gewinnt. Unter Umständen reichen
diese Erfahrungen und Einsichten schon zu, eine Berufswahl zu korrigieren;
jedenfalls tragen sie dazu bei, in den folgenden Zeiten überwiegenden oder
ausschließlichen Fachstudiums das pädagogische Berufsziel nicht aus dem
Auge zu verlieren. Im zweiten Semester käme a) eine systematisch-päd¬
agogische Vorlesung, entweder System der Pädagogik im Umriß oder mindestens
allgemeine Didaktik in Betracht Wieder würde sich die eine und andere
philosophische Disziplin, vor allem aber Psychologie, damit verbinden lassen,
b) Eine Seminarübung mit Lektüre und Interpretation einer der großen Klas¬
siker der Pädagogik könnte für die Anregung zu kritischer Vertiefung und
Selbständigkeit sorgen. Nach meiner Ansicht dürfte die Belastung durch die
angezeigten Disziplinen nicht so groß sein, daß nicht auch schon einführende
Vorlesungen aus dem Gebiet der späteren Fachstudien damit verbunden
werden können. Der Student in den erstem Semestern pflegt mit großer
Arbeitsfreude und Aufsaugungsfähigkeit sich beträchtlich viele Wochenstunden
aufzuladen, im allgemeinen mehr, als er mit Erfolg zu hören und nachzu¬
arbeiten vermag. Nehmen wir an, daß ihn das pädagogische Studium in
jedem Semester mit sechs Stunden belastet (vier Vorlesungsstunden, zwei
Seminarstunden bzw. Anschauungsunterricht), so bleibt sicher Raum genug
für die im Interesse seiner menschlichen Vertiefung, deren Notwendigkeit
Theodor Litt so schön gezeigt hat, wünschenswerten philosophischen,
aUgemein-geiBtesgeschichtlichen Studien und für eine erste, überblicksmäßige
Orientierung auf dem gewählten Fachgebiet. Die künftigen Lehrer an
höheren Schulen könnten in der grundlegenden pädagogischen Arbeit Seite
an Seite mit den künftigen Lehrern der Volksschule stehen.
In drei weiteren Jahren würde sich das Fachstudium anschließen; auch
während derselben scheinen mir Zeit und Möglichkeit, das eine und andere
Pädagogische zu treiben. Ich bin auch überzeugt, daß der Lehramtskandidat,
wenn er einmal Interesse für das Erziehungsproblem gefaßt hat, von selbst
sich weiter bilden will. Als Gebiete einer in der Zeit der Fachstudien noch
zu pflegenden theoretisch-pädagogischen Ausbildung erscheinen mir wün¬
schenswert:
1. Geschichte der höheren Schule.
2. Pädagogik und Didaktik der höheren Schule in systematischer Behandlung.
3. Spezialdidaktische Fragen im Zusammenhang mit den gewählten Fächern.
Die der Übungsschule für Volksschullehrer entsprechende Einführung in
die Praxis könnte nach der bisherigen Gepflogenheit, die aber künftig durch
die pädagogische Einführung im ersten Studienjahr vorbereitet, verbessert
und berechtigter wäre, in einem Seminarjahr nach Abschluß des Hoch¬
schulstudiums erfolgen.
Die Ausbildung von Fachlehrern, technischen Lehrern und verwandten
Speziallehrern, künftig wohl durch die veränderte Stellung der ausgebauten
Berufs- und Fortbildungsschulen besonders wichtig, könnte nach Analogie
geregelt werden: auch für sie wäre auf ein einführendes pädagogisches Jahr,
das sie gemeinsam mit den künftigen Lehrern an Volksschulen und höheren
Schulen verbringen, ein entsprechendes fachliches Studium an technischer
Hochschule, Kunstgewerbeschule, Akademie der Tonkunst, Zentraltumanstalt,
Akademie der bildenden Künste, Handelshochschule usw. in der erforder¬
lichen Dauer aufzubauen und eine Einführung in die Praxis des Unterrichts,
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142
Aloys Fischer, Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik
soweit sie noch nötig ist, in einem Probejahr, Seminarjahr, Übungsjahr oder
wie man sonst sagen will, durch ältere schon amtierende Fachmänner emp¬
fehlenswert.
Zum Schlüsse dieser Überlegungen mache ich noch darauf aufmerksam,
daß es möglich und ökonomisch ist, die Veranstaltungen für das pädagogische
Studium für alle Studierenden, sowohl jene mit wissenschaftlicher Endabsicht,
wie für Lehramtskandidaten aller Art, mindestens im ersten Jahre einheitlich
zu organisieren. Das im einzelnen aufzuzeigen, glaube ich nicht nötig zu
haben; die vorher entwickelten Ratschläge lassen sich entweder unverändert
oder — wie bei den Voikehrungen für die historische Pädagogik und für
die Psychologie — unter Berücksichtigung des Unterschieds zwischen Gesamt¬
darstellungen und spezialisierender Behandlung miteinander verbinden.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Adolph Stöhr f. Am 10. Februar des vergangenen Jahres starb im
66. Lebensjahre der Wiener Universitätsprofessor Dr. Adolph Stöhr
nach mehrjährigem Leiden, das er in bewundernswerter Weise ertragen
hatte. Noch wenige Tage vor seinem Tode hielt er — im Hörsaale
der Klinik Wenkebach — Vorlesungen und noch am 5. Tage vor dem
Tode führte er Prüfungen seiner Hörer durch. Mit einer geradezu
unglaublichen Willensenergie zwang er den siechen Körper, dem arbeits¬
willigen Geiste dienstbar zu sein, und so gab er noch vom Krankenbette aus
zwei kleine überaus wertvolle Schriften heraus und bereitete die Herausgabe
weiterer Werke vor. Stöhr war Professor für Philosophie und Psychologie.
Er sollte (laut Lehrauftrages) experimentelle Psychologie dozieren, erhielt
aber erst sehr spät einen Raum als Laboratorium zugewiesen, aber keine
Lehrmitteldotation; er war also Experimentalpsychologe ohne Apparate hierzu.
Die seinerzeit angestrebte Professur für Pädagogik erhielt er nicht. Trotz
dieser mißlichen Umstände wurde er weder verbittert noch von der Arbeit
abgehalten, aber dies erklärt es, warum wir von ihm Schriften über andere
Gegenstände erhalten haben. Sein Hauptwerk, dessen Neuauflage er noch vor¬
bereitete, ist die 1917 im Verlage Braumüller erschienene Psychologie, ein
Werk, das eine Fülle neuer Auffassungen enthält und zu den bedeutenderen
Schriften über Psychologie, die in letzter Zeit erschienen sind, gerechnet
werden muß. Stöhr geht vielfach eigene Wege, so z. B. stellt er eine
neue Sehtheorie auf, er verlegt den Sitz der Empfindung in die
Sinnesorgane selbst, also an die Peripherie, wo der Empfindungsreiz
ist und bleibt, während in das Zentralorgan ein unempfindbarer Be¬
wegungsreiz weiterwandert, der die Reaktion auf das Empfundene besorgt.
Den Empfindungsreiz denkt sich Stöhr als ein molekularphysikalisches Ge¬
schehen, den Bewegungsreiz als einen chemo-physiologischen Prozeß. Der
Empfindungsreiz reicht nur soweit, als die besondere Struktur reicht „An
der Peripherie ist allerlei möglich, was sich im Zentralorgan nicht vollziehen
kann, weil dort die feinen Apparate fehlen.* „Operative Eingriffe in das
Gehirn werden weder von Schmerz- noch von anderen Empfindungssymptomen
begleitet, während für operative Eingriffe in die Peripherie das Gegenteil gilt.**
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
143
Die Bewegungsreize bewirken entweder Muskelkontraktion oder Drüsen-
Sekretion oder eine Änderung des Blutdruckes, je nachdem, ob sie den Reiz
an Muskeln, Drüsen oder an die feinen Muskeln der Blutgefäße abgeben.
Bewegungsreize, die in den Sprachapparat eintreten, bewirken sprechmoto¬
rische Änderungen. Gehen später Bewegungsreize rückläufig durch den
Hmterhauptslappen zum Sehorgan, so erleben wir, wenn sie in gleicher Stärke
auftreten, wie seinerzeit bei der Aufnahme, eine Halluzination; ist die
Stärke der rückläufigen Reizung geringer, dann haben wir ein optisches
Traumbild; ist sie ganz gering, so entsteht eine optische Vorstellung.
Die Reizleitung steht in einem Ventilverhällnis, erfolgt die Ausladung in
motorischen Gebieten, so sinkt der Gemütsdruck; erzwunge Ruhe steigert
den Gemütsdruck, weil die Reize hier enden.
Stöhr, der zahlreiche Sprachen beherrschte, hat sich sehr eingehend mit
Sprachpsychologie befaßt und auch hier Großes geleistet.
Für die Pädagogik gewinnt Stöhr zunächst als Psychologe be¬
sondere. Bedeutung. Der frühere Herausgeber der Zeitschrift „Experi¬
mentelle Pädagogik“ Professor Dr. W. A. Lay hat dies in der neuen Auflage
der Experimentellen Didaktik 1 ) besonders betont. Die Stöbr’sche Psycho¬
logie ist für den Lehrer in ganz besonderer Weise fruchtbar. Sie eignet
sich zum Verständnis und zur theoretischen und praktischen Ausgestaltung
unserer Pädagogik und Didaktik wie keine andere. Stöhr hat pädagogische
und didaktische Fragen nicht häufig behandelt; in seinem Nachlasse finden
sich aber Vorträge, die er seinerzeit am Wiener Pädagogium gehalten hat und
die hoffentlich bald veröffentlicht werden können. Ebenso enthält der Nachlaß
Vorlesungen über Ethik, deren Veröffentlichung ebenfalls für die Pädagogik
bedeutsam wäre.
In seinen beiden letzten Werken, die uns Stöhr als Erforscher der
pathogonen Philosophie zeigen, liegt ebenfalls manche Anregung für den
Pädagogen. Nach Stöhr, der ja als Metaphysiker, d. h. als Konstrukteur
von Theorien, durch welche die Erfahrung im Sinne der Erfahrung aus¬
gebaut wird, ein besonderer Künstler war, gibt es zweierlei Philosophien.
Die theorogonen suchen die Welt zu erkennen, die pathogonen das Leid
der Menschen zu überwinden.
Ein pathogoner Denker war Heraklit 2 ), dessen Aussprüche von Stöhr
zu einem klaren Systeme geordnet worden sind. Die verschiedenen Wege,
welche die Menschheit zur Überwindung des Leides durch Glaubenssysteme
betreten hat, stellt Stöhr in seiner letzten, auf dem Krankenbette geschriebenen
Schrift neutral vergleichend zusammen. Dieses kleine, 49 Textseiten um¬
fassende Heftchen 11 ), gehört wohl zu den eigenartigsten Schriften der deutschen
Literatur. Es enthält eine ganz kurze Geschichte der Philosophie, soweit
diese pathogone Richtung besitzt; der Leser muß aber die verschiedenen
Wege denkend verarbeiten, und so kommt es, daß dies kleine Heftchen
einen wochenlang fesselt, und sobald man es wieder in die Hand nimmt,
zeigt es die alte fesselnde Kraft. Stöhr entwickelt schließlich noch „seinen“
Weg,* der allerdings ein sehr schwieriger ist, wird doch die 4. und 5. Dimen¬
sion „betreten“.
t) Leipzig, Quelle & Meyer, 1920. — *) A. Stöhr: Heraklit Wien, Leipzig. E. Strache. 1920.
*) A. Stöhr: Wege des Glaubens. Wien. Braumüller. 1921.
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144
Kleine Beiträge und Mitteilungen
Den Glauben definiert St Öhr nicht als ein „minderes* Wissen; der Glaube
ist die Reaktion des Gemütes oder der Handlungen auf Vorstellungen des
Zukünftigen. Das Vergangene weiß man, an das Zukünftige glaubt man,
indem man reagiert. Damit regt Stöbr den Pädagogen in fruchtbarer
Weise zu neuen Gedanken an.
Mit Rücksicht auf den zur Verfügung gestellten Raum muß ich es mir
verwehren, mehr hierüber zu sagen.
Stöhr hat keine „Schule* gegründet, denn er verlangte stets, daß seine
Schüler ihre eigenen Wege gehen. Er sah seine Aufgabe als Lehrer darin,
die Schüler zur selbständigen Erfassung und Lösung von Problemen vor¬
zubereiten. Aber zahlreiche Schüler fand er, und seine Schriften werden
in ähnlichem Sinne noch weiterhin wirken.
Mit ihm verliert die Wiener Universität nicht nur einen hervorragenden
Philosophen, einen geliebten Lehrer, sondern auch einen einfachen, schlichten,
grundgütigen, edlen Menschen.
Wien. Karl C. Rothe.
Ober Pädagogik und Philosophie stellt Rudolf Eucken in den Berliner
Hochschulnachrichten die folgenden Sätze auf: 1. Die Pädagogik ist gegen¬
wärtig viel zu selbständig geworden, als daß sie sich als ein bloßer Anhang
zur Philosophie behandeln ließe. 2. Die Pädagogik bängt so eng mit der
Philosophie zusammen, daß sie sich unmöglich von dieser gänzlich trennen
darf. 3. Es empfiehlt sich daher bei den Doktorprüfungen die Pädagogik
wohl als ein selbständiges Fach anzuerkennen, aber zugleich zu verlangen,
daß die Philosophie sich unter den Nebenfächern befinde. 4. In der Kon¬
sequenz dieser Überzeugung liegt die Forderung, daß alle Universitäten
besondere pädagogische Lehrstühle, sowie auch Obungsschulen einrichten
sollten. Diese Regelung der Streitfrage entspricht dem Verfahren, das sich in
Jena seit einer längeren Reihe von Jahren vortrefflich bewährt hat.
Kinder!ährten als Erziehungswerk. Nach nunmehr zweijähriger Erprobung
und Bewährung der Kinderfahrten, nachdem sich eine schauensfreudige,
bewegungsfröhliche, große Gemeinschaft von Menschen gefunden hat, nicht
gegründet worden ist, darf heute ein Wort über diesen Versuch gesagt werden,
in dessen Auswirkungen vor allem auch so vieles Verstehen zwischen klein
und groß aus den verschiedenen Teilen unseres Volkes sich zeigt. Die
pädagogischen wie sozialen Möglichkeiten im gemeinsamen Wandern —
nicht Spazierengehen — von Menschen verschiedenen Alters, ungleicher
Bildung, verschiedenen Besitzes, sind fast unbegrenzt, da immer neue Um¬
stände, sei es in der Landschaft, sei es durch das Wetter, Jahreszeit, durch
Verkehr mit dem Landmann, vor allem durch Betonung der Leibesübung in
frischem Spiel, Lagen von ungeahnter Fülle ergeben. Notwendig freilich und
eine ganz wesentliche Grundlage ist: Suchen nach der Erschließung des
ganzen Menschen. Nicht der die Heimat kennenlernende Schüler ist.unser
Ziel, sondern das wache, das schauende und prüfende, lebhaft sich be¬
wegende, springende, laufende, gesunde Kind, der geistig und körperlich
gleich regsame, lachende wie nachdenkliche junge Mensch. Wer es darum
unternimmt, auf solchen Fahrten an Kindern wie Eltern die Bande der Kon-
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*»tr
Kleine Beitrüge und Mitteilungen 145
vention, der Vorurteile und der Kenntnis- und Gedankenlosigkeiten in tausend¬
facher Mannigfaltigkeit zu lösen, durch Natur, Schauen und Sinnen, Mar¬
schieren und Rasten, Helfen und Teilen lösen zu lassen, daß sie sich brüderlich
erkennen, wer es unternehmen will, muß frei und ohne Vorurteile sein;
Mensch.
Nun die Darlegung der Durchführung aus der Erfahrung und manchem
Fehler heraus, die wir in Leipzig auf unseren Wander- und Spielfabrten ge¬
sammelt und getan haben. Wir sind mit unseren Kinderscharen Sommer wie
Winter jeden dritten Sonntag auf Fahrt gezogen. Es kamen im Sommer
letzten Jahres bis 300, im Winter etwa 50 ganz Wetterfeste. In diesem
Sommer ist die Zahl noch gestiegen. Doch bangt uns nicht davor: unsere
ans solcher Menge hervorgewachsene Gruppenarbeit wird immer sicherer,
und wir behalten den ganzen fröhlich tobenden Haufen doch fest in der Hand.
Wir sind jetzt eine Gemeinschaft von fast 60, die sich zu einem Teil aus
Mädels und Jungens der weiktätigen Jugend zusammensetzt,' die übrigen sind
Seminaristinnen, Kindergärtnerinnen, Studenten und Studentinnen — alle
Menschen, die Pünktlichkeit und Ordnung sich zu eigen gemacht haben, und
die ein kleines Stück Volksarbeit durchzuführen hoffen. Nur triftigste
Gründe können sie von einer Fahrt befreien, ebenso unbedingt verpflichtend
ist die Teilnahme an den Besprechungen. Denn Führer und Grüppchen
wollen zusammenwacbsen, und die Führerschar muß eine Gemeinschaft in
immer gründlicherer Vertiefung werden. So wird von jedem vollstes Inne-
halfcti seiner Verpflichtungen gefordert.
Der Ausbau aller Fahrten, im Inneren wie im Äußeren, geschieht in den
Besprechungen, wo regster Austausch der Meinungen kräftig zum Ausbruch
kommt, denn die Summe der Erfahrung eines einzigen Wandertages, die dabei
entstandenen erzieherischen Nöte, das Geschick hier, das Ungeschick da,
sind riesengroß, und alles drängt nach Aussprache, um es das nächste Mal
besser zu machen, mehr nach dieser, mehr nach jener Seite die Kücken zu
beobachten oder anzuregen, oder sich hinzusetzen, die Frühlingsblumen zu
studieren oder einmal etwas von Friedrich Wilhelm Förster zur Hand zu
nehmen. So spürt jeder bald genug eine beängstigende Zahl von Möglich¬
keiten und Notwendigkeiten für seine eigene Durchbildung zum Führen von
Kinderfahrten. Das Ziel ist: seinen Blick zu öffnen für die Vielseitigkeit des
kindlichen Lebens und dann in sich die Fähigkeit zu suchen, bewußt die
Kinder zu fördern, das Gute, Natürliche anzuregen zu kräftigem Wachstum,
vom Schlechten und Gekünstelten wegzuführen, nicht nur für den Tag der
Wanderung, sondern in starker erzieherischer Beeinflussung. Aber es gilt
nicht, ja es ist lächerlich und verwerflich, kleine Wandervögel bilden zu
wollen — es gilt vielmehr das Kind aus der körperlich wie seelisch es viel¬
fach hemmenden Umgebung des alten Lebensstils herauszulösen, ihm die
Freude am Freisein an Körper und Geist einerseits, das Gefühl für die Not¬
wendigkeit des Einordnens in die Wandergemeinschaft andrerseits zu erwecken.
Also kein bloßes Toben, keine zuchtlose Romantik, sondern Hineinwachsen
in ein e Zusammengehörigkeit, die sich aufbaut auf gegenseitiger unbedingter
Hilfsbereitschaft und freiem empfänglichen Sinn. Dies Ziel aber ist ein so
hohes, daß es Kinderfahrten zu einer Arbeit werden läßt, an die sich nicht
jeder, bloß weil er kurze Hosen und bunten Kragen trägt oder aber Aka¬
demiker ist, wagen soll. Allein die Schwierigkeit, das Elternhaus zu versöhnen
Zeitschrift f. pBdagog. Psychologie. 10
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Kleine Beitrüge and Mitteilungen
und daB Kind, das zu uns drängt, aber nicht darf, uns zu erhalten, fordert
Umsicht und Takt Das Führen ist ein fortgesetztes Arbeiten an sich und
ein Zurücktrelen und Opferbringen 1 Den Kindern und unserer Idee zulieb
sich selbst vergessen!
Mit diesem Ziel vor Augen, ganz im Bewußtsein all der schweren Ver¬
pflichtungen, nur so soll dieser Versuch der Kinderfahrten begonnen werden,
der allen, auch den jüngeren Helfern viel an innerer Reifung gibt. Hier ist
eine der wenigen Möglichkeiten, schon produktiv zu sein, zu Zeiten, wo junge
Menschen selbst noch nehmen müssen und empfangen wollen. So viel der
Jugendringarbeit muß ja scheitern, weil unsere Jüngeren noch nichts geben
und leisten können, sondern noch an sich zu denken haben in der kargen
Zeit der Freiheit von ‘/i5 nachmittags oder '/* 7 abends an. Hier aber wird
empfangen — denn das Kind gibt: es gibt Dank, leuchtende Augen, Fragen,
Bitten. Und all diese Fragen wieder bewegen den jungen Menschen, der
den Kleinen seine Zeit „opfert“, und er denkt nach, vergleicht eigene Jugend-
erlebnisse, prüft, wählt Bücher aus, schaut und hört schärfer aufs Flüstern
in Busch und Wald — erzieht sich und den jungen Menschen.
Der Gedanke unserer Fahrten als Erziehungsarbeit wird fortgesetzt zum
Gedanken der Volksarbeit dadurch, daß wir es versuchen — wir sagen
versuchen! — Kinder aller Lebenskreise zusammenzuführen. Manches Vor¬
urteil ist schon gebrochen — aber Berge harren noch der Abtragung, und
noch immer oft gibt die kleine „höhere Tochter“ ihr Butterbrot dem grauen
Straßenbübchen und dem ungestrählten Straßenmädel als Almosen und mit
den Fingerspitzen, statt eben als Wanderkamerad. Und eines Tages werden
die Bürgerlichen wie Sozialisten uns verdächtig finden — dann dürfen viele
Kinder nicht mehr mit. War aber die Gemeinschaft derer, die mit ihnen
wanderten und still an ihnen wirkten, gut und treu, so wird bei vielen der
Kleinen der Blick hell bleiben und der Haß wird ihn weniger leicht trüben.
So ist auch unsere Gemeinschaft entwickelt worden, zuerst nur „zünftige
Leut“, Jungens und Mädels vom Landfahrer, einer Gruppe der Jugendbewegung
im werktätigen Volk, andre kamen von außen, und über die Kinder hin
wuchsen wir zusammen.
Die Fahrt selbst nun: so billig als es eben nur geht, und hinaus, frisch
und frei, früh in Gruppen weithin zerstreut, jeder Führer mit seinem Häuflein;
die mitgekommenen (und auch immer wieder eingeladenen) Eltern für sich
vereint und den Kleinen fern. Je weiter der Führer in seiner Selbständigkeit:
Ordnung halten, Strenge wie Güte, im Schöpferischen, desto freier gestaltet
er die erste Hälfte des Wandertages, sei es im Naturbeobachten, Zeichnen,
Heimatkunde, Märchenrast usw., Mittags aber ist das große, große Treffen,
wo auch die Eltern fleißig hereingewirbelt werden. Und dann kommen die
Dichter der Kleinen und zeigen, ganz durch Eigentätigkeit geschaffen, uns
Märchen und Schnickschnack und Kasperspiele. Der Heimmarsch bringt den
letzten fröhlichen Ausklang, und das hoffnungsvolle „Auf Wiedersehen in
drei Wochen“. Und am Tag darauf die Feuerflammen oder dürren Wüsten
der Besprechung, wo mancher einen Absturz tut, ein anderer sich Beines
Vorwärtsarbeitens freut.
An äußeren Hilfsmitteln gibt es nur Ordnung, gutes Beispiel der Gruppen¬
führer und -führerinnen, ein Tuthorn, ein paar Fähnchen für große Rasten,
eine Reihe Handpuppen für Puppenspiele, eine durch freiwillige Beiträge
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
147
mehr als gedeckte Unfall* und Schadenversicherung, ein Postscheckkonto
wie eine von den Eltern angeregte Bekleidungshilfe, die beide der gegen¬
seitigen Unterstützung dienen.
Leipzig. Fedor Keusche.
Eine Untersuchung Ober Schalerbegabung auf Grund des Lehrerurteils
ist aus dem Institut für experimentelle Pädagogik an der Universität Leipzig
hervorgegangen. Sie erfaßt die Fragen, wie der Maßstab, mit dem der Lehrer
seine Begabungsurteile gewinnt, zustandekommt und angewendet wird und
wie sich nach den Kriterien, nach denen die Schule urteilt, die Schüler auf
einzelne Begabungsgruppen verteilen. Die Untersuchung fußt auf den Aus-
kOnften, die auf eine Umfrage eingingen. Von den im Jahre 1913 ausge-
sandten Stücken des sehr umfangreichen Fragebogens waren aus Leipzig,
Breslau, Bautzen, aus einigen kleineren Orten und Dörfern 1375, das ist
annähernd 40 "/o, ausführlich beantwortet eingegangen Ober die Verarbeitung
dieses breiten Materials berichtet Dr. phil. Hermann Wilhelm auszugs¬
weise in der Zeitschrift f. angew. Psych., Bd. 19 (1921), S. 291 ff. Er bietet
dort folgende Zusammenfassung seiner Ergebnisse:
l. Generelle Ergebnisse.
1. Die Forderungen der Volksschule werden im Durchschnitt von etwa 28 Proz. der Kinder
nicht erfüllt, während nur 9 Proz. mehr leisten als gefordert wird. Die Forderungen der heutigen
Volksschule stehen mit der mittleren Leistungsfähigkeit der Schüler nicht im Einklang.
2. Das, was der Lehrer „mittelbegabt“ nennt, deckt sich nicht mit der zahlenmäßigen mittleren
Begabung der Kinder. Es gibt mehr Schwachbegabte als hochbegabte Kinder, ln den gesamten
Volksschulen der untersuchten städtischen Schulgemeinden gibt es etwa
Kinder mit sehr hoher Begabung 2 Proz.
„ „ guter „ 20 „
„ „ mittlerer „ 48 „
„ „ geringer „ 22 „
„ „ sehr schwacher ,, 8 „
3. Gleichwohl ist die Begabung, als biologisches Merkmal betrachtet, um den errechneten
Mittelpunkt angenähert so verteilt, wie es die einfache „Gauß*sche Verteilungsfunktion“ angibt.
4. ln den einzelnen Fächern stark von einander abweichende Leistungen zeigen sich bei
7 bis 7 1 /* Proz der Zöglinge.
5. Große Verschiedenheiten von Leistungen und Begabung finden sich bei etwa 7 Proz. der
Schüler; meistens sind dabei die Leistungen schlechter, als es der Begabung entspricht
II. Differentielle Ergebnisse.
1. In den Unter- und Mittelklassen der Volksschule sind die Mädchen den Knaben an Be¬
gabung überlegen. Noch mehr Übertreffen sie hier die Knaben in den Leistungen; denn sie
sind fleißiger und haben noch andere der Schularbeit günstige Eigenschaften den Knaben
voraus. In den Oberklassen Übertreffen die Knaben die Mädchen in Begabung und Leistung;
von Ursachen steht fest, daß der Pubertätseintrilt die Leistungsfähigkeit der Mädchen herabsetzt.
2. Die Schüler der höheren Gattungen der Volksschule Übertreffen nach dem Lebrerurteil in
den unteren Klassen (Schuljahr 1—4) an Begabung die Schüler der einfachen Gattungen, ln
den oberen Klassen ändert sich das Verhältnis bei den Knaben, während es bei den Mädchen
erhalten bleibt. Es ist festzustellen, daß ein großer Teil der Knaben von der 4. Klasse auf
höhere Schulen übergeht.
3. Von den höheren Schulen sind die Schüler der Vollanstalten den gleichaltrigen Schülern
der Realschulen an Begabung überlegen, doch sind die untersuchten Zahlen hier kleiner.
III. Das Lehrerurteil.
1. Der Lehrer geht in seinem Urteil über die Schüler von deren Leistungen aus, vermag
dieee Jedoch durch seine sonstigen Beobachtungen und Erwägungen von der Begabung zu
scheiden. Eine genauere Analyse des Lehrerurteils muß Vorbehalten bleiben, doch vermag der
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Kleine Beiträge and Mitteilungen
Lehrer nach dem vorliegenden Material mit zureichender Sicherheit über die Schülerbegabung
zu urteilen.
2. Die Begriffe der Sprache von Begabungsgraden (hochbegabt usw.) sind eindeutig genug,
um dem Lehrer ein bestimmtes Maß zu gestalten. Die Begriffe der Sprache beruhen nicht allein
auf zahlenmäßiger Mittelbildung, sondern schließen noch andere Faktoren (vielleicht gewisse ob¬
jektive Zwecke usw.) ein.
3. Der Lehrer versteht unter Begabung nicht eine rein angeborene Anlage, sondern eine ent¬
wickelte allgemeine geistige Leistungsfähigkeit, in der sich Angeborenes und Erworbenes mischen.
4. Die Lehrerinnen urteilen ein wenig strenger als die Lehrer. 1 )
Erste internationale Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaft¬
licher Grundlage in Berlin vom 15.-21. Sept. 1921. Unsere Zeit ist unter
anderem dadurch gekennzeichnet, daß sie versucht, von neuem zu einer Reihe
bedeutsamer Fragen grundsätzlich Stellung zu nehmen, und daß sie sich
dabei bemüht, möglichst voraussetzungslos und unvoreingenommen vorzu¬
gehen. Daß sie dabei auch auf den großen Fragenkomplex „Geschlecht¬
lichkeit" stößt, ist selbstverständlich, denn kein anderer ist noch so in Dunkel
gehüllt, ist so in Widersprüche verstrickt wie dieser, und zwingt doch jeden
einzelnen, sich mit ihm irgendwie abzufinden. Es heißt, die Wissenschaft
sei frei. Ihr letzter Sinn sei: Erkenntnisse zu schaffen. Dabei beständen
für sie keinerlei Schranken, Grenzen und Rücksichten. Naturalia seien nicht
verächtlich. Wenn das wahr ist, dann haben sich zum wenigsten die Geistes¬
wissenschaften (ganz im besonderen aber die Psychologie) in bezug auf
die Probleme der Sexualität mit ganz gewaltigen Scheuklappen ausgerüstet
Die Folgen sind schlimm genug. Die ungeheure Literatur über die Fragen
der Geschlechtlichkeit, die natürlich trotzdem entstanden ist (oder gerade des¬
wegen entstehen konnte), ist zum größten Teil unzulänglich und dilettantisch.
Was damit zusammenhängt und schlimmer ist: wir haben in bezug auf die Sexu¬
alität noch kein einheitliches und geläutertes Kulturbewußtsein. Man kann
ruhig behaupten: jeder bat in diesen Fragen eine offizielle und eine private
Meinung. Dieser Zustand ist nicht nur unleidlich, er ist geradezu unwürdig.
Und die Wissenschaft trifft hier die Schuld.
Im Zusammenhänge damit habe ich schon kürzlich auf folgendes hinge¬
wiesen : Man verlangt von Elternhaus und Schule geschlechtliche Aufklärung
und geschlechtliche Erziehung der Kinder. Dabei hat noch niemand ein
irgendwie befriedigendes Verhältnis zu den allgemeinen Grundfragen der
Geschlechtsmoral überhaupt. Ja, was geradezu grotesk wirkt: man kennt
noch nicht einmal die sexualpsychologischen Voraussetzungen im Kinde, ob¬
wohl zahlreiche Ärzte auf Grund verschiedenster Erfahrungen immer und immer
wieder behaupten, weit über 90 u /» aller Menschen betätigten sich zum we¬
nigsten in autoerotischer Form in ihrer Jugend, und obwohl eine ganze me¬
dizinisch-psychologische Schule beinahe jede zweite oder dritte Handlung
schon des kleinen Kindes sexuell zu deuten sucht. Man schlage einmal die
Register unserer bedeutendsten Bücher über Kinderpsychologie, Jugendkunde
usw. auf. Die Stichworte Geschlecht, Sexualität usw. sind mit beinahe aber¬
gläubischer Scheu unterdrückt, oder die Ausführungen darüber sind von der¬
artiger Dürftigkeit und Allgemeinheit, daß sie besser unterblieben wären.
Man findet auch wohl die sorgfältigsten Erörterungen über „psychische Ge-
l ) Da Lehrerinnen im allgemeinen nur Mädchen unterrichten, gilt dies für Urteile von Lehrern
und Lehrerinnen über Mädchen.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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8chiechtsdifferenzen“, wobei etwa ausgeführt wird, wie verschieden sich
Knaben und Mädchen zur Mathematik, zum Religionsunterricht usw. ein¬
stellen. Darüber, daß gar nicht so selten Kinder schon von dem Dämon
Sexualität in die 'tiefsten Konflikte gestürzt, terrorisiert und zerbrochen
werden — davon erfährt man nichts. Und dabei hätte doch wohl eine vor¬
urteilslose und zielklare Jugendpsychologie die Aufgabe, die seelische Ent¬
wicklungslinie von der ersten dunkeln Triebäußerung bis hin zum klaren
Geschlechtsbewußtsein aufzuzeigen. Und eine psychologisch orientierte Päda¬
gogik könnte ihre erziehlichen Maßnahmen auf die gewonnenen Erkennt¬
nisse gründen.
Da ist es immerhin erfreulich, feststellen zu können, daß unsere Zeit den
ernsten Willen zeigt, Wandel zu schaffen. Natürlich sind es vorerst nur Ärzte,
die das Eis zu brechen suchen. Einige freie Forscher gründeten in Berlin
das „Institut für Sexualwissenschaft“, die Universität Königsberg schuf einen
Lehrstuhl fQr Sexuallehre, die tschechoslowakische Universität Prag gründete
ein sexualwissenschaftliches Institut im Rahmen ihrer medizinischen Fakultät.
Die Mitarbeiter dieser Institute in Verbindung mit anderen deutschen und
ausländischen Forschern brachten den ersten internationalen Kongreß für
Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage in Berlin zustande. Es
war zugleich der erste wirklich internationale wissenschaftliche Kongreß
nach dem Kriege in Deutschland. Das Ausland war stark vertreten, selbst
aus Japan und Südamerika waren Abgeordnete da. Unter den Hörem über¬
wogen Mediziner, Naturwissenschaftler, Juristen und ßulturreformer. Einen
bekannten Psychologen oder Pädagogen haben wir weder gesehen noch
gehört* Es wurden an die 40 Vorträge gehalten. Das war natürlich nicht
ökonomisch und zweckmäßig. Immerhin wurde auf diese Weise die un¬
geheure Fülle der Probleme aufgezeigt. Wir müssen uns in unserm Berichte
auf Andeutungen beschränken. Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld sprach als
Präsident des Kongresses über den Stand und die Aufgaben der Sexual¬
wissenschaft Oberster Grundsatz auch der Sexualforschung müsse der un¬
bedingte Wille zur Wahrheit sein. Und die wissenschaftliche Erkenntnis
wiederum muß zur Grundlage aller Sexualreform werden, ganz gleichgültig,
ob die Konsequenzen unseren bisherigen Anschauungen zusagten oder nicht.
Weitreichende Erörterungen schlossen sich an die Vorträge über „innere
Sekretion und menschliche Sexualität“ an. Lipschütz-Dorpat verfocht im
wesentlichen die Anschauungen Steinachs, Stieve-Halle griff diese an, während
Biedl-Prag einen besonderen Standpunkt vertrat. Privatdozent Dr. Weil-Berlin
wies interessante Zusammenhänge zwischen Körperproportion und Sexualität
auf. Ein besonderes Ereignis des Kongresses war die Vorstellung von fünf
durch Dr. Schmidt-Berlin nach Steinach operierten Männern, die sich nach
völligem körperlichen Verfall wieder der blühendsten Gesundheit erfreuten.
Dr. Stabel-Berlin mußte leider berichten, daß die Heilung einer Anzahl von
Homosexuellen mit Hilfe Steinachscher Methoden (Transplantation) nicht
gelungen war. Kulturphilosophische, ethische und eugenische Probleme be¬
leuchteten Prof. Dr. Frhr. von Ehrenfels und Dr. Helene Stöcker. Soweit die
sexuelle Ethik im geltenden Recht normiert wird, erfuhr dieses eine scharfe
Kritik durch Justizrat Dr. Werthauer und Staatsanwaltschaftsrat Dr. Dehnow-
Hamburg. Die Vorträge zur allgemeinen Sexualwissenschaft berührten sehr
anziehende Einzelprobleme: Psychoanalyse, völkerkundliche Fragen, Sagen-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
und Märchenforschung. Lebhafte Meinungsverschiedenheiten erzeugten natur?
gemäß die Auseinandersetzungen über die Fragen der Geburtenregelung,
künstlichen Schwangerschaftsbeendigung, künstlichen Befruchtung und künst¬
lichen Sterilisierung. Doch gelang es, sich auf einer mittleren Linie zu einigen.
Aus den besprochenen Problemen zur allgemeinen Sexualreform seien hervor¬
gehoben: Sexualrecht der Frau, die sexuellen Minderheiten, Prostitutionsfrage,
Ehescheidung, Geschlechtsberichtigung. Der letzte Abend war der Sexual¬
pädagogik gewidmet. Eine sehr zahlreiche Hörerschaft war erschienen.
Dr. Kronfeld machte fein abgewogene und vorsichtige Ausführungen über die
Sexualität des Kindes. Dr. Saaler ging die bisherigen Bestrebungen zur
Sexualpädagogik kritisch durch. Frau Senator Kirchhoff hielt einen sehr
warmherzigen und freisinnigen Vortrag über Erziehung zur sexuellen Ver¬
antwortlichkeit. Frau Dr. Uhlmann berichtete über Erfahrungen zur „Sexual¬
pädagogik in der Jugendfürsorge“. M. Döring-Leipzig sprach über „Jugendliche
Zeugen in Sexualprozessen“. In der Frage der sexuellen Erziehung der
Jugend beschloß der Kongreß folgende Kundgebung: Der Kongreß erblickt
in der Erziehung des Nachwuchses zu geschlechtlicher Wahrhaftigkeit,
Unbefangenheit und Verantwortlichkeit eine der wichtigsten Aufgaben
der gesundheitlichen und sittlichen Hebung der Bevölkerung aller Kultur¬
nationen. Zum Studium der Wege, die zu diesem Ziele führen können,
bildet die Tagung aus ihrer Mitte einen ständigen Ausschuß, bestehend aus
Vertretern des „Institqtes für Sexualwissenschaft in Berlin“ (Dr. med. et phil.
A. Kronfeld, Berlin) und des „Institutes für experimentelle Pädagogik und
Psychologie des Leipziger Lehrervereins“ (Lehrer M. Döring, Leipzig) und
solcher der Psychoanalyse (Dr. med. Saaler, Berlin und Dr. phil. C. Müller,
Braunschweig). Der Kongreß ersucht, diesen Ausschuß bei seiner Arbeit,
über welche er bei seiner nächsten Tagung in Rom Bericht erstatten soll,
mit Material und Arbeitsbeiträgen zu unterstützen. Im Anschluß an den
Vortrag von M. Döring-Leipzig faßte der Kongreß folgende Entschließung und
gab sie an das Reichsministerium weiter: Der Kongreß erhebt für die Neu¬
gestaltung der Strafprozeßordnung die Forderung, daß besondere Bestimmungen
in sie aufgenommen werden über die Verwendung von jugendlichen Zeugen
im Rechtsgange besonders von Sexualprozessen. In diesen neuen Bestimmun¬
gen müssen folgende Grundsätze zum Ausdruck kommen: 1. Die erste Ver¬
nehmung jugendlicher Zeugen darf nur von pädagogisch-psychologisch ge¬
schulten und erfahrenen Personen erfolgen. 2. Die Zahl der Vernehmungen
überhaupt und die Zahl der Vernehmenden ist im Interesse der Schonung
der jugendlichen Zeugen möglichst zu beschränken. 3. Auf Antrag des An¬
geschuldigten und in Fällen, wo Jugendliche als alleinige Zeugen in Frage
kommen, ist von seiten des Gerichtes ein pädagogisch-psychologischer Sach¬
verständiger und ein Sexualarzt als Gutachter hinzuziehen. Diese haben
das Recht der Einsichtnahme in die Akten und dürfen die Zeugen schon
während der Voruntersuchung prüfen. Auch dürfen sie Anträge zu notwen¬
digen Erhebungen in bezug auf die Zeugen und den Angeklagten stellen.
4. In schwierigen Fällen hat sie schon die Staatsanwaltschaft vor Erhebung
der Anklage zu hören.
Es ist nicht schwer, an einem in mehr als einer Hinsicht gewagten ersten
Unternehmen, wie es der Kongreß darstellte, Kritik zu üben. Wir unterlassen
das. Die Bedeutung des Kongresses lag darin, daß er die große Fülle sexueller
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Kleine Beiträge and Mitteilungen
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Probleme aufzeigte, daß er mutig an die Lösung einer Reihe schwierigster
Kulturfragen herantrat und zugleich den einzig möglichen Weg zu deren Lösung
angab: den über die Erkenntnisse einer voraussetzungslosen, unvoreingenom¬
menen wissenschaftlichen Forschung hinweg. Wenn er ernsthafte Menschen
bestimmt hat, in dieser Richtung mitzutun, dann hat er seinen Zweck erfüllt.
Leipzig. Max Döring.
Eine Hauptstelle für praktische Psychologie in Berlin-Spandau ist mit der
Unterstützung des preußischen Ministeriums des Innern geschaffen worden.
Das Institut soll der Allgemeinheit für kostenlose wissenschaftliche psycho¬
logische Beratung zur Verfügung stehen. Hand in Hand mit einigen Ärzten
und Nervenärzten wird dort eine auf Fachpsychologie gestützte Untersuchung,
Beratung und Behandlung erfolgen. Besonders soll der Berufsberatung und
der wissenschaftlichen „Seelsorge“ gedient werden. Man gedenkt, das In¬
stitut im Sinne einer Poliklinik dem Gemeinwohle zu öffnen. Vom Ministerium
wurden zunächst Räume in Spandau in der früheren Garde-Pionier-Kaseme
(Schönwalder Straße) angewiesen. Die ehrenamtliche Leitung der Hauptstelle
liegt in den Händen des praktischen Psychologen Dr. R. W. Schulte, der
besonders durch seine berufspsychologischen Arbeiten und Vorlesungen sowie
durch seine sport6pychologischen Untersuchungen als Abteilungsleiter der
Deutschen Hochschule für Leibesübungen bekannt ist
Nachrichten. 1. Prof. Dr. Paul Natorp, der Ordinarius für Philosophie
an der Universität Marburg, tritt am 1. April 1922 von seinem Lehramt
zurück.
2. Zum Nachfolger des Geh. Rats Prof. Stumpf auf dem Lehrstuhl der
Psychologie an der Universität Berlin ist der o. Professor Dr. Wolf gang Köhler
von der Universität Göttingen berufen worden; zum Nachfolger Köhlers in
Göttingen ist Prof. Dr. Erich Jaensch in Marburg ausersehen.
3. Oberstudiendirektor Dr. Otto aus Berlin-Reinickendorf bat die Berufung
auf den neu zu errichtenden Lehrstuhl für Pädagogik in Marburg erhalten.
4. Der Tschechoslowakische Lebrerbund bat unter Mitwirkung des Päda¬
gogischen Instituts J. A. Comenius in Prag eine Forschungsstätte für ex¬
perimentelle Pädagogik mit Universitätskursen für Lehrkräfte aller Schul¬
gattungen gegründet.
5. Eine Tagung für angewandte Psychologie in Berlin wird Ostern
1922 von dem „Ausschiß für angewandte Psychologie“ innerhalb der „Ge¬
sellschaft für experimentelle Psychologie“ veranstaltet werden. Die Verhand¬
lungen sollen votnehmlkh dem Problem der Bewährungsfeststellung bei
psychologischen Auslesen gewidmet sein. U. a. wird besprochen: Die Kon¬
stanz der Metbcden zur Eignungs- und Begabungsfeststellung (Einfluß von
Übung, Dispositionsschwankungen,Versuchsumständen); der Symptomwert der
Methoden (praktische Bewährung der Geprüften); Begriffsbestimmung und
Kriterien der Tüchtigkeit in Schule und Beruf; Untersuchung von Arbeits¬
vorgängen.
6. Der Dritte internationale Kongreß für ethische Erziehung
findet vom 28. Juli bis 1. August 1922 in Genf 6tatt. (1908 London, 1912
im Haag.) Zur Verhandlung stehen: 1. Der Geist für Weltbürgertum und
. der Geschichtsunterricht 2. Das Gemeinschaftsgefühl und die Erziehung.
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Literaturiiericht
Literaturbericht
Selbstanzeigen.
Dr.Otto Tumlirz, Privatdozent für Pädagogik an der Universität Graz, Einführung in die
Jagendkunde mit besonderer Berücksichtigung der experimentell-pädagogischen Forschungen.
L Band Die geistige Entwicklung der Jugendlichen. 1920. 291 S. geb. 37,50 BL II. Band:
Die geistige Bildsamkeit der Jugendlichen. Leipzig 1920 u. 1921. Klinkbardt. 262 S. Geb. 40 M .
Die Jugendkunde hat eine doppelte Aufgabe zu lösen: als Zweig der allgemeinen Psycho¬
logie hat sie die seelische und, soweit die Beziehungen zwischen Körper und Geist bedeutungs¬
voll sind, auch die körperliche Entwicklung der Jugendlichen zu erforschen, die Eigenarten der
verschiedenen Entwicklungsstufen vergleichend festzustellen und aus den Gesetzen der Ent¬
wicklung heraus zu erklären. Als Grundwissenschaft der Pädagogik hat sie zu untersuchen, ob
and wie weit der Verlauf der natürlichen Entwicklung durch die Erwachsenen beeinflußt werden
kann, wie weit also der jugendliche Geist bildsam ist und wer und was geeignet erscheint,
einen Bildungseinfluß auszuüben.
Aus dieser zweifachen Aufgabe ergibt sich von selbst die Gliederung des vorliegenden
Werkes. Der erste Band beschäftigt sich mit der Entwicklungsfrage. Nach einer Begriffs¬
bestimmung des Forschungsgebietes und der Erörterung der Arbeitsweisen, deren sich die
Jugendkunde bedient, wird in dem Hauptabschnitt die Entwicklung der allen Jugendlichen
gemeinsamen geistigen Fähigkeiten behandelt (körperliche, geistige Entwicklung im allgemeinen,
Entwicklungsgesetze, Sinnes Wahrnehmungen, produzierte Vorstellungen, Erinnerungsvorstellungen
und Gedäcbtnisvorgänge, Denken, Fühlen, Begehren, Sprache, Zeichnen, Spiel). Den meisten
Kapiteln gehen kurze allgemeinpsychologische Erörterungen voran, um den psychologischen
Standpunkt des Verfassers zu klären. Gemäß der in dem Werke vertretenen Anschauung, daß
das Experimsnt zur Erforschung der höheren Bewußtseinsvorgänge nicht ausreicht, sind auch
die Ergebnisse nichtexperimenteller Beobachtung Jugendlicher verwertet, wobei auf die Dar¬
stellung der beiMeumann u. a. arg vernachlässigten höheren Denk- und Willensvorgänge sowie
auf die Kennzeichnung der Geschlechtsreifezeit ein besonderes Gewicht gelegt wurde. (Jerade
dadurch bietet aber das Buch trotz des viel bescheideneren Umfanges gegenüber Meumann
manches Neue. Der dritte Abschnitt erörtert kurz die Frage der eigenpersönlichen Unterschiede
und die Begabungsfrage.
Vermochte der Verfasser im ersten Band die Ergebnisse zahlreicher Einzelunternehmungen
zu verwerten, wenn auch die Forschung noch vielfach auf dem Gebiete der höheren geistigen Vor¬
gänge bisher versagt, so mußte mit dem zweiten Band, der sich mit der Bildsamkeitsfrage
beschäftigt, gleichsam ein Neuland der Jugendkunde betreten werden. Denn zum erstenmal
wurde der Versuch gemacht, die Bildsamkeit in den Mittelpunkt psychologisch-pädagogischer
Untersuchungen zu rücken und die Kräfte, welche den naturgegebenen Eotwicklungaverlauf
bedingen, zu bestimmen. Das Bestreben der Naturwissenschaft, die „Entwicklungsmechanik
auch auf das Geistesleben anzuwenden und die dadurch drohende Vernichtung der geistigen
Werte machte eine Auseinandersetzung mit der Entwicklungslehre notwendig, woraus sich eine
Scheidung zwischen Entwicklung im Naturgeschehen und im Geistesleben ergab. Aus dem
Wesen der geistigen Entwicklung folgt, daß ihr Ablauf durch drei Kräftegruppen bedingt ist,
durch die ererbten Gattungs- und Einzelanlagen, durch die planmäßigen und zufälligen Ein¬
wirkungen der Umwelt, durch das selbsttätige Eingreifen des Einzelwesens in seine Entwicklung.
Die Wirkung dieser drei Kräftegruppen wird nun in den drei folgenden Abschnitten „Erb¬
bildung 44 , „Fremibildung“ und „Salbitbildung“ untersucht. Der Abschnitt „Erbbildung 44 be¬
häufelt die VererbingTatsachen, wobei eine Auseinandersetzung mit der biologischen Ver¬
erbungslehre erforderlich wird, ferner das Wesen der Bildsamkeit und die Bildsamkeit der
einzelnen geistigen Anlagen (letzteres das für die Pädagogik vielleicht wichtigste Kapitel). Unter
„Fremdbildung“ werden die Einflüsse der häuslichen Umwelt, der Schule und der Lebens¬
gemeinschaften erörtert, unter „Selbstbtldung* 4 die Zielstrebigkeit der Persönlichkeit und die
Möglichkeiten der Selbsterziehung.
Das Werk will nicht allein eine Überschau über das bisher Erreichte, eine Zusammen¬
fassung der bisherigen Forschungsergebnisse sein, sondern will auch zeigen, welche Fragen
noch ungelöst sind, welche Wege beschritten werden müssen, damit die Erkenntnis des jugend¬
lichen Seelenlebens vertieft und vervollständigt werde. Es wendet sich daher an alle Erzieher.
Berufspädagogen ebenso wie an Eltern und fordert sie zur Mitarbeit an dem großen Forschungs¬
werk auf, deren Lösung die Voraussetzung für alle zielbewußte Erziehertätigkeit ist Da es
nicht für einen engen Kreis von Fachpsychologen bestimmt ist, war es das Bestreben des Ve r -
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Literaturbericht
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fasse«, bei aller Wissenschaftlichkeit klar und deutsch zu schreiben. Denn das Kennzeichen
eines wissenschaftlichen Werkes kann doch nicht in dem dunklen und unklaren Stil und einem
Wust von Fremlwörtern bestehen. Das Qesamtwerk hofft somit einerseits , den Jugendkund-
Ucbeo Forschern manche neue Anregungen zu gewähren, und will anderseits den Jüngeren
Lehrern und den Eltern ein sicherer Führer sein auf dem Weg zur Erkenntnis der Jugendlichen
Seelen. Zahlreiche Quellennachweise sollen eine weitere Vertiefung ermöglichen.
Kretzschmar, Dr. Job., Das Ende der philosophischen Pädagogik. Ergebnisse
einer Untersuchung zur Entstehungsgeschichte der Erziehungswissenschaft Leipzig 1921.
Wunderlich. 60 S.
Der Titel meiner Schrift hat vielfach, wie ich bisher feststellen konnte, den irrigen Eindruck
erweckt, als ob ich es auf die voll ständige Trennung der Pädagogik von der Philosophie ab¬
gesehen hätte. Davon kann natürlich keine Rede sein. Ich sehe in meiner Untersuchung das
Verhältnis beider Wissenschaften zueinander von den Bedürfnissen des praktischen Schulmannes
ans, der wertvolle Fingerzeige für seine Maßnahmen braucht. Die Philosophie sollte bisher
der Erziehung Ziel und Wege weisen; dies tut sie heute nicht mehr. Die Psychologie — ins¬
besondere auch die Jugendpsychologie — ist aus dem Bereich der Philosophie ausgescbieden
and eine mit exakten Methoden arbeitende Tatsachenwissenschaft geworden. Die Ethik, deren
Stellung zur Erziehungswissenschaft heute meist noch ganz falsch — nämlich im Sinne der
Wertphilosophie — aufgefaßt wird, gilt schon längst nicht mehr als dasjenige Gebiet, dem der
Schulmann das oberste logische Prinzip für die wissenschaftliche Begründung aller Einzelauf-
gaben, aller Teilziele der Erziehung entnimmt. Schon Fr. Paulsen verfuhr anders, Kerschen-
steiner verfährt anders, und bei Natorp ist die Ethik in Wirklichkeit keine pädagogische Grund¬
wissenschaft mehr. In dieser Hinsicht muß man heute vom Ende der philosophisch begründeten
Pädagogik sprechen. Natürlich kann man das Verhältnis der Philosophie zur Erziehungs¬
wissenschaft auch vom Standpunkt des Philosophen aus betrachten. Dieser sieht kein Ende
der beiderseitigen Beziehungen, wohl aber eine bedeutungsvolle Wandlung derselben. Die
moderne Philosophie geht mehr und mehr dazu über, die Erziehung als gegebene Tatsache
vorauszusetzen, an die Ergebnisse der pädagogischen Einzelforschung anzuknüpfen und dieselben
wie bei Jeder Einzelwissenschaft in das allgemeine Weltbild einzugtiedern. Diesem Standpunkte
suche ich dadurch gerecht zu werden, daß ich für eine den Abschluß der pädagogischen
Wissenschaften bildende Erziehungspbilosophie eintrete, zu der bereits viele Ansätze vor¬
handen sind, so bei Th. Litt, E. Krieck u. a.; sie wird Wertvolles leisten, sobald ein
sorgfältig aufgebautes Tatsachenmaterial vorliegt — augenblicklich ist dieses Material leider
ooeh lückenhaft
Besprechungen.
Alois Riehl, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart Acht Vorträge.
Sechste, fast unveränderte AufL Leipzig 1921. Teubner. 260 S. 14 M.
Riehls Einführung in die Philosophie ist, seit sie 1902 erstmals erschien, so allgemein
bekannt, daß sich eine Würdigung and Empfehlung bei ihrem nunmehr sechsten Erscheinen
erübrigt Abweichend vom Stile der üblichen gelehrten and belehrenden Einleitungen in die
Philosophie, wird sie als eine Schrift geschätzt, die im Ton der feinsinnigen Rede darauf aus¬
geht auf philosophisches Denken einzustimmen, und die dadurch, daß sie die großen Gestalten
und 8ysteme an den entscheidenden Wendepunkten der Geistesgeschichte anregend vor Augen
stellt, zu einem ersten Verständnis der philosophischen Bestrebungen der Gegenwart führt.
Freilich geleitet sie nur bis zu Schopenhauer und Nietzsche und fügt dann nur noch
eine Kritik des Pragmatismus an. Die großen geistigen Fragen and Bewegungen der Jüngsten
Zeit bleiben anberührt. Tr.
Dr. K. Girgensohn, Prof. a. d. Universität Greifswald, Der seelische Aufbau des religi¬
ösen Bewußtseins. Eine religions-psychologische Untersuchung auf experimenteller Grund¬
lage. Leipzig 1921. HirzeL 712 S. Geheftet 120 M., Gebunden 186 M.
Die zunächst absurd anmutende Verknüpfung der Begriffe „Religionspsychologie* und „Experi¬
ment*, die der Titel enthält, erweist sich bei Betrachtung des Inhalts als durchaus sinnvoll,
Ja als eine überaus wertvolle Bereicherung psychologischer Methodik und Einsicht Die ange¬
wandte Experimentalmsthole ist nämlich die der geleisteten Selbstbeobachtung, wie sie
die Würzburger Schule unter Külpes Leitung aasgebildet hat
Der Verfasser legt seinen „Beobachtern* — erwachsenen gebildeten and religions-
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Literaturbericht
interessierten Personen beiderlei Geschlechts — eine Reihe von Gedichten religiösen In¬
halts vor und läßt sie nach der Lektüre eines Jeden alle Erlebnisse, die sie während des
Lesens hatten, genan zu Protokoll geben; des weiteren wurden auch einige Gespräche
über bestimmte Themen (das Vertrauen, den Gottesbegriff) mit den Reagenten angeknüpft,
ebenfalls mit genauer Protokollierung des Inhalts. Diese Protokolle — deren ausführliche
Wiedergabe einen großen Teil des stattlichen Buches füllt — erweisen nun eine unerwartete Frucht¬
barkeit für die Klärung wichtigster psychologischer Fragen — und zwar nicht allein religionspsycho-
logischer Insbesondere für die Psychologie des Gefühlslebens wird aufs Eindringlichste dargetan, wie
dürftig und schematisch bisher fast alle Theorien gewesen sind. Der Verfasser entwickelt im 1 Hauptteil
diese „Mannigfaltigkeit des Gefühlslebens nach der funktionellen und der inhaltlichen Seile unter
ständiger Bezugnahme auf die verschiedenen psychologischen Theorien. Im 2. Hauptteil werden
nun die Gefühle des spezifisch religiösen Erlebens analysiert Wir erfahren von der Bedeutung
der Lust- und Unlustgefühle im Religiösen und von der eigentümlichen Rolle der Organempfin¬
dungen; das Wesentliche des spezifisch religiösen Erlebens ist aber nicht in diesen zu sehen,
sondern in zwei anderen Momenten: einmal bestimmten „Ich-Funktionen“: Einfühlung des Ich
in die zunächst fremden religiösen Gedanken, Hingabe an das religiöse Objekt, Erlebnis des
Wachslums und der Erweiterung des Ichs — und andererseits in dem gedanklichen Objekt
einer alles Begienzte und Gegebene überschreitenden Wirklichkeit, einem Objekt, das aber nicht
sowohl als diskursiver Begriff, sondern als „Intuition“, als „konkretes Abstraktum“ auftritt.
Weder das bloße drefühl noch das bloße Denkobjekt konstituiert Religiosität, sondern nur das
Ineinander von beiden: „Setzung des Ichs und religiöser Gedanke werden im lebendigen reli¬
giösen Leben nicht als etwas verschiedenes empfunden, sondern das religiöse Leben ist stets
beides zugleich: Gedanke und Beziehung des Ichs“. (So kommt hier die psycho¬
logische Analyse des Verfassers zu genau demselben Ergebnis, das der Personalismus als „In-
trozeption“ bezeichnet und ebenfalls als Grundform des religiösen Verhaltens ansieht.) Gegen¬
über den genannten Momenten sind die vorstellungsmäßigen und willemmäßigen Erlebnisinhalte
(die ebenfalls eingehend betrachtet werden) für das Wesen der Religiosität nur sekundär. Der
Analyse der Protokolle ist die Betrachtung von Selbstbekenntnissen großer religiöser Persönlich¬
keiten angeschlossen Es finden sich hier dieselben Züge wieder. Im Scblußteil wird die an¬
gewandte denkpsychologische Methode kritischer gerechtfertigt und vor allem gegen die bekannten
Einwände von Wundt verteidigt. Ihr Wert ist dur<h den Inhalt des Buches aufs Bündigste
dargetan, ja sie ist durch die Arbeit des Verfassers über ihre, von Külpe und seinen Schülern
gezogenen Grenzen hinaus erweitert worden; denn es sind ja nicht mehr Probleme der „Denk¬
psychologie“ im engeren Sinne, sondern das Problem einer alle seelischen Funktionen ins Spiel
setzenden Verbaltungsweise, deren Erkenntnis durch das Verfahren der experimentellen Selbst¬
beobachtung um ein wesentliches Stück gefördert worden ist In Zukunft wird diese Methode
neben den anderen bisher für die Religionspsychologie verwandten Methoden (der historischen,
der völkerpsychologischen, der Erhebungsmethode) ihren gleichberechtigten Platz haben.
Hamburg. William Stern.
Dr. phil. et med. Georg Sommer, Leib und Seele in ihrem Verhältnis zueinander.
Aus Natur und GeisteswelL Nr. 702. Leipzig 1920. Teubner. 128 S. 12 M.
Den Zugang zu dem trotz seines Uralters ungelösten Probleme des menschlichen Denkens
wie Leib und Seele zueinander stehen, nimmt Sommer durch Darlegungen zu der Frage:
Was heißt psychisch? Eingehend und kritisch stellt er dann die großen Theorien dar, die sich
als Versuche, das schwierige Köiper-Geistproblem zu lösen, in der Geschichte der Philosophie
herausgebildet haben: die materialistische Deutung, die Lehre vom Parallelisn.us und die Wechsel¬
wirkungstheorie. Auf die große Wenduntr, ob es sich bei dem Denken über das Verhältnis von Leib
und Seele nicht zuletzt um das unfruchtbare Bemühen an einem Scheinproblem handle — eine
Wendung, die M. Schlick vom erkenntnistheoretiscben Standorte und W. Stern im Zuge eines
eigenen philosophischen Systems wagt —, wird nur kurz verwiesen. Der Weisheit letzter Schluß, zn
dem sich Sommer in seinen untersuchenden Erörterungen heranarbeitet, ist das Bekenntnis,
daß die naturphilosophische These: man könne sich der Lösung nur unter Annahme eines nicht¬
energetischen Faktors nähern, immer mehr an Wahrscheinlichkeit und Anerkennung gewinne.
„Der Mensch und das Organisch-Lebendige überhaupt steht in einem größeren Zusammenhänge,
als der ist, welcher sich durch die bewährten und durch künftige Methoden der Naturforschung
auflösen läßt.“ „Jedes Einzel-Ich, ja jegliche Regung eines Bewußtseins, welchen Grades und
welcher Klarheit sie auch sei, ist beteiligt an der Lenkung des Geschebensstronies, den wir
„Leben“ nennen. Das Bewußtsein, innigst mit diesem Strome verwoben, zieht ihn nach sich —
ja noch mehr: es ist in seiner höchsten Form verantwortlich für die Richtung dieses Stromes ....
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Literaturbericht
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Im Laufe der ganzen organischen Entwicklung verschiebt sich der ganze Schwerpunkt des Ge¬
schehens allmählich von der Entfaltung und Erhaltung der Form und Funktionen des Leibes
nach der Schaffung und Behauptung geistiger Werte, und diese wiederum adeln Form und Funk¬
tion des stofflichen Anteils. So tritt mit wachsender Deutlichkeit der Primat des Bewußtseins
im Organischen hervor, und trotz aller Schwierigkeiten dürfte das Gesamtergebnis der bis¬
herigen Arbeit an unserem Problem heute der Annahme günstig sein, daß das Verhältnis
zwischen Leib und Seele als ein kausales im Sinne der Wechselwirkungstheorie zu be¬
stimmen sei“.
Leipzig. Richard Tränkmann.
Dr. Th. Eris mann, Privatdozent an der Universität in Bonn, Psychologie III. Die Haupt¬
formen des psychischen Geschehens. Sammlung Göschen Nr. 833. Berlin und Leipzig 1921.
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. 144 S. 9,00 M.
Nachdem von uns das erste und zweite Bändchen der dreiteiligen Psychologie von Eris-
mann ausführlicher gekennzeichnet worden ist (vergl. Jahrgang 1921, S. 270 und S. 350),
bedarf es für den Abschlußteil nur des Hinweises, daß er in gedrängtester Darstellung und in
dem überlieferten Aufbau, der von den Empfindungen, Wahrnehmungen und Denkleistungen
za den Gefühlen und Affekten und von da zu den Willensvorgängen führt, einen kürzesten
Abriß dessen gibt, was sonst nach der wissenschaftlichen Oberlieferung unter allgemeiner
Psychologie verstanden wird. Es liegt in der Natur des Gegenstandes, daß hier nun weniger
als in den ersten Bändchen, die sich mit den Grundlagen der Psychologie beschäftigen und
das Gewebe seelischen Seins in der Persönlichkeit behandeln, eigene Forschungen und An¬
schauungen des Verfassers zur Geltung kommen. Was aber Erismann aus dem verfügbaren
umfänglichen Lebrgute, schöpft und zu einer gut ausgeglichenen und wohlgeordneten Obersicht
fügt, hält engste Fühlung mit den Ergebnissen der jüngsten empirischen Forschungen, besonders
den experimentellen, und ist in das Licht der grundsätzlichen Betrachtungen gerückt, die in den
ersten Teilen des Gesamlwerkes angestellt worden sind. Eigene Stellungnahme zeigt so vor
allem die Behandlung des Denkens, und auch in die Lehre vom Gefühl und Affekt fließen Er¬
örterungen ein, die in ihren Grundlagen von überlieferten Auffassungen abweichen.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Ernst Kretzschmar, Privatdozent für Psychologie in Tübingen, Medizinische Psy¬
chologie. Ein Leitfaden für Studium und Praxis. Leipzig 1922. Georg Thieme. 365 S. 39 M.
Unmittelbar auf die praktischen Aufgaben des ärztlichen Berufes eingestellt und dabei dem
Bedürfnis entgegenkommend, über die Enge des Faches hinaus einen Ausblick auf erkenntnis-
theoretische, ethische, volkspsychologiscbe und theoretische Fragen zu gewinnen, bewegt sich
das Buch Kretscbmars nicht etwa, wie man nach dem Titel vermuten könnte, im Felde der
physiologischen Psychologie, sondern bemüht sich, unter Verzicht auf eingehende anatomische
und neurologische Darstellungen um eine Zergliederung der höheren seelischen Vorgänge.
Dabei durfte mit Recht nicht eine Beschränkung auf psychopathologische Erscheinungen erfolgen,
wenn diese selbstverständlich auch sehr vordringlich gegen die Beschreibung des normalen
Seelenlebens sein mußten. Sorgfältiges Eingehen erfuhren so u. a. Traumleben, Hypnose,
Suggestion, Neurose, Hysterie und die Verfassungen der psychopathischen Persönlichkeiten. Nach
dem Maße ihrer Bedeutung sind vor allem auch — bei deutlicher, kritische! Zurückhaltung —
die gesicherten psychoanalytischen Auffassungen dargestellt und gewürdigt worden. Eine besonders
eingehende Behandlung erfährt der Sexualtrieb. Nicht ausreichend erscheint uns bei ihrer Be¬
deutung für den Arzt die Psychologie der Aussage berücksichtigt. In der Denkweise tritt,
von einer medizinisch'orientierten Psychologie nicht anders zu erwarten, der naturwissen¬
schaftliche Zug hervor. Ein Einfluß von Jaspers, der die Psychiatrie durch Einführung der
phänomenologischen Betrachtung befruchtet hat, ist unverkennbar. Auch die entwicklungs-
psychologische Linie wurde eingebalten. Daß sich die Darstellung auf reichlich eingestreute an¬
schauliche Beispiele stützt, auch auf Bildbeigaben, statistisches Zahlenwerk, Krankenberichte,
Versuchsmaterial usw., wird dem Buch, das die Kenntnis der allgemeinsten psychiatrischen
Begriffe und der geläufigen Krankenbilder voraussetzt, zum Vorteil. — Große Teile des Buches
erörtern psychologische Gebiete, die auch eine hohe pädagogische Bedeutung haben. Um
das Buch aber für den Handgebrauch des Erziehers zu empfehlen, ist die Psychopathologie des
Jugendlebens nicht ausgiebig genug herangezogen worden und werden an ausgesprochene
medizinische Vorkenntnisse zu hohe Ansprüche gestellt.
Leipzig. Otto Scheibner.
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Literaturbericht
Dr. med. Walter Gut, Nervenarzt in Hohenegg-Meilen, Vom seelischen Gleichgewicht
und seinen Störungen. Vorträge, gehalten in den Zürcher Frauenbildungskursen 1920.
Zürich 1921. Orell Füßli. 164 S. 30 M.
Mit feinem didaktischen Geschick ist in dieser Schrift eine allgemeinverständliche Darstellung
gegeben von den seelischen Unstimmigkeiten, Spannungen, Schwierigkeiten, die im täglichen
Umgänge mit anderen und mit sich selbst das persönliche Leben störend bestimmen. Die aus¬
gesprochenen Geisteskrankheiten werden dabei nicht berührt oder nur mit flüchtigem Blicke ge¬
streift. An zahlreichen Beispielen bringt das erste Kapitel zunächst zum Verständnis, wie kör¬
perliche Unzulänglichkeiten sich in seelischer Störung spiegeln (Krüppelseele, Charakteränderung
bei Lungenkranken, Wirkungen der Kinderlosigkeit, Folgen der Kurzsichtigkeit, seelische Ver¬
fassung der Taubstummen usw.). Wie auf Grund „nervöser Veranlagung“, durch die in be¬
stimmter Art Menschen und Dinge auf den „Belasteten“ wirken und das Bild des Wehleidigen,
Haltlosen, Leidensseligen, Empfindlichen usf. ergeben, beschreibt und erörtert dann der folgende
Abschnitt. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den „Entwicklungskonflikten“. Die Schrift
bewegt sich hier vorsichtig, wie auch sonst durchweg, in psychoanalytischen Beobachtungen und
Deutungen, ohne daß ausdrücklich diese Einstellung betont würde. Vor allem ist es die Psycho¬
logie des Trotzes, der Konflikt des Alterns, die Spannung zwischen Eltern und Kind, die Be¬
deutung der Jugenderlebnisse, die dabei — bezogen auf anschauliche Beispiele — behandelt
werden. Auffällig ist, wie den Erscheinungen des Sexuallebens ausgewichen ist. Es folgen die
Störungen, die ein „Leiden in der £eit“ ausdrücken. Diese Wendung führt zu massenpsycho¬
logischen Darlegungen hinüber und zu einer Zergliederung der gegenwärtigen Kulturlage. So
werden — um einzelnes zu nennen — die modern chaotische Lebensstimmung, die romantische
Überspanntheit, der idealistische Überschwang, der weltflücbtige Trieb als Spiegelungen der
geistigen Krisis unserer Zeit betrachtet. Zuletzt nimmt das Buch den Aufstieg zu herzhaften
Ausführungen Über die Gesundheit der Seele. Es warnt z. B. vor Übersteigerungen der Gefühle,
fordert „Sachlich leben!“, predigt Ehrfurcht und spornt den Willen zum Gesundsein an. — Soweit
rein ärztliche Erkenntnisse die Darstellungen stützen, wissen wir uns zu ihrer Beurteilung nicht
zuständig. Was aber in ihnen an Psychologischem und vor allem Pädagogischem bewegt wird,
hat nach unseren eindringenden Beschäftigungen und besonders gepflegten Beobachtungen im
Gebieie einer „Seelenlehre des Alltags“ unseren vollen Beifall. Wir wünschen dem Buche, das
fesselnd geschrieben ist und einen weiten Horizont seiner Betrachtungen hat — so greift es viel¬
fach auch Beispiele aus der Dichtung auf und wirft Blicke in größere philosophische Weiten —,
daß es vor allem in die Hände der Eltern und beruflichen Erzieher komme.
Leipzig. Rieh, Tränkmann.
Dr. phiL et med. Erich Stern, Privatdozent an der Universität Gießen, Die krankhaften
Erscheinungen des Seelenlebens. Allgemeine Psychopathologie. Aus Natur und Geistes¬
welt. 764. Bd. Leipzig 1921. Teubner. 116 S. 12 M.
In der Auswahl und Formung des Stoffes richtet sieb das Bändchen darauf ein, daß sein
Gegenstand weiteren Kreisen zugänglich werde; vor allem will es für die psychologischen Be¬
lehrungen, wie sie in Lehrerbildungsanstalten, Frauenschulen und in Volksbildungsstätten eifrig
betrieben werden, eine Ergänzung bieten. So vermeidet Stern, soweit dies möglich wird, die
facbwissenschaftlichen Ausdrücke, drängt das Praktische der seelischen Krankenbehandlung bis
auf ein paar Andeutungen zurück, durchsetzt die schlicht dargebotenen psychopathologischeo
Erscheinungen reichlich mit Beispielen und Krankenberichten und befleißigt sich eines durch¬
sichtigen und einfachen Aufbaues, der nach der Sicherstellung einiger grundlegenden Begriffe
die Störungen des Wahrnehmens, des Gefühls, des Vorsteilens, der Intelligenz, des Wolleos
und Handelns und schließlich des Ichlebens durchläuft
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Bastian Schmid, Von den Aufgaben der Tierpsychologie. (Heft 8 der «Abhandlungen
zur theoretischen Biologie“). Mit 11 Abb. im Text. Berlin 1921. Borngräber. 42 S. 12 M.
Bastian Schmid bat sich auf tierpsy dialogischem Gebiete zuerst in seinen Schriften „Das
Tier und wir“ (1916) und „Das Tier in seinen Spielen“ bewegt. Er kündigt weitere Veröffent¬
lichungen, die nun ausgeprägt wissenschaftlichen Zweck haben, als Frucht eingehender Unter¬
suchungen an. Die vorliegende Abhandlung bringt vorerst methodische Erörterungen, ohne
dabei an Kritischem oder Positivem wesentlich Neues vorzulegen. Bei seiner grundsätzlichen
Anerkennung der psychischen Realität lehnt Schmid die rein-mechanischen Deutungen ab,
wendet sich mit gleicher Entschiedenheit aber auch gegen die heute immer noch umlaufenden
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Literaturbericht
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Vermenschlichungen tierischen Seelenlebens, wie sie sich vorfinden, wenn sogar namhafte
Zoologen die naiven Darstellungen vom Schlage einer Paula Möckel verteidigen. Was Schmid
an Unzulänglichkeiten der tierpsychologisehen Forschung aufzählt, trifft heute bei weitem nicht
mehr durchweg zu. Es darf freilich eine auf wissenschaftliche Beachtung rechnende Abhand¬
lung nicht an solchen bahnbrechenden Untersuchungen wie der von Köhler vorübergehen. An
Problemkreisen, die künftig eifriger als bisher mit einwandfreien Methoden zu untersuchen
wären, zeigt Schmid drei auch für die pädagogische Psychologie wichtige Gebiete auf: die
psychische Entwicklung des Einzelwesens, die Ausdrucksformen des tierischen Körpers und die
Sprache der Tiere. Was er hierzu ausführt, enthält einige wertvolle Anregungen zu neuen
Fragestellungen und ist durchsetzt mit eigengesammelten BeobachtungBbefunden.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Ludwig Klages, Prinzipien der Charakterologie. 8. AufL mit 8 Tab. Leipzig 1921.
Barth. 98 S. 12 M.
—, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung einer Wissenschaft vom
Ausdruck. 2. wesentlich erweiterte Auflage. Mit 41 Figuren im Text. Leipzig 1921.
Engelmann. 205 S. 24 M.
—, Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriß der graphologischen Technik.
Mit 137 Figuren und 21 Tab. 2. wesentlich erweiterte Auflage. Leipzig 1920. Barth.
254 S. 28 M.
Dr. Ludwig Klages zählt zu den wissenschaftlichen Schriftstellern, die ihre einmal be¬
bauten Felder nicht abgetan sein lassen, sondern sie immer erneut durcbpflügen. Die Neuauf¬
lagen seiner bekannten Bücher sind darum Werke mit ganz anderem Gesicht: ,,Ausdrucks¬
bewegung und Gestaltungskraft“ wurde weitgehend ausgestaltet und auf den doppelten Umfang
erweitert; „Handschrift und Charakter 1 stellt sich als durchaus neues Buch vor, und wenn die
„Prinzipien der Charakterologie* 4 unverändert erscheinen, so bedauert der Verfasser im Vorwort
die notgedrungen unterlassene Umarbeitung und weist in redlicher Sachlichkeit auf die* schwer¬
wiegenden Unvollkommenheiten hin, die nach dem Fortschritt Beiner steten Forschungsarbeit
in eingreifenden Umstellungen und Erweiterungen behoben sein müßten.
Einer Würdigung bedürfen die drei innerlich verbundenen Schriften nicht mehr. Sie sind
geschätzt als Werke, die ein psychologisches Gebiet, auf dem sich harmloser und gefährlicher
Dilettantismus uneiträglich breit macht, in strenger Methodik und scharfem Denken wissenschaft¬
lich durchforscht und dabei — wenn mitunter freilich zu logifizierend und zu systemfreudig —
zu sicheren und eigenen Auffassungen und Ergebnissen gelangt Es bietet diese Anzeige aber die
Gelegenheit, besonders auch die Lehrerschaft auf die Schriften von Klages hinzuweisen. In dem
Werden einer Beziehungsweise, die den BildungsVorgang ernster als bisher zu einem Gestalten
von innen heraus zu erfassen und zu verwirklichen beginnt und die jungen Menschen in der
Totalität ihres Wesens zu begreifen strebt, gibt Klages den Erziehern allerwertvollste Auf¬
schlüsse besonders über charakterologische Kennzeichnungen. Die praktisch - psychologischen
Arbeiten, die beute in der Schule noch eben mehr versuchsweise betrieben, künftig aber sicher
berufsamtlich verlangt werden, so u. a. die Führung von psychologischen Schülerbogen, die Aus¬
füllung von Listen zur Ermittelung der BeruLeignung, die Auslesen für bestimmte Schul¬
bahnen usf., erfordern eine psychologische Schulung, die im Rahmen der landläufigen syste¬
matischen Psychologien schwei lieh erworben werden kann. Nicht, daß wir meinten, gerade die
Deutung^ausübung an der Handschrift, wie sie Klages als Eigenstes betreibt, wäre von be¬
sonderer Bedeutung für den Lehrer, wiewohl ja von beachtbarer Seite allen Ernstes die schul¬
pädagogische Ausbeutung der Graphologie — so von Prof. Schneider — empfohlen wird; es
ist vielmehr ganz allgemein die psychologische Einstellung auf den Ausdruck und die Gestaltung
und auf die cbarakterologischen Analysen, was vom Lehrer aus besehen die Schriften von
Klages wertvoll macht. Schade aber, daß der Verfasser in den kritischen Auseinander¬
setzungen, wie sie z. B. in polemischen Fußnoten in den „Prinzipien* gegeben sind, mitunter
durch einen galligen und schimpfigen Ton (vergl. etwa S. 81 u. 83) höchst peinlich berührt
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Kawerau, S., Soziologische Pädagogik. Leipzig 1921. Verlag von Quelle und Meyer.
- 278 a 32 Bf.
Das Buch von Kawerau ist eine außerordentlich wertvolle Zusammenfassung der Gedanken,
die in den letzten Jahren zur Schulreform geäußert worden sind. Die Darstellung ist ungemein
fesselnd, und sehr brauchbar ist zweifellos das reiche Tatsachenmaterial, das zur Kenntnis der
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Literaturbericht
Psyche des modernen Jugendlieben beigebracht wird, K. will die Schule der neuen Gesell¬
schaft auf die Soziologie gründen und tut dies in der Weise, daß er die sozialphilosophische
Theorie von Müiler-Lyer auf die systematische Pädagogik anwendet. Nun ist Ja zwar heute
die Ansicht weitverbreitet, daß die Soziologie mit in die Reihe der zielbestimmenden pädago¬
gischen Grundwissenschaften gehöre. Aber diese Ansicht ist nach meiner Anschauung nicht
haltbar. Die Soziologie ist keine zielsetzende Grundwissenschaft der Pädagogik, sie ist lediglich
eine Hilfswissenschaft im Dienste der pädagogischen Tatsachenforschung. Die Tat-
ßnchei forschung ist heute innerhalb der Pädagogik unstreitig im Vordringen begriffen. Als ein
höchst wichtiges Gebiet derselben wird beute allgemein diepädagogischePsychologie anerkannt,
die mit exakten Beobacht ungsmethoden die seelischen Bedingungen der Erziehung untersucht
und hierbei die genetische und die differentielle Jugendpsychologie als unentbehrliche Hilfs¬
wissenschaft betrachtet. Ein ebenso wichtiges Problem ist nun die Abhängigkeit der Erziehung
von den gegebenen sozialen Bedingungen. Diese Bedingungen an dAr Hand sorgfältiger
Einzeluntersuchungen festzustellen, muß die Aufgabe eines anderen Tatsachengebietes der Er¬
ziehungswissenschaft sein: der pädagogischen Soziologie. Diesem Forschungsgebiet dient
die „reine* 4 Soziologie — wie oben die reine Psychologie — als Hilfswissenschaft, unter der
Voraussetzung, daß hierunter nicht die Sozialpbilosophie, sondern die exakte Sozialwissenschaft
verstanden wird, deren Kern und Rückgrat die Sozialgeschichte, insbesondere die deutsche
SoziaIgeschicbte, bildet. Auf dieses wichtige pädagogische Arbeitsgebiet habe ich schon vor
zehn Jahren in meinem Buche „Entwickelungspsycbologie und Erziehungswissenschaft 4 ' hinge¬
wiesen, ohne Beachtung zu finden. Dort habe ich auch den Nachweis geführt, daß Häckels
biogenetisches Grundgesetz, auf das sich K. wiederholt beruft, für die Geisteswissenscbaften
nicht gilt und in wesentlich anderem Sinne verstanden werden muß, als dies K. tut.
Leipzig. Johannes Kretzschmar.
Jonas Cohn, Geist der Erziehung. Pädagogik auf philosophischer Grundlage. Leipzig
1919. Teubner. VI u. 381 S. 52 M.
Der durch seine Werke Allg. Ästhetik (1901), Voraussetzungen und Ziele der Erkenntnis
(1908), Der Sinn der gegenwärtigen Kultur (1914) bekannt gewordene Freiburger Gelehrte,
der Windelband und Rickert nahesteht, versucht in einem umfangreichen Werke seine kultur¬
philosophischen Betrachtungen auf die Pädagogik auszudehnen. Er geht besonders den Grund-
und Zielfragen der Erziehungswissenschaft nach. Der reiche Inhalt des Werkes kann hier nur
angedeutet werden. Die Einleitung definiert den Begriff der Erziehung als die „fortgesetzte
bewußte Einwirkung auf den bildsamen Menschen mit der Absicht, diesen Menschen auszu¬
bilden 4 *. Die Pädagogik als bloße Technik wird abgelehnt. Sie ist Wissenschaft und zwar
wesentlich von der ganzen Philosophie abhängig, da die Ziele der Erziehung, die maßgebend
für jede pädagogische Einzelfrage sind, von der gesamten Ansicht über Wert und Sinn des
Menschenlebens abhängen. Der erste Teil versucht, wert philosophisch das Ziel der Erziehung zu
konstruieren. Dies geschieht in doppelter Ableitung, vom Individuum und von der Gemeinschaft
aus Als allgemeine Bestimmung des Menschen wird das „rechte Handeln 4 *, die Sittlichkeit
(Autonomie) erkannt Nun ist aber der Mensch Glied einer Gemeinschaft und wird für eine
solche erzogen. Zwei Formeln werden gewonnen: 1) „Erziehungsziel, vom Einzelnen her ge¬
sehen, ist die durch Teilnahme am geschichtlich kulturellen Gemeinschaftsleben erfüllte autonome
Persönlichkeit 44 . 2) Von der Gemeinschaft her gesehen, heißt die Zielformel: „Der Zögling soll
gebildet werden zum autonomen Gliede der historischen Kulturgemeinschaften, denen er ange¬
hören wird* 4 . Jede Forderung, Autonomie und Gliedschaft, soll erfüllt sein. Diese dialek¬
tische Natur des Erziehungszieles setzt die Erziehung in Bewegung. C. sieht die Notwendigkeit,
seine abstrakte Formel mit Leben zu erfüllen. Von der Wertkonstruktion wendet sich die Methode der
Betrachtung zur Sinndeutung der geschichtlichen Lage, zur Besonderung des Zieles durch Zeitlage
und Deutschtum und durch den künftigen Beruf. Hier herrscht die empirische B’trachtung
vor, wie in den folgenden Teilen. Der 2. Teil handelt vom Zögling und seiner Entwicklung,
der dritte vom Erzieher und den erziehenden Gemeinschaften. Im 4. Teile werden schließlich
die wesentlichen Seiten der Erziehung vom Einzelnen und von der Gesamtheit her konstruktiv
abgeleitet. — Das Buch enthält viele wertvolle Gedanken und 'zeichnet sich durch besonnene
Haltung aus. Doch ist es C. nicht gelungen, ein umfassendes System der Pädagogik aufzu
stellen und die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken. Seine philosophische Grund»
legung geht bei aller Eigenheit der Einkleidung bekannte Wege. Daß die Pädagogik sich auf
eigene Prinzipien gründen könne, will C. nicht zugeben. Th. Litt (Kantstudien Bd. 25, 1920,
S. 256) macht C. den Vorwurf, daß seine allgemeine Formel fast alles Wesentliche an den
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Literaturbericht
159
Problemen des pädagogischen Denkes auf die Seite des bloß Empirischen hinüberschiebe. Dies
könnte vielmehr im Sinne einer Pädagogik als Tatsachen Wissenschaft als Vorzug erscheinen,
wenn C. bei der empirischen Betrachtung einen einheitlichen Gesichtspunkt festhielte. So zeigt
sich nur, wie locker der philosophische Unterbau mfr-dem eigentlichen Gebäude der Pädagogik
verbunden ist Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit, die Möglichkeit der Pädagogik als
selbständiger Tatsachenwissenschaft genauer zu verfolgen als bisher.
Leipzig. Erich Franke.
Prof. Dr. W. Rein, Jena, Zur Gestaltung des Lehrplans der Grundschule. Langen¬
salza 1922. Beyer & Sö. 23 S.
Das sachlich nicht allzu belangvolle Schriftchen sei nur angezeigt, weil es auf der mehr
als dreißigjährigen Praxis in der Obungsschule des Pädagogischen Universitätsseminares zu Jena
ruht und weil wir Re ins Bemerkung unterstreichen möchten, daß die Wirrnis im didaktischen
Denken unserer Tage wohl nicht so arg wäre, wenn alle deutschen Universitäten ähnliche Versuchs¬
schulen besessen hätten. Es wären dann, so meinen wir, sicher auch andere untemcbtliche
Anschauungen als die der Herbartschen Pädagogik, die in Jena mit außerordentlichem Eifer
und Geschick gepflegt worden ist, so ausgebildet worden, daß die preußischen Richtlinien
zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule — Richtlinien, die besonders in der For¬
derung des Gesamtunterrichtes eine Umstellung bedeuten — nicht auf so viel Hilflosigkeit stoßen
mußten. Sch.
Mgd. v. Tiling, M. d. pr. L., Oberin der Frauenschule zu Elberfeld, Psyche und Erziehung
der weiblichen Jugend. 2. und 8. Aufl. Langensalza 1922. Beyer & Sö. 48 S. 4,50 M.
Eine gehaltvolle und feinsinnige Schrift! ln sicheren, nur das Wesentlichste betonenden
Linien zeichnet Mgd. v. Tiling das Total der zu unverkttmmertem, unverbogenem Frauenwesen
heranreifenden weiblichen Seele. In die Tiefen aber, von denen aus hier werdendes Eigenleben
erfaßt wird, konnte nicht mit den wissenschaftlichen Verfahrensweisen einer exakten differentiellen
Psychologie vorgedrungen werden. Was erfaßt werden sollte, mußte auf die feine psychologische
Witterung gestellt bleiben, die mit ihrer instinktiven Sicherheit selbst ein weiblicher Wesenszug
ist, und konnte nur gelingen auf Grund einer langen Erfahrung inmitten der inneren Personen-
gemeinschaft, in der eine berufene Erzieherin mit ihren älteren Schülerinnen lebt Eine solche
auf Verstehen, Schauen, Einfiiblen hinausgehende Einstellung birgt freilich die Gefahr, auf All¬
gemeinheiten, Unklarheiten und Redereien hinauszutaufen. Der denkhafte Zug aber, den
Mgd. v. Tiling in jedem ihrer Gedankengänge erweist und den sie auch in der deutschen Frauen¬
erziehung aufs deutlichste ausgeprägt wissen will, sicherte ihrem Unternehmen bestimmteste Sach¬
lichkeit und erbrachte so den Gewinn, daß schließlich die Fpchpsychologe aus ihrer Darstellung
maochen Hinweis auf neue Problemstellung für strengere Untersuchungen entnehmen kann.
Wertvoll erscheint mir besonders unt»*r den Ausführungen, die ganz bewußt das genugsam er¬
örterte Intellektualleben des Jungmädcbens nicht in den Vordergrund rücken, die Darlegungen
Aber „Das Erleben der eigenen Seele* 4 (S. 23—28). So wird u. a ausgeführt:
„Sehr viel Mädchen quälen sich mit einer Zweiteiligkeit ihres Ich. Sie können nie ganz frei
and unbefangen sein, weil sie sich stets selbst beobachten, gleichsam das eine Ich das andere
bei jeder Regung wie etwas Fremdes betrachtet. Andere Mädchen fangen leicht an, sich als
Mittelpunkt za sehen, ihr eigenes Ich von der Umwelt zu sondern, alle Dinge auf ihr Ich zu
beziehen, die Dinge nur danach abzuscbätzen, wie weit sie für ihr eigenes Ich Wert haben.
Ihre Gedanken und Gefühle umkreisen beständig das eigene Ich. Die ganze Außenwelt wird
völlig subjektiv beurteilt, weil das Mädchen sie nur in ihrer Beziehung zu seinem eigenen Ich
za sehen vermag .... Auf Mädchen, die besonders stark ihre Seele in sich erleben, kann
wissenschaftliche Arbeit eine ganz verschiedene Wirkung haben. Sie kann entweder zu einer
bedeutenden Vertiefung führen und so dem Erleben der Seele reichen beglückenden Inhalt fürs
ganze Leben geben. Sie kann aber auch bei anderen die Gefahr, sich einem solchen lchkult
zo ergeben, noch vergrößern. Durch die Beschäftigung mit der Wissenschaft wird solchen
Mädchen nicht die Wissenschaft, sondern ihr Ich immer nur wichtiger. Es gibt Mädchen, die
aas dem, was sie lernen, immer das heraussuchen, was ihr Ichbewußtsein steigert. 44 Ich führe
diese Stelle an, weil sie an einer immer wieder in den höheren Mädchenbildungsanstalten zu beob¬
achtenden Richtung, die darauf hinausgeht, die Schülerinnen sich selbst interessant zu machen und
siedamit zu urteilslosen Jüngerinnen des „Meisters 44 zu gewinnen, das höchst Gefährliche solchen Tuns
aafdeckt Mgd. v. Tiling gibt dem entgegen in ihren pädagogischen Folgerungen klar und bestimmt
tu, was vor allem in der Erziehung der werdenden Frauenpersönlichkeit vonnöten ist (S. 43): es gilt.
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160
Literaturbericht
die Jungmädchen aus „seelischer Icbveimmkenheit zu gewinnen für eine Hingabe an die ob¬
jektive Welt da draußen“. „Dies gilt“, so sagt sie sehr richtig späterhin, „vor allem vom Unter¬
richt in der Psychologie und Pädagogik.“ — Soll neben der Anerkennung der vorzüglichen
Schrift nicht unterschlagen bleiben, was wir außer mancher abweichenden Auffassung im
einzelnen an durchgehenden Zügen kritisch sehen, so wäre hinzuweisen darauf, daß die
Kennzeichnung der Jungmädcbenseele wohl allzu sehr beeinflußt ist von dem psychischen Ge¬
präge, das gerade die nach Herkommen und Bildungseinflüssen herausgehobenen Schülerinnen
der Frauenschulen zeigen, daß ferner in dem psychischen Total doch wohl die intellekiuale Be- -
stimmtheit zu wenig herausgearbeitet worden ist und daß schließlich psychologische und ethische'
Betrachtungen nicht immer in der erforderlichen klaren Scheidung gehalten sind.
Leipzig. {Otto Scheibner.
Prof. Dr. med. et phil. F. Köhler, Friedrich Nietzsche. Bearbeitet nach 6echs Vorlesungen,
gehalten an der Volkshochschule zu Köln im Winter 1920. Leipzig 1921. Teubner. 120 S. 12 M.
Mit häufigen Beziehungen auf Raoul Richters bekannte Darstellung versucht Köhler In
kurzer Oberschau ein leichtfaßliches Bild des Menschen und Denkers Nietzsche zu zeichnen«
Von der Persönlichkeit und ihrem Schaffen ausgehend, folgt er dem Zuge der großen Werk»,
arbeitet aus ihnen die Kernprobleme heraus und gelangt schließlich zu einer Auseinandersetzung
mit Nietzsches Philosophie und zu einer leider allzu kurz und wenig tief gehaltenen Würdi¬
gung ihrer Bedeutung. Der Rat, über Nietzsche zu lesen, bevor man zu seinen Werken
greift, erscheint bei einem Denker von der sprachlichen Gestaltungskraft, wie sie an Nietzsche
so stark fesselt, höchst fragwürdig. T.
Deutsches Kulturlesebuch: Hoferbücherei. Herausgeber Stadtschulrat F. J. Nie mann
und Rektor Walther Stein. Saarbrücken 1921. Gebr. Hofer.
Die Hoferbücberei geht von der Tatsache aus, daß wir für ein größeres Stoffgebiet in
den Üblic hen Lesebüchern oft nicht genügend Material finden, um im Sinne der modernen Arbeits¬
schulidee mit den Schülern tätig sein zu können. Hier will die Hoferbücberei helfen, indem sie
in ihren einzelnen Heften Je eines der wichtigsten Sachgebiete, die für den Unterricht in Frage
kommen, ausführlich darstellt, z. B. „Der Deutsche Bauer“ (das Bauerntum„Der Deutsche
Bürger“ (Mittelalterliche Stadt), „Das Deutsche Handwerk“, „Der Deutsche Kaufmann“, „Das
Wandern“, „Der Tod“, oder eine andere Gruppe: „Die Römer auf deutschem Boden“, „Griechischer
Frühling“, „Die Gotik“, „Das Rokoko“, „Die Biedermeierzeit“, endlich eine dritte Gruppe: ,JMe
Heide“. „Das Gebirge“, „Der Wald“ usw. Jedes einzelne Heft bat 5—7 Bogen Umfang und
enthält eine reiche Fülle Erzählungen, epischer Stoffe, guter wissenschaftlicher Abhandlungen,
Gedichte und Bilder, die sämtlic h in inniger Beziehung zu dem Thema des Helles stehen. Es
gilt nun den didaktischen Versuch, die schmucken Hoferbücher den Schülern in die
Hand zu geben. Es würde dann jeder Lehrer gleichsam das Lesebuch zusammensteilen, das
er gerade für seinen Unterricht braucht.
Leipzig. Johannes Prüfer.
Mitteilungen.
Eine eingehende Darstellung über das Leben und das Werk des am 5. Nov. 1920 verstorbenen
Psychologen Theodore Flournoy gibt Ed. Claparöde im XVIII. Bd. (S. 1—126) des „Archive*
de Psychologie“.
Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin hat begonnen, im Berliner
Verlage E. S. Mittler & Sohn eine zwanglos erscheinende Sammlung „Schule und Leben“
herauszugeben, die sich mit grundlegenden Fragen der theoretischen und praktischen Pädagogik
sowie der für den Unterricht bedeutungsvollen Fachwissenschaften beschäftigen wird.
Das „Pädagogische Zentralblatt“, herausgegeben vom Zenttalinstitnt für Erziehung
und Unterricht, in Berlin erscheint vom 3. Jahrgange ab im Verlage von Hirt in Breslau.
Die „Zeitschrift für soziale Pädagogik“ hat trotz reger sachlicher Teilnahme zunächst
ihr Erscheinen eingestellt.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
23. Jahrgang, Heft 5/6
INHALT
rum Begabungspcotttein Von pr M..VA£RTiNu in Berlin-Treptow-.
P3ycbiscbe Ursachen des .Htotterrts. Von H. BURK HARDT in
ufact <. Sa.
Schulreform und Bilduogizwectf. Von Siodienrat Professor Dr.
J. KRKT2äe.HMAR m Leipzig. #
Kleine BeRräRe und Mitteilungen: VeFätsehasebularbeit in Öster¬
reich- ÄrföFatpimgdfer SexoslfcOt^lekfiing des Kindes. Auf reif gegen
die AlJscdfOlgtj&hr SenUl.evt'fJfagvmg bei der Berufsberatung.
StädiitoÄes psyehologiscbus tosmpt iw Hannover. NactwicHten.
Literat brbericfilr
Selbstartzeigtt:-. E>a*ä!uesprediutigeö
von
Q. SCHEIBNER und W. STERN
: unterredakiioneiierMitvvirksxiiQ'ciom
Ä.jPSCHERuND H.GAUDIG
PIS
Das Psychologische Laboratorfilm
der Hamburgischen Universität. 1 )
Gesamtbericht über seine Entwicklung und seine gegenwärtigen
* Arbeitsgebiete.
Unter Mitwirkung von Martha Muohow, Godbersen, Klüver, Peter,
Roloff, Schwärig, Werner
erstattet von
William Stern.
-^ecbemerkung.
vibrier Teil. Zehn Jahre Pädagogisches Laboratorium.
,f . L Unter der Leitung Ernst Meumanns (1911—1915).
1 IL Von Menmanns Tode bis zur Begründung der Universität (1915—1918)
BL Das Laboratorium als Universitätsinstitut. (Seit 1919).
Zweiter Teil. Die gegenwärtige Lehr-, Forschungs- und Prüftätigkeit
des Laboratoriums. .
L Allgemeine Psychologie.
Grundfragen. — Experimentelle Untersuchungen zur allgemeinen Psychologie.
IL Wtrtschaftspsychologie (insbesondere Berufseignung).
Fliegerbeobachter. — Fahrerprüfungen. — Lehrlingsauslese. — Kaufmännische Psycho-
technik. — Berufsberatung. — Lehrtätigkeit — Methodisches. — Zusammenfassung.
9L Pädagogische Psychologie nnd Jugendkunde . .
Art der Lehrtätigkeit — Begabungsforschung und Schülerbeobachtung. — Beteiligung
an Schülerauslesen (Hamburg, Altona, Sachsen). — Zur Psychologie der Reifezeit.
Vorbemerkung.
Im Herbst 1911 ist das Philosophische Seminar in Hamburg errichtet und
-damit auch der Grundstein für das Psychologische Laboratorium gelegt worden,
.feo konnte diese Anstalt kürzlich ein lOjähriges Bestehen verzeichnen, das
.Wohl einen Rückblick rechtfertigt; ihm wird ein zusammenfassender Bericht
\ Ocngeschlossen, der die gegenwärtige Arbeit des Laboratoriums darstellt und
-&amit zugleich dartut, welche Linien ihm für seine künftige Entwicklung
Vorgezeichnet sind. Gerade das eben beendete Wintersemester 1921/22 ist
' geeignet, als Grundlage einer solchen Gesamtdarstellung zu dienen, weil in
Ihm das Laboratorium eine besonders intensive und vielseitige Tätigkeit ent¬
fettete und deutlicher als zuvor seine 3 großen Arbeitsgebiete — die allge¬
meine Psychologie, die pädagogische Psychologie und die Wirtschaftspsycho-
. logie — hervortreten ließ.
■" * J
• *) Der Bericht wurde verfaßt und ausgegeben zur „Hamburger Woche für Erziehung und
Bfoterricht Ostern 1922“. Eine Sonderveröffentlichung ist im Verlage Quelle & Meyer in Leipzig
^Müenen.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie.
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William Stern
Erster Teil.
Zehn Jahre Psychologisches Laboratorium.
L Untet der Leitung Ernst Menmanns (1911—1915).
Der Name Emst Meumann wird stets mit der Geschichte des Laboratoriums
aufs engste verknüpft bleiben trotz der verhältnismäßig kurzen Zeit seiner
Direktionstätigkeit. Im Jahre 1911 entschloß sich Meumann, seihen großen
Leipziger Wirkungskreis aufzugeben, um sich als Professor der Philosophie
am Hamburgischen Vorlesungswesen einer von Amtspflichten weniger be¬
schwerten Lehr- und Forschungstätigkeit widmen zu können. Zugleich mit
der neu geschaffenen Professur wurde ein „Philosophisches Seminar“ errichtet,
welchem ein inmitten der Altstadt gelegenes ehemaliges Professoren-WohnhauB
zugewiesen wurde. Hier begann Meumann eine Bibliothek für Philosophie,
Psychologie und Pädagogik zu errichten; eine Anzahl von Apparaten und
Demonstrationsmitteln bildeten die Anfänge eines Psychologischen Labora¬
toriums. Als erster etatsmäßiger wissenschaftlicher Hilfsarbeiter trat Dr. Gold¬
schmidt ein; ihm folgte Dr. Anschütz. Als freiwillige Mitarbeiter waren längere
Zeit die Herren Dr. Kehr, Dr. Bischoff, Dr. Boden, Otto Wiegmann, Rudolf
Peter, W. Hasserodt, S. Peine und andere tätig.
Die Teilnehmer an den Übungen und Arbeiten des Laboratoriums waren,
da es Studenten in Hamburg nicht gab, hauptsächlich Lehrer und Lehrerinnen,
vereinzelt auch Angehörige anderer Berufe. Fast immer .waren, angezogen
durch den wissenschaftlichen Ruf des Direktors, auch Ausländer am Labora¬
torium tätig.
Als Arbeitsgebiete waren in jenen Jahren bevorzugt: Analyse des Zeichnens
und der Bildbetrachtung, das Problem der visuellen und taktilen Raumwahr-
nehmurg sowie die Untersuchung der Bewegungs-Geschicklichkeit (Nr. 1—14.) •)
Die besondere Stellung des Instituts drückte sich von Anfang an darin aus,
daß an ihm neben der theoretischen Psychologie auch die angewandte
Psychologie behandelt wurde und zwar insbesondere nach der Seite der
pädagogischen Psychologie hin. Hatte doch an der Berufung Meumanns die
Hamburger Lehrerschaft großen Anteil gehabt. Allerdings unternahm es die
Lehrerschaft, neben dem staatlichen Institut aus ihren eigenen Mitteln und
Kräften ein „Institut für Jugendkunde“ zu begründen, für welches Meumann
ebenfalls die Richtlinien zeichnete und als wissenschaftlicher Berater wirkte.
Aber dieses Institut hat nie eine größere Wirksamkeit entfalten können, weil
der bald beginnende Weltkrieg die Lehrerschaft anderweitig in Anspruch
nahm; zudem wurde ja wenigstens der psychologische Teil der Jugendkunde
in dem staatlichen Institut gepflegt. MeumannsVorlesungen zur experimentellen
Pädagogik (Nr. 16) weisen an verschiedenen Stellen auf die im Laboratorium
geleistete Arbeit hin.
Nur 3*/2 Jahre konnte Meumann seine Schöpfung leiten und fördern;
mehrfach mußte er schon innerhalb dieser Zeit seine Tätigkeit unterbrechen,
da die ungeheure Arbeitsüberlastung zu nervösen Erschöpfungszuständen
*) Die eingeklammerten Nummern beziehen sich au! das Literaturverzeichnis am Schlüsse.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
163
geführt hatte. Am 26. April 1915 raffte eine akute Lungenentzündung den
erst 53jährigen, auf der Höhe seines Schaffens stehenden Forscher dahin.
Mit dem Philosophischen Seminar und dem großen Kreis seiner Hamburger
Hörer und Freunde trauerte die deutsche psychologische Wissenschaft um
einen ihrer bedeutendsten Fachgenossen, die deutsche Pädagogenwelt um den
Begründer der experimentellen Pädagogik. 1 )
Im Seminar errichtete sich der Verstorbene ein sichtbares Erinnerungsmal
durch das Vermächtnis seiner großen wissenschaftlichen Privatbibliothek, die
mit einem Schlage die junge SeminarbUcherei auf eine beachtenswerte Höhe
hob. Die Schwester des Verstorbenen, welche die Bibliothek schon im Hause
des Bruders verwaltet hatte, Fräulein Meta Meumann, übernahm die Katalogi¬
sierung und Ordnung der erweiterten Seminarbibliothek und ist seitdem als
Bibliothekarin dauernd im Seminar tätig.
n. Von Meumanns Tode bis zur Begründung der Universität (1915—1918),
Nach dem Tode Meumanns wurde das Seminar ein Jahr lang provisorisch
verwaltet, zuerst von Dr. Georg Anschütz, dann, als dieser einem Rufe nach
Konstantinopel folgte, von Dr. Theodor Kehr.
Unter Dr. Anschütz wurde mit dem Physikalischen Laboratorium ein Ab¬
kommen getroffen, nach dem dessen Werkstatt auch für die Bedürfnisse des
Psychologischen Instituts tätig war.
Ostern 1916 wurde dem Unterzeichneten die Professur für Philosophie und
Psychologie und die Leitung des Seminars und Laboratoriums übertragen.
Dr. Kehr blieb als wissenschaftlicher Assistent Es erwiesen sich einige Neu¬
ordnungen und Erweiterungen als notwendig, deren Tempo und Umfang freilich
durch die Kriegszeit stark beeinflußt winde. Der schon früher bestehende
Plan, eine kleine „Abteilung für Jugendpflege“ anzugliedern, wurde nun aus¬
geführt; ihr Leiter wurde Walter Classen, der Begründer des Hamburger
VolkBheims. Das Psychologische Laboratorium, das bis dahin eine unselb¬
ständige Abteilung des Philosophischen Seminars gewesen war, wurde diesem
nebengeordnet, sein Etat, soweit es die Verhältnisse erlaubten, erhöht. Der
Mitarbeit Dr. Kehrs am Seminar setzte leider ein schweres, durch den Krieg
verschlimmertes Lungenleiden ein vorzeitiges Ende. Nach längerem Siechtum
starb er am 21. Aug. 1917 in Arosa; das Seminar wird dem tüchtigen und
gewissenhaften Mitarbeiter ein ehrendes Andenken bewahren. Während der
Erkrankung war er vorübergehend von Dr. Benary vertreten worden. Als
sein Nachfolger wurde im Herbst 1917 Dr. Heinz Werner aus Wien wissen¬
schaftlicher Hilfsarbeiter am Seminar.
Der Stamm der Mitarbeiter erhielt ferner dadurch eine erfreuliche Ver¬
mehrung, daß zwei Lehrer von der Oberschulbehörde zu wissenschaftlicher
Arbeit an das Seminar beurlaubt wurden: der Oberlehrer H. P. Roloff und
der Volksschullehrer R. Peter. Als freiwillige Mitarbeiter stellten außerdem
Herr Lehrer Otto Wiegmann und die Lehrerin Frl. Martha Muchow den größten
Teil ihrer berufsfreien Zeit und Kraft dem Laboratorium zur Verfügung.
*) Ein seinem Andenken gewidmetes Sonderheft der Zeitschrift für pädagogische Psychologie
brachte außer dem Nachrufe von Scheibner ehrende Würdigungen seines Lebenswerkes von
Wandt, Külpe, Aloys Fischer, Brahn und Deuchler. (Jahrgang XVI, S. 209—262.)
11 *
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
164
William Stern
Arbeiten.
Den philosophischen Grundfragen der Psychologie waren die folgenden
Bücher gewidmet: Th. Kehr, „Das Bewußtseinsproblem“ (1916), W. Stern,
Die Psychologie und der Personalismus (1917) und „Die menschliche Persön¬
lichkeit“ (1917) (Nr. 20, 21 und 27).
Die empirisch-psychologische Arbeit des Seminars war, wie schon
früher, sowohl theoretischer wie angewandter Art; aber in der Art der Durch¬
führung traten bald wichtige Veränderungen ein. Die Kriegsverhfiltnisse
stellten die Psychologie vor ganz neue und zum Teil sehr dringende Auf¬
gaben, so daß dahinter die der zeitlosen reinen Erkenntnis dienende Arbeit
vorübergehend etwas in den Hintergrund gedrängt wurde. Teils waren es
unmittelbare Kriegsprobleme, welche die Mithilfe der Psychologie erforderten,
teils waren es neue pädagogische und wirtschaftliche Fragen, die in mehr
oder minder direktem Zusammenhang mit der veränderten Zeitlage aufgetreten
waren. Diesen neuen Aufgaben gegenüber nahm die angewandte Psycho¬
logie die unmittelbare Form der praktischen Psychologie an; d. h. die
Psychologie untersuchte nicht nur gewisse Voraussetzungen der Anwendungs¬
probleme, sondern griff zum Teil mit ihrer eigenen Methodik verantwortlich in
die praktische Kulturarbeit ein. Sie trat damit den praktisch-technischen An¬
wendungen der Naturwissenschaft zur Seite; und man begreift, daß sich hierfür
(insbesondere für die wirtschaftliche Anwendung) der Ausdruck „Psycho-
technik“ einbürgerte. *) Aber trotz der Dringlichkeit der praktischen Aufgaben
ist es doch nie unterlassen worden, soweit nur irgend möglich die theore¬
tische Vor- und Nachprüfung der Methoden und die Bearbeitung der Ergeb¬
nisse zum Zwecke weiterführender psychologischer Erkenntnis vorzunehmen;
deshalb steckt auch in den Laboratoriumsarbeiten aus den Anwendungs¬
gebieten ein gut Stück theoretischer Forschungsarbeit, was namentlich beim
Begabungsproblera hervorgehoben werden muß.
Theoretischer Natur waren die sehr gründlichen, leider nicht zum Abschluß
gelangten, experimentellen Aufmerksamkeitsuntersuchungen von Dr. Kehr.
Zur vollen Durchführung kamen dagegen die experimentellen Untersuchungen
zur Raumwahrnehmung des Blinden, die von dem Studenten W. Steinberg aus
Breslau 1916 veranstaltet und in einer Breslauer Doktorarbeit theoretisch ver¬
wertet wurden. (Siehe Nr. 40 des Lit.-Verz.) Ferner nahm Herr Lehrer R. Peter,
der verwundet aus dem Kriegsdienst zurückkehrte, seine bereits zu Meumanns
Zeiten begonnene Experimentaluntersuchung über die Bedingungen des per¬
spektivischen Sehens auf.
Kriegspsychologischer Natur war die Anwendung der Kehr’schen Me¬
thodik der Aufmerksamkeitsprüfung bei Kriegsbeschädigten, um einen Anhalt
für ihre dienstliche oder berufliche Arbeitsfähigkeit zu gewinnen, ferner die
Vorarbeiten zu einer umfassenden Eignungsprüfung der Flieger, für welche
zeitweilig ein besonderer wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, Dr. Benary, ein¬
gestellt wurde. Über diese Arbeit wird S. 176 ausführlicher berichtet.
Desgleichen war auch für die Vorbereitung von Fahrer-Eignungsprüfungen
vorübergehend ein eigener wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, Dr. Otto Bobertag,
eingestellt. (Siehe den Bericht S. 176/77). •
*) Der Ausdruck wird gewöhnlich auf Münsterbergs Buch dieses Namens [1914] zurückgeführt •
er ist aber bereits im Jahre 1903 vom Unterzeichneten für gewisse Richtungen angewandt-
psychologischer Tätigkeit vorgeschlagen worden.
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
165
Praktische Ziele verfolgte eine Erhebung über dieWirkung der „Sommer¬
zeit“, die im Jahre 1916 angestellt wurde; das eingegangene Material um .
faßt Beantwortungen eines Fragebogens sowie 2000 Schüleraufsätze über das
Thema „Sommerzeit". Aus dem vom Laboratorium erstatteten ausführlichen
Gutachten (von S. Peine und W. Stern) ist nur ein kurzer Auszug veröffent¬
licht worden (Zeitschr. f. Päd. Psych. 1918, S. 57).
Ein sehr bedeutender Teil der Institutsarbeit war der pädagogischen
Psychologie und Jugendkunde gewidmet. Für dieses Gebiet hatte der
Unterzeichnete bei Übernahme seiner Hamburger Stellung eine Programm¬
schrift „Jugendkunde als Kulturforderung" veröffentlicht; einige der dort ge¬
äußerten Forderungen und Anregungen konnten über Erwarten schnell in
Wirklichkeit umgesetzt werden.
Eine Wendung der Hauptinteressenrichtung innerhalb der pädagogischen
Psychologie, die sich in Meumanns letzten Bestrebungen schon vorbereitet
hatte, wurde nun endgültig vollzogen: von der „experimentellen Didaktik"
hin zum Begabungsproblem. Theoretisch spiegelt sich hierin die Wieder¬
aufnahme des Begriffs der psychischen Dispositionen in die psychologische
Betrachtungsweise. Praktisch wurde das Studium der Begabung nahegelegt
durch das Bestreben, neue Schulformen und die Einschulung der Kinder in
sie nach Fähigkeitsgesichtspunkten einzuführen. Die Aufgabe, die hilfsschul¬
reifen Schwachbefähigten festzustellen, hatte seinerzeit den Anstofi zu dee
ganzen neueren Forschung über kindliche Intelligenz gegeben; nun trat dazu
die neue Idee der Auslese der Höherbefähigten für Schulen, die über die
Volksschule herausführen, und gab der Begabungsforschung eine andere
Richtung.
Unsere Forschungsarbeit erstreckte sich sowohl auf die Allgemein¬
begabung (Intelligenz), wie auf Sonderbegabungen. Bearbeitet wurden Be¬
griffsbestimmung und Analyse der Begabung, Varietätenbildungen der Br-
gabung und deren Abhängigkeit von Alter und Geschlecht, schulischen und
sozialen Bedingungen. (Nr. 22—24.)
Bezüglich der Methodik war es uns von vornherein klar, daß hier das
Experiment nicht allein herrschen dürfe. Denn das Wesen einer Begabung
ist niemals auszuschöpfen durch die Art, wie ein Mensch auf bestimmte von
außen gesetzte Anforderungen (Reize) reagiert; sondern sie bekundet sich
auch in spontanen Verhaltungsweisen, die nur der Beobachtung zugänglich
sind; eine wissenschaftliche Vertiefung und Systematisierung der natürlichen
Beobachtung erschien uns daher ebenso notwendig wie ihre Ergänzung durch
die experimentelle und statistische Methode. Der Beobachtungsmethode diente
einerseits die Ausarbeitung von Beobachtungsbogen (Nr. 32—33), andererseits
die Anleitung zu Intelligenzschätzungen (Nr. 29).
Die Testmethode verfolgt in massenstatistischer Anordnung zunächst theore¬
tische Interessen, indem sie uns Einblicke in Entwicklung und Gruppen¬
differenzierung der Begabung gestattet; sie kann auch zur Aufklärung von
Problemen der allgemeinen Psychologie (insbes. der Denkpsychologie) bei¬
tragen. Zugleich aber bilden solche Massenstatistiken die notwendige Vor¬
arbeit für die individualpsychologische Prüfung und Auslese; denn sie liefern
ja erst die Eichungsmaßstäbe für die Methoden, die wir der Beurteilung
der Einzelindividuen und der Entscheidung über ihre Auslese zugrunde legen.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
166
William Stern
Die bisherigen Testmethoden zur Intelligenzprüfung wurden von uns einer¬
seits gesammelt, andererseits erweitert. Angesichts der großen Buntscheckig-
keit und teilweise schweren Zugänglichkeit der vielen für Intelligenzprüfungen
Jugendlicher vorgeschlagenen Methoden war ihre möglichst vollständige und
übersichtliche Zusammenstellung ein dringliches Erfordernis für alle Arbeiten
auf diesem Gebiet. In dankenswerter Weise übernahm Herr Wiegmann die
Durchführung der Sammlung und zugleich — gemeinsam mit dem Unter¬
zeichneten — die Vorbereitung ihrer Publikation.
Zugleich wurde ständig an neuen Methoden und an der Umgestaltung
älterer gearbeitet; insbesondere sollten „höhere Intelligenztests" gewonnen
werden (Nr. 22). — ln diesen Zusammenhang gehören drei Spezialunter¬
suchungen: 1) Die Ausarbeitung eines von W. Minkus (f) in Breslau ver¬
anstalteten Massenversuchs zur Erforschung der geistigen Leistungsfähigkeit
von Volks- und Fortbildungsschülem durch W. Stern. Hierbei wurden insbes.
die Ergebnisse des Bindewort-Ergänzungstests („Minkustests“) ausführlich ver¬
wertet. 2) Die Intelligenzprüfungen von Kindergarten-Kindern mit Hilfe der
verbesserten Heilbronnerschen Bilderserien-Methode durch G. u. A. Schober.
3) Korrelationsuntersuchungen Roloffs über das Verhältnis von Intelligenz-
Schätzung und Schulrangordnung. (Zu 1, 2, 3 vgl. Nr. 29).
Sehr bald wurde nun das Laboratorium in die Lage versetzt, diese theo¬
retischen Arbeiten für die Praxis der Schülerauslese verwerten zu können.
1918 wurde in Hamburg ein gehobener Zug der Volksschule, die sog..
„F-Klassen“ (Fremdsprachklassen) eingerichtet; fast 1000 Kinder des 4. Schul¬
jahrs (10jährige) sollten hier eingeschult werden. Die Oberschulbehörde trat
wegen dieser Auslese mit dem Laboratorium in Verbindung; es wurde be¬
schlossen, sämtliche von den Volksschullehrem vorgeschlagenen Kinder
(1355) einerseits von den abgebenden Lehrern an der Hand eines Beobach¬
tungsbogens charakterisieren zu lassen, andererseits sie einer Fähigkeits¬
prüfung zu unterwerfen, die möglichst genau vergleichbare Ergebnisse liefern
könnte. Das Laboratorium unternahm die Ausarbeitung des Beobachtungs¬
schemas, die Vorbereitung der gesamten Testmethodik, die Durchführung des
Massenversuchs, die Auswertung der vorliegenden Testergebnisse. Dagegen
hielt es sich nicht für berufen, von sich aus auf Grund der gewonnenen Be¬
funde selbst die Entscheidung über Aufnahme und Abweisung zu fällen. Diese
Entscheidung war vielmehr einer Kommission der Oberschulbehörde, der auch
der Direktor des Laboratoriums angehörte, anvertraut; hier wurden in den
. zweifelhaften Fällen alle vorliegenden Kriterien individualisierend abgewogen.
Damit war von vornherein das mechanisierende Verfahren vermieden, das
bei gleichzeitigen Auslesen anderer Städte nicht mit Unrecht Anstoß erregt
hatte.
Die Massenprüfung der 1355 Kinder war nur dadurch möglich, daß sich
eine große Anzahl von Teilnehmern der psychologischen Vorlesungen als
Prüfer und Helfer zur Verfügung stellte; so konnte gleichzeitig in 61 Gruppen
nach einer für alle identischen und vorher eingeübten Instruktion geprüft
werden. Ebenso mußte für die schnelle Auswertung der 1355X8 Testblätter
eine regelrechte Organisation geschaffen werden. Das immerhin gewagte
Experiment gelang: die Prüfung verlief ohne Störung und Zwischenfälle und
lieferte durchweg verwertbare Ergebnisse. Daß die Ergebnisse auch im all-
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
167
gemeinen zutreffende Bilder der kindlichen Fähigkeiten gaben, zeigte später
die überraschend günstige Bewährungsziffer der Aufgenommenen (S. 188/89). —
Nach Erledigung des praktischen Teils der Aufgabe wurde eine theoretische
Verarbeitung des Materials in Angriff genommen und zum Teil durchgeführt
(Nr. 28).
Die Auslese für die F-Klassen wurde noch einmal 1919 mit gewissen Ab¬
änderungen wiederholt. Der verbesserte Beobachtungsbogen wurde schon
drei Monate vor dem Ablieferungstermin ausgehändigt und lieferte weit in¬
haltsreichere Ausfüllungen als 1918. Die Intelligenzprüfung erstreckte sich —
wegen der zu großen Zahl der Kandidaten (1658) — auf die knappe Hälfte;
die übrigen wurden lediglich auf Grund der Lehrerempfehlung als sicher ge¬
eignet aufgenommen. Von den 780 Prüflingen konnten noch 382 auf¬
genommen werden; die Entscheidung erfolgte wie im Vorjahre. Zu einer
wissenschaftlichen Verarbeitung dieses Materials fehlte leider die Zeit
An einer Auslese anderer Art hat das Laboratorium dreimal (1917/18/19)
mitgewirkt, nämlich an der Aufnahme junger Mädchen (meist Volksschul¬
abgängerinnen) in das Lehrerinnenseminar. Hier trat die psychologische
Prüfung nicht für sich auf, sondern wurde der üblichen Aufnahmeprüfung
angegliedert. Der stets sehr große Andrang von Bewerberinnen erforderte
eine sehr scharfe Siebung (so konnten z. B. 1917 von 198 nur 27 auf¬
genommen werden); diese sollte durch Heranziehung von Fähigkeitsproben
zuverlässiger gestaltet werden. Das Laboratorium war bei der wissenschaft¬
lichen Vorbereitung der Tests und ihrer Auswertungsmethoden beteiligt; die
Durchführung der Prüfung und ihre Verwendung für das Endurteil geschah
unter Verantwortung des Lehrerinnenseminars. Die Seminarlehrer Melchior
und Penkert und Oberlehrer Petersen stellten die Verbindung zwischen beiden
Stellen her (Nr. 23 u. 29).
Auch hier darf das Ergebnis als günstig bezeichnet werden; die Korre¬
lation zwischen den Testleistungen und den auf Grund der Gesamtprüfung
ausgesprochenen Aufnahmen war hoch. Methodisch waren diese Unter¬
suchungen förderlich, weil sie zum ersten Male die Anwendbarkeit von In¬
telligenztests auf begabte Individuen höherer Altersstufen (14—15jährige)
zeigten.
In zwangloser Form waren am Laboratorium in dieser Zeit drei wissen¬
schaftliche „Arbeitsgemeinschaften“ tätig, an deren Beratungen auch
Vertreter des praktischen Lebens teilnahmen. Die Arbeitsgemeinschaft für
Psychologie der Berufseignung stand unter Leitung des Direktors, die Ar¬
beitsgemeinschaft für Religionspsychologie des Kindes unter der des Ober¬
lehrers Dr. Petersen. Die dritte verband das Seminar mit Berufsberatung und»
Lehrerschaft und bearbeitete den psychologischen Teil der Schülerbogen, die
für abgehende Schüler ausgefüllt werden.
HI. Das Laboratorium als Universitätsinstitut. (Seit 1919)
Als nach dem Zusammenbruch im November 1918 zahllose Studenten in
die Heimat zurückströmten, machte der Unterzeichnete dem Professorenrat
des Hamburgischen Vorlesungswesens den Vorschlag, man solle für die in
Hamburg beheimateten Studierenden sofort eine Art Notuniversität errichten.
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William Stern
Dem Vorschläge wurde entsprochen, und am 1. Januar begannen bereits diese
zunächst privaten „Universitätskurse“, deren unerwarteter Erfolg alsbald
die — seit vielen Jahren geplante, aber heftig umkämpfte — Begründung
der Hamburgischen Universität herbeiführte.
Seit Ostern 1919 ist demnach das Psychologische Laboratorium ein Uni¬
versitätsinstitut Dadurch wurde eine wesentliche Erweiterung seiner Tätig¬
keit erforderlich. Der Teilnehmerkreis vergrößerte sich: zu den (nun als
Studenten zugelassenen) Lehrern traten andere Studenten; die Unterrichts-
kurse mußten vermehrt und systematisiert werden; Doktorarbeiten wurden
vorbereitet. Die Promotionsordnung der Philosophischen Fakultät erkannte
Psychologie als selbständiges Prüfungsfach an.
Eine zweite philosophische Professur wurde errichtet und Ernst Cassirer
übertragen.
Am Laboratorium wurde die zweite wissenschaftliche Hilfsarbeiterstelle
nun ständig. Für kurze Zeit trat in sie Frl. Dr. Hildegard Sachs zum Zweck
berufspsychologischer Untersuchungen ein. Sodann wurde die langjährige
Mitarbeiterin Frl. Martha Muchow mit ihr betraut; sie übernahm vor allem
die Funktionen einer Unterrichtsassistentin. Der übrige Bestand an an-
gestellten Kräften und sonstigen Mitarbeitern blieb dem Laboratorium er¬
halten; neue traten hinzu. Der erste wissenschaftliche Hilfsarbeiter Dr. Werner
habilitierte sich Dezember 1920 als Privatdozent für Psychologie.
Zur Bewältigung der mannigfaltigen technischen, büromäßigen, zeich¬
nerischen und experimentellen Arbeiten verfügt das Laboratorium im Hause
über eine Schreibhilfe und einen Laboratoriumswart, der eine kleine Haus¬
werkstatt hat. Der Bau von Apparaten und größere Präzisionsarbeiten werden
in der „Werkstatt der Hochschulbehörde“, die unter Leitung eines Fein¬
mechanikers steht, ausgeführt.
Eine ständige Vermehrung erfuhr die psychologische Seminarbibliothek,
die wohl jetzt zu den vollständigsten Büchereien unseres Faches in Deutsch¬
land gehören dürfte. Freilich macht sich die Unmöglichkeit, die ausländische
Literatur angemessen zu berücksichtigen, sehr schmerzlich fühlbar; nur einige
wenige ausländische Zeitschriften können im Austausch gegen unsere eigenen
Veröffentlichungen fortgeführt werden.
Die inzwischen unerträglich gewordene Raumnot wurde durch Hinzunahme
des Nebenhauses (Domstr. 9) behoben; hier wurde ein großer Übungsraum,
ein Bibliotheksaal und Sprechzimmer der Direktoren geschaffen. So konnte
das bisherige Haus mit acht Räumen fast ausschließlich für die eigentliche
Laboratoriumsarbeit benutzt werden. Auch das andere Nachbarhaus (Nr. 7)
wurde für ein in der Entstehung begriffenes verwandtes Institut, das päda¬
gogische Universitätsseminar, bestimmt, aber noch nicht in Benutzung ge¬
nommen, da die neugeschaffene Pädagogik-Professur noch unbesetzt ist.
Nur die pädagogische Seminarbibliothek, die auch künftig mit der philo¬
sophischen und psychologischen vereinigt bleiben soll, ist, soweit es die Mittel
gestatteten, ausgebaut worden.
Ein anderer Mißstand, der sich 'seit der Universitätsgründung bemerkbar
macht, kann freilich nur durch eine viel radikalere Änderung beseitigt
werden. Die Entfernung des Instituts von der Universität ist so groß, daß
die Studenten stark an der Benutzung von Bibliothek und Laboratorium ge¬
hindert werden. Eine Verlegung ist deshalb aufs dringendste zu wünschen
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
169
Der psychologische Universitätsunterricht
gestaltet sich jetzt in Hamburg folgendermaßen:
Der Unterzeichnete wiederholt in zweijährigem Turnus die beiden Winter¬
vorlesungen „Allgemeine Psychologie“ und „Psychologie der Kindheit und
des Jugendalters“. Im Sommersemester wird gewöhnlich eine Spezialvorlesung
mit Demonstrationen gehalten (z. B. über „Begabungs- und Eignungspsycho¬
logie 0 ); gelegentlich findet ein Publicum statt (z. B. über „Psychologie und
Leben“).
Die Übungen sind in drei Stufen ausgebaut. Einen Vorkursus für Anfänger
hält nach Bedarf Frl. Muchow im Aufträge des Direktors ab. Er selbst ver¬
anstaltet fast in jedem Semester Übungen zur allgemeinen oder zur päd¬
agogischen Psychologie und leitet psychologische Arbeiten für Fortgeschrittene
aus dem Gebiet der Jugendkunde. (Beispiele hierzu aus dem letzten Se¬
mester s. S. 182 und 184).
Dr. Werner hält Vorlesungen auf dem Gebiete der experimentellen Psycho¬
logie, der Psychologie der Kunst, der Völkerpsychologie.
Neben Übungen über allgemeine theoretische Psychologie leitet er ein ex¬
perimental-psychologisches Praktikum, das sich über mehrere Semester er¬
streckt, und Arbeiten für Fortgeschrittene auf dem Gebiet der experimentellen
Psychologie.
Veröffentlichungen.
Für die wissenschaftlichen Untersuchungen des Laboratoriums auf dem Ge¬
biete der Begabungspsychologie wurde 1819 eine eigene Schriftenreihe ins
Leben gerufen. Diese „Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung“,
die als Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie erscheinen, sind
bisher zu 5 Heften im Gesamtumfang von etwa 60 Bogen gediehen und
werden fortgesetzt (Nr. 28, 29, 36, 42 und 48). Heft I (herausgegeben von
R. Peter und W. Stern), das die Schülerauslese 1918 ausführlich darstellt,
und Heft HI (von W. Stern und O. Wiegmann), das ein Handbuch der uns
bekannt gewordenen Methoden zur Prüfung der jugendlichen Intelligenz bildet—
liegen bereits in 2. Auflage vor. Heft II vereinigt eine Reihe von Einzel¬
untersuchungen; Heft IV (von Erich Stern) behandelt die Methoden zur Fest¬
stellung der psychischen Berufseignung in der Schule; in Heft V schildert
H.P. Roloff die massenstatistischen Ergebnisse seiner Definitionsuntersuchung. —
Als Sonderdruck aus Heft I ist der psychologische Beobachtungsbogen für
10jährige Schüler (bearbeitet von M. Muchow) in 3 Auflagen ausgegeben
worden (Nr. 32). — In engem Zusammenhänge mit diesen Spezialarbeiten
steht das zusammenfassende Buch von W. Stern: „Die Intelligenz der Kinder
und Jugendlichen“ (Nr. 34).
Kleinere Untersuchungen zur pädagogischen Psychologie sind in der „Ztschr.
f. päd. Psychol.“, einige Arbeiten zur Berufseignung in den „Schriften zur
Psychol. d. Berufseignung“ veröffentlicht worden. (Nr. 25, 26, 30 und 33.)
Aus dem Gebiete der theoretischen Psychologie und aus dem der Psycho¬
logie der Jugendbewegung stehen Publikationen in verschiedenen Verlagen
unmittelbar bevor. (Nr. 47, Nr. 50.)
Die praktisch-psychologischen Arbeiten
zeigten seit Eintritt des Friedens eine starke Vermehrung und eine veränderte
Richtung. An die Stelle der kriegspsychologischen Anforderungen traten nun
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170
William Stern
die Fragen der zivilen Berufseignung und ihrer psychotechnischen Fest¬
stellung; obgleich Hamburg in dem Interesse für dieses Problem noch hinter
anderen deutschen Wirtschaftszentren zurücksteht, wurde doch das Labora¬
torium, als einzige derartige Forschungsstätte am Orte, recht stark von den
neuen Bedürfnissen der Wirtschaftskreise in Anspruch genommen. Ferner
verlangte nach kurzer Pause das Problem der Schülerauslese wieder unsere
Mitarbeit, und zwar sogleich in drei verschiedenen Formen. Endlich erwuchsen
dem Laboratorium aus dem Umstande, daß einige seiner Mitarbeiter im Jugend¬
gefängnis tätig waren, neue kriminalpsychologische Probleme.
Die praktisch-psychologischen Aufgaben brachten das Institut in ständige
Beziehung und Arbeitsgemeinschaft zu Behörden, Betrieben und Körperschaften;
von diesen seien genannt: Oberschulbehörde, Lehrervereine, Berufsberatung,
Eisenbahndirektion, Detaillistenkammer, Ingenieurverein, Arbeitgeberverband,
Baugewerkschule, Gefängnisverwaltung. Zwar war es nicht immer ganz leicht,
gegenüber den wissenschaftsfremden Einstellungen dieser Institutionen die
Forderungen wissenschaftlicher Methodik und die Anerkennung ihrer Be¬
deutung durchzusetzen; aber es gelang doch überall, ein gedeihliches Zu¬
sammenwirken durchzuführen und dadurch unserer Wissenschaft den Nach¬
weis zu ermöglichen, daß sie zu wertvoller Hilfe im Dienste praktischer
Kulturaufgaben berufen ist.
Auswärtige Besucher
konnte das Laboratorium seit Friedensschluß in stark vermehrter Zahl be¬
grüßen. Teils handelte es sieh um kurzfristige Besuche von Gelehrten, Lehrern,
Ingenieuren usw., von denen viele lediglich um des Laboratoriums willen
nach Hamburg gekommen waren. Diese Besucher kamen aus anderen deut¬
schen Ländern und aus Schweden, Dänemark, Jugoslavien,Transvaal, Japan usw.
Zum andern Teil handelte es sich um längere Studien; so waren Pädagogen
aus Saarbrücken, Kassel, Prag auf je 1 Semester an das Laboratorium be¬
urlaubt. Im letzten Winter war eine ganze Gruppe auswärtiger Pädagogen
anwesend, für die ein Sonderlehrgang veranstaltet war (s. S. 184).
Der Inhalt der Laboratoriumsarbeit seit Begründung der Universität läßt sich
nicht mehr gut in den historischen Rückblick einfügen, da er in unlösbarer
Verbindung mit den zurzeit noch in der Entwicklung begriffenen Arbeiten
steht; er findet daher im zweiten Hauptteil Besprechung.
Zweiter Teil.
Die gegenwärtige Lehr-, Forschung»- und Prüf-Tfitigkeit
des Laboratoriums.
Die Berichterstattung über den derzeitigen Stand unserer Arbeit wird sich
zwar vorwiegend an die jüngste Vergangenheit halten, aber doch in vielen
Punkten über das letzte Semester zurückgreifen müssen, um den Zusammen¬
hang nicht zu zerreißen.
Die Gliederung erfolgt nunmehr nach den drei hauptsächlichen Betfitigungs-
gebieten.
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
171
I. Allgemeine Psychologie.
Grundfragen.
Die allgemeinpsychologischen Oberzeugungen, die der theoretischen Arbeit
unseres Kreises zugrunde liegen, haben — trotz mancher Verschiedenheiten
im einzelnen — entscheidende Grundgedanken gemeinsam.
Der eine ist die unauflösliche Zusammengehörigkeit der Psychologie mit
der Philosophie. Zwar hat die Technik unserer Arbeit mit der Zeit eine rela¬
tive Verselbständigung des psychologischen Laboratoriums gegenüber dem
philosophischen Seminar herbeiführen müssen; aber damit darf auf keinen
Fall eine systematische Trennung beider Wissenschaftsgebiete gemeint sein.
Eine solche Scheidung — wie sie in Amerika meist schon durchgeführt und
auch in Deutschland von manchen angestrebt wird — müßte vielmehr ge¬
radezu als ein Unglück gelten, da die Psychologie in allen grundsätzlichen
Fragen sowohl der Methodik wie der systematischen Oberzeugung auf philo¬
sophische Grundlegung unbedingt angewiesen ist. Mochte vielleicht eine
Zeit lang, als die Psychologie in Nachahmung der naturwissenschaftlichen
Einzeldisziplinen ganz und gar eine experimentelle Spezialwissenschaft zu
werden schien, dieser Zusammenhang -mit der Philosophie weniger deutlich
hervorgetreten sein — das letzte Jahrzehnt hat wieder so sehr alle ihre
theoretischen Grundlagen in Frage gestellt, soviel neue Gesichtspunkte all¬
gemeiner Art auftauchen lassen, daß das Bedürfnis nach philosophischer
Orientierung bedeutend erstarkt ist. Sowohl die erkenntnistheoretischen Vor¬
aussetzungen der Psychologie, wie auch die Abhängigkeit ihrer Auffassungs¬
und Erklärungskategorien von einem philosophischen System bedürfen der
ständigen Bearbeitung. Der Unterzeichnete hat sich insbesondere um die
zweite Frage bemüht und die Beziehung der Psychologie zur Theorie des
„Personalismus“ herzustellen gesucht (in den bereits S. 164genannten Schriften);
von einem kritisch verstandenen Personbegriff aus werden die Grundkate¬
gorien des psychologischen Denkens und Forschens abgeleitet.
Die philosophische Auffassung des Personalismus liegt auch den systema¬
tischen Büchern des Direktors über Psychologie der frühen Kindheit,
differentielle Psychologie, Intelligenz der Kinder und Jugendlichen zugrunde
und wird insbesondere die demnächst erscheinende Schrift „Das Seelenbild
der reifenden Jugend“ beherrschen.
Die Verwandtschaft des Personalismus mit anderen neueren Strömungen
trat hervor in den Seminarübungen des Wintersemesters 1921/22. Diese vom
Direktors abgehaltenen
Obungen zur theoretischen Psychologie
hatten die Aufgabe, die große Wendung innerhalb der zeitgenössischen Psycho¬
logie in ihren typischen Hauptformen zu verfolgen. Es handelt sich um eine
entschiedene Abkehr vo n der „impersonalistischen“ Psychologie, d. h. der¬
jenigen, welche in dem Nachweis der psychischen Elemente und ihrer asso¬
ziativen Verknüpfungen ihre Aufgabe erschöpft sieht. Gegen diese Auffas¬
sungen wenden sich nun verschiedene Theorien, welche das Wesen des
Seelischen nicht in den Elementen, sondern in „Ganzheiten“, das Prinzip
des seelischen Geschehens nicht in Assoziationsmechanismen, sondern in sinn-
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haften Bedeutungs- und Zweckbeziehungen Buchen. Die Ganzheit des ein¬
zelnen seelischen Tatbestandes wird als „Gestalt“ oder „Struktur“, die Ein¬
heit des individuellen Lebens überhaupt als „Person“ oder „Lebensform“
gekennzeichnet; das Recht hierzu wird — auf rein theoretischem oder auf
empirisch-experimentellem Wege — gegenüber einer bloß zerlegenden und
summativen Psychologie erwiesen.
Um diese Zusammenhänge herauszustellen, behandelten die Übungen in
Referaten und Besprechungen: die Idee einer verstehenden, „geisteswissen¬
schaftlichen“ Psychologie in ihren Anfängen (die Polemik Dilthey-Ebbing-
haus) und in ihrer neuesten Form (Spranger); die Struktur- und Gestalts¬
psychologie in ihren Vorstadien (Psychologie der Veränderungsauffassung,
der Präsenszeit) und in der gegenwärtigen Durchführung bei Wertheimer,
Köhler, Koffka; das Ichproblem; die psychologischen Theorien des Persona¬
lismus und der Psychoanalyse.
Die spezielle Form, in welcher die neueren theoretischen Gesichtspunkte
innerhalb der experimentellen Methodik und Forschungsweise zum Aus¬
druck kommen, ergibt sich aus dem
Bericht über experimentelle Untersuchungen zur
allgemeinen Psychologie.
Von H. Werner.
Die allgemeinpsychologische Arbeit, wie sie sich unter Verwendung ex¬
perimenteller Hilfsmittel im Hamburger Laboratorium vollzieht, ist, wie bereits
hervorgehoben, auf die Voraussetzung gegründet, daß das psychologische
Bild des Seelenlebens, das in Analogie zum atomphysikalischen Weltbild er¬
faßt ist, einen Widerspruch in Bich enthält, der nur durch eine vollkommene
Umkehr der psychologischen Auffassungsweise und Methodik aufgehoben
werden kann. So geht also die neuere Forschungsrichtung nicht mehr von
Elementen, von seelischen Atomen, sondern von Ganzheiten aus, die sich
innerhalb der Wahrnehmungssphäre als eigenartige Strukturen, als Ge¬
stalten darbieten. Dabei hat es sich weiter methodisch als fruchtbar heraus¬
gestellt, ganz allgemein, innerhalb der experimentellen Analyse der Gestalt¬
erfassung zu unterscheiden zwischen einem Strukturproblem im engem
Sinn, das die unmittelbare und charakteristische Gegebenheit von Gestalten
betrifft, und einem Problem der Gestaltgenese schlechthin, wo es sich um
die allmähliche und stufenweise Entwicklung bestimmter Gestalten handelt,
sei es im Sinne ontogenetischer oder phylogenetischer Erfahrung, sei es im
Sinne verschiedener momentaner, einander übergeordneter Betrachtungsweisen.
In den weiter unten angeführten experimentellen Arbeiten sind beide Frage¬
stellungen, die Frage nach der eigentümlichen Gegebenheit von Gestalten
und die nach der stufenweisen Entwicklung von Gestalten als methodische
Ausgangspunkte der Untersuchung maßgebend geworden. Umfaßt werden
beide Teilprobleme,das Struktur- oder Gegebenheitsproblem, das Gegenstands¬
oder Entwicklungsproblem durch den übergeordneten Begriff der Gestaltung:
indem nachweisbar jede gegebene Struktur nicht nur als ein eigenartig Seiendes,
sondern auch (im Sinne psychischer Produktivität) als ein eigenartig
Erfaßtes, Gestaltetes besteht.
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgiscben Universität
173
Damit rückt eine experimentelle Untersuchungsmethode in den Mittelpunkt,
die weder eine rein „objektive" ist, wie etwa die psychologische Maßmethode,
noch eine rein „subjektive“, wie die Methode der Introspektion in der so¬
genannten Phänomenalpsychologie. Es ist die Methode der vorschrifts¬
mäßigen Einstellung, welche, objektiv und subjektiv zugleich, die prin¬
zipielle Bedeutung der psychischen Konstellation für die Strukturierung der
Wahrnehmungen im Experimente nachweist. So ist in den Einstellungsver¬
suchen die Möglichkeit geboten, neben der Feststellung der Struktur als eines
in bestimmter, eigentümlicher Weise von der Psyche Erfaßten auch jenen
Teil des genetischen Problems, welches dem Experiment zugänglich ist, im
Laboratorium einer Lösung näher zu bringen. Denn wenn es beispielsweise
eine Aufgabe der Entwicklungspsychologie ist, den Stufengang zu verfolgen,
welchen die Psyche bei immer größer werdender Erfahrung, bei immer mehr
fortschreitender Bestimmung und Bestimmtheit der erfahrungsmäßig gegebenen
Umwelt allmählich durcheilt, dann ist uns durch die „Aufgabe“stellung im
Experiment die Möglichkeit geboten, gewisse scharf abhebbare „Objektivations-
stufen“ voneinander zu trennen. Das bedeutet: das Experiment sucht nach¬
zuweisen, daß ein bestimmter Gegenstand, z. B. die Farbe, die Bewegung,
der Raum, je nach Einstellung eine Struktur zeigt, die in mehr oder weniger
hohem Grad objektiv ist, mehr oder minder unabhängig ist von subjektiven
Willkürlichkeiten, mehr oder minder eine relative Konstanz, eine relative
Gesetzmäßigkeit der Umweltdinge erweist. —
In dieser prinzipiellen Grundeinsicht und Grundmethodik vollziehen sich
also die experimentellen Untersuchungen des Laboratoriums, soweit sie all¬
gemeinpsychologischer Natur sind. So ist die sich über mehrere Semester
erstreckende Untersuchung .Heinz Werners über Grundfragen der In-
tensitätspsychologie, deren Ergebnisse demnächst als Ergänzungs¬
band X der Zeitschrift für Psychologie erscheinen (Nr. 47), gestaltungs¬
problematischer Natur in dem oben angedeuteten Sinn. Die Untersuchung
zerfällt in zwei in ihren äußeren Zielen getrennte Teile, von denen der erste
die Erscheinungsweisen der Intensität, der zweite die Wirkungsweisen auf
gewisse einfache phänomenale Gestalten zu bestimmen sucht. So wie oben
ganz allgemein innerhalb des Gestaltproblems das Strukturproblem vom Ent¬
wicklungsproblem zu scheiden war, so führt schon die Untersuchung über
die Erscheinungsweisen. von Intensitäten auf beide Fragestellungen hin. Es
zeigt sich im Experiment, daß es verschiedene Arten von Intensiv-Erlebnissen
gibt, die sich durch eigentümliche Strukturen voneinander unterscheiden. Die Ex¬
perimente suchen ferner zu erweisen, daß die Intensitätsgegebenheiten je nach
der Einstellung verschiedenen Stufen der Objektivation angehören können. —
Auch der zweite Teil der Experimentaluntersuchung stößt prinzipiell auf das¬
selbe Problem der Strukturgegebenheit und der genetischen Gestaltung. Denn
wenn die Verstärkung und Abschwächung von Intensitäten sogenannte „Sinnes¬
täuschungen“ verursacht, dann tritt sofort die grundsätzliche Bedeutung dieser
Sinnestäuschungen für das Strukturproblem hervor, in dem sich zeigen läßt,
daß man von seiten der Wirkung auf Gestalten die Art der Gegeben¬
heit von Gestalten, ihre Struktur, herstellen kann. Es erhellt aber auch
gleichzeitig die Bedeutung dieser Versuche für das genetische Problem der
Objektivationsstufen, indem unter der Voraussetzung, daß „Schein“ eine relativ
niedere Stufe der Objektivation ist, zu zeigen versucht wird, welcher Art die
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Struktureigentümlichkeiten sind, die die Objektivation hemmen, beziehungs¬
weise fördern.
Eine Untersuchung Rudolf Peters stellt sich die Aufgabe, das Raum¬
problem von der strukturtheoretischen Seite her experimentell zu fassen.
Aus seiner bisherigen Arbeit hat er in einer Dissertation „Studien über
die Struktur des Sehraumes" ein Teilproblem herausgelöst, welches sich
um experimentelle Versuche über die Struktur des Scheinraumes im Bilde
und bei der plastischen Erfassung perspektivischer Zeichnungen gruppiert
(Nr. 49). Nach einer Einleitung über die Abgrenzung erkenntnis¬
theoretischer und psychologischer Fragestellungen und über das Verhältnis
von Erkenntniskritik und Erkenntnispsychologie wird das Problem des Raumes
als ein solches der zunehmenden bezw. abnehmenden Objektivation dar¬
gestellt. Die allgemeine Untersuchung zeigt für den Sehraum schlechthin die
Notwendigkeit der Annahm e von Schichten verschieden hoher Objektivation
auf. Der „Schein“ raum im Bilde wird als eine bestimmte Objektivations-
schicht innerhalb des genetiscken Ganges, der schließlich zur Erfassung des
„objektiven“ Raumes führt, erkannt und in seiner eigentümlichen Struktur
festgelegt. Insbesondere wird der Grad der Bestimmbarkeit von Raum¬
relationen im Bildraume durch genauere experimentelle Analyse untersucht
und dieser Grad der Bestimmbarkeit gegenübergestellt der exaktmathematischen
Bestimmung des objektiven Raumes.
Ebenfalls gestalttheoretischer Natur sind einige weitere unter Leitung
Werners stehende Experimentaluntersuchungen, die teilweise schon durch
einige Semester laufen, teilweise erst in diesem Wintersemester begonnen wurden.
Die Arbeit von cand. phil. Meywerk beschäftigt sich mit der Frage, in
welcher Weise getastete Größen gegeben sind; es wird versucht, auch
hier wieder durch Einstellungsexperimente, die an normalen Erwachsenen,
an Blinden und teilweise auch an Kindern vorgenommen werden, bestimmte
Objektivationsschichten getasteter Strecken und Figuren zu erkennen und so
an einem Sonderproblem den Stufengang fortschreitender Bestimmung von
Tastdingen klarzulegen.
Das Problem der Struktur und ihrer Genese erweist sich ferner besonders
fruchtbar bei experimentellen Untersuchungen, die sich auf zeitlich Ge¬
staltetes beziehen, wie es der Rhythmus, die Sprache, die Bewegung ist.
Eine Untersuchung Werners, welche er 1919 im Hamburger Laboratorium
durchführte und deren Ergebnisse in der Zeitschrift für Psychologie unter
dem Titel: „Rhythmik, eine mehrwertige Gestaltenverkettung“ erschienen
sind, versuchte, das Wesen des Rhythmus auf eine eigentümliche Gestalt¬
gesetzlichkeit zurückzuführen (Nr. 31). Die noch später zu erwähnende
Untersuchung der Arbeitsgemeinschaft für die Feststellung der rhythmischen
Begabung will, indem sie das genetische Problem der Gestaltung aufgreift
und sich mit der Entwicklung der rhythmischen Auffassung und Wiedergabe
beschäftigt, zugleich an einem konkreten Beispiel dartun, in welcher Weise
allgemeinpsychologische Untersuchungsergebnisse unmittelbar für praktisch-
pädagogische Aufgaben, wie hier Aufstellung rhythmischer BegabungstestB
und Bewertung der Leistung, bedeutsam sind.
In diesem Semester begann das Psychologische Laboratorium nunmehr auch
Probleme der Sprachpsychologie auf experimentellem Wege einer Lösung
näher zu führen, wobei es in der Beschaffung der nötigen Apparate in der
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgisehen Universität
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dankenswertesten Weise durch das Hamburger Phonetische Laboratorium
[Leiter: Professor Panconcelli-Calzia] unterstützt wird. Es handelt sich in einer
ersten Untersuchung, die von Herrn Magister Lagercrantz durchgeführt wird,
darum, gewisse allgemeine Gesetze der Sprachgestaltung an relativ einfachen
Beispielen (z. B. sinnlosen Silben und Wörtern) experimentell zu erfassen,
um schließlich zu ersehen, wie weit in dieser spezifischen •Strukturgesetzlich¬
keit allgemeine Gestaltsprinzipien wirksam sind.
Weitere Untersuchungen über das Problem der Erfassung von Bewegungen,
ferner von Tongestalten, sind in Vorbereitung.
Eine — methodisch so sehr notwendige — Untersuchung über das Problem
der Selbstbeobachtung unter Zuhilfenahme experimenteller Versuchsergebnisse
ist in diesem Semester durch Herrn cand. phil. Brandes in Angriff genommen
worden.
Auch die völkerpsychologische Arbeit wird an unserem Laboratorium
nicht vernachlässigt. Es werden Vorlesungen und Obungen über allgemeine
Entwicklungs- und Völkerpsychologie durch Dr. Werner abgehalten. Die Ein¬
richtung einer besonderen ethnopsychologischen Abteilung am Psychologischen
Laboratorium, in der neben allgemeiner Forschung und Lehre insbesondere
die Ausarbeitung exakter Methoden zur psychologischen Untersuchung primi¬
tiver Menschen einen wichtigen Aufgabenkreis darstellen müßte, ist schon
1917 in einem ausführlichen Gutachten als notwendig bezeichnet worden.
■ i Üich wird es in absehbarer Zeit zur Einrichtung einer solchen Abteilung,
für die gerade in der Welthafenstadt Hamburg günstige örtliche wie auch
wissenschaftliche Bedingungen bestehen, kommen.
n. Wirtschaftspsychologie (insbesondere Berufseignung).
Von Hans Paul Roloff und W. Stern.
Die gewaltige Erweiterung, die das Arbeitsgebiet der Psychologie durch
Anwendung ihrer Methoden auf Probleme des Wirtschaftslebens, insbesondere
der Berufseignung während des letzten Jahrzehnts erfahren hat, spiegelt sich
naturgemäß auch in den Arbeiten des Laboratoriums wieder. Diese sollen
hier im Zusammenhang dargestellt werden, wobei auch kurz auf frühere
Jahre zurückgegriffen werden muß.
Unsere sämtlichen Arbeiten auf diesem Gebiet — sowohl die kriegswich¬
tigen bis 1918 wie die dann einsetzenden rein wirtschaftspsychologischen —
standen insofern unter erschwerenden Bedingungen, als das Laboratorium
kein psychotechnisches Institut war und ist! Von seinem Begründer
angelegt als Forschungs- und Lehrinstitut für reine und pädagogische Psycho¬
logie, hat es seine ganzen wissenschaftlichen Hilfsmittel und Einrichtungen
bis zum Beginn des Krieges in der hierdurch vorgeschriebenen Richtung aus¬
gebaut. Den nun plötzlich eintretenden eignungspsychologischen Aufgaben
gegenüber befand sich das Institut in schwieriger Lage: Einmal konnten die
Apparate für das neue Arbeitsgebiet infolge Geldmangels nicht in der Weise
vervollständigt werden, wie es wohl wünschenswert gewesen wäre, sodann
war die Arbeitskraft der ständigen Mitarbeiter eigentlich dauernd durch die
Anforderungen der anderen Arbeitsgebiete bis zur Grenze in Anspruch ge¬
nommen. Trotzdem ist es gelungen, eine ganze Reihe wichtiger Aufgaben,
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William Stern
die aus der Praxis des Wirtschaftslebens an das Institut herantraten, vor
allem auch dank der Unterstützung durch eine Anzahl vorübergehender Mit¬
arbeiter, in Angriff zu nehmen und zum Abschluß zu bringen. Von den im
Institut im Laufe der letzten Jahre auf diesem Gebiet durchgeführten Arbeiten
sind zu erwähnen:
1. Zur Eignungsprüfung von Fliegerbeobachtern.
Auf Anregung des Kommandeurs der Fliegerschule Hamburg-Fuhlsbüttel
arbeiteten im Herbst 1916 zunächst Prof. Stern und sein Assistent Dr. Kehr
eineVersuchsanordnung zur Prüfung des für Fliegerbeobachter charakteristischen
Leistungskomplexes aus. Nach dem Tode von Dr. Kehr übernahm Dr. Benary
die Fortführung der Arbeiten. Nach Abschluß der Vorarbeiten gelang es
dann, die Ausbildung von Dr. Benary als Fliegerbeobachter im Heeresdienst
durchzusetzen. Die Frucht dieser praktischen Ausbildung war eine wesent¬
liche Umgestaltung der Prüfungsmethoden. Ihren Mittelpunkt bildeten nach
wie vor Methoden zur Prüfung der Aufmerksamkeitsleistung in der für den
Fliegerbeobachter charakteristischen Verteilung auf zwei getrennte Blickfelder:
Gelände und Luftbeobachtung; sodann traten hinzu Prüfungen des Wieder-
erkennens, des Wegegedächtnisses, der Unterscheidung ähnlicher Figuren aüs
dem Gedächtnis, des Herauserkennens einer Gestalt aus einer komplexen
Gesamtfigur und des Findens der Richtung.
Die Bewährungsproben der zum dritten Male nach den Erfahrungen prak¬
tischer Prüfungen umgearbeiteten Methoden hatten auf dem Flugplatz von
Hannover unter Leitung Dr. Benarys gerade begonnen, als das Kriegsende
den Abbruch herbeiführte. Aber die Arbeit ist hoffentlich nicht umsonst
gewesen; theoretisch hat sie wertvolle Beiträge zur Psychologie der Aufmerk¬
samkeit, der Gestaltauffassung, der Orientierungsfähigkeit geliefert; praktisch
werden ihre Ergebnisse vielleicht noch einmal für das zivile Flugwesen nutz¬
bar gemacht werden können. Zwei ausführliche Veröffentlichungen Benarys
über die Methode liegen vor (Nr. 30 u. 37).
2. Fahrerprüfungen.
Mit den Fliegerprüfungen war das große Gebiet der Eignung zum Fahr¬
zeuglenker betreten worden, das nun weiterhin vom Laboratorium bearbeitet
wurde. Die Untersuchungen und Prüfungen erstreckten sich auf Führer der
Straßenbahn, der Hochbahn und der elektrischen Vorortsbahn; in einer Reihe
von Fällen ist es bereits zu praktischen Anwendungen gekommen. Gemeinsam
ist allen diesen Prüfungen, daß die Feststellung einer bestimmten Funktions¬
weise der Aufmerksamkeit im Mittelpunkt steht; daneben werden andere
Dispositionen (Geschwindigkeitsauffassung, Signalgedächtnis, Ermüdbarkeit
usw.) geprüft.
a) Straßenbahnführer. Schon 1917 hatte auf Anforderung der Altonaer
Berufsberatung eine Auslese einiger Fahrerinnen durch W. Stern stattgefunden,
bei der als provisorische Methode eine Abänderung der von Dr. Kehr ge¬
schaffenen Versuchsanordnung zur Prüfung der kontinuierlichen Aufmerk¬
samkeit benutzt wurde (Nr. 25). Im Jahre 1918 gelang es dann durch eine
staatliche Sonderunterstützung, einige wissenschaftliche Hilfskräfte, zuerst
Dr. O. Bobertag und nach ihm Fräulein Dr. H. Sachs, für die Untersuchung
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
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der Eignung zum Straßenbahnführer vorübergehend einzustellen; sie Über¬
nahmen die Durchführung einer von Prof. Stern entworfenen neuen Versuchs¬
anordnung und deren Eichung an zahlreichen im Beruf stehenden Straßen¬
bahnfahrern, über deren Berufseignung die Direktion der Straßenbahngesell¬
schaft sich bereits ein festes Urteil gebildet hatte. Das Wesentliche dieser
neuen Versuchsanordnung bestand in dem Prinzip des „Laufstreifens": der
Prüfling hat in wechselnder und sinnvoll bestimmter Weise auf Reize („Fu߬
gänger“, „Fahrzeuge“) zu reagieren, die in einem endlosen, sich auf ihn zu¬
bewegenden schwarzen Streifen (der sich scheinbar auf ihn zubewegenden
„Fahrbahn“) aufleuchten. Die Ergebnisse der Eichung stimmten recht be¬
friedigend mit den Urteilen der Straßenbahndirektion über die Berufseignung
der untersuchten Fahrer überein; zur praktischen Auslese wurden die Me¬
thoden bisher nicht verwandt.
b) Hochbahnfahrer. Zn gleicher Zeit wurde auch das Problem der Eignung zum Führer
der elektrischen Hoch- und Untergrundbahn von Dr. Bobertag einer Untersuchung unterworfen.
Die Versuchsanordnung bestand in der Hauptsache in einer Reiztafel, auf der farbige Lichter
(„Signale“) aufleuchteten, auf die in verschiedener Weise durch Betätigung von Reaktionstastern
zu reagieren war. Auch akustische Reize waren eingeschaltet Die Abberufung Dr. Bobertags
vom hiesigen Institut unterbrach die in Angriff. genommene Eichung der Methoden]
c) Triebwagenführer der Vorortsbahn. Die bei den Straßenbahner¬
untersuchungen gewonnen methodischen Erfahrungen konnten mm in weitem
■Umfang nutzbar gemacht werden, als 1921 seitens der Eisenbahndirektion
Altona das Ersuchen an das Laboratorium erging, ein Ausleseverfahren für
die Triebwagenführer der elektrisch betriebenen Stadt- und Vorortsbahn zu
entwickeln und durchzuführen. Der freiwillige Hilfsarbeiter Ingenieur Hall¬
bauer übernahm die Konstruktion des Hauptapparates. Der Grundgedanke
war wiederum, daß die zu prüfende Aüfmerksamkeitsleistung mit der bei der
Fahrpraxis erforderten eine strukturelle Ähnlichkeit besitzen und daß zwischen
den Reizen und den Reaktionsbewegungen nicht eine beliebige assoziative
Verknüpfung, sondern ein dem Prüfling verständlicher Sinnzusammenhang
bestehen müsse. Als Reizfeld wurde deshalb wieder der auf den Beschauer
sich zubewegende „Laufstreifen“ gewählt, als Reize die auf der Strecke üblichen
Lichtsignale sowie Motorgeräusche, als Reaktionsbewegungen die im Fahrer¬
stand vorzunehmenden Griffe.
Sodann konstruierte Dr. Werner einen „Geschwindigkeitsmesser“. Der
Apparat besteht aus Streifen, die mit abstufbarer Geschwindigkeit gegen¬
einander laufen. An ihm wird die eigentliche Geschwindigkeitsschätzung,
das Geschwindigkeitsgedächtnis und die Fähigkeit korrekten und ökonomischen
Bremsens geprüft
Beide Apparate sowie einige kleinere Tests sind im Lauf des .Winters
1921/22 an schon im Dienst befindlichen Fahrern geeicht worden; sodann
fand zu Auslesezwecken die Prüfung von Fahreranwärtern durch Herrn
Hallbauer und Herrn Gewerbeschullehrer Voss statt. Im März besichtigte
eine Gruppe auswärtiger höherer Eisenbahnbeamter die Versuchsanordnung,
ser.
3. Untersuchung technischer und verwandter Fähigkeiten. Prü¬
fungen von Lehrlingen und Fachschülern.
Das neben der Fahrerprüfung bisher am meisten.ausgebaute psychotechnische
Gebiet ist bekanntlich die Lehrlingsauslese für technische Betriebe; wir haben
Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 12
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178
William Stern
sie auf Grund mannigfacher Anforderungen der Praxis auch unserer Arbeit
eingefügt.
An größeren Auslesen dieser Art sind hervorzuheben: die Auslese von
Maschinenbauerlehrlingen für die Hamburger Schlosserinnung 1919 durch
Erich Stern und Roloff und die Auslese von Maschinenbauerlehrlingen für
die Eisenbahnwerkstätten in Hamburg, Harburg und Glückstadt 1920/21 durch
William Stern und Roloff (Nr. 41). Auch bei diesen Auslesen wurde die bei
Schülerauslesen erprobte methodische Eigenart des Hamburger Instituts ge¬
wahrt: man beschränkte sich nicht auf eine nur experimentelle Untersuchung
der Lehrlinge, sondern zog auch die Beobachtungen der Lehrer, die die
Bewerber im letzten Jahre unterrichtet hatten, mit Hilfe eines für diesen
besonderen Zweck entworfenen Beobachtungsbogens in maßgebender Weise
mit zur Entscheidung heran. Die experimentelle Untersuchung erstreckte sich
auf Prüfung der Sinnestüchtigkeit von Auge und Ohr, Augenmaß, Tast¬
empfindlichkeit, Muskel- und Gelenkempfindlichkeit, Handgeschicklichkeit
(Zusammenarbeiten von Auge und Hand), Reaktionsfähigkeit, Raumanschauung,
technische Begabung und Allgemeinintelligenz; auch Selbstäußerungen der
Schüler über häusliche Verhältnisse, Interessen, Neigungen, häusliche Betäti¬
gungen u. a. wurden neben den Schulzeugnissen mitberücksichtigt. Außer¬
dem geschah die endgültige Entscheidung über die schließliche Aufnahme
stets in engster Zusammenarbeit von Psychologen und Vertretern der Werkstatt.
Als Probe auf die Bewährung dieser Methode mag hier eine Mitteilung der
Eisenbahndirektion Altona folgen, nach der die vom Institut ausgelesenen
Lehrlinge alle jemals eingestellten Lehrlinge so stark an besonderer Berufs¬
eignung übertrafen, daß sie im ersten Halbjahr ihrer praktischen Aus¬
bildungszeit (Ostern-Herbst 1921) den gleichen Standpunkt erreichten wie ein
normaler Jahrgang in anderthalb Jahren, also dreimal so schnelle Fortschritte
aufwiesen als normale Lehrlinge.
Ferner wurden im letzten Semester im Aufträge der staatlichen Bau¬
gewerkschule Buxtehude durch H. P. Roloff Methoden zur psychologischen
Eignungsuntersuchung der in die Hoch- und Tiefbauabteilung dieser Schule
eintretenden Schüler ausgearbeitet. Sie werden auf ihre Bewährung hin im
kommenden Sommersemester von den Hamburger und Buxtehuder Bau¬
gewerkschulen durchgeprüft werden.
Schließlich ist noch in der Frage der theoretischen Fundierung der
Prüfmethoden für technische Begabung eine ständige Arbeitsgemeinschaft
unter Leitung von Roloff tätig. Ihre gegenwärtige Arbeit erstreckt sich in
der Hauptsache auf die Gewinnung von Normalleistungswerten für die
verschiedenen im Laboratorium verwandten Apparate und Prüfmittel, auf die
Untersuchung des Einflusses von Übung, Ermüdung, Monotonie auf
den Ausfall der Prüfungsresultate, auf die Untersuchung des Zusammen¬
hanges zwischen diagnostischer Sicherheit und Umfang der einzelnen
Prüfungsreihen. — Die an anderer Stelle genannte Arbeitsgruppe für „Methoden
zur Prüfung der mathematischen Begabung“ steht mit dieser hier in einer
gewissen Interessengemeinschaft. (S. 186.)
4. Zur Psychotechnik kaufmännischer Berufe.
Mit diesem Gebiet hat sich das Laboratorium bisher weniger beschäftigt.
Es ist lediglich eine Untersuchung zu erwähnen, die bereits 1918 aus der
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
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dem Laboratorium zwanglos angegliederten „Arbeitsgemeinschaft zur Psycho¬
logie der Berufseignung“ hervorgegangen war.
Als Mitglied dieser Gruppe hat Dr. W. Heinitz Vorstudien angestellt über die psychologischen
Arbeitsbedingungen des Maschinenschreibens (Nr. 26). Diese Arbeit sucht mittelst der
Fragebogenmethode und durch Selbstbeobachtung empirisches Material beizubringen zur Beant¬
wortung der Fragen nach der zweckmäßigsten Art der Maschine, der Reizgebung, der Ausbildung
des Maschinenschreibers und nach den psychologischen Anforderungen des Maschinenschreibens.*)
Neuerdings beginnt sich aber auch in kaufmännischen Kreisen Hamburgs
das Interesse für das Eignungsproblem zu regen, und es ist die Mitarbeit des
Laboratoriums erbeten worden. Ende 1921 setzte sich die hiesige Detaillisten¬
kammer mit uns in Verbindung mit der Anregung, ihr Methoden zur psycho¬
logischen Auslese von Verkäufer- und Büropersonal auszuarbeiten. Indessen
konnte das Institut diesen Wunsch vorläufig noch nicht erfüllen, da die
Arbeitskraft sämtlicher Mitarbeiter zurzeit vollauf in Anspruch genommen
ist. Die Möglichkeit einer psychologischen Bearbeitung besonders des noch
fast gänzlich ungeklärten Verkäuferproblems wird nur bei einer Erwei¬
terung des Mitarbeiterkreises für das Gebiet der Wirtschaftspsychologie ge¬
geben sein.
5. Berufsberatung und Eignungsfeststellung.
Daß zwischen den beiden in der Überschrift genannten Aufgaben eine
enge Beziehung bestehe, wird jetzt weitgehend anerkannt, und eine Reihe
von großstädtischen Berufsämtern hat daraus auch schon die Konsequenz
gezogen, Fachpsychologen haupt- oder nebenamtlich einzustellen oder ein
am Ort befindliches psychologisches Institut mit den nötigen Untersuchungen
und Prüfungen zu beauftragen.
In Hamburg fehlen solche Einrichtungen noch so gut wie ganz; es blieb
bei einigen gelegentlichen Arbeitsbeziehungen zwischen Berufsberatung und
Laboratorium. So half, wie bereits erwähnt, das Laboratorium bei der Aus¬
arbeitung der „Schülerbogen“ der Berufsberatung; ferner stellte das Labora¬
torium die Prüfergebnisse technisch begabter (aber aus Platzmangel von der
Eisenbahnwerkstatt nicht aufgenommener) Knaben der Berufsberatung zur
Verfügung und konnte so zu deren sachgemäßer Unterbringung beitragen.
In einigen vereinzelt gebliebenen Fällen hat das Laboratorium auch auf
Wunsch der Berufsberatung Eignungsprüfungen vorgenommen.
Dagegen wurde die theoretische Seite des Problems vom Laboratorium
nach zwei Seiten hin bearbeitet: nach der pädagogischen und nach der
soziologischen.
Der schon mehrfach erwähnte Grundsatz des Instituts, daß, wo immer
möglich, der Experimentalprüfung die Beobachtung nebenzuordnen sei, gilt
insbesondere für die psychologische Berufsberatung. Hier hat also die Schule
wichtige Vorbereitungsarbeit zu tun. Über dies Thema „Die Feststellung
der psychischen Berufseignung und die Schule“ stellte nun Dr. Erich
Stern, der von 1919—1921 als Mitarbeiter des Laboratoriums tätig war, eine
vergleichende Untersuchung an Volksschulabgängern beiderlei Geschlechts an
(Nr. 42). Er suchte zu ermitteln, inwieweit es angängig ist, aus den mit Hilfe
der Fragebogenmethode erlangten Äußerungen von Lehrern und Eltern über
*) Seiner ersten Veröffentlichung ließ Heinitz 1920 noch eine selbständige Untersuchung über
die Fehlleistungen beim Maschinenschreiben folgen. (Schriften z. Ps. d. Berufseignung Heft 16).
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William Stern
die verschiedenen Fähigkeiten der Kinder Schlüsse über deren Eignung zu
bestimmten Berufen zu ziehen, ja inwieweit Selbstäußerungen der Kinder
(Beantwortung vorgelegter Fragen oder freier Aufsatz) gleiches ermöglichen,
ferner wie die Resultate dieser Methode dann mit den Ergebnissen einiger
an den gleichen Kindern vorgenommenen experimentellen Eignungsunter¬
suchungen übereinstimmen.
Als Nationalökonomin und Sozialpolitikerin äußerte sich unsere zeitweilige
Mitarbeiterin Dr. Hildegard Sachs „Zur Organisation der Eignungspsychologie“
(Nr. 38). Aus wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und vor allem sozialen
Gründen tritt sie dafür ein, daß die Eignungsprüfungen nicht — wie bisher
fast die Regel — von seiten der einzelnen Betriebe durchgeführt, sondern
an „neutralen“ staatlichen Prüfstellen zentralisiert werden.
6. Psychotechnische Lehrtätigkeit.
Neben dieser wissenschaftlichen Forschungsarbeit und praktischen Prüf¬
tätigkeit des Instituts setzte nun in den letzten Semestern in organischer
Fortentwicklung auch die Lehrtätigkeit auf wirtschaftspsychologischem
Gebiet ein. Während W. Stern im Wintersemester 1920/21 eine Vorlesung
über Wirtschaftspsychologie hielt, leitete Roloff während der letzten Semester
im psychologischen Seminar für Fortgeschrittene die Arbeitsgruppen zur
Untersuchung von Berufseignungen. Außerdem hält Roloff seit 1920 im
Rahmen des Hamburger Technischen Vorlesungswesens in regelmäßigem
Zyklus Vorlesungen, theoretische und praktische Übungen über das Gesamt¬
gebiet der industriellen Psychotechnik, die sowohl in die theoretischen Grund¬
lagen der Psychotechnik als auch in die praktische Anwendung der experimen¬
tellen Methoden zur Feststellung der Berufseignung einführen. Auch in das
Programm des jüngst am Institut durchgeführten pädagogisch-psychologischen
Lehrkurses für auswärtige Lehrkräfte war eine Arbeitsgruppe zur Einführung
in diese Methoden aufgenommen.
Dem Zweck der Belehrung und Aufklärung weiterer Kreise dienten die
vielfachen Vorträge, die Stern und Roloff innerhalb und außerhalb Ham¬
burgs in Fachverbänden, Lehrervereinen usw. über Themen der Psycho¬
technik gehalten haben.
Auf dem Anschauungswege winde eine solche Einführung in die Methoden
erstrebt durch eine „Psychotechnische Sonderausstellung“, die im
März 1922 in den Räumen des Laboratoriums stattfand. Sie winde veran¬
staltet aus Anlaß der gleichzeitigen betriebs- und psychotechnischen Wander¬
ausstellung des Vereins Deutscher Ingenieure.
Zur Ausstellung gelangten Apparate und Prüfmittel zur Feststellung der
Eignung zum Metallarbeiter, zum Straßenbahnfahrer, zum Trieb¬
wagenführer, sowie zur Untersuchung allgemeiner geistiger Funk¬
tionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Intelligenz. Achtmal wurden
Führungen für das allgemeine Publikum und für geladene Körperschaften
(insgesamt etwa 300 Personen) veranstaltet, bei denen die Methoden de¬
monstriert und erläutert wurden.
7. Allgemeine.methodische Richtlinien
für die psychotechnische Arbeit hat W. Stern aus den bisher im Laboratorium
gemachten Erfahrungen abgeleitet und auf dem Marburger Psychologen-Kongreß
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
181
Ostern 1921 (Nr. 45) entwickelt. Behandelt werden folgende Gesichtspunkte:
Prüfung und Beobachtung; Massen- und Einzelprüfung; Mosaik- und Struktur-
Prinzip; Symptomwert der Ergebnisse; Leistungsänderung durch Übung und
Surrogatfunktionen; Bewertungsmethoden; Bewährung und Eichung.
8. Zusammenfassung.
Überblickt man die genannten psychotechnischen Arbeiten und Veran¬
staltungen, so wird man verstehen, daß das unverhältnismäßige Anschwellen
des neuen Tätigkeitsgebietes vom Standpunkt des Gesamtinteresses des
Laboratoriums nicht mit ganz ungeteilter Freude begrüßt werden kann.
Das Laboratorium hat selbstverständlich die Pflicht, das neue, volkswirt¬
schaftlich so wichtige Anwendungsfeld seiner Wissenschaft zu pflegen; es
muß als einzige Hamburger Forschungsstätte nicht nur den von außen kom¬
menden Anforderungen nach Kräften zu genügen suchen, sondern darüber
hinaus die bisher noch unorientierten oder uninteressierten Kreise, die es
angehen sollte, auf die Wichtigkeit der Psychotechnik hinweisen und die
Versuche einer dilettantischen Anwendung psychotechnischer Methoden be¬
kämpfen.
Aber andererseits drohen diese wachsenden und oft an kurzfristige Termine
gebundenen Aufgaben geradezu den Rahmen des Laboratoriums zu sprengen.
Wenn auch die beteiligten Betriebe und Behörden für die nötigen Kosten
aufkamen, auch Hilfspersonal und die Mitarbeit ihrer Werkstätten zur Ver¬
fügung stellten, so mußte doch der eigentlich wissenschaftliche Teil der Auf¬
gabe ausschließlich vom Laboratorium bestritten werden. Bei aller Anspan¬
nung der Kräfte des wissenschaftlichen und technischen Personals wäre die
Durchführung nicht möglich gewesen, wenn sich nicht noch freiwillige wissen¬
schaftliche Hilfskräfte in selbstlosester Weise wochenlang zur .Verfügung ge¬
stellt hätten. 1 )
Es kommt hinzu, daß zwar die Vorbereitung, Eichung und Nachprüfung
der Methoden eine dauernde Verbindung mit psychologischer Forschungs¬
arbeit verlangt, daß aber die eigentliche praktische Prüftätigkeit — sobald
einmal die Methoden feststehen — nur geringere wissenschaftliche Ausbeute
liefert.
Da nun zu erwarten und auch zu wünschen ist, daß die Psychotechnik
in Hamburg eine i mm er weitere Ausdehnung erfährt, so wird in naher Zu¬
kunft zweierlei nötig werden: 1. die Schaffung einer psychotechnischen
Forschungsabteilung am Laboratorium, die mit Mitteln, Personal und
Räumen so ausgestattet ist, daß die anderen Aufgaben des Laboratoriums da¬
neben unbehindert erfüllt werden können, 2. die Begründung einer
staatlichen psychotechnischen Prüfstelle, an der die bereits be¬
währten Methoden ständig dem unmittelbaren Bedarf der Praxis nutzbar ge¬
macht werden. Sie müßte als neutrale Instanz zugleich dem Interesse der
Betriebe und der Berufsuchenden dienen und unter fachpsychologischer
Leitung stehen.
*) Hier sei mit besonderem Dank der unermüdlichen Mitarbeit der Herren Ingenieur Hall¬
bauer, Gewerbeschullehrer Vo§s, Lehrer v. d. Mühlen und 6tud. phil. Wunderlich gedacht.
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I
182 William Stern
III. Pädagogische Psychologie und Jugendkunde.
1. Die Art der Lehrtätigkeit.
Bei dem lebhaften Interesse, das zur Zeit der pädagogisch-psychologischen
Ausbildung des künftigen Lehrers entgegengebracht wird, sei hier die be¬
sondere Form geschildert, in der sich die Hamburger Lehrtätigkeit auf diesem
Gebiet im letzten Semester vollzog.
Prof. W. Stern hielt eine dreistündige Universitätsvorlesung über „Psycho¬
logie der Kindheit und des Jugendalters mit Berücksichtigung der pädago¬
gischen Anwendungen“. Im Seminar wurden von demselben geleitet:
„Psychologische Arbeiten für Fortgeschrittene auf dem Gebiet
der Jugendkunde“
und zwar nach folgenden Gesichtspunkten.
Der große Andrang von studierenden Lehrern und Lehrerinnen wie auch
von sonstigen Studenten zu jugendpsychologischen Arbeiten hat es seit
einigen Semestern nötig gemacht, ein Gruppensystem auszubilden. Zu¬
gelassen werden nur solche, die die systematischen Vorlesungen und An¬
fängerübungen über Psychologie absolviert haben. 1 ) In Zukunft wird sogar
der Nachweis einer eigenen psychologischen Arbeit als Zulassungsbedingung
verlangt werden.
Zu Beginn des Semesters wurden Arbeitsgruppen eingerichtet (teils neue,
teils in Fortsetzung aus früheren Semestern), die unter Leitung von wissen¬
schaftlichen Hilfsarbeitern oder langjährigen Mitarbeitern des Seminars stehen;
in ihnen wird ein Sonderthema mit allen gebotenen Methoden durchgearbeitet:
über die Literatur wird referiert, experimentelle oder Beobachtungsmethoden
werden vorbereitet oder durchgeprobt, die Ergebnisse verarbeitet. Hierbei
wird fast immer über den schon vorliegenden Stand des Problems hinaus¬
gegangen. Zum Teil stellen sich auch die Gruppen direkt in den Dienst
der praktisch-psychologischen Aufgaben des Laboratoriums, indem sie z. B.
die Schülerauslese vorbereiten helfen.
Zusammenkünfte der einzelnen Gruppen finden nach Bedarf statt. Der
Direktor bleibt durch die Berichte der Gruppenleiter und durch gelegentliche
Teilnahme an den Gruppensitzungen in ständiger Fühlung mit dem Fortgang
der Arbeit. Außerdem werden 4—5 mal im Semester „Vollversammlungen“
für die Teilnehmer aller Gruppen abgehalten, in denen über die zu relativem
Abschluß gekommenen Arbeiten einzelner Gruppen oder über sonstige im
Laboratorium durchgeführte Untersuchungen berichtet wird. So ist trotz der
notwendigen Arbeitsteilung doch dafür gesorgt, daß der Zusammenhang
zwischen den verschiedenen pädagogisch-psychologischen Arbeiten des Labo¬
ratoriums aufrecht erhalten bleibt.
Im Arbeitsjahr 1921/22 arbeiteten folgende Gruppen (G.-L. == Gruppenleiter!:
1. Die Gruppe zur Untersuchung der mathematischen Begabung (G.-L.: Dr. Roloft)
hat nach eingehenden theoretischen Erörterungen zunächst die praktische Bearbeitung eines
Teilproblems in Angriff genommen; Methoden zur Erforschung des Anteils der räumlichen Vor¬
stellungsfähigkeit an der Leistungsfähigkeit in der Geometrie sind vorbereitet worden und werden
*) Hiervon wird nur ausnahmsweise bei solchen Teilnehmern abgesehen, die, aus der Praxis
kommend, für die Arbeit einer Spezialgruppe (z. B. Jugendfürsorge) besonderes Interesse und
besondere Fachkenntnis haben.
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
183
z. Z. in umfangreichen Versuchen an Schülern verschiedener Schulgattungen und Altersstufen
durchgeprüfh (Vgl. S. 186.)
2. Die Gruppe zur Untersuchung der technischen Begabung (G.-L.: Dr. Rolofl) ist
damit beschäftigt, Methoden zur Prüfung dieser Begabung in Versuchen an zahlreichen Schul¬
abgängern zu eichen.
3. Die Gruppe zur Untersuchung der sprachlichen Begabung (G.-L.: F. Wickel) bat
als Vorarbeit für die Aufstellung von Prüfungstests den Versuch gemacht, durch Analyse von
Selbstbeobachtungen Erwachsener beim Erlernen fremder Sprachen die dabei in Frage kommenden
typischen Verhaltungsweisen zu erforschen. Zurzeit ruht die Arbeit.
4. Die Gruppe zur Untersuchung der rhythmischen Begabung (G.-L.: Dr. Werner)
ist mit Vorabeiten für die Aufstellung von Tests für die Prüfung der rhythmischen Begabung
von Kindern beschäftigt. (Vgl. S. 174.)
5. Die Gruppe „Bilderordnungstest“ (G.-L.: Dr. Peter) hat die psychologischen Bedingungen
dieses Tests eingehend untersucht und Fehleranalysen vorgenommen. Vergleichende Unter¬
suchungen an normalen, schwachsinnigen und taubstummen Kindern wurden veranstaltet.
6. Die Gruppe „Ergänzungstest“ (G.-L.: O. Wiegmann) hat die statistische Verarbeitung
des bei der Hamburger Auslese 1918 angewandten Lückenergänzungstests und anschließend
daran Untersuchungen über den Schwierigkeitsgrad der verschiedenen grammatisch-logischen
Verknüpfungen (Konjunktionen) sowie denkpsychologische Analysen vorgenommen.
7. Die Gruppe zur Nachprüfung der Hamburger Auslese 1918 (G. L.: K. Friederichsen)
untersuchte die Korrelation zwischen den Ergebnissen der psychologischen Ausleseprüfung und
den Lehrerurteilen über die Eewährung der ausgelesenen Schüler.
8. Die Gruppe „Beobachtungsbogen“ (G. L.: M. Muchow) bearbeitete das in den Beobach¬
tungsbogen von 1918 und 1919 vorliegende reiche Material unter differentiell-psychologischen
Gesichtspunkten, verfolgte die Entwickelung des Problems der Schülerbeobachtung und machte
besonders die psychologischen Voraussetzungen derselben beim Lehrer zum Gegenstand näherer
Untersuchung.
9. Die Gruppe „Hamburger Auslese“ (G. L.: M. Godbersen) bereitete Methoden zur
psychologischen Prüfung 10 jähriger Schüler für die Aufnahme in die höhere Schule vor. —
(VgL den Bericht S. 189.)
10. Die Gruppe „Altonaer Auslese“ (G. L.: H. Klüver und F. Wickel) bereitete Methoden
zur Differenzierung von Kindern des ersten Schuljahres bzw. Schulneulingen vor. — (Vgl. den
Bericht S. 190.)
11. Die Gruppe zur Untersuchung der Beziehungen von Intelligenz und Moral
(G. L.: Dt. Boden) hat nach eingehenden theoretischen Erörterungen des Problems die Jacob-
sohn'sche Ordnungsmethode für die Anwendung an Kindern bearbeitet, eine Reihe von ver¬
schieden zu bewertenden Lügenfällen aufgestellt und in umfangreichen Versuchen an Schul¬
kindern durchgeprüft.
12. Die Gruppe „Psychologie des straffälligen Jugendlichen“ (G. L.: Dr. Bondy
und Dr. Grünhut) verarbeitet das Beobachtungs- und Testmaterial, das an Sträflingen des Ham¬
burger Jugendgefängnisses durch den dort tätigen Gruppenleiter Dr. Bondy gewonnen wurde. —
(Vgl. den Bericht S. 194.)
In den Vollversammlungen des W. S. 1921/22 wurden folgende Themen behandelt:
1. Besprechung der Winterarbeit. Konstituierung der Arbeitsgruppen für das Wintersemester.
2. Zur Psychologie der psychographischen Methode. Referent: Dr. med. Langelüddeke.
3. Bericht über eine Massenuntersuchung mit dem Definitionstest. Referent: Dr. Roloff.
4. Psychologische und pädagogische Beobachtungen und Erfahrungen aus der Arbeit im Straf¬
vollzug. Referent: Dr. Bondy.
5. Begabungsdifferenzierung siebenjähriger Schüler. Berichterstatter für die Altonaer Aus¬
lesegruppe: H. Klüver. — Vorbereitungen zur Auslese für sächsische Aufbauschulen. Referent:
Studienrat Schwärig.
Neben diesen für einheimische Studierende bestimmten Kursen veranstaltete
das Laboratorium im verflossenen Wintersemester zum ersten Mal einen
Sonderlehrgang für auswärtige Lehrer und Lehrerinnen
aller Schulgattungen.
Er war gedacht als Ausbildungskursus in Psychologie der Kindheit und
des Jugendalters, mit besonderer Berücksichtigung der schulpsychologischen
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184
William Stern
Probleme (Schülerbeobachtung, Begabungsdiagnose, Schülerauslese, Feststellung
der Berufseignung).
Mit diesem Kursus sollte ein Versprechen eingelöst werden, das W. Stern
schon 1916 in seiner Programmschrift „Jugendkunde als Kulturforderung“
gegeben hatte, dessen Erfüllung aber durch den Krieg unmöglich gemacht
worden war. Dem Kurs liegt folgender Gedanke zugrunde: Außer der all¬
gemein anzustrebenden Vertiefung und Erweiterung der psychologischen
Lehrerausbildung ist für einen kleineren Kreis von Pädagogen eine spezial¬
wissenschaftliche Schulung in der Jugendkunde nötig, damit sie einerseits
die schulpsychologischen Aufgaben bearbeiten können, die aus der Schüler¬
auslese, Berufsberatung, Jugendpflege und -fürsorge usw. erwachsen, und
damit sie andererseits die überall entstehenden psychologischen Arbeits¬
gemeinschaften von Lehrern sachverständig leiten können. Die bloße Be¬
schäftigung mit der Literatur genügt hierzu nicht; es ist vielmehr das Ein¬
dringen in die wissenschaftliche Arbeitsweise erforderlich, wie es nur an
einer psychologischen Forschungsstätte vermittelt werden kann. Das* Ideal
wäre eine mehrsemestrige Ausbildung; da aber eine so lange Abwesenheit
vom Dienst unter den gegenwärtigen schwierigen Verhältnissen nicht erreich¬
bar war, mußte der Lehrgang in ein einziges Semester zusammengedrängt
werden. Auch so war es noch zahlreichen Anmeldern unmöglich zu kommen,
da die Schulbehörden sie gar nicht oder nur ohne Gehalt beurlauben wollten.
Schließlich konnte aber der Kurs mit 16 Teilnehmern (darunter 5 Damen)
eröffnet werden; sie stammten aus Mittel-, West- und Norddeutschland, je
eine Teilnehmerin aus Dänemark und Jugoslawen. Dem Beruf nach waren
vertreten: Volksschullehrer und -lehrerinnen, 1 Rektor, 1 Studienrat, 1 Re¬
gierungsbeamter aus der Jugendfürsorge und einige Studenten.
Der Lehrgang setzte sich aus folgenden Veranstaltungen zusammen:
1. Teilnahme an der Vorlesung über Psychologie der Kindheit und des Jugendalters.
2. Übungskurs über Begabungspsychologie (mit Referaten, Demonstration und Besprechung
von Methoden, Diskussionen), abgehalten von W. Stern.
3. Arbeitsgruppen.
a) Arbeitsgruppe zur Einführung in die methodische Durcharbeitung von Einzeltesls.
(Leiter: Dr. Peter.)
b) Arbeitsgruppe zur Einführung in die Methodik der Schülerbeobachtung und die Probleme
des Beobachtungsbogens. (Leiterin: M. Muchow.)
c) Arbeitsgruppe zur Einführung in die Methoden der Berufseignungsuntersuchung. (Leiter :
Dr. Roloff.)
d) Arbeitsgruppe zur Einführung in die Methodik größerer Ausleseunternehmungen. (Alto-
naer Auslesegruppe. Leiter: H. Klüver und F. Wickel.) Vgl. S. 190.
e) Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Auslese für sächsische Aufbauschulen. (Dr. Peters
und Studienrat Schwärig.) VgL S. 191.
4. Einzelvorträge über verschiedene Gebiete des hamburgischen Erziehungawesens und der
pädagogischen Reformbestrebungen, gehalten von Praktikern und Fachmännern.
Außerdem wohnten die Lehrgangteilnehmer verschiedenen Kursen und Vorlesungen der Uni¬
versität als Gasthörer bei.
12. Begabungsforschung und Schülerbeobachtung.
Die Gesamtdarstellung, die das Problem der jugendlichen Intelligenz in
dem 1920 erschienenen Buch W. Sterns fand (Nr. 34), bildete zugleich
die Zusammenfassung der bisher auf diesem Gebiet vorliegenden Unter¬
suchungen, wie die Grundlage für weiterführende Spezialarbeiten des Labo-
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
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ratoriums. Die Forderung, neben den experimentellen Methoden die beobach¬
tenden zu pflegen, blieb nach wie vor richtunggebend.
Experimentelle Untersuchungen. Ein großer Teil der experimentellen
Begabungsforechungen stand in unmittelbarem Zusammenhang mit den weiter
unten zu besprechenden Schülerausldsen. Im übrigen ist folgendes zu be¬
richten: Die Sammlung von Intelligenztests wurde ständig fortgesetzt und
auch durch einige ausländische Tests vermehrt. Die Neuauflage der „Methoden¬
sammlung“ von Stern und Wiegmann (Nr. 36) gab Gelegenheit, diese Ergän¬
zungen in einem umfangreichen Nachtrag zu veröffentlichen. Eine Reihe
von bewährten Tests des Hamburger Laboratoriums wurde der Firma Buth
(Charlottenburg, Leibnizstr.) zum Druck übergeben, von der sie käuflich zu
beziehen sind. Daneben wurde ständig an der Verbesserung und Umgestal¬
tung der bekannten Tests sowie an der Schaffung neuer gearbeitet; Eichungen
und Korrelationsbestimmungen wurden vorgenommen. Genannt sei ins¬
besondere die Arbeit am Schematest, am Bilderordnungstest, am Analogie¬
test, am Definitionstest; der letztere winde von Herrn Roloff einer massen¬
statistischen Arbeit zugrunde gelegt, die soeben in Buchform unter dem Titel
„Vergleichend - psychologische Untersuchungen über kindliche Definitions¬
leistungen“ veröffentlicht wird (Nr. 48). Der Verfasser berichtet darüber:
Die Arbeit ist eine Alterseichung von Definitionstests im Massenversuch, in Beziehung ge¬
setzt za Intelligenzschätzungen und zur sozialen Herkunft der Versuchspersonen. Sie stellt einen
Teil der Vorarbeiten dar, die am Hamburger Psychologischen Laboratorium für die Auswahl
der Tests zu der großen Hamburger Begabtenauslese von 1918 geleistet werden mußten. Die
gesamte männliche Jugend der Hamburgischen Stadt Bergedorf und ihres preußischen Vororts
Sande (zusammen 25000 Einwohne ) zwischen 10 und 12 Jahren, sowie ein großer Teil der
9- und lSjährigep (1037 Knaben aus 1 Gymnasium, 1 Realschule und 3 Volksschulen) wurde
durchgeprüft. Zu definieren waren die Begriffe: Briefträger, Insel, U-Boot, Beute, Skalp, Onkel,
Vetter (konkrete und Verwandschaftsbegriffe), Geiz, Mut, Lüge, Neid (abstrakte Begriffe), Miete,
Manöver, Wehrpflicht (halbab6trakte Begriffe).
Als Hauptergebnisse der Untersuchung sind anzuführen:
Die allgemeine Fähigkeit zu definieren entwickelt sich in dem Intervall von 10—12 Jahren
vollkommen stetig als lineare Funktion der Zeit ohne irgendwelche Rückschläge oder
Stockungen.
2. Die Definitionsleistungen stehen in hoher Korrelation zur Intelligenz: Die guten Schüler
(25°/ 0 ) zeigen vor den schlechten Schülern (25°/ 0 ) auf den verschiedenen Altersstufen dieses
Intervalls in bezug auf die Definitionsleistungen einen durchschnittlichen Entwicklungsvor¬
sprung von l 1 /) Jahren.
3. Die Realschüler zeigen vor den Volksschülern in dem betrachteten Interwall in bezug
auf die Definitionsleistungen einen Entwicklungsvorsprung von durchschnittlich etwa
einem Jahr, die Gymnasiasten einen solchen von durchschnittlich etwa drei Jahren.
4. Es besteht keine Korrelation zwischen Güte der Definitionsleistung und Lehrplan,
Stundenverteilung, Klassenfrequenz oder Lehrerkollegium.
Es besteht hohe Korrelation^ zwischen Güte der Definitionsleistung und Höhe des
Schulgeldes, Wohnort und sozialer Schicht der Definierenden.
Viel langsamer als die Erforschung der Intelligenz schreitet die der
Sonderbegabungen vorwärts; hier liegen sehr bedeutende methodische
Schwierigkeiten vor, die erst zum kleinsten Teil überwunden sind. Es ist
dies nicht nur aus theoretischen Gründen bedauerlich; denn auch die Praxis
der Schülerbeurteilung und -auslese hat ein starkes Bedürfnis nach einer
Analyse und Diagnose der Sonderfähigkeiten. Bezüglich der fremdsprach¬
lichen Begabung haben mehrfache Ansätze noch nicht zu greifbaren Er-
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gebnissen geführt (s. S. 183). Am weitesten ist bisher das Studium der
technischen Begabung gediehen, über welches Roloff S. 177 berichtet hat.
Seit einer Reihe von Semestern wird ferner das Problem der mathema¬
tischen Begabung des Kindes in einer Arbeitsgruppe behandelt; ihr haben
zum Teil auch Mathematiker, die in der Schulpraxis steben, wertvolle Dienste
geleistet. Die Arbeitsgruppe hat unter Leitung von Dr. Roloff nach voran¬
gehender theoretischer Arbeit zunächst Richtlinien zur Beobachtung der ver¬
schiedenen Seiten der mathematisch-geometrischen und mathematisch-arith¬
metischen Begabung während des Unterrichts aufgestellt. Sie hat sodann
eine große Anzahl Einzeltests zur experimentellen Untersuchung der zahl¬
reichen in den Komplex der mathematisch-geometrischen Begabung ein¬
gehenden Einzelfunktionen sowie auch eine Reihe von Tests zur Unter¬
suchung der Struktur der arithmetischen Begabung ausgearbeitet und in
zahlreichen Vorversuchen an mehreren hundert Kindern beiderlei Geschlechts
und aller sozialen Schichten die Altersstufen ihrer Anwendungsmöglichkeit
festgestellt, so daß in nächster Zeit in die in größerem Umfange anzustellenden
Hauptversuche eingetreten werden kann. Hauptprobleme dieser Hauptunter¬
suchung sind: Aufhellung der Struktur der geometrischen und arithmetischen
Begabung, Feststellung des diagnostischen Wertes der ausgearbeiteten Tests,
der Beziehung der beiden erwähnten Seiten der mathematischen Begabung
zueinander und zur Allgemeinintelligenz und des Einflusses von Geschlecht
und sozialer Schicht.
Die Studien Ober geometrische Begabung führten zur Herstellung eines einfachen Prüfinstru¬
mentes, des „Formvariators“, durch W. Stern. Der Formvariator besteht aus einem würfel¬
förmigen Gestell aus 12 Stäben, die durch elastische Eckverbindungen miteinander verknüpft
sind. Die Gelenkigkeit ermöglicht die Herstellung der verschiedensten Flächen- und Raum-
gestalten. Der Variatorwürfel dient zur Prüfung der dynamisch-geometrischen Anschauung,
d. h. der Fähigkeit zur Vorstellung und Herstellung von Formwandlungen. Er ist zugleich als
Lehrmittel für den geometrischen Unterricht verwendbar (Nr. 51).
Die Beobachtungsmethode. Die hierher gehörigen Bestrebungen
werden seit einiger Zeit von Martha Muchow geleitet, die teils allein, teils
in Gemeinschaft mit einer Arbeitsgruppe tätig war. Bemerkenswert an dieser
Arbeit ist, daß neben der Psychologie des zu beobachtenden Schülers immer
deutlicher die Psychologie des beobachtenden Lehrers als ein gleich wichtiges
Problem erkannt wurde.*) Martha Muchow berichtet über diesen Arbeitskreis:
Bei allen praktischen Prüfungsuntemehmungen — Ausleseprüfungen von
Schülern und Eignungsprüfungen von Schulabgängern —, die vom Labo¬
ratorium vorgenommen wurden, ist besonderes Gewicht darauf gelegt worden,
daß neben den Ergebnissen der' experimentellen „Stichproben“ auch die
wertvollen psychologischen Beobachtungen des Lehrers hinreichend zur Geltung
kamen. Stets lag hei der endgültigen Entscheidung über die Eignung neben
den Prüfungsbefunden ein ausführliches Lehrerurteil vor, das eingehend
gewürdigt und berücksichtigt wurde. Unsere Erfahrungen haben die Berech¬
tigung der von Stern immer scharf betonten Forderung, das Lehrerurteil mit
heranzuziehen, bestätigt. Die Sicherheit der Auslese für die höhere Schule
wie für den Beruf wird dadurch, daß man an der Hand der Aufzeichnungen
*) Auch auf anderen Gebieten hat uns unsere Arbeit mehr und mehr zu der Feststellung
geführt, daß eine — erst zu schaffende — generelle und differentielle Psychologie des Lehrers
und Erziehers die Psychologie des Kindes und Jugendlichen ergänzen muß. “
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
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des Lehrers individualisierend vorzugehen in der Lage ist, wesentlich erhöht.
Andererseits hat aber auch die Erfahrung mit den mehreren Tausend aus¬
gefüllten Beobachtungsbogen, die hier im Laufe der Jahre zusammengekommen
sind, gelehrt, daß wir noch weit entfernt sind von einer ausreichenden Schulung
aller Lehrer für die erforderliche eingehende psychologische Beobachtung
ihrer Schüler. Bei dem Entwurf neuer Beobachtungsbogen und ihrer An¬
wendung gilt es daher stets neben der Frage der Zweckmäßigkeit des Bogens
für die Auslese auch die Frage nach der Möglichkeit seiner zweckentsprechenden
Ausfüllung und die Aufgabe einer eingehenden Vorbereitung der Lehrerschaft
auf die neue und recht schwierige Arbeit ins Auge zu fassen. Der Beobachtungs¬
bogen muß anregen und zugleich anleiten zur psychologischen Vertiefung
in die Natur des Schülers. Um die in diesem Sinne beste Form des Personal¬
bogens zu erreichen, wird es noch vieler Arbeit bedürfen — und vieler Er¬
fahrungen. Das Hamburger Laboratorium arbeitet an der Erreichung dieses
Ziels intensiv mit. Spezialbogen für die Auslese von zehnjährigen Begabten,
für die Ergänzung von Berufseignungsuntersuchungen verschiedener Art und
für die Beobachtung von Schulneulingen wurden hier entworfen. Eine Sammlung
der bisher publizierten Beobachtungsbogen, die im Entstehen begriffen ist,
und eine Zusammenstellung der Literatur zum Problem der Schülerbeobachtung,
die bereits weit über 100 Nummern aufweist, erleichtern den Überblick über
alle einschlägigen Fragen und erlauben, die auswärts gewonnenen Erfahrungen
nutzbringend zu verarbeiten und zu verwerten.
3. Beteiligung an Schülerauslesen,
a) Hamburg.
Die Mitarbeit der Psychologie an der Schülerauslese in Hamburg zeigt eine
merkwürdige Wellenbewegung, die aber lediglich durch außerwissenschaftliche
Momente bedingt ist. Nach einer längeren Pause brachte das letzte Semester
wieder besonders starke Anforderungen an das Laboratorium.
Die 1919 einsetzende Umwälzung der Schulorganisation bewirkte zunächst,
daß die F-Klassen, für deren Auslese wir bis dahin tätig gewesen waren 1 ),
nicht weiter erneuert wurden. Statt dessen aber erhob sich mit Einführung
der Einheitsschule ein Problem von viel umfassenderer Bedeutung: die Aus¬
lese für den Übergang von der Grundschule zur höheren Schule.
W. Stern hat in den letzten drei Jahren in Vorträgen und Aufsätzen,
in dem Buch „Psychologie und Schülerauslese“ (Nr. 35) und in einer von
zahlreichen Pädagogen unterschriebenen Erklärung auf der Reichsschulkonferenz
folgende zwei Gedanken ausgeführt: 1) Es genügt nicht, die Forderung der
Verfassung, daß die Einheitsschule lediglich nach Fähigkeiten und Neigungen
gegliedert sein solle, organisatorisch auszubauen; alle neuen Schultypen mit
ihren Lehrplänen und ihren Übergangsmöglichkeiten bleiben vielmehr so lange
rein papieren, als es nicht auch gelingt, die richtige — d. h. psychologisch
möglichst zutreffende — Zuweisung der Kinder in die ihren Begabungen
gemäßen Schulen zu erreichen. „Das rechte Kind in die rechte Schule.“
2) Die Verantwortung bei der Überführung von Grundschülern in die höheren
Schulen ist überaus schwer, da von ihr nicht nur das Lebensschicksal der
*) Vgl. S. 166.
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William Stern
Individuen, sondern auch die soziale und berufliche Gliederung der nächsten
Volksgeneration abhängt. Diese Schwere der Verantwortung fordert es, daß
man alle verfügbaren Hilfsmittel, welche das Urteil über die Fähigkeiten der
auszuwählenden Kinder zu sichern geeignet sind, heranziehe. Zu diesen
Hilfsmitteln gehören auch die psychologischen Methoden. Es ist deshalb ein
— nicht rein pädagogisches und nicht rein psychologisches, sondern — päda¬
gogisch-psychologisches Verfahren der Schülerauslese auszubilden.
Diese Forderungen stießen zunächst teils auf Verständnislosigkeit, teils auf
Widerspruch. Speziell in Hamburg glaubten weite Kreise der Lehrerschaft,
schulfremde Helfer, wie es die Psychologen seien, von der Beteiligung an
der Auslese femhalten zu sollen. Im Jahre 1920 wurden im wesentlichen nur
die üblichen Aufnahmeprüfungen abgehalten. 1921 wurden um jede in Be¬
tracht kommende höhere Schule herum „Bezirksauslese-Ausschüsse“ gebildet,
zu denen auch Vertreter der den Bezirken angehörigen Volksschulen gehörten.
Diesen Ausschüssen war es überlassen, nach eigenem Ermessen die Gesichts¬
punkte der Auslese zu bestimmen. Die verschiedensten Verfahrungsweisen
wurden angewandt: einfache Übernahme der von den Grundschullehrern
empfohlenen Kinder, Aufnahmeprüfungen (Kenntnisprüfungen) durch die
höhere Schule, Probeklassen von mehrtägiger Dauer, gegenseitiges Hospitieren
usw.; auch Tests scheinen hier und da in nicht näher kontrollierbarer Weise
zur Anwendung gekommen zu sein.
Die Ergebnisse dieses Verfahrens traten bald hervor. Zunächst hatte jener
Aufnahmemodus eine viel zu große Anzahl aufgenommener Schüler ergeben;
es mußten für diese weit mehr Unterklassen der höheren Schulen eingerichtet
werden, als dem bisherigen Bestand, den Finanzen des Staates und dem
Bedürfnis nach Nachwuchs mit höherer Bildung entsprach. Es hatte sich
ferner gezeigt, daß unter den Aufgenommenen ein verhältnismäßig großer
Teil von Versagern war; mehr als 20°/o entsprachen nicht den Anforderungen,
mußten sitzen bleiben oder an die Volksschule zurückgewiesen werden. Auch
unter denjenigen, die ohne jegliche Prüfung lediglich auf Grund der Emp¬
fehlung des Grundschullehres aufgenommen waren, gab es zahlreiche Ent¬
täuschungen. Diesen unerfreulichen Ziffern konnten nun die inzwischen
bekannt gewordenen Bewährungsziffern der psychologischen Auslese für die
F-Klassen (s. S. 166) gegenübergestellt werden. Diese waren überraschend
günstig; von den 1918 und 1919 ausgelesenen Schülern hatten nur 4—5°/o
infolge mangelnder Begabung den Anforderungen der F-Klassen nicht genügt.
Solche Erfahrungen hatten die Lage für 1922 wesentlich verändert und führten
zu einer erneuten Beteiligung des Laboratoriums an der Auslese für die Unter¬
klasse der höheren Schulen. Als nämlich jetzt die Oberschulbehörde eine
größere Schärfe und Vorsicht bei der Auslese forderte und den Bezirksaus¬
schüssen nahelegte, die Vorschläge der abgebenden Lehrer durch eine Nach¬
prüfung zu sichern, wurde aus diesen Ausschüssen selbst das Verlangen
nach einer psychologischen Gestaltung dieser Prüfung laut. Das Labora¬
torium erklärte sich bereit, den Wünschen zu entsprechen; eine Arbeitsgruppe
unter Leitung des Lehrers Godbersen und unter Teilnahme des Unterzeich¬
neten wurde eingesetzt, die während des Wintersemesters 1921/22 in inten¬
siver Arbeit die Vorbereitungen traf. Eine Reihe von Tests, die in Hamburg
noch unbekannt waren, wurden ausgesucht, außerhalb Hamburgs durch¬
geprobt, für begabte 10 jährige geeicht und schließlich so hergerichtet, daß
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Dss Psychologische Laboratorium der Hamburgiscben Universität
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ihre Anwendung auch den prüfenden Lehrern der Bezirksauslese-Ausschüsse
anvertraut werden konnte. Ausdrücklich wurde ausgesprochen, dafi diese
psychologische Prüfreihe nicht als alleinige Grundlage der Entscheidung an¬
gesehen werden dürfe, sondern daß sie dazu bestimmt sei, das aus Lehrer-
urteil und sonstigen Prüfungen gewonnene Bild der Fähigkeiten zu ergänzen
und zu sichern.
Den Bezirksausschüssen war es seitens der Behörde völlig anheimgestellt,
ob sie von dieser Möglichkeit psychologischer Prüfungen Gebrauch machen
wollten oder nicht; um so erfreulicher war es, daß ein recht beträchtlicher
Teil der Ausschüsse die Gelegenheit benutzte, so daß am 4. März 1922 im
ganzen mehr als 1100 zehnjährige Anwärter für die höheren Schulen einer
Intelligenzprüfung unterzogen wurden. Die vofi den Bezirksausschüssen
benannten Prüfer wurden vorher über die Art des Prüfverfahrens auf das
Genaueste instruiert und nachher mit dem Auswertungsverfahren für die Test¬
ergebnisse vertraut gemacht. Im übrigen wurde es den Ausschüssen selbst
überlassen, in welcher Form sie diese psychologischen Befunde mit den
sonstigen ihnen zur Verfügung stehenden Kriterien zu einem Gesamturteil
Ober jedes Kind vereinigten.
Die Prüfung wurde schriftlich in Gruppen vorgenommen; sie dauerte etwa
4 Stunden.
Die angewandten neun Tests beziehen sich auf die Fähigkeiten der Kombi¬
nation, der Kritik, der Definition, des Erfassens des Wesentlichen und des
Gedächtnisses für sinnvolle Wortbeziehungen. Es sind zum Teil Um¬
bildungen von Tests des Leipziger Lehrervereins und des Londoner Schul¬
psychologen Burt. Als Beispiele seien einige bisher unbekannte Tests in
verkürzter Form angeführt:
L Ein Schema eines vierstöckigen Hauses wird vorgelegt. Daneben steht folgender Text:
In diesem Hause wohnen vier Familien übereinander: Schneiders wohnen über Schröders,
Schmidts wohnen über Lehmanns, und Schneiders wohnen unter Lehmanns, Schreibe die
Namen der vier Mieter in der richtigen Reihenfolge in die Zeichnung.
H. Text: Hans schreibt aus Lüneburg an seinen Bruder Fritz: „Gestern batte ich in Harburg
Unglück; ich bin gefallen und habe mir was gebrochen. Heute bin ich nun hierher gewandert.“
Frage: „Kannst Du aus dem Briefe herausfinden, was sich Hans gebrochen hatte?“ Es wird
auf die vier an der Tafel stehenden Möglichkeiten hingewiesen; „Rechter Arm, linker Arm,
rechtes Bein, linkes Bein.“
ÜL Prüfer: Neulich habe ich in einer Klasse gefragt: „Warum sind die großen Städte immer
ungesunder als das Land?“ Ich erhielt gute und schlechte Antworten. Ihr sollt aus den fol¬
genden Antworten die zwei guten herausfinden.
I. Die Dorfstraßen sind fast immer schmutzig. 2. Krankheiten verbreiten sich, wo Leute
dicht zusammenwohnen. 3. Die Häuser auf dem Lande haben sehr niedrige Zimmer und ganz
kleine Fenster. 4. Es gibt in den Städten mehr Ärzte. 5. Der Rauch vieler Schornsteine und
der Atem vieler Menschen machen die Luft schlecht,
IV. Prüfer sagt: „Vor euch liegt eine Geschichte. Aus der sollt ihr ein Telegramm machen.
Denkt daran, daß das Telegramm ganz kurz sein muß und nur wenig/Wörter darin stehen
dürfen. Trotzdem muß alles Wichtige drin stehen. Also: Alle Hauptsachen — aber recht
kurz. Die Adresse könnt ihr fortlassen. Ich will euch die Geschichte voriesen, lest mit! „Der
Vater saß im Zuge nach Berlin. Da sehr nebliges Wetter war, übersah der Lokomotivführer
das Haltesignal, und es erfolgte ein Zusammenstoß mit dem vorauffahrenden Güterzug. Dabei
wurde der erste Wagen des Personenzuges stark beschädigt, einige Reisende wurden schwer
und viele leicht verletzt Der Vater saß glücklicherweise im letzten Wagen, der ganz unbe¬
schädigt blieb. Wie froh war er, daß er bei dem Unglück so gut davongekommen war! Seine
erste Sorge war, der Mutter Nachricht zu geben, ehe sie aus der Zeitung von dem Eisenbahn-
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ungltick erfahren würde. Er schickte ihr ein Telegramm. Was wird der Vater der Mutter
telegraphiert haben ?“ (An einem anderen Telegramm war den Kindern vorher der Sinn tele¬
graphischer Kürze klargemacht worden).
b) Auswärtige Auslesen.
Wie stark inzwischen auch anderwärts das Verständnis und Interesse für
psychologische Auslesemethoden gestiegen war, zeigt die Tatsache, daß gleich*
zeitig noch zwei Anregungen dieser Art an das Laboratorium herantraten:
aus Altona und aus Sachsen. Beiden wurde entsprochen. Es handelt sich
hier um ganz andere Organisationsprobleme und um andere Altersstufen als
in Hamburg, so daß, gleichzeitig mit den Begabungsuntersuchungen an 10-
jährigen, auch solche an 7 jährigen und an 13—14 jährigen von uns veran¬
staltet werden mußten.
Über diese beiden Auslesen mögen die Berichte der Gruppenleiter folgen.
Begabungsdifferenzierung von Schulneulingen in Altona.
Im Wintersemester 1921/22 hat eine Arbeitsgruppe des Psychologischen
Laboratoriums den Versuch gemacht, Methoden zur Begabungsfeststellung
Siebenjähriger auszuarbeiten. Die pädagogische Praxis selbst drängte uns
zu dieser Arbeit. Nachdem man jahrelang mit großem Eifer das Einheits¬
schulprogramm erörtert und die Theoretiker, in deren Konstruktionen bald
mehr historische und aprioristische, bald mehr psychologistische Erwägungen
im Vordergrund standen, zur Genüge gehört hat, ist gewiß jeder Versuch,
die Praxis entscheiden zu lassen, zu begrüßen. Einen solchen Versuch hat
man Ostern 1921 in Altona gemacht. Hier besteht seit diesem Termin an
einer Knaben- und Mädchen-Volksscbule das sogenannte „Parallelklassen¬
system“. Rektor Julius Edert, der seit langem für dieses System eingetreten
ist, hat in dem Schulblatt der Provinz Schleswig-Holstein (Febr. 1922) eine
ausführliche Darstellung seiner Gedanken gegeben. Ostern 1921 wurden jeder
der beiden Volksschulen etwa 120 Schulneulinge zugewiesen. Nach einiger Zeit
wurden die Schüler mit Rücksicht auf ihre Begabung von den Lehrern dif¬
ferenziert und drei verschiedenen Klassen zugewiesen, so daß wir jetzt einen
A-Zug mit begabten, einen B-Zug mit mittel- und einen C-Zug mit Schwach¬
begabten Schülern haben. Edert selbst tritt für Vierzügigkeit ein (also A-Zug 50,
B 50, C 35, D 25 Schüler); aber die Schuldeputation hat bis jetzt nur das
dreizügige P.-S. bewilligt. Es ist klar, daß die Scheidung der Kinder nach
Begabungsrücksichten keine leichte Aufgabe darstellt. Als nun Prof. Stern ge¬
beten wurde, die von den Lehrern vorgenommene Differenzierung mit psycho¬
logischen Methoden nachzuprüfen, gab er seine Zustimmung. Wenn auch der päd¬
agogisch orientierte Betrachter dem P.-S. außerordentlich kritisch gegenüber¬
stehen mag, so wird doch der Psychologe die Gelegenheit gern ergreifen,
1. ein in theoretisch-psychologischer Hinsicht sehr interessantes Material über
die Welt der Siebenjährigen zu erhalten, 2. seine Untersuchung an den nach
Lehrerurteil bereits differenzierten Kindern vornehmen zu können.
Uns war sofort klar, daß wir in den Einzelversuchen das Binet-Simon-
Verfahren nicht anwenden konnten, daß wir also zur Ausarbeitung und Zu¬
sammenstellung anderer Prüfmittel schreiten mußten. Im Laufe unserer Arbeit
suchten wir eine Testzusammenstellung, die Ergebnisse differentieller Natur
liefert, zu gewinnen. An etwa 450 Volksschulkindem Hamburgs und Berge-
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
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dorfs wurden Vorversuche gemacht; Prüfmittel, die, wie ein Vergleich mit
der Intelligenzschätzung des Klassenlehrers zeigte, nicht differenzierend wirkten,
wurden ausgeschaltet. Hier können nur kurz die Prüfmittel, die unter diesem
Gesichtspunkt verwertbar erschienen, angegeben werden : Betrachten von drei
Bildern, Ordnen einer Bilderserie, Ordnen von Gewichtskästchen, Ordnen von
Kreisen nach der Größe und Helligkeit, Ergänzungstest, Prüfmittel zur Fest¬
stellung der räumlichen Vorstellungsfähigkeit (Zusammensetzen einer Kirche,
Legen der Teilbilder auf ein Lotto), Tests für Konzentrations- (Sortieren von
Schrauben) und Merkfähigkeit.
Die psychologische Prüfung der 240 Kinder aus den Altonaer Parallelklassen
fand am 11. März 1922 statt. Methodisch unterschied sich das Verfahren
von allen früheren dieser Art dadurch, daß es individualisierend Vor¬
gehen mußte. Schriftliche Gruppenprüfungen sind ja bei Siebenjährigen nicht
möglich. Es war ein Aufgebot von 30 genau instruierten Prüfern (Teilnehmern
der psychologischen Übungen und Vorlesungen) nötig, um die Arbeit in lauter
Einzelprüfungen an einem Vormittag zu schaffen. Jeder Prüfer übernahm
eine Testgruppe, in der er nacheinander etwa 30 Kinder prüfte.
Die Prüfung soll nicht nur als Überprüfung der bisher vom Lehrer differen¬
zierten Kinder dienen, sondern — falls sich die Methode bewährt — bei
künftigen Differenzierungen mit herangezogen werden. Außerdem ist zu
hoffen, daß das Verfahren für die Psychologie und Pädagogik der Sieben¬
jährigen auch anderweitige Ergebnisse liefert. Klüver.
Auslese für sächsische Aufbauschulen.
Im Freistaate Sachsen werden Ostern 1922 fünf Lehrerseminare in deutsche
Aufbauschulen umgewandelt. Sie nehmen nach 7—8 jährigem Schulbesuch
Volksschüler aller Schulgattungen auf und führen sie nach einem 6 jährigen
Ausbildungsgange bis zur Universitätsreife. Die Aufnahmeprüfung in diese
neue Art höherer Schule ist die „Begabtenprüfung“, wie sie in Berlin, Ham¬
burg und Dresden bereits mit Erfolg durchgeführt worden ist. Der Unter¬
zeichnete, der im Wintersemester 1921/22 teilnahm an dem für auswärtige
Lehrkräfte bestimmten Lehrgang für pädagogische Psychologie am Hamburger
Laboratorium, wurde von der sächsischen Behörde zum Leiter der Prüfungen
bestimmt. Aus Mitgliedern dieses auswärtigen Kursus und unter Mitarbeit
von Herrn Dr. R. Peter bildete sich Anfang Januar im Hamburger Psycho¬
logischen Institut nun die Arbeitsgemeinschaft „Sächsische Auslesegruppe“.
Klarheit herrschte von Anfang an darüber, daß bei dem verschiedenartigen
Schalermaterial, das aus allen möglichen Schulformen des reichgegliederten
sächsischen Volksschulwesens sich meldete, eine Kenntnisprüfung alten Stils
nicht in Frage kam. Man hätte mit ihr doch nur den mehr oder weniger
reichhaltigen Lehrplan der betr. Schule oder den Lehrer geprüft und dann,
wie früher, alle Schüler aus wenig gegliederten Schulen abweisen müssen.
Eine Fähigkeitsprüfung auf Grund zahlreicher Testgruppen, die alle Anwärter
gleichen Bedingungen unterwarf, war hier das Gegebene. Ebenso klar war
nn« aber von vornherein, daß die Testprüfung nicht allein entscheidend sein
durfte über Aufnahme oder Nichtaufnahme eines Schülers; denn eine Menge
für das Fortkommen auf der höheren Schule außerordentlich wichtiger Mo¬
mente, die im Willens- und Gefühlsleben, im Fleiß usw. verankert sind,
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William Stern
werden von der Prüfung nicht erfaßt Darüber muß uns der Lehrer Aus¬
kunft geben aus dem Schatze seiner langjährigen Erfahrungen und Beobach¬
tungen. Um nun einen der zahlreichen, ausführlichen Beobachtungsbogen,
etwa den Chemnitzer, Berliner, Hamburger, dem Lehrer zur Ausfüllung zu
übergeben, dazu schien uns die Zeit zu kurz; nur sechs Wochen standen zur
Verfügung, und außerdem fordert eine gewissenhafte Ausfüllung eine ein¬
gehende Einführung in die Technik psychologischen Beobachtens, die nicht
mehr gegeben werden konnte. So einigten wir uns auf die Forderung eines
psychologischen Schülerbildes, das uns gleichzeitig Material schaffen sollte für
die Lösung des Problems: Beobachtungsbogen oder freie Schülercharakteristik.
Folgendes Schema sollte dem Lehrer zeigen, welche Gesichtspunkte bei der
Beurteilung eines Schülers uns besonders wichtig erschienen:
Schema eines psychologischen Schülerbildes.
I. Gefühlsleben: Temperament, Affekte, Selbstgefühl, Mitgefühl, Ehrgefühl
II. Willensleben: Triebe, Willensstärke, Beharrlichkeit, Selbstbeherrschung, Geistes¬
gegenwart oder Kopflosigkeit.
III. Verhalten in der Gemeinschaft: bei Spiel, Unterricht, Selbstverwaltung, Wanderung,
in der Familie, bei praktischer Arbeit. Ein- oder Unterordnung, Führer, Außenseiter,
soziales Pflichtbewußtsein.
IV. Arbeitsart: schnell oder langsam, oberflächlich oder gründlich. Sind Tempo und
Qualität gleichmäßig? Beeinflussung durch Prüfungen und Mitschüler.
V. Auffassungsfähigkeit: schnell oder langsam, mehr phantasiemäßig oder logisch.
VL Aufmerksamkeit: Stärke, Dauer, Ablenkbarkeit, Konzentrationsfähigkeit
VH. Beobachtung: beobachtet es selbständig, gibt es Beobachtungen genau wieder, erfaßt
es Gesamtzusammenhang oder nur Teile (Einzelheiten)?
VIII. Gedächtnis: Lernt es schnell oder langsam, mechanisch oder sinngemäß? Ist das
Gedächtnis dauerhaft, treu, schlagfertig? Besonderes Gedächtnis.
IX. Phantasie: nüchtern oder phantasievpll.
X. Denktätigkeit: selbständiges Urteilen oder kritikloses Hinnehmen, Finden des Wesent¬
lichen und Unwesentlichen.
XI. Verhältnis von Fleiß und Begabung zu den Leistungen.
XII. Besondere Begabungen und besondere Interessent Oben sie besondere Wir¬
kungen auf die angeführten Funktionen aus?
XIIL Allgemeine Charakteristik.
Bei der Aufstellung der Tests leitete uns die Erkenntnis, daß nur aus
einer Vielheit der geprüften Anlagen und Fähigkeiten der Kern der einheit¬
lichen Persönlichkeit ersehen werden könne, daneben mußten natürlich die
Begabungsrichtungen besonders getroffen werden, die dem Schüler ein gutes
Fortkommen auf der höheren Schule erst möglich machen. So entstand fol¬
gender umfangreicher Prüfungsplan:
I. Gedächtnis für sinnvolle Stoffe (15 Gruppen von je 3 in sinnvoller Beziehung stehenden
Worten. — 3 lange Sätze).
II. Freie Kombination (3 Beispiele nach Piorkowskischer Variationsmethode).
III. Bildbetrachtung: „Das Wiedersehen“ (Beobachtung, Einfühlung: Darstellung — Finden
einer Überschrift).
IV. Analogien: 10 Beispiele (Ei — Schale, Buch—?).
V. Sprachliche Tests (Gedächtnis für fremdsprachl. Stoffe: gotische Deklination. — Sprachlich¬
rubrizierendes Denken: Unterscheiden von bewirkten und erzeugten Akkusativen).
VI. Finden des Wesentlichen (Herstellung eines Telegramms aus einein Brief. — Nieder-
sch reiben der Bildgeschichte [Test III] in 5 Zeilen).
VII. Definieren von Begriffen.
vm. Kritikfähigkeit (Finden von Sinnwidrigkeiten in einem gegebenen Text).
IX. Ordnungstests (Worte zu einer Geschichte ordnen. — Aufstellung eines Schemas).
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X. Mathematisches (Erkennen von Teilfiguren in einer Gesamtfigur. — Herstellen einer Ge¬
samtfigur aus Teilen. — Formvariator (beweglicher Würfel nach W. Stern) —
Finden der Gesetzmäßigkeit einer Reihe).
XL Beobachtungen am natürlichen Vorgang (Doppelpendelversuch).
X1L Konzentration.
Die Prüfungen fanden Anfang März statt; für jede Anstalt waren zwei Tage
gerechnet. Ober die Ergebnisse wird berichtet werden. Schwärig.
4. Psychologie der Reifezeit.
Bis vor wenigen Jahren war die wissenschaftliche Arbeit der pädagogischen
Psychologie fast ganz auf die frühe Kindheit und die Schulkindheit beschränkt;
aber die große Bedeutung, die in letzter Zeit das „Jugendproblem“ in engerem
Sinne gewonnen hat, fordert jetzt auch die Beteiligung der psychologischen
Forschung. Jugendbewegung, Jugenderotik, Jugendkriminalität, Eintritt ins
Berufsleben stellen neuartige psychologische Aufgaben. Die besondere Struktur
des jugendlichen Seelenlebens macht eine Umstellung in den Forschungs¬
methoden notwendig.
Unser Institut hat in den letzten Jahren einen ersten Anfang gemacht, sich
mit diesen Fragen zu beschäftigen.
Theoretisch hat der Unterzeichnete das „Seelenbild der reifenden Jugend“
in seinen Wesenszügen und in seiner typischen Unterscheidung von der
Lebensform der Kindheit wie der der Erwachsenheit zu zeichnen versucht.
Diese Darstellung, bisher in Vorträgen und im Schlußteil der Wintervorlesung
entwickelt, wird noch in diesem Jahre als Buch erscheinen.
Unsere empirische Speziaiarbeit hatte zunächst schon innerhalb derBe-
gabungs- und Eignungsforschung über die Grenze der Schulkindheit hinaus¬
geführt; Lehrling6prüfungen, Aufnahmeprüfungen für das Lehrerinnenseminar,
Beobachtungsbogen von Schulabgängern forderten durchweg die Berücksich¬
tigung jener geistigen Wandlungen und Differenzierungen, wie sie mit Be¬
ginn der Pubertät in die Erscheinung treten. Die Arbeit von Minkus und
Stern über den Bindewortergänzungstest (Nr. 29) behandelt bereits neben
Volksschülern auch Fortbildungsscbüler. Die Studien über die Beziehung
zwischen Intelligenz und moralischer Reife, wie sie von der Arbeitsgruppe
Dr. Boden mit Hilfe bestimmter Tests durchgeführt wurden (s. S. 183), be¬
zogen sich ebenfalls zum beträchtlichen Teil auf die Pubertätszeit.
Endlich aber wurden auch solche psychische Tatbestände untersucht, die
ganz spezifisch dem Jugendallerangehören: Jugendbewegung und Strafvollzug
an Jugendlichen. Der Mitarbeiter des Instituts, Curt Bondy, ein genauer Kenner
der Jugendbewegung in ihren verschiedenen Zweigen, unternahm es, die
bisher am wenigsten studierte Form, nämlich die proletarische Jugend¬
bewegung, einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Als Methoden
dienten ihm: Ausfüllungen eines an zahlreiche Jugendliche entsandten Frage¬
bogens, Sammlung von Dokumenten (Tagebüchern, Gedichten, Briefen), eigene
Beobachtungen im Zusammenleben mit den Jugendlichen. Die auf Grund
dieses Materials ausgearbeitete „Psychographie der proletarischen Jugend¬
bewegung“ umfaßt folgende Kapitel: Geschichte der proletarischen Jugend¬
bewegung in Hamburg; Form und Grundsätze der Lebensführung; das geistige
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 13
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Leben, insbesondere Verhalten zu Kunst, Politik, Weltanschauung; Verglei¬
chung mit der bürgerlichen Jugendbewegung. (Kurze Mitteilungen hierüber:
Nr. 43/44; die ganze Arbeit, eine Hamburger Doktordissertation, erscheint
demnächst als Buch: Nr. 50.)
In Beziehung zu dem Problem des Strafvollzugs an Jugendlichen trat
das Institut dadurch, daß Dr. Bondy im Herbst 1921 in das Jugendgefängnis
eintrat, um zunächst als Aufseher, dann zugleich auch als Sozialbeamter
tätig zu sein. Ausgehend von dem Gedanken, daß die sehr dringliche Re¬
form des Jugendgefängniswesens ohne genauere Kenntnis der Psyche der
jugendlichen Gefangenen nicht möglich sei, gründete er eine Arbeitsgruppe
am Laboratorium, die er gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Hilfsarbeiter
des kriminalistischen Seminars, Dr. Grünhut, leitete. Hier werden die von
Bondy gesammelten Beobachtungen besprochen, Aufsätze der jugendlichen
Gefangenen analysiert, Tests vorbereitet und verarbeitet. So beginnt sich
allmählich ein bisher noch ganz verschlossenes Feld dem Auge des Psycho¬
logen zu öffnen; zurzeit läßt sich freilich noch nicht Voraussagen, wann und
in welcher Form diese Einsichten zur Grundlage einer veränderten Behand¬
lung, vielleicht auch einer organisatorischen Differenzierung der jugendlichen
Gefangenen werden können.
Schlußbemerkung.
Noch ist kein halbes Jahrhundert verflossen, seitdem Wilhelm Wundt in
Leipzig das erste psychologische Laboratorium gegründet hat. Damals meinte
Fechner in einer Mischung von Ernst und Scherz: wenn man es so im Großen
treibe, dann werde das ganze Gebiet bald abgeackert sein. Fechner hatte
sich geirrt. Heute wissen wir, daß wir erst in den Anfängen einer unab¬
sehbaren wissenschaftlichen Arbeit stehen. Der obige Bericht versuchte zu
zeigen, wie gerade im letzten Jahrzehnt Gesichtspunkte, Problemstellungen
und Methoden der Psychologie eine beträchtliche Erweiterung und eine durch¬
greifende Wandlung erfahren haben, daß ferner neben den theoretischen
Fragen die früher ganz unbekannt gebliebenen praktischen Anforderungen
die Kräfte eines psychologischen Laboratoriums in Anspruch nehmen. Das
Hamburger Institut hat versucht, dieser Zunahme der Aufgaben gerecht zu
werden, soweit es irgend seine begrenzten Hilfsmittel, Personalkräfte und
Räume gestatteten. Den Behörden, welche die äußeren Bedingungen hierfür
schufen, und den hauptamtlichen wie freiwilligen Mitarbeitern, die unermüd¬
lich und in nie getrübter Gemeinschaft am Werk halfen, sei herzlich gedankt.
Trotz der schweren Zeiten hoffen wir auf eine weitere Entwicklung des
Laboratoriums, damit es auch in Zukunft, wenn die Anforderungen noch
mehr wachsen werden, der wissenschaftlichen Forschung, Lehre und An¬
wendung nach Gebühr dienen kann.
Hamburg, Ende März 1922. William Stern.
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Das Psychologische Laboratorium der Hamburgiscbeo Universität
195
Wissenschaftliche Veröffentlichungen,
die aus dem Psychologischen Laboratorium hervorgegangen sind
(oder mit seiner Arbeit in Zusammenhang stehen).
Abkürzungen: ArGsPs. = Archiv f. d. gesamte Psychologie. — ZPdPs. = Ztschr. f. pädagog. Psycho¬
logie. — ZAngPs. = Ztschr. f. angewandte Psychologie. — ZPs. = Ztschr. f. Psycho¬
logie. — SchrPsBer. = Schriften zur Psychologie der Berufseignung.
1012 .
1. E. Meamann, Ein Programm zur psychologischen Untersuchung des Zeichnens. ZPdPs. Xlll.
2. E. Meumann, Beobachtungen über differenzierte Einstellungen bei Gedächtnisversuchen.
ZPdPs. xm.
3. E. Meumann u. R. H. Go Id Schmidt, Anleitung zu praktischen Arbeiten in der Jugend-
kunde und experimentellen Pädagogik. ZPdPs. XIII.
4. W. Hasserodt, Das Institut für experimentelle Psychologie in Hamburg. ZPdPs. Xin.
1013.
5. W. Hasserodt, Gesichtspunkte zu einer experimentellen Analyse geometrisch-optischer
Täuschungen. ArGsPs. XXV11L
6. O. Hasserodt, Bilderunterricht. ZPdPs. XIV.
7. E. Meumann, Die soziale Bedeutung der Intelligenzprüfungen. ZPdPs. XIV.
1014.
8. Imre u. Bischoff, Experimentelle Untersuchungen über die Bewegungsgeschicklichkeit und
Zieltreffsicherheit. 0. Beiheft zum Jahrbuch der Hambg. Wissenschaftlichen Anstalten. XXXI*
9. Ernst Bischoff, Experimentelle Untersuchungen über die Bewegungsgeschicklichkeit und
Zieltreffsicherheit mit Berücksichtigung des Arbeitsproblems. Ebda.
10. F. Boden, Untersuchungen über den Einfluß des Fehlerwissens auf Arbeiten aus dem Gebiet
der Bewegungsgeschicklichkeit und Zieltreffsicherheit. Ebda.
11. Wassil Petkoff, Ober die Auffassung und Wiedergabe geometrischer Formen bei normalen
und anormalen Menschen. Ebda.
12. F. Boden, Ein zivilprozessualer Aussageversuch. ArGsPs., XXXII, S. 257.
13. R. Peter, Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung. ZPdPs. XV.
14. O. Hasserodt, Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis. ZPdPs. XV.
15. G. Anschütz, Zwei neue Ergographen. ZPdPs, XV,
1011/14.
16 . E. Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psycho¬
logischen Grundlagen (Bd. I, 2. AuH, 1911; Bd. II, 2.Aufl., 1913; Bd.HI, 1914).
1015.
17. Th. Kehr, Allgemeines zur Theorie der Perzeption der Bewegung. ArGsPs. XXXIV,
18. R. Peter, Untersuchungen über die Beziehungen zwischen primären und sekundären Fak¬
toren der Tiefenwahrnehm ung. ArGsPs. XXXIV«
_ 1016.
19. Theodor Kehr, Versuchsanordnung zur experimentellen Untersuchung einer kontinuierlichen
Aufmerksamkeitsleistung. ZAngPs. XI.
20. Theodor Kehr, Das Bewußtseinsproblem.
1017.
21. W. Stern, Die Psychologie und der Personalismus. Leipzig, Barth.
1018.
22. W. Stern, Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher, In: Das psychologisch-päda¬
gogische Verfahren der Begabtenauslese. Eine Sammlung von Beiträgen, herausgeg. von
W. Stern. Leipzig, Quelle und Meyer. Zugleich ZPdPs. XIX.
23. O. Melchior u. A. Penkert, Über die Anwendung zweier psychologischer Methoden bei
der Aufnahme in ein Lehrerseminar. Ebda.
24 m W. Stern, Die Methoden der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. Ebda.
25. W. Stern, Über eine psychologische Eignungsprüfung für Straßenbahnfahrerinnen. SchrPsBer.
Heft 2# Leipzig, Barth u. ZAngPs. Xlll.
13*
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
196
William Stern, Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität
26. W. Heinitz, Vorstudien über die psychologischen Arbeitsbedingungen des Maschinen¬
schreibens. SchrPsBer. Heit 4 u. ZAngPs. XIII.
27. W. Stern, Die menschliche Persönlichkeit. Leipzig, Barth.
1919.
28. Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. Bericht über das psychologische Verfahren.
In Gemeinschaft mit 0. Bobertag, L. Heit sch, H. Meins, M. Muchow, A. Penkert, H. P. Roloff,
G. Schober, H. Werner und O. Wiegmann herausgegeben von R. Peter und W. Stern. Ham¬
burger Arbeiten zur Begabungsforschung Nr. I. (Beiheft 18 zu ZAngPs.) Leipzig, Barth.
29. Untersuchungen über die Intelligenz von Kindern und Jugendlichen. Von W. Minkus, W. Stern,
H. P. Roloff, G. u. A. Schober, A. Penkert. Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung
Nr. II. (Beiheft 19 zu ZAngPs.) Leipzig, Barth.
30. W. Benary, Kurzer Bericht über Arbeiten zu Eignungsprüfungen für Fliegerbeobachter. I.
SchrPsBer. Heft 8 u. ZAngPs. XV.
31. Heinz Werner, Rhythmik, eine mehrwertige Gestaltenvcrkettung. ZPs. Bd. 82.
32. M. Muchow, Psychologischer Beobachtungsbogen für Schulkinder. Sonderdruck aus Nr. 28
des Verzeichnisses.
33. M. Muchow u. W. Höper, Beobachtungsbogen und Schülerauslese. ZPdPs. XX.
1920.
34. W. Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen. (Anstelle einer 3. Auflage des
Buches: Die Intelligenzprüfungen an Kindern und Jugendlichen.) Leipzig, Barth.
35. W. Stern, Die Psychologie und die Schülerauslese. (Sonderdruck aus Nr. 34 dieses Ver¬
zeichnisses).
36. Otto Wiegmann und William Stern, Methodensammlung zur Intelligenzprüfung von
Kindern und Jugendlichen. Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung Nr. Hl (Beiheft 20
zur ZAngPs.).
37. W. Benary. Kurzer Bericht über Arbeiten zu Eignungsprüfungen für Fliegerbeobachter. IL
SchrPsBer. Heft 12, und ZAngPs. XVI.
38. Hildegard Sachs, Zur Organisation der Eignungspsychologie. SchrPsBer. Heft 14.
39. Hildegard Sachs, Studien zur Eignungsprüfung der Straßenbahnführer. 1. Abhandlung.
Methode zur Prüfung der Aufmerksamkeit und Reaktionsweise. Ebenda, Heft 15, und
ZAngPs. XV1L
40. W. Steinberg, Die Raumwahrnehmung der Blinden. München, Reinhardt.
1921.
41. H. P. Roloff und W. Stern, Psychologische Auslese der Lehrlinge für deutsche Eisenbahn¬
werkstätten. ZPdPs. XXH, 1, 2.
42. Erich Stern, Die Feststellung der psychischen Berufseignung und die Schule. Nr. 4 der
„Hamburger Arbeiten zur Begabungsforscbung*. (Beiheft 26 zu ZAngPs.) Leipzig, Barth.
43. Curt Bondy, Methodische Hilfsmittel zur Psychographie von Jugendorganisationen.
ZPdPs. XXII, Heft 11/12.
44. W. Stern, Zur Psychographie der proletarischen Jugendbewegung. ZPdPs. XXII, Heft 11/12.
45. W. Stern, Richtlinien für die Methodik der psychologischen Praxis. In: Vorträge zur ang.
Psychologie, gehalten auf dem Marburger Psychologischen Kongreß. Beiheft 30 zur ZAngPs.
46. Thea Heinrich, Die Rolle des Umweltfaktors in der Entwicklung der Lebensform des
jugendlichen Rousseau. (Diss.)
Ferner: 2. Auflage von Nr. 28. 2. stark vermehrte Auflage von Nr. 34.
1922.
47. H. Werner, Grundfragen der Intensitätspsychologie. Ergänzungsband X der ZPs. Leipzig.
Barth.
48. H. P. Roloff, Vergleichend psychologische Untersuchungen über kindliche Definitions-
leistungen. Nr. 5 der „Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung 41 . (Beiheft 27 zu ZAngPs.)
Leipzig, Barth.
49. R. Peter, Studien über die Struktur des Sehraumes. I (Dissert.)
50. C. Bondy, Die proletarische Jugendbewegung in Deutschland. Mit besonderer Berück¬
sichtigung der Hamburger Verhältnisse. Lauenburg a. d. E., Verlag Saal.
51. W. Stern, Der Formvariator. ZPdPs. XXHI, Heft 3/4.
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UNIVERSITY 0F MICHiGAN
M. Vaörting, Aufmerksamkeit niederer u. höh. Ordnung u. ihre Bezieh, zum Begabungsproblem 197
Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre
Beziehung zum Begabungsproblem.
Von M. Vaerting.
Fast bei allen Begabungs- und Berufseignungsprüfungen spielt heute die
Ermittlung der Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit eine große
Rolle. Infolgedessen hat die Experimental-Psychologie bereits eine ganze
Anzahl von Methoden zur Untersuchung dieser Fähigkeit ausgebildet.
Bei den heutigen Methoden lassen sich deutlich zwei Gruppen unterscheiden.
Die Aufmerksamkeitsproben der ersten Gruppe sind vor allem dadurch ge¬
kennzeichnet, daß sie vom Prüfling eine möglichst mechanische, zumeist so¬
gar eine völlig sinnlose Tätigkeit verlangen. Die Leistung knüpft sich vor
allem an Gedächtnis- und Sinnesfähigkeiten, also an Fähigkeiten niederer
Ordnung. Die Denkleistung hingegen wird nach Möglichkeit ausgeschaltet,
auf ein Minimum beschränkt. Dadurch wird gerade das Mechanische der
Tätigkeit möglichst vollkommen hergestellt.
Ein typisches Beispiel dieser Gruppe ist z. B. der Bourdon-Test in allen
Beinen verschiedenen Abänderungen, der heute sowohl bei Begabungs- als auch
bei Berufseignungsprüfungen mit Vorliebe verwandt wird. Bei dem Versuch
wird eine Durchstreichung bestimmter festgesetzter Buchstaben in einem
vorgelegten Text gefordert. Bei der ersten Berliner Begabtenprüfung 1 ) kam
er z. B. in folgender Form zur Anwendung: Den Kindern wurden gleiche
Texte vorgelegt und die Verabredung getroffen, in einer gegebenen Zeit alle
a, e und n durchzustreichen, die dem Kinde beim Durcheilen der Druckzeilen
aufstießen. Gewertet wurde Menge und Richtigkeit der Leistung. Bei einer
Berufseignungsprüfung 2 ) wurde der Versuch z. B. dadurch kompliziert, daß
nur alle gesprochenen a und e in einem Texte durchstrichen werden sollten
und zwar derart, daß die a von links nach rechts und die e von rechts nach
links markiert werden sollten. Nicht durchgestrichen werden durften hin¬
gegen alle stummen e, sowie alle a und e in Doppellauten. Gewertet wurde
bei der Probe die Anzahl der richtig durchgestrichenen Buchstaben sowie
die Zeit, in der die Leistung vollbracht wurde.
Auch die anderen Proben, welche bei der gleichen Gelegenheit zur An¬
wendung kamen, verlangten alle eine Leistung ohne Zweck und Sinn. So
wurde bei der Begabtenprüfung ferner gefordert, Worte hinzuschreiben, die
sich auf Gegenstände des Zimmers bezogen, zweisilbige Dingworte waren
und kein gesprochenes a, e und n enthielten. Eine andere Prüfung bestand
darin, auf ein Stichwort hin in einer gegebenen Zeit alle Worte hinzu¬
schreiben, die ebenfalls mehreren materialen und formalen Bedingungen ge¬
nügten, ebenfalls Reaktionen auf das Reizwort waren und keine a, e und n
enthielten. Bei den Bourdon-Tests spielt Gedächtnis und Sinneswahmehmung
eine große Rolle, ohne daß ihr Einfluß im Ergebnis eliminiert würde.
Eine ganze Anzahl von Tests, welche heute zur Untersuchung der Auf¬
merksamkeit verwandt werden, setzen ein außerordentlich starkes Gedächtnis
') Moede-Piorkowski-Wolf: Die Berliner Begabtenprüfung 1918.
*) Piorkowski: Ober eine Angestelltenprüfung bei der Auerlicht-Gesellscbaft, Prakt. Psycho¬
logie 1920.
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198
M. Vaörting
voraus. Diese Tests werden bezeichnenderweise als besonders schwere
Proben bezeichnet, welche die Konzentrationsfähigkeit besonders scharf er¬
fassen und Höchstleistungen auf diesem Gebiete erfordern.
Z. B. verwandte Piorkowski *) bei einer Angestelltenprüfung für die Auer-
licht-Gesellschaft folgende Aufgabe. Sämtlichen Prüflingen wurden drei
Zahlen gesagt und ihnen dann aufgegeben, zugerufene Zahlen zu den drei
Grundzahlen im Kopfe jeweils hinzuzuaddieren oder abzuziehen, wobei sie
die einzelnen Reihen streng auseinanderhalten mufiten. Das Endresultat
mußte für jede Reihe richtig angegeben werden.
Bei dieser Probe wird an erster Stelle nicht die Konzentrationsfähigkeit,
sondern das Gedächtnis, besonders das Zahlengedächtnis, geprüft. Alle Prüf¬
linge mit weniger starker Gedächtnisfähigkeit mußten von vornherein selbst bei
ganz außerordentlicher Konzentrationsfähigkeit zum Versagen verurteilt sein.
Ebenso ist es bei den Prüfungen der sogenannten disparaten Aufmerk¬
samkeit. Bei den Berliner Begabtenprüfungen wurde z. B. ein gleichzeitiger
Vollzug mehrerer geistiger Leistungen gefordert. Die Kinder mußten fort¬
laufend im Kopfe multiplizieren und die Lösungen der Aufgaben in ein Heft
eintragen, gleichzeitig eine Geschichte anhören und nach Beendigung der
vorgelesenen Erzählung diese möglichst genau niederschreiben. Die hierbei
erzielte Leistung wurde als Maß der Konzentrationsfähigkeit gewertet
Unzweifelhaft wird aber die Höhe der Leistung hier nicht nur vom Grade
der Aufmerksamkeit bestimmt, sondern mindestens in gleichem Maße von
der Fähigkeit des momentanen Behaltens. Der Konzentrationseffekt wird
vor allem vom Gedächtniseffekt überdeckt. Der Versuch, den Grad der
Gedächtnisfähigkeit zu eliminieren, wurde nicht gemacht.
Bei anderen Konzentrationsproben der ersten Gruppe spielt außer der
Stärke der Aufmerksamkeit die Sinneswahrnehmung eine Hauptrolle. Kehr 2 )
hat eine tachistoskopische Abänderung des Bourdontests ersonnen, bei welchem
die Sinneswahmehmung von ausschlaggebender Bedeutung für die Aufmerk¬
samkeitsleistung ist Piorkowski 3 ) hat eine Anzahl derartiger Versuche für
jedes Sinnesgebiet zusammengestellt. Bei dem Moedeschen Tastsinnprüfer
wird z. B. die Aufgabe gestellt, zwei Platten derart genau in eine Ebene zu
bringen, daß zwischen den beiden Platten auch nicht mehr der geringste
Höhenunterschied besteht, sondern sie absolut ineinander übergehen. Ferner
beschreibt Piorkowski einen von ihm selbst konstruierten Apparat mit fünf
Quecksilberröhrenpaaren, daran Steigen und Fallen vom Prüfling nach be¬
stimmten Vorschriften auf mechanischem Wege reguliert werden muß. Pior¬
kowski will durch Vergleich der Resultate verschiedener Methoden den
Einfluß der Sinnesqualität eliminieren, um den reinen Effekt der Konzentra¬
tionsfähigkeit zu erhalten.
Die Methoden der ersten Gruppe haben lange Zeit allein die experimentelle
Aufmerksamkeitspsychologie beherrscht. Sie nehmen auch heute noch in der
Theorie und besonders in der Praxis den breitesten Raum ein.
Die Methoden der zweiten Gruppe haben sich erst jüngst auf Grundlage
•) «. a. O. S. 34.
’) Versuchsanordnung zur experimentellen Untersuchung einer kontinuierlichen Aufmerksam-
keiUleistung. Ztschr. f. angew. Psych., Bd 11.
Ober Methoden zur Erkennung und Schulung der Konzentration. Prakt. Psychologie 1920.
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Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungsproblem 199
der Kritik an den Methoden der ersten Gruppe herauszubilden angefangen 1 ).
Die Methoden der zweiten Gruppe sind vor allem dadurch gekennzeichnet,
daß bei ihren Proben im Gegensatz zu denen der ersten Gruppe zwischen
Reiz und Reaktion eine sinnvolle Beziehung hergestellt wird. Um die Aus¬
bildung und Einführung dieser Methoden bei Berufseignungsprüfungen hat
sich besonders W. Stern große Verdienste erworben 2 ). Auch durch Kritik
an den Methoden der ersten Gruppe hat Stern versucht, den Methoden der
zweiten den Weg zu ebnen. In einem Bericht über die Schrift von Schack¬
witz „Über psychologische Berufseignungsprüfungen für Verkehrsberufe“
weist Stern ausdrücklich darauf hin, daß der sinnvolle Zusammenhang
zwischen Reiz und Reaktion eine wesentliche Bedingung des psychischen
Fahrverhaltens ist 3 ). Die Lebensfremdheit und Sinnlosigkeit der Versuche
wird besonders als Nachteil gegenüber dem Hamburger Verfahren stark be¬
tont. „Ferner besteht zwischen den Reizen und den geforderten Reaktionen
ein absolut willkürlicher, an sich sinnloser Zusammenhang, der nur rein
mechanisch eingeprägt werden kann. Ein solches Reagieren aber ist ein
völlig anderes Verhalten als das Ausführen von Bewegungen, die zum Reiz
eine in sich einleuchtende sinnvolle Zweckbeziehung haben.“
Lob sie n 4 ) hat ebenfalls eine Methode der Aufmerksamkeitsprüfungen
ausgebaut, welche eine „natürliche Lebensnähe des Versuchs* erstrebt unter
Vermeidung der „künstlichen d. h. stark lebensfernen Voraussetzungen“ der
älteren Methoden.
In diesem Zug der Anpassung des Aufmerksamkeitsversuches an die Wirk¬
lichkeit der Berufsanforderungen besteht der wesentliche Fortschritt der
Methoden der zweiten Gruppe gegenüber der ersten.
Die Konzentrationsfähigkeit, welche durch beide Arten von Methoden er¬
faßt wird, ist aber immer noch nicht die Konzentrationsfähigkeit schlechthin,
wie durchweg angenommen wird. Es ist eine Konzentrationsfähigkeit be¬
stimmter Art, welche wir als Aufmerksamkeit niederer Stufe bezeichnen
wollen und welche nur einen Teil der allgemeinen Konzentrationsfähigkeit
ausmacht.
Dies soll im Folgenden eingehend begründet und zugleich nachgewiesen
werden, daß es außer der bisher experimentell untersuchten Aufmerksamkeit
niederer Stufe noch eine solche höherer Ordnung gibt, die besonders für das
Begabungsproblem von großer Bedeutung ist.
Bei dem psychologischen Vorgang der Konzentration können wir ein doppeltes
unterscheiden, nämlich erstens den psychologischen Antrieb, welcher als vor¬
herrschender Faktor die Aufmerksamkeit spannt und zweitens das Objekt
oder die Tätigkeit, auf welche sich die Aufmerksamkeit konzentriert
*) Alfred Mann, Zur Psychologie und Psycbograpbie der Aufmerksamkeit, Ztschr. f. angew.
Psych. BdL 9, hat vor Jahren darauf hingewiesen, daß gegenüber der experimentellen Untersuchung
der Aufmerksamkeit Skepsis am Platze ist, weil diese Experimente hfiufig nicht die Aufmerk¬
samkeit. sondern andere psychische Faktoren berühren.
*) Vgl. u. a. H. Sachs, Studien zur Eignungsprüfung der Straßenbahnführer, I. Methode zur
Prüfung der Aufmerksamkeit und Reaktionsweise. Mit einer Einleitung von W. Stern, Ztschr.
f. angew. Psych. Bd. 17.
a) Ebenda Bd. 16.
4 ) Prüfung der Aufmerksamkeit an Kindern mit der Mün st erb erg sehen Schlittenmethode,
Zeitschr. f. angew. Psychol. 13 und 14.
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200
M. VaBrting
Was den Antrieb zur Konzentration anbelangt, so haben wir zwei
Hauptkräfte zu unterscheiden, den Willen und das Interesse. Wenn der Wille
der bestimmende Faktor der Aufmerksamkeit ist, so ist die Konzentration
mehr äußerer Art. Auf der Verbindung des Individuums mit der geistigen
Tätigkeit lastet in diesem Falle der Zwang des Willens. Der Wille drängt
sich wie ein fremdes Element zwischen Individuum und Leistung, sobald
die Leistung auf dem Gebiete der höheren Geistestätigkeit wie Denken und
Phantasie liegt. Die Tätigkeit wächst nicht frei und organisch aus der gei¬
stigen Eigenart, aus den individuellen Geisteskräften hervor, sondern wird
dem Denken aufgezwungen und bleibt deshalb Fremdkörper im höheren
Geistesorganismus.
Ganz anders ist es, wenn der Antrieb zur Aufmerksamkeitsspannung aus
der Leistung erfolgt, aus der Sache, der Tätigkeit als solcher. Dieser Antrieb
aber geht von der Sache, der Tätigkeit, nur dann aus, wenn diese das In¬
teresse des Individuums nicht nur zu wecken, sondern auch dauernd zu
binden vermag. Bei dieser inneren Aufmerksamkeit dominiert das Interesse
als Motor der Konzentration und verbindet das Individuum mit seiner Tätig¬
keit zu einer vollkommenen Einheit. Bei der inneren Aufmerksamkeit ist
das Individuum und seine Kräfte in Harmonie mit seiner Tätigkeit und Lei¬
stung, bei der äußeren Aufmerksamkeit ist diese Harmonie durch die außer¬
halb der höheren geistigen Tätigkeit selbst stehenden Willensanstrengungen
gestört Denn nur das Interesse vermag einen natürlichen, der Eigenart des
Individuums aufs feinste entsprechenden Kontakt zwischen der Sache, der
Tätigkeit und dem Individuum herzustellen. Bei einer Konzentration, die
aus äußerem Zwang oder Selbstzwang heraus erfolgt, kann der Kontakt nur
künstlich sein. Die Tätigkeit entspricht nicht dem Wesen und der Eigenart
des Geistes.
Es ist nun unzweifelhaft, daß die Konzentration aus Interesse eine höhere
Stufe darstellt als die Konzentration, deren bestimmender Faktor der Wille
ist. Denn die Intensität der Konzentration und ihre Dauer ist um so
größer, je inniger der Kontakt zwischen dem Individuum und seiner Tätig¬
keit ist. Diese aber wird am vollkommensten durch eine Aufmerksam¬
keit aus Interesse hergestellt. Die Willenskonzentration kann selbst bei
höchster Intensität diese Vollkommenheit nie erreichen, weil sie ihrer Art
nach im Äußeren haften bleiben muß, weil sie dem Geiste etwas Wesens¬
fremdes aufgenötigt. Dem Willen fehlt seiner Natur nach die Macht, die
Verschmelzung des Individuums mit einer höheren Geistestätigkeit zu einer
vollkommenen Einheit zu vollziehen. Der Kontakt, den Willenskonzentration
zwischen Individuum und seiner Tätigkeit zu knüpfen vermag, ist um so
lockerer und äußerlicher, je höher die geistige Tätigkeit; Intuition, schöpfe¬
rische Tätigkeit ist durch Willenskonzentration überhaupt nicht zu erzwingen.
Die Konzentration, die auf dem Willen ruht, steht auch deshalb der Kon¬
zentration aus Interesse nach, weil bei der ersteren das Interesse nicht ge¬
bunden, also frei ist und, soweit vorhanden, nach Auswirkung strebt. Aus
diesem Grunde wirkt das Interesse als innerer Widerstand gegen die Willens-
konzentration, ein Umstand, der große Beachtung verdient. Die Konzentra¬
tionsfähigkeit aus Interesse ist nun zweifellos anderer Art als eine Fähig¬
keit zur Aufmerksamkeitsspannung, die hauptsächlich auf dem Willen ruht.
Es gibt Individuen, die ein hohes Maß von Fähigkeit zur inneren Aufmerk-
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Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungsproblem 201
samkeit, zur Konzentration aus Interesse, besitzen, die aber bei Anforde¬
rungen an die äußere Aufmerksamkeit, an die Konzentration aus dem Willen
heraus, versagen. Liebig z. B. konnte und wollte sich als Schüler überhaupt
nicht auf den Unterricht konzentrieren, der sein Interesse offenbar nicht zu
erwecken vermochte. Dabei besaß er eine gewaltige Konzentrationsfähigkeit,
die sich während des Unterrichts in Privatbeschäftigungen aus seinem Inter¬
essegebiet auswirkte. Bei Aufgaben, welche organisch aus der Eigenart der
Begabung hervorwuchsen, entfaltete sich hier eine gewaltige Konzentrations¬
fähigkeit, bei aufgezwungener Tätigkeit war überhaupt keine Aufmerksamkeit
vorhanden. Ähnlich war es bei Helmholtz, ist es bei vielen anderen Schülern
gewesen, und ist es noch heute. Wir kommen darauf bei der Untersuchung
über die Schulaufmerksamkeit noch eingehend zurück.
Andererseits gibt es Individuen, die eine ausgesprochene Fähigkeit zur
äußeren Aufmerksamkeit haben, die sich mit Hilfe des Willens auf jede Auf¬
gabe zu konzentrieren vermögen, die das Leben ihnen zuwirft, denen aber
eine Aufmerksamkeitsspannung aus Interesse, eine innere konzentrative Ver¬
schmelzung mit einer Tätigkeit, so gut wie unbekannt ist.
Der Fähigkeitstypus, bei welchem das Interesse das ausschlaggebende Moment
der Konzentration ist, kann je nach der Eigenart seiner Begabung vorwiegend
Konzentrationsfähigkeit für mehr mechanische Tätigkeit besitzen oder vor¬
wiegend für Leistungen in der höheren geistigen Sphäre. Eine scharfe
Trennung der Typen ist hier sehr häufig zu beobachten, jedoch können
natürlich auch Mischtypen Vorkommen. Bei den Willenstypen hingegen fällt
diese Scheidung der Typen im allgemeinen fort. Ausgeprägte Willenstypen
bei der Konzentration greifen zumeist jede Tätigkeit mit der gleichen Auf¬
merksamkeitsspannung an. Die Leistung kann natürlich von mehr oder
weniger Erfolg zeugen, aber die Leistungsunterschiede sind hier zumeist nicht
auf eine verschiedene Stärke der Konzentration zurückzuführen. Sehr hänfig
aber zeigen sich bei den Willenstypen so gut wie keine Leistungsunterschiede
auf den verschiedensten Gebieten. Der Musterschüler ist durchweg der voll¬
kommenste Vertreter des Willenstypus bei der Konzentration. Der Interessen¬
typus kommt bei dieser Art von Schülern gar nicht oder nur als Ausnahme vor.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, mag schon hier ausdrücklich bemerkt
werden, daß wir unter Interesse nur das unmittelbare Interesse ver¬
stehen, das aus der Sache selbst hervorgeht, hingegen das von Herbart so¬
genannte mittelbare Interesse, das aus Nebenzwecken und Nebenrücksichten
entspringt, ausgeschlossen wird. Eine Konzentration, bei welcher das un¬
mittelbare Interesse als Antrieb dominiert, wollen wir als innere Aufmerk¬
samkeit, eine Konzentration, bei welcher der Wille vorherrscht, als äußere
Aufmerksamkeit bezeichnen.
Außer dem psychischen Antrieb zur Aufmerksamkeitsspannung haben wir,
wie bereits erwähnt, zweitens das Objekt oder die Tätigkeit zu unterscheiden,
auf welche sich die Aufmerksamkeit konzentriert. Wir wollen hier zwei
Tätigkeiten unterscheiden. Steht Sinneswahmehmung und Gedächtnis im
Mittelpunkt, so wollen wir sie als niedere oder mechanische Tätigkeit be¬
zeichnen, spielen Denken und Phantasie die Hauptrolle, hingegen als höhere
Geistes tätigkeit.
Wir wollen mm eine Einteilung der Aufmerksamkeit vornehmen, welche
gleichzeitig beide Gesichtspunkte berücksichtigt, sowohl den Antrieb der Auf-
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202
M. Vagrting
merksamkeit als ihr Objekt oder ihre Tätigkeit Da wir beim Antrieb Wille
und Interesse, bei der Tätigkeit eine solche niederer und höherer Art zu
berücksichtigen haben, so ergeben sich dementsprechend vier Arten der Kon¬
zentration.
Erstens Konzentration auf eine vorwiegend mechanische Tätig¬
keit, deren Hauptantrieb der Wille ist. Zweitens Konzentration
auf eine Tätigkeit höherer Art, deren Motor ebenfalls der Wille
ist. Drittens Konzentration auf eine mechanische Tätigkeit aus
Interesse. Viertens Konzentration in der Sphäre der höheren In-
tellektualität aus Interesse. Auf der untersten Stufe steht zweifellos die
erste Art. Die zweite und dritte Art können ungefähr als gleichwertig be¬
trachtet werden, so daß wir beide Arten als zur zweiten Stufe gehörig be¬
zeichnen wollen. Die vierte Art nimmt als höchste die dritte und letzte
Stufe ein. Bei der Konzentration der dritten Stufe müssen also die höheren
Geisteskräfte die Tätigkeit beherrschen, und gleichzeitig muß die Aufmerk¬
samkeit aus dem Interesse gespeist werden.
Wir können jetzt auch entscheiden, welche Art der Konzentrationsfähigkeit
man bisher in den psychologischen Prüfungen erfaßte.
Bei den Aufmerksamkeitsproben der oben genannten ersten Gruppe steht
Gedächtnis und Sinneswahrnehmung im Mittelpunkt der Tätigkeit Als Motor
der Konzentration kommt fast ausschließlich der Wille in Frage, da die Auf¬
gaben ihrem Inhalt nach vorwiegend sinn- und zwecklos waren. Interesse für
Sinnlosigkeiten aber kann nur in den seltensten Fällen erwartet werden.
Die Konzentrationsfähigkeit, die man bisher mit den Methoden der ersten
Gruppe prüfte, war also die niedrigste Stufe der Konzentration, getragen vom
Willen und gerichtet auf eine mechanische Tätigkeit.
Bei den Methoden der zweiten Gruppe ist vor allem die Art der Tätigkeit
bei den Proben anders. Die Tätigkeit ist nicht mehr sinnlos, sondern zu¬
meist sinnvoll. Gedächtnis und Sinneswahmehmung werden zwar auch hier
stark in Anspruch genommen, jedoch wird der Mitwirkung der höheren
Geisteskräfte zweifellos ein größerer Spielraum gewährt. Lobsien z. B. hat
festgestellt, daß seine Aufmerksamkeitsprobe (Schlittenversuch) von den
Schülern Gedächtnis-, Phantasie- und Intelligenzleistungen erfordere. Jedoch
stehen die intellektuellen Anforderungen auf einer ziemlich niederen Stufe.
Lobsien schreibt zwar: „Der Versuch stellt die Schüler vor eine für sie durch¬
aus neue intellektuelle Aufgabe, die in einem fortlaufenden Prüfen, Ober¬
legen, Absondern besteht, kurz vor eine Aufgabe der Intelligenz.“ In der
Tat aber zieht der Versuch der Betätigung der Intelligenz sehr enge Grenzen,
da die Tätigkeit sich nach ganz genauen Angaben, man kann fast sagen
sklavisch vollziehen muß. Für Entfaltung geistiger Selbständigkeit, höherer
Geisteskräfte, ist kein Raum. Lobsien hat denn auch selbst die Erfahrung
gemacht, daß zwischen der Aufmerksamkeitsleistung und dem Grade der
Intelligenz der Prüflinge anscheinend keine Beziehung bestand.
Der beherrschende Antrieb zur Konzentration ist auch bei den Methoden
der zweiten Gruppe ausnahmslos der Wille. Lobsien sagt, daß die Prüflinge
mit einem möglichst hohen Arbeitswillen von vornherein an den Versuch
herantreten müssen. Allerdings will er auch das Interesse nach Möglichkeit
erwecken, auf Grund einer „möglichst lustbetonten geistigen Gesamtlage“.
Jedoch handelt es sich hier um das mittelbare Interesse, welches durch Neben-
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Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungsproblem 203
rücksichten und Nebenzwecke hervorgerufen wird, nicht durch die Sache
selbst. Lobsien will nämlich Wille und Interesse durch den Wettbewerb der
Prüflinge unter sich anspornen und wach erhalten. Dominierend ist bei allen
diesen Versuchen der Wille selbst dann, wenn dieses mittelbare Interesse
vorhanden ist Denn gerade darin besteht der Unterschied zwischen dem
mittelbaren und dem unmittelbaren Interesse, daß bei dem ersteren der Wille
stets der beherrschende und bestimmende Antrieb der Aufmerksamkeit ist
und bleibt.
Die Aufmerksamkeit, welche durch die Methoden der zweiten Gruppe er¬
faßt wird, gehört also teils der unteren, teils der mittleren, in keinem Falle
wohl aber der höchsten Stufe an. . •
Die experimental-psychologischen Prüfungsmethoden der Konzentration sind
bisher sowohl bei Begabungs- als auch bei Berufseignungsprttfungen in der Praxis
zur Anwendung gekommen. Ebenso wurden sie zum Teil zur Schulung der
Konzentration empfohlen. Es bedarf nach unseren voraufgegangenen Dar-
legungen wohl kaum noch eines ausführlichen Nachweises, daß die Fähig¬
keit zu einer Konzentration der niederen Stufen mit der Hoch¬
begabung überhaupt nichts zu tun hat. Wenn diese Fähigkeit vor¬
handen ist, so beweist das nichts für das Vorhandensein einer überdurch¬
schnittlichen Begabung, und wenn sie nicht vorhanden ist, so kann trotzdem
recht wohl eine Hochbegabung vörliegen. Die Fähigkeit zur Konzentration
der niederen Stufen ist für eine Hochbegabung nicht notwendig. Das Kenn¬
zeichen der Hochbegabung ist im Gegenteil eine Fähigkeit zur
Konzentration der höchsten Stufe. Diese Fähigkeit ist zur Aus¬
wirkung der Begabung unbedingte Voraussetzung. Sie erst
ermöglicht es, daß das Individuum ganz in seiner Tätigkeit auf¬
geht, so innig mit ihr verschmilzt, daß die Leistung über die
alltägliche Norm hinausgeht.
Die Konzentrationsfähigkeit der beiden ersten Stufen ist nun für die Hoch¬
begabung nicht nur nicht notwendig, sondern auch nicht einmal vorteil¬
haft. Ja sie kann im Gegenteil, wenn sie durch Übung entwickelt wird,
der Entfaltung der Hochbegabung gefährlich werden und sie in ihrer Aus¬
wirkung zu Leistungen stark beeinträchtigen. Denn in einem Individuum
können nicht beide Konzentrationsfähigkeiten, die vom Willen
und die vom Interesse getragene, sich gleichzeitig nebeneinander
gleichmäßig entfalten.
Denn die Konzentration aus dem Willen heraus steht der Konzentration
aus Interesse entgegen. Da, wo das Interesse bei einer aufgenötigten Tätig¬
keit als der natürliche Motor der Aufmerksamkeit versagt, tritt der Wille als
Antrieb ein. Wie wir bereits erwähnten, bleibt das Interesse unter diesen
Umständen frei und wirkt als Antrieb der Aufmerksamkeit in einer von der
Willenskonzentration abweichenden Richtung. Die Willenskonzentration ist
also stets der Störung durch das Interesse ausgesetzt, solange das Individuum
noch Interesse besitzt. Dadurch wird die Willenskonzentration darauf ein¬
gestellt, die die Aufmerksamkeit ablenkende Interessenkonzentration immer
wieder von neuem zu überwinden. Wird deshalb die Konzentration aus
dem Willen heraus geübt, so bedeutet jede Übung auf dieser Seite eine Ab¬
stumpfung und Vergewaltigung der Fähigkeit, sich aus Interesse zu kon¬
zentrieren.
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1
204
M. Vagrting
Die Entwicklung und Ausbildung der beiden Fähigkeiten, der Konzentration
aus Interesse und dem Willen heraus, stehen sich also entgegen. Jede Aus¬
bildung und Übung der einen Fähigkeit bedeutet einen Rückgang
deranderen. Diesen besonders auch für die Pädagogik wichtigen Zusammen¬
hang hat man bisher nicht erkannt. Wird die Konzentrationsfähigkeit, die
auf dem Willen ruht, geschult, sinkt die Fähigkeit, sich aus Interesse zu
konzentrieren, und umgekehrt. Die Entwicklung der einen Fähigkeit schwächt
die Kraft der anderen. Fast in jedem Individuum finden wir das Maß beider
Fähigkeiten deshalb in umgekehrter Proportion vor. Ob dieses Verhältnis
angeboren ist oder ob es sich nur mit psychologischer Notwendigkeit bei der
Übung im Leben nach diesem Gesetz entwickeln muß, soll an dieser Stelle
nicht untersucht werden.
Die bisherigen psychologischen Untersuchungsmethoden der Konzentrations¬
fähigkeit sind auch nicht geeignet, die Größe der Konzentrationsfähigkeit
niederer Ordnung in diesem Verhältnis zu ermitteln. Das Prüfungsergebnis
ist deshalb kein sicherer Maßstab dieser Fähigkeit, weil die Prüfung sich nur
über Tage, meistens nur über Stunden erstreckt. Der wichtige Faktor der
sich über lange Zeiträume erstreckenden Ausdauer in der Konzentration kann
nicht erfaßt werden. Ein Teil der Prüflinge wird gerade in der Prüfung aus
Ehrgeiz gute und beste Leistungen in der Konzentrationsfähigkeit niederer
Ordnung erzielen, obschon gar keine besondere Fähigkeit zu dieser Konzen¬
tration vorhanden ist. Unter Hochdruck des Willens werden eben zeitweilige
Höchstleistungen erzielt, die von der allgemeinen Leistungsfähigkeit ein ganz
falsches Bild geben.
Es besagt deshalb, wie gesagt, weder etwas für noch etwas gegen die Höhe
der Begabung, wenn bei den heutigen Methoden der Konzentrationsprüfungen
Höchstleistungen erzielt werden. Die Konzentrationsprüfungen von
heute sind als Bestandteil der Begabungsprüfung durchaus ab¬
zulehnen.
Anders liegt die Sache bei den Berufseignungsprüfungen. Während
für die Hochbegabung die Konzentrationsfähigkeit niederer Ordnung keine not¬
wendige noch vorteilhafte Eigenschaft ist, gibt es eine ganze Anzahl Berufe,
für welche sie eine ausschlaggebende Bedeutung hat. Dahin gehören alle
Arbeiten, welche Rein 1 ) z. B. als „ausführende“ bezeichnet, Berufe, bei
denen die Tätigkeit vorwiegend mechanischer Art und die Anforderungen an
die höheren Geisteskräfte gering sind. Für diese Berufe ist eine Prüfung
der Konzentrationsfähigkeit niederer Ordnung berechtigt und vorteilhaft. Bei
allen Berufen hingegen, bei welchen die Selbständigkeit eine ausschlag¬
gebende Bedeutung hat, wären Prüfungen der Konzentrationsfähigkeit nie¬
derer Ordnung ein Mißgriff. Hier gilt es, das Maß der Konzentrationsfähig¬
keit höherer Ordnung zu ermitteln.
Es ist sehr schwer, gerade die Konzentrationsfähigkeit in einer experi¬
mental-psychologischen Prüfung zu untersuchen. Denn wie gesagt, man
erfaßt—wenigstens bei den bisherigen Methoden — mehr eine zeitweilige Span¬
nungsfähigkeit der Aufmerksamkeit unter einem besonderen Hochdruck des
Willens, angestachelt durch Prüfungsehrgeiz. Die dauernde Konzentrations¬
fähigkeit, welche den täglich immer wiederholten Anforderungen der Berufs-
l ) Pädagogik in System. Darstellung Bd. II, Seite 151.
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Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre* Beziehung zum Begabungsproblem 205
tätigkeit gegenüber standhält und nicht versagt, ist aber gerade für den Beruf
wichtig. Diese Dauertätigkeit kann voll und ganz nur durch längere Be¬
obachtungsreihen erfaßt werden'). Deshalb bietet die Schule z. B. weit
bessere und sicherere Möglichkeiten zur Feststellung der Konzentrationsfähig¬
keit als das psychologische Experiment. Diese Möglichkeiten aber werden
überhaupt nicht ausgenutzt. Denn die Pädagogik macht immer noch einen heute
ähnlichen Fehler wie die Experimentalpsychologie. Die Pädagogik kennt
nur eine Aufmerksamkeit schlechthin und bewertet deshalb alle
verschiedenen Stufen in gleicher Weise.
Die Schule bewertet die Aufmerksamkeit des Schülers sehr hoch; sie bringt ja
diese Wertung auch in jedem Zeugnis durch eine besondere Nummer zum
Ausdruck. Diese Zensur aber gibt durchaus kein richtiges Bild
von der Konzentrationsfähigkeit des Schülers. Die Zensur für Auf¬
merksamkeit ist der Durchschnitt aus den Einzelurteilen aller Lehrer, welche
an dem Unterricht des betreffenden Schülers beteiligt sind. Bei einem Teil
der Schüler zeigen die Lehrerurteile nun eine gewisse Übereinstimmung, bei
einem anderen Teil kommen große Unterschiede vor. Nehmen wir einmal
an, ein Schüler hat eine I in der Aufmerksamkeit. Wir können dann an¬
nehmen, daß er mit keiner oder höchstens einer Ausnahme in allen Unter¬
richtsstunden sehr aufmerksam ist Hat ein Schüler eine II, so sind schon
verschiedene Fälle möglich. Entweder ist seine Aufmerksamkeit in allen
Unterrichtsstunden gleichmäßig gut; die Lehrerurteile gehen in derselben
Richtung, oder sie stehen sich entgegen. Der Schüler ist bei einem Lehrer sehr
aufmerksam, bei einem anderen hinwieder unaufmerksam oder sogar sehr
unaufmerksam. Das „gut“ ist ein Ausgleich zwischen Maxima und Minima
der Aufmerksamkeit. Ebenso ist es bei einem „genügend“, nur mit dem Unter¬
schied, daß entweder die Aufmerksamkeit bei Gleichheit des Lehrerurteils
im allgemeinen tiefer liegt oder daß sie bei Verschiedenheit des Lehrerurteils
mehr oder stärkere Minima als Maxima hat wie bei dem Schüler mit dem
Prädikat „gut“. Bei einem „mangelhaft“ endlich kann ebensowohl ein gleich¬
mäßiges Versagen der Aufmerksamkeit vorliegen als eine sehr gute Nummer,
die in der überwältigenden Mehrheit von schlechten völlig untergegangen
ist. Die Aufmerksamkeitsprädikate sind also durchaus nicht so eindeutig,
wie sie heute im allgemeinen erscheinen.
Betrachten wir z. B. einmal die Schüler mit dem Prädikate „sehr gut“ in der
Aufmerkamkeit. Diese Schüler bringen allen Unterrichtsstunden die gleiche
Aufmerksamkeit entgegen. Diese eine Tatsache läßt einige Rückschlüsse auf
die Art der Aufmerksamkeit zu. Vor allem können wir annehmen, daß der
Motor der Aufmerksamkeit vorwiegend im Wollen und nicht im Interesse zu
suchen ist. Jedenfalls ist der Wille das entscheidende Moment. Denn bei
der Verschiedenheit des Unterrichtstoffes auf der einen Seite und der ebenso
großen Verschiedenheit der Lehrerqualität auf der anderen kann man wohl
kaum annehmen, daß der Schüler in jeder Unterrichtsstunde sich aus Interesse
in so hohem Maße konzentriert. Es soll damit nicht gesagt werden, daß es
für ihn nicht auch vielleicht Unterrichtsstunden gibt, in welchen sein Interesse
erweckt wird. Aber das entscheidende Moment seiner Aufmerksamkeits-
*) Alfred Mann hat ein Schema entworfen, am die Aufmerksamkeit auf psychographischem
Wege za erfassen.
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206 M. VaÖrting, Aufmerksamkeit niederer u. höh. Ordnung u. ihre Bezieh, zum Begabungsproblem
Spannung ist der Wille. Jedes persönliche Interesse, welches nicht mit den
Schulforderungen im Einklang steht, wird von dem Willen zur Schulaufmerk¬
samkeit ohne weiteres niedergekämpft.
Betrachten wir demgegenüber einen Schüler mit dem Prädikate „gut“ oder
sogar „genügend“, das sich aus unterschiedlichen Lehrerurteilen zusammensetzt,
nämlich aus sehr guten und geringen Einzelzensuren. Hier dürfen wir mit
Sicherheit schließen, daß das Interesse die Aufmerksamkeit trägt und der
Wille als bestimmender Faktor durchaus zurücktritt. Liegen die Maxima der
Konzentration in Fächern, welche an Denken und Phantasie große Anforderungen
stellen, wie z. B. in Mathematik, so liegt eine starke Konzentrationsfähigkeit
höchster Stufe vor. Eine Konzentrationsfähigkeit höchster Ordnung wird also
von der Schule mit dem Prädikat „gut“ oder sogar, wenn eine einseitige
Interessenrichtung vorliegt, mit „genügend“ bezeichnet. Hingegen wird eine
gleichmäßige Konzentration der beiden niederen Stufen mit dem* höheren
Prädikat gewertet.
Es kann aber sogar noch eine starke Konzentrationsfähigkeit höchster
Ordnung vorhanden sein, wenn selbst kein einziges Lehrerurteil auf „sehr
gut“ lautet. Denn erstens kann der Unterricht gerade in den Fächern, welche
die besonderen Interessengebiete des Schülers sind, von einer so geringen
Qualität sein, daß das Interesse latent bleibt oder sogar abgestoßen wird
und damit der Antrieb zur Konzentration ausfällt. Zweitens hat der Stoff
fast auf allen wissenschaftlichen Unterrichtsgebieten mehr oder minder große
Teile, deren Bewältigung weniger Anforderungen an die höheren als die
niederen Geisteskräfte stellt. Der Schüler, welcher sich auf Willenskonzen¬
tration eingestellt und eingeschult hat, bringt allen Teilen des Stoffes das
gleichhohe Maß von Aufmerksamkeit entgegen. Bei den Schülern aber, bei
welchen eine Konzentrationsfähigkeit der höchsten Stufe stark entwickelt ist,
werden je nach der Art des Stoffes Schwankungen in der Aufmerksamkeit
zu verzeichnen sein. Die Konzentrationsfähigkeit erscheint wenig konstant,
wenn wir wie heute nur eine allgemeine Konzentration annehmen. Be¬
trachten wir sie aber unter dem Gesichtswinkel der hier gegebenen Ein¬
teilung, so sehen wir, daß die besondere Art der Konzentrationsfähigkeit,
welche gerade in diesem Falle vorliegt, keineswegs schwankend, sondern im
Gegenteil konstant ist
Nehmen wir z. B. die Mathematik. Du Bois Reymond •) sagt von diesem
Unterricht: „Es gibt Köpfe, denen bei tieferer Begabung und mehr philo¬
sophischer Anlage die untergeordnete Art von Aufmerksamkeit abgeht, welche
nötig ist, um eine weitläufige trigonometrische Rechnung durchzuführen und
denen analytische Geometrie viel leichter wird.“
Die Schule bildet hinsichtlich der Konzentration im allgemeinen drei ver¬
schiedene Typen aus. Bei dem einen Typus steht die vom Willen getragene
Aufmerksamkeit im Mittelpunkt. Dieser Typus kann als Fleißtypus bezeichnet
werden. Bei dem zweiten wird die Konzentration vorwiegend vom Interesse
bestimmt. Bei dem dritten tritt so gut wie keine Aufmerksamkeit in Er¬
scheinung. Das sind die Schulfaulpelze. Bei dem Fleißtypus wird die Eigen¬
art der Begabung, soweit sie vorhanden war, durch die dauernde Willens¬
konzentration auf Nichtinteressengebiete vergewaltigt und zumeist dauernd
^Reden, Bd. I, Seite 613.
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Heinz Bnrkhardt, Psychische Ursachen des Stotterns
207
zerstört Bei dem Interessentypus wird die Eigenart der Begabung geschont.
Bei den typisch unaufmerksamen Schülern ist nicht ohne weiteres zu ent¬
scheiden, ob ein angeborener Mangel an Konzentrationsfähigkeit vorliegt oder
ob der Unterricht eine vorhandene Anlage zur Konzentration aus Interesse
nicht zur Entwicklung zu bringen vermochte. Sicher ist wohl nur, daß die
Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsspannung aus dem Willen heraus in ver¬
schwindend geringem Maße ausgebildet ist. Ehe man nun versucht, die
schwache Willenskonzentration zu schulen, sollte man vorher untersuchen,
ob nicht vielleicht eine Eigenart und mit ihr ein Sonderinteresse vorliegt,
welches in der Schule nicht zur Auswirkung kommen konnte. Man sollte
die Lieblingsbeschäftigung des Kindes erforschen und es bei derselben auf
den Grad seiner Konzentration hin beobachten. Ist eine Lieblingsbeschäftigung
nicht durch Fragen zu ermitteln, so kann man das Kind nacheinander mit
den verschiedensten Dingen beschäftigen und das Maß der Aufmerksamkeit
feststellen. Zeigt sich bei irgendeiner erhöhte Aufmerksamkeit, so verfolgt
man diese Spur weiter. Es ist immerhin möglich, daß man auf einem be¬
stimmten Gebiete eine intensive Aufmerksamkeitsspannung antrifft. Mit
diesem Gebiete ist dann das Kind vorwiegend zu beschäftigen, um seine
Konzentrationsfähigkeit auszubilden. Erst wenn alle Ermittelungen nach einer
Konzentrationsfähigkeit aus Interesse vergeblich sind, sollte man versuchen,
den Willen zur Aufmerksamkeit zu üben und zu schulen.
Zur Schulung dieser ersten Art von Aufmerksamkeit wählt man je nach
der Begabung des Individuums mehr mechanische Aufgaben, wie sie z. B. in
der bereits erwähnten Arbeit von Piorkowski zusaramengestellt sind, oder
Denkaufgaben. Zu diesem ersten Zwecke sind mathematische Aufgaben
besonders geeignet.
Ein folgender Aufsatz soll ausführliche Methoden zur Schulung der Kon¬
zentration, vor allem aber zur Ermittelung der verschiedenen Arten der Kon¬
zentrationsfähigkeit, im besonderen auch in der Schule, bringen.
Psychische Ursachen des Stotterns.
Von Heinz Burkhardt.
Das Stottern hat als eine hauptsächlich nervöse Erkrankung neben Ver¬
erbung und physischen Störungen auch psychische Einwirkungen zur Ur¬
sache. Man hat ihnen seit der ersten Beschäftigung mit diesem Leiden immer
größere Beachtung zugewandt. Sollte sie nach Gutzmanns und anderer
Ansicht auch theoretisch nicht berechtigt sein, so muß man ihr praktisch
durchaus zustimmen, denn psychischen Einflüssen ist verhältnismäßig leicht
zu begegnen auch von Nichtärzten und besonders Erziehern, und solche Ur¬
sachen des Stotterns sind daher prophylaktisch sehr bedeutungsvoll.
Die auffallendste psychotische Erscheinung bei Stotterern ist eine gemüt¬
liche Depression. Sie wird deshalb auch von vielen Seiten als wesentlicher
Faktor bei der Entstehung des Leidens angesprochen (Kußmaul, Denhardt).
Dementgegen betont Gutzmann, daß sie oft nicht vorhanden ist und in
manchen Fällen sogar günstig wirkt, sicher aber erst sekundär als Folge des
Stotterns entstanden ist. Jedenfalls ist es Tatsache, daß diese deprimierenden
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Heinz Burkliardt
Affekte häufig mit den bei nervösen Menschen und besonders auch neurasthe-
nischen Kindern vorkommenden Minderwertigkeitsgefühlen identisch sind und
schon vor dem Stottern vorhanden waren (Adler, Furtmüller). Auch
können bei geheilten Stotterern niederdrückende Erlebnisse die Krankheit
wieder erwecken (Denhardt), wie überhaupt die jeweilige Stimmung auf
den Grad des Stotterns von großem Einfluß ist; so bewirkt das mit schönem
Wetter fast bei allen Menschen verbundene Wohlbehagen Besserung, ebenso
die auf Alkoholgenuß folgende Euphorie (Gutzmann, Denhardt), während
die Beeinflussung durch die Jahreszeit wohl einer Zwangsvorstellung des
Kranken entspringt, der einmal eine Änderung des Leidens beobachtet hat
und nun dieselbe Änderung jedes Jahr wieder erwartet, und sie stellt sich
denn auch prompt ein (Gutzmann). Die durch das Gefühl der Lächerlich¬
keit oder der Unfähigkeit, seine Gedanken ordentlich auszudrücken, auf das
Stottern folgende Depression verstärkt ihrerseits wieder das Stottern, wodurch
auch die Depression vertieft wird und so fort in einer langen Spira vitiosa
(Treitel). Besonders im Kindesalter, das ja meist die Entstehungszeit der
Krankheit ist, findet man an Stelle der anhaltenden Depression die rasch
kommende und gehende Angst, der daher z. B. Stekel, Frank, Laube,
Fröschels, Höpfner, Nickel und andere eine große ätiologische Bedeutung
zuerkennen; das Stottern wird von manchem Autor deshalb geradezu als
Angstneurose, Lalophobie oder Glossophobie bezeichnet, während Gutzmann
auch die Angst als primäre Erscheinung nicht anerkennt. Sie kann ver¬
schiedene Objekte haben. Fällt dem Kinde die Wortfindung schwer, so stottert
es an der betreffenden Stelle ähnlich wie der Erwachsene in Verlegenheit.
Das ist eine durchaus normale Erscheinung. Durch falsche Behandlung
seitens der Eltern und Erzieher, die das Kind das Wort, bei dem es stockte,
noch einmal sprechen lassen, an Stelle durch Erzählen und Nacherzählenlassen
seinen Wortreichtum zu heben, entsteht in ihm die Furcht vor „schwierigen“
Worten und Silben, die sich jedesmal einstellt, wenn ein solches auftritt, und
das Stottern erregt. Um ihnen zu entgehen, überschaut das Kind das, was
es sprechen will, im voraus, die angeblichen Schwierigkeiten erscheinen ihm
unüberwindbar, und infolgedessen bleibt es auch wirklich bei ihnen stecken.
In diesem Falle erstreckt sich die Angst auf das Sprechen selbst (Höpfner,
Fröschels, Denhardt, Nickel). Durch das Sprechen werden Vorstellungen
geweckt. Gehören diese einem Komplexe an, der an eine schreckenerregende
Vorstellung angeknüpft ist, z. B. an einen Unfall, so stellt sich auch die mit
der Vorstellung assoziierte Angst ein, die sich in Erröten, Heiß werden, Schwei߬
ausbruch und vor allem im Stottern äußert. Hier ist das Stottern die Angst
vor dem Ausdrücken eines Gedankens (Freud, Stekel, Nickel). An dritter
Stelle kann das Objekt der Angst eine Person sein. Dieses Stottern findet
man häufig bei von Natur ängstlichen und schüchternen Menschen, sobald
sie mit jemand sprechen, der ihnen irgendwie überlegen erscheint oder
unsympathisch ist (Legel). Dagegen läßt es bei der Unterhaltung mit geistig
unterlegenen Personen nach und verschwindet auch meist mit der wachsen¬
den Selbständigkeit des reiferen Mannesalters (Denhardt). Aus diesen
Tatsachen erklärt es sich, daß der Kranke nicht oder nur wenig stottert,
wenn er allein oder im Finstern spricht (Gutzmann, Denhardt). Eine
störende Persönlichkeit fehlt, der Kranke beobachtet nicht ängstlich seine
Sprache und kommt bo über Stellen, gegen die er sonst eine heftige Idio-
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Psychische Ursachen des Stotterns
209
synkrasie bat, glatt hinweg. Allerdings gibt Gutzmann zu bedenken, daß
diese Angabe oft auf Selbsttäuschung des Kranken beruhen mag und auch
die anscheinend normale Sprache nicht fehlerfrei ist. Der Wegfall der Nöti¬
gung, den Angesprochenen anzusehen, bedingt auch beim Lesen und beim
Gehen ein Nachlassen des Leidens, während scharfes Fixieren es verstärkt
(Legel, Denhardt). Neben der Depression und Angst stehen die erregenden
Affekte: Zorn, Schreck, auch sie können Stottern erzeugen, und gerade
ihnen schreibt die allgemeine Meinung auch in vielen Fällen das Leiden zu,
obgleich sicher sehr oft nachträglich die Verbindung erst konstruiert wird.
Gutzmann glaubt, daß sie meiBt nur vorübergehendes Stottern bewirken.
Er fand die Angabe, daß das Leiden durch Fall oder Schreck entstanden
sei, bei 40°/ 0 seiner Patienten, Ssikorski sogar bei 70°/o. Allerdings ist
hier nicht ersichtlich, was davon auf Kosten einer organischen Läsion durch
den Fall kommt. Verstärkung von bestehendem Stottern durch erregende
Affekte haben Denhardt, Gutzmann u. a. beobachtet.
Lagen die bisher erwähnten Faktoren auf dem Gebiete des Gefühlslebens,
so ist auch dem Willen ein unverkennbarer Einfluß einzuräumen. In der
Initialperiode ist das Stottern willentlich ohne weiteres zu beseitigen. Erst
später wird der Wille mehr oder weniger ausgeschaltet, und die Versuche
des Kranken, sich selbst zu heilen, scheitern an seiner Willensschwäche
(Nickel). Allerdings ist das nicht der einzige Grund. Es gelingt Leuten
mit großer Energie, das Stottern zu unterdrücken, das führt aber nicht zur
Beseitigung des Leidens, sondern zu einem für den Betreffenden äußerst
peinlichen Zustand, den Coön als inneres Stottern bezeichnet. Aus diesem
Grunde hat auch die Hypnose zur Behandlung dieser Krankheit keinen Wert,
was Forel, der sich anfangs sehr viel davon versprach, später selbst bekannt
bat. Jedoch ist eine Konzentrierung des Willens auf den Sprechakt, also ein
bewußtes Sprechen von großem Einfluß. Lautstottern hört nach Fröschels
meist sofort beim Anlegen eines RegiBtrierapparates auf, dasselbe beobachtete
Gutzmann an Vokalstotterern bei laryngoskopischer Untersuchung. Beide¬
mal vereinigten sich Aufmerksamkeit und Willen auf den Sprechvorgang.
Unter Taubstummen, die in langer bewußter Übung eineArtikulationsbewegung
nach der andern gelernt und zur Lautbildung koordiniert haben, gibt es keine
Stotterer. Auch die schon erwähnte Besserung des Stotterns im Mannesalter
ist mit auf die wachsende Selbstbeherrschung zurückzuführen. Beim Singen,
wo auch mehr auf das Wie als das Was gesehen wird, fehlt bei vielen Kranken
das Anstößen (Denhardt, Gutzmann). War oben auf die Besserung des
Stotterns durch geringe Alkoholaufnabme hingewiesen worden, so gehört hier¬
her, daß die bald darauf einsetzende Energielosigkeit die Schwierigkeiten
verstärkt. Das weibliche Geschlecht, das mehr auf das Vermeiden äußerer
Fehler achtet als das männliche, hält auch seine Aussprache unter dauernder
Kontrolle; außerdem steht die bei ihm überwiegende Kostalatmung mehr unter
dem Willen als die Abdominalatmung des Mannes. Diese beiden Gründe
tragen auch mit zur Erklärung der rätselhaften Erscheinung bei, daß die
Zahl der männlichen Stotterer zehnmal so groß ist als die der weiblichen
(Colombat, Gutzmann, Denhardt, Chervin).
Alle genannten Erscheinungen: Willensschwäche, Neigung zu Affekten,
Angst, Depression sind Symptome der Nervosität, und so kann man diese in 0
vielen Fällen als Grundursache annehmen (Legel). Die meisten stotternden
Zeitschrift f. ptdsgog. Psychologie. 14
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210
Heinz Burkhard, Psychische Ursachen des Stotterns
Kinder weisen Merkmale von Neurasthenie, wie Mangel an Aufmerksamkeit,
Erregbarkeit, Depression auf, und fast jeder erwachsene Stotterer ist neuro-
pathisch (Qutzmann). Ebenso ist das schon angeführte Überwiegen der
Männer über die Frauen unter den Stotterern zum Teil mit auf die größere
Belastung der Knaben in der Schule und die größere Neigung des Mannes
zur Neurasthenie zurückzuführen (Graupner). Auch das Sexualleben scheint
nicht ohne Einfluß auf däs Stottern zu sein, ganz abgesehen davon, daß es
ja zumeist mit Affekten verbunden ist. Sigmund Freud glaubt, daß es
immer durch sexuelle Einflüsse bewirkt würde; er erblickt z. B. im Anstoßen
bei dem Worte „zwei“ eine verdrängte Co'itusvorstellung u. ä. Ebenso nimmt
St ekel an, daß Vorstellungen, durch deren Auf tauchen stottemerregende
Angst eintritt (s. o.), sexueller Natur seien. Entsprechend den Anschauungen
der analytischen Psychologie soll dieses sexuelle Trauma zu allermeist in der
Jugend liegen. Dementgegen hatGutzmann ein solches noch nie bei Stot¬
terern gefunden. Die Heilung muß nach dieser Anschauung durch Psycho¬
analyse erfolgen. Bis jetzt ist aber noch kein Fall absoluter Heilung durch
diese Behandlung bekannt. Außerdem ist die Psychoanalyse im Fre ud’sehen
Sinne durch ihr Bewußtmachen der'unbewußten Sexualität bei Kindern abzu¬
lehnen (Stern, Nickel). Eine Revolution auf körperlichem und geistigem
Gebiete ist der Eintritt der Pubertät. Auch in der Sprache kann sie sich
äußern. Statistische Aufnahmen zeigen im 7. und 8. Schuljahr ein Steigen
der Stottererzahl um das 2—3 fache, das der Geschlechtsreife zuzuschreiben ist
(Kußmaul, Gutzmann, Schultheß). Masturbation scheint direkt keinen
Einfluß zu üben, kann aber indirekt durch den damit verbundenen Mangel an
Energie, durch die Verstimmung, Selbstverachtung, Schüchternheit zum Stottern
disponieren (Liebmann, Nickel). Es ist wahrscheinlich, daß ein Nerven¬
gift wie der Alkohol auch bei dieser nervösen Erkrankung als Erreger in
Betracht kommt. Seine sofortige Wirkung ist schon gestreift worden; viel
wesentlicher ist aber die chronische, besonders bei Kindern. Brendel, Gutz¬
mann und Legel erwähnen, daß durch dauernden Alkoholgenuß von Kin¬
dern Stottern ausgelöst wurde, das bei Entziehung des Giftes sofort verschwand.
Eine interessante Erscheinung beim Stottern ist die psychische Ansteckung
(moral contagon). Gutzmann konnte sie bei 9,5°/o der Kranken nachweisen.
Bei Kindern, die in ihrem geringen Selbstbewußtsein besonders leicht an¬
gesteckt werden, kommen als Orte der Infektion das Haus (Schultheß,
Gutzmann) und die Schule (Legel, Gutzmann) in Betracht. Die erstere
wird leicht mit Vererbung verwechselt, um der anderen vorzubeugen, fordert
Baginsky die Entfernung der Stotterer aus dem Kreise der gesunden Kinder.
Neben dem Fühlen und Wollen spielt auch das Denken in der Ätiologie
des Stotterns eine Rolle. Blume führt es auf ein Mißverhältnis zwischen
Denkgeschäft und Sprachgeschäft zurück. Entweder vollzieht sich das Denken
zu schnell, so daß die Wortbildung nicht folgen kann und aus dem Zwie¬
spalt das Stottern entspringt, oder es vollzieht sich zu langsam. Gegen letzte
Behauptung wendet sich Haase, dem sich Schrank, Coön, Colombus,
Gutzmann, Legel anschließen. Man kann nicht sprechen, ohne zu denken.
Das wird durch die Feststellungen Pipers belegt, daß unter Idioten nur3°/o
stottern, während 16°/o stammeln, dasselbe fand Scholz, der sogar 50°/o
Stammler feststellte. Damit hängt zusammen, daß Choleriker mehr zu dem
Leiden neigen als Phlegmatiker (Gutzmann, Legel).
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Johannes Kretzscbmar, Schulreform und Bildungszweck
211
Das Stottern ist demnach kein Zeichen geistiger Minderwertigkeit, sondern
nervösen Charakters. Seine Vorbeugung und Heilung muß unter diesem Ge¬
sichtspunkte geschehen.
Einschlägige Literatur.
Denhardt, Das Stottern eine Psychose. Leipzig 1903.
Gutzmann, A., Das Stottern und seine gründliche Beseitigung. Berlin 1920.
Gutzmann, H., Das Stottern, eine Monographie. Frankfurt a. M. 1898.
Gutzmann, H., Sprachheilkunde. Berlin 1912.
Legal, Die Sprache und ihre Störungen. Potsdam 1905.
Nickel, Die menschliche Sprache. Leipzig 1910.
Schulreform und Bildungszweck.
Von Johannes Kretzschmar.
Nach einem Wort von Fr. Schleiermacher ist die Erziehung anzusehen
als die Realisierung der sittlichen Idee, und nach einem ähnlichen Ausspruch
von Th. Waitz erzeugt die Ethik von sich aus die Pädagogik. Hier haben
wir deutlich den Standpunkt vor uns, den der Fachwissenschaftler der
Pädagogik gegeqüber einnimmt. Der Theologe sieht in der Erziehung die
Möglichkeit, das göttliche Gesetz zur Erfüllung zu bringen, und sucht sie mit
dem Geiste seiner Kirchenlehre zu durchdringen; der Mathematiker — ebenso
der Naturwissenschaftler und der Philologe — faßt sie auf al9 Übermittlung
von wissenschaftlichen Erkenntnissen an den Schüler. Der Fachwissen schaftler
wird hierbei dem Pädagogen gern zugestehen, daß psychologische Erwägungen
bei der Übermittlung der Kulturgüter eine sehr wichtige Rolle zu spielen
haben und daß nicht nur die Volksschule, sondern auch die höhere Schule
bei der Auswahl des Lehrstoffes auf die jeweilige geistige Fassungskraft und
das Interesse des Schülers die größte Rücksicht nehmen muß.
Nun ist vom Standpunkt der pädagogischen Wissenschaft aus zunächst
zuzugeben, daß in der Tat das methodische Verfahren eine wesentliche Seite
der pädagogischen Funktion und die Methodik der Erziehung einen wesent¬
lichen Teil der Erziehungswissenschaft darstellt. Die Schulreform der Gegen¬
wart bewegt sich sehr stark in den Bahnen methodischer Erwägungen,
und die wertvollste Erkenntnis, auf der sie fußt, ist eben die Einsicht von
der Notwendigkeit der Anpassung an die jugendliche Psyche. Hierher gehört
zu einem erheblichen Teil die Arbeitsschulbewegung; der darstellende Unter¬
richt benutzt die Handbetätigung des Schülers, um klare und deutliche Vor¬
stellungen zu erzeugen; von der Blüte oder der Frucht, die der Knabe während
der naturkundlichen Unterrichtsstunde in Plastilina nachbildet oder die er
nach der Natur zeichnet, erhält er ein weit vollkommeneres Anschauungsbild
als von dem bloß betrachteten Objekt. Der Geschichtsunterricht sucht innigere
Fühlung mit der Heimat zu gewinnen. Im fremdsprachlichen Unterricht
bürgert sich mehr und mehr die direkte Methode ein. Im Lateinunterricht
kommt allmählich die Strömung zur Herrschaft, welche die alte Sprache nicht
bereits in Sexta, sondern erst in Untertertia beginnen will; schon Fr. Paulsen
hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß für die Fassungskraft des Neun¬
jährigen die lateinische Grammatik zu schwierig ist, und das Reformgym¬
nasium sowie das Reformrealgymnasium zieht aus dieser Feststellung die
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Joba'nnes Kretzschmar
notwendigen Folgerungen. Da beide Anstalten auf der Unterstufe eine moderne
Fremdsprache treiben, ähnlich wie die Realschule und die Oberrealschule, so
ist fQr alle höheren Lehranstalten die Möglichkeit eines gemeinsamen drei¬
jährigen Unterbaues gegeben. Für denselben ist noch eine andere psycho¬
logische Erwägung maßgebend. Die Entscheidung der Eltern und des Schülers
für eine bestimmte Berufsgattung war bisher zu früh angesetzt, und die Rück¬
sicht auf die geistige Entwicklung zwingt dazu, diese Entscheidung so weit als
möglich hinauszuschieben. Ein sehr wichtiges methodisches Kapitel zur Schul¬
reform ist auch die bessere innere Verbindung der einzelnen Fächer, die so¬
genannte Konzentration; sie wird in Zukunft noch von großer Wichtigkeit
werden. Während der Geograph auf der Unterstufe von der Heimat und
dem engeren Vaterlande ausgeht und erst später zu Europa und den fremden
Erdteilen übergeht, setzt der Altphilologe in Sexta bereits die Kenntnis von
Südeuropa, der Religionslehrer die Bekanntschaft mit Vorderasien voraus,
ln Latein und Französisch treibt schon die unterste Klasse die Grammatik
der fremden Sprache, während der Deutschlehrer erst am Ende der Quarta
mit der Wahrscheinlichkeit rechnet, daß die Grammatik der Muttersprache
einigermaßen geläufig geworden ist. In allen diesen Dingen wären wir
sicherlich bereits viel weiter vorwärts gekommen, wenn der Lehrer an den
höheren Schulen mit der psychologischen Pädagogik und der Jugendpsycho¬
logie ebenso vertraut wäre wie der Volksschullehrer. Aber leider gibt ihm
die Universität nicht das notwendige Rüstzeug mit. Die Zahl der Universitäten,
an denen Vorlesungen und Übungen zur genetischen und differentiellen
Jugendpsychologie abgehalten werden, ist leider noch nicht sehr groß, und
wo für den Studierenden die Bildungsgelegenheit vorhanden ist, da wird er
zur Benutzung derselben nicht genötigt 1 )* Die Teilnahme an den psycho¬
logischen Vorlesungen und Übungen ist nicht verbindlich für ihn; er wird
nicht gezwungen, bei dem Verlassen der Hochschule in einer besonderen
theoretisch-pädagogischen Prüfung ausreichende Kenntnisse auf diesem Ge¬
biet nachzuweisen. Der Staat begnügt sich mit der sogenannten „praktischen
Erfahrung“. Die preußische Verordnung von 1917 sieht vor, daß der Kandidat
nach Beendigung seines fachwissenschaftlichen Studiums einer Schule zu¬
gewiesen und unter der Leitung „bewährter“ Schulmänner pädagogisch aus¬
gebildet wird. Nach der sächsischen Verordnung von 1912 ist diese Aus¬
bildung am besten „älteren“ Lehrern zu übertragen. Hier haben wir das
bekannte mittelalterliche System vor uns, nach welchem der „Schulgehilfe“
beim „Schulmeister“ in die Lehre geht und die notwendigen Handgriffe ihm
abguckt. Die Volksschule hat dieses System auch einmal gehabt; sie hat es
aber seit mehr als einem halben Jahrhundert überwunden und zur Seite
geschoben. Die höhere Schule wird ihrem Beispiel folgen müssen; die Reform
der Schule fordert gebieterisch die Reform der Lehrerbildung, und diese wird
hoffentlich durch die Neugestaltung der Volksschullehrerbildung in die richtige
Bahn gelenkt werden.
Die Auffassung des Fachwissenschaftlers, von der wir oben ausgingen,
ist also bis zu einem gewissen Grade berechtigt: die pädagogische Technik
besteht in der Tat zu einem wesentlichen Teile in der Übermittlung fach¬
wissenschaftlicher Erkenntnisse, in der Übermittlung von Kulturgütern an den
*) Vergl. auch W. Stern, Jugendkunde und Pbilologenscbaft (Dtsch. Phil.-Bl., 1921, S. 436).
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Schulreform und Bildungszweck
213
jugendlichen Menschen. Vom Standpunkte des Fachwissenschaftlers aus ist
es deshalb auch leicht zu verstehen, daß hier und da der Vorschlag aufge-
getaucht ist, das Gesamtgebiet der pädagogischen Theorie aufzulösen und
jedem Fachgebiete anhangsweise eine Summe von unterrichtstechnischen
Anweisungen beizugeben. Aber solche Vorschläge zeigen doch eben, wie
fremd der Fachwissenschaftler dem eigentlichen Wesen der Pädagogik gegen¬
übersteht. Erbegeht einen sehr groben Denkfehler: er setzt als selbstver¬
ständlich voraus, daß sein Fachgebiet in den Erziehungsplan als Bildungsgut
aufgenommen und ohne weiteres in der Psyche des Zöglings wirkungs¬
voll wird, sobald es — unterstützt durch die lebensvolle Persönlichkeit des
Lehrers — im Klassenpensum auftritt. Der Fachwissenschafller sieht nicht
die Gebundenheit aller pädagogischen Maßnahmen an den Gesamtzweck
der Erziehung. Der Zweckgedanke ist es, der die Aufnahme irgendeines
Kulturgutes in den Erziehungsplan Oberhaupt erst möglich macht; und wenn
es zugelassen ist, dann muß es in allen seinen Teilen dem Zweckgedanken
dienstbar gemacht werden. In dem Augenblick, da der Fachgelehrte in
das Schulzimmer und an den Zögling herantritt, begibt er sich in den Dienst
des Erziehungszwecks, und seine Wissenschaft ist von diesem Augenblick an
nur Mittel zum Zweck, ist nur ein reiches Magazin von Forschungsergebnissen,
aus dem er als Erzieher dasjenige Material auswählt, das ihm hierbei als
wertvoll erscheint. Als Erzieher muß er sich der Einsicht fügen, daß die
gesamte Schularbeit zielbewußt und der Aufbau des Lehrplanes zweck¬
mäßig sein muß. Gerade fQr die Schulreform ist die Frage nach dem Wozu?
von ganz hervorragender Bedeutung; gerade hier zeigt sich mit besonderer
Klarheit, daß der erste und wichtigste Teil der pädagogischen Funktion in
der Erkenntnis und Feststellung dessen besteht, was im Hinblick auf den
Zweck der Erziehung f ür den Zögli ng notwendig oder wenigstens wünschens¬
wert ist. Eine große Menge von Fragen taucht heute auf, die gebieterisch
nach Antwort rufen. Soll das Latein ein verbindlicher oder ein wahlfreier
Unterrichtsgegenstand sein? Soll die englische oder die französische Sprache
an erster Stelle stehen ? Wieviel Fremdsprachen sollen vom Schüler gefordert
werden? Darf die Chemie im Gymnasium fehlen? Soll der Handfertigkeits-
Unterricht der Unterklassen wahlfrei oder verbindlich sein? Auf alle diese
und noch viele andere Fragen läßt sich eine sichere Antwort nur auf Grund
pädagogischer Zweckerwägungen geben; der Zweckgedanke beherrscht die
ganze Pädagogik. In der höheren Schule ist diese Einsicht leider noch wenig
verbreitet, obgleich ihre Entstehung bis auf das Zeitalter Kants zurückgeht.
An diesem Mangel trägt wiederum die Universität einen großen Teil der
Schuld. Der künftige Lehrer wird auf der Universität planmäßig an fach¬
wissenschaftliches, nicht aber an pädagogisches Denken gewöhnt. Man be¬
kennt sich hier meist noch zu der Auffassung von Fr. Paulsen, der es als
völlig verfehlt erklärt hat, für das Studium des Lehrers an den höheren
Schulen die Pädagogik in den Mittelpunkt zu stellen. Aus dem Geiste
Paulsens ist auch die preußische Prüfungsordnung geboren. Sie rechnet
nicht damit, daß der Studierende bei seinem Eintritt in die Schultätigkeit
sich ganz anders einstellen, daß er von Grund aus umdenken und um¬
lernen muß. 1 ) Auf der Universität war er nur Fachgelehrter und trieb die
') Vgl. J. Kretzschmar, Die Pädagogik in der neuen preufl. Oberlehrerprüfung (Ztsctar. f. päd.
Psychol., 1918, S. 45); Entwickiungapsychologie u. Erziehungswissenschaft (Leipzig 1912), S. 195 f.
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Johannes Kretzschmar
Fachwissenschaft lediglich um ihrer selbst willen; jetzt soll er auf einmal
Erzieher sein, soll sie in den Dienst pädagogischer Zweckerwägungen stellen
und sich mit der Tatsache vertraut machen, daß selbst in Oberprima, wo
scheinbar die Fachwissenschaft unbeschränkt herrscht, doch der Bildungs¬
zweck der bestimmende Faktor ist. Diese innere Umstellung kommt nach
dem Studium viel zu spät; die Universität vermag sie offenbar deshalb nicht
vorzubereiten, weil sie sich allzu sehr als Pflegstätte der Fachwissen¬
schaften fühlt. Wie sehr sie noch in einseitig fachwissenschaftlicher Denkweise
befangen ist, zeigt deutlich die Kundgebung zur Frage der Lehrerbildung,
die im Frühjahr 1920 von der Berliner Universität ausging und der sich
zahlreiche Universitäten und technische Hochschulen angeschlossen haben.
In dieser Kundgebung ist man vor allem um die Erhaltung und Pflege der
Fachwissenschaften besorgt; im Lehrer an der höheren Schule sieht man in
erster Linie den Fachgelehrten und bloß ganz nebenher den Erzieher; in der
höheren Schule sieht man weniger die auch allgemein bildende Erziehungs¬
anstalt als vielmehr die für das fachwissenschaftliche Studium vorbereitende
Gelehrtenschule. Mit erschütternder Klarheit zeigt diese Kundgebung, wie
fremd heute noch die Universität der. Erziehungswissenschaft gegenübersteht
und wie wenig die letztere in der Lage ist, mit Festigkeit den Fachwissen¬
schaften gegenüber sich zu behaupten und ihren Standpunkt durchzusetzen. *)
Hoffentlich bringt auch hier das pädagogische Studium der Volksschullehrer
den notwendigen Fortschritt!
Wie heißt nun dieser Zweck, der die ganze Erziehung beherrscht — in
Familie, Volksschule und höherer Schule — und' von dem auch die päda¬
gogische Reformbewegung abhängig ist? Liefert die Erziehungswissenschaft
auch hier, wie bei der Frage der Methode, das unentbehrliche Rüstzeug?
Leider müssen wir gestehen, daß uns bei dieser so ungemein bedeutungs¬
vollen Frage die wissenschaftliche Forschung völlig im Stich läßt und ver¬
sagt. Was in den letzten Jahren hier Wertvolles auf dem Gebiete der
Schulreform geleistet worden ist, was getan worden ist, um gewisse Unter-
ricbtsgegenstände in den Hintergrund und andere in den Vordergrund zu
schieben, ist im wesentlichen rein gefühlsmäßig und auf Grund des ge¬
sunden Menschenverstandes geschehen: die jugendliche Psyche, an die wir
methodisch anknüpfen, kennen wir heute einigermaßen — den Gesamtzweck
der Erziehung, dem alle pädagogischen Einzelmaßnahmen unterzuordnen sind,
kennen wir noch nicht!
Früher zeigte die Philosophie den höchsten und den ganzen Zweck.
Die Kantianer und auch Herbart zogen den Begriff der menschlichen Be¬
stimmung heran, um mit seiner Hilfe den Zweckbegriff mit Inhalt zu füllen.
Aus diesem Grunde hat bereits Gr.eiling 1793 die Pädagogik als Tochter
der Ethik bezeichnet — nicht also deshalb, weil sie die Wissenschaft von
den wertvollsten Idealen ist, sondern lediglich deshalb, weil sie den Begriff
der Bestimmung enthält. Die Kantianer suchten zunächst die wichtigste
Bestimmung des Menschen und leiteten aus ihr den Hauptzweck der Er¬
ziehung ab, dem die Nebenzwecke und die Entwicklung der Anlagen an¬
gepaßt werden. Herbart suchte die eine und ganze Bestimmung des
Menschen, leitete aus ihr den einen und ganzen Zweck der Erziehung ab
! ) Vgl. auch F. Krieck, Erziehung und Entwicklung (1921), S. 69 f.
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Schulreform und Bildungszweck
215
und deduzierte aus ihm Unterricht und Zucht als Teilziele. 1 ) Leider
ist es ihm nicht gelungen, in der Charakterstärke der Sittlichkeit den all¬
umfassenden Zweck nachzuweisen, auf den sich ausnahmslos alle Gegen¬
stände der Erziehung streng logisch zurückführen lassen. Die Erwerbs¬
geschicklichkeit hat er aus der eigentlichen Pädagogik ausgeschieden, weil
sie nichts darüber aussagt, ob der Mensch besser oder schlechter wird; aus
dem gleichen Grunde rechnet er die körperliche Ertüchtigung nicht zur eigent¬
lichen Erziehung. Die Sittlichkeit bedeutet also nicht den pädagogischen
Gesamtzweck, sondern nur einen — wenn auch besonders wertvollen —
Teilzweck. Natorp hat diesen Fehler Herbarts erkannt; statt jedoch auf
die Quelle des Denkfehlers zurückzugehen, tut er einen Schritt rückwärts:
er betont neben der Ethik die Ästhetik und die Logik als zielsetzende Grund¬
wissenschaften und fordert, daß die seelische Entwicklung -des Kindes mit
Hilfe dieser drei Wertgebiete gelenkt und geleitet werde. Den bedeutungs¬
vollen Gedanken Herbarts, daß die pädagogische Funktion demjenigen Zweck¬
inhalt praktisch untergeordnet werden muß, auf den sie sich auch logisch
zurückführen läßt, gibt er preis und begnügt sich mit dem Standpunkte, der
vor Herbart eingenommen wurde. 2 ) Von einer befriedigenden philosophischen
Grundlegung der praktischen Pädagogik kann also hier keine Rede sein. In
den letzten Jahren ist auch die Soziologie oft als zielsetzende Grund¬
wissenschaft genannt worden; sie stellt sich jedoch bei näherer Betrachtung
lediglich als eine rein theoretische Hilfswissenschaft heraus, welche die sozialen
Bedingungen der Erziehung mit untersuchen hilft und ähnliche Dienste
leistet wie die Jugendpsychologie für die Erforschung der seelischen Be¬
dingungen der Erziehung. Auch aus ihr läßt sich also kein Gesamtzweck
gewinnen, und da die Psychologie heute fast allgemein als exakte Tatsachen¬
forschung treibende Einzelwissenschaft anerkannt wird, so muß man wohl
vom Endederphilosophisch begründeten systematischen Pädagogik sprechen. 3 )
Man redet zwar seit 0. Willmann, Fr. Paulsen und Natorp viel von der kultur¬
philosophischen Begründung; es handelt sich aber hierbei weniger um
die wissenschaftliche Begründung der praktisch-pädagogischen Maßnahmen
als vielmehr um die Einreihung der Erziehung in die Weltanschauung; man
stellt die Tatsache fest, daß durch die Erziehung die Kultur fortgepflanzt
wird, daß die Erziehung die Übermittlung von absoluten Werken an das
jugendliche Individuum ist, und kommt über die Feststellung dieser Tatsache
nicht hinaus.
W. Münch hat gelegentlich einmal die Bemerkung gemacht, daß unsere
wissenschaftliche Pädagogik außerordentlich weltfremd sei; auf die philo¬
sophisch begründete Erziehungslehre, deren letzter Ausgangspunkt die mensch¬
liche Bestimmung — d. h. der Wille der Gottheit — ist, trifft diese Bemerkung
zweifellos zu. Münch selbst bekennt sich nun als Anhänger einer anderen,
*) Vgl. Kretzschmar, Die Vorläufer der Herbartschen Pädagogik (Jhrb. d. V. f. wiss. Päd.
1917, S. 149 f.); Das Ende der pbilos. Pädagogik iLeipzig 1921, S. 7 f.),
*) Ähnlich auch M. Frischeisen-Köhler: „Pädagogik u. Ethik“ (Archiv f. Päd, l.Jahrg.
1912, S. 21 f) u. Leitsätze zur Pbilos. u. Päd. (Vierteljabrsscbr. f. pbilos. Päd., 1921, 2. Heft).
Diesen Standpunkt teUt heute auch der Verein f. wiss. Päd. auf Grund der a. a. O. von G. Weiß
vorgelegten Leitsätze. —
*) In diesem Sinne ist mein „Ende der philos. Päd.“ gemeint; S. 57 wird dort die neue
Aufgabe einer besonderen Erziehungsphilosophie angedeutet.
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Johannes Kretzschmar
von Paulsen und Willmann ausgehenden Richtung, welche der Erziehung
die Aufgabe stellt, das jeweils geltende Bildungsideal der Volksgemein¬
schaft im Zögling zu realisieren. Zweifellos besitzt diese Zielfestlegung eine
weit größere Wirklichkeits- und Lebensnahe. Bekanntlich hat Paulsen gezeigt,
wie im Mittelalter das kirchlich-lateinische, späterhin das realistisch-welt¬
männische, zu Beginn des 19. Jahrhunderts das humanistische Bildungsideal
die Volksgemeinschaft beherrscht hat und wie in der Gegenwart das Ideal
volkstümlich-demokratische und wieder realistische Tendenzen erkennen läßt
Aber gegen eine pädagogische Zwecksetzung auf dieser Grundlage müssen
doch ebenfalls ernste Bedenken geltend gemacht werden. Einerseits ist der
Zweck hier noch weniger wissenschaftlich fundiert als bei der philosophischen
Pädagogik; Willmann hat in seiner „Didaktik“ zugegeben, daß das Ideal
nicht sowohl der Reflexion als vielmehr einer Intuition entstammt, die mit
der künstlerischen Verwandtschaft hat. Andererseits stellt die Realisierung
des Bildungsideals keinen umfassenden Zweck dar, aus dem sich ohne
Ausnahme sämtliche pädagogischen Teilzwecke deduzieren lassen. Paulsen
selbst hat erklärt, daß beim Auftreten eines neuen Bildungsideals das alte
nicht ganz außer Kurs gesetzt werde, sondern noch erhalten bleibe; alle in
der Vergangenheit jeweils erreichten Gestaltungen wirken also auch in der
Gegenwart nach, und die neue Form steht nur weiter im Vordergründe. Daß
hier der wissenschaftlich empfindende Erzieher auf höchst unsicherem Boden
steht, kann keinem Zweifel unterliegen; keine einzige von den vielen bren¬
nenden Fragen der Schulreform kann mit Sicherheit entschieden werden,
und niemand kann ein klares Urteil darüber fällen, ob irgendein Gegenstand
grundsätzlich in den Lehrplan gehört oder nicht. Nicht viel weiter kommen
wir mit der Auffassung, welche von der sogenannten Sozialpädagogik
vertreten wird. Die Anhänger dieser Richtung sehen als umfassendes Er¬
ziehungsziel die'Hingabe der Persönlichkeit an die Gemeinschaft
an, und viele von ihnen legen großes Gewicht darauf, zu betonen, daß in
dieser Zielsetzung auch alle möglichen Teilziele enthalten sind. NachP. Berge¬
mann liegt in ihr „alles beschlossen“; nachNatorp ist die Sozialpädagogik
nicht ein abtrennbarer Teil der Erziehungslehre neben der Individualpädagogik,
sondern „die konkrete Fassung der Aufgabe der Pädagogik überhaupt“; nach
G. Kerschensteiner müssen in der Hingabe an die Gemeinschaft als dem
obersten und höchsten Zweck „alle niedrigeren Zwecke notwendig enthalten
sein“; nach Paulsen schließt mindestens „der soziale Charakter der Er¬
ziehung das individuelle Moment nicht aus“. Bei näherer Betrachtung muß
man auch hier mißtrauisch werden. So berechtigt die Forderung der sozialen
Erziehung zweifellos ist, die umfassende Gesamtaufgabe des Pädagogen kann
sie unmöglich bezeichnen. Die Fixierung dieser eben genannten Gesamt¬
aufgabe beruht nicht, wie im Herbartschen Zeitalter, auf wissenschaftlichen
Gründen, sie ist nicht das Ergebnis eines streng logisch aufgebauten Er¬
kenntnisaktes; dieses Gesamtziel wird nicht erkannt, sondern gesetzt —
es ist mehr oder weniger ein Ergebnis der Willkür. Bedenklich stimmen
muß auch die Tatsache, daß viele Stimmen gegen diese Zielbestimmung laut
geworden sind. Schon Kant hat die Erziehung „zum Menschen und zum
Bürger zugleich“ gefordert, und seine Schüler haben diese Forderung über¬
nommen. In neuerer Zeit hat sich R. Hochegger mit Nachdruck für die
gleichmäßige Berücksichtigung der sozialen und der individuellen Seite der
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Schulreform und Bildungszweck
217
Erziehung eingesetzt; R. Lehmann stellt Goethe und Bismarck als gleich¬
wertige Erziehungsideale hin ')• Es ist ja schließlich auch aus mancherlei
Gründen kaum denkbar, daß die ganze Erziehung im Gemeinschaftsgedanken
restlos aufgehen soll. Das Individuum ist — geschichtlich betrachtet — früher
dagewesen als die Gemeinschaft, die Familie früher als Volk und Staat. Und
das Gemeinschaftsleben stellt doch immerhin nur eine Bedingung des
individuellen Lebens dar, hervorgebracht durch den sozialen Trieb als ererbte
Anlage. Auch die Kultur ist nicht Selbstzweck, sondern sie soll den vielen
Einzelmenschen dienen und nützen; das Individuum ist nicht bloß um der
Gemeinschaft willen da, sondern es hat auch eigene Daseinsberechtigung.
Ohne eine gewisse logische Vergewaltigung läßt sich also die Erziehung nicht
in vollem Umfange der sozialen Zweckbestimmung subsumieren. Sieht man
bei Kerschensteiner genauer zu, so kommt man schließlich bald zu dem
Eindruck, daß bei ihm weniger die logische Subsumtion als vielmehr die
praktische Unterordnung, weniger ein Erkennen als vielmehr ein bestimmtes
Handeln in Betracht kommt. Er gibt zu, daß die Betätigung der künst¬
lerischen Kräfte, daß das Bedürfnis nach religiöser Erhebung in der mensch¬
lichen Natur begründet ist; er deduziert die Entwicklung und Pflege dieser
Anlagen also nicht aus den Notwendigkeiten des Gemeinschaftslebens heraus —
die Gemeinschaft soll lediglich die Möglichkeit zur Entwicklung der Natur¬
anlagen gewähren. Und diese Entwicklung wird nur insoweit gutgeheißen,
als sie sich mit dem allgemeinen Zweck verträgt; die niedrigeren Zwecke
„müssen" im höchsten Zweck enthalten sein, d. b. sie sollen sich ihm beugen,
sollen sich ihm fügen und anpassen 2 ). So kommt Kerschensteiner schließlich
nicht weiter als Natorp; er fordert Unterordnung aller Maßnahmen unter
einen obersten Zweck und vergißt dabei den unentbehrlichen Nachweis, daß
sich die Pflege und Übung der jugendlichen Anlagen auch mit logischer
Folgerichtigkeit aus eben diesem obersten Zweck ableiten läßt. So führt
auch sein Versuch auf ein totes Gleis, und die Schulreform auf dieser Grund¬
lage bringt bedenkliche Einseitigkeiten.
Wir müssen also nochmals hervorheben: einen wissenschaftlich begrün¬
deten Gesamtzweck der Erziehung, auf den sich ausnahmslos alle Maßnahmen
als Teilzwecke logisch einwandfrei zurückführen lassen, besitzen wir augen¬
blicklich noch nicht. Wir ahnen ihn vorläufig nur und vermögen aus An¬
deutungen, die hier und da in den pädagogischen Untersuchungen auftauchen,
einigermaßen zu ersehen, wie er beschaffen ist. Richtig ist da zweifellos die
Erkenntnis, daß die erfahrungsmäßig gegebene Erziehung einerseits Entwick¬
lung der Anlagen, andererseits Übermittlung von Kultqrgütern ist; nur
wird das erstgenannte Moment zu sehr von der Volksschule, das letztgenannte
zu sehr von der höheren Schule in den Vordergrund gerückt. Meist stimmt
man auch darin überein, daß beide Seiten der pädagogischen Funktion der
künftigen, selbständigen Lebensgestaltung des Zöglings dienen sollen.
Dies hat Herbart im Sinne, wenn er von den Zwecken spricht,, die sich der
Knabe einst als Mann setzen soll; dies meint auch von ihrem Standpunkt
aus die Sozialpädagogik, wenn sie das Kind zur Mitarbeit am Gemeinschafts¬
leben heranbilden will. H. Gaudig tritt in seinen Sbhriften in ähnlichem
') Vergl. »Ende usw.“, S. 58.
*) Kerschensteiner, Begriff der Arbeitsschule. 4. Aull. 1920, S. 8f.; ähnlich A. Messer,
Weltanschauung u. Erziehung, 1921, S. 12.
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Johannes Kretzscbmar
Sinne für die Erziehung zur Persönlichkeit ein, und M. Frischeisen-Köhler
spricht ausdrücklich von dem Werte der Kulturgüter für die Gestaltung des
Daseins. 1 ) Strittig ist nur die Richtung dieser Lebensgestaltung. Man wird
wohl im Gegensatz zu den Vertretern der Sozialpädagogik annehmen dürfen,
daß sie vom Erzieher nicht nur bestimmt wird durch die Rücksicht auf die
Wohlfahrt der Gemeinschaft (der „anderen"), sondern auch durch die.
Rücksicht auf das Wohlergehen des Zöglings selbst Man kann aber auch
noch weitergehen. Für das Wohl der ganzen Volksgemeinschaft sorgt die
ungeheure Menge der Eltern und Lehrer in ihrer Gesamtheit. Wir gelangen
logisch zu demselben Ergebnis, wenn wir fordern, daß der einzelne Er¬
zieher das Wohl des Individuums und die Gesamtheit der Erzieher das
Wohl der Gemeinschaft im Auge behalten soll. Nun hat es die Päda¬
gogik mit dem einzelnen Erzieher und der einzelnen Zöglingsindivi¬
dualität, also mit einem Bruchteile der Gemeinschaft zu tun; deshalb ist es
logisch zulässig, zu sagen, daß der einzelne Erzieher auf eine Lebensgestaltung
hinzielt, die der Wohlfahrt des ihm persönlich anvertrauten Zöglings dient.
Der von uns gesuchte Gesamtzweck der Erziehung würde also hiernach rein
formal darin bestehen, das heran wachsende Indivfduum zu der für
sein Wohlergehen notwendigen Lebensgestaltung zu befähigen.
Diese Festlegung würde durchaus den beiden weiter oben aufgestellten An¬
forderungen entsprechen: sie ist umfassend und läßt hinreichend wissen¬
schaftlich begründen. Umfassend ist dieser Zweck, weil sich auch die
kleinste pädagogische Maßnahme streng logisch auf ihn zurückführen läßt;
er schließt auch die Mitarbeit des Zöglings an den Aufgaben des Gemein¬
schaftslebens in sich, da dieselbe letzten Endes ihm selbst wieder zugute
kommt: sie gewährt ihm materiellen Nutzen und gibt seinem Leben einen
Inhalt. Wissenschaftlich begründen läßt sich dieser Zweck insofern, als er
auf den sicheren Ergebnissen der pädagogischen Tatsachenforschung auf¬
gebaut werden kann. Die philosophische Pädagogik ist metaphysisch be¬
gründet; sie geht auf die menschliche Bestimmung, d. h. auf den Gottheits¬
willen, zurück. Die soeben gewonnene Zweckformulierung hingegen besitzt
die denkbar größte Lebensnähe; sie ergibt sich auf Grund der Erfahrung als
unabweisbares, dringendes Bedürfnis der menschlichen Natur. Auf jeder
Stufe der Kultur braucht der Mensch bestimmte Seelenkräfte und bestimmte
Kulturgüter, einmal, um sein Leben zu erhalten, um nicht Hungers sterben
zu müssen und im Armenhause oder Krankenhause oder im Gefängnisse zu
enden; zum anderen, um seinem Dasein über den bloßen Lebensunterhalt
hinaus einen Inhalt zu geben. Mit dieser feststehenden Tatsache muß auch
die Pädagogik der Gegenwart und Zukunft rechnen. 2 )
Nun wird freilich die hier gegebene allgemeine Zweckfestsetzung der päd¬
agogischen Praxis noch nicht ganz genügen. Wir wollen ja nicht bloß wissen,
ob ein Kulturgut überhaupt und grundsätzlich zur richtigen — d. h. der
Wohlfahrt des Zöglings entsprechenden — Daseinsgestaltung notwendig ist,
sondern wir müssen auch erkennen, inwieweit und in welchem Grade
es dazu erforderlich ist. Hier ist folgendes zu erwägen: Es ist oben hervor¬
gehoben worden, daß die pädagogische Funktion in der Entwicklung von
') Frischeisen-Köhler, Kultur und Bildungsideal (Dtscb. Phil.-Bl., 1921, S.426f.). Ähnlich
dort auch A. Messer, Fachwissenschaft und Pädagogik (S. 429f.).
*) Vgl. „Entwicklungspsychologie usw.“, S. 165f., 183f.; „Ende usw.“, S. 51.
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Schulreform und Bildungszweck
219
Anlagen und der Übermittlung von Kulturgütern besteht. Das Ergebnis der
erziehenden Tätigkeit bezeichnen wir als Bildung. Wir verstehen darunter
nicht bloß, wie dies z. B. bei W. Rein der Fall ist, den Intellekt, sondern
auch das Fühlen und Wollen, mithin den seelischen Gesamtzustand, der
im Hinblick auf den pädagogischen Gesamtzweck erstrebt wird. Diesem
Zweck gegenüber kommt die Bildung in doppelter Hinsicht in Betracht: der
Zögling braucht irgendein Kulturgut entweder als Bestandteil der Fachbil¬
dung oder als Bestandteil der Allgemeinbildung. Der Begriff der All¬
gemeinbildung ist von Kerschensteiner heftig bekämpft worden und zwar,
wie man zugeben muß, zum großen Teil mit Recht Aber trotzdem können
wir auf ihn nicht verzichten; es kommt nur darauf an, ihn einer kritischen
Prüfung zu unterziehen und mit einem wertvolleren Inhalte zu füllen. Un¬
brauchbar ist zweifellos der Begriff der allgemeinen Bildung im Sinne der
konventionellen Überlieferung, wonach es z. B. selbstverständlich ist, daß
jemand die vier großen und die zwölf kleinen Propheten des Alten Testa¬
ments aus dem Kopfe aufsagen kann; auch die Forderung der französischen
Sprache fällt vielfach unter diese Auffassung. Einseitig ist sodann jener Be¬
griff von allgemeiner Bildung, der darunter bloß die Totalität des seelischen
Lebens verstanden wissen will und damit die Vorstellung von der harmo¬
nischen Ausbildung aller Seelenkräfte verbindet. Die richtige Auffassung ge¬
winnen wir, wenn wir an gewisse geschichtliche Tatsachen anknüpfen. Im
8. und 9. Jahrhundert gehörten Lesen und Schreiben zur Fach- oder Spezial¬
bildung, nämlich zur Bildung der künftigen Geistlichen, d. h. der Gelehrten;
sie waren Fertigkeiten, die der Klosterschüler nur mit einzelnen wenigen
Volksgenossen teilte. Heute gilt es bei uns für ausgemacht, daß jedes
Glied der Gemeinschaft — also auch jeder Zögling — im Besitze dieser
Fertigkeiten sein muß: Lesen und Schreiben gehören zur allgemeinen Bil¬
dung. Umgekehrt war in der germanischen Urzeit die Kenntnis des Waffen¬
gebrauchs für jeden Jüngling notwendig, während sie heute nur noch vom
künftigen Berufssoldaten verlangt wird; dieses Kulturgut ist aus der allge¬
meinen Bildung in die Fachbildung hinübergewandert Aus dieser Gegen¬
überstellung ersehen wir, daß die Fachbildung für den Beruf und die Be¬
friedigung von besonderen, individuellen Anlagen und Neigungen bestimmt
ist; die allgemeine Bildung gilt der übrigen Lebensgestaltung, sie geht auf das,
was der Zögling nicht als Berufsmensch und Fachmann, sondern als Glied
der Volksgemeinschaft und der Menschheit tut und wozu er im wesentlichen
denselben geistigen Besitz braucht wie alle anderen auch; man kann dies
als allgemeine Lebensgestaltung bezeichnen. Wir müssen also sagen:
die Fach- oder Spezialbildung dient dem künftigen Beruf oder
dem individuellen Interesse des Zöglings, die Allgemeinbildung
dient seiner allgemeinen Lebensgestaltung.
Für die Frage der Schulreform dürfte diese Unterscheidung von nicht ge¬
ringem Werte sein. Aus ihr ergibt sich zunächst, daß die höhere Schule im
Hinblick auf den eben dargelegten Gesamtzweck der Erziehung die künftige
Lebensgestaltung ihrer Zöglinge im vollen Umfange vorbereiten und aus
diesem Grunde auf beide Richtungen der Bildung binarbeiten muß: sie muß
allgemeine und fachliche Bildung vermitteln. Die höhere Schule ist von der
Volksschule graduell verschieden: sie will solche Menschen erziehen, die nach
der Seife des Intellekts und des Willens besonders begabt sind und an die
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Johannes Kretzschmar
sie strengere Anforderungen als an den Durchschnittsmenschen zu stellen
vermag. Deshalb zielt sie auf einen höheren Grad von allgemeiner und von
fachlicher Bildung hin und beurteilt von diesem Gesichtspunkte aus alle
Kulturgüter, die au ihren Grziehungsplan herantreten. Sie unterscheidet ver¬
bindliche und wahlfreie Unterrichtsgegenstände und prüft bei solchen
Gegenständen, die beiden Bildungsgebieten angehören können, bis zu welchem
Grade sie zur Allgemeinbildung und von welchem Grade an sie zur Spezial¬
bildung zu rechnen sind. Für die allgemeine Lebensgestaltung sind hier u. a.
zweifellos notwendig und deshalb auch als verbindliche oder Pflichtfächer
anzusehen: Gesundheitslehre und Körperpflege, Religion, Gesang, Kunst- und
Musikgeschichte, Vertrautheit mit der deutschen Muttersprache, ferner Geschichte
und Erdkunde, philosophische Propädeutik. Von besonderer Wichtigkeit ist
die staatsbürgerliche Bildung. Im absoluten Staate war politisches Wissen
und Können Sache der Fachbildung, deren nur die wenigen Regierenden
bedurften. Im modernen Volksstaate, der jedem Bürger, auch dem weiblichen
Geschlecht, aktives und passives Wahlrecht gewährt, gehören politische Ur¬
teilsfähigkeit und politisches Verantwortlichkeitsgefühl naturnotwendig zur
allgemeinen Volksbildung. In die Staatsbürgerkunde muß jeder Schüler ein¬
geführt werden, und mit dieser Einführung muß die planmäßige Erziehung
zur Selbstverwaltung innerhalb der Schulklasse und der ganzen Schulgemein¬
schaft — also die planmäßige Willensbildung — Hand in Hand gehen. Deutlich
erkennbare Vertreter der Fachbildung und deshalb als wahlfreie Gegen¬
stände zu behandeln sind die griechische und die hebräische Sprache. Auf
strittiges Gebiet gelangen wir beim Latein und den modernen Fremd¬
sprachen. In der Gegenwart spielt die Frage eine große Rolle, wieviel und
welche Fremdsprachen für die Allgemeinbildung als notwendig anzuerkennea
sind. Im Hinblick auf die Entwicklung der Realwissenschaften im 19. Jahr¬
hundert und die dadurch bedingte Ausdehnung des Bildungsgebietes muß
heute als richtig angenommen werden, daß drei oder vier Sprachen, wie sie
das Gymnasium aufweist, entschieden zuviel sind, und mit Recht ist der
Vorwurf des Philologismus erhoben worden. Andererseits aber ist eine ein¬
zige Fremdsprache für die höhere Schule ohne Zweifel zu wenig. Die Kenntnis
der neueren Sprachen ergibt sich in der Gegenwart als dringende Notwen¬
digkeit aus der staatsbürgerlichen Erziehung heraus; die Nation als Ganzes
muß heute diejenige Sprache an erster Stelle pflegen, die für unsere Be¬
ziehungen zum Ausland die größte Wichtigkeit besitzt: das Englische.
Daneben aber muß noch eine von den Sprachen verlangt werden, die den
anderen wichtigen Nachbarländern angehört: Französisch, Russisch, Schwe¬
disch, Italienisch. Für eine von diesen Sprachen muß sich der Schüler auf
jeden Fall entscheiden. Was das Latein betrifft, so ist es früher lange ein
unangefochtener Bestandteil der Allgemeinbildung gewesen. Seit dem Augen¬
blick jedoch, wo die Oberrealschule ins Leben trat und es wahlfreier Unter¬
richtsgegenstand wurde, ist es in die Fachbildung hinübergewandert. Und
auch für den Gelehrten ist es nicht mehr in demselben Maße erforderlich
wie früher; er kann auf die Übersetzung aus dem Deutschen ins Lateinische
vollständig verzichten und muß nur noch die Fähigkeit besitzen, schwierigere
altsprachliche Texte — auch aus dem Mittelalter — fließend ins Deutsche
übersetzen zu können. Aus der Allgemeinbildung wird man freilich die alten
Sprachen nicht gänzlich entfernen können; in die deutsche Sprache ist —
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Schulreform und Bildungszweck
namentlich durch den wissenschaftlichen Sprachgebrauch — so viel antikes
Kulturgut übergegangen, daß es als unabweisbare Pflicht erscheint, dem äl¬
teren Schüler zum Verständnis der zahlreichen Fremdwörter uud feststehenden
Redensarten zu verhelfen und wenigstens die lateinisch-griechische Wort¬
kunde als Pflichtfach einzuführen. Strittig ist auch das Gebiet der Mathe¬
matik. Hier kann aber wohl nach unseren Darlegungen keinerlei Zweifel
darüber bestehen, daß analytische und darstellende Geometrie, Differential-
und Integralrechnung der Fachbildung zuzuzählen und als wahlfreie Gegen¬
stände anzusehen sind, während Algebra und euklidische Geometrie zur All¬
gemeinbildung zu rechnen sind und als verbindliche Fächer betrachtet werden
müssen. Eingehendere Erwägungen wird man schließlich noch bei den Natur¬
wissenschaften darüber anzustellen haben, inwieweit ihr Stoffgebiet für die
beiden Richtungen der Lebensgestaltung in Betracht kommt. Daß im Gym¬
nasium die Chemie bisher vollständig gefehlt hat, kann unmöglich richtig
sein; andererseits müssen wohl alle schwierigeren Spezialfragen von der All¬
gemeinbildung ferngehalten und der Fachbildung zugewiesen werden.
Herrscht nun volle Klarheit darüber, ob und inwieweit ein Kulturgut in
den Lehrplan aufzunehmen ist, so muß noch die andere wichtige Frage
geklärt werden, wie die Scheidung zwischen allgemeiner und fachlicher
Bildung im Aufbau des Lehrplanes sichtbar wird. Kerschensteiner macht
einen scharfen Unterschied zwischen der alten und der neuen Schule. Nach
seiner Auffassung will das alte Schulsystem den Zögling über den allgemein¬
gebildeten Menschen zum Berufsmenschen führen, das neue hingegen über
den beruflich erfaßten und vertieften zum allgemeingebildeten Menschen. 1 )
Wir treffen wohl auf Grund unserer Darlegungen das Richtige, wenn wir
fordern, daß grundsätzlich die Fachbildung neben der Allgemeinbildung
im Erziehungsplane ihren Platz hat und in methodischer Hinsicht so bald
als möglich im Bildungsgänge des Zöglings auftritt. Dieses Auftreten kann
freilich nicht eher erfolgen, als bis volle Klarheit über die individuelle An¬
lage gewonnen ist. Bis zu einem gewissen Grade ist diese Klarheit erreicht,
wenn der Knabe oder das Mädchen nach dem Besuche der vierjährigen Grund¬
schule als hinreichend begabt erkannt wird, um der höheren Schule zugeführt
zu werden. Aber die Beobachtung des Schülers muß hier zunächst weitergehen.
Die Erziehung muß mit seinen sämtlichen seelischen Kräften Fühlung
gewinnen und diese zu allen Seiten der Kultur in Beziehung setzen; die
Entscheidung darüber, welcher Zweig der höheren Bildung dem Schüler an¬
gemessen ist, wird erst zu fällen sein, wenn sich das Urteil über ihn noch
weiter geklärt hat. Der Schüler wird sich deshalb nicht bloß im Unterrichts¬
zimmer, im Zeichen-, Sing- und Turnsaal, sondern auch in der Werkstatt und
im Schulgarten betätigen müssen; in den Unterklassen der höheren Schule
müssen Werkunterricht und Gartenpflege verbindliche, nicht wahlfreie,
Lehrfächer sein. Wann soll nun die Entscheidung fallen? Die Reform¬
bewegung von heute steht auf dem Standpunkt des dreijährigen gemeinsamen
Unterbaues für alle höheren Schulen; das Reformgymnasium sowie das
Reform realgymnasium fordern die Entscheidung also von Untertertia an. Wenn
auf dem Wege der Gesetzgebung diese Einrichtung allgemein durchgeführt
und auch auf die noch bestehenden alten Gymnasien und Realgymnasien
*) Kerschensteiner, Das Grundaxiom des Bildungsprozesses (1917), S, 88; 42.
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222
Johannes Kretzschmar, Schulreform und Bildungszweck
angewandt würde, dann wäre schon sehr viel erreicht. Dann könnten von
Untertertia an auch Werkunterricht und Gartenpflege wahlfrei werden, und
die Kurzschrift könnte ebenfalls als wahlfreies Fach hinzutreten. Aber bei
näherer Betrachtung erscheint auch diese Klasse für die Spaltung der höheren
Schule noch zu früh. Wir hatten früher im Gymnasium die höhere Ein¬
heitsschule, heute sehen wir ein höchst kompliziertes System vor uns:
altes Gymnasium, Reformgymnasium, Realgymnasium, Reformrealgymnasium,
Oberrealschule, Oberschule mit zwei Fremdsprachen, Oberschule mit einer
Fremdsprache — dazu noch die mannigfachen Gabelungen. Wir müssen so
rasch als möglich wieder aus dieser verwirrenden Fülle heraus und so weit
als möglich wieder zu einem einheitlichen Organismus gelangen. Diese
Möglichkeit besteht: wir sind in der Lage, einen fünfjährigen gemeinsamen
Unterbau zu fordern. Sieht man sich nämlich z. B. den kürzlich vom
Sächsischen Philologenverband aufgestellten Entwurf an — derselbe hat einen
dreijährigen gemeinsamen Unterbau, einen etwas differenzierten zweijährigen
Mittelbau und einen gegabelten vierjährigen Oberbau 1 ) — so sieht man in
den fünf unteren Klassen soviel Gemeinsames, daß eigentlich nur das Latein
als Hindernis für die noch weitergehende Vereinheitlichung erscheint. Da
nun auch vom Standpunkte der Fachbildung aus heute geringere Anforde-'-
rungen an die Kenntnis des Lateinischen gestellt werden dürfen, so müßten
hier eigentlich die vier Jahre des Oberbaues vollständig genügen; der Latein¬
unterricht käme dann also auch für die Mittelklassen nicht mehr in Betracht.
Auch nicht in Betracht kommen würde für diese Stufe die zweite moderne
Fremdsprache. Der Zeitpunkt ihres Auftretens wird durch methodische Er¬
wägungen gegeben: Die erste Fremdsprache — in Zukunft das Englische —
wird von Sexta an getrieben; die zweite Fremdsprache kann offenbar erst
dann auf den Plan gesetzt werden, wenn in der anderen eine gewisse Sicher¬
heit erreicht ist. Diese Sicherheit ist aber am Ende der Quarta zweifellos
noch nicht da — zumal ja bis dahin selbst die Muttersprache noch gewisse
Schwierigkeiten bereitet. In der Untertertia ist sie also zu früh angesetzt,
und so dürfte mit Untersekunda auch hier der geeignete Zeitpunkt gegeben
sein. Die bisherige Realschule und die höhere Mädchenschule müßten sich
also mit einer einzigen Fremdsprache begnügen; ihr sechstes Jahr, die auf
den fünfjährigen gemeinsamen Unterbau besonders aufgesetzte Abschlußklasse,
beginnt nicht erst noch mit einer zweiten Sprache, sondern bringt mit Staats¬
bürgerkunde und Literaturgeschichte — vielleicht auch mit Kunstgeschichte
— den Bildungsgang zu einem leidlichen Abschluß. Was nun den vier¬
jährigen Oberbau betrifft, so wird man wohl gut tun, auf das System der
Gabelung zu verzichten. Mit Recht mehren sich die Stimmen, die es
verurteilen und die Spaltung in einen philologisch-historischen und einen
naturwissenschaftlich-mathematischen Zweig für wenig wertvoll halten; auch
aus der Schülerschaft und Elternschaft heraus meldet sich der Widerspruch.
Man sollte dem Schüler in der Zusammenstellung der freien Fächer keinerlei
Zwang auferlegen, sondern ihn zunächst zur Teilnahme an den Pflicht- oder
Kernfächern anhalten und ihn im übrigen ganz nach Interesse und Begabung
entscheiden lassen; Bedingung sollte nur sein, daß die Zahl der Vormittags¬
stunden nicht überschritten werden darf; die Nachmittage müssen für Spiel,
Sport und Wanderungen freibleiben.
•) Vgl. Dtsch. Philol.-Bl., 1922, 1. Heft.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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So führt die richtige Abgrenzung der Allgemeinbildung gegenüber der Fach¬
bildung zu einem für die Gegenwart sicherlich sehr wertvollen Aufbau des
höheren Schulwesens; sie ermöglicht es auf der einen Seite, die so not¬
wendige Einheit der höheren Schule bis zu einem hohen Grade durchzu¬
fahren; andererseits ermöglicht sie die ebenso notwendige Differenzierung
der Bildung. Und indem diese Abgrenzung beide Möglichkeiten schafft, hilft
sie mit ein Problem lösen, dessen Lösung um so dringlicher wird, je reicher
die Fachwissenschaften an Forschungsergebnissen werden: das Problem der
geistigen Überbürdung, das gerade für die höhere Schule von der größten
Bedeutung ist.
Kleine Beitrage und Mitteilungen.
Eine Stadiengemeinschaft für wissenschaftliche Pädagogik soll im Rahmen
des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin ins
Leben treten. Sie stellt sich die Aufgabe, wissenschaftlich bereits vorgebil¬
dete Lehrer und Lehrerinnen zu einer pädagogischen Arbeitsgemeinschaft zu
vereinigen. Den Anlaß zu dieser Gründung hat die Beobachtung gegeben,
daß es an geeignetem Nachwuchs für wissenschaftliche Pädagogik durchaus
fehlt Dieser Mangel stellt nicht nur die Weiterleitung des pädagogischen
Lehrguts in Frage, sondern er erschwert auch jede schöpferische Lösung
wichtiger organisatorischer Aufgaben, vor die unser. Schulwesen zurzeit ge¬
stellt ist. An einzelnen deutschen Universitäten wird zwar der wissenschaft¬
lichen Pädagogik bereits eine sorgsame Pflege zuteil; es fehlt jedoch an
einem Mittelpunkt, an dem sich die nach dieser Richtung Führenden ver¬
einigen und durch gemeinsame Arbeit den allseitigen Ausbau des Forschungs¬
gebietes selber fördern können. Eine solche Studiengemeinschaft einzurichten,
soll in Berlin versucht werden, und zwar in enger Verbindung mit der Uni¬
versität, mit ihren Dozenten, ihrem Pädagogischen Seminar und ihren wissen¬
schaftlichen Hilfsmitteln. Das „Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht",
das die in seinem Namen ausgesprochene Aufgabe sachlich und geographisch
immer vollständiger zu lösen bestrebt ist und nach der neuen Fassung seiner
Satzungen seine Tätigkeit auf das ganze Deutsche Reich erstreckt, wird den
organisatorischen Mittelpunkt der Neugründung bilden.
Die „Studiengemeinschaft“ soll nicht der Vorbereitung für den Lehrberuf
überhaupt dienen; sie ist vielmehr als Fortbildungsstätte gedacht für alle, die
es sich zur Aufgabe machen wollen, forschend und lehrend auf dem Gebiet
der wissenschaftlichen Pädagogik tätig zu sein.
Die Zulassung zu dieser Studiengemeinschaft ist an den Nachweis der
geeigneten Vorbildung gebunden; dieser soll aber auf freiem Wege geführt
werden können und nicht an bestimmte Schulzeugnisse oder Studienzeug¬
nisse geknüpft sein. Als Maßstab hat zu gelten, daß der Bewerber bereits
einige Zeit ein ernsthaftes Studium von akademischer Höhenlage (auf be¬
liebigem Gebiete) getrieben habe und mit den allgemeinen wissenschaftlichen
Forschungsmethoden vertraut sei. Außer Studienräten, -assessoren und
-referendaren, Seminarlehrern, Doktoren, älteren Studenten kommen also
auch Gewerbelehrer, Volksschullehrer, Frauenschullehrerinnen, die privatim
wissenschaftlich weitergearbeitet haben, als Teilnehmer in Betracht.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
Hinsichtlich der Entlastung der im Schulamte stehenden Teilnehmer der
Studiengemeinschaft, gegebenenfalls auch ihrer Beurlaubung, hat der Preußische
Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung durch Erlaß vom 18. Fe¬
bruar ds. Js. eine entgegenkommende Prüfung von Fall zu Fall zugesagt
und sich bereit erklärt, soweit es sich um Mitglieder von Gemeindeanstalten
handelt, dem Patronat zu empfehlen, Anträge auf Beurlaubung oder Ent¬
lastung in gleicher Weise zu behandeln.
Die Vorlesungen und Übungen sollen aber nach Möglichkeit so gelegt
werden, daß in Berlin wohnende Lehrer auch ohne Beurlaubung, evtl, nur
mit teilweiser Dienstentlastung, daran teilnehmen können. Die Zahl der
ordentlichen Mitglieder soll im Interesse der Erreichung des Zieles 50 nicht
überschreiten. Sie müssen ihre Absicht kundgeben, eine geschlossene Arbeits¬
zeit von etwa zwei Jahren durchzuführen. Zu den Vorlesungen — nicht
jedoch zu den Übungen — können auch außerordentliche Teilnehmer gegen
Zahlung des Honorars zugelassen werden.
Die Dozenten, die sich zur Durchführung des Planes vereinigt haben,
sind überwiegend theoretisch und praktisch voll dürchgebildete Fachmänner.
Sie hoffen, durch ihre Lehrtätigkeit selbst immer tiefer in das Gebiet hinein-
zuwachsen und erwarten von der Arbeitsgemeinschaft mit ihren Teilnehmern
dafür wesentliche Förderung. Sie werden aber auch unter sich eine Arbeits¬
gemeinschaft mit regelmäßigen Zusammenkünften bilden, bei denen sie sich
gegenseitig Vorträge halten, um die Fühlung zwischen ihren Forschungs¬
gebieten herzustellen und sich durch die Mannigfaltigkeit der Behandlungs¬
weise anregen zu lassen.
Die in Aussicht genommenen Vorlesungen und Übungen enthalten manches
Gebiet, für das im Anfang die geeigneten Dozenten noch nicht zur Verfügung
stehen. Diese Fächer können erst später eingerichtet werden. Da auch die
Teilnehmer kaum mehr als 15—18 Stunden wöchentlich bewältigen werden,
so wird angenommen, daß sie eine bestimmte Studienrichtung bevorzugen
werden. Vermutlich wird sich eine historische, eine philosophisch-ethische
und eine psychologische Gruppe von selbst herausbilden.
Die äußeren Angelegenheiten der Studiengemeinschaft leitet ein Verwal-
tungsrat, der aus Vertretern der Regierung, der Universität und des ge¬
schäftsführenden Vorstandes der Jubiläumsstiftung für Erziehung und Unter¬
richt gebildet ist. Die inneren (wissenschaftlichen) Angelegenheiten regelt
das Dozentenköllegium in ständiger Fühlungnahme mit den ordentlichen
Mitgliedern, wofür die Formen nach Errichtung der Studiengemeinschaft ge¬
funden werden müssen. Die Entscheidung über die Zulassungsgesuche trifft
eine Kommission von 5 Mitgliedern, die aus dem Verwaltungsrat und dem
Dozentenkollegium zusammengesetzt ist.
Die Einteilung des Studienjahres fällt mit dem der Universität un¬
gefähr zusammen, jedoch mit dem Unterschiede, daß es in drei Abschnitte
ungefähr gleichen Umfangs zerlegt wird: 1. Trimester: 24. April bis 15. Juli,
2. Trimester: 16. Oktober bis 22. Dezember, 3. Trimester: 8. Januar bis 15. März.
Für das Sommersemester 1922 sind folgende Veranstaltungen in Aussicht
genommen:
Prof Dr. Spranger: Geschichte der Pädagogik vom Altertum bis zu Rousseau (3ständig);
Prof. Dr. Spranger: Sokrates als Pädagoge (Übungen, 1 ständig) (Kenntnis dea Griechischen
nicht Bedingung);
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
225
Dr. Müller-Freienfels*: Die philosophischen Grundlagen der Pädagogik (3 ständig mit
Colloquium);
Dr. Birkemeier, Allgemeine philosophische Didaktik mit Obungen (3st&ndig);
Dr. Bobertag: Allgemeine Entwicklungspsychologie als Grundlage der Erziehung (2ständig);
Dr. Wert he im er: Einführung in die experimentelle Psychologie (2 ständig).
Über die Aufgaben und die Organisation der Versuchsschularbeit in Öster¬
reich erstattet Th. Steiskal im 1. Hefte der „Schulreform“ einen kurzen Bericht.
Es ergibt sich daraus, daß dem Umfange nach die österreichischen Einrich¬
tungen und Bestrebungen den ähnlichen Unternehmungen in Deutschland
überlegen sind. Ermöglicht wurde die Begründung von Versuchsarbeit durch
einen Erlaß des Unterrichtsministeriums aus der Mitte des Jahres 1919. Es
begann dann bald das Einsetzen mit Versucbsklassen für alle Altersstufen in
Stadt und Land. In Wien allein sind im Schuljahre 1919/20 nicht weniger
als 108 Versuchsklassen an Volksschulen und 14 Versuchsklassen an Bürger¬
schulen, teilweise für Knaben, teilweise für Mädchen, teilweise gemischt, er¬
richtet worden. Als voll ausgebaute Versuchsschulen gelten die Staats¬
erziehungsanstalten in Wien, Traiskirchen und Liebenau (Erprobung des
Lehrplanes der deutschen Mittelschule).
Die Absicht dieser großangelegten Versuchstätigkeit ist: 1. der Lehrerschaft
Gelegenheit zu geben, den Weg von der Theorie zur Praxis der Arbeitsschule
zu gehen, die theoretisch einwandfreien Grundsätze der Arbeitsschule in der
Praxis zu erproben, 2. von der Durchführbarkeit des neuen arbeitsunterricht-
lichen Verfahrens durch das Beispiel zu überzeugen und 3. auch die Eltern¬
schaft für die moderne Unterrichtspraxis zu gewinnen und sie zum Eintreten
für eine zeitgemäße Unterrichtsrefoim im Interesse ihrer Kinder zu gewinnen.
Dem von der Lehrerschaft geäußerten Wunsche entsprechend, wurde das
Hospitieren in den Versuchsklassen an zwei oder vier Tagen im Monat
gestattet. Man bestimmte dazu in Wien an Volksschulen 92 und an Bürger¬
schulen 34 Hospitierklassen. In Wien wurde weiter mit Erlaß des Bezirks¬
schulrates vom 30. August 1920 den Lehrkräften der Hospitierklassen, die
den Fragen der pädagogischen Psychologie und der Didaktik besonderes
Interesse entgegenbringen, die Bearbeitung eines selbstgewählten Themas
empfohlen. Aus der großen Fülle der sich anbietenden psychologischen
und didaktischen Fragen wurden genannt:
1. Beziehungen zwischen dem körperlichen Befund und der geistigen Leistungsfähigkeit der
Kinder.
2. Beziehungen zwischen der Schärfe der Sinne und der geistigen Leistungsfähigkeit der Schüler.
3. Beobachtungen über das Verhalten der Schäler auf Lehrausgfingen und Lehrwanderungen.
4 . Wie lernen die einzelnen Schäler der Klasse am leichtesten (sehend, hörend, laut oder
leise sprechend)?
5 Wieviele Lesungen sind bei den einzelnen Schülern zur Beherrschung eines bestimmten
Stückes notwendig?
6. Untersuchungen a) über die zweckmäßigste Art der Erlernung der Rechtschreibung, b) über
die häufigsten Rechtschreibfehler der Schüler, c) über Wort und Begriffsschatz der einzelnen
Altersstufen, d) über die Entwicklung der sprachlichen, zeichnerischen, plastischen und musi¬
kalischen Ausdrucksfähigkeit, e) über originelle Rechen weisen der Schüler, f) über die Ent¬
wicklung einer individuellen Handschrift.
7. Beobachtungen über das Verhalten der Schüler bei den verschiedenen Arbeiten in der
Schule: wie die Schüler die Arbeit beginnen, wie sie sich zu den verschiedenen Schultätigkeiten
stellen, ob sie ausdauernd in der Arbeit sind, ob sie gegen Ende der Arbeit auffällig nachlässig
werden, ob sie rasch ermüden, ob sie die Lust an einer oft recht frisch angegriffenen Arbeit
bald verlieren.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
8. Beobachtungen über den Einfluß der Witterung» des Barometerstandes, der Temperatur usw.
auf die Leistungsfähigkeit der Klasse.
9. Untersuchungen über Spezialbegabungen und ihr Verhältnis zu den Leistungen auf
anderen Arbeitsgebieten.
10. Untersuchungen über Lieblingsbeschäftigungen der Schüler.
11. Untersuchungen über den Wert von Lehr- und Lernmitteln, von organisatorischen Ma߬
nahmen und Einrichtungen.
Die Erfahrungen in den zwei Jahren Versuchsklassenarbeit veranlaßten die
Reformabteilung, der Unterrichtsverwaltung eine Regelung des Versuchs¬
schulwesens vorzuschlagen. Hatten die früheren Erlasse die Errichtung
von Hospitier-, bezw. Versuchsklassen immer nur für ein Schuljahr anordnet,
so wurde durch einen neuen Versuchsklassenerlaß (8. Oktober 1921,
ZI. 19.374) das österreichische Versuchsschulwesen ohne Befristung ge¬
regelt. Dieser Erlaß unterscheidet: 1. Hospitierklassen, 2. Versuchsklassen,
in denen Lehrkräfte wirken, die durch Versuche und besondere Studien an
dem Fortschritte der pädagogischen Psychologie und Didaktik mitwirken,
und 3. Versuchsschulen in den Bundeshauptstädten.
Um Mißverständnissen und unberechtigten Vorwürfen von seiten der Schul-
reformgegner vorzubeugen, wird in dem neuen Erlasse ausdrücklich erklärt,
daß die Versuchsklassenlehrer ihre besonderen Aufgaben (denn ihre Haupt¬
aufgabe ist und bleibt die Erreichung des vorgeschriebenen Lehrzieles) — wie
Ausgestaltung der Erziehungs-, Unterrichts-, Beobachtungs- und
Prüfungsmethoden, die Ausprobung neuer Lehr- und Lernmittel
und ähnliches mehr — derart durchzuführen haben, daß der Unterricht keine
Beeinträchtigung erfahre und die Schüler keine Schädigung erleiden. Also
nicht etwa ein planloses Experimentieren soll nun anheben, sondern es soll
von kundigen Lehrkräften 1. das arbeitende Schulkind beobachtet und
2. nach den besten Lehr- und Lernwegen planmäßig gesucht werden. Ober
die Durchführung der Versuche im einzelnen wird in eigenen Konferenzen
gründlich verhandelt werden. Zur Beratung der pädagogisch-didaktischen,
der pädagogisch-psychologischen und der organisatorischen Fragen teilt sich
die Wiener Versuchsklassenlehrerschaft in drei Arbeitsgruppen. Um den
Lehrkräften Gelegenheit zu geben, sich über Einzelfragen der Versuchsarbeit
unterrichten zu können, wurde eine Beratungsstelle errichtet. Von ganz be¬
sonderem wissenschaftlichen Werte werden Versuche sein, die einheitlich von
der Versuchsklassenlehrerschaft eines oder mehrerer Schulbezirke durchgeführt
werden; ähnlich wie Kerschensteiner im Massenversuch die zeichnerische
Begabung der Münchener Schuljugend feststellen ließ und untersuchte. Als
allgemein durchzuführende Versuchsarbeit wurden von der Wiener Versuchs¬
klassenlehrerkonferenz die Themen 1 und 9 gewählt. Von den Ergebnissen
dieser Studien werden die Versuchsklassenlehrer die Lehrerschaft durch Vor¬
träge, Referate, Aufsätze zu unterrichten haben. Ihre planmäßig geleitete
Arbeit soll vor allem Material für künftige Erziehungs- und Unterrichts¬
reformen liefern.
Zur Erforschung der Sexualentwicklung des Kindes nach seiner körper¬
lichen und seelischen Seite hin haben sich das Institut für Sexualwissenschaft
in Berlin und das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie in
Leipzig zu einer Arbeitsgemeinschaft vereinigt. Man gedenkt so, mit Hilfe
spezifisch medizinischer Methoden auf der einen Seite, auf der andern vor-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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wiegend mit Hilfe psychologischer Verfahren das bisher noch sehr ungeklärte
Problem der kindlichen Sexualität zu bearbeiten. An dem Ausfall solcher
Untersuchungen sind heute außer der häuslichen und öffentlichen Erziehung,
der Jugendpflege, Jugendfürsorge und der Rechtspflege eine ganze Reihe von
Wissenschaften stark interessiert, so Psychologie, Psychiatrie, Kriminologie,
Rechtswissenschaft, Soziologie u. a. Wenn es gelingen soll, einen genauen Ein¬
blick in den typischen und in den möglichen Verlauf der geschlechtlichen Ent¬
wicklung von der ersten dunklen Triebäußerung bis zum klaren Geschlechts¬
bewußtsein beim heranwachsenden Jugendlichen zu erhalten, so muß auch
die sogenannte Sammelforschung herangezogen werden. Eltern, Erzieher,
Ärzte u. a. würden sich ein nicht geringes Verdienst erwerben, wenn sie
beiden genannten Instituten Material an eigenen Beobachtungen, an Erhebungen,
Befragungen, Bekenntnissen, Eigenberichten, Dokumenten, Niederschriften,
Tagebüchern, kindlichen Dichtungen, Briefen, Zeichnungen, plastischen Dar¬
stellungen u. dgl. zuschickten. Ihr Autorenrecht bleibt gewahrt. Auf Wunsch
werden Auslagen gern vergütet. Einsendungen werden erbeten an das
Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie in Leipzig, Kramerstr. 4 II.
Ein Aufruf, von der Jugend aus der Alkoholgefahr zu begegnen, ergeht
an die Lehrerschaft aller deutschen Schulen. Es heißt in ihm: „Am ernstesten
für die Schule und ihre Arbeit aber wird die Frage, wenn wir die Ergebnisse
vielfacher rassehygienischer Forschungen Überblicken, nach denen der Rausch¬
trank die kindlichen Anlagen schon im väterlichen und mütterlichen Keime
zu schädigen vermag. Und wenn wir bedenken, wie durch den leider auch
heute durchaus noch nicht beseitigten kindlichen Alkoholgenuß die Leistungs¬
fähigkeit unserer Schüler herabgesetzt wird, wie das körperliche und geistige
Wachstum in gleicher Weise ungünstig beeinflußt wird, wie der Alkoholismus
des Elternhauses auch unsere Erziehungsarbeit aufhebt, oft genug das
Gegenteil von dem Erstrebten bewirkt, so kann über unsere Aufgabe kein
Zweifel bestehen.
Alle unsere heute so dringend nötige Bildungs- und Erziehungsarbeit,
unsere Anstrengung zu körperlicher, geistiger und sittlicher Förderung unserer
Jugend, zu kultureller Hebung unseres Volkes wird durch den Rauschtrank
geschädigt. Kein Lehrer darf sich daher von dem Kampf gegen einen der
stärksten Feinde der Neugeburt unseres Volkes ausschließen. Wo mit jeder
Million gerechnet werden muß, dürfen nicht Milliarden verschwendet werden;
wo Millionen der tüchtigsten Menschen verloren gingen, dürfen die Reste
der Volkskraft nicht leichtsinnig vergeudet werden.
Nur durch unsere Jugend kann hier Besserung erzielt werden. Beachtens¬
werte Kreise derselben stehen bereits in scharfer Gegnerschaft zum heutigen
Genußleben, auch zum Rauschtranke. Jetzt gilt es, die noch nicht von der
Bewegung ergriffene Jugend zu gewinnen und die Eltern von der Wichtigkeit
des Ziels zu überzeugen. Dies ist möglich durch ernste, sachkundige Be¬
handlung der Alkoholfrage in allen Schulen — auch den Hochschulen —
und vor den Kreisen der Elternschaft, durch Verbreitung geeigneter Auf¬
klärungsschriften in allen Volksschichten, durch Förderung der Vereine, die
dieses Sondergebiet in enger Fühlung mit den Jugenderziehem bearbeiten,
durch Pflege all dessen, was zu höheren Freuden führt.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
Unterzeichnet ist dieser Aufruf, der das pädagogische Gewissen für eine
nicht minder schwere wie segensreiche Aufgabe schärft, von
Emmy Beckmann, Vors. d. Allgera. D. Lehrerinnenvereins. E. Beyer, Bezirksschulrat, Leipzig.
Gertrud Bäumer. Dr. Paul Barth, Prof. a. d. Univ. Leipzig. Prof. Dr. K. Bühler, Dresden.
Prof. Dr. Leo Burgerstein, Wien. O. Gleißberg, Vors d Sächs. Lehrervereins. Osk. Hof¬
heinz, Obmann des Badischen Lehrervereins. Ottilie Klein, Vors. d. Ver. bad. Lehrerinnen.
Anny von Kulesza, Vors. d. Reichsverb, dtsch. Volksschullehrerinnen. Helene Lange.
Alfred Leuschke, Dresden. Friedrich Lorentz, Vors. d. Vergg. f. Schulgesundheitspflege.
F. Ohnesorge, Vors. d. Sächs Lehrervereins. Oberstudienrat Dr. Prüfer, Vors. d. Deutschen
Gesellschaft z. Förderung häusl. Erziehung Prof. W. Rein, Jena. Schwärzei, Vors. d. Preuß.
Lehrervereins. Geh. Hofrat Dr. Sickinger, Stadtschulrat in Mannheim. Dr. Seyfert, Min.
a. D. Helene Sumper, Vors. d. Bayr. Lehrerinnenvereins.' Joh. Tews, Geschähst, d. Geselisch,
f. Volksbildung. D. Winkle, Vors, des Bayr .Volksschullehrervereins. Prof. Th. Ziehen, Halle a. S.
Eine Verwendung der Schülerbefragung bei der Berufsberatung führt
Alfred Bogen durch. Er hat dem 3. Hefte des Realienbuches für Berlin
einen Abschnitt eingefügt, in dem er die Schüler an eine Reihe von Fragen
nach einer allgemeinen Aufklärung über die Berufswahl vorsichtig heranführt.
Es heißt dort:
Überlege einmal, was dir am leichtesten fällt und was dir recht viel Ver¬
gnügen bereitet Ich will dich bei den Überlegungen unterstützen. Ich habe
hierunter eine Reihe von Fragen aufgestellt. Jede einzelne mußt du gut
durchdenken. Das soll nicht an einem Tage geschehen. Für dein ferneres
Leben wichtige Überlegungen beanspruchen Ernst, Ruhe und Zeit Nimm
ein Blatt Papier und die Feder zur Hand und beantworte dir selbst jede
Frage schriftlich so ausführlich wie möglich. Sei beim Schreiben ehrlich
gegen dich selbst!
Hast du Vater oder Mutter schon bei der Arbeit geholfen ? — Welche Arbeit gelang dir dabei
schnell und gut? An welcher Tätigkeit hattest du den größten Gefallen, oder hast du an keiner
dieser Tätigkeiten Vergnügen gehabt? — Welche Arbeiten konntest und mochtest du nicht? —
Hast du schon schwere körperliche Arbeit verrichtet? Welche? — Erschien sie dir zu schwer
für dich oder konntest du sie bewältigen? — Welchen Schulunterricht magst du sehr gern? —
Was lernst du in der Schule am leichtesten? — Welche Werkzeuge gebrauchst du am liebsten?
(Bleistift, Feder, Zirkel, Hammer, Säge, Spaten, Häkelhaken, Nähnadel, Besen oder andere.) —
Welchen Arbeitsstoff benutzt du meist und am liebsten? (Papier, Pappe, Holz, Draht, Plastilin,
Leinewand, Stickgarn, Wolle oder andere.) — Bastelst du gern zu Hause, auf euerm Feld oder
an deinen Spielsachen herum, um zu reparieren oder Neues anzufertigen? — Was arbeitest du
gern und gut? — Welche Schultätigkeiten magst du gar nicht leiden? — Welche fallen dir am
schwersten? — Turnst du gern? — Glaubst du, daß du gewandt bist beim Turnen? — Welche
Übungen und Turnspiele hast du gern, welche nicht? — Treibst du Sport? — Welche größte
Leistung hast du dabei vollbracht? — Schildere den Vorgang! — Was spielst du gern in deiner
schulfreien Zeit? (zu Hause, auf der Straße, auf dem Spiel- und Sportplatz?) — Spielst du am
liebsten mit jüngeren, gleichaltrigen oder älteren Kameraden? — Liest du gern? — Nenne einige
Titel von Büchern, die du gern gelesen hast! — Womit beschäftigst du dich sonst, wenn du
nicht spielst, liest oder deinen Eltern hilfst? — Zu welcher von all den Beschäftigungen, nach
denen du hier gefragt worden bist, glaubst du das größte Geschick zu haben? — Was siehst
du dir am liebsten in den Schaufenstern an? — In welches Museum würdest du später häufiger
gehen, wenn du freie Zeit haben solltest? — Liebst du bei Spiel, Lesen oder bei deinen sonstigen
Beschäftigungen Abwechslung, oder kannst du dich lange Zeit mit der gleichen Sache beschäf¬
tigen? — Wirst du leicht ärgerlich und ungeduldig, wenn dir etwas nicht gleich glückt, oder
fängst du dasselbe immer wieder von neuem an, bis es doch glückt? — Mußt du dich beim
Spieleu oft ausruhen, oder kannst du lange spielen oder arbeiten, ohne zu ruhen? - Bist da
in den letzten Stunden in der Schule oft sehr müde und abgespannt, oder könntest da noch
mehr Stunden vertragen, ohne müde zu werden? — Bist du gern für dich allein oder lieber
unter viel Kameraden? — Gehörst du einem Verein an? — Welchem? — Hältst du dich lieber
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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in der Wohnung oder im Freien, auf der Straße auf? — Welchen Beruf möchtest du am liebsten
ergreifen? — Warum glaubst du, daß er für dich paßt? — Welche Berufe möchtest du auf
keinen Fall erlernen?
Wenn du- noch mehr von dir und von dem erzählen willst, was du gut
kannst, gern arbeitest und gern möchtest, so tue das. Je mehr, desto besser!
Bedenke aber immer wieder, daß alles, was du aufschreibst, sich auch wirk¬
lich so verhält, wie du es aufschreibst!
Überprüfe alle Antworten noch einmal recht genau und frage dich, ob du
für den Beruf, den du zu ergreifen dachtest, wohl geeignet bist, oder ob
nicht ein anderer Beruf für dich besser wäre. Dazu müßtest du erfahren
können, welche Eigenschaften für jeden Beruf in Betracht kommen. Das
kannst du natürlich nicht wissen, auch dein Lehrer vermag dir darüber keine
Auskunft zu geben. — Es gibt aber Personen, die darüber Bescheid wissen.
Es sind die Berufsberater beim Städtischen Berufsamt. Geh dort¬
hin! Nimm das mit, was du über dich selbst aufgeschrieben hast! Sprich
dort mit dem Berufsberater!
Das Institut für Jugendkunde in Bremen erstattet seinen Jahresbericht
für das Jahr 1921. Es hat sich erfreulicherweise weiterentwickelt. Im Mittel¬
punkt standen wie bisher die praktischen und wissenschaftlichen Arbeiten
auf dem Gebiete der Jugendpflege und Jugendkunde.
Die Jugendschriftenkommission des Instituts für Jugendkunde und des
Lehrervereins haben in der Zeit vom 1. bis 15. Dezember 1921 an 23 bre¬
mischen Schulen Ausstellungen veranstaltet. Meistens wurden die Ausstel¬
lungen mit einem Elternabend verbunden und durch Vorträge über die Ge¬
fahren der Schundliteratur eröffnet. Dieser erste große Versuch in Bremen,
möglichst allen Teilen der Stadt die segensreiche Einrichtung von Jugend¬
schriftenausstellungen mit Verkauf guter Bücher in gleicher Weise zugute
kommen zu lassen, ist über Erwarten gut ausgefallen. Es sind im ganzen
für 88200 Mark Bücher verkauft worden.
Weiter wurde die Jugendschriftenbibliothek durch Ankauf erweitert und wurden
alle Vorbereitungen für den Ausleihdienst getroffen. In nächster Zeit können
alle die Jugendlichen, die zur psychologischen Untersuchung in das Institut
kommen, leihweise Bücher aus der Institutsbibliothek erhalten. Es wird
hoffentlich bald möglich sein, den Kreis zu erweitern und allen Kindern,
die es wünschen und sonst wenig Gelegenheit dazu haben, die Schätze un¬
seres guten Jugendschrifttums zugänglich zu machen. Außerdem steht der
gesamten Lehrerschaft die Benutzung der Jugendschriftenbibliothek des In¬
stituts frei. Den Lehrkräften wird hier Gelegenheit geboten, nicht bloß die
gute, sondern auch die schlechte Jugendschrift kennen zu lernen und sich
so zu sachkundigen Führern der Jugend auch auf diesem schwierigen Ge¬
biet heranzubilden.
In hochherziger Weise haben eine Reihe bremischer Bürger den Betrag
von 30000 Mark dem Institut gestiftet. Zunächst werden die Zinsen dieses
Fonds mithelfen, den hier genannten Aufgaben zu dienen. Sollte es ge¬
lingen, den Fonds auf eine noch bedeutendere Höhe zu bringen, so soll eine
größere Aktion, zu der die Pläne schon fertig vorliegen, vom Institut aus in
die Wege geleitet werden, die noch mehr als die erwähnten Einrichtungen
dazu dienen wird, die gute Jugendschrift in der Bremer Jugend zu verbreiten.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
Dem Zwecke, die wissenschaftliche und praktische Arbeit auf dem Gebiete
der Jugendkunde zu fördern, dienten eine Reihe von Vorträgen und Vor¬
führungen im Institut für Jugendkunde. Es seien besonders die von Dr. E. Stern,
Gießen, über Psychoanalyse erwähnt Dank der Anregung des Instituts hatte
das wissenschaftliche Vorlesungswesen diesen Dozenten zu vier Doppelvor¬
trägen nach Bremen berufen, die besonders auch in den dem Institut nahe¬
stehenden Kreisen der Bürgerschaft reges Interesse fanden. Zur Vorfüh¬
rung neuerworbener Apparate ergingen gelegentlich Einladungen an die
Schuldeputation, an den Philologenverein, an den Lehrer- und Lehrerinnen¬
verein, sowie an eine große Zahl interessierter Persönlichkeiten. Auch den Se¬
minaristen und den Seminaristinnen wurde Gelegenheit gegeben, einige be¬
sonders zur Einführung in die experimentelle Psychologie dienenden Appa¬
rate kennen zu lernen.
Die schon in den Vorjahren begonnenen Arbeiten auf dem Gebiete der
Begabungsforschung wurden fortgeführt. Der vom Institut zusammengestellte
Beobachtungsbogen, der nun schon seit drei Jahren für die Kinder geführt
wird, die zur höheren Schule wollen, kam auch in diesem Jahre wieder zur
Verwendung. Das Institut wurde von der Schulbehörde beauftragt, 2000
Bogen sowie 55 Erläuterungsschriften zu dem Bogen für die einzelnen Schulen
zu liefern. Auch nach auswärts mußte eine größere Anzahl Bogen geliefert
werden, da verschiedene Städte den Bogen einführen.
Die Verhandlungen, die zwischen dem Institut und dem Industrierat über
vorzunebmende Eignungsprüfungen industrieller Lehrlinge geführt wurden,
kamen im November 1921 zum Abschluß. Es wurden dem Institut für Jugend¬
kunde nach einem von den Vertretern des Instituts ausgearheiteten Plan für
das Rechnungsjahr 1921/22 die Mittel zur Verfügung gestellt, die für den
ersten Versuch der Einrichtung von Eignungsprüfungen erforderlich waren.
Die Verwaltung dieses Fonds, der zur Anschaffung von Apparaten und der
sonst benötigten Prüfmittel, zur Anstellung einer Assistentin und für Hilfs¬
kräfte usw. bestimmt ist, wurde den Herren Senator Feuß und Dr. Valen-
tiner übertragen, die sich beide in diesem Jahre der Aufgabe der Eignungs¬
prüfung der dem Institut zugesandten industriellen Lehrlinge ehrenamtlich
widmen. Nach den von Dr. Valentiner bearbeiteten Methoden wurden unter
seiner Leitung die Eignungsprüfungen von mehr als 300 Lehrlingen ausge¬
führt. Außer den für Ostern angemeldeten Lehrlingen wurden an einem
Tage 11 ältere Lehrlinge von den Hansa-Lloyd-Werken durchgeprüft. Diese
Prüfung hatte den erfreulichen Erfolg, daß die Ergebnisse, wie das Werk
mitteilte, „durchweg eine auffallend gute Übereinstimmung mit der Beurteilung
durch die Meister zeigten, die die Lehrlinge seit Jahren kennen“. Wertvolle
Dienste leistete bei den Eignungsprüfungen das von den Atlaswerken dankens¬
werterweise gelieferte vorzügliche Prüfmaterial. Über die Prüfung wird dem¬
nächst ein Sonderbericht erscheinen.
Von dem Jugendamt erhielt das Institut für Jugendkunde einen Betrag von
3000 M, von dem ein Teil dazu diente, das Jugendheim im Neuenlander Felde
mit guten Jugendschriften zu versorgen, während der übrige Teil die der
Jugendpflege dienenden Aufgaben des Institutes fördern soll. Die Berufs¬
beratungsstelle überwies dem Institut 1000 M, wofür das Institut es über¬
nommen hat, in besonderen Fällen, in denen ein psychologischer Rat erforder¬
lich ist, sich gutachtlich zu äußern. Der Staat unterstützte das Institut durch
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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Überlassung der 3 Räume Birkeustraße 12 1 sowie durch Überweisung von
4000 M zur Förderung erziehungswissenschaftlicher Arbeiten.
Ein städtisches psychologisches Institut wurde in Hannover errichtet.
Dem erweiterten Geltungsbereiche des heutigen Begriffes der Pädagogik ent*
sprechend, liegt seine Arbeit zunächst auf scbulpsychologischem Gebiete und
dem der Berufseignungsprüfung. Jährliche Auslesen der Hoch* und Schwach¬
begabten sollen ihnen die entsprechende unterrichtliche Versorgung gewähr¬
leisten. Der sachgemäßen pädagogischen Förderung beider Gruppen sollen
regelmäßig wiederholte psychologische Prüfungen, fortlaufende psychologische
Beobachtungen und pädagogisch-methodische Untersuchungen («psychologische
Methodik“) zugute kommen. Das Institut bietet ferner den Lehrern reichliche
Gelegenheit zu selbständiger Durchführung experimenteller Arbeiten. Weiter
wird durch Vorträge, Kurse, Arbeitsgemeinschaften usw. die Ausbildung von
Lehrern und Lehrerinnen in der pädagogischen Psychologie gepflegt Das
Material, das bei dieser ausgedehnten schulpsychologischen Wirksamkeit ge¬
wonnen wurde, soll bei der Berufsberatung Verwendung finden. Besondere
Berufseignungsprüfungen gesellen sich dazu. Die erforderliche Apparatur ist
vorhanden. Das Institut, soweit es pädagogische Forschungsstätte sein soll,
will auch psychotechnisch rein wissenschaftlich arbeiten. Es wendet sich dabei
der Ausbildung neuer Prüfverfahren, der Rationalisierung der Arbeitsmethoden,
der Ausbildung zweckmäßiger Anlemverfahren, ferner Fragen der Objektpsycho-
technik usf. nach dem auftretenden Bedürfnisse zu. Schöpfer der umfassen¬
den Idee ist der Stadtschulrat Senator L. Grote; mit der Einrichtung und
Leitung wurde der Fachpsychologe W. Hi sc he beauftragt.
Eine Sonderausstellung «Die deutsche Schule“ wird sich im Rahmen der
Mitteldeutschen Ausstellung in Magdeburg — Juni bis September 1922 —
befinden. Sie ist geleitet von dem ^Gedanken, daß an dem Wieder¬
aufbau des deutschen Vaterlandes die deutsche Schule an erster Stelle
mitzuwirken hat. In den Erziehungsstätten soll ja dem deutschen Vaterlande
das neue Geschlecht herangebildet werden, das Deutschland im Wettbewerbe
der Nationen wieder ebenbürtig unter den Völkern auftreten läßt. Darum
darf die Schule auf einer Ausstellung, die sich die Aufgabe stellt, den schlum¬
mernden Lebenskräften des deutschen Volkes neuen Antrieb zu geben und
den Strebenden neue Wege zur Weiterentwicklung zu weisen, nicht fehlen.
Geplant ist vor allem, in Gestalt einer großzügigen Lehrmittelausstellung alles
Wesentliche auf dem Gebiete des Unterrichts und der Erziehung zur Dar¬
stellung zu bringen. Da sich in der deutschen Schule vielenorts neue Kräfte
regen und vielfach neue Wege zur Erreichung des hohen Erziehungszieles
begangen werden, soll besonders auf die neuzeitlichen Hilfsmittel, die die
Lehrmittelindustrie zu bieten imstande ist, Gewicht gelegt werden. In Ver¬
bindung damit werden durch eine Reihe von Lehrerverbänden und Schul¬
fachvereinigungen in Sondergruppen einzelne Abteilungen aus den verschie¬
densten Gebieten durch Arbeiten aus der Schule zur Darstellung gelangen.
Durch dieses innige Zusammenarbeiten von Lehrmittelindustrie und Lehrer¬
schaft wird es möglich sein, das Schulwesen auf der Mitteldeutschen Aus¬
stellung so zxun Ausdruck zu bringen, wie es seiner Bedeutung entspricht.
Die Lehrerschaft bekundet an der Veranstaltung ein lebhaftes Interesse. Es
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
ist neben einer Reihe von Tagungen, die einen großen Zustrom erwarten
lassen, eine vom Preußischen Lehrerverein vorbereitete „Schulpolitische und
pädagogische Woche“ in Aussicht genommen. In ihr werden die namhaf¬
testen Führer auf dem Gebiete der Schulpolitik und der neueren Pädagogik
zu Worte kommen.
Der Gliederungsplan zeigt folgende Abteilungen:
A. Allgemeine Lehrmittelausstellung durch die Lehrmittelindustrie.
B. Schulausstellung durch die Lehrerverbände und Schulfachvereinigungen.
1. Gruppe: Historische Ausstellung: Sammlung wertvoller Lehr-und Lernmittel aus aller Zeit. —
2. Gruppe: Kindergarten: Ausstattungsgegenstände, Modelle bestehender Kindergärten, Kinder¬
gartenliteratur, Uas Kindergärtnerinnenseminar — 3. Gruppe: Die Volksschule: Die Grundschule,
neuzeitlicher Grundschulunterricht. — 4. Gruppe: Das Hilfsschulwesen. — 5. Gruppe: Die Fort¬
bildungsschule. — 6. Gruppe: Die Berufsschule. — 7. Gruppe: Die Höheren Schulen. — (Zu
Gruppe 3—7: Moderne Schulhäuser in der Großstadt und auf dem Lande. Schulausstattungen.
Künstlerischer Wandschmuck. Die Jugendbücherei. Der Werkunterricht. Der Handarbeits¬
unterricht. Der Haushaltungsunterricht) — 8. Gruppe: Die Volkshochschule. — 9. Gruppe:
Die Universität. — 10. Gruppe: Spiel und Sport. — 11. Gruppe: Jugendwandern und Jugend¬
herbergen. — 12. Gruppe: Ausstellung des städtischen Schulwesens.
Nachrichten. 1. Der a. o. Professor Dr. Hans Henning an der Universität
Frankfurt a. M. hat einen Ruf auf den neugegrtindeten Lehrstuhl für Philo¬
sophie, Psychologie und Pädagogik an der Technischen Hochschule in Danzig
erhalten.
2. Geheimer Rat Dr. Wilhelm Ostermann in Berlin, auf erziehungs¬
wissenschaftlichem Gebiete bekannt durch seine Schriften: „Lehrbuch der
Pädagogik“, „Die Irrtümer der Herbartschen Psychologie“, „Das Interesse“,
ist am 31. Januar im Alter von 72 Jahren gestorben.
3. Ende Februar d. Js. starb Dr. Alois Hofier, Professor der Philosophie
und Pädagogik an der Universität Wien, dessen Wirksamkeit besonders der
Didaktik der naturwissenschaftlich-mathematischen Fächer galt.
4. Eine Ausstellung japanischer Schulkinderzeichnungen hat das
Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin veranstaltet. Ange¬
schlossen ist eine deutsche Sammlung, die aus Schulen in Berlin, Essen,
Düsseldorf und Hamburg stammt und als Austauschgabe für Japan bestimmt ist.
5. In der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität
Frankfurt a. M. sind dem Stadtschulrat Dr.-Ing. Barth zur Vertretung der
Gewerbepädagogik und dem Studienrat Dr. Wagner zur Vertretung der
Jugendkunde Lehraufträge erteilt worden.
6. Zum 1. Vorsitzenden der Jubiläumsstiftung für Erziehung
und Unterricht wurde Staatssekretär Prof. Dr. Becker (Preußisches
Ministerium f. Wissenschaft, Kunst u. Volksbildung), zum stellv. Vorsitzenden
Staatssekretär Schulz (Reichsministerium des Innern) gewählt Mit der
Geschäftsführung des Vorstandes wurde Geh. Oberregierungsrat Prof. Dr. Pallat
betraut, dem auch die Leitung des Zentralinstituts für Erziehung und Unter¬
richt auf weiterhin übertragen wurde.
7. In der ersten Augustwoche wird an 4—5 Tagen in München, voraus¬
sichtlich in den Räumen der psychiatrischen Klinik, ein heilpädagogischer
Kongreß stattfinden. Diese Veranstaltung, deren Wiederkehr in regelmäßige n
Zeiträumen — etwa alle zwei Jahre — geplant ist, soll über den neuesten
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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Stand der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gesamtgebiet der Heil-
pädagogik orientieren. Voranmeldungen von Heilpädagogen (Hilfsschullehrern,
Taubstummenlehrern usw.), Ärzten, Psychologen, Lehrern, Fürsorgeerziehem,
Geistlichen, Jugendrichtern, insbesondere auch zu Vorträgen, Demonstrationen
und Forschungsberichten, werden schon jetzt an Hans Göpfert, Lehrer am
Versorgungs-Krankenhaus für Hirn verletzte, München, Kaulbachstraße 63 a,
erbeten. Die Tagung steht außerhalb jeder Standesvereinigung und will die
Interessenten aus den verschiedenen Berufen zusammenführen. Gegenstände
dieses ersten Kongresses werdfen die Aufgaben der „Ausbildung der Heil¬
pädagogen“, sowie die „Einführung der Volksschullehrer in heilpädagogische
Fragen im Rahmen der künftigen Lehrerbildung“ sein.
8. Nach dem Vorgang anderer deutscher Großstädte beabsichtigt auch
Magdeburg bei seiner Schulverwaltung von Ostern 1922 ein wissenschaft¬
liches Institut für Jugendkunde zu errichten, das den Lehrern aller
städtischen Schulen Gelegenheit bieten soll, sich unter fachmännischer Leitung
in die Probleme der modernen Psychologie einzuarbeiten.
9. Das Institut für Kulturforschung in Berlin hat zusammen mit
dem Comenius-Film eine Filmfolge „Kind und Welt* vorbereitet, die päda¬
gogische Ziele verfolgt. Sie will. Kinderleben, Kinderarbeit, Kinderspiel in
städtischer und ländlicher Umwelt im Lichtbild auffangen. Als erster Film
wurde in der Urania „Das Großstadtkind und die Gartenarbeitsschule“ vor¬
geführt.
10. Das Fürsorgeseminar der Universität Frankfurt a. M. (Leitung:
Prof. Klumker) veranstaltet auch in diesem Jahr wie 1920 und 1921 einen
Kursus über Jugendfürsorge, der Akademiker aller Fakultäten für die
soziale Arbeit schulen will. Während des Universitätssemesters von Mai bis
Juli wird eine theoretische Einführung in die Probleme der Fürsorge und
ihre wissenschaftliche Behandlung gegeben; ein praktisches Halbjahr (August
bis März) mit Arbeit in Jugendämtern, Erziehungsanstalten ‘und bei Organi¬
sationen der freien Wohlfahrtspflege gibt lebendige Anschauung von den Auf¬
gaben der Fürsorge. Für Philologen ist die Teilnahme am Kursus empfehlens¬
wert, besonders für solche, die bei der Überfüllung des Lehrerberufes an
einen Berufswechsel denken; aber auch für diejenigen, die im Beruf verbleiben
wollen, bedeutet die Erörterung pädagogischer und psychologischer Einzel¬
fragen im Rahmen des Jugendfürsorgekursus eine Neuorientierung und wert¬
volle fachliche Weiterbildung. — Nähere Auskunft über den Kursus geben
das Fürsorgeseminar der Universität Frankfurt a. M. (Stiftstr. 30) und das
Berufsamt für Akademiker Frankfurt a. M. (Universitätsgebäude).
11. Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin
veranstaltet vom 24. April bis 15. Mai d. Js. eine Vortragsreihe über die
Psychischen Grundlagen der Jugendpflege; es behandeln: Ministerial¬
rat Dr. Ziertmann, Berlin: „Die Soziologie der Jugendlichen“; Privatdozent
Dr. Charlotte Bühler, Dresden: „Willensentwicklung der Mädchen“; Pfarrer
Mennicke, Berlin: „Die Bildung der Jugendlichen als sozial-psychologisches
Problem“; Dr. Ernst Lau, Berlin: „Die Jugendlichen und ihr Beruf“;
Dr. Walter Hoffmann, Leipzig: „Das Pathologische in der Entwicklung der
Jugendlichen“.
12. Eine Hochschulwoche findet zu Pfingsten d. Js. (1.—7. Juni) an
der Universität Frankfurt a. M. statt. Die Vorlesungen gliedern sich in die
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Literaturbericht
vier Gruppen: Jugendkunde, Verfassung und Wirtschaftsordnung, Praktika,
Ergänzende Veranstaltungen. 46 Redner werden in 110 Stunden Ober ihre
Sondergebiete berichten. Den mit der Berufsberatung zusammenhängenden
Problemen ist, da sich die deutsche Gewerbeschultagung anschließen soll, ein
angemessener Raum zugewiesen worden. Unter anderem sprechen: Ministerial¬
rat Dr. Kühne über Jugend und Beruf; Studienrat Dr. Wagner über die
Psychologie des Jugendlichen; Prof. Dr. Henning über die Psychotechnik
der Arbeite- und Lernvorgänge; Alex Menne über die Organisation der Be¬
rufsberatung und die Aufgabe der Berufsämter; Emma Loewe über Probleme
der weiblichen Berufsberatung; Prof. Dr. v. Düring über die seelischen Ent¬
artungen, ihre Erkennung und erzieherische Behandlung; Dr. Rosenstock
über die Akademie der Arbeit und die Arbeiterbildung.
Die auf Veranlassung des Städtischen Berufsamts der Tagung angegliederte
Ausstellung über Berufsberatung und Eignungsprüfung wird fünf
Gruppen umfassen:
,1. Darstellung der historischen Entwicklung der Berufsberatung in Deutschland, besonders
der Frauenbernfsberatung.
II. Darstellungen aus der praktischen Arbeit der Berufsämter.
1. Organisation der Berufsfimter.
2. Formulare.
3. Tätigkeitsberichte (statistisch und graphisch).
4. Zusammenarbeit mit Schulen, soz. Fürsorge usw. (Mappen).
6. Spezielle berufskundliche Beurkundungen.
III. Darstellungen aus der wissenschaftlichen Arbeit der Forschungsinstitute. (Kurven,
Berufsanalysen, Begabungsforschung).
VI. Psychotechnik und Eignungsprüfung (Apparate, berufskundliche Filme).
V. Die gesamte Literatur zur Berufsberatung und Eignungsprüfung.
Auskünfte erteilt das Städtische Berufsamt, Frankfurt a. M., Klapperfeld¬
straße 10.
Literaturbericht.
Selbstanzeigen.
Dr. Walter Hoffmano, Die Reifezeit, Probleme der Entwicklungspaychologie
und Sozialpädagogik. Leipzig 1922. Quelle & Meyer. 256 S. Geb. 60 M.
Inhal t: 1. Das Prinzip der seelischen Resonanz, 2. Zergliederung des Voretellungslebens,
3. Die Kindheit, 4. Die geistige Reifung, 6. Die geschlechtliche Reifung, 6. Die soziale Reifung,
7. Jugendkultur, 8. Literaturnachweis.
Aus einer Vortragsfolge, die ich im Wintersemester 1919/20 un Institut für Erziehung, Unter¬
richt und Jugendkunde an der Universität Leipzig gehalten habe, ist »diese Arbeit entstanden.
Man wollte von mir wissen, wie ich mich als Jugendrichter und Berater größerer Kreise der
Jugend mit den mannigfachen Problemen abgefunden hätte, die gerade der Reifezeit eigentümlich
sind. Das sind Fragen, die nicht allein den Erzieher angehen, sondern fast auf alle Lebens¬
gebiete übergreifen, an denen namentlich der Arzt und der Jurist, der Sozialhygieniker und
Sozialpolitiker in gleicher Weise Anteil nehmen. Die Hauptschwierigkeit der mir gestellten Auf¬
gabe lag darin, daß uns vorläufig eine abgeschlossene Entwicklungspsychologie als wissen¬
schaftliche Grundlage fehlt, so daß irgendwie diese Lücke ausgeglichen werden mußte. Ferner
mußten die Verbindungslinien zwischen der Normalpsychologie und der Psychopathologie auf¬
gesucht werden, da diese kritische Entwicklungszeit regelmäßig auf einem Grenzgebiete ver¬
läuft. Um außerdem zu einem tieferen Verständnis der Verwahrlosung und Kriminalität zu ge¬
langen, waren selbst kulturphilosophische Fragen allgemeiner Art zu berühren. Auf dem sechsten
Kapitel über „Die soziale Reifung“ mit seinen Ausführungen über die historische und soziale
Bedingtheit der Seelenstruktur ruht geradezu das Schwergewicht der ganzen Arbeit, doch ist es
zu seinem Verständnisse notwendig, die Entwicklung der Gedanken von Anfang an zu ver-
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Literaturbericht
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folgen. — Also eine Fülle von Problemen, die alle au! einmal zu behandeln waren 1 Aber
vielleicht ist es ihre Eigentümlichkeit, daß sie nur als Ganzes genommen zu einer Lösung ge¬
führt werden können. Als ersten Schritt hierzu habe ich den Versuch unternommen, sie aus
ihrer Zersplitterung in Einzel Wissenschaften herauszuheben, um gerade die Zusammenhänge
zwischen der Reifezeit und ihren Problemen mit der Gesamtkultur klar zu beleuchten. Denn,
das eine ist sicher: Das, womit unsere beranreifende Jugend ringt und woran sie leidet, sind
die letzten großen Fragen des Menscbendaseins überhaupt. Zunächst nur unklar geahnt, oft falsch
gedeutet, in der äußeren Form wechselnd, tauchen sie bei jedem mit dem erwachenden Be¬
wußtsein der Individualität auf und erschüttern tief das Ich in dem Gefühle der seelischen Ein¬
samkeit So beschränkt das Denken, so verfehlt die Lebensführung auch geraten sein mag, in
irgendeiner Variation klingt dieses tragische Motiv immer wieder durch. Der Schlüssel zum
Verständnisse der Jagend liegt eben darin, daß wir sie durchaus „ernst nehmen“.
Dr. Charlotte Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und
Theorie der psychischen Pubertät. Jena 1922. Fischer. VI u. 108 S. Geb. 22 M.
Dieses Buch will zeigen, wie man das Wesen der psychischen Pubertät aus ihrem
biologischen Sinn heraus verstehen kann. Biologisch ist der Sinn der Pubertät der, daß sie die
PaarungBmöglichkeit entwickelt. Hieraus ergibt sich als psychologischer Grundzug der Pubertät
-die Ergänzungsbedürftigkeit, die Sehnsucht. Das Gefühlsleben des Jugendlichen wird aus
dieser Wurzel heraus verstanden und analysiert, der Entwicklungsgang, den der Jugendliche über
Freundschaft, Schwärmerei und Liebe zur Erfüllung seines Ergänzungsbedürfnisses nimmt, aufgezeigt.
Wie die mit der Pubertät neu auftretenden Instinkte verschiedene Züge des jugendlichen Gefühls¬
lebens erklären, 'so bilden sie auch die Grundlage zum Verständnis des jugendlichen Willens¬
lebens. Die neu einschießenden Triebe der Pubertät zerstören das geordnete Wollen des Kindes
und erfordern einen Neuaufbau des Willenslebens in der Pubertät, der dem Aufbau des kind¬
lichen Willenslebens parallel geht. Der Aufbau vollzieht sich beide Male in vier Stadien: nach¬
einander treten das Triebbegehren, das Wollen als inhaltsleere Funktion, das Zielsetzen und das
Werterleben auf. Im Willensleben zeigt sich besonders charakteristisch die Wendung in der
gesamten Lebenseinstellung, die der Jugendliche von der Pubertät zur Adoleszenz hin vollzieht,
nämlich von der Verneinung des Lebens zur Bejahung. Bei der Behandlung des jugendlichen
Intellektes werden die neuen Forschungen von Jaensch über die optischen Anschauungsbilder
verwertet, und es wird diese Eigentümlichkeit des jugendlichen Intellektes dabin erklärt, daß in der
Pubertät vermutlich eine starke Abtrennung des dialektischen und abstrakten Denkens von der
Anschauung erfolgt, so daß beides zum ersten Mal stark isoliert und gesteigert auftritt. Einige
prinzipielle Grundgedanken zur Ethik und Religiosität, zum Kunst und Literaturverständnis des
Jugendlichen sowie eine nach Möglichkeit vollständige Literaturübersicht über das Gebiet be¬
schließen das Buch.
Oberstudiendirektor Prof. Dr. H. Gaudig, Freie geistige Schularbeit in Theorie und
Praxi8. Im Aufträge des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht herausgegeben.
Breslau 1922. F. Hirt 291 S. 50 M.
Unser Buch gibt die Vorträge und die Lektionen wieder, die unsere Arbeitsgemeinschaft der
n. höheren Schule für Mädchen und des Lehrerinnenseminars zu Leipzig während der Päda¬
gogischen Woche (vom 81. Januar bis 3. Februar 1921) gehalten hat. Der letzte Zweck der
Veranstaltung war die Einführung einer neuen Form der Darstellung und des Austausches
pädagogischer Anschauungen. Dem starken Trieb unserer Zeit nach persönlichem Meinungs¬
austausch und unmittelbarer, anschaulicher Erkenntnis pädagogischer Tatsächlichkeit sollten die
in der Leipziger Woche angewandten Verkebrsformen dienen. Demselben Zweck diene auch
unser Buch.
In unserem Buche spricht sich eine Lebensgemeinschaft aus, die von der Wahrheit eines
pädagogischen Grundprinzips, des Prinzips der freien geistigen Arbeit, Überzeugt ist und
nach diesem Prinzip ihr Bildungswirken gestaltet. Was unsere Gemeinschaft unter freier geistiger
Arbeit verstanden haben will, legt sie in Vorträgen dar; die unterrichtliche Verwirklichung
sollen die Lektionen zeigen.
Die Vorträge wollen kein Dozieren ex cathedra; keine Mitteilung pädagogischer Dogmen mit
einem „anathema esto“ für Andersgläubige und Andersdenkende. Vor allem sollen sie Unter¬
lagen für Aussprachen sein; eine Absicht, die leider auf der Pädagogischen Woche nicht voll
verwirklicht wurde. Vielleicht regen die gedruckten Vorträge nachtiäglich noch an zu geistigem
Meinungsaustausch über Berg und Tal hinweg. Fruchtbarer als die Aussprachen nach den Vor-
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Literaturbericht
trägen erwiesen sich die Besprechungen der Lektionen; der konkrete Stoff gab dem
Meinungsaustausch klare und bestimmte Ansatzpunkte und dem gesamten geistigen Verkehr
eine erfreuliche Blutwärme. Die Leser unseres Buches erfahren hoffentlich an den allerdings
sehr knappen Darstellungen der Lehrstunden den Anreiz zu pädagogischer Fragestellung.
Unsere theoretischen Darlegungen und unsere Lektionen standen in bewährter und ge¬
wollter Wechselbeziehung; wir batten aber doch die Schwierigkeit des Hin- und Herbeziehens
unterschätzt. Nun bietet unser Buch die Möglichkeit ruhigen Hiniiberscbauens von Theorie za
Praxis und von Praxis zu Theorie. Fast das gesamte Kollegium unserer Schule ist an der Ab¬
fassung des Buches beteiligt. „Ein schriftstellerndes Kollegium das“ — könnte man meinen.
Aber wir wollen uns nicht in einer geschlossenen Einheit der Meinungen darstellen. Weder in
der Theorie noch in der Praxis sind wir einheitlich; hoffentlich fehlt es unserem Buche dann
auch nicht an „Unstimmigkeiten“. Aber es dürfte nichts in Unserer Gesamtarbeit zu finden sein,
woraus man nicht die starke Wirkung jenes einheitlichen Grundprinzips zu erkennen vermöchte,
das unserem Buche Inhalt und Titel gegeben hat.
Die organisierende Kraft unseres Arbeitsprinzips kann man in unserem Buche einmal in
radialer Betrachtungsweise auf allen einzelnen Fachgebieten studieren, anderseits in den Sektoren
der Arbeit am anschaulichen Objekt, am Schrifttext, der gesamten entwickelnden Arbeit lm
Mittelpunkt aller Betrachtungen aber steht der „Arbeitsvorgang 41 , in dessen Gestaltung sich
die freie geistige Arbeit auswirkt.
Bisher hat die literarische „Publikation“ einseitig den geistigen Verkehr auf pädagogischem
Gebiet beherrscht; wir würden glauben, dem Fortschritt des pädagogischen Lebens ein wenig
gedient zu haben, wenn wir diesem Verkehr durch die „Publizität“ dienten, mit der wir die
Theorie und Praxis unserer freien geistigen Arbeit dargestellt haben. Pädagogik ist scientia
ad praxin; es müßte darum eigentlich von Nutzen sein, wenn die Theorie der Praxis und die
Praxis selbst dargeboten würde.
Einzelbesprechungen,
Dr. Georg Hagemann, Psychologie. Ein Leitfaden für akademische Vorlesungen, sowie
zum Selbstunterricht. Vollständig neu bearbeitet von Dr. Adolf Dyroff, Professor an der
Universität Bonn. Neunte und zehnte verbesserte Auflage. Mit 27 Abbildungen. Freiburg L Br.
1921. Herder. 348 S. 60 M.
Durch völlige Umarbeitung eine überalterte Psychologie zu modernisieren, ist für den Heraus¬
geber eine wenig dankbare Aufgabe, mit der weder einem Werke, das seinen festen Platz in
dem geschichtlich gewordenen Schrifttum gewonnen hat, gedient ist, noch der zeitgemäßen
Fachliteratur, die ja an psychologischen Lehrbüchern keinen Mangel hat. Wenn Dyroff die
„Psychologie“ Georg Hagemanns, die den 1868 gegründeten Elementen der Philosophie zu¬
gehört, auf einen Stand zu bringen versuchte, daß sie auch weiterhin noch ein ausreichendes
Bild des in starker Bewegung begriffenen Gebietes gewährt, so drängte er mit geschickter Hand ganze
Teile, in die heute nur in ausführlichen Darstellungen Einsicht zu gewinnen ist, knapp zusammen und
gewann damit Raum für den Einbau neuerer Forschungsergebnisse. Der Grundstil des Buches
blieb dabei gewahrt; die neueren Wendungen der Psychologie beunruhigen es nicht So hat es
auch seine Dreiteilung in psychologische Analyse, psychologische Synthese, psychologische
Spekulation gewahrt. Durchweg ist ferner der Begriffsbestand der älteren Psychologie bei¬
behalten worden. Soll ein Vorzug des Buches genannt sein, so sei verwiesen auf die klaren
Auseinandersetzungen über die philosophischen Fragen und Theorien, an die das psychologische
Denken heranführt. Die Erörterungen des Für und Wider geschehen dabei* vom Standorte
katholischer Weltanschauung aus.
Leipzig. Otto Scheibner.
Th. Zell, Das Gemütsleben in der Tierwelt. Erlebnisse und Beobachtungen. Dresden 1921.
Carl Reißner. 234 S.
Wir nennen dieses Buch nur, um diejenigen vor einer schlimmen Enttäuschung zu bewahren,
die etwa — vom Titel irregeführt — in ihm eine wissenschaftliche Gabe vermuten könnten.
Denn Th. Zell stellt ein Beispiel dafür dar, wie ein gefühlvoller Naturfreund mit unbekümmerter
Naivität tierisches Seelenleben naiv vermenschlicht. Dabei stützt sich Zell in aller Harmlosigkeit,
ohne auch nur die geringste Quellenkritik, vielfach auf älteste Tiergeschicbtchen und auf nied¬
liche, unterhaltsame Erzählungen von allerlei Tierfreunden. Abschnitte wie „Gibt es mitleidige
Tiere?“ und „Haben Tiere ein Gottesbewußtsein?“ könnten fast nicht geschickter geschrieben
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Literaturbericht
237
werden, wenn man absichtlich die anthropomorphisierende Tierpsychologie des warmherzigen
Laien karikieren wollte.
Leipzig. Otto Scheibner.
E. Study, Denken und Darstellung, Logik und Werk, Dingliches und Mensch¬
liches in Mathematik und Naturwissenschalten. (Sammlg. Vieweg, H.59). 43S.
St. entwickelt in angenehmer, nach Gerechtigkeit strebender, gar nicht anmaßender Polemik
gegen Pasch (Mathematik und Logik, Leipzig 1919) seine Anschauung, die sich freihölt von Eukli¬
discher Starrheit und die aus Unkenntnis so oft verlästerte Mathematik — auch im Schulbetriebe —
zu dem machen will, was sie ihrem innersten Wesen nach ist: zu einer lebendigen, fröhlichen
Wissenschaft. Das kleine Büchlein vermag dem Mathematiker und Naturwissenschaftler jeder
Schattierung eine Fülle wertvoller Anregungen zu geben, vor allem auch dem Pädagogen und
Psychologen (Intuition, Geschichte der Mathematik, Eigenwert der Persönlichkeit).
Leipzig. Woldemar Voigt
Marie Coppius, Pflanzen und Jäten in Kinderherzen. Erlebtes und Erfahrenes für
Mütter und Erzieherinnen. 3. Aufl. Leipzig 1919. Teubner. 139 S. 2,20 M.
Diese liebenswürdige Erziehungsschrift, die meines Wissens auch gern in Frauenscbulen
zur Belebung des Unterrichts benutzt wird, ist vornehmlich aus Kindergarten-Erfahrungen heraus¬
gewachsen — aus Erfahrungen, die mit einer „verstehenden Psychologie* pädagogisch aus¬
gebeutet werden. Daß solche Darstellungen mit ihren anmutigen Bildern aus dem Kinder- und
Hausleben und ihrem unterhaltsamen Geplauder für die deutsche Mutter ein Bedürfnis sind,
beweist — wenn man es sonst nicht schon wüßte — der schnelle Vertrieb der ersten und
zweiten Auflage des Buches. Man übersehe indessen nicht, wie die Elternschaft mehr und mehr
auch pädagogische und psychologische Belehrungen von wissenschaftlichem Gepräge verlangt.
Es scheint eben doch, daß man in weiteren Kreisen erkennt, welche weittragende Bedeutung
für alles erziehliche Tun in Haus, Schule und Leben der neueren kinderpsychologischen Forschung
innewohnt. So sollten darum auch die Erziehungsbücher von der Art des vorliegenden den
Erkenntnisertrag gelehrter Untersuchung in ihre volkstümlichen Darstellungen einzuschmelzen
versuchen. Dieser Hinweis nur nebenbei als Randbemerkung zu einer etwas konfusen Äußerung
im Vorwort der von mir seit dem ersten Erscheinen geschätzten Schrift.
Leipzig. Otto Scheibner.
R. Gürtler, Triebgemäßer Erlebnisunterricht. Ein Beitrag zur Praxis der Heilpäda¬
gogik und der Arbeitsschule. Halle a. S. 1921. Marhold. 80 S. mit 39 Abbildungen. 8 M.
Die Schrift vereinigt drei Kongreßvorträge, die auf den Grundgedanken einer entwicklungs¬
getreuen Erziehung eingestimmt sind und eine Gestaltung des Schullebens im vertieften Sinne
der Arbeitsschule vertreten, beides vornehmlich am Beispiele des gesinnungsbildenden Unter¬
richts darlegend. Dabei wird nicht übersehen, daß alle Erziehung keineswegs einzig vom Kinde
aus seine Rechtfertigung empfängt, sondern auch kulturellen Forderungen genügen muß. Be¬
wegt sich das Buch vor allem im Gebiete der Heilpädagogik, so ist aus seinen echten Grund¬
stimmungen und seinen Leitgedanken doch auch Wesentliches für allgemeines erziehliches
Denken und Wirken zu gewinnen. Sch.
Wilhelm Raatz, Dein Sorgenkind. Sein Wesen und seine Rettung. Volkstümliche Vor¬
träge. Halle a. S. 1921 Marhold. 48 S. 4M.
Ein ansprechender Versuch, die Elternschaften der Hilfsschulen auf verständnisvolle Mit¬
arbeit am heilpädagogischen Werke einzustellen. Müßten aber die Erörterungen über das
Wesen körperlicher und seelischer Untüchtigkeit doch nicht etwas tiefer führen? Man soll das
Aufklärungshrdürfnis und das Verständnis' der Schuleltern, die ja vor dem Lehrer eine viel in¬
timere Kenntnis ihrer Kinder aus jahrelanger Beobachtung voraushaben, nicht unterschätzen!
Sch.
Franz Frenzei, Leiter der städt Hilfsschule zu Stolp, Wesen und Einrichtung der
Hilfsschule. Halle 1920. Marhold. 128 S. 5.50 M.
Bei der Bedeutung, die im Gesamtbilde der Hilfsschule dem Bestimmungsstück „Schüler"
zukommt, hätten wir gewünscht, den Abschnitt, der diesem gewidmet ist, noch weiter ausgebaut
zu sehen. Es sei aber anerkannt, daß Frenzei mit Geschick im Rahmen seines Buches aus.der
Hilfsschülerkunde ausgewählt und inhaltlich gut dargestellt hat, was psychologisch-praktischer
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Literaturbericht
Art ist. So sind es besonders die beiden Gebiete der „Schüleraaswahl und der Schülerbeobach¬
tung 41 , die er unter der Oberschrift „Der Hilfsschüler 41 behandelt Daß er dabei Beispiele für
Testreihen zu Intelligenzprüfungen, für Fragebogen und Personallisten in die Darstellung auf¬
nimmt, war angebracht und ist mit glücklicher Auswahl geschehen.
* Das Bach ist der 2. Band eines „Handbaches des Hilfsschulwissens 41 . Sein Vordermann
gibt die Geschichte des Gebietes; der 3/Band soll der inneren Pädagogik gewidmet sein, and
für den Schlußteil ist die Lehre von den sprachlichen Erscheinungen in Aussicht genommen.
Es fehlt also auch im Gesamtwerke eine geschlossene Darstellung über die Verfassung de»
Hilfsschülers — seine Anthropologie, Psychologie und Soziologie. Damit genügt das Handbuch,
nicht völlig seiner Aufgabe, eine „Darreichung* für die Zwecke der Hilfsschullehrerprüfung zu
werden.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. phil. E. Dickhoff, Stadt- und Kreisschulinspektor in Berlin, Das Problem des Krüppels
und Richtlinien für die Erziehung des Krüppelkindes. Heft 138 der Beiträge zur
Kinderforschung und Heilerziehung. Langensalza. Beyer & Sö. 29 S. 0,60 M.
Auf diese Abhandlung, die ihrem Gegenstände nach allen Seiten — auch der geschicht¬
lichen — nachgeht, sei hier aus einem doppelten Grunde hingewiesen: einmal, weil Dickhoff als
Voraussetzung einer gedeihlichen Krüppelpädagogik nachdrücküchst die exakte psycho¬
logische Untersuchung der bresthaften Stiefkinder der Natur verlangt (S. 18—20) und be¬
stimmte experimentelle Forschungen unter eigener Leitung in Sicht rückt (S. 22), und sodann»
weil die Ausführungen der Schrift unserem Volke helfen können, starkherzig und opferwillig
seinen Kriegsversehrten zu begegnen. Sch.
Prof. Dr. J. Trumpp, Kleinkinderpflege. Körperliche Entwicklung und Körperpflege
des Kindes im zweiten bis siebenten Lebensjahre. Mit 84 Abb. und 2 Tabellen. Stuttgart o. J.
J. Moritz. 171 S.
Das Buch gehört der bekannten Sammlung „Bücherei der Gesundheitspflege 41 an. Zu ihr
hat Trumpp schon früher ein Bändchen „Säuglingspflege 11 und ein anderes „Körper- und Geistes-
pflege im schulpflichtigen Alter 11 beigesteuert. Sein neuer Beitrag schließt also eine Lücke. Da
Trumpp sich nur auf die körperliche Pflege beschränkt, genügt hier die einfache Anzeige seiner
gut ausgestatteten und den beiden Vorgängern in nichts nachstehenden Schrift. Er stellt aber
in einem weiteren Bande eine Darstellung der geistigen Entwicklung und Erziehung in Aussicht.
Tr.
Geheimrat Prof. Dr. Peiper, Direktor der Universitätsklinik in Greifswald, Wandbilder
zur Säuglingspflege. Leipzig 1917. R. Schick. 18,00 M.
Für den Unterricht in der Säuglingspflege bieten die uns vorliegenden Wandbilder nicht nur
ein stofflich und methodisch wertvolles, sondern zugleich auch ein ausgesprochen schönes Lehr¬
mittel. Sie behandeln auf vier großen Tafeln das Ankleiden, Tragen und Baden. Was aus den
Bildern in geschickter unterrichtücher Verwertung herauszoheben ist — viel mehr als es beim
ersten Zuschauen scheinen mag — zeigt ein Begleitwort von Else Jamler. Sch.
Dr. K. Finkenrath, Die Zensurfrage vom Standpunkte der Sexualpädagogik.
Zeitschr. f. Sex.-Wiss. Bd. VHI. 1921. S. 161.
Das Seelenleben der Jugend im Übergangsalter kann durch Darstellungen, die auf sinn¬
liche Leidenschaften hinzielen, schwer geschädigt werden. Die Gefahr der Unterdrückung viel¬
leicht künstlerischer Werte ist gering gegen die der Gefährdung der Jugend. Deshalb ist in
einerVolksgemeinschaft, die die Absicht zu Jugendfürsorge und -schütz hat, Zensur Pflicht und Gebot.
Ilse Spagunn, Sexuelle Erziehung der weiblichen Jugend durch die Schule.
Zeitschr. f. Schulgesundheitspflege, 1920. S. 254.
Die Schule muß die Familie in der sexuellen Erziehung der Kinder unterstützen. Dazu
dienen Elternabende, Beiehrungsvorträge durch Lehrer oder Schularzt, Aussprachen unter vier
Augen, Moralunterricht und Unterricht in Sozialethik.
Dr. Kurt Finkenrath, Aufklärung. Eine Bewertung ihrer bisherigen Form. Zeitschr.
f f Sexualw. VHI Bd. 1921.
Die Aufklärung auf hygienischem und sexuellem Gebiete in der heute gepflogenen Form
ist unzulänglich. Sie vermittelt nur Wissen. Ihr muß eine Erziehung des Willens und das
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Literaturbericht
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Schaffen eines sittlichen Wertgefühls zur Seite treten. Soll die Aufklärung Zweck haben, muß
sie Denken, Fühlen und Wollen gleichmäßig beeinflussen.
Prof. Dr. H. Scheit, Unsittliches Benehmen von Schulknaben. Ein Beitrag zur
Frage der Koedukation. Zeitschr. f. Sozialwissenschaft. Bd. VIII. Heft 1. S. 19.
Sch. betont anschließend an einen Fall, da die Pubertätsdummheiten einiger Knaben wegen
der Anwesenheit von Mädchen als sitttliche Delikte aufgefaßt wurden, daß bei solchen Unge-
zogenheiten das Sexuelle meist noch im Unterbewußtsein ruht, und er wendet sich gegen die Ko¬
edukation. Sie ist sowohl vom sittlichen als auch vom pädagogischen Standpunkte aus zu verwerfen.
Lübau L Sa. Heinz Burkhardt.
C. Rosenkranz, Rektor in'Kassel, Bevölkerungsfrage und Schule. Halle 1917. SchroedeL
16 S. 0,60 M.
Die Arbeit ist u. a. durch zwei Lehrplanentwürfe, der eine den Unterricht in der Säuglings¬
pflege als Ergänzung des naturkundlichen Unterrichts in einer Mädchenschule, der andere die
Ausbildung von Lehrerinnen für dieses Fach behandelnd, einer Beachtung wert. Sch.
Dr. Robert Drill, Die neue Jugend. Flugschriften der Frankf. Zeitung. Frankfurt a. M. 16 S.
Das Heftchen berichtet, mit wärmerer Anteilnahme geschrieben, über die Verbände der
deutschen Jugendbewegung nach ihrem Wollen und Wirken. Was über den Wandervogel, die
Freideutschen und die sozialistische Jugend an Geschichtlichem und Gedanklichem vorgebracht
wird, bietet dem Kundigen kaum Neues. Wohl aber dürfte manchem willkommen sein, daß
Drill ausführlicher 'mit der Jungen protestantischen Bewegung der Neuwerker (— Sektiererei und
kein Endel —) bekannt macht! Sch.
Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Hochschulsonderkursus für Jugend¬
gerichtsarbeit. Heft 3 der Schriften des Ausschusses für Jugendgerichte und Jugend¬
gerichtshilfen. Berlin 1919. Zentrale für Jugendfürsorge. 71 S.
Um zur Bekämpfung der Kriminalität der Jugendlichen auszurüsten, hatten das Kriminali¬
stische Institut der Berliner Universität und der Ausschuß für Jugendgerichte und Jugend¬
gerichtshilten im April 1918 einen Hochschulkursus abgehalten, dessen wesentliche Darbietungen
in der vorliegenden Schrift der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Es handelt in ihr
Prot Dr. Delaquis-Frankfurt über „Strafrecht“, Prof. Dr. Liepmann-Kiel über „Gerichtsverfassung
und Strafrecht“, Amtsgerichtsrat Dr. Friedeberg-Berlin über „Jugendgerichtswesen“. Angefügt
ist ein kurzer Oberblick von Prof. Dr. Kramer-Berlin über die Psychiatrie in der Jugendgerichts¬
arbeit, vorangestellt ein Nachruf für Franz von Liszt, der von seinen Anschauungen über die
Verursachung und die Bekämpfung der Kriminalität aus als einer der ersten die Jugendgerichts^
barkeit aufgenommen hat. Tr.
F. Fehr, Stimmen aus 'dem Schacht! Bergmanns Urteile über Erziehung und
Schule. Arbeiterstimmen aus dem Ruhrtal. Fichtenau 1921. Verlag Gesellschaft und Er¬
ziehung. 55 S. 4M.
Leider bietet das Schriftchen nicht viel mehr als eine interessante Materialsammlung. Es
reiht an verbunden die Äußerungen aneinander, die erhalten wurden, als der Verfasser, früher
Lehrer im Berggebiet, beim vertrauten Umgänge mit Bergmännern das Gespräch auf Erziehungs¬
fragen lenkte und als er andermal weit über 100 Fragebogen ausgegeben hatte. Unter den sieben
Gedankengruppen, um die sich die Urteile bewegen, finden sich z. B.: „Was halten Sie für das
Wichtigste in der Kindererziehung? Was haben Sie an den bestehenden Schuleinrichtungen
auszusetzen? Wie denken Sie sich einen Lehrer, der das Vertrauen der Arbeiterschaft erhalten
wül? Was gefiel Omen an Ihrer eigenen Schulzeit?“ Die Antworten geben wertvollste Auf¬
schlüsse — weniger in ihrem pädagogischen Gehalt als nach den lebensanschaulichen Bekennt¬
nissen, in denen sie wurzeln. So wird — um nur weniges zu nennen — eine tiefe, religiöse
Sehnsucht offenbar, mag sich gleichwohl im Gebrauche eines verfügungsbereiten Schlagwort¬
besitzes — behaftet mit einem überstarken gefühlsmäßigen Werttone der Verachtung — vielfach
eine grimme Feindschaft gegen die Kirche bekundet; so fällt der Wunsch auf nach einer tieferen
Naturkenntnis; so will bemerkt sein, daß nahezu kein inneres Verhältnis zur Kunst besteht. Was
über Schule und Lehrer im grundsätzlichen und einzelnen vorgebracht wird, erhebt sich wohl
zumeist nicht über Naivitäten, Selbstverständlichkeiten, Nebensächliches und könnte fast als eint
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Literaturbericht
Zeugnis gegen die so schöne Forderung, die Gestaltung des Schullebens ii> die tätige, entscheidende
Mitwirkung des ganzen Volkes zu bringen, benutzt werden. Indessen: inmitten belangloser Äuße¬
rungen leuchten doch hier und da auch allerfeinste pädagogische Gedanken auf, die schon
durch ihre mitunter fast dichterische Prägung erkennen lassen, daß sie aus tiefem Grieben und
nicht aus parteidoktrinärer Lehre entstanden sind. In den Abschnitten über die eigene Schulzeit
ein Stück Kulturgeschichte des Lehrers und Pfarrers zu sehen, wie es der Sammler mit be-
denklich unwissenschaftlichem Sinne in seiner „Einführung“ andeutet, wäre ein recht frag*
würdiges Unternehmen. Wohl aber läßt sich einiges aus den Selbsterinnerungen kinder¬
pädagogisch auswerten.
Leipzig. Otto Scheibner.
Wetekamp, W., Selbstbetätigung und Schaffensfreude in Erziehung und Unter¬
richt. 4., vermehrte Aufl. Leipzig 1919. B. G. Teubner. VI u. 119 S., sowie 20 Tafeln.
3 M., dazu die Teuerungszuschläge.
Die in der modernen Pädagogik Gemeingut gewordenen Gedanken der Arbeitsschule and
des Werkunterrichtes werden auf den praktischen Unterricht, vor allem auf den Lese-, Schreib»
und Rechenunterricht im ersten Schuljahr angewendet, das Formen mit Ton und Plastulin, daa
Zeichnen und der Handfertigkeitsunterricht in den Mittelpunkt des Unterrichtsverfahrens gestellt.
In einem Anhang gibt Paul Borchert einen ausführlichen Lehrplan nach den Grundsätzen dea
Werkunterrichtes in den ersten drei Schuljahren.
Eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verfassers würde als Kritik des Werk¬
unterrichtes überhaupt zu weit führen. Es möge nur darauf hingewiesen werden, daß Kerschen-
eteiner, einer der Führer der Arbeitsschulbewegung, sich gegen die Auffassung wendet, das Arbeit*»
prinzip erschöpfe sich in der Handbetätigung, in Formen, Basteln und Zeichnen. Vom Stand¬
punkt der experimentellen Pädagogik müssen wir eines besonders betonen: Ober die Vor- and
Nachteile des Werkunterrichtes ist wahrlich genug gestritten worden. Bedeutsamer als theore¬
tische Auseinandersetzungen sind die praktischen Versuche. Ich weiß nun nicht, welche Er¬
fahrungen anderwärts gemacht wurden. Tatsache ist, daß in den Grazer höheren Schulen seit
der Einführung des Werkunterrichtes an den Grazer Volksschulen die Klagen Über die völlig
unzureichende Vorbildung der Kinder nicht aufhören, daß in den beiden untersten Klassen der
Gymnasien schon verschiedene Maßnahmen getroffen werden mußten, um die argen Versäum¬
nisse der Volksschule wettzumachen. Und das allgemeine Urteil der Elternschaft: Früher wurde
in der Schule gelernt und zu Hause gespielt, heute müssen die Eltern mit den Kindern zu Hause
lernen, da in der Schule nur gespielt wird.
Diese Erfahrungen geben zu denken. Man darf natürlich das Kind nicht mit dem Bade
ausschütten. Der Arbeitsschulgedanke, besonders in der Kerscbensteinerschen Prägung der
selbstlätigen Arbeit ist unanfechtbar, eine Durchführung, die nebensächliche Spielereien mit
der Hauptsache verwechselt, aber anfechtbar. Es wäre nun eine dankbare Aufgabe der ex¬
perimentellen Forschung, die Erfahrungen und Ergebnisse des didaktischen Experimentes zu
sammeln, psychologisch zu untersuchen und nach Erfolg und Mißerfolg zu werten. Einer auB
Volks-, Mittelschul- und Oberlehrern zusammengesetzten Arbeitsgemeinschäft müßte es gelingen,
die für die Pädagogik so wichtige Frage des Werkunterrichtes endgültig zu klären.
Graz. OttoTumlirx.
Dr. Willy Schulz, Direktor des Althoff-Realgymnasiums zu Nowawes. Innerliche Schul¬
reform. Johannes Müllers Gedanken über Erziehung und Unterricht. Nach seinen Heden
und Schriften dargestellt. München 1920. 111 S.
Der schulpädagogische Gehalt in den Gedankengängen Johannes Müllers erscheint uns —
entgegen der Meinung des Verfassers — so wenig neu und für die Entwicklung unseres Sehul¬
lebens so belanglos, daß wir die Veröffentlichung in einer Zeit, in der nur Zeit zum Allerdring-
lichsten ist, lür entbehrlich halten müssen, wiewohl man es verstehen mag, wenn ein begeistertes
Mitglied der Gemeinde Johannes Müllers sich einer Sammlung der Scbulgedanken de*«Meisters
persönlich widmet. »IY #
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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• witrit\ atA für <ta» M$rik?'ftmit
Pädagogische Typenlehre.
Von Rudolf Lehmann.
I.
Wilhelm Dilthey hat bekanntlich die philosophischen Weltanschauungen,
die in der Geschichte des spekulativen Denkens hervorgetreten sind und den
großen Systembildungen zugrunde liegen, nach bestimmten Typen zusam¬
mengefaßt und geordnet. Er fand, daß die auf dem induktiven Wege der
geschichtlichen Erkenntnis festgestellte Typenreihe zugleich eine systema¬
tische Ordnung bildet, die einem bestimmten Einteilungsprinzip entspricht
Die erreichte Induktion ist Bomit eine vollständige und mit den tatsächlich
gefundenen ist zugleich der Kreis der möglichen Einstellungen erschöpft
Daher ist mit dem typisierenden Verfahren nicht bloß eine Ordnung der ver¬
schiedenen Weltanschauungen geschaffen, sondern es ist damit auch ein
Standpunkt erreicht, der, indem er aus dem geschichtlichen Flusse der wech¬
selnden Anschauungsweisen die bleibenden Grundformen hervorhebt, eine
Synthesis der systematischen und der historischen Betrachtungsweise zu¬
stande bringt und damit für beide neue Grundlagen schafft. Die einzelnen
Weltanschauungen stehen als geschichtliche Erscheinungen gleichberechtigt
nebeneinander, keiner von ihnen kommt der Vorzug notwendiger Allgemein¬
gültigkeit zu; aber zusammengenommen vermitteln sie dem Systematiker eine
erschöpfende Einsicht in die Lösungsmöglichkeiten der Probleme, die der
philosophischen Spekulation die Richtung weisen, dem Historiker einen Zu¬
sammenhang von systematischen Gesichtspunkten, der ihm für Forschung
und Darstellung eine Regulative zu geben vermag.
Dem Schöpfer dieser Weltanschauungslehre hätte es nun — so sollte
man denken — nahe liegen müssen, die typisierende Methode auch auf die
pädagogischen Grundanschauungen und Systembildungen zu übertragen,
um so mehr als die Pädagogik, wenigstens eine Zeit lang, zu seinem Inter¬
essengebiete gehörte. Es erscheint fast befremdlich, daß sich keine Andeu¬
tung dahin bei ihm findet, auch in der bekannten Akademieabhandlung
nicht, in der er einen Entwurf zur Neugestaltung der pädagogischen Wissen-
• schaft in großen Zügen Umrissen hat. 1 ) Das Verdienst, eine solche Typen¬
lehre auf pädagogischem Gebiete zum erstenmal angestrebt zu haben, kommt
vielmehr E. Vowinckel zu, der in seinen beiden Büchern Pädagogische
Deutungen (1908) und Beiträge zur Philosophie und Pädagogik
(1912) versucht hat, in einem der Diltheyschen Methode verwandten Sinne
die pädagogischen Theorien auf bestimmte Grundtypen zu bringen. Einen
glücklichen Ansatz dazu hat er besonders in dem ersteren Buche genommen,
wo er zwischen einer geschichtlich und einer naturwissenschaftlich orientierten
*) Über die Möglichkeit einer aligemeingttltigen pädagogischen Wissenschaft. Sitzungsberichte
der Kgl. preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1888.
Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie. 16
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RudoU Lehmann
Erziehungslehre unterscheidet, eine ebenso sachliche wie fruchtbare Ein¬
teilung, die allerdings nicht erschöpfend ist, und er zwei Richtungen als
zwei bestimmte Typen hervorhebt. In den späteren „Beiträgen“ hat Vowinckel
denn auch diesen Gedanken umgebildet und die Gesichtspunkte für seine
Unterscheidungen beträchtlich verschärft. Er gelangt nun zu 5 Typen des
pädagogischen Denkens.
Allerdings gehört der erste derselben, der „autoritativ-historische“
Typus, genau genommen dem Gebiete des historischen Denkens nicht an;
denn seine Vertreter erstreben nichts, als die junge Generation unter die
starre Macht der Überlieferung zu beugen. „Gedankenbildung irgendwelcher
Art ist von ihnen nicht zu erwarten.“ Diesem starren Autoritätsprinzip stellt
V. zunächst den „empirisch-psychologischen“ Standpunkt gegenüber. Die
Bezeichnung ist nicht ganz glücklich gewählt, denn sie deckt eigentlich nur
die Tendenz der streng psychologischen Erziehungslehre, während V. die
gesamte Aufklärungspädagogik, ja selbst — freilich nicht zu Recht — Herbarts
System mit darunter begriffen wissen will. Es ist die rationalistische
Auffassung des Erziehungsgeschäfts, die er im Auge hat. „Man will eine
rationelle Welt und in ihr rationelle Menschen. Die Geschichte mit ihren
widersprechenden und verwirrenden Bildern wird beiseite geschoben und
die Gegenwart an ihre Stelle gesetzt.“ Dieser Auffassung und besonders der
experimentellen Psychologie steht der Verfasser nicht durchaus ablehnend,
aber doch mit starken kritischen Einschränkungen gegenüber. Den 3. Typus
bezeichnet er als „sozial-psychologischen“: gemeint ist im wesentlichen die
soziale Richtung der Pädagogik, wie sie am reinsten in Fichtes Reden, aber
auch etwa in Deweys „wild schweifenden Hoffnungen“ hervortritt; der Zusatz
„psychologisch“ soll offenbar nur den Gegensatz zur kritischen Behandlung
der Sozialpädagogik bezeichnen, die den letzten und höchsten Typus bildet.
Sie entsteht aus rein philosophischer Einstellung und geht auf das Ziel aus,
„die Logik des pädagogischen Denkens“ durchzuführen. Durch die kritische
Behandlung der übrigen typischen Standpunkte bahnt er sich den Weg, um
nun direkt zu den pädagogischen Problemen vorzudringen. Ehe der Verfasser
aber zu dieqpm letzten und höchsten Typus der pädagogischen Theorie gelangt,
kennzeichnet er noch einen vierten, den ästhetischen Typus, der zwar
„nirgends in Reinkultur vorhanden ist“, aber durch Namen wie Ellen Key,
Ludwig Gurlitt und Berthold Otto charakteristisch veranschaulicht wird. Das
wesentliche dieser Richtung ist nach V., daß sie spielend erziehen und
„das Kind von den Normen und Idealen der Erwachsenen erretten will“.
Sie ist in letzter Linie aus dem Begriff der naturgemäßen Erziehung, wie ihn
Rousseau faßte, hervorgegangen, aber in ihrer Weiterentwicklung verfluchtet
sie sich notwendigerweise in Stimmung und Phantasie. Bei diesem Urteil,
das für die genannten Namen wohl zutrifft, ist freilich der originellste und
bedeutendste Vertreter dieses Typus, Fröbel, auffallenderweise nicht berück¬
sichtigt.
Diese Typen der Erziehungstheorie 'führtVowinckel auf ebenso viele psychische
Einstellungen der Erziehenden zurück, und seine Charakteristiken zeigen tiefe
und lebensvolle Einblicke in die Zusammenhänge des erzieherischen Denkens.
Trotzdem ist nicht zu verkennen, daß sein Versuch einer Typenlehre nur
unvollkommen ist. Ein einheitliches Einteilungsprinzip tritt nicht hervor; die
Standpunkte sind nicht immer logisch zureichend gegeneinander abgegrenzt —
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Pädagogische Typenlehre
243
eine autokrati8ch-histori8che Richtung z. B. kann sehr wohl 'zugleich sozial
bestimmt sein, wie das in gewissen religiösen Bestrebungen der Gegenwart
deutlich der Fall ist Psychologische, theologische und erkenntnistheoretische
Gedankenreihen laufen bei Vowinckel mehrfach ungesohdert durcheinander oder
unverbunden nebeneinanderher. Er legtauf den transzendentalen, also über¬
empirischen Charakter seiner Typenbildung einen starken Ton: er will „Reihen
von Erscheinungen unter den Typus beugen,“ und doch drängt sich der
empirische Ursprung überall auf. Kurz, zu durchsichtiger Klarheit ist er noch
nicht gelangt, so viele wertvolle Ansätze und Gedanken die beiden angeführten
Arbeiten auch enthalten.
So entspricht es denn einem wissenschaftlichen Bedürfnis, wenn in jüngster
Zeit Max Frischeisen-Köhler, der unter den Schülern Diltheys in erster
Reihe steht, aufs Neue und zwar in systematisch ausführlicher Weise unter¬
nommen hat, der noch unerledigten Aufgabe gerecht zu werden. Sein Buch
„Bildung und Weltanschauung“ (Charlottenburg, Mundusverlagsanstalt 1921) ist
eine der tüchtigsten Leistungen, die aus dem Diltheyschen Gedankenkreise hervor¬
gegangen sind; es ist nach der pädagogischen Seite durchaus selbständig, da
Dilthey selbst, wie schon bemerkt, nach dieser Richtung hin nicht den Weg
gezeigt hat; auch ein Einfluß Vowinckels ist nicht erkennbar. Der Versuch, die
pädagogischen Theorien in eine typische Reihe zu bringen, die den Charakter
einer aus der Sache selbst entsprechenden Notwendigkeit trägt, ist hier im
Wesentlichen gelungen.
Zwei Züge sind für den Gedankengang der Arbeit bestimmend. Zunächst
die streng induktive Methode der Untersuchung, die durchaus vom geschicht¬
lich Gegebenen ausgeht; selbst das Einteilungsprinzip, nach dem die Typi¬
sierung vorgenommen wird, entwickelt sich in seiner inneren Notwendigkeit
vor unsern Augen, statt daß es aus irgendwelchen Allgemeinbegriffen ab¬
geleitet würde. In die allgemeinen regulativen Begriffe ist das historisch¬
empirische Element von vornherein mit aufgenommen, sie tragen somit
keinen „transzendentalen“ Charakter. „Die logische Einheit und Reinheit der
Betrachtung läßt sich“, bemerkt der Verfasser ebenso richtig wie bedeutungs¬
voll, „nur durch eine Einseitigkeit erkaufen, durch die sie entwertet wird.
Eine wirkliche apriorische Wertlehre im Sinne des transzendentalen Idealis¬
mus“ (wie sie Natorp und Vowinckel anstreben) „würde sich selbst zur Ohn¬
macht verurteilen. Denn die Doppelheit von empirischer und ideeller Be¬
trachtungsweise ist aus der Erziehungswissenschaft ebensowenig auszu¬
scheiden wie aus dem Bildungswesen selber der Gegensatz oder vielmehr
die Wechselbeziehung des praktischen Lebens und der Forderung eines
reinen Idealismus.“ So kann denn eine fruchtbare und zugleich wissen¬
schaftlich erschöpfende Erkenntnis nur gewonnen werden, wenn die Unter¬
suchung, von den geschichtlich gewonnenen Theorien ausgehend, mit ihrer
pädagogischen Bedeutung zugleich ihren philosophischen Gehalt erschließt
und sie damit bestimmten Weltanschauungen zuordnet. Denn dieses ist nun
der Hauptgesichtspunkt des Buches, wie er ja auch auf dem Titel zum Aus¬
druck kommt: was die einzelnen pädagogischen Theorien voneinander
scheidet, ist zwar zunächst die Verschiedenheit der konkreten Bildungsideale
und Förderungen, aber diese weisen durchweg auf eine tiefer liegende Dif¬
ferenz der Weltanschauungen hin, denen sie entstammen, ja deren Bestand¬
teile sie sind. Und nicht nur ihren charakteristischen Gehalt empfangen
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Rudolf Lehmann
die verschiedenen Bildungslehren von hier aus, sondern auch die Methoden
des pädagogischen Denkens sind durch diesen Zusammenhang bestimmt.
Sie haben durchweg ihre Wurzeln in sittlichen und religiös metaphysischen
Anschauungen, ja selbst die ihrer Tendenz nach naturalistisch und empirisch
gerichteten Systeme stehen in deutlicher Abhängigkeit von einer gleich¬
gerichteten antimetapbysischen Denkweise und Weltansicht.
Die Typen der pädagogischen Theorie, zu denen Frischeisen-Köhler gelangt,
entsprechen im wesentlichen denen, die Dilthey für die philosophische
Weltanschauung aufgestellt hat, und schon hierin zeigt sich das Abhängig¬
keitsverhältnis, das nachgewiesen werden soll. Dem positivistischen oder
naturalistischen Typus tritt die idealistische Einstellung gegenüber,
und diese weist wie bei Dilthey zwei verschiedene Typen auf. Die prinzi¬
pielle Forderung, die Theorie der Erziehung ausschließlich auf Erfahrung zu
begründen, führt notwendig zu der Idee einer „naturgemäßen Bildung“, die
jede metaphysische Grundlegung und Ableitung von Erziehungsidealen aus
erkenntnistheoretischen Erwägungen ablehnt. Methodisches Prinzip ist hier
die von der Philosophie losgelöste selbständige Stellung der Pädagogik, welche
die übrigen Fachwissenschaften schon erreicht haben. Der pädagogische
Naturalismus tritt in jeder aufklärerischen Kulturbewegung hervor, so
schon in der antiken Sophistik und, wie der Verfasser mit etwas zweifel¬
haftem Recht findet, auch in der Stoa. Seine moderne Gestalt hat er aus
der gewaltigen. Entwicklung der Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhun¬
dert geschöpft; die neuen Begriffe von Natur und Erfahrung, die für das
rationalistische System der Wissenschaften maßgebend waren, sind es auch
für ihn. In seiner Weiterentwicklung nimmt er teils die Psychologie (Comte
und seine Nachfolger), teils die Biologie (Bain und Herbert Spencer) zur
natürlichen Grundlage. Aber auch die verschiedenen Richtungen der ge¬
schichtlich begründeten Betrachtungsart, wie sie hauptsächlich in Deutschland
vertreten wird (Beispiele unter anderen P. Barth, 0. Willmann, Ed. Spranger)
rechnet Frischeisen-Köhler hierher, während er in Kerschensteiners Arbeiten
den bedeutungsvollen Versuch sieht, den geschichtlichen Standpunkt zugunsten
eines überhistorischen zu überwinden.
In der idealistischen Pädagogik unterscheidet der Verfasser eine kri¬
tische und eine spekulative Richtung. Die erstere nimmt ihren Aus¬
gangspunkt „von den reinen Ideen oder Geltungsarten, aus denen unabhängig
von allen Seinsbehauptungen das Ziel der Erziehung entwickelt werden
kann“. „Es gilt der Entwicklung eines autonomen Systems, das in Ver¬
nunftnormen gegründet und von allen empirischen Gesetzmäßigkeiten unab¬
hängig ist.“ Für den zweiten Typus handelt es sich um die Einordnung
„in das Ganze einer Weltansicht, durch welche der Bildungsprozeß selber
einen metaphysischen Gehalt gewinnt“ Die kritische Theorie beruht stets
auf einer dualistischen Gesamtansicht: sie zielt auf eine Überwindung des
natürlichen Menschen durch den geistigen hin. Die spekulative Pädagogik
dagegen wurzelt „in der Sehnsucht des Menschen, über den Zwiespalt seines
Lebens, über den Gegensatz von Welt und Seele, Natur und Geist hinaus
zu gelangen“. Daher wird Bildung hier stets als ein Prozeß erfaßt, „durch
welchen das einzelne Individuum in den Einigungsvorgang des Göttlichen
und Natürlichen, den die Kultur darstellt, eintritt.“
Anfechtbar erscheint mir in dieser Klassifizierung, daß unter den Begriff
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Pädagogische Typenlehre
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des naturalistischen Positivismus zu viele und verschiedene Standpunkte zu-
sammengefaßt werden, als daß sich wirklich noch ein scharf umrissener Typus
ergäbe: Comenius und Meumann, Rousseau und Dilthey, Spencer und Will-
mann haben schließlich herzlich wenig miteinander zu tun, wenn schon für
sie alle die Erfahrung den Ausgangspunkt bildet Hier erscheint eine weitere
Differenzierung unerläßlich, und vielleicht konnte Vowinckels Unterscheidung
einer naturwissenschaftlich und einer geschichtlich orientierten Pädagogik eine
fruchtbare Ergänzung ergeben. Es würden dann zwei Typen der empirischen
Pädagogik den beiden idealistischen gegenüberstehen, und das Ganze gewönne
dadurch an Natürlichkeit und Anschaulichkeit. Auch die Einordnung der
einzelnen geschichtlich hervorgetretenen Theorien unter die verschiedenen
Typen bietet zu mancherlei Einwänden und Zweifeln Anlaß. Ich übergehe
sie, da es sich hier nur um die prinzipielle Würdigung der Gesamtleistung
Frischeisen-Köhlers handelt, und diese, denke ich, muß man rückhaltlos an¬
erkennen. Nicht nur, daß die Arbeit im Einzelnen viel Feines und Kluges
enthält, daß sie Zusammenhänge aufdeckt und Fernblicke eröffnet, die bisher
allzu wenig beachtet wurden: sie Schafft auch tatsächlich die Grundlage zu einer
systematischen Klassifizierung der Erziehungstheorien und damit zu einer päd¬
agogischen Typenlehre überhaupt.
n.
Die Typisierung der erzieherischen Theorien kann grundlegend für die
Orientierung über das Gesamtgebiet der Pädagogik werden, allein sie vermag
weder noch beabsichtigt sie, den konkreten Inhalt desselben zu erschöpfen.
Gleichwohl ist es denkbar, ja es ergibt sich als notwendige Forderung, das
typisierende Verfahren nun auch auf diesen Inhalt selbst anzuwenden, die
Erscheinungen, die sich auf dem Gebiete der historischen wie der praktischen
Erfahrung darbieten, in entsprechender Weise nach typischen Gruppen zu
ordnen und sie hierdurch zu anschaulichem Verständnis zu bringen. Auf
diese Weise würden sich auch für die einzelnen Probleme Lösungsmöglich¬
keiten ergeben, von denen zwar keine an sich notwendige Allgemeingültigkeit
in Anspruch nehmen könnte, deren Aufreihung aber einem systematischen
Charakter zustreben und damit dds bloß Empirische in seiner Zufälligkeit
überwinden würde. Daß die Typenreihen selbst nur auf induktivem Wege
gefunden und nicht durch Ableitung aus allgemeinen Oberbegriffen gewonnen
werden können, ist auf dem konkreten Erziehungsgebiet noch deutlicher als
da, wo es sich um allgemeine Grundanschauungen und Einstellungen handelt.
Wie weit es möglich sein wird, eine systematisch umfassende Gesamtordnung
des ganzen Gebietes zu erreichen, kann erst die Zukunft lehren. Eine solche
würde offenbar das erzieherische Leben nach drei Gesichtspunkten hin zu
behandeln haben, den drei konstituierenden Bestandteilen entsprechend, die
in jedem Erziehungsvorgang überhaupt zutage treten: Charakter des Er¬
ziehungsziels, Einstellung des Erziehers, Natur des Zöglings. Es soll im fol¬
genden mit einigen anschaulichen Zügen verdeutlicht werden, wie sich die^
typisierende Behandlung in den drei entsprechenden Hauptabschnitten etwa
gestalten würde. Ich greife dabei zunächst auf ein paar eigene ältere
Arbeiten zurück 1 )» uni mich zum Schluß wieder einer bedeutsamen Neu¬
erscheinung zuzuwenden.
*) Erziehung: und Unterricht, Kap. IX, S.’226H — Die Prinzipien der Erziehungsgeschichte
in der Zeitschr. „Die Geisteswissenschaften“ 1 , 119 ff.
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Rudolf Lehmann
In der Geschichte der Erziehung ist es eine bisher zu wenig beachtete
Tatsache, daß die einzelnen praktisch bedeutsamen Zielsetzungen und Rich¬
tungen durchweg nicht bloß einmal hervortreten, sondern in verschiedenen
Zeitaltern und Volksgemeinschaften wiederkehren. Bisweilen beruhen solche
Wiederholungen auf einer mehr oder weniger bewußt festgehaltenen Kontinuität
der Entwicklung, auf den Nachwirkungen einer Epoche in die andere, weit
öfter jedoch wachsen sie ohne Zusammenhang miteinander aus der Gleichheit
sozialer, wirtschaftlicher, geistesgeschichtlicher Bedingungen hervor. Diese
Wiederkehr zeigt sich am deutlichsten da, wo ein bestimmter Stand mit seinen
Interessen und Anschauungen das Erziehungswesen beherrscht. Liegt es
doch im Wesen solcher sozialen Gebilde, daß ihre innere Struktur zu den
verschiedensten Zeiten und unter den verschiedensten äußeren Verhältnissen
die gleiche , bleibt. Aus dieser Struktur gehen notwendigerweise sowohl
praktische Bedürfnisse wie ideale Forderungen hervor, die, miteinander ver¬
flochten, charakteristische Wertbegriffe und Zielsetzungen auch für die Er¬
ziehung hervortreiben. Die soziologischen Grundlagen der Erziehungsge¬
schichte treten hier deutlich in die Erscheinung.
Der erste deutlich erkennbare Typus dieser Art ist das aristokratische
Ideal der ritterlichen Erziehung, die auf der Grundlage körperlicher Durch¬
bildung ethische und ästhetische Werte entwickeln will, intellektuelle Bildungs¬
ziele dagegen zurückstellt. Kraft und Gewandtheit, Schönheit und anmutende
Lebensformen, Festigkeit und Vornehmheit der Gesinnung sind es, die diese
Erziehung anstrebt; Erkenntnis und Wissen aber sind ihr von untergeordneter
Bedeutung. Dies ist das Ideal, das die ältere hellenische Jugendbildung
von dem kriegerischen Heerlager der Dorer an bis zum Höhepunkte atheni¬
scher Kultur und Macht bestimmt hat. Es tritt mit fast völlig gleichen Grund¬
zügen in der höfischen Zucht des 11. und 12. Jahrhunderts wieder hervor.
Auch für die Erziehung des Adels im Quatro- und Cinquecento und die päda¬
gogische Theorie der Renaissance in Italien ist ein nahe verwandtes Ideal
maßgebend. In der Erziehung „des jungen Engländers vom Stande“, für die
Locke das Programm geschrieben hat, zuletzt in der Corpserziehung der
preußisch-deutschen Offiziere, entdeckt man unschwer dieselben Grund¬
züge, wenn auch nach Volks- und Zeitverbältnissen im Einzelnen mehr oder
weniger bedeutsame Abweichungen und Zusätze hervortreten.
Dem aristokratischen Persönlichkeitsideal stellt seit den Anfängen alles
Kulturlebens ein priesterliches gegenüber. Hier sind es gerade die dort
gering geachteten intellektuellen Werte, auf die sich die Erziehung richtet:
eine tiefere und umfassendere Erkenntnis, die nicht nur über das Wissen
des Einzelnen und Uneingeweihten, sondern über alle bloß praktischen Er¬
fahrungen hinausreicht, die Aneignung einer aus Offenbarung und Überlieferung
geschöpften Weisheit, die hieraus hervorgehende Überlegenheit, die Kraft, Seelen
zu lenken und Schicksale zu bestimmen, die zunächst in der Beherrschung
des eigenen Selbst, in bewußter Lebensgestaltung und persönlicher Haltung
zum Ausdruck kommt. Im letzten Grunde ein Ideal geistigen Herrechertums.
Eine gewisse Entfernung trennt den Priester vom Volke, und so vollzieht sich
auch seine Erziehung in Abgeschiedenheit und Tempelstille, ja es liegt wenig¬
stens in den älteren Epochen zumeist ein Geheimnis über den priesterlichen
Überlieferungen. Daher haben wir denn, auch nur beschränkte Einblicke in
ihren Gehalt und ihre Methoden. Im Laufe der späteren Entwicklung aber
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Pädagogische Typenlehre
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löst sich nicht selten aus der religiösen Bildungssphfire eine philosophische
heraus wie im nachveda’schen Brahmanismus oder, für uns von unmittel¬
barer Wichtigkeit, im griechischen Geistesleben, und hier tritt uns nun in
hellem Lichte ein neues, rein intellektuelles Bildungsideal entgegen, das in
seinen Grundzügen gleichwohl dem priesterlichen verwandt bleibt. Es ist -
ein geistiger Adel, der den ritterlichen ersetzt; die Absonderung vom Volke,
vom Bedürfnis des Tages wird Erfordernis durch die Zuwendung zum Gött¬
lichen, Ewigen als dem einzig wahren Werte auch des irdischen Daseins.
Das ist das Ideal der philosophischen Erziehung, das Plato in seinem Staat
entworfen, das er in seiner Akademie verwirklicht hat. Die Klosterschule des
Mittelalters bringt es auf dem Höhepunkt der kirchlichen Weltanschauungen
in seinen wesentlichen Zügen noch einmal hervor. Ein abgeschwächter Nach¬
klang des philosophischen Typus ist die gelehrte Bildung, wie sie im
späteren Altertum und dann wieder seit der Entstehung des Humanismus bis
auf die Gegenwart in charakteristischen Grundzügen auftritt.
Dem aristokratischen und dem priesterlich-philosophischen Er¬
ziehungstypus muß als dritter notwendigerweise einbürgerlichesBildungsideal
entsprechen. Aber es ist eine sonderbare Tatsache, daß das Bürgertum erst
sehr spät, kaum vor mehr als einem Jahrhundert, den Ansatz dazu genom¬
men hat, einen seinem Wesen entsprechenden Bildungstypus zu entwickeln.
Zwar die praktische Eingewöhnung und Unterweisung der Jugend, die auf
die unmittelbaren Bedürfnisse des Lebens und der Berufsarbeit gerichtet ist,
war der Zeit nach zweifellos die erste und bleibt die verbreitetste von allen
Erziehungsweisen; aber die geschlossene Form eines ausgeprägten Bildungs¬
typus fehlt ihr, da sie immer nur in unmittelbarer Anlehnung an Leben und
Umwelt verläuft. Selbst da, wo das gesteigerte und verwickeltere Bedürfnis
besondere Lehreinrichtungen hervorruft, bleiben diese, wie die Grammatisten-
schulen der Römer oder die deutsche Volksschule vor Pestalozzi, ganz am
einzelnen Bedürfnis haften und von dem Bewußtsein inhaltlich leitender
Allgemeinwerte unberührt. Im wesentlichen ist die bürgerliche Jugend stets
durch Teilnahme an der religiösen, der gelehrten, gelegentlich auch der ari¬
stokratischen Bildung für ihr späteres Leben vorbereitet worden. Bei Pesta¬
lozzi in Lienhard und Gertrud, bei Goethe besonders in den pädagogischen
Abschnitten der Wanderjahre, tritt mit dem Ideal der bürgerlichen Tüchtig¬
keit zum ersten Mal auch ein Bildungsideal auf, das dem produktiven Bür¬
gertum in seiner Besonderheit gilt. Aber erst in unserer Zeit zeigt sich ein
allgemein bewußtes und entschiedenes Streben in dieser Richtung, am deut¬
lichsten in der Herausarbeitung der Idee der staatsbürgerlichen Erziehung,
wie sie etwa Kerschensteiner vertritt.
Von den objektiven Bildungsidealen aus greift die Typenlehre auf die
persönlichen Faktoren des Erziehungsverhältnisses über, also auf Erzieher
und Zögling.
Den verschiedenen Bildungstypen entspricht eine Verschiedenheit des Er¬
ziehertypus, die nicht minder scharf hervortritt wie sie selbst. Dieses Abhängig¬
keitsverhältnis ist ebenso notwendig wie natürlich: es ist eine Vorbedingung
aller erzieherischen Wirkung, daß der Erzieher die Werte, die er übermitteln
soll, irgendwie und sei es auch nur unvollkommen in seiner Person verkör¬
pert Die aristokratische Gesellschaft freilich vermag diese Forderung am
wenigsten durchzuführen: das Standesbewußtsein des Adels drückt den Er-
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Rudolf Lehmann
zieherberuf, wie jede nutzbringende oder erwerbsmäfiige Tätigkeit, leicht
auf eine untergeordnete Stufe herab, auf welcher eine Persönlichkeitsbildung
höherer Art nicht möglich ist. Das zeigt sich schon in Hellas, wo die Auf¬
gabe des Jugenduiiterrichts untergeordneten Mietlingen und Sklaven über¬
lassen blieb. Allerdings eben nur der Unterricht, die Ausbildung der einzel¬
nen Fähigkeiten und Kenntnisse; die Persönlichkeitsbildung selber wurde
nicht von der Tätigkeit des Berufslehrers, sondern von dem Einflüsse älter«
, Standesgenossen, wie er sich besonders in den erotischen Verhältnissen zwischen
Männern und Jünglingen entfaltete, erwartet. Auf die unmittelbare und vor¬
bildliche Einwirkung der Standesgenosaen lief auch die höfische Zucht der
ritterlichen Gesellschaft hinaus, und auch Locke fordert für die Erziehung
1 der jungen Edelleute „einen verständigen Weltmann“ d. h. einen Erzieher,
der, wenn auch nicht von Geburt, so doch durch Lebenshaltung und Sitte
den aristokratischen Kreisen angehört.
Von geschichtlicher Bedeutsamkeit ist vor allem derjenige Erziehertypus,
der dem priesterlichen und dem damit verwandten philosophischen Bildungs-
ideal entspricht: in der Gestalt des priesterlichen Lehrers erscheint der Men¬
schenbildner zuerst in der Geschichte. Seine Tätigkeit gilt zunächst dem
jungen Nachwuchs seines heiligen Berufs, doch mittelbar und unmittelbar
erstreckt sich sein bildender Einfluß aus dem Tempel oder dem Kloster auf
weitere Kreise. Bei den Hellenen geht dann der Charakter des priesterlichen
Erziehers in die Würde des philosophischen Lehrers und Schulhauptes über,
und im Mittelalter ist der Geistliche, der Mönch, der Lehrer der gesamten
Epoche und bleibt es bis in das Reformationszeitalter hinein: erst allmähli ch
entsteht, in den protestantischen Landen statt des geistlichen Erziehers, in
den katholischen neben ihm, ein weltlicher Lehrerstand.
Wie die bürgerliche Erziehung selbst in ihrer typischen Bestimmtheit, so
entwickelt sich auch der ihr gemäße Typus des bürgerlichen Lehrers und
Volkserziehers erst langsam und allmählich; noch in unserer Zeit ist diese
Entwicklung nicht abgeschlossen, aber es zeigt sich immerhin mit zunehmender
Deutlichkeit das Idealbild, dem sie zustrebt, von zwei verschiedenen Aus¬
gangspunkten aus zustrebt: auf der einen Seite der Mann aus dem Volke,
der dessen Mühen und Leiden, seine Bedürfnisse und seine Sehnsucht aus
eigenem Erlebnis kennt, aber sich durch Bildung und Wissen darüber er¬
hoben hat und nun den Lehrerberuf als eine soziale Aufgabe ergreift, um
die Schäden zu heilen (Pestalozzi); auf der anderen Seite der Gelehrte, in¬
sonderheit der gelehrte Humanist, der auf der Höhe des geistigen Lebens
die Begabteren unter der Jugend zu sich und seinen Erkenntnisfreuden her-
aufziehen will (Herder, Friedrich August Wolff). Der Lehrertypus der
Zukunft wird die Vereinigung beider darstellen müssen und sich damit einem
neuen Höhepunkt in der Geschichte menschlicher Bildung annähem.
Was nun, abgesehen von der äußeren Gestalt und der Lebensstellung, das
innere Wesen dieser verschiedenen Erziehertypen ausmacht, das habe ich in
meinem vorhin genannten Buche eingehend dargestellt. Ich begnüge prich
hier damit, einige wenige Sätze anzuführen, in denen die Summe jener Be¬
trachtungen gezogen wird.
Das erste Kennzeichen des priesterlichen Erziehers ist eine gewisse
Weihe und Würde, die ihn von den übrigen Menschen, auch von seinen
Schülern entfernt. Die Berührung mit dem Göttlichen, sei es die Religion,
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Pädagogische Typenlehre
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sei es die Philosophie, verleiht ihm diese Weihe, die denn auch schon
in seinem äußeren Auftreten, in der Ruhe und Gemessenheit der Haltung,
oft auch schon in der Kleidung zum Ausdruck kommt. Wesentlicher sind
die Eigenschaften innerer Natur. Der Priester, der Weise, wenn sie wirklich
das sind, was diese Namen sagen, kennen die Seelen der Menschen und
wissen sie zu lenken. Es eignet ihnen ein Zug von Herrschergabe und
Herrschergröße, — einer Herrschergröße, die nicht von dieser Welt ist, denn
das ist schließlich das entscheidende: der Weise wie der Priester, beide stehen
in freiwilliger Entsagung dem Leben fern, und dieses hat kein praktisches,
kein persönliches Interesse für sie; der Erzieher verlangt nichts als der Idee
zu dienen, der er angehört, Männer zu bilden, die ihr dermaleinst dienen
sollen; er muß ein Vorbild selbstlosen Idealismus sein. Hierdurch erweckt
er verehrende Hingabe, die zugleich einer erhabenen Sache und der Per¬
sönlichkeit ihres Vertreters gilt.
An die Stelle des priesterlichen oder philosophischen Erziehers stellt die
geschichtliche Bewegung den gelehrten Lehrer. Dieser Typus, am reinsten
etwa durch die großen deutschen Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts,
einen Agricola, Reuchlin, Melanchthon verkörpert, erfuhr seine Wiedergeburt,
als der Humanismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts seinen neuen Auf¬
schwung nahm, in der Wirksamkeit Herders, Wolffs und einer Reihe ihrer
Nachfolger seinen Gipfel erreichte und von da aus auf den Philologen¬
stand gestaltend einwirkte. Die Höhe und Würde des Priestertums tritt
zurück; nicht immer, aber doch oft genug prägt sich eine gewisse Enge und
Kleinlichkeit im Auftreten des Gelehrten aus. Seine Weltabgeschiedenheit
ist nicht selten mit Unkenntnis des Lebens verbunden: es fehlt die über¬
legene Kraft, welche die Seelen durchdringt und sie zu lenken weiß. Alles
das muß durch die Überlegenheit ersetzt werden, die ihm sein Wissen und
seine Arbeit verleihen. Die Strenge der Selbstzucht, die Treue und Gewissen¬
haftigkeit wirkte vorbildlich, selbst da, wo Geist und Phantasie nicht zur
vollen Höhe entfaltet erscheinen. Kommen aber im glücklichen Falle, wie
bei jenen großen Führern, noch die Eigenschaften eines überlegenen Geistes
kommt Kraft der Phantasie und der Empfindung, Weite des Gesichtskreises
hinzu, so ergibt sich ein Bild, das dem des priesterlichen Erziehers an Wert
nicht nachsteht. —
Man bemerkt, wie die Einsicht in die soziologische Bedingtheit der Er¬
ziehertypen zum Verständnis ihrer Eigenart und ihrer Erscheinungsformen
beiträgt. Dennoch ist nich\ zu verkennen, daß das innere Wesen der er¬
zieherischen Tätigkeit durch diesen Einblick nicht eigentlich erreicht wird.
Tiefer führt es, wenn wir die persönliche Willensrichtung des Erziehers ins
Auge fassen, wie sie sein Verhältnis zum Erziehungsziel bestimmt. Auch
hier kann uns geschichtliche Betrachtung die Wege weisen. Suchen wir
nämlich die letzte und innerste Absicht zu erfassen, aus der die Werke der
großen Pädagogen hervorgegangen sind, so finden wir einen dreifachen
Unterschied. Der Erzieher will entweder in dem Zögling sein eigenes Wesen
erneuern, höher vielleicht und vollkommener, aber wesentlich in den gleichen
Zügen, oder der Trieb schlägt die entgegengesetzte Richtung ein: er geht
aus dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, der Unzufriedenheit mit sich
selber, hervor; das junge Geschlecht soll anders, stärker, gesünder werden
als der Erzieher. Im Gegensatz zu diesen beiden subjektiv eingestellten
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Rudolf Lehmann.
steht der objektive Typus. Hier kommt die eigene Persönlichkeit nicht in
Betracht. Keine Erinnerung trübt dem Erzieher den Blick oder färbt ihm
das Gefühl: er sieht nur den Zögling selbst vor sich und will zur Vollendung
bringen, was die Natur in diesem angelegt hat. Den geschichtlichen Typus
der ersten Art verkörpert Plato, dessen letzter Zweck es ist, den Philosophen
zu erziehen, wie er selbst sich nach dem Beispiel seines Meisters Sokrates
erzogen hat. Den zweiten zeigt uns Pestalozzi, der „träumende Tor“, der
„ein immer und immer nur zertretenes Leben“ in den Dienst des Erziehungs¬
zweckes stellte, der seinem Gott dankte, daß er ihn ins Elend gestoßen habe,
weil er- nur so das Elend des Volkes erkennen und heilen lernen konnte
Nicht minder auch Rousseau, dem aus einer unsteten und verwahrlosten
Jugend ein unheilbarer innerer Zwiespalt ins Leben folgte: eben aus diesem
erwuchs ihm das Bildungsideal seines Emile, des vernünftigen und natür¬
lichen, des freien, klaren und starken Menschen, ebenso aber auch das
Ideal eines zielbewußten Erziehers und Freundes, und einer Bildung, die zu
gleicher Zeit natur- und vernunftgemäß ist und ihr Ziel nicht verfehlen kann.
Den Typus des objektiven Erziehers verkörpert Goethe. In einem höheren
Sinne noch als Rousseau sieht er in dem Erzieher den Vollstrecker der Natur:
aus seiner Eigenart heraus soll jeder Zögling gebildet werden zu dem, was
die Natur mit ihm gewollt. In jedem sind persönliche Werte im Keim an¬
gelegt: sie zur Entfaltung zu bringen ist Aufgabe und Ziel der Erziehung.
Diese Überzeugung, die Goethe als praktischer Erzieher wie als Dichter ver¬
trat, bildet Fröbel in seiner „Menschenerziehung“ zur systematischen Theorie
weiter, er begründet auf sie das System des Kindergartens.
Der Unterschied dieser Typen ist, wie die Beispiele zeigen, auch für die
geschichtliche Entwicklung der Pädagogik von Bedeutung. Ohne ihn zu be¬
rücksichtigen, wird es niemals gelingen, das Wesen eines der originalen er¬
zieherischen Denker restlos zu erfassen. Gleichwohl sind diese Typen selber
nicht geschichtlich bedingt, vielmehr führen sie auf eine Verschiedenheit der
persönlichen Willensrichtung zurück, die nur psychologisch erfaßbar ist und
sich zu allen Zeiten in jeder erziehenden Generation wiederholt Dem der
offne Augen hat, tritt sie im Leben oft genug entgegen: wir alle kennen den
Typus des mit sich und seiner Lebensgestaltung zufriedenen Vaters, der die
Entwicklung seines Sohnes der seinen möglichst gleich zu gestalten suchte,
wie den des Unzufriedenen, der durch die Erziehung das Gegenteil von dem
erreichen will, was er selbst ist. Und wir finden, freilich seltener, auch jenen
höchsten Typus, den objektiven Erzieher, der nichts will, als die Natur seiner
Kinder ihren eigenen Gesetzen gemäß, sich entfalten lassen 1 )«
Ist somit die typisierende Befrachtung der Erzieherpersönlichkeit nur teil¬
weise durch historische Gesichtspunkte beherrscht, so verlieren diese ganz
ihre Bedeutung, wenn es sich um die Betrachtung des Zöglings handelt
Die Jugend, die erzogen werden soll, trägt zu allen Zeiten und überall im
wesentlichen die gleichen Züge. Die besondern Eigenschaften der Rassen und
Nationen treten in den Jahren vor der Pubertät und während derselben noch
*) Der verbreitetste unter diesen Typen ist wahrscheinlich der zweite. Jedenfalls ist er derjenige,
der für das Verständnis geschichtlicher wie praktischer Erscheinungen den tiefsten Aufschluß
gibt. Alfr. Adlers Lehre von der Minderwertigkeit und die daran geknüpften Ansätze zu einer
psychologischen Begründung der Pädagogik, über die C. Russo im 22. Jahrgang dieser Zeitschrift
S. 355 ff. eingehender berichtet, gehören ganz und gar hierher.
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Pädagogische Typenlehre
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zurück, typisch erscheinen überall (be gleichen Entwicklungsstufen, grundlegend
sind die Eigenschaften,' die diese voneinander, wie von der Verfassung der
Erwachsenen trennen. Noch entschiedener sind wir für das Verständnis des
einzelnen jugendlichen Wesens in seiner Besonderheit auf psychologische
Gegebenheiten und Zusammenhänge angewiesen. Kurz, eine Aufreihung von
Zöglingstypen, möge sie nun mehr oder weniger systematisch angelegt sein,
kann nur auf rein psychologischem Boden erwachsen. Die Jugendkunde der
Gegenwart ist denn auch bestrebt, ein typisierendes Verfahren auszubilden,
das dem der beschreibenden Naturwissenschaft nahe verwandt ist. Besonders
der Begriff des Begabungstypus tritt als zentral und richtunggebend hervor.
Allein man wird nicht verkennen, daß dieser Begriff sich von den oben be¬
handelten Typen der Erziehungssysteme und selbst der Erzieher seinem Wesen
wie seiner methodischen Bedeutung nach unterscheidet Ersetzt ein analytisches
Verfahren voraus, durch welches aus dem gegebenen Komplexe von Anlagen
eine oder einige einzelne als die hervorstechenden und maßgebenden heraus¬
gehoben werden. Jene dagegen erfassen die Gesamterscheinung unter einem
harschenden Gesichtspunkt, der intuitiv und unmittelbar aus der Betrachtung
geschichtlicher oder praktischer Zusammenhänge gewonnen wird. Die typisierende
Betrachtung der letzteren Art will Gesamtbilder entwerfen, die psychologische
Begabungslehre hält sich mit bewußter Absicht ans Einzelne. Diese Notwendig¬
keit ist ihr durch den naturwissenschaftlichen Charakter der neueren Psychologie
überhaupt auferlegt, und es ist daher nicht wahrscheinlich, daß sie jemals
darüber hinaus zu einer konstruktiven Darstellung jugendlicher Persönlich¬
keiten in ihrer Gesamterscheinung gelangen wird.
Vor kurzem hat Vowinckel seine älteren Bemühungen um die pädagogische
Typologie wieder aufgenommen und in einer besonderen Richtung weiter¬
geführt. Das Buch, in dem dies geschieht, soll das »gesamte pädagogische
Bewußtsein“ untersuchen. ‘) Der Titel ist analog etwa einer Psychologie der
Religion oder auch »der Mode“ gemeint. Es handelt sich also nicht etwa bloß
um eine Unterrichtslehre auf psychologischer Grundlage. Eine solche bildet
vielmehr nur den zweiten Abschnitt der Schrift. Der dritte aber ist es, der
unter dem Titel »Psychologie der Schulgemeinschaft“ die Untersuchungen
zusammenfaßt, die uns hier besonders angehen: eine Typologie der Schüler,
der Klassengemeinschaften und endlich der Lehrer.
Vorangeschickt ist ein grundlegendes Kapitel, das die Probleme der Charak¬
terologie im allgemeinen behandelt. Von der Einheit des Ichs im Bewußtsein
geht die Betrachtung hier, wie in dem ganzen Werke aus: in diesem Sinne
knüpft V. an die Einstellung der Denkpsychologie an und lehnt für die
typisierende Betrachtung die Leistung der erklärenden, das heißt der natur¬
wissenschaftlich eingestellten Psychologie ab (S. 94). Er stellt eine Reihe von
herrschenden oder, wie er es ausdrückt, zentrierenden Funktionen auf, in denen
die Einheit des Ich sich als individuelle Besonderheit der Anlage ausspricht
und damit zugleich der Erziehung ihre besondere Aufgabe stellt. Die Persönlich¬
keit, darin stimmt V. mit dem Verfasser der Sozialpädagogik überein, gestaltet
sich nur in der Gemeinschaft und zu Zwecken, die aus der Idee des Gemein-
') E. Vowinckel, Psychologie der Pädagogik. Berlin, F. A. Herbig, 1921.
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schaftslebens hervorgehen. Daher hat eine Psychologie der Schulgemeinachaft
biologische und teleologische Gesichtspunkte, individuelle Grundlagen und
allgemeine Ziele der Persönlichkeitsbildung miteinander zu verknüpfen. Die
biologisch gegebenen zentrierenden Funktionen treten nach V. hervor im
Temperament, im „Rhythmus“ der Individualität, in den Besonderungen der
intellektuellen Richtung, endlich in der Stärke und Richtung des Willenslebens.
Wie weit diese Aufreihung logisch und psychologisch haltbar ist, braucht hier
nicht nachgeprüft zu werden, umso weniger als die nunmehr folgenden typischen
Gruppierungen sich nicht auf den hiermit gegebenen Gesichtspunkten aufbauen,
sondern sie nur nebenbei zu gewissen Unterteilungen benutzen. Vs. Typen¬
bildung selber vollzieht sich vielmehr auf einem anderen m. E. klareren, und
selbstständigeren Grundriß, als er von Begriffen wie Rhythmus und Temperament
abgeleitet werden kann.
V. geht, wie bei der Betrachtung des Schullebens natürlich, von der intellek¬
tuellen Einstellung der Schüler aus und findet bereits im Kindesalter zwei
in dieser Hinsicht deutlich geschiedene Typen, die Tatsachen- und die Phantasie-
Intellekte. Diese letzteren erscheinen wieder in zwei Unterarten: als lebhaft
bewegliche oder als stille „verträumte“ Phantasiekinder. In lebendigen, von
Anschauung gesättigten Farben treten diese kindlichen Typen bei V. hervor;
ihre Werte, ihre Aussichten für die spätere Entwicklung werden mit erzieherischem
Feingefühl abgewogen. Eingehendere Unterscheidungen der intellektuellen
Typen aber macht erst die Zeit der beginnenden Reife möglich. Nun treten
deutlich sichtbar drei Arten von jugendlichen Geistern auseinander :Gedächtnis-
menschön, logische Intellekte, künstlerische Naturen. Dieersteren
sind die bloß rezeptiven Geister, welche die große Masse der Durchschnitts¬
schüler bilden. Sie sind wesentlich zur Aufnahme fertig überlieferter Begriffe
und Anschauungen veranlagt, und ihre Leistung besteht darin, das willig Auf¬
genommene mit Hilfe des Gedächtnisses sich einzuprägen. Die geistige
Aktivität fehlt ihnen; die Kraft, neue Eindrücke denkend zu durchdringen,
eine eigene Welt in sich aufzubauen, ist verkümmert „Jeder Lehrer kennt
die gedächtnistreuen Schüler, denen nie etwas zum Erlebnis wird.“ Das
bestimmende Merkmal des zweiten Typus ist die Unterscheidungskraft, das
kritische Vermögen; es zeigt sich in der Art der theoretischen Aufnahme ebenso
wohl, wie gegenüber den Eindrücken des praktischen Lebens: „die Materie
ist ziemlich gleichgültig. Die Fähigkeit kann sich überall entfalten.“ Der Typus
der Phantasiebegabten endlich wird nicht näher veranschaulicht. V. begnügt
sich mit dem Hinweis, daß die künstlerische Anlage ein Danaergeschenk für
das Leben wie für die Schule sei. Diese letztere habe sich immer feindlich
zu ihr verhalten und zwar aus einer Notwendigkeit heraus. Die höheren
Lehranstalten wenigstens könnten ihrer Eigenart nach nur die Gedächtnis¬
naturen und die logischen Intellekte wirklich brauchen. Hiermit ist nun frei¬
lich ein Problem nur eben berührt, das nach seiner praktischen wie theoretischen
Bedeutsamkeit einer eingehenden Behandlung und befriedigenden Lösung
dringend bedarf.
Diese Einteilung nach 1 der Art der intellektuellen Anlage wird nun gekreuzt
durch die Besonderungen des Gefühls- und Willenslebens. V. unterscheidet
hier zwei große Gruppen, die er „die Empfänglichen und die Eigenkräftigen“
nennt. Die Empfänglichen geben sich innerhalb der Schulgemeinschaft ent¬
weder „durch frohe und naive Einschmiegung“ oder durch innerliche Ver-
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Pädagogische Typenlehre
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arbeitung des Aufgenommenen zu erkennen, diese letzteren zeigen eine stille
Tiefe, die bis zur Melancholie gehen kann. Die Eigenkräftigen, das heifit
die aktiven und zugleich selbstvertrauenden Naturen, teilt V. in die lauten und
herrschsüchtigen und die „bescheidenen“, das heißt die zugleich ihrer Fähig¬
keiten und ihrer Orenzen bewußten, ruhig tüchtigen Charaktere. Diese letzteren
sind die Führernaturen, „das Salz der Schulgemeinschaft“.
Diese Typen hat V. nur in kurzer Formulierung gekennzeichnet, nicht mit
ihren Einzelzügen zu plastischer Darstellung gebracht. Er legt, seinem be¬
sonderen Thema entsprechend, den Hauptton auf ihre Bedeutung für die
psychologische Struktur der Schülergemeinschaft und nicht eigentlich auf die
Erkenntnis der Zusammenhänge in der Einzelseele. Ja, was er in der letzteren
Hinsicht beibringt, ist nicht durchweg einwandfrei, besonders die Art, wie er
seine Schülertypen an dichterischen Schöpfungen zu veranschaulichen sucht,
wirkt zuweilen geradezu absurd. Aber es wäre durchaus der Mühe wert,
und V. wäre wohl der Mann dazu, die entworfene Typologie nach der
individualpsychologischen Seite zu vertiefen und in klaren und festen Um¬
rissen hinzustellen. Den Reichtum an Gesichtspunkten wie an praktischen
Anschauungen, die die Aufgabe verlangt, besitzt er. Das literarische Material
freilich müßte nicht in Kleists und Hebbels Tragödien, sondern etwa bei
Gottfried Keller, Hermann Hesse, H. Federer gesucht werden. Den letzten
Band der Buddenbrooks zieht V. mit Recht heran.
An die Typologie der Schülerindividualitäten schließt V. eine typisierende
Beschreibung der Klassengemeinschaften: er unterscheidet drei Formen der¬
selben, die er als demokratische, als.Führer- und als Freundschafts¬
klasse bezeichnet. Die Idee ist sehr interessant, der Ausblick auf eine
Soziologie des Schullebens eröffnet sich, die zu tiefen Einsichten in das Wesen
der Jugendgemeinschaften wie des Gemeinschaftslebens überhaupt führen
kann. Gelungen ist der Versuch m. E. noch nicht. Daß die typischen Ver¬
hältnisse, die dem Verf. vorschweben, Bedeutung für das Schulleben haben,
ist gewiß; daß aber in der Wirklichkeit gegebene Schulklassen in ihrer Ge¬
samtgestaltung den einzelnen dieser Typen entsprechen, dürfte doch wohl
der Ausnahmefall sein. Inhaltlich ist zwar der Gegensatz von demokratischer
und Führerklasse verständlich und verwendbar, dagegen erscheint mir die
Auffassung V.s von Schülerfreundschaften und ihrer Bedeutung für die Ge¬
meinschaft unzulänglich und verfehlt.
Sehr bedeutsam dagegen, vielleicht das wertvollste in dieser gesamten
Typologie ist die psychologische Betrachtung der Lehrerpersönlichkeit, wie
sie denn auch am eingehendsten ausgeführt ist. Man muß dabei freilich im
Auge halten, daß, was hier gegeben wird, nicht in einer Reihe mit der Auf¬
stellung der Erziehertypen steht, wie ich sie oben entwickelt habe. Der
Verf. bleibt auch hier im engeren Rahmen des Schullebens; es handelt sich
für ihn um den Klassenlehrer und die typisch verschiedene Art, wie dieser
seine Aufgabe anfaßt, nicht um den pädagogischen Denker, noch um den
in rein persönlichem Verhältnis sich betätigenden Erzieher. (Freilich könnte
der Zusammenhang zwischen beiden Typenreihen leicht deutlich gemacht
werden.) V. scheidet zwischen dem sachlich und dem persönlich ein¬
gestellten Lehrer. In der ersten Gruppe tritt zunächst der „nur sachliche“,
d. h. der am Stoff klebende Schulmeister hervor, den der überlieferte Sprach¬
gebrauch als „Pauker“ bezeichnet. Er entspricht dem Typus des rein auf
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Rudolf Lehmann, Pädagogische Typenlehre
das Gedächtnis gestellten Schülers: wie diesem die Aufnahme, so bedeutet
ihm die Überlieferung fertig geformten Materials alles, sie deckt sich nach
seiner sehr unzulänglichen Auffassung mit dem Gesamtkreis seiner Aufgabe.
In beträchtlichem Abstand erhebt sich über ihn der „vergeistigt sachliche“
d. h. der im rechten Sinn wissenschaftliche Lehrer. Ihm steht die er¬
kenntnismäßige Formung des Lehrstoffs, die intellektuelle Leistung, nicht die
bloße Überlieferung im Vordergründe und damit doch schon ein wirkliches
Ideal geistiger Tätigkeit. Allerdings läuft auch er Gefahr, sich auf Abwege
zu verirren: die beiden Sondertypen des einseitigen Fachmenschen und des
„Methodenreiters“ zeigen das. Die zweite Hauptgruppe nun unterscheidet
sich von der ersten dadurch, daß für sie vpn vorbeherein die Persönlichkeit des
Schülers, nicht der Lehrgegenstand im Mittelpunkte steht und mithin weder
gedächtnismäßige Einprägung noch wissenschaftliche Methode, sondern die un¬
mittelbare Einwirkung des reifen auf den werdenden Menschen als der Kern
der bildenden Tätigkeit aufgefaßt wird. Hierbei scheiden sich als Unteriypen
der „naiv persönliche“ und der „bewußt persönliche“ Lehrer. Dererstere
gibt sich ganz subjektiv aus unmittelbarem Gefühl und Antrieb heraus; er
kann damit Wirkungen erzielen, die dem bloß sachlich eingestellten versagt
bleiben, aber freilich, diese Subjektivität schützt nicht vor schiefen Ziel¬
stellungen, und die menschliche Liebenswürdigkeit, die unmittelbare Zu¬
neigung zur Jugend nicht vor Geistesarmut und Leere. Daher ist der höchste
Typus derjenige, der die Gleichgewichtslage zwischen subjektiver uüd objek¬
tiver Einstellung wahrt, der das persönliche Lebendige ebenso wohl wie das
sachlich Wertvolle im Auge hat und in der Vereinigung beider Ziel und Rich¬
tung seiner Tätigkeit sieht. Er allein vermag seinen Schülern Ideale aufzu¬
richten, die ihrer Individualität entsprechen und doch über diese hinaus all¬
gemeine Geltung haben. Er allein ist im letzten und höchsten Sinne des
Wortes nicht nur Lehrer, sondern auch Erzieher.
Von besonderem Interesse ist es, wie hier aus der typologischen Betrach¬
tung ungesucht und schier ungewollt Werturteile hervorwachsen, denen man
den objektiven Charakter nicht absprechen kann; ein Beitrag zur Lösung
der methodischen Schwierigkeit, die aus der Doppelseitigkeit der Pädagogik
als Tatsachen- und als Wertwissenschaft hervorgeht. Überhaupt wird man
sich am Abschluß unserer Betrachtung ein Bild von der Bedeutung machen
können, die einer umfassenden pädagogischen Typologie, einer Erziehungs¬
wissenschaft, die ganz als Typenlehre gestaltet wäre, innewohnen muß. Sie
ist gewiß nicht die einzig mögliche und erschöpfende Form, in der eine
wissenschaftliche Pädagogik wird auftreten können. Aber dennoch k ann
sie ein methodisches Verfahren und zugleich einen systematischen Zusammen¬
hang entwickeln, die nicht nur zu tiefen Einsichten auf dem Gebiete der
Erziehungswissenschaft selbst führen, sondern darüber hinaus auch für andere
Geisteswissenschaften vorbildlich zu werden vermögen.
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iber, Die Bedeut, des Ach’schen Begriffes der Determination für die Erziehungslehre 255
Die Bedeutung des Ach’schen Begriffes der Determination
für die Erziehungslehre. '
Von Andreas Hillgruber.
Für die Beurteilung des Seelenlebens, das sich an den Willensakt an¬
schließt, ist der von N. Ach 1 ) eingeführte Begriff der Determination von ent¬
scheidender Bedeutung. Er besagt folgendes: durch den Willensakt wird der
Ablauf des Seelenlebens in der durch die Zielvorstellung charakterisierten
Weise festgelegt, und die Realisierung der Zielvorstellung erfolgt im gegebepen
Augenblick automatisch. Die Nachwirkung des Willensaktes, die Deter¬
mination, ist im allgemeinen unmittelbar nach dem Akt am stärksten und
verblaßt mit zunehmender Zeit, kann aber unter Umständen lange Zeiträume,
ja die ganze Lebenszeit zu spüren sein. 2 ) Die determinierende Wirkung
des Willensaktes und der Abfall der Stärke der Determination sind abhängig
von der Eigenart des Menschen, seinem Temperament. Sind die Wider¬
stände, die sich der Verwirklichung der Zielvorstellung entgegenstellen, so
groß, daß anders gehandelt wird, als man gewollt hat, so entsteht ein Ge¬
fühl der Unlust, das einen verstärkenden Willensakt hervorruft. Dies gilt
jedoch nur im allgemeinen und ist von der Eigenart des Temperaments ab¬
hängig. Bei manchen Menschen ist die Gefühlsreaktion sbhr lebhaft, bei
anderen stumpf, so daß die objektiv gleiche Handlung eine ganz verschiedene
Rückwirkung auf den Willen nach sich ziehen kann.
Diese Ergebnisse sind unter Zugrundelegung intellektueller Prozesse erzielt
worden; man kann ihre Wirksamkeit aber auch auf dem Gebiet des Sitt¬
lichen verfolgen. Die Forderung, die Wahrheit zu reden, ist für den sitt¬
lichen Menschen so in sein ganzes Wesen eingedrungen, daß er es für
selbstverständlich ansieht, die Wahrheit zu reden; er kann gar nicht anders;
sein Seelenleben ist in dieser Richtung festgelegt oder, um den Ausdruck zu
gebrauchen, determiniert. Im einzelnen Falle ist gar kein besonderer
Willensakt notig. Es kommt dem Menschen gar nicht zum Bewußtsein, daß
er etwas Besonderes leistet. Man nehme folgendes an: Solch ein Mensch
habe das Unglück, im Kriege in Gefangenschaft zu fallen. Ihm ist ein¬
geschärft, nichts auszusagen, und er verweigert tatsächlich jede Aussage;
aber Hunger und Gefängnis lassen ihn den Ausweg finden, daß er sich ent¬
schließt, eine Aussage zu machen, aber dem Ausfragenden etwas vorzulügen.
Bald zeigt es sich, daß er sich mehr vorgenommen hat, als er ausführen
kann. Jedes wahre und jedes gelogene Wort kann ihm vom Gesicht ab¬
gelesen werden. 3 ) Er bestätigt durch sein Verhalten, daß der Begriff der
Determination auch auf sittlichem Gebiet begründet ist. Wer kennt nicht
das unbehagliche Gefühl, das den Wahrheitsliebenden beim Aussprechen
einer Lüge überkommt? Wir nennen es „Gewissen“; es ist aber nichts
anderes als die auf dem Gebiete der intellektuellen Prozesse beobachtete
*) Vgl. N. Acta, .Über die Willenstätigkeit und das Denken*. .Über den Willensakt and das
Temperament*.
*) Man betrachte unter diesem Gesichtspunkte die Bekehrung des Apostels Paulus.
*) So erküre ich mir in vielen Pillen den Verrat militärischer Geheimnisse durch Kriegs¬
gefangene.
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256
Andreas Hillgruber
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gefühlsmäßige Reaktion, wenn die Determination nicht stark genug war, um
die entgegenstehenden Hindernisse überwinden zu können.
Wir wenden uns nunmehr den Aufgaben der Erziehung zu. Bei seiner
Arbeit wird der Erzieher bald merken, daß er der Eigenart des Temperaments
der Zöglinge Rechnung tragen muß. Bei manchen ist die gefühlsmäßige i
Motivation so lebhaft, daß die Ehrfurcht vor dem Sittengesetz einen WillenBakt
auslöst, der dauernd die Lebensführung beeinflußt. Bei anderen wird wohl
noch ein starker Willensakt ohne besondere Einwirkung des Erziehers ein-
setzen, aber die resultierende Determination fällt in ihrer Stärke rasch ab,
und der Erzieher wird zu seinem Bedauern Verfehlungen feststellen, die er
nach der beobachteten begeisterten Aufnahme der sittlichen Forderung nicht
erwartet hätte. Der ungeschulte Erzieher sieht bösen Willen und richtet
seine Maßnahmen dementsprechend ein, und doch liegt nur Schwäche der
determinierenden Veranlagung vor. Bei einer solchen Willensveranlagung
genügt eine milde Erinnerung, um wieder sittliche Bereitschaft zu erreichen.
Andere haben eine stumpfe Motivation; sie sind gefühlsmäßig schwach
veranlagt. Es bedarf entschiedener Einwirkung des Erziehers, um überhaupt
den erwünschten Willensakt zu erzielen.
Bei diesen notwendigen Eingriffen in das Willensleben des ZöglingB ist
es sehr wichtig, daß der Erzieher sich vor Augen hält, worin seine Aufgabe
besteht. Er soll nicht Vergehen aburteilen oder strafen, sondern dem Zögling
helfen, einen Willensentschluß zu fassen; dann wird es ihm leicht sein, seine
Menschenwürde zu achten. Er muß sich des Beispiels des Reiters erinnern,
der ein Hindernis nehmen will; wenn er seinem Pferde dabei Peitsche oder
Sporen gibt, so spricht er nur von „Hilfen“, aber niemals von Strafen. 1 )
Das Ziel der Erziehung ist die sittliche Reife des Zöglings, womit die
Fähigkeit zu selbständiger Entschließung in sittlicher Hinsicht und eine an¬
gemessene Kräftigung der sittlichen Determination gemeint ist. Die eben
erwähnten Maßnahmen, die Eingriffe ins Willensleben, wird der Erzieher
nur ausnahmsweise anwenden, sie bewirken wohl Willensakte, aber es fehlt
das Moment der Selbständigkeit des Zöglings.
Es muß darauf hingewiesen werden, daß die sittlichen Willenshandlungen
nur eine besondere Art der Willenshandlungen überhaupt sind, und daß
man eine formale Schulung der Sittlichkeit erreicht, wenn man das Willens¬
leben im allgemeinen kräftigt. Spiel und Sport bieten sich dem Erzieher
in dieser Hinsicht zunächst als hochwertige Erziehungsmittel dar. Man ist
sich noch nicht überall bewußt, wie gerade die Entschlußfähigkeit durch
diese beiden Formen der Betätigung der Kinder- und Jugendjahre geübt
wird. Ich denke an das einfache Greifchenspiel. Interessant ist es, dabei
die einzelnen Phasen des Willenslebens zu verfolgen. Der Entschluß zum
Angriff auf der einen, der Entschluß zur Rettung auf der anderen Seite,
dann nach dem Schlag vollständige Umkehrung der Einstellung. Der Flüchtling
wird zum Angreifer und dieser zum Flüchtling; so reiht sich in rascher
Folge Willensakt an Willensakt. Beim Schlagballspiel, das auf der Grenze
zwischen Spiel und Sport steht, sind die Verhältnisse schon komplizierter:
Hier gilt es, die ganze Situation zu überblicken und im günstigsten Augen-
l ) Objektiv kommt es ja au! dasselbe hinaus. In der Erziehung spielen jedoch die subjek¬
tiven Momente eine wichtige Rolle.
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Die Bedeutung des Ach’schen Begriffes der Determination für die Erziehungslehre 257
blick den Entschluß zum Mallauf zu fassen. Der Augenblick des Abwerfens
einer Partei ist psychologisch noch höher zu bewerten, weil eine vollständige
Umstellung des Willens von der Verteidigung zum Angriff erfolgt.
Wir wenden uns nunmehr zur erzieherischen Pflege der vom Willensakt
ausgehenden Determination. Sie soll im gegebenen Augenblick zur Ver¬
wirklichung der Zielvorstellung führen. Wenn wir vom Sittlichen im engeren
Sinne absehen, so finden wir den Fortschritt von der Absicht zur Verwirk¬
lichung der Absicht am ausgeprägtesten in der Beschäftigung, die man Arbeit
nennt. Das ist der Unterschied zwischen Spiel und Arbeit, daß diese sich
von einer bestimmten Absicht leiten läßt und ein Ergebnis erzielen will,
während bei jenem davon keine Rede ist. Pflege der Arbeit bedeutet Pflege
des Willenslebens, im besonderen Pflege der ihrer Aufgabe gewachsenen
Determination. Wir müssen scheiden zwischen der-Arbeit als einfacher Be¬
schäftigung und Arbeit als einer zielstrebigen Beschäftigung, die ein be¬
absichtigtes Ergebnis zeitigen will. Nur dieser wohnt der große erziehliche
Wert inne, weil nur der in diesem Sinne arbeitende Mensch sein Willens¬
leben in derselben Weise ablaufen läßt, wie es bei einer sittlichen Handlung
geschieht. Nur der Schulmann, der sich dieser fundamentalen Einsicht er¬
schlossen hat, wird die Schularbeit bewußt erziehlich gestalten. Als Ziel
wird ihm vorschweben: Die Arbeit muß ein Ergebnis zeitigen. Er wird die
Arbeit angemessen der Kraft des Zöglings auswählen, nicht zu leicht, sonst
würde das fördernde Moment 1 ) der Schwierigkeit der Aufgabe fehlen, nicht
zu schwer, sonst würde sie ergebnislos sein.
Die Form der Schule, die man Arbeitsschule nennt, hat als wertvollen
erzieherischen Faktor aufzuweisen, daß sie von Anfang an den Schüler vor
Aufgaben stellen will, die er selbsttätig lösen soll. Im ersten Schuljahr z. B.
ist das Märchen vom Rotkäppchen erzählt worden. Der Lehrer wirft den
Gedanken auf: Könnten wir nicht einmal das Haus der Großmutter malen
oder Rotkäppchen in Ton kneten? Der Anregung folgt der Entschluß und
die Ausführung. Mit der Vollendung einer jeden dieser Aufgaben vollzieht
sich der Ablauf einer Willenshandlung, und darin liegt ihr erziehlicher Wert
Besondere Erwähnung in erziehlicher Hinsicht verdienen die Aufsätze.
Um den entschließenden Akt nach Möglichkeit in die Seele des Schülers
zu verlegen, empfiehlt es sich, mehrere Aufgaben zur Auswahl zu geben.
Die an die Wahl des Schülers sich anschließende Willenshandlung findet in
der Abgabe der fertig eingeschriebenen Arbeit ihren Abschluß.
Zum Schluß soll noch auf die erzieherische Bedeutung der Prüfungen
eingegangen werden. Es sind Stimmen laut geworden, die die Berechtigung
der Prüfungen bestreiten. Die Überlastung der Schüler wird auf die Prüfung
geschoben. In der Tat kann nicht geleugnet werden, daß eine Prüfung, die
die Präsenz des im Unterricht vermittelten Wissens voraussetzt, verhängnisvoll
für die geistige Entwicklung der Schüler werden kann. Wenn aber die
Prüfung in dem Sinne aufgefaßt wird, daß sich in ihr die Persönlichkeit
des Schülers in jeder Hinsicht zugleich mit dem Maß seiner formalen
Schulung zeigen soll, so ist jede Gefährdung ausgeschlossen, und nur die
durch kein anderes schulmäßiges Mittel in dem Maße zu erreichende Willens-
! ) Vgl. die Ergebnisse meiner Arbeit: „Fortlaufende Arbeit und Willensbetätigung“ in N. Achs
Psychologischen Arbeiten (Quelle & Meyer).
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 17
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
258 A. Hillgruber, Die Bedeutg. des Ach’sehen Begriffes der Determination für die Erzieht
bildung bleibt übrig. Man vergegenwärtige sich die Größe der Willens-
handlung, die in der Prüfung ihren Abschluß findet: Der sie einleitende
Willensakt liegt oft Jahre zurück und hat eine zum Schluß immer stärker
werdende Determination zur Folge. Die Vorbereitung auf eine Prüfung ist
das Höchste, was die Schule hinsichtlich der Willenserziehung leisten kann.
Wir haben bei den letzten Erörterungen die Sittlichkeit ganz aus dem
Auge verloren, und es scheint so, als ob sich Willensbildung und Erziehung
zur Sittlichkeit decken. Das hat in gewissem Sinne seine Berechtigung.
Die Willensbildung ist die Voraussetzung der Sittlichkeit; der „starke“ Wille,
der das Ergebnis der Willenserziehung ist, verschafft erst dem „guten“ Willen
die Herrschaft über die widerstrebenden Triebe. Dieses Stadium der seelischen
Entwickelung ist die sittliche Reife; sie ist das Ziel der Erziehung.
Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schülern.
(Aus dem Göttinger lAstitut für angewandte Psychologie.)
Von Adolf Michaelis.
Die im folgenden mitgeteilten Untersuchungen behandeln zwei im Göttinger
Institut für angewandte Psychologie im Juli 1920 und Januar 1921 angestellte
Versuche, deren Material mir von dem Institutsleiter Herrn Professor
Dr. W. Baade zur Bearbeitung überlassen wurde. Zur Verwendung
gelangte der bekannte Bourdon-Test in der Form, daß die Vpn. instruiert
wurden, in einem sinnvollen Text eine möglichst große Anzahl gewisser
vorher angegebener Buchstaben zu durchstreichen. Die textliche Unterlage
war in beiden Versuchen dieselbe, ein durch Fortlassen aller Absätze, Sperr¬
drücke, Anführungsstriche usw. vorbereiteter Zeitungsartikel, der dem Ver¬
ständnis der Vpn. nicht expreß angepaßt war, ihnen aber auch keinerlei
besondere Schwierigkeiten bereitete; er war im gebräuchlichen Zeitungssatz
und deutschen Lettern in zwei getrennten Abschnitten von nahezu gleicher
Länge gedruckt, weitere drei Zeilen am Kopf des Bogens dienten zur In¬
struktion und ersten Einübung.
Vpn. waren in beiden Versuchen die Schüler der 2a-Knabenklasse der
Westlichen Volksschule in Göttingen im Alter von 10,8 bis 14,8 Jahren; das
Altersmittel war beim ersten Versuch 12,5, beim zweiten 12,7 Jahre 1 ); zur
Auswertung gelangten beim ersten Versuch die Ergebnisse von 36 Vpn., beim
zweiten die von 30 Vpn.; 25 Vpn. nahmen an beiden Prüfungen teil, so daß
für sie ein Vergleich ihrer Leistungen im ersten Versuch mit denen des
zweiten möglich war. —
Zur Technik des Experiments sei bemerkt, daß die Durchstreichung der
Buchstaben mit Bleistift ausgeführt wurde; einige Studierende waren in der
Klasse verteilt, um bei der ersten Anleitung der Vpn. durch gelegentliche
Hinweise behilflich zu sein und während des Versuchs durch Ersetzen der
abgenutzten und abgebrochenen Bleistifte und andere kleine Hilfen den un¬
gestörten Fortgang des Versuchs zu gewährleisten.
') Die Verschiebung des Mittelwertes um einen geringeren Betrag als den Zeitunterschied
zwischen den beiden Versuchen erklärt sich dadurch, daB einige Vpn. wegen Krankheit an
dem ersten bezw. zweiten Versuch nicht teilnehmen konnten.
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Adolf Michaelis, Der Boordon-Test bei 12 jährigen Schülern
259
Die beiden Versuche wurden in genau derselben Weise angestellt, nur
wurde der Januarversuch dahin vervollständigt, daß die Vpn. instruiert wurden,
bei dem nach Ablauf jeder Minute erfolgenden Befehl „Strich!“ die Textstelle,
an der sie sich gerade befanden, durch einen senkrechten Strich zu bezeichnen,
der dann bei der Auswertung als Zeitmarke dienen konnte.
Die unten angeführten Korrelationen sind sämtlich Rangkorrelationen, die
62? d* 1_ o 1
nach der Spearmanschen Formel q = 1 — n ^ n i _ jy + 0,706 - -- berechnet
wurden. Trotz der von Deuchler 1 ) hervorgehobenen durchaus berechtigten
schweren Bedenken, die in vielen Fällen gegen die Anwendung dieser
Methode sprechen, erschien ihre Verwendung hier, wo nur in wenigen Aus¬
nahmefällen unbeträchtliche Häufungen auf derselben Rangstufe auftraten,
doch am Platze, zumal sie noch immer die einfachste aller derartigen Be¬
rechnungsarten ist. — Auf den bekannten Streit über den prinzipiellen Wert
der Korrelationsrechnung für die Probleme der angewandten Psychologie
will ich an dieser Stelle nicht eingehen; trotz aller gegen den Korrelations¬
koeffizienten erhobenen Angriffe erschien es mir doch von Wichtigkeit, diese
Berechnungen, zu denen das vorliegende Material geradezu herausfordert,
hier an einem konkreten Fall durchzuführen.
Jeder Versuch umfaßte zwei durch eine Pause von 5 Minuten getrennte
Prüfungen — im folgenden unter I und II (Juli 1920), III und IV (Januar 1921)
aufgeführt —, die sich durch Art und Zahl der anzustreichenden Buchstaben
unterschieden. Es waren zu unterstreichen bei I alle e und i (zwei Vokale),
wofür 15,3 Min. gewährt wurden, bei II r, s, t (3 Konsonanten), Versuchs¬
dauer 16,0 Min., bei HI n, s (2 Konsonanten), Versuchsdauer 12,0 Min., bei IV
a, i, o (3 Vokale), Versuchsdauer 11 Min. Die Buchstaben waren so gewählt,
daß die durchschnittliche Anzahl der anzustreichenden Buchstaben jeder Zeile
bei den beiden unmittelbar aufeinanderfolgenden Versuchen möglichst gleich
war; sie betrug für den Juliversuch bei I 11,9, bei II 10,8, für den Januar¬
versuch bei III 7,9, bei IV 7,8 Buchstaben in jeder Zeile.
Für die Verrechnung wurden berücksichtigt die Anzahl der richtig an¬
gestrichenen (r) und die der übersehenen (o) Buchstaben; Durchstreichungen
falscher Buchstaben traten in so geringer Zahl auf, • daß ihre Verwertung
nicht in Frage kommen konnte; sie scheinen nur bei niederen als den unter¬
suchten Altersstufen eine größere Rolle zu spielen 2 ).
Die Versuche ergaben zunächst die folgenden charakteristischen Werte:
In den angegebenen Zeiten betrug die Anzahl der richtig angestrichenen
plus der übersehenen Buchstaben S = r + o
Tabelle 1.
Maximum
Minimum
Mittel
I
730
202
460
II
672
219
359
III
443
176
313
IV
550
188
316
’) Deuchler, Ober die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik und Psycho¬
logie. Zeitscbr. f. päd. Psych. 15, 1914.
*) In diese Richtung deutet vielleicht der Befund eines mit Test I an einer beträchtlich
jüngeren Vp. (Eva C„ 8,4 Jahre) angesteUten Einzelversuchs mit dem Ergebnis: 314 r, 59 o,
dazu falsch angestrichen 4 Buchstaben (2 r, 1 n, 1 d), wobei hervorgehoben werden muß, daß
im Hauptversuch bei I keine Vp. fatsche Durchstreichungen machte.
11 *
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
260
Adolf Michaelis
Die Tabelle gibt an, dafi beispielsweise bei I die am schnellsten arbeitende
Vp. in der gewährten Zeit bis zum 730ten der anzustreichenden Buchstaben
gekommen war, wobei sowohl die durchstrichenen als die übersehenen Buch*
staben gezählt sind.
Die bezüglichen S-Werte je Minute berechnen sich daraus so:
Maximum
Minimum
Mittel
I
41,2
13,6
30,1
II
42,0
13,6
22,4
in
36,9
14,7
26,1
IV
60,0
17,1
30,5
Die Prozente R der richtig durchstrichenen Buchstaben (R =■= 10 ^ r ) sind
Maximum
Minimum
Mittel
i
100
80,4
96,1
ii
99,9
81,3
92,2
in
93,6
63,6
83,1
IV
98,9
66,7
91,3
die Prozentwerte O der Auslassungen (0 =» —ergeben
Maximum
Minimum
Mittel
I
19,6
0
3,9
n
18,7
0,1
7,8
in
36,4
6,4
16,9
IV
33,3
1,1
8,7
die Anzahl der richtig durchstrichenen Buchstaben (r-Zahlen) je Minute ist
Maximum
Minimum
Mittel
I
46,0
13,1
28,9
II
41,9
13,3
21,7
m
32,4
13,8
21,3
IV
46,9
16,4
27,5
Die Mittelwerte dieser Tabellen zeigen übereinstimmend, daß die beiden
Vokaltests „leichter“ sind als die Konsonantenversuche. Die durch S ge¬
messene Arbeitsgeschwindigkeit ist bei I und IV größer als bei II und m,
und zwar ist sie bei I um 30 v. H. größer als bei II; bei IV, wo die anzu¬
streichenden Buchstaben (3 Vokale) eine größere Mannigfaltigkeit zeigen als
bei III (2 Konsonanten), ist dieser Unterschied geringer, doch übertrifft der
Mittelwert von SIV den von SIU immerhin noch um 15 v. H. Ursache hier¬
von kann nicht die Anzahl der zu durchstreichenden Buchstaben je Zeile
sein, da diese bei I und II einerseits, III und IV andererseits annähernd die¬
selbe ist, ebenso kann auch die Zeitlage der Versuche nicht dafür verant¬
wortlich gemacht werden, denn in der Sommerprüfung stand der Vokaltest I
an erster, in der Winterprüfung dagegen der Vokaltest IV an zweiter Stelle.
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UNIVERSfTY OFMICHiG,
Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schülern
261
Die Versuche zeigen also, daß die Arbeitsgeschwindigkeit weniger von der
Anzahl als von der Art der Buchstaben (Vokale oder Konsonanten) abhängt.
Dasselbe gilt auch ftir die Genauigkeit, wie das Verhalten der Mittelwerte
von O beweist, die für die Vokaltests I und IV nur halb so groß sind wie
fflr den gleichzeitigen Konsonantenversuch II bezw. III. Und desgleichen
ersieht man aus Tab. 5, daß auch die absoluten r-Werte je Minute bei den
Vokaltests stets größer sind als bei den andern, und zwar ebenfalls unab¬
hängig von der Zeitlage der Versuche.
Treffen diese Verhältnisse nun nur auf die Durchschnittswerte einer größeren
Anzahl von Vpn. zu oder gelten sie auch für das Individuum? Wenn letzteres
der Fall ist, so muß z. B..eine Vp., die in 1 bezüglich der S-Zahlen zu den
.besten“ gehörte, auch in II einen ähnlichen Platz einnehmen. Man muß
also die Rangordnungen der Vpn. hinsichtlich ihrer Leistungen in den ein¬
zelnen Prüfungen untersuchen; wenn das eben gegebene Beispiel-zutrifft, so
müssen die Rangordnungen eine nähere Verwandtschaft erkennen lassen,
andernfalls sind sie mehr oder weniger unabhängig. Das Maß für eine
solche Beziehung ist der Korrelationskoeffizient; will man also über die oben
gestellte Frage Aufschluß erhalten, so muß man die Korrelationen für die
betreffenden Werte berechnen. Man erhält dann folgende Zahlen:
g (SI: SU) = 0,81 ± 0,04; g (Ol: OII) — 0,29 + 0,11
g (SRI: SIV) = 0,51 ± 0,09; g (OUI: OIV) = 0,55 ± 0,09.
Hierbei bedeutet z. B. g (SI: SII) den Koeffizienten, der sich für die Korre-
lierung der Rangordnung nach den S-Werten bezüglich des Versuchs I mit
denen des Versuchs II ergibt.
In allen Fällen zeigt sich genügend deutlich positive Korrelation, was
dahin gedeutet werden darf, daß die in Frage kommenden Variationen der
Versuchsbedingungen bei den Vpn. eine Änderung der Leistung in gleichem
Sinne hervorrufen.
Die oben aus den S- und O-Zahlen gefolgerte größere „Schwierigkeit“ der
Konsonantentests II und III gilt mithin nicht nur für den Durchschnitt, sondern
auch für jede einzelne Vp. — Im Vergleich zu den übrigen Korrelationen
ist g (01:011) auffallend niedrig, jedoch ist dem nicht sehr große Bedeutung
beizumessen, da die F-Zahlen in allen Versuchen starken Schwankungen
unterworfen sind.
Es liegt nun nahe, für die in beiden Versuchen geprüften Vpn. die Be¬
ziehungen zwischen den Prüfungen I und II einerseits, RI und IV anderer¬
seits zu untersuchen. Auch hierfür erhält man bei der Berechnung der
Korrelationskoeffizienten durchweg positive Ergebnisse:
g (SI: SRI) — 0,57 + 0,09; g (Ol: OIII) — 0,28 + 0,13
g (SII: SRI) — 0,51 + 0,10; g (OH : ORI) = 0,00 + 0,14
g (SI: SIV) — 0,37 + 0,12; g (Ol: OIV) — 0,22 ± 0,13
g (SR : SIV) — 0,54 + 0,10; g (OII: OIV) = 0,13 ± 0,14.
Im Durchschnitt erreichen diese aber, obwohl bei ihnen im Gegensatz zu
den oben hier mitgeteilten stets eine der beiden Variablen (Buchstaben¬
zahl oder -Typus) konstant ist, nicht dieselbe Höhe wie die vorigen, was aber
nicht sehr verwunderlich ist, da zwischen den korrelierten Versuchen ein
Zeitraum von 6 Monaten liegt, der sicherlich für eine Beeinflussung der Er¬
gebnisse durch intra-individuelle Veränderungen genügt
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
262
Adolf Michaelis.
Die Korrelationen bezüglich der S-Werte schließen hier sich den oben für
je zwei aufeinanderfolgende Versuche berechneten — g (SI: SH, g (Sin: SIV) —
im Mittel gut an, dahingegen sind die zuletzt angegebenen O-Korrelationen
durchschnittlich sehr viel niedriger als g (01:011) und g (Oül: OIV).
Weitere Schlüsse, etwa solche auf den Einfluß der Art oder Anzahl der
zu durchstreichenden Buchstaben auf die Größe der einzelnen Korrelationen,
lassen diese Ergebnisse nicht zu.
Um zu sehen, ob und in welchem Sinne sich die Arbeitsgeschwindigkeit
mit dem Alter ändert, wurden die Korrelationen der S-Zahlen zum Lebens¬
alter (LA) berechnet; diese sind:
g (LA: SI) — 0,20 + 0,11, g (LA: SH)*= 0,26 + 0,11
g (LA : SDI) = 0,47 + 0,10, g (LA : SIV) — 0,29 + 0,11.
Sie zeigen eine zwar schwache, aber immerhin deutliche Beziehung zwischen
höherem Alter und größerer Arbeitsgeschwindigkeit.
Ein ganz anderes Bild bieten dagegen die Korrelationen zwischen Lebens¬
alter und Genauigkeit, besonders durch das Auftreten negativer Werte:
g (LA: Ol) — + 0,23 + 0,11; g (LA : OH) = — 0,29 + 0,11
g (LA: OIII)-0,01 + 0,13; g (LA : OIV) = + 0,29 + 0,11.
Wie diese in mancher Hinsicht merkwürdigen Befunde zu deuten sind,
muß aber dahingestellt bleiben. Aus verschiedenen Gründen erscheint es
nicht ausgeschlossen, daß sie bedingt sind durch ein von dem der übrigen
Vpn. abweichendes Verhalten der „Sitzenbleiber“, die hier aus technischen
Gründen nicht ausgeschaltet werden konnten und die zum großen Teil eine
starke Differenz zwischen Lebens- und Intelligenzalter aufwiesen; es ist dem¬
nach nicht unwahrscheinlich, daß man bei Prüfung von Vpn. mit normalem
Klassenalter wesentlich andere Resultate erhalten würde. — Sehr deutlich
aber zeigen diese Korrelationen — und, wenn auch weniger stark aus¬
geprägt, ebenfalls die voranstehende Gruppe der Korrelationen zwischen
LA und S — in Übereinstimmung mit den Mittelwerten der S- und O-Zahlen
und auf ganz anderem Wege, daß die Änderungen im Verhalten der Vpn.
vor allem durch die Verschiedenheit der Buchstaben typen (Vokale oder
Konsonanten) und erst in viel geringerem Grade durch die verschiedene
Buchstabenanzahl hervorgerufen werden, denn nach dem oben Gesagten
ist es sicher, daß die Zeitlage der Versuche auf die Ergebnisse keinen merk¬
lichen Einfluß hat.
Um ein Maß für die Gesamtleistung (G) einer Vp. in einer Prüfung zu
erhalten, wurde nach der Rangplatzmethode verfahren: die Rangplatz¬
nummern jeder Vp. hinsichtlich ihrer Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit
(R) wurden addiert und die Vpn. sodann nach diesen Zahlen rangiert Auf
diese Weise erhält man für jeden Versuch je eine neue Rangordnung; werden
diese untereinander korreliert, so ergibt sich
g (Gl: GH) — 0,48 ± 0,09, g (Gm : GIV) = 0,40 ± 0,11.
Diese Zahlen liefern nichts neues. Denn da der G-Wert einer Vp. sich
aus ihren Rangplätzen bezüglich S und R additiv zusammensetzt, sind die
Korrelationen der Rangordnungen nach den G-Werten abhängig von der
Korrelation bezüglich der S- bzw. O-Werte (denn die R-Rangordnung ist ledig¬
lich die Umkehrung der O-Rangierung); für die Sommerprüfung ist das
Ergebnis daher zum wesentlichen bedingt durch die Höhe von g (SI: SH),
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schälern
263
für die Winterprüfung durch die hohen Korrelationen der S- bezw. O-Werte.
Etwas jedoch läßt sich aus diesen Zahlen schließen: Wären nämlich die
Korrelationen bezüglich der G-Zahlen sehr hoch, etwa ebenso hoch oder
hoher als die größte der Korrelationen bezüglich der S- und O-Werte, aus
denen sich die G-Zahlen ableiten, so würde man einen starken Zusammen¬
hang dieser Größen vermuten können. Hier aber stellen sich die Q-Korre¬
lationen erheblich niedriger als die letztgenannten und weisen somit auf
einen nur schwachen Zusammenhang zwischen S und O hin. In der Tat
ist denn auch
q (SI: 01) — 0,12 + 0,12; q (SH: OH) — 0,10 ± 0,12
q (Sin: Offl) = 0,33 + 0,11; q (SIV: OIV) — 0,23 + 0,12.
Was man eigentlich erwarten sollte, eine deutliche und regelmäßige Stei¬
gerung der Fehlerzahl bei den höheren S-Werten, mithin eine hohe Korre¬
lation, trifft hier nicht zu; die sprichwörtliche Regel, daß im allgemeinen
eine höhere Arbeitsgeschwindigkeit von größerer Flüchtigkeit begleitet sei,
findet hier also kaum eine Bestätigung, im Gegenteil zeigen sich Arbeits¬
geschwindigkeit und „Flüchtigkeit“ als verhältnismäßig stark voneinander
unabhängige Größen. —
Die leichte Anwendbarkeit des Tests, mit dem eine große Anzahl von
Personen gleichzeitig geprüft werden kann, sowie der Umstand, daß das Er¬
gebnis einer solchen Prüfung sogleich zahlenmäßig festgelegt ist, lassen den
„Bourdon“, rein technisch betrachtet, für Intelligenzprüfungen sehr geeignet
erscheinen. Es fragt sich aber, ob durch diesen Test wirklich solche Lei¬
stungen erkennbar werden, die durch die größere oder geringere Intelligenz
des Individuums bedingt sind. Um hierüber einige Aufschlüsse zu erhalten,
wurden die Rangordnungen der Vpn. hinsichtlich der Summe ihrer durch
Zensuren festgelegten Schulleistungen (Klassenplatz) mit den Rangordnungen
der Testleistungen korreliert. Wenngleich der Klassenplatz durchaus kein
exaktes Maß für die Intelligenz ist, könnte er hier doch hinreichen, um an
Hand der Korrelationsberechnungen eine Beziehung des „Bourdon“ zur
Intelligenz feststellen zu lassen, (zumal allgemein in der Volksschule sämtliche
Intelligenzleistungen des Schülers gleichmäßig berücksichtigt werden und
nicht, wie z. B. an Gymnasien oder Realanstalten auf Grund ihrer ganzen
Zielsetzung und der darauf beruhenden Stoffverteilung im Lehrplan, bestimmte
geistige Fähigkeiten des Schülers stärker hervortreten und außerdem bei der Ge¬
samtbeurteilung unter Vernachlässigung anderer höher bewertet werden), im vor¬
liegenden Fall besonders auch deswegen, weil einmal die Korrelation zwischen
den Klassenplätzen der Vpn. zur Zeit des Sommerversuchs und denjenigen
zur Zeit des Winterversuchs stark positiv ist (g *■*> 0,54 + 0,11), und anderer¬
seits keine Beziehung zwischen Klassenplatz (P) und Lebensalter besteht
(g (LA: P) = — 0,12 + 0,13 für den Sommerversuch, 0,03 + 0,12 für den
Winterversuch), welche die Korrelationen zwischen Klassenplatz und Leistungen
verfälschen würde, indem dann in den letzteren das Vorhandensein oder Nicht-
vorbandensein von Korrelationen zwischen Lebensalter und Leistungen zum
Ausdruck gebracht würde. Steht also die Intelligenz unserer Vpn. in engerem
Zusammenhang mit den Testleistungen derselben, so wird man eine wenigstens
im Durchschnitt deutlich positive Korrelation zwischen Klassenplatz und Test¬
leistung erwarten können.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
264
Adolf Michaelis
Die Durchführung dieser Rechnungen ergibt
für den Sommerversuch:
ß (P: RI) = + 0,12 + 0,13
q (P: SI) — — 0,01 + 0,13
ß (P: Gl) — - 0,06 + 0,13
Q (P : G) —
ß (P: RU) = + 0,08 + 0,13
ß (P : SH) — + 0,14 + 0,12
ß(P:GII) = + 0,11 ±0,12
+ 0,04 ± 0,13 ‘),
für den Winterversuch:
ß (P: Rm) = —0,40 ± 0,11
ß (P : SRI) — + 0,29 + 0,12
ß (P : GDI) = — 0,21 ± 0,12
Qi P:G) =
ß (P : RIV)-0,30 + 0,12
ß (P: SIV) — + 0,39 ± 0,11
ß (P : GIV) = — 0,06 ± 0,13
— 0,13 + 0,12.
Für den Sommerversuch liegen die Korrelationen so nahe an Null, daß
sich nicht einmal über ihre Richtung etwas ausmachen läßt, im Winter¬
versuch sind sie höher, jedoch lassen beide Gruppen zusammengenommen
keine gemeinsamen Merkmale erkennen. Die Versuche liefern also in dieser
Hinsicht ein durchaus negatives Resultat, eine Beziehung zwischen den Test¬
leistungen und dem Klassenplatz der Vpn. ist daraus nicht ersichtlich. Ob
und wie weit dies allgemein für den Bourdon in seinen mannigfachen
Variationen zutrifft, bleibe dahingestellt; es wäre nicht Unmöglich, daß eine
andere Abart des Tests wesentlich andere Ergebnisse zeigte.
Betrafen die obigen Ausführungen die Gesamtergebnisse des Versuchs bei
den einzelnen Vpn., so handelt es sich nunmehr darum, diese Leistungen
näher zu analysieren. Zunächst erhebt sich hierbei die Frage, ob sich inner¬
halb derselben Prüfung ein Einfluß der Übung oder Ermüdung geltend macht.
Diesem Zweck sollten die beim Winterversuche angebrachten Zeitmarken
dienen, welche es ermöglichen, die Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit
einer Vp. in den einzelnen Zeitabschnitten eines Versuchs zu bestimmen.
Diese „Fraktionierung der Arbeitstrakte“ wurde hier für Intervalle von
2 zu 2 Minuten an 12 beliebig herausgegriffenen Vpn. ausgeführt. Daß
dies Material nicht irgendwie einseitig von dem Gesamtmaterial abweicht,
geht aus dem Verhalten der Mittelwerte hervor. Berechnet man nämlich für
die 12 Vpn. dieselben Mittelwerte wie in den Tabellen 2 und 4 (S. 260),
so erhält man Sm = 26,0; OIII = 17,5; SIV = 13,5; OIV — 10,8.
Der Vergleich zeigt, daß diese Werte sich gut an die Gesamtheit an¬
schließen, man wird daher auch das übrige Verhalten dieser Vpn. als typisch
ansprechen können.
Als Beispiel für die Leistungen der Vpn. in den einzelnen Zeitabschnitten
mögen hier die Zahlen für die ersten 3 Vpn. ausgeführt werden (Tab. 6),
welche ein ziemlich charakteristisches Bild liefern.
*) G bedeutet die Gesamtresultante der Versuche I und II und ist aus G I und G II auf die¬
selbe Weise hergestellt, wie diese aus Sl und RI bzw. SII und RII; das entsprechende gilt für
den Winterversuch.
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UNIVERSFTY OF MICHIGAN
Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schülern 265
Tabelle 6.
0 Min. 2 Min. 4 Min. 6 Min. 8 Min. 10 Min. 12 Min.
Vp.
s
R
S
R
s
R
S
R
S
R
S
R
r
16
43
92,8
69
83,1
50
96,0
36
91,7
42
92,9
58
89,7
Versuch HI \
19
39
87,2
37
86,2
40
92,0
42
95,3
30
96,7
54
92,6
{
a
46
69.5
57
98,2
52
82,7
31
93,5
53
96,2
56
78,6
i
16
42
95,2
67
98,5
49
100
46
100
40
76,5
56
100
Versuch IV
19
76
71,0
78
92,3
63
87,3
76
85,6
68
88,2
84
92,9
l
a
46
80,4
50
88,0
66
94,7
47
97,9
57
80,7
94
84,0
Während bei allen 12 Vpn. die Änderungen der S-Werte ungefähr parallel
gehen, zeigen die R-Werte ziemlich unregelmäßige Schwankungen; ihre
Mittelwerte liefern aber ganz brauchbare Zahlen, wie nachstehende Tabelle 7
zeigt, die in Spalte a die Mittelwerte für S und R für die Zeitintervalle von
2 Minuten enthält. Setzt man, um die Zahlen miteinander vergleichen zu
können, den Anfangswert in jeder Zeile gleich 100 und rechnet die übrigen
danach um, so erhält man Spalte b der Tabelle.
Tabelle 7.
0 Min. 2 Min. 4 Min. 0 Min. 8 Min. 10 Min. 12 Min.
a
b
a
b
a
b
a
b
a
b
a
b
sm...
47
100
51
108,5
51
108,5
49
104,3
53
112,8
61
129,8
R111 ...
80.4
100
81,3
101,1
80,2
99,9
80,1
99,8
83,4
103,9
84,1
105,0
SIV . . .
66
100
68
103,0
65
98,5
65
98,5
66
100,0
75
113,6
RIV . . .
83,6
100
91,5
109,4
87,5
104,8
88,5
105,7
86,6
103,6
90,0
107,7
Werden die Werte der Spalte b in ein Koordinatennetz eingetragen, dessen
Abszissenachse die Zeit ist, so ergeben ihre Verbindungslinien vier Kurven,
die die Änderungen von S und R der Vpn. im Verlaufe der beiden Prüfungen
veranschaulichen. (Siehe S. 266.)
Diese Kurven stimmen insofern überein, als sie sämtlich steigende Tendenz
zeigen: der Anfangs wert ist bei SIII und RIV zugleich Minimum, bei SIV und RIII
wird er im mittleren Teil nur wenig unterschritten, der größte Wert liegt bei
allen Kurven am Ende, mit Ausnahme von RIV, wo das Maximum bei 3 Mi¬
nuten liegt, jedoch am Schluß wieder annähernd erreicht wird. Zwischen dem
ersten und zweiten Zeitintervall erfolgt bei S ID, SIV und RIII deutliche
Steigerung, der in den nächsten Minuten ein allmählicher Abfall folgt.
Letzterer ist wahrscheinlich bedingt durch die von der Anstrengung der
Hand-und Armmuskeln beim Durchstreichen herrührende körperliche Ermüdung,
welche von einem Nachlassen der Aufmerksamkeit begleitet ist, wie das
gleichzeitige Sinken der R-Kurven anzeigt. Für die Erklärung des Fallens
der S-Kurven infolge körperlicher Ermüdung spricht der Umstand, daß bei
IV, wo in der Zeiteinheit eine größere Anzahl von Durchstreichungen aus¬
geführt wurden als bei IR und wo die Ermüdung also schneller eintreten
dürfte, der Abfall tatsächlich eher stattfindet; außerdem verweisen darauf
eigene Beobachtungen und die Aussagen einiger Vpn., wonach gerade in
') Da Versuch IV nur 11 Minuten dauerte, wurden die Werte von S IV der letzten Minute
verdoppelt.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
266
Adolf Michaelis
diesem Zeitraum ein starkes Ermüdungsgefühl im Arm konstatiert wurde.
—| Dem Sinken der S-Kurven folgt sodann ein rascher Anstieg, der bis zum
Ende des Versuchs anhält. An der großen Steigerung der Leistungen im
letzten Intervall könnte vielleicht bei beiden Versuchen der Umstand mit-
gewirkt haben, daß die Vpn. Anzeichen für den Abbruch des Versuchs be¬
merkten 1 ) und deshalb ihren Eifer vermehrten („Schlußantrieb“); demgegen¬
über ist aber bemerkenswert, daß dieser Anstieg eine Fortsetzung des
zwischen 8 und 10 Minuten erfolgten ist, wo derartige Störungen noch nicht
stattgefunden hatten.
Man wird also annehmen können, daß die große Höhe des Endwertes
nicht ausschließlich diesen Umständen zuzuschreiben ist, sondern daß wesent-
') Bei beiden Versuchen hatten 2 Vpn. den ganzen Text schon innerhalb des letzten Intervalls
erledigt, und die von ihnen gebrauchte Zeit wurde sogleich protokolliert. (Diese Vpn. wurden
natürlich nicht unter die 12 näher analysierten aufgenommen.)
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bourdon-Test bei 12jfihrigen Schülern
267
lieh andere Faktoren dabei mitspielen, und zwar hauptsächlich die Über¬
windung dar Müdigkeit durch irgendwelche Antagonisten und die Verbesserung
der Arbeitsmethode (Übung).
Die R-Kurven laufen den S-Kurven annähernd parallel; es zeigt sich an
ihnen also zunächst ein Nachlassen der Aufmerksamkeit und darauffolgende
-starke Steigerung.
Es ist interessant, dafi hier, wo es sich um intra-individuelle Variationen
von Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit handelt, die Genauigkeit mit stei¬
gender Arbeitsgeschwindigkeit wächst und sich bei langsamerem Anstreichen
vermindert; anders ausgedrückt besagt dies positive Korrelation zwischen
Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit, d. h. negative Korrelation zwischen
S und 0, während im Gegensatz dazu oben (S. 5) für die int er-individuellen
Variationen sich das Gegenteil ergeben hatte.')
Bei Versuchen mit ähnlichen Testmethoden ergab sich häufig 2 ) in der
ersten Minute eine höhere Leistung als in den folgenden, und es war zu
erwarten, daß dieser „Anfangsantrieb“ auch hier nicht fehlen würde. Um
dies für alle 30 Vpn. feststellen zu können, begnügte ich mich mit Aus¬
zählung der je Minute „durchstrichenen“ Zeilen. Die folgende Tabelle gibt
in Zeile a die so ermittelte mittlere Zeilenzahl je Minute (auf 1 Dezimale
abgerundet) und in Zeile b die Zahlen, die man daraus erhält, wenn wie
oben der Anfangswert gleich 100 gesetzt wird.
Tabelle 8.
1 23456780 10 11 12 Min.
Versuch m
a
3,3
2,6
3,2
3,3
3,4
3,2
3,3
3.3
3,6
3,3
3,6
3,5
b
100
77,9
98,6
101,4
104,2
96,3
100,2
102,3
105,6
101,9
106,6
105,6
Versuch IV
a
7,6») 1
3,8
3,6
3,6
3,9
3,8
3,9
4,0
3.8
4,1
—
b
100
101,1
95,2
95,7
103,2
100,0
103,3
106,0
101,8
110,5
—
Die in das Koordinatennetz eingetragenen Werte der Zeilen b ergeben
die beiden Kurven ZIU und ZIV (der Übersichtlichkeit wegen wurde 130
statt 100 als Ausgangspunkt genommen), von denen wenigstens die erste
den Anfangsantrieb sehr gut erkennen läßt. Abgesehen davon liefern sie
i) Mit diesen Ergebnissen stimmen die Befunde von zwei unabhängig hiervon angestellten
Versuchen, bei denen der Test in den Formen I und II zur Verwendung gelangte, gut überein:
Vp. I. Lotte L., 14 Jahre; 11:103 (9); 104 (8); 103 (0); 126 (2).
Vp. 2. Herbert G., 13 Jahre: 1:204 (32); 136 (4); 154 (2); 182 (1).
H: 103 (11); 120 (8); 99 (4); 107 (9).
(Zeitmarken alle 4 Minuten; die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Fehleranzahl, die anderen
die S-Werte). Die Zeitintervalle sind hier zu groß gewählt, um den Verlauf der S-Kurven genau
verfolgen zu können, immerhin zeigt sich auch hier am Schluß eine Steigerung der S- Zahlen,
die nur im ersten Fall davon herrühren könnte, daß der Vp. die Dauer des Versuchs bekannt
war; die O-Werte in den beiden ersten Vierteln übersteigen die der letzten Hälfte erheblich.
*) Siehe unter andern W. Baade, Experimentelle und kritische Beiträge zur Frage nach den
sekundären Wirkungen des Unterrichts, 1906, S. 68 f.
3 i Hier wurde der Befehl „Strich* leider versehentlich unterlassen.
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268
Adolf Michaelis, Der Bourdon-Test bei 12 jährigen Schülern
nichts wesentlich Neues gegenüber den S-Kurven; bemerkenswert erscheint
nur ein gewisser Rhythmus, an gedämpfte Schwingungen erinnernd, dem beide
— von der sechsten Minute an sogar synchron — gehorchen. Zeichnet
man die Z-Kurven für die einzelnen Vpn. gesondert, so bemerkt man auch
bei diesen fast durchgängig einen ähnlichen Verlauf, und ihre Verschieden¬
heit liegt hauptsächlich in der Länge der einzelnen „Schwingungen", wobei
das Verhalten innerhalb der ersten vier Minuten maßgebend für den weiteren
Verlauf der Kurven zu sein scheint
Daß sich diese Kurven unter wenige Typen gruppieren lassen, ist bei
näherer Betrachtung derselben kaum zweifelhaft; das vorliegende Material
ist jedoch zu klein und die Versuchsdauer zu kurz, als daß man bestimmte
Angaben darüber machen könnte. —
Von einer näheren qualitativen Analyse der Auslassungsfehler wurde Ab¬
stand genommen; erwähnt sei nur, daß bei 1, wo e und i auszustreichen
waren, häufig die kaum gesprochenen „e“ der Endungen übersehen
wurden, während bei II (r, s, t) vielfach Auslassungen an den Stellen vor¬
kamen, wo sich die anzustreichenden Buchstaben häuften (z. B.: zerstreut),
vielleicht deutet ersteres auf vorwiegend akustischen, letzteres auf visuellen
Typus hin 1 ). Für die Versuche III und IV kommen diese Gesichtspunkte
kaum in Betracht, höchstens insofern, als bei III häufig die „n“ der unbe¬
tonten Endungen ausgelassen wurden. Daneben erscheint noch bemerkens¬
wert, daß bei I und III, wo zwei Buchstaben zu durchstreichen waren, fast
durchgängig die Tendenz bestand, den einen, meistens i bzw. n, auf Kosten
des anderen stärker zu beachten; bei II und IV trat solche „Einseitigkeit"
niemals in so ausgesprochenem Maße hervor.
Zusammenfassung:
Der „Bourdon" ist in hohem Grade von der Art der Buchstaben (Vokale
oder Konsonanten) abhängig, die Leistungen sind bei Verwendung von Vokalen
wesentlich bessere als bei Konsonanten. Der Einfluß der Buchstabenanzahl
tritt demgegenüber stark zurück; bei Verwendung von 3 Buchstaben fallen
die Ergebnisse nur wenig schlechter aus als bei 2 Buchstaben derselben Art.
Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit sind in weitem Maße vonein¬
ander unabhängig.
Eine Beziehung der Leistungen zum Klassenplatz zeigte sich nicht.
Für einen Zeitraum von 10—12 Minuten war ein günstiger Einfluß der
Übung auf Arbeitsgeschwindigkeit und Genauigkeit gut zu konstatieren.
*) Ein gutes Beispiel für den ersten Fall ist die schon erwähnte Lotte L., die in I folgende
Auslassungsfehler brachte: Handels, Aufführungen, fassen. Wagnerischen, heftige, Händels, die
also nur solche Buchstaben ausließ, welche beim Sprechen verschluckt werden, abgesehen von
dem „e“ in „heftige“, das aber auch in einer unbelonten Silbe liegt. — Bei einer daraufhin
angestellten Prüfung zeigte sie stark akustischen Vorstellungstypus.
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Paul Schäfer, Beobachtungen und Versuche an einem Kinde usw.
269
Beobachtungen und Versuche an einem Kinde
in der Entwicklungsperiode des reinen Sprachverständnisses.
Von Paul Schäfer.
Wenn man in der neueren kinderpsychologischen Literatur über das kind¬
liche Sprachverständnis in der Entwicklungsperiode des reinen Sprachverständ¬
nisses nachliest, so ist man mit Recht erstaunt darüber, wie wenige grund¬
legende und ausführlich dargestellte Beobachtungen vorhanden sind. Bis in
die neueste Zeit hinein müssen in den wissenschaftlichen Darstellungen
kindlicher Entwicklung die vor vielen Jahrzehnten gemachten Beobachtungen
eines Lindner (80er Jahre), einesTaine (70er Jahre) und eines Siegesmund
(50er Jahre) als „Musterbeispiel“ 1 ), als „berühmte Beobachtung“ 2 ) als Er¬
kenntnisgrundlagen verwendet werden, obwohl doch seit jenen Zeiten die
Beobachtungsmethodik vor allem durch den Fortschritt der Tierpsychologie
ganz wesentlich gewonnen hat. Jetzt weiß man z. B. — um nur einen Fort¬
schritt anzuführen —, daß das Auftreten einer solchen Entwicklungstatsache
nicht nur einfach festgestellt werden darf, sondern daß es unbedingt er¬
forderlich ist, ihre Vorgeschichte und weitere Entwicklung aufs genaueste
zu verfolgen und darzustellen. Am meisten mangelt es in dieser Beziehung
in Siegesmunds Bericht 3 ). Dagegen ist es Lindners Verdienst, in seinem
Ticktackversuch das „Sprachverständnis“ auf einer sehr frühen kindlichen
Entwicklungsstufe festgestellt und auf seine Vorgeschichte, die Einübung der
Assoziation, wenigstens hingewiesen zu haben 4 ).
Allgemeine und methodische Vorbemerkungen
zu meinen Beobachtungen und Versuchen.
Das Versuchskind. Die folgenden Beobachtungen machte ich an meinem
Sohne H. Er ist am 14. März 1919 geboren und körperlich und geistig
normal entwickelt.
Das Versuchsalter. Von den bisherigen Feststellungen der ersten kind¬
lichen Verständnisbewegungen stammen die von Lindner, wie gesagt, aus
der frühesten kindlichen Entwicklungszeit (0;4 und 0;4'/2). L. beobachtete
vor dem Auftreten des ersten Sprachverständnisses, daß das 18 Wochen alte
Kind „mit besonderem Wohlgefallen den Bewegungen der kräftig pendelnden
Wanduhr zuschaute“. Siegesmund berichtete die gleiche Tatsache — das
Kind beobachtet „mit ernsthaftester Aufmerksamkeit das sich bewegende
Pendel einer Uhr“ — von seinem 19 Wochen alten Sohne 5 ). H. zeigt 0;5
und 0;6 ein ähnliches Verhalten. Er hält seinen Badeschlaf am Vormittag
im Juli und August im ruhigsten und kühlsten Zimmer unserer Wohnung,
drei Meter vor der Wanduhr und blickt vor seinem Einschlafen und ebenso
nach seinem Erwachen längere Zeit auf das mattsilberne Zifferblatt oder
verfolgt die Pendelbewegungen mit seinen Augen (deutliches Bewegen des
*) Bühl er, K., Die geistige Entwicklung des Kindes. Jena 1918, S. 112.
*) Me um an n, E., Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. Leipzig 1908, S. 26.
3 ) Siegesinund. B., Kind und Welt. Braunschweig 1856, S. 111.
4 ) Lindner, G., Beobachtungen und Bemerkungen über die Entwicklung der Sprache des
Kindes. 12. Jahresbericht über das königliche Schullehrerseminar zu Zschopau. Zschopau 1882,
S. 10, und Lindner, G., Aus dem Naturgarten der Kindersprache. Leipzig 1898, S. 10.
B ) Siegesmund, a. a. O., S. 20.
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Augapfels). Man darf wohl annehmen, daß sowohl in Siegesmunds als
auch in meinem Falle ein ähnliches Sprachverständnisexperiment, wie es
Lindner durchführte, geglückt wäre. Aus zwei Gründen unterließ ich aber
auf dieser Entwicklungsstufe noch die Einübung: einesteils, um H.s Verhalten
in dieser Hinsicht weiterhin ohne Einwirkung meinerseits beobachten zu
können — die Beobachtung ergab jedoch keine besonderen Momente mehr —,
andernteils wartete ich eine spätere Entwicklungsstufe ab, um die Entstehung
des Sprachverständnisses nicht nur in bezug auf einen, sondern zu ungefähr
derselben Zeit in bezug auf mehrere Sprachkomplexe erkennen zu können.
Zu diesem Zwecke wartete ich bis zum Alter von 0;9. Bis zur Einübung
zeigen sich nur „undifferenzierte Wirkungen" gehörten Sprechens (es kommt
dabei nicht darauf an, was gesprochen wird) 1 ). Die Beobachtung seines
Verhaltens in bezug auf die Wanduhr 0;5 und 0;9 ergab einen Unterschied
von allgemeiner Bedeutung für das erste Sprachverständnis des Kindes.
0;9 liegt er nicht mehr die ganze Zeit ruhig da und betrachtet, sich fast
unbeweglich verhaltend, die Uhr, sondern er ist beweglicher geworden; das
passive Aufnehmen von Eindrücken gefällt ihm nicht lange. Jetzt ist es ihm
lieber, die Uhr anzusehen, ihr Gehäuse abzutasten, mit seinem rechten Händ¬
chen dranzuschlagen, das Türchen auf- und zuzumachen, also seine Erfah¬
rungen aktiv zu erwerben. Nur stärkere Eindrücke, z. B. das klangvolle
Schlagen der Uhr oder das starke Ticktackgeräusch des Metronoms erregen
jetzt noch längere Zeit sein Interesse. H. Th. Woolley 2 ) erkannte diese
für das erste Sprachverständnis wichtige verschiedene Beschaffenheit der
kindlichen Bewußtseinsstruktur als bedeutsam für die Farbenauffassung.
Seine Darstellung der Änderung der Bewußtseinsstruktur sei hier wieder¬
gegeben. 0;7 nimmt er als Grenze zwischen beiden Entwicklungsstufen an.
Vor dieser Zeit ist das Kind „absorbed in sensory experiences, ® or if the
word sensory involves the psychological fallacy, in a largcly passive ex-
periencing of the world“. (Das Kind geht auf in der Aufnahme von Sinnes¬
eindrücken, in einem passiven Erfahren seiner Umgebung.) Von der Zeit
nach 0;7 sagt W. the centre of interest seemed to shift quite rapidly
from the passive to the active aspect of experience .... She had discovered
her capacity to act and had ceased to be a mere spectator“. (Das Interesse
schien sich schnell von der passiven zur aktiven Seite der Erfahrung zu ver¬
schieben .... Sie hatte ihre Fähigkeit zu handeln entdeckt und hörte nun
auf, ein bloßer Beobachter zu sein.)
Die Versuchsreihe.
I. Obersicht über die Versuche und Beobachtungen.
An erster Stelle werden Versuche mit neun Sprachkomplexen s ) gemacht,
die H. in Beziehung auf das damit Gemeinte eingeübt werden und deren
„Verständnis“ untersucht wird (vom 25. 12.19 bis 29. 1. 20). Das „Sprach-
*) Bühler, K., Die geistige Entwicklung, S. 111.
2 ) Woolley, H. Th., Some Experiments on the Color Perception of on Infant and thelr Inter¬
pretation. The Psychological Review 6, 1906.
*) Das Versuchsmaterial wurde auf Grund der in der kinderpsychologischen Literatur nieder¬
gelegten Erfahrungen früherer Beobachter und auf Grund von Beobachtungen in der Kleinkinder-
stube meiner und befreundeter Familien zusammengestellt. In der Hauptsache wurden schon
erprobte Sprachkomplexe in gleicher Form übernommen. Manche erfuhren eine kleine Änderung.
Nur das Wort Schrank ist bisher noch nicht beim beginnenden Sprachverständnis angewandt worden.
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Beobachtungen u. Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw.
271
Verständnis“ wird nachgeprQft am 19. 2. und 19. 3. 20. Während H.’s Ent¬
wicklungsperiode des reinen Sprachverständnisses (31. 12. 19 bis 24. 3. 20)
kann das Auftreten des „Verständnisses“ von drei weiteren von mir nicht
absichtlich eingeübten Sprachkomplexen beobachtet werden. Ich kann hier
mangelnden Raumes halber nur einige Beispiele aus diesem umfangreichen
Beobachtungs- und Versuchsmaterial geben. Weiter wird die Einübung der
sprachlichen Bedeutung von Bittebitte (das Wünschen, Verlangen, Haben¬
wollen) in bezug auf einen Gegenstand vorgenommen (4. 2. bis 7. 2. 20).
Vom 12. 2. an kann diese Bedeutung in bezug auf andere begehrte Gegen¬
stände und andere Wünsche beobachtet werden. Zahlreiche Tatsachen
liefern in dieser Beziehung die Aufzeichnung der Bittebewegung am 25. 2.,
10. 3. und 24. 3. 20.
n. Die neun Sprachkomplexe.
Bei der Auswahl des sprachlichen Versuchsmaterials muß zweierlei in
Rücksicht gezogen werden: seine Schallmasse und das in ihm Gemeinte.
1. Das in den neun Sprachkomplexen Gemeinte.
In den neun Sprachkomplexen sind erstens Bewegungen des Kindes
(Zurückwerfen des Oberkörpers ins Federkissen des Wagens, Zusammen¬
schlagen der Hände in einem gewissen Rhythmus, seitliches Hinundher-
bewegen des rechten Arms mit der Klapper, damit das Klappeigeräusch
entsteht, mit rechter Hand auf das Wasser im Bade schlagen, so daß es
auf spritzt, mit rechter Hand an den Schrank schlagen), zweitens Gegen¬
stände (Metronom, Uhr, brennende elektrische Nachttischlampe, Stoffhund)
gemeint. Die angeführten Bewegungen sind H. im Anschluß an spontan
sich zeigende Ausdrucks- und Spielbewegungen eingeübt worden (Dressur).
Sie werden gern ausgeführt. Die Gegenstände sind durch eine hervortretende
Eigenschaft besonders eindrucksfähig. (Das laute Ticktackgeräusch, der laute
klangvolle Schlag, der helle Lichtstrahl, die besondere Form des Hundes.)
2. Die Schallmasse.
Jeder einzelne der neun Sprachkomplexe (1. Mache bäuz! 2. Mache bitte,
bitte! 3. Mache päntsche, pantsche! 4. Mache kläpper, klappert 5. Wo ist
das Gückelichtl? 6. Wo ist die Ticktack? 7. Wo ist die Bimbim? 8. Wo ist
der Wäuwau? 9. Wo ist der Schrank?) ist in Hinsicht auf seine Schall¬
masse ein „Sprechtakt“. Nach E. Sievers 1 ) ist ein Sprechtakt „eine Sprech¬
gruppe, die durch eine Starksilbe zusammengehalten wird“. Sievers hält
den Ausdruck „Druckgruppe“ für die bessere Bezeichnung, weil das Wort
Takt zu sehr an musikalische Verhältnisse erinnert. Von den englischen
Phonetikern wird die Bezeichnung „stress group“ allgemein verwendet. Die
Grenzen der durch den Sinn zusammengeschlossenen Redeteile fallen nicht
immer mit den Grenzen der Sprechtakte zusammen; die rhythmische Grenze
k ann eine andere als die Sinnesgrenze sein. In den neun Sprachkomplexen
treffen beide zusammen. In meinen Worten 2 ): „Ei, £i, ei (= Sinngrenze),
der (= Sprechtaktgrenze) schone Brief!“ zeigen sich verschiedene Grenzen.
Innerhalb des einzelnen Sprechtaktes ist natürlicherweise die Starksilbe
” *
*) Sievers, E., Vorlesungen über Phonetik. S. S. 1920.
*) Vgl. S. 12.
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272
Paul Schäfer
(sie ist durch ' bezeichnet) in bezug auf das Kind eines der eindrucksfähigsten
Elemente. In den Sprechtakten „Mache bauz!“ und „Wo ist der Schrank?“
bildet die Starksilbe mit dem Wort, das der Träger des Hauptsinnes ist, eine
Einheit. Dabei unterscheidet sich die Starksilbe bauz von der Starksilbe
Schrank durch ihren ausdrucksvolleren Stimmlaut (Diphthong). In den
übrigen Sprechtakten ist die Starksilbe nur ein Teil des Wortes, das der
Träger des Hauptsinnes ist. Im Zusammenhang mit ihr finden wir aber als
besonders eindrucksfähige Elemente erstens einen besonderen Rhythmus
(-iw; Ticktack, Bimbim, Wauwau oder — w ' w: Guckelichtl, Bitte bitte,
Klapper klapper, Pantsche pantsche) (der Rhythmus wird, in den meisten
Fällen künstlich durch Wiederholung des betreffenden Wortes erzeugt), zweitens
besonders hervortretende Unterschiede im musikalischen Akzent der rhyth¬
misch so zusammengebundenen Sprachteile, besonders große Intervalle in
der Tonführung und eine etwas höhere Stimmlage.
ID. Die Methode.
1. Die Frage der Einübung.
Prey er ist Gegner der „üblichen Dressuren“ ■)• Lindner will kleine Kinder
auch nicht derartig als „Versuchskaninchen“ benutzt wissen 2 ). Er selbst führt
darum nur „wenige Experimente“ 3 ) aus. Die anderen Berichterstatter von
Verständnisbewegungen aus der Entwicklungsperiode des reinen Sprech¬
verständnisses stellen ihr Auftreten fest, erzählen aber von Einübungseinflüssen
wenig oder in der Hauptsache gar nichts. Tatsächlich können aber solche
ersten Verständnisbewegungen aus der Periode des reinen Sprachverständ¬
nisses nur nach mehr oder weniger absichtlichen Einübungen entstehen.
Mancher Beobachter hat diese vielleicht gekannt, sie aber in ihrer Bedeutung
für unsere richtige Auffassung unterschätzt und darum nichts davon berichtet
Andere haben sie wohl gar nicht gekannt; dann stammen sie von Kinder¬
wärterinnen oder kleinen Geschwistern. Aus dieser Überlegung heraus er¬
gibt sich als notwendige Methode zur Beobachtung der ersten Verständnis¬
bewegungen die der Einübung, der Dressur. Dabei gilt es aber, jeden Zwang
oder gar Quälereien (in der Tierdressur sind Entziehung der Nahrung oder
Züchtigungen die gewöhnlichen Mittel) vollständig zu vermeiden. Die Ein¬
übungen werden als gern geübtes Spiel nach Art der Ammen, Kinderwär¬
terinnen und Mutter vorgenommen. Durch die strenge Durchführung der
Einübungsmethode für eine kurze Zeit ist es möglich, Einwirkungen anderer
Personen der Umgebung auszuschalten oder zu kontrollieren. In dieser Zeit
war ich beinahe dauernd um das wachende Kind 4 ), was mir bei einer Be-
*) Prey er, W., Die Seele des Kindes. 8. Aufl. Nach dem Tode des Verfassers bearbeitet
und herausgegeben von K. L. Schaeler. Leipzig 1912, S. 20 u. 21.
2 j Lindner, G., Neuere Forschungen und Anschauungen über die Sprache des Kindes.
Zeitschr. f. Pädag. Psychol. usw., Jhrg. 7, 1906, S. 348.
*) Lindner, G., a. a. 0., S. 349.
4 ) Prey er macht auf die Schwierigkeit einer solchen Beobachtung aufmerksam. Er sagt ln
seiner Abhandlung „Die Psychologie des Kindes“, Zukunft 1896, herausgegeben v. M. Harden,
S. 478: „Dieses Beobachten, z. B. das stundenlange Betrachten des schreienden, dann spielenden,
dann schlafenden, dann erwachenden, dann saugenden Säuglings, meistens in der Kinderstube,
ist nicht jedermanns Sache. Ich kann aus eigener Erfahrung versichern, daß es viel schwieriger
ist als irgendeine lange Vorbereitungen erfordernde, physiologische oder psychologische Experi¬
mentaluntersuchung in einem leidlich eingerichteten Laboratorium mit guten Präzisionsinstrumenten.“
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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw.
obachtung, die auf das zufällige Eintreten irgendeiner Verständnisbewegung
wartet und die sich deshalb auf einen weit größeren Zeitraum erstrecken
kann, nicht möglich gewesen wäre. Vor allem durfte das Schwesterchen
oder Dienstmädchen niemals ohne Kontrolle beim Kinde sein. Verfrühung
der sprachlichen Entwicklung tritt selbstverständlich durch die Einübung ein;
aber da keine andere Möglichkeit da war, die ersten Verständnisbewegungen
in einem größeren Zusammenhänge erkennen zu können, muß mit ihr ge¬
rechnet werden. Sie ist in H.s Falle (Alter 0;9 und 0;10) im Gegensatz
zu den Versuchen Lindners (0;4) nicht bedeutend.
2. Die Einübung der neun Sprachkomplexe als Grundlage zur
Erforschung der Entstehung des Sprachverständnisses.
Durch die Einübung der neun Sprachkomplexe in Beziehung auf das in
ihnen Gemeinte versuche ich eine umfangreiche Grundlage zur Erforschung
der Verständnisbewegungen zu gewinnen. Dadurch, daß ich die Einübung
bis ins einzelne verfolge, daß ich die in Beziehung zu den Verständnis¬
bewegungen stehenden Momente, die bereits vor der Einübung liegen, auf¬
decke, gelingt schon eine gewisse Klärung ihres Wesens. Bei der Darbietung
der Sprachkomplexe wird der „Ammenton“ in Anlehnung an die tatsächlichen
Verhältnisse der Kleinkinderstube angewandt, d. h. der Rhythmus (dynamische
und zeitliche Quantität) und der melodische Akzent (größere Intervalle in
der Tonführung) treten durch affektvolles liebevolles Sprechen besonders aus¬
drucksvoll und eindringlich hervor. Die Anwendung dieser Sprachelemente
kann aber nicht von einer ganz bestimmten Konstanz sein. Es muß für
unsere Zwecke genügen, zwischen dem „Ammenton“ und dem „gewöhn¬
lichen Sprechton“ zu unterscheiden und den gewöhnlichen Sprechton als
eine Sprechart ohne die besondere Hervorhebung jener Sprachelemente auf¬
zufassen. Ebenso fehlt ein genaues Maß bei den zeitlichen Verhältnissen
der Versuche. Die Einübungsdauer ist nach Tagen genau angegeben. Aber
schon die täglich zweimal stattfindende Einübung bei den meisten Kom¬
plexen ließ sich nicht bei allen ermöglichen. Die Pantscheeinübung muß
sich nach dem Bade richten (täglich einmal); die Einübung von „Guckelichtl“
wird, da H. abends sehr zeitig schlafen geht, nur früh — H. ist Frühauf¬
steher — vorgenommen. Ebenso ist die von „Bimbim“ und „Wauwau“
unregelmäßig. Die jeweilige Einübungsdauer ist niemals konstant. Beim
geringsten Anzeichen von Unlust, von „Widerwillen“ wird die „Dressur“
abgebrochen. Sie dauert manchmal nur einige Sekunden, manchmal mehrere
Minuten. Beim Feststellen des „ersten Verständnisses“ muß mit besonderer
Vorsicht vorgegangen werden. Als „erstes Verständnis“ wird hier das erste
Auftreten der Verständnisbewegung bezeichnet, d. h. die Ausdrucksbewegung
erfolgt nur auf Grund des betreffenden sprachlautlichen Gehörseindrucks
ohne Mitwirkung anderer Sinneseindrücke (Hilfssinneseindrücke). Diese sind
gerade im ersten Stadium des entstehenden Sprachverständnisses beim Zu¬
standekommen der Ausdrucksbewegung wirksamer als der sprachlautliche
Gehörseindruck, was sich notwendigerweise aus der Art der Einübung er¬
gibt, aber bei Feststellung des ersten Verständnisses — und ebenso bei den
weiteren Versuchen — zu großen Täuschungen über das Sprachverständnis
Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 18
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
274
Paul Schäler
des Kindes führen kann. Neben den Hilfssinneseindrficken ist weiter die
Bedeutung der „Einstellung“ für das Auftreten der Verständnisbewegung zu
beachten. Dabei wird zwar die Ausdrucksbewegung durch den sprachlaut-
lichen Gehörseindruck hervorgerufen, aber die VerBtändnisbewegung erfolgt
nicht, wenn er nicht eine für ihr Auftreten günstige, bereits auf sie hin¬
weisende Bewußtseinsrichtung vorfindet. Letzteres ist der Fall, wenn z. B. die
Einübung kurz vorher stattgefunden hat oder wenn H. die Klapper in die
Hand bekommt (beim Klapperversuch). In allen diesen Fällen können die
betreffenden Wahrnehmungen des Kindes auch als Hilfssinneseindrücke
wirken, d. h. sie erzeugen nicht nur die auf die Verständnisbewegung hin¬
weisende Bewußtseinsrichtung, sondern die Ausdrucksbewegung selbst. Prak¬
tisch läßt sich das daran erkennen, daß die Ausdrucksbewegung ohne Dar¬
bietung des Sprachkomplexes erfolgt. Schwerer oder fast gar nicht läßt sich
die vorhandene Bewußtseinsrichtung feststellen, also entscheiden, ob Ein¬
stellung oder keine da ist. Hier sind auch viele Abstufungen, von der
stärksten Tendenz auf die Ausführung der Bewegung hin bis zum schwächsten
Grade, anzunehmen. Mit dem Begriff Einstellung sind hier nur die stärkeren
Grade gemeint, wie sie nach kurz vorher stattgefundener Einübung oder
wenn H. die Klapper in die Hand bekommt usw., bestehen. Praktisch ist
diese Unterscheidung insofern wichtig, als bei jedem Versuch zuerst die
Alleinwirkung der Hilfssinneseindrücke abgewartet werden muß. Ebenso
muß beim Feststellen des „ersten Verständnisses“ durch Ablenkung des
Kindes vom Versuchsobjekte die Einstellung verringert oder aufgehoben
werden. Beim Nichtauftreten der Verständnisbewegung werden stets acht
Darbietungen des Sprechkomplexes gegeben, um zu vermeiden, daß das nicht
sofortige Auftreten der Verständnisbewegung als Nichtverstehen gebucht
wird. Ebenso wird bei jeder Verständnisbewegung ein Kontrollversuch ge¬
macht. Bei der „weiteren Beobachtung“ der Verständnisbewegungen achte
ich auf ihr Ausbleiben und dessen Ursache und versuche, durch Änderung
der Versuchsbedingungen beim Auftreten der Verständnisbewegungen — der
allgemeinen Bedingungen in bezug auf die kindliche Bewußtseinslage und
auf das in den Sprachkomplexen Gemeinte und der spezielleren in bezug
auf den sprachlautlichen Gehörseindruck — einen tieferen Einblick in das
Sprachverständnis zu gewinnen. Nach einer gewissen Zeit der Nichtübung
stelle ich das noch vorhandene Sprachverständnis fest.
3. Ich stelle das Auftreten von drei weiteren Verständnis¬
bewegungen fest.
4. Die sprachliche Bedeutung des Bitteausdrucks.
Sie wird in bezug auf einen gewünschten Gegenstand eingeübt und ihre
Weiterentwicklung in Beziehung zu anderen Objekten durch genaueste Be¬
obachtung in den folgenden Tagen festgestellt Ihre späteren Entwicklungs¬
stufen werden bis zum Ende der Entwicklungsperiode des reinen Sprach¬
verständnisses durch Aufzeichnung sämtlicher Bittebewegungen während des
ganzen Tages am 25. 2., 10. 3. und 24. 3. zu erkennen versucht.
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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 275
Das Beobachtungs- und Versuchsmaterial.
I. Die neun absichtlich eingefibten Sprachkomplexe.')
a) Vor der Einübung, die Einübung, erste» Verständnis und weitere Beobachtung der
Verstlndnisbewegung bei jedem Komplex bis Ende Januar 1020.
1. „Mache bauz!“
Vor der Einttbung: Seit dem 20. 12. 1919 (0;9 l /4) zeigt H. eine besondere
Ausdrucksbewegung in freudiger Stimmung: in sitzender Stellung — im Wagen
oder auf dem Schoß — bewegt er ziemlich schwungvoll seinen Oberkörper
bis zu fünfmal vor und zurück. Einübung (Beginn 25.12.19, zweimal täg¬
lich, vor- und nachmittags je einmal): H. sitzt in zufriedener Stimmung im
Wagen. Ich lasse ihn ins Kissen zurückfallen und sage: „bauz“ (Ammen¬
ton). Er stemmt sich sofort wieder hoch. Der ganze Vorgang macht ihm
große Freude. Er wird zweimal wiederholt. Während H. zurückfällt und
während der kurzen Pause des Liegens lächelt er; manchmal lacht er sogar
laut auf. Bei der zweiten Einübung brauche ich ihn nur das erste Mal zurück¬
fallen zu lassen; dann läßt er sich zweimal von selbst zurückfallen. Am
nächsten Tage setzt er die Bewegung solange fort, bis ich ihn anhalte. Nach
drei Tagen zeigt er bei einer Einübung deutlich seine Unlust, die Bewegung
auszuführen; er sträubt sich dagegen. Ich gebe ihm seine Klapper, mit der
er spielt Nach einigen Minuten macht er plötzlich zu meiner Überraschung
spontan die Bewegung. Bei jedem Zurückfallen sage ich: „Bauz“. Vor jeder
neuen Einübung wird ihm dreimal „mache bauz!“ zugerufen. Es erfolgt bis
31.12. keine Verständnisbewegung. Erstes Verständnis (31. 12. nachmittags):
H. hat nach seinem Bade zwei Stunden fest geschlafen und anschließend
seine Flasche mit großem Appetit getrunken. Er sitzt, als ich nach Hause
komme, in zufriedener, munterer Stimmung im Wagen und zeigt Freude bei
meinem Anblick. (Er hat mich seit der Einübung am Vormittag nicht ge¬
sehen.) Ich rufe ihm „mache bauz!“ zu, worauf er die betreffende Bewe¬
gung gegen fünfmal ausführt. Weitere Beobachtung der Verständnisbewegung:
Die Aufforderung „mache bauz!“ wird H. von nun an täglich zweimal, so¬
bald er in behaglicher Stimmung ist, zugerufen. Die Verständnisb.ewegung
erfolgt ständig. Wenn nur der ausdrucksvolle Stimmlaut des Sprachkom-
plexes („au“) gegeben wird, erfolgt die Ausdrucksbewegung nicht. Am 3.1.20
spreche ich die Aufforderung, als er sich in liegender Stellung befindet. Auch
hier erfolgt sie und zwar so, daß er, die Wagenränder fassend, sich kurz
faochzieht und wieder fallen läßt. Am 6. 1. zeigt er ausgesprochene Unbe¬
haglichkeit und Unlust. Er hat stark mit Zahnen zu tun, war schon in der
vorhergehenden Nacht sehr unruhig und sieht jetzt blaß und angegriffen aus.
Bei der Aufforderung zeigt er keine Verständnisbewegung (achtmal). Ver¬
schwinden der Verständnisbewegung: Da sich H. etwas zu forsch hintenüber¬
wirft und infolgedessen zu befürchten ist, daß er sich an den Kopf stoßen
kann, wird die Aufforderung von jetzt ab unterlassen. Nach 14 Tagen er¬
gibt eine genaue Prüfung — die Aufforderung wird bei günstiger Stimmung
achtmal gegeben — vollständiges Fehlen des Verständnisses.
*) Von dem umfangreichen Versuchsmaterial werden nur drei Beispiele angeführt.
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276
Paul Schäler
2. „Mache bitte bitte!“
Vor der Einübung: Längere Zeit vor seinen ersten bewußten Greif bewe-
gungen (0;5) spielt er in behaglicher Stimmung bereits mit seinen Händen.
Dabei kann man größere und kleinere Armbewegungen beobachten: Die
Händchen schnellen ab und zu auseinander und werden wieder zusammen¬
gebracht. Bei Unluststimmung kann dieses Spiel niemals beobachtet werden.
Einübung: An diese Spielbewegung, die er jetzt (26. 12.1919, 0;9 V<) noch
lebhafter ausführt als am Anfang, schließe ich die Einübung der Bittebewe¬
gung. Ich fasse seine Arme und führe sie mehrere Male gegeneinander, wo¬
bei sich die Handflächen berühren (Rhythmus x ^ A. ^). Dabei sage ich:
„Bitte bitte!“ (Ammenton, Rhythmus x^_i_<). Bald macht H. die Bewegung
auch allein, sobald Einstellung dazu da ist (ich brauche ihm nur das erste
Mal die Arme zu führen oder mein Töchterchen macht es ihm vor. 1 ) Auf
Aufforderung erfolgt die Bewegung nicht Erstes Verständnis (7.1.20 früh):
H. ist nach gesundem Schlaf erwacht. Ich fahre ihn in seinem Wagen
wie gewöhnlich nach seinem Erwachen und rufe ihm dann einige Male die
Aufforderung „mache bitte bitte!“ zü. Jetzt erfolgt die erste Verständnis¬
bewegung. Weitere Beobachtung der Verständnisbewegung: In den folgenden
Tagen achte ich besonders auf die Art der Ausführung der Verständnis¬
bewegung. Bei den zweimal täglich vorgenommenen Versuchen rufe ich H.
stets den vollen Sprachkomplex „Mache bitte bitte!“ zu. Daraufhin wird die
Verständnisbewegung gut, mittelmäßig, flüchtig, andeutungsweise oder gar
nicht ausgeführt. Gut ausgeführt nenne ich die Bewegung dann, wenn sie
mehrere Male lebhaft und kräftig gemacht wird, wenn dabei die Armmuskeln
angespannt, die Handflächen richtig geöffnet sind und Gesichtszüge und Blicke
einen lebhaften, interessevollen, freudigen Ausdruck zeigen. Bei mittelmäßiger
Ausführung tritt die Verständnisbewegung einmal, höchstens zweimal und
dazu etwas matter auf, Blick und Gesichtszügen fehlt der oben erwähnte Aus¬
druck. In der flüchtigen Verständnisbewegung berühren sich die Hände an
den Fingerspitzen nur einmal und flüchtig oder werden gar nur einander
genähert. Hierbei merkt man am Blick und Gesichtsausdruck, daß H. die
Bewegung nicht machen will, daß er keine Lust dazu hat. Dieses Nicht¬
machenwollen kommt in der andeutungsweisen VerständniBbewegung noch
deutlicher zum Ausdruck. Arme und Hände bleiben in ihrer Lage, z. B. auf
dem Deckbett. Man kann aber ein kurzes Aufspreizen der Finger, eine
kurze zuckartige Streckbewegung der Arme beobachten. Die Verständnis¬
bewegung bleibt aus: erstens bei starker Unlust. So gibt er am 8.1. durch
Schreien, Sichwinden seine Unlust zu erkennen, weil er seine vor ihm stehende
Flasche nicht sofort erhält, und am 14. 1. macht er sich steif, zieht am Deck¬
bett und laUt ärgerlich, weil er aus dem Wagen herausgenommen werden
wiU. In beiden Fäüen macht er auf Aufforderung keine Bittebewegung.
Zweitens bei Müdigkeit. Am 9. 1. liegt er träge und verträumt nach dem
Badeschlafe im Wagen. H. macht keine Verständnisbewegung. Drittens bei
Bewegungen, die sein ganzes Interesse in Anspruch nehmen. Am 14.1. sitzt
er behaglich in seinem Stühlchen und tastet und patscht ganz vertieft auf
dem vor ihm befestigten Brett herum. Die Bittebewegung wird auf Auf-
*) Die erste Nachahmung einer Bewegung — Schlagen mit rechter Hand auf den Tisch —
erfolgte am 20.12. 19.
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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 277
forderung nicht gemacht Die letztere Art des Versagens in bezug auf die
Verständnisbewegung tritt nicht häufig auf, da er gewöhnlich auf Vorgänge
in seiner Umgebung sehr achtet. Unlust und Müdigkeit treten in den mei¬
sten Fällen zusammen auf: große Müdigkeit verursacht Unlust. Das zeigt
sich namentlich vor seinem täglichen Bade am späten Vormittag. Unlust ist
also die Hauptursache des Ausbleibens der Verständnisbewegung. Die Be¬
dingung für die gute Ausführung ist die gegenteilige Gefühlslage: zufriedene,
behagliche, freudige Stimmung. Sie tritt am häufigsten am frühen Morgen
nach ruhigem Schlaf und während oder kurz nach der Mahlzeit auf. Zwischen
beiden extremen Gefühlslagen liegen die verschiedenen Stimmungsabstufungen,
die eine mittelmäßige, flüchtige und andeutungsweise Ausführung der Ver¬
ständnisbewegung verursachen. Weitere Versuche zeigen die Wirkung von
Hilfssinneseindrücken auf das Ausführen der Bittebewegung. Im Anschluß
an den Versuch am 9. 1., der das Nichtauftreten der Verständnisbewegung
bei Müdigkeit zeigt, lasse ich H.s Hände sich berühren und sage dabei die
Aufforderung. Er macht die Bewegung gut. Nach dem Versuch am 14. 1.,
bei dem sich bei voller Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit keine Ver¬
ständnisbewegung zeigt, fasse ich H.s Arme an der Stelle an, wo ich sie bei
der Einübung gewöhnlich hielt; — Arme und Hände bleiben aber in der vor¬
herigen Lage — indem ich dazu „mache bitte bitte!“ sage. Er macht die
Bewegung. Am 18.1. erfolgt auf acht Aufforderungen keine Reaktion (Müdig¬
keit nach dem Bade). Die Bittebewegung zeigt sich, als mein Töchterchen
sie Vormacht und ich ihn dabei auffordere. Die beiden ersten Hilfssinnes¬
eindrücke lösen aber für sich nicht die Reaktion aus. Dagegen erfolgt sie
auf Vormachen ohne den lautlichen Gehörseindruck. Bei Unlust wirken auch
die Hilfssinneseindrücke nicht. Ärgerlich wehrt er sich gegen Hilfen. Nach¬
dem ich festgestellt habe, daß in zufriedener, behaglicher Stimmung die Ver¬
ständnisbewegung auftritt, kann ich Versuche machen, in denen der laut¬
liche Gehörseindruck nach bestimmten Gesichtspunkten geändert wird.
a) Zuerst (26. 1.) wird in der Aufforderung das Wort „mache“ weggelassen.
H. macht die Verständnisbewegung in guter Ausführung, b) Die Aufforde¬
rung „bitte bitte“ wird im „gewöhnlichen Sprechton“ gegeben. Am 17. 1.
zeigt sich daraufhin keine Verständnisbewegung. Am 27. 1. wird der Ver¬
such wiederholt. Jetzt tritt sie auf. c) Ich fordere H. mit einem dem „bitte
bitte“ ähnlich klingenden Sprachkomplex („kippe kippe“) im Ammenton auf.
Er macht die Bewegung (28. 1. vormittags), d) Die Melodie und der Rhyth¬
mus des Sprachkomplexes werden auf lä la lä la gegeben. Die Verständnis¬
bewegung zeigt sich nicht (28. 1. nachmittags).
3. „Wo ist die Ticktack?“
Vor der Einübung: Der Versuch sollte ursprünglich nach dem Vorbilde
Lindners u. a. mit einer Wanduhr ausgeführt werden. Zu diesem Zwecke
wird unsere Wanduhr (75 cm lang und 30 cm breit, das mattsilberne Ziffer¬
blatt und Pendel heben sich deutlich von dem dunklen Gehäuse ab) am
20.12. 19 aus dem Eßzimmer, wo H. seinen Badeschlaf im Sommer hielt,
in das er aber seit drei Monaten der Kälte wegen nicht mehr gekommen ist,
ins Wohnzimmer gebracht und gegenüber dem gewöhnlichen Standort von
H.s Wagen (2 1 /2 m entfernt) an der Wand aufgehängt. An den folgenden
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Paul Schäfer
Tagen kann ich ohne jede Einwirkung meinerseits auf ihn beobachten, daß
sowohl der Gegenstand als auch das Ticktackgeräusch kein besonderes Inter¬
esse in ihm erregen. Die ersten Tage sieht er ab und zu flüchtig hin. Der
einzige lustbetonte von der Uhr ausgehende Eindruck wird durch ihren schönen
vollen Klang hervorgerufen. Bei ihrem Schlagen sieht er mich an und lacht
Erst einige Tage nach dem 26.12. sucht er ab und zu die Schallquelle beim
Klange auf. Vom 3. 1. an führe ich den Versuch mit einem 25 cm hohen
Metronom durch, welches das Ticktackgeräusch mit gleichem Zeitintervall wie
die Uhr, aber etwas lauter, erzeugt. Ich stelle es am erwähnten Tage auf
den Tisch, 1 */a m halblinks von H.s Wagen entfernt, und setze es in Gang.
Er zeigt dafür größeres Interesse als für die Wanduhr. Als ich es auf den
Tisch gestellt habe, sieht er sofort hin (ungefähr 20 Sek.) und lacht einige
Male laut „häj“. Er blickt kurz auf mich, darauf wieder 20 Sekunden auf
das Metronom. Ich kann ein deutliches Hinundherhewegen des Augapfels,
ein Verfolgen des Metronompendels feststellen. H. schwingt seinen Ober¬
körper vor und zurück und „kräht“ dazu (beides Ausdrücke der Freude).
Einübung: Am Nachmittage des gleichen Tages sage ich im Rhythmus des
tickenden Metronoms zwei Minuten lang „Ticktack“. Schon bei dieser ersten
Einübung ist eine Blickrichtungsreaktion zu beobachten. H. sieht zunächst
ungefähr 25 Sekunden hin, dann wendet er sich ab. Als ich mit Ticktack¬
sagen aufhöre, horcht er und sieht wieder hin. Einige Kontrollversuche
zeigen die gleiche Tatsache. Die Blickrichtungsreaktion kann nur darin ihre
Ursache haben, daß, wenn das Ticktackgeräusch mit dem Sprachlaute nicht
mehr zusammenklingt, es als stärkerer Reiz H.s Aufmerksamkeit auf sich
lenkt. Am 4. 1. stelle ich zunächst fest, ob H. etwa durch die gestrige Ein¬
übung schon das „Verständnis“ des Wortes Ticktack erlangt hat, indem ich
am tickenden Metronom dreimal frage: „Wo ist die Ticktack?“ (Ammenton).
Die Verständnisbewegung bleibt aus. Darauf mache ich mehrere Versuche, in
denen ich je fünfmal „Ticktack“ im Rhythmus des tickenden Metronoms sage.
Ich beobachte die Blickrichtungsreaktion dreimal nach dem vierten Male,
zweimal nach dem fünften Male und einmal nach dem zweiten Male Sagen.
Diese Art des „Verständnisses“ beleuchten folgende zwei Kontrollversuche.
Erstens poche ich mehrere Male in gleichem Rhythmus je fünfmal mit dem
Finger kräftig auf einen Holzstuhl: H. sieht auf das Metronom dreimal nach
dem ersten Male, zweimal nach dem zweiten Male und einmal nach dem
vierten Male Doppelpochen. Zweitens mache ich den gleichen Versuch mit
dem Anschlägen des eingestrichenen d auf dem Klavier. H. blickt auf das
Metronom viermal nach dem zweiten Mal und je einmal nach dem dritten
und vierten Mal Doppelanschlagen. Diese Versuche, bei denen das Metronom
selbstverständlich tickte, zeigen, daß der gleiche Rhythmus die Beobachtungs¬
reaktion auslöst. In den folgenden Tagen wird die Einübung zweimal täg¬
lich fortgesetzt, nachdem jedesmal vorher das Verständnis durch die Frage
„Wo ist die Ticktack?“ geprüft worden ist. Dabei ist zu beobachten, daß
das große Interesse der ersten Tage am Metronom etwas schwächer geworden
ist, daß er nur ab und zu nach dem tickenden Metronom hinsieht. Sein
Verhalten ist dasselbe, wenn ich nicht ticktack sage. Um ihn bei der Ein¬
übung zum regelmäßigen Hinsehen zu veranlassen, zeige ich mit dem Finger.
Erstes Verständnis: Am 17. 1. zeigt sich zum ersten Male die Verständnis¬
bewegung, auf die Frage blickt H. nach dem Metronom (Kopf- und Augen-
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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 279
bewegung). Weitere Beobachtung der Verständnisbewegung: Bei Unlust,
Müdigkeit und Betätigungen, die sein ganzes Interesse in Anspruch nehmen,
ist die Verständnisbewegung flüchtiger, aber sie tritt im Gegensatz zu der
oben erwähnten Verständnisbewegung 1 ) doch in den meisten Fällen auf.
Über die Bedeutung des Ticktackgeräusches (Hilfssinneseindruck) für die
Auslösung der Blickrichtungsreaktion belehren uns folgende Versuche: Am
23. 1. erfolgte die Verständnisbewegung beim tickenden Metronom. Nach
kurzer Zeit mache ich den Versuch am nichttickenden Metronom. Die Ver¬
ständnisbewegung zeigt sich in gleicher Weise. Darauf stelle ich das tickende
Metronom auf einen anderen Tisch hinter ihm. Bei der Frage sieht H. auf
die alte Stelle. Dann zeige ich ihm das Metronom auf dem neuen Platze. Jetzt
blickt er bei der Frage aufs Metronom, ob es tickt oder nicht Folgende
Versuche zeigen die Wirkung des veränderten lautlichen Gehörseindrucks.
Am 26. 1. lasse ich „Wo ist die?“ in der Frage aus. Die Verständnis¬
bewegung erfolgt in der gleichen Art. Am 27. 1. sieht er auf das ähnlich
klingende Wort „kipkap“ nach dem Metronom. Ebenso erfolgt die Blick¬
richtungsreaktion auf lä la (gleiche Melodie und gleicher Rhythmus). Da¬
gegen unterbleibt sie auf la lä. 2 )
b) Nachprüfung des Verständnisses am 19. 2. und 19. 3.1920.
Vom 30. 1. an werden die eingeübten Sprachkomplexe außer „bittebitte“ 3 )
von uns nicht mehr erwähnt. H. bekommt auch während dieser Zeit das
Metronom, den Stoffhund und die Klapper nicht mehr zu sehen und ist
selten in dem Zimmer, wo sich der Bücherschrank und die Uhr befinden.
Wegen eines Schnupfens kann er auch selten gebadet werden. Die Ver¬
ständnisbewegungen zeigen sich am 19. 2. bei „Mache bitte bitte!“, „Mache
klapper klapper!“, „Wo ist die Ticktack?“, „Wo ist der Schrank?“, „Wo
ist das Guckelicht?“ Sie treten nicht auf bei „Mache pantsche pantschet“,
„Wo ist der Wauwau?“, „Wo ist die Bimbim?“ Bei der Darbietung des
letzten Komplexes macht er bei der ersten Frage eine flüchtige Bittebewe¬
gung. Die Sprachkomplexe werden im Ammenton und im gewöhnlichen
Sprechton gegeben. Am 19. 3. fehlen außer denen am 19. 2. noch die Ver¬
ständnisbewegungen bei „Wo ist der Schrank?“ und bei „Wo ist die Tick¬
tack?“, als das Metronom wohl auf dem Tische steht, aber nicht tickt. H.
sieht es vorher flüchtig an, scheint es aber nicht mehr zu kennen. Ich
lasse es dann ticken. H. sieht sofort hin und lauscht. Bald blickt er aber
wieder weg und will vom Schoß der Mutter herunter, um auf dem Fußboden
zu stehen. Ich frage: „Wo ist die Ticktack?“ Die Verständnisbewegung erfolgt.
II. Das Auftreten des Verständnisses von drei weiteren nicht absichtlich
eingeübten Sprachkomplexen.
1. „Wo ist die Flasche?“
H. hat bei einer ausgezeichneten Eßlust natürlich das größte Interesse an
der gefüllten Flasche. Sein Hungergeschrei sucht die Mutter gewöhnlich mit
*) Vgl. S. 28.
*) Die übrigen Protokolle können des beschränkten Raumes halber hier nicht wiedeigegeben
werden. Die ans ihnen hervorgehenden Folgerungen sollen aber im folgenden verwendet werden.
*) Vgl. die Entstehung der sprachlichen Bedeutung von Bittebitte.
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Paul Schäfer
den Worten: „Jetzt kommt die Flasche!“ und „Da hast du die Flasche!“
etwas zu beschwichtigen. Am 20. 1. sagt sie mir, daß er die Frage „Wo
ist die Flasche?“ verstehe. Er macht, wie ich beobachten kann, aufsuchende
Bewegungen nach einem bestimmten Platze hin, wo die Flasche gewöhnlich
steht Weiter kann ich bemerken, daß sein Hungergeschrei sich bei den
Worten der Mutter einigermaßen beruhigt.
2. „Mache heizi!“
Mutter, Schwesterchen und Dienstmädchen haben ihren Kopf mit dem von
H. in Berührung gebracht und dabei „heizi“ gesagt. Kurz vor dem 1. 3.1920
bringt H. auf die Aufforderung „Mache heizi!“ seinen Kopf an den der
sprechenden Person.
3. Mache kribbel krabbel!“
H. ist manchmal leicht gekitzelt worden, wobei „kribbel krabbel“ gesagt
wurde. Am 6. 3. macht er die Bewegung selbst mit und wiederholt sie auf
die Aufforderung „Mache kribbel krabbel!“ Nach einigen Tagen sagt er
lächelnd die Lautverbindung „grrr . . .“ (Gaumenlaute) dazu.*)
m. Die Entstehung der sprachlichen Bedeutung von Bittebitte (des Wflnschens,
Verlangens, Habenwollens) im kindlichen Bewußtsein.
In einer zweiten Beobachtungs- und Versuchsreihe (vom 3. 2. bis 24. 3.) stellte
ich die Entwicklung des besonderen Sinnes von Bittebitte, des Wünschens,
Verlangens, Habenwollens bei H. fest. Bis zum 3. 2. ist der Bitteausdruck
eine Verständnisbewegung ohne diese besondere Bedeutung, ohne dieses
Meinen. Versuch: H. zeigt, sobald er eine Semmel sieht, großes Verlangen,
sie mit seinen Händen zu fassen und zum Munde zu führen. Wird ihm sein
Wunsch nicht sofort erfüllt, so verstärkt sich der Ausdruck seines Haben¬
wollens. Es verhält sich dann ähnlich wie bei der vor ihm stehenden ge¬
füllten Flasche: Er windet sich, streckt die Arme nach der Semmel aus und
stößt ärgerliche Laute aus, die manchmal ins Weinen übergehen. Seine
Stimmung ist deutlich erkennbare Unlust. Am 3. 2. rufe ich ihm in einem
solchen Falle zu: „Mache Bittebitte!“ Er reagiert nicht darauf. Dann gebe
ich ihm die Semmel. Sein Gesichtsausdruck zeigt Befriedigung. Jetzt macht
er mit der Semmel in der Hand auf Aufforderung die Verständnisbewegung.
Hauptversuchsreihe: Einübung der Bittebewegung als Ausdruck des Ver¬
langens nach der Semmel. Vom 4. 2. an übe ich täglich dreimal, früh,
mittags und abends, die Bittebewegung in der Weise ein, daß die Semmel
entweder ihm vorgehalten oder — bei Führung seiner Arme — vor ihn
auf den Tisch gelegt wird. Dabei sage ich stets: „Bitte bitte!“ Am 6. 2.
macht er die Bittebewegung auf Vorhalten und Sagen noch nicht. Ich
lege die Semmel auf den Tisch, um seine Hände führen zu können. Schon
als sie auf dem Tisch liegt, macht er, ohne geführt zu werden, die Bewegung.
Am 7. 2. macht er die Bewegung auf Vorhalten und Sagen. An den folgen-
') Diesen Gaumenlautkomplex spricht er l;5'/ t spontan auch beim Zeigen und Hinblicken
nach dem Licht auf die Frage: „Wo ist das Guckelichtl?“ Die dem grrr ähnlichen Laute gkll
erinnern ihn wahrscheinlich an sein grrr. So kommt es zur Bezeichnung des Lichtes durch
seinen Lautkomplex grrr.
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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 281
den Tagen erfolgt die Bewegung beim Anblick der Semmel in irgendeiner
Lage und beim Erblicken vieler Semmeln. Dabei achte ich darauf, daß er
nach seiner Bewegung die Semmel stets erhält. In Beziehung auf andere
begehrte Gegenstände macht er die Bewegung nicht. Am 12. 2. vormittags
bekomme ich einen Brief. Ich lese ihn der Mutter, die H. auf dem
Schoß hat, vor. H. langt danach. Ich sage: „Ei ei ei der schöne Brief!“
(jl ^ ^ | ^ — Ammenton). Darauf macht H. überraschenderweise
die Bittebewegung, worauf er den Brief erhält. Von jetzt ab macht er
auch beim Vorhalten einiger begehrter Gegenstände die Bewegung (ohne
Sagen). Am 15. 2. will er eine Blechschachtel haben, die auf dem Tische
liegt. Die Bittebewegung zeigt sich nicht. Ich halte ihm den Gegen¬
stand hin. Sofort macht er die Bittebewegung. Das gleiche Verhalten zeigt
er am selben Tage beim Anblick einer Schnur. Am 18. 2. lese ich in einem
mit der Hand hochgehaltenen Buch. H. macht „bitte bitte!“, indem er darauf
sieht. Am Nachmittag hatte ich den Hut auf, mit dem er manchmal gerne
spielt Bei seinem Anblick macht er die Bittebewegung. Er zeigt eine befriedigte
Miene, als er ihn bekommt. Am 19. 2. wirft er Spielzeug aus dem Wagen
und macht dann „bitte, bitte“, indem er ihm nachsieht. An den folgenden
Tagen führt er die Bittebewegung öfter aus, ohne daß man weiß, was er
will. So z. B. nach dem Schlaf, wenn jemand an sein Bettchen tritt. Er
ist befriedigt, sobald er herausgenommen wird oder die Flasche oder das
Spielzeug bekommt. Am 23. 2. macht er beim Tragen die Bewegung, wenn
er vom Dienstmädchen zur Mutter oder zu mir will. Am folgenden Tage
zeigt er, als er getragen wird, die Bewegung beim Anblick eines fremden
Besuchers. H. ist befriedigt, als dieser ihn auf den Arm nimmt. l ) Die feste
Assoziation zwischen Bewegung und lautlichem Gehörseindruck und dessen
große Wirksamkeit in bezug auf Auflösung der Bewegung zeigt folgende
Tatsache: Ich sage zur Mutter im gewöhnlichen Sprechton und im Zu¬
sammenhang unserer Unterhaltung: „Er macht jetzt immer Bittebitte“. So
fort macht H. die Bewegung. Aufzeichnung der Bittebewegungen am 25. 2.,
10. 3. und 24. 3.: H. wendet den Bitteausdruck derartig oft an, daß die
Protokolle zu umfangreich sind, um hier wiedergegeben werden zu können.
Es werden alle Bittebewegungen, die unter gleichen Bedingungen erfolgen,
hier nur einmal aufge^chnet. H. macht am 25. 2. „bitte bitte“ (er erwacht
7,45 Uhr), als die Mutter an sein Bettchen kommt, als sie ihn zu mir hin¬
bringt, als sie nach zehn Minuten wieder zur Tür hereinkommt, als er 8,30 Uhr
seine gefüllte Flasche sieht, als die Flasche leer ist, als sie ihm weggenommen
wird (er bekommt sie daraufhin wieder), als er mein Geldtäschchen in meiner
Hand sieht (vor dieser Bittebewegung .schiebt er die Flasche von sich), als
er mir beim Lösen des Knotens einer Schnur zusieht, als er meine Kopf¬
wasserflasche in meiner Hand sieht, als ihm die Bauklötzchen weggenommen
werden (er hat an einem geleckt), als er 1 Uhr nach dem Badeschlafe im
Wagen liegend nach dem Vorhang langt, den er nicht erreichen kann
(dabei weiß er nicht, daß jemand im Zimmer ist, ich beobachte ihn unbe¬
merkt), als er mich 3,30 Uhr mit dem Hute sieht, als ich 5,45 Uhr zu ihm
komme und ihm Spielzeug gebe (er schiebt dieses beiseite und macht die
Bittebewegung), als ich ihn umhertrage und mich mit ihm hinsetze (er ist
‘) Im ersten Halbjahre zeigte er Furcht vor Fremden, die sich ihm nähern.^
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Paul Schäler
befriedigt, als ich aufstehe und wieder umhergehe), als ich vom Spiegel, in
den wir beide hineingeblickt haben, weggehe, als ihn die Mutter zum Schlafen¬
gehen holt, indem er wieder zu mir will. Am 10. 3. und 24. 3. erfolgen
ähnlich viele Bittebewegungen. Ich hebe nur die heraus, die unter anderen
Bedingungen erfolgen. H. hat im Wagen geschlafen (10. 3.) und ist 5,45
Uhr erwacht. Er macht die Bittebewegung, als er zehn Minuten „genörgelt“
und sich niemand seinem Wagen genähert hat (er richtet sich dazu in
sitzende Stellung auf und blickt sich suchend um), als ich ihn zur Tfir hin¬
trage, indem er auf diese blickt, als er mit der Puppe spielt und ich ihm
einen Löffel zeige (er schiebt die Puppe beiseite), als er den Schlüsselbund
am Wäscheschrank stecken sieht, als ich mit ihm vom Fenster weggehe,
durch das wir das Leben und Treiben auf der Straße beobachtet haben. Am
24. 3.: als ich — H. steht, sich am Gitter festhaltend, in seinem Bettchen;
ich habe ihm, auf einem Stuhl daneben sitzend, längere Zeit zugesehen —
vom Stuhl aufstehe, als sein Schüsselchen mit Brei vor ihm auf den Tisch
gesetzt wird, als ich vom Ofen weggehe, den er mit seinem rechten Händchen
abgeklatscht hat.
Das Ergebnis der Beobachtungen und Versuche.
Die vor der Einübung der neun Sprachkomplexe sich zeigende Wirkung
der menschlichen Rede auf H. ist kein Sprachverständnis. Der beruhigende
Effekt der Worte der Mutter ist an die liebevolle, begütigende Art des
Sprechens geknüpft; denn dabei können die allerverschiedensten Worte
gebraucht werden. Auf die einzelnen Sprachkomplexe kommt es auch nicht
an, wenn H. den Sprechenden mit den Augen aufsucht. Diese Ausdrucks¬
bewegung ist zu beobachten, wenn er plötzlich recht lautes Reden hört
(auch bei anderen lauten Geräuschen sucht er die Schallquelle zu entdecken),
oder wenn er plötzlich die Stimme einer Person vernimmt, die bis dahin
noch nicht gesprochen hat (Unterscheidung der Klangfarbe). H. erlangt erst
eine gewisse Art von Sprachverständnis auf Grund einer absichtlichen
systematischen Einübung von neun Sprachkomplexen (Beginn 0;9) und einer
nicht absichtlichen Einübung von drei weiteren Sprachkomplexen. Ferner
lernt er die sprachliche Bedeutung des Bitteausdruqg} verstehen.
I. Die Verständnisbewegungen.
Die durch sprachliche Einwirkung ausgelösten Ausdrucksbewegungen (Ver¬
ständnisbewegungen) sind in bezug auf ihre Ausführung zweifacher Art:
erstens bestimmte eingeübte Bewegungen (Dressurleistungen), zweitens Blick¬
reaktionen (Kopf- und Körperdrehung) nach benannten Gegenständen. In
ihrem Auftreten zeigt sich ein bedeutsamer Unterschied. Die erstere Art
wird in bezug auf ihr Auftreten stark von Unlust, Müdigkeit und Beschäfti¬
gungen, die H.s Interesse stark in Anspruch nehmen, beeinflußt. Daß H.
aber dabei die Sprachkomplexe auffaßt, beweist die andeutungsweise aus¬
geführte Bittebewegung und sein Verhalten in den erwähnten Bewußtseins¬
lagen bei Benennung der bekannten Gegenstände. Die Blickreaktionen er¬
folgen hier fast immer, allerdings ohne Kopf- und Körperdrehung und
manchmal äußerst flüchtig.
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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Kntwicklungsperiode usw. 283
Es mag sein, dafi sie leichter und bequemer auszufahren sind. Die Blickrich-
tuugsreaktionen treten auch zeitlich bedeutend früher in der kindlichen Ent¬
wicklung auf. Lindner stellte sie auf einer Entwicklungsstufe fest, wo das Kind
noch nicht fähig ist, irgendwelche Dressurleistungen zu erlernen. Meumanns *)
Meinung, dafi „ein etwas höheres Stadium des Sprachverständnisses“ als bei
den Blickrichtungsreaktionen vorliegt, „wenn das Kind auf Aufforderungen
und Befehle. des Erwachsenen mit den entsprechenden Bewegungen reagiert“,
ist nicht richtig. Es ist ferner immer die gleiche Bewegung, wenn
auch nach verschiedenen Richtungen hin. Endlich ist sie von frühester
Entwicklungszeit eingeübt: Das Kind richtet stets seine Aufmerksamkeit auf
das Interessante. 2 ) Im Gegensatz dazu werden die eigentlichen Dressur¬
bewegungen — und zwar unter starker Beteiligung von Gefühl und Willen
— besonders eingeübt. Selbstverständlich ist auch bei den Benennungs-
Übungen das Gefühl beteiligt, aber hier scheint die intellektuelle Seite des
Interesses am Gegenstände mehr hervorzutreten. Es ergibt sich aus allen
den Tatsachen eine größere Unabhängigkeit von Gefühl und Willen im Auf¬
treten der Blickreaktion gegenüber der eigentlichen Dressurbewegung. Man
ist demnach wohl berechtigt, die Blickrichtungsreaktionen als von unwill¬
kürlicher Art zu charakterisieren. In bezug auf die bei ihrer Auslösung
hervortretenden intellektuellen Ursachen können wir die Verständnisbewe¬
gungen in 1. scheinbare, 2. solche, die auf Grund von besonderen Ein¬
stellungen entstehen, und 8. reine einteilen. Die scheinbare Verständnis¬
bewegung: Ehe der sprachlautliche Gehörseindruck dem Kinde etwas
„leistet“, werden sehr oft Ausdrucksbewegungen, die auf Grund von Hilfs-
sinneseindrücken entstehen, für Verständnisbewegungen gehalten. Dieses
scheinbare Sprachverständnis wird deshalb für wirkliches angesehen, weil
die Wirkung der Hilfssinneseindrücke, die sehr oft unbemerkt bei der Dar¬
bietung der Sprachkomplexe auftreten, kritiklos den letzteren zugeschrieben
wird. Besonders auffällig machen sich die Hilfssinneseindrücke im Pantsche¬
beispiel, wo zuerst jedes geringste Plätschern im Wasser die eingeübte Be¬
wegung eher .auslöst als der eindrucksvollst gesprochene Sprachkomplex.
Äußerst wichtig ist in dieser Hinsicht eine scharfe Trennung der Wirkung
des Ticktackgeräusches von der des sprachlautlichen Gehörseindrucks. Zuerst
löst nur ersteres die Blickrichtungsreaktion aus. Die Verständnisbewegung
auf Grund von besonderer Einstellung: Diese Art ist kurz vor dem ersten
Verständnis des betreffenden Komplexes zu beobachten. In jedem der Bei¬
spiele wird durch die Einübung — falls sie schon weit vorgeschritten — eine
besondere Bewufitseinseinstellung (frische Gedächtnisspuren, die Tendenz, den
lusterzeugenden Vorgang zu wiederholen usw.) erzeugt, welche die erste
Leistung des sprachlautlichen Gehörseindrucks ermöglicht. Beim Eigreifen
der Klapper tritt die Tendenz zur Ausführung der Bewegung mit auf. Ähn¬
lich ist es, wenn H. ins Bad gesetzt wird, wenn er kurz vor dem Versuch
auf die Uhr, das elektrische Licht, das Metronom, den Hund geblickt hat,
wenn sich beim Hinstellen von H.s Wagen an den Schrank sofort die Auf¬
merksamkeit des Kindes auf diesen richtet. Die reine Verständnisbewegung:
Wenn der sprachliche Gehörseindruck für sich selbst und ohne Mithilfe einer
') Meumann, E., Die Entstehung. S. 24.
*) Stern, W., Psychologie der frühen Kindheit. S. 59fg.
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284
Paul Schäler
besonderen Einstellung die Ausdrucksbewegung auslöst, dann kann diese als
erste reine Verständnisbewegung aufgefaßt und damit das erste Sprachver¬
ständnis festgestellt werden.
n. Das Sprachverständnis.
a) Das Schallstttck, das die Verständnlsbewegang auslöst. '
Für uns Erwachsene *) tritt der Sinn der Sprachkomplexe (der Aufforderungs¬
und Fragesätze) derartig in den Vordergrund, daß man fast darüber vergißt,
daß bei' ihrem Auffassen durch ein Kind auf der Entwicklungsstufe von H.
allein ihre phonetische Beschaffenheit in Frage kommen kann. 2 ) Dabei darf
man nun allerdings nicht nur an die „Töne und Geräusche des Wortes“
denken. 3 ) Schon der Versuch Tappolets, 4 ) wo die gleiche kindliche Ver¬
ständnisbewegung auftrat, oh die Frage: „Wo ist das Fenster?“ deutsch oder
französisch gesprochen wurde, wies die Kinderpsychologen darauf hin, daß
noch ganz andere phonetische Merkmale in Betracht kommen. An welche
phonetischen Elemente der Sprechtakte sind die Verständnisbewegungen ge¬
knüpft? In der Einübung — ob absichtlich oder nicht absichtlich — werden
nur die phonetisch ausgezeichneten Elemente der Sprachkomplexe gegeben,-
entweder nur die Starksilben für sich (Bauz, Schrank) oder die durch be¬
sondere phonetische Elemente zu einem in sich abgeschlossenen größeren
Komplex erweiterten Starksilben (Ticktack, Flasche, Bimbim, Wauwau, Gucke-
lichtl, Kribbel-krabbel, Bittebitte, Pantsche-pantsche, Klapper-klapper), oder
es wird bei der Prüfung des Verständnisses (dreimal) (Nebeneinübung) vor
jeder neuen Haupteinübung der ganze Sprechtakt dargeboten. Im letzteren
Falle treten die nebentonigen Satzelemente („Mache“ und „Wo ist der [die]“)
fast ganz zurück. Zeigt schon diese Überlegung, daß nur die phonetisch aus¬
gezeichneten Elemente der Sprechtakte für die Auslösung der Verständnis¬
bewegungen bedeutsam sein können, so wird diese Tatsache auch durch
Versuche bestätigt: Es zeigt sich bei einer Darbietung des ganzen Sprech¬
taktes oder nur seiner hervortretenden Elemente nicht der geringste Unter¬
schied in bezug auf die Verständnisbewegung. Mag nun auch bei andern
Kindern die mehr oder weniger absichtliche Einübung der ersten Verständnis¬
bewegungen in einer andern Weise erfolgen, darin gleichen sich jedenfalls
alle, daß die Sprechtakte — wenn auch schon von Anfang an nur immer
Aufforderungs- und Fragesätze gegeben werden — mit dem Bemühen ge¬
sprochen werden, bestimmte Teile phonetisch besonders hervortreten zu lassen
*) Natürlich gilt das auch für die Kinder und Jugendlichen, die entwickeltes Sprachverständnis
haben.
*) Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, erklärt sich auch die eigentümliche Tatsache,
daß ein solches Kind im Vergleich zum Erwachsenen Schallzusammenhänge, die von laut reden¬
den Personen von der Straße oder von anderen Zimmern her zu ihm hintönen, mehr beachtet
als der Erwachsene. Dessen Aufmerksamkeit ist in dieser Hinsicht stets auf den Sinn gerichtet.
Er beachtet Sprachklänge nicht, deren Sinn er nicht verstehen kann.
3 ) W. Oltuscewsky sagt in seiner Abhandlung „Die geistige und sprachliche Entwicklung des
Kindes“ Berlin 1897, S. 31: „Die hörbare menschliche Sprache besteht aus Tönen (Vokalen) und
Geräuschen (Konsonanten), welche einen Klang haben oder klanglos sind. 11
4 ) Mitgeteilt von Meumann, Die Entstehung usw., S. 35.
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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 285
(Ammenton), und mit ihnen verknüpft sich die Ausdrucksbewegung. Nur sie
werden also vom Kinde „verstanden"; die übrigen Satzteile haben für das
Auftreten der Verständnisbewegung keine Bedeutung; sie werden nur vom
Sprechenden kritiklos für das kindliche Verständnis für notwendig gehalten.
Vergleichen wir die Schallstücke, die zuerst Träger des Verständnisses in
unseren Komplexen sind, in bezug auf ihre phonetischen Eigentümlichkeiten,
so erkennen wir Unterschiede, die nicht ohne Einfluß auf ihre Eindrucks¬
fähigkeit auf das Kind sein können. Gegensätze bilden in dieser Hinsicht
die Einsilber Bauz und Schrank und die Zweisilber Heizi und Flasche. Der
Unterschied in der Einübungszeit bei Bauz und Schrank ist ein ganz be¬
deutender, und wenn auch die Ursache des Zeitunterschiedes in anderen
Momenten, z. B. in der verschiedenen Dauer in der Erlernung der Bewegung
(Einübung des Lautkomplexes und der Bewegung konnte nicht getrennt
durchgeführt werden) mit gefunden werden kann, so ist doch wohl der
ausdrucksvollere Stimmlaut in Bauz das wesentlichere, wenn nicht das
hauptsächlichste Moment. Ähnliches können wir bei den nicht absichtlich
eingeübten Sprachkomplexen Heizi und Flasche beobachten. „Flasche" ist
lange vor dem Verständnis regelmäßig bei H.s Mahlzeiten gesprochen
worden; bei „Heizi" sind es nur wenige Wochen, und außerdem zeigt sich
die Eindrucksfähigkeit von dem Stimmlaut dieses Wortes dadurch, daß H,
es zwei Tage nach seinem ersten Verständnis nachahmt. Im Vergleich von
Bauz und Wauwau bemerken wir beim letzteren außer dem eindrucksvollen
Stimmton ein zweites phonetisches Element, das die Eindrucksfähigkeit erhöht
(in einer Familie hörte ich bauz auch mit dem Rhythmus Bäuze bäuze), einen
besonderen Rhythmus - ^ (in mancher Kinderstube wird Wauwau w ±
gesprochen), der durch Wiederholung des betreffenden Wortes ermöglicht
wird. Wir finden nun zwar bei Wauwau wieder eine kürzere Einübungszeit
als bei Bauz, dürfen von ihr aus aber nicht ohne weiteres auf den Rhythmus
als Ursache schließen, da die anderen Bedingungen in bezug auf die zwei
Sprachkomplexe zu verschieden sind; z. B. wird Wauwau viel später als
Bauz eingeübt; es ist also die allgemeine Übung im Verstehen von Sprach¬
komplexen schon bedeutend weiter vorgeschritten. Dieses phonetische Ele¬
ment, den Rhythmus, finden wir aber jedenfalls auch in den anderen Sprach¬
komplexen, in den meisten künstlich ermöglicht durch Wiederholung des
betreffenden Wortes oder scharf ausgeprägt in besonders gebildeten Kinder¬
worten: Ticktack (gebildet in Nachahmung des Uhrpendelgeräusches), Gucke-
lichtl und Kribbel-krabbel. Diese phonetischen Besonderheiten der ersten
verstandenen „Wörter", der besondere Rhythmus, der ausdrucksvolle Stimm¬
laut und im ganzen ein besonderes Geeignetsein, den speziellen musi¬
kalischen Akzent des Ammentons zum Ausdruck zu bringen, unterscheiden
diese von den Wörtern der Umgangssprache, und mit feinem pädagogischen
Instinkt werden von Müttern, Geschwistern, Ammen usw. aus der Umgangs¬
sprache geeignete Wörter ausgewählt, Umbildungen oder Neubildungen ge¬
schaffen (Tradition der Kinderstube), um dem Kinde die schwierige Geistes¬
arbeit des ersten Spracherwerbs auf einer frühen Entwicklungsstufe zu
ermöglichen.
Als besonders geeignet zum Einüben auf dieser Entwicklungsstufe werden
die sogenannten Onomatopoetika (in unseren Beispielen haben Ticktack und
Wauwau diesen Charakter) empfunden. Tatsächlich zeigen sie besonders
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286
Paul Schäfer
ausgezeichnete phonetische Elemente. Es liegt der Gedanke nahe, daß die
Verständnisbewegungen an die herrortretenden phonetischen Elemente geknüpft
seien. Die Versuche mit der Darbietung des Rhythmus (und musikalischen
Akzents) auf la belehren uns in bezug auf die Alleinbedeutung dieses Ele¬
ments über das Gegenteil. Wenn bei dem Ticktackversuch die Ausdrucks¬
bewegung auf lä la erfolgt, so ist das nur ein Beweis für die hohe Bedeutung
des Ticktackgeräusches in bezug auf Auslösung der Verständnisbewegung;
beim Klapperversuch ist die Verständnisbewegung nur infolge der ganz be¬
sonderen Einstellung auf die Bewegung durch lä la lä la ausgelöst worden.
Auch an den ausdrucksvollen Stimmlaut allein ist die Verständnisbewegung
nicht geknüpft. Der Versuch Preyers 1 ), der die Auslösung der Ausdrucks¬
bewegung („Wie groß ist das Kind?“) schon beim Sprechen „oo“ feststellt,
beweist nicht das Gegenteil, sondern zeigt nur, daß bei fortgeschrittener
Entwicklung eine mechanische Einübung zwischen dem Stimmlaut und der
Bewegung leicht möglich ist. Daß aber auf der anderen Seite wiederum
beim „Verständnis“ die Wörter nicht deutlich aufgefaßt werden, zeigen die
Versuche mit dem ähnlich klingenden Worte und die Beobachtung über Ver¬
wechslung der Ausdrucksbewegungen durch das Kind. Wenn die Pantsche¬
bewegung bei im übrigen gleichen Bedingungen auf tanke tanke nicht er¬
folgt, so darf man wohl mit Recht auf die große Bedeutung der Lautver¬
bindung t mit stimmhaftem sch für das „Verständnis“ schließen. Bei der
hohen Bedeutung, die den phonetisch ausgezeichneten Elementen im Wort¬
zusammenhang zukommt, liegt die Frage nahe, ob die betreffenden Wörter
auch im gewöhnlichen Sprechton verstanden werden. Versuche mit dem
Bittesprachkomplex am 17. 1. und mit Pantsche pantsche am 18. 1. fallen
negativ aus. Bei einer zweiten Prüfung mit beiden Sprachkomplexen treten
die Verständnisbewegungen auf. Ebenso ist es der Fall bei den anschließen¬
den Versuchen mit den übrigen sieben Sprachkomplexen. Ein weiterer Fort¬
schritt ist es, wenn der Sprachkomplex aus der Unterhaltung der Personen
der Umgebung aufgefaßt wird. Eine zufällige Beobachtung eines derartigen
Verständnisses von Bittebitte mache ich am Ende der Einübung der sprach¬
lichen Bedeutung des Bitteausdrucks. 2 )
b) Assoziation und Dissoziation, Leistung des sprachlautlichen Gehörseindrucks, Dressur
Gedächtnis.
Das in unseren Beispielen sich zeigende Sprachverständnis beruht auf der,
Assoziation eines bestimmten von H. als undeutliche Gesamtform aufgefaßten
sprachlautlichen Gehörseindrucks mit der betreffenden eingeübten Bewegung
oder eines derartigen Gehörseindrucks mit dem Erinnerungsbilde (Komplex¬
qualität) von dem im Sprachkomplex gemeinten, das besondere Interesse des
Kindes erregenden Gegenstände. Den Assoziationen gehen „Dissoziationen“
voraus: 3 ) Das Kind ist fähig, aus seinem „wirren Gesamtzustand ein Einzel¬
phänomen herauszulösen, zu isolieren“. Am frühesten geschieht das ohne
Einwirkung der Erwachsenen mit den Eindrücken von Gegenständen, die
*) Preyer, W., Die Seele des Kindes. 8. Aufl. S. 289.
*) Vgl. Lindner, G., Ans dem Naturgarten. S. 82. Beobachtung über das Wort Napoleons*
butterbime.
*) Stern, W., Die Psychologie der frühen Kindheit. S. 59.
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Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode usw. 287
durch eine Eigenschaft besonders eindrucksfähig sind. Bei weiterer Ent¬
wicklung wird das Kind fähig, besondere Dressurbewegungen zu erlernen,
deren Bewufitseinskoirelate durch die Einübung eine besonders isolierte
Stellung erlangen. Schon in jener Entwicklungszeit, wo das Kind durch
seine länger auf einen Gegenstand gerichtete Aufmerksamkeit beweist, daß
es einen isolierten Eindruck hat, ist es auch fähig, einen mit besonderen
phonetischen Eigenschaften ausgestatteten Sprachkomplex isoliert aufzufassen.
Durch diese Dissoziationen ist die Voraussetzung für die Verknüpfung und
Verflechtung der betreffenden Bewußtseinsinhalte geschaffen. Sie vollzieht
sich, wenn die Inhalte im Bewußtsein gleichzeitig auf treten. Daß das Kind
genau so wie das Tier ganz besonders für derartige Erfahrungsassoziationen
befähigt ist, dafür lassen sich tausende von Beispielen aufzählen. Der Be¬
griff Assoziation ist dabei vorsichtig aufzufassen. Eine Andeutung in dieser
Hinsicht geben die Worte Thorndikes *): „The word association may cover
a multitude of essentially different processes, and when a writer attributes
anything that an animal may do to association, his Statement has only the
negative value of elimating reasoning . . . .“ Das Wort Assoziation deutet
dabei zugleich in sprachlicher Hinsicht den Zusammenhang an, in welchem
der sprachlautliche Gehörseindruck zu dem in ihm Gemeinten steht, kann
aber auch nicht annähernd das Verhältnis zwischen den beiden, wie es für
uns Erwachsene besteht, zum Ausdruck bringen. Dieses Bedeutungsverhält¬
nis auch nur in seinem kleinsten Anfang zu erfassen, ist für ein Kind auf
dieser Entwicklungsstufe ausgeschlossen. Hierbei kämen logische Funktionen
und Formen in Betracht, auf deren Fehlen man durch den Begriff Asso¬
ziation — Meumann spricht von „Assoziationen elementarster Art“ 2 ) —
gerade hinweisen will. In unseren Beispielen leistet der lautsprachliche
Gehörseindruck im Kinde etwas: erstens, er reproduziert den mit ihm assozi¬
ierten Bewußtseinsinhalt des in ihm Gemeinten; zweitens, er löst eine be¬
stimmte Ausdrucksbewegung aus, die entweder das äußere Korrelat des
reproduzierten Bewußtseinsinhaltes ist oder sich auf das transsubjektive
Korrelat des betreffenden Bewußtseinsinhaltes richtet. Die Festigkeit der
Verbindung zwischen Bewußtseinsinhalt und Ausdrucksbewegung beruht
jedenfalls nur auf mechanischer Einübung, so daß also der Begriff Dressur
nicht nur in bezug auf die Entstehung der Komplexbewegung der eigent¬
lichen 3 ) Dressurbewegung, sondern auch in bezug auf den Zusammenhang
der Blickreaktion mit dem betreffenden Bewußtseinsinhalt gebraucht
werden muß. Dann fallen die Blickreaktionen mit unter die Dressur¬
leistungen: Sie stellen Dressurleistungen in einem besonderen Sinne dar.
Neben der Fähigkeit der Assoziationsbildung, die zum Teil schon auf Ge¬
dächtniswirkungen beruht, kommt beim Sprachverständnis, wie es sich in
unseren Beispielen zeigt, das Gedächtnis in einer allgemeinen Form als Vor¬
aussetzung in Betracht, wie aus dem Sprachverständnis auf Grund von be¬
sonderen Einstellungen und aus dem Verschwinden fast aller Verständnis¬
bewegungen nach einer gewissen Zeit der Nichtübung hervorgeht.
s ) Thorndike, Animal Intelligence, New York 1911. S. 21..
*) Menmann, E., Die Entstehung usw. S. 23.
*) Ich bezeichne sie so, weil die Bewegung für sich selbst eine besondere Ablichtung, Dressur
erfordert.
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288 P- Schäfer, Beobachtungen and Versuche an einem Kinde in der EntwicklungBperiode usw.
c) Die Bedeutungen, der Sinn der kindliehen sprachlautlichen Gehörseindrficke.
Als. erste Bedeutungen, ersterSinn der kindlichen sprachlautlichen Gehörs¬
eindrücke sind die mit ihnen assoziierten Bewußtseinsinhalte aufzufassen. In
bezug auf die in einigen Sprachkomplexen gemeinten Gegenstände sind es deren
Erinnerungsbilder (mit ihnen ist als besonderes Bewußtseinserlebnis ein leb¬
haftes Interesse verknüpft), die den Sinn der betreffenden kindlichen sprach¬
lautlichen Gehörseindrücke darstellen. Die Wahrnehmung der gemeinten
Gegenstände scheint ähnlich undeutlich zu sein wie die Auffassung der
Worte. Es sind also nur primitive Erinnerungsbilder, in denen neben her¬
vortretenden Eigenschaften des Gegenstandes nicht zu diesem gehörige Ele¬
mente, z. B. die Ortsvorstellung, eine Rolle spielen, mit den sprachlautlichen
Eindrücken verknüpft. Man vergleiche hierzu den Ticktackversuch, wo das
tickende Metronom auf einem anderen Platz steht! Doch diese ganze Frage
der ersten kindlichen Komplexqualitäten bedarf einer eingehenden Unter¬
suchung für sich. Zu denken gibt in dieser Beziehung der Klapperversuch,
wo sich das Kind durch die hölzerne Streifen unterläge, die ihm anstelle der
Klapper in die Hand gegeben wird, nicht täuschen läßt, und jener Schrank¬
versuch, in welchem H. die Verständnisbewegung an der Tür genau so aus¬
führt wie am Schrank. Ein Fortschritt in der genaueren Auffassung der
gemeinten Gegenstände ist auch als Fortschritt des Sprachverständnisses auf¬
zufassen. Was als Bewußtseinsinhalt in bezug auf die eigentlichen Dressur¬
bewegungen anzunehmen ist, läßt sich äußerst schwer sagen. Ein Bewußt¬
seinskorrelat zu ihnen ist entschieden als vorhanden zu denken. Jeden¬
falls muß man sich hüten, die bestimmte sprachliche Bedeutung, die in
unseren Fällen z. B. der Heizi- oder Bitteausdruck für uns Erwachsene
hat („heizi“ ist Ausdruck der Zuneigung und „bitte“ der Ausdruck des
Wünschens, Verlangens, Habenwollens), schon im Kinde zu suchen.
H. muß erst diese sprachliche Bedeutung von Bittebitte — wie die Ver¬
suche beweisen — zur Dressurspielbewegung hinzulemen. Die Beob¬
achtungen darüber dürfen vielleicht — da sie die ersten über das Er¬
fassen einer bestimmen sprachlichen Bedeutung in der Entwicklungsperiode
des reinen Sprachverständnisses sind — als wesentlich bezeichnet werden.
Ihr Ergebnis soll kurz dargestellt werden. Nachdem durch Beobachtungen
in einem besonderen Vorversuch festgestellt worden ist, daß der Bitte¬
bewegung die sprachliche Bedeutung des Wünschens usw. vollständig
fehlt, lernt H. durch besondere Übung innerhalb einiger Tage die Beziehung
zwischen dem Ausdruck und dem Erlangen der begehrten Semmel und macht
in den folgenden Tagen die Bittebewegung, wenn er eine wahrgenommene
Semmel haben will. Er weiß noch nicht, daß er auch andere begehrte
Gegenstände durch diese Bewegung erhalten kann. Wahrscheinlich wird er
durch den zufällig in meiner Rede auftretenden, dem Bittesprachkomplex
ähnlichen Rhythmus — es darf vielleicht auch eine gewisse Einstellung auf
die Bittebewegung angenommen werden — veranlaßt, den Ausdruck in be¬
zug auf einen anderen begehrten Gegenstand kurz darauf auszuführen. Es
genügt ferner jetzt auch, begehrte Gegenstände in der bestimmten Stellung
wie bei der Einübung vor ihn hinzuhalten, um die Bittebewegung auszulösen.
Durch den immer eintretenden Erfolg wird er bestimmt, sein Haben wollen
eines Gegenstandes, später alle seine Wünsche — darunter sind auch solche,
die man nicht erraten kann — mit Ausführung der Bittebewegung zu äußern.
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Irene Kaufinan und Franz Schmidt, Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit usw. 289
d) Zusammenfassung.
Die Verständnisbewegungen, die auf Grund der Einübung von 12 Sprach-
komplexen auftreten, lassen Bich in Blickrichtungsreaktionen und eigentliche
Dressurbewegungen einteilen. Erstere werden unwillkürlicher ausgeführt als
letztere. Ausdrucksbewegungen, die infolge der Wirkung von Hilfssinnes¬
eindrücken entstehen,, können, falls dabei die Sprachkomplexe gegeben
werden, leicht als Verständnisbewegungen aufgefaßt werden. Kurz vor dem
ersten Sprachverständnis löst der sprachliche Gehörseindruck auf Grund
einer besonderen Einstellung schon die Verständnisbewegung aus. Nach
weiterer Übung tritt dann die reine Leistung des sprachlautlichen Gehörs¬
eindrucks auf. Eine Assoziation zwischen diesem und bestimmten anderen
Bewußtseinsinhalten — der Assoziation sind Dissoziationen vorausgegaugen —
bildet die Grundlage für das Sprachverständnis auf H.s Entwicklungsstufe.
Der sprachlautliche Gehörseindruck leistet dem Kinde insofern etwas, als er
jene Bewußtseinsinhalte reproduziert und eine bestimmte Ausdrucksbewegung
auslöst. Nicht nur die eigentliche Dressurbewegung, sondern auch die Blick¬
richtungsreaktion beruht — freilich in einem besonderen Sinne — auf Ab¬
richtung. Das Gedächtnis spielt bei allen diesen Vorgängen eine Hauptrolle.
Beim Sprachverständnis auf H.s Entwicklungsstufe zeigt sich der phonetisch
hervortretende Teil eines Sprechtaktes — und zwar in seiner vom Kinde
undeutlich aufgefaßten Gesamtform — mit den betreffenden Bewußtseins¬
elementen verknüpft Nach kurzer Zeit täglicher Übung werden die Sprach¬
komplexe auch im gewöhnlichen Sprechton verstanden. Als erste „Wort¬
bedeutung“, als erster Sinn der Sprachkomplexe sind die mit den Gehörs¬
eindrücken assoziierten Bewußtseinsinhalte aufzufassen: Bei den Blickrich¬
tungsreaktionen undeutliche Gesamtformen von Erinnerungsbildern, an denen
ein lebhaftes Interesse haftet: bei den eigentlichen Dressurbewegungen schwer
zu bestimmende Bewußtseinsinhalte. Sprachlautliche Bedeutungen, die für
uns Erwachsene — namentlich in Beziehung zu den Dressurbewegungen —
vorhanden sind, müssen vom Kinde erst besonders als Sinn der Ausdrucks¬
bewegungen hinzugelernt werden.
ZurPrüfungder rechnerischen De nkfähi gkeit im Schulkindes¬
alter von 9—12 Jahren.
Mitteilung aus dem königl.-ung. heilpädagogischen und psychologischen Laboratorium.
Leiter: Univ.-Prof. Dr. Paul Ranschburg.
Von Irene Kaufman und Franz Schmidt.
L Zur experimentellen Prüfung der Rechenfähigkeit hatte Ranschburg vor
etwa 17 Jahren ein Material aus 20 unbenannten Subtraktionen aus dem
Zehner-, später auch aus dem Zwanzigerzahlenkreise zusammengestellt. Die
mit diesem ständigen Test unternommenen Prüfungen bewiesen vollständig
die Verwendbarkeit und Verläßlichkeit der Methode bei der Feststellung der
Fälle der normalen und pathologischen Rechenschwäche. Die
individuelle Prüfung nahm ungefähr 3—4 Minuten in Anspruch. 1 ) Obwohl
VgL Ranschburg, Die Leseschwäche und Rechenschwäche der Schulkinder usw. Berlin.
Verlag J. Springer 1916.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 1®
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290
Irene Kaufmann und Franz Schmidt
nun die Werte der besseren Rechner den Durchschnitt überragten und ob¬
wohl insbesondere die Bestimmung der mittleren Dauer des Subtraktions¬
prozesses auch ziemlich feine individuelle Unterschiede der guten rechnerischen
Fähigkeit nachzuweisen geeignet schien, war die Methode zur Feststellung
des Grades der Rechenfähigkeit bei guten Rechnern im Alter von 9—12
Jahren nicht mehr ausreichend. Hierzu war. das Aufgabenmaterial
bereits viel zu leicht, so daß Umfangswerte von 100 Prozent durchaus keine
Vorzüglichkeit bedeuteten, ja selbst die mittlere Rechendauer von 1,0 Sekunde
nicht für rechnerische Hervorragenheit beweisend war. Auch zur Prüfung
der rechnerischen Unversehrtheit bei Erwachsenen erwies sich das Material
des Tests als zu leicht. Dieser Umstand veranlaßte Ranschburg dazu, daß
er diese Methode als eine vornehmlich zur Feststellung von Defekten geeig¬
nete Minimalmethode bezeichnete, gegenüber seiner im Kindes- und jugend¬
lichen Alter zur Feststellung der besonderen rechnerischen Begabung dienen¬
den neueren Maximalmethode, mit der wir uns in dieser Abhandlung be¬
schäftigen wollen.
Zu diesem Behufe hat Ranschburg anfangs kompliziertere arithmetische
Aufgaben benützt. Mit der methodischen Ausarbeitung seines neueren Tests
begann er aber erst — im Anschluß an sonstige Maximaltests der höheren
geistigen Vorgänge*) — in den letzten Jahren, als er eben für die Zwecke der
Maximalmethode nicht die Rechenfertigkeit, sondern die eigentliche rechnerische
Denkfähigkeit wählte.
Der Prüfungstest.
H. Der von Ranschburg zusammengestellte, ebenfalls absichtlich höchst
einfache Prüfungstest besteht aus vier Aufgaben aus dem Gebiet des Tausender¬
zahlenkreises, welche das geprüfte Kind innerhalb einer bestimmten Frist
zu lösen hat. Alle vier Aufgaben sind so zusammengestellt, daß der Schüler
gegen Ende der vierten Volksschulklasse im Besitze jener Wissenselemente
sein muß, welche zur Lösung dieser Aufgaben erforderlich sind. 2 ) Da aber
die Selbständigkeit des rechnerischen Denkens zu dieser Zeit W. Voigts
Untersuchungen nach 3 ) überhaupt nicht, Ranschburgs Annahme nach in der
Mehrzahl der Fälle weder psycho-phy Biologisch noch auch pädagogisch genügend
entwickelt ist, werden diese Aufgaben auf der Altersstufe von 9—12 Jahren,
vielleichtauch noch 1—2 weitere Jahre, vornehmlich zu einer Probe der
ihrer inneren, rechnerischen Anlage nach, speziell der rechnerischen Denk¬
fähigkeit nach, trotz ihrer Jugend schön gut entwickelten, d. h. der bezüglich
ihres Rechenvermögens Hervorragendsten.
Die Aufgaben sind — wie wir es später sehen werden — von ungleicher
Schwierigkeit Ihre spezifische Schwierigkeit wechselt aber mit der Alters¬
stufe und auch je nachdem wir die Erfassung und Lösung der Aufgabe schrift-
*) Ranschburg, Die hervorragend begabten Kinder und das Kindesalter der hervorragenden
Talente. Drei Vorträge in der Ungar. Gesellsch. f. Kinderforschung, A Gyermek, 1921, ungarisch.
Derselbe, Die Untersuchung der höheren geistigen Vorgänge an Gesunden und Kranken mittels
experimenteller Methoden. Vortr. in der neurol.-psychiatrischen Sektion des Ärztevereins zu
Budapest, 1920.
*) Bei uns in Ungarn ist die elementare Volksschule meist vierklassig, und die vierte ist die
abschließende, oberste Klasse, aus der die befähigteren und insbesondere die Kinder, speziell die
Knaben der besseren Stände wenn irgend möglich in die Mittelschule eintreten.
s ) Archiv f. gss. Pädagogik, I. Jahrg., Teil II, S. 129—197.
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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 291
lieh oder im Kopfe fordern. Die Beispiele A, B und D sind Aufgaben, bei
welchen hauptsächlich das richtige Auffassen derselben, gleichwie das ent¬
sprechende Zugreifen wichtig sind. Dies letztere gilt besonders für das vierte
Beispiel, welches eigentlich mehr eine sogenannte Vexieraufgabe ist und bei
welchem die Schwierigkeit nur in der großen Anhäufung des Stoffes besteht.
Wer aber diese Aufgabe D bloß ruhig durchliest, muß bemerken, daß sich
die Lösung aus den am Ende der Aufgabe befindlichen Daten sozusagen von
selbst ergibt. Die wirkliche Schwierigkeit ihrer Lösung entsteht beim Kopf¬
rechnen, wo die Lösung außer der geringen Inanspruchnahme der Denkfähig¬
keit hauptsächlich eine Frage der Auffassungsschwelle ist. Sie wurde ab¬
sichtlich gewählt, um eben auch die Bezwingung dieser Art der Schwierig¬
keiten, verursacht ausschließlich aus der Quantität des Stoffes, einer Prüfung
zu unterwerfen.
Die einzige, tatsächlich benannte Aufgabe C erfordert nebst einer gewissen
Vertrautheit mit den Größen des Metermaßes und im Rechnen mit runden
Bruchteilen der Tausend — 1000:20 — auch die Fähigkeit des Denkens in
Proportionen, das im Alter von 9—12 Jahren bloß bei denjenigen zur tat¬
sächlichen Fertigkeit wird, die eben rechnerisch vorzüglich veranlagt sind.
Der Test der rechnerischen Denkfähigkeit besteht nun aus fol¬
genden vier Aufgaben:
Aufgabe A: Welches ist die Zahl, zu der man 79 geben muß, um den fünften
Teil von 1000 zu erhalten?
Aufgabe B: Welches ist die Zahl, deren Dreifaches mit 10 multipliziert gleich
dem dreiviertel Teil von 1000 ist?
Aufgabe C: Wieviel Schritte lang ist ein Korridor, dessen Länge 10 m und
ein Zwanzigstel dieser Länge beträgt, wenn ein Schritt 75 cm lang ist?
Aufgabe D: Welches sind die zwei Zahlen, die zueinander addiert, noch
einmal soviel ergeben, als wenn wir die kleinere von der größeren sub¬
trahieren, und von denen die größere dreimal soviel ausmacht als die kleinere,
die kleinere aber der vierzigste Teil von 1000 ist?
Nebst dieser Aufgabenreihe steht uns ein gleichwertiger Paralleltest zur
Verfügung für den Fall, daß bei ein und demselben Kinde aus welchem
Grunde immer eine neuere Prüfung vorzunehmen ist.
Das Schülermaterial.
IQ. Nachdem Ranschburg im Frühjahr 1920 mit diesem neueren Prüfungs¬
test Vorversuche im Einzelversuch an durchschnittlichen, teils auch an
hervorragenden Kindern und an Erwachsenen, gleichwie an mehreren
Arten von Kranken vollzogen hatte, wurden wir mit der 'Aufgabe betraut,
die Verwendbarkeit des Tests zur Diagnose der Sonderbefähigung im
rechnerischen Denken innerhalb der Altersstufen von neun Jahren auf¬
wärts an einer größeren Anzahl normaler Kinder im Massenversuch zu er¬
proben. 1 ) Dies geschah denn auch in den Jahren 1920 und 1921 an insgesamt
*) Ursprünglich hatten wir auf Anregung Ranschburgs mit einem leichteren Test an
den 8;6—9;6 alten Schülern der dritten und mit dem oben mitgeteilten Test an denen der
vierten Volksschulklasse auch Untersuchungen über das Gedächtnis für Wortpaare mit ferner-
liegender logischer Verwandtschaft durchgeführt. (S. Kaufmans ausführliche Mitteilung in
A Gyermek, 1921, Heft 6-12 Bd. XV.)
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Irene Kaulman und Franz Schmidt
841 Schülern der Altersstufe 8;6—15;6 gegen oder knapp am Ende des Schul¬
jahres, bzw. bei einem geringen Teil zu Beginn desselben. Diese letzteren
wurden zu der eben absolvierten Klassenstufe gerechnet Im Nachfolgenden
wird aber bloß von denVersuchen der Altersstufe 9;6—12;6 die Rede sein,
da bloß innerhalb dieser für jede Stufe eine größere Anzahl, und zwar mehr als
je 200, insgesamt 781 Schüler mit dem nämlichen Test geprüft worden waren.
Sämtliche Untersuchungen wurden in den Vormittagsstunden nicht vor 9 und
keinesfalls nach 12 Uhr, d. h. weder in der ersten noch in der letzten Unter¬
richtsstunde vorgenommen.
Den Herrn Fach- bzw. Klassenschullehrern und Professoren, besonders auch
den Leitern der betreffenden Lehranstalten, Herrn Dr. G. v. Finäly, Direktor
des staatlichen Gymnasiums des VI. Bezirkes, den Herren Dr. B. Heller und
K. Wirth, Direktoren des israelit. Gymnasiums, ferner Herrn S. Birö, Direktor
der kommunalen Volksschule in der ßrsekutca, die uns die Durchführung
unserer Untersuchungen ermöglichten, sei hier herzlichst gedankt
Die Herren Lehrer und Mittelschulprofessoren waren so freundlich, die
Schulzensuren der geprüften Kinder im Rechnen, gleichwie in den übrigen
Lehrgegenständen abzugeben, bevor die Ergebnisse der Prüfungen mit dem
oben mitgeteilten Material ihnen Vorlagen.
Zweck der Untersuchung.
IV. Die Untersuchung bezweckte:
1. Die Erprobung der beschriebenen Aufgabenreihe im schriftlichen Massen-
versuch als Maximaltest zur Feststellung des Grades besonderer rechnerischer
Denkfähigkeit — HR=experimentell festgestellte hervorragende rechnerische
Denkfähigkeit.
Ein Test von derartiger Methode entspricht nur dann seinem Zwecke, wenn:
a) er nur einen ganz geringen Teil der Kinder als hervorragend auswählen
wird, da angenommen werden kann, daß die Sonderbegabung im Gebiete
des rechnerischen Denkens ebenso selten ist, wie überhaupt jede höhere
Leistungsfähigkeit;
b) die mittels dieser Methode als hervorragend erkannten Kinder auch der
Pädagoge unter die vorzüglich klassifizierten reiht oder — falls dies aus
Gründen anderer Natur, so z. B. wegen sonstiger Fehler des Schülers nicht
der Fall wäre — sie wenigstens als sehr gute Rechner anerkennt;
c) Kinder, welche im Laufe einer längeren Beobachtung in der Schule,
gegebenenfalls auch im Hause als wirklich hervorragend im rechnerischen
Denken anerkannt sind, den Test entsprechend den Bedingungen der Methode
oder unter noch strengeren Bedingungen tatsächlich bewältigen.
2. Ein weiteres Ziel der Untersuchung war die Klärung der von psycho¬
logisch-pädagogischem Gesichtspunkte so wichtigen Frage: wie sich die Scbul-
zensur aus Rechnen (PRZ => pädagogische Rechenzensur), gleichwie die Zensur
des allgemeinen Schulfortschrittes (PAZ = pädagogische allgemeine Zensur)
zu der auf Grundlage unseres Versuches sich ergebenden Leistung (ERZ =
experimentelle Rechenzensur) der Kinder verhält.
3. Schließlich ist die Frage zu beantworten, wie die hervorragenden Rechner
sich nach der Alters- und Klassenstufe (AS, KS), sowie nach dem
Geschlechte verteilen?
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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 293
Der Verlauf der Prüfung.
V. Die Prüfungen erfolgten gruppenweise. In jeder Gruppe nahmen 20
bis 40 Kinder teil, gewöhnlich eine ganze Klasse, wobei wir ein ganz be¬
sonderes Augenmerk darauf legten, daß die Kinder selbständig arbeiten und
nichts voneinander abschreiben können. Wir sagten zu den Kindern:
„Paßt gut auf, ich will euch eine Rechenaufgabe vorlesen. Vielleicht
wird sie euch schwer erscheinen, wer aber gut acht gibt und ein wenig
nachdenkt, der wird sie lösen können. Jetzt lese ich euch das Beispiel vor,
nachher lest ihr es selbst Ihr habt ja das Papierblatt, wo das Beispiel
aufgeschrieben ist, vor euch. Vor allem muß man die Frage gut verstehen,
erst nachher beginnt mit dem Ausrechnen. Gin jeder rechnet, wie er will.
Alles eins, ob im Kopfe oder auf dem Papier. Die Lösung selbst ist aber jeden¬
falls aufzuschreiben. Also aufpassen und zugreifen! Eins, zwei!“ Kurz:
die Kinder waren in der Lage, die Aufgabe erst akustisch aufzufassen, dann
aber schriftlich dauernd vor sich zu sehen.
Zur Ausarbeitung der einzelnen Beispiele standen für jede Aufgabe den Kindern
drei Minuten zur Verfügung.
Ergebnisse über die Schwierigkeit der einzelnen Aufgaben.
VI. Vor allem wollen wir Zusehen, inwiefern die einzelnen Beispiele der
Aufgabenreihe ihrem Zwecke entsprochen haben, d. h. wie viele von den
9—12 jährigen normalen Kindern sie lösen konnten. Zur Beantwortung dieser
Frage dient die
Tabelle 1
Ans den Beispielen A—D haben gelöst:
Schüler der
Beispiel A.
Beispiel B.
Beispiel C.
Beispiel D.
IV. Volksschulkl.
n —240
22,9%
6,8%
2,5%
6,4 %
I. GymnasialkL
n —277
«5,7% ,
19,9%
6,5%
26,0%
n. Gymnaaialkl.
n — 214
78,8%
24,8 %
8,9%
43,6%
Zusammen:
n —73t
54,0 %
16,6%
5,9%
24,4%
Versuchen wir nun auf Grundlage dieser Tabelle die Stufenreihe der
Schwierigkeit der einzelnen Aufgaben festzustellen und gehen wir hierbei
von der leichtesten ansteigend zu der am schwierigsten lösbaren Aufgabe
aufwärts, so finden wir folgendes:
1. Als leichteste bewährte sich die erste Aufgabe. Sie wurde von mehr
als der Hälfte (54,03 Proz.) der Kinder richtig gelöst. Sie entspricht dem¬
nach ihrer Aufgabe als einleitendes, zum rechnerischen Denken anregendes
Beispiel.
2. An zweiter Stelle scheint die Aufgabe D zu stehen. Doch wurde sie
nur mehr von etwa einem Viertel der Kinder (24,35 Proz.) gelöst. Allein in
der vierten Volksschulklasse erfolgte die Lösung etwas seltener als die der
Aufgabe B. Die verwirrende Masse ihrer Bestandteile hatte eben bei den
jüngsten Kindern trotz mündlicher und schriftlicher Darbietung störend gewirkt,
kn zweiten Gymnasium erfolgt ihre Lösung schon fast doppelt so häufig, als
die der drittenAufgabe. Der Altersfortschritt vom zehnten bis zum zwölften Jahre
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294
Irene Kaufman und Franz Schmidt
ist ein ganz bedeutender; er beträgt im zweiten Gymnasium das Achtfache der
Erfolgszahl der zehnjährigen Volksschüler.
3. Die Aufgabe B wurde bloß von einem Sechstel (16,6 Proz.) der Kinder
gelöst.
4. Die Lösung der Aufgabe C war nicht einmal 6 Proz. der Kinder gelungen.
Gegenüber der ersten Aufgabe, deren Lösungszahl zwischen 23 und 74 Proz.
variierte, war hier der Spielraum ein absolut unvergleichlich geringerer und
relativ mit 2,5 bis 8,9 Proz. fast derselbe, indem die Zahl der Lösungen im
Alter von zwölf Jahren das ungefähr Dreifache derjenigen im Alter von zehn
Jahren beträgt. Diese Aufgabe ist demnach im schriftlichen Versuch auf allen
Altersstufen die weitaus schwierigste.
5. Die Häufigkeitszahl der Lösungen der einzelnen Aufgaben wächst von
Klasse zu Klasse, das heißt von Jahr zu Jahr schrittweise, jedoch mit ziemlich
großen Schritten. Das Tempo scheint zwischen der vierten Volksschul- und
der ersten Gymnasialklasse etwas rascher zu sein als zwischen der ersten
und zweiten Gymnasialklasse. Dies ist — abgesehen vom Altersfortschritt,
mit dem auch die Zunahme der abstrakten Denkfähigkeit, aber auch die der
Übung mit einhergeht, — einerseits darauf zurückzuführen, daß ein bedeutender
Teil der schwächeren Schüler nach Absolvierung der vierten Volksschulklasse
nicht in das Gymnasium Übertritt, ferner daß von den schlechteren Schülern
der ersten Gymnasialklasse wieder ein Teil abfällt und nicht in die zweite
Klasse kommt. Aub dem vereinten Wirken all dieser Faktoren erklärt es
sich wohl, daß der Häufigkeitssatz der Lösung der einzelnen Aufgaben
von der vierten Normalklasse bis zur zweiten Gymnasialklasse, also während
der kurzen Periode von zwei Jahren, sich um das 3,5- bis 8 fache verbessert
Die Wertung des Erfolges mittels der experimentellen
Rechenzensur (ERZ).
VII. Die Bewertung der Leistung erfolgte vorerst auf Grund der prozentuellen
Anzahl der richtig gelösten Aufgaben. U. z. bezeichneten wir mit der ex¬
perimentellen Rechenzensur, das heißt:
ERZ 1 diejenigen Schüler, die alle 4,
„2 „ . bloß 3,
»3 » „ » » 2 ,
4 1
^ n » » v - L »
v
keine der Aufgaben lösen konnten.
Auf eine eingehende, psychologisch und pädagogisch wohl sehr interessante
Analyse der falschen, fraglichen, halben und Nichtlösungen muß hier, da uns
dies von unserem eigentlichen Ziele ablenken würde, verzichtet werden. Eine
praktische Bedeutung kam denselben in unseren hier mitgeteilten Berech¬
nungen nicht zu.
Die Diagnose der besonderen Befähigung im rechnerischen
Denken (HR).
VQI. Es erhebt sich nunmehr die Frage: ist die ERZ zugleich der MaBstab
des Hervorragens? Ferner: Welche sind diejenigen Zensuren, welche
innerhalb je einer AS und KS die Diagnose der HR gestatten? Die Tatsache,
daß den vier Aufgaben unseres Tests eine stufenweise anwachsende, innerhalb
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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 295
der AS wechselnde, - spezifische Schwierigkeit zukommt, entscheidet schon
an und für sich, daß die ERZ mit ihrer rein quantitativen Beurteilung der
Leistungsgröße ohne gewisse Beschränkungen nicht das Maß des Hervorragens
abgeben kann. ERZ 1, also die Lösung sämtlicher Aufgaben kann als
sicheres Maß der HR auf allen Altersstufen dienen, wo es die wahrscheinliche
Prozentzahl der Hervorragenden nicht fiberschreitet Als solche betrachtet
Ranschburg auf Grund der Untersuchungen von Hartnacke, Binet, Goddard,
Bobertag und Eltes die Häufigkeitsziffer von höchstens fünf Prozent, während
er die Zahl der eigentlichen Talente im strengeren Sinne des Wortes auf eine
noch bei weitem geringere schätzt. Ob also eventuell auch ERZ 2 als Note
der HR anzusehen ist, wird z. T. auch davon abhängen, wieviel Prozent der
geprüften Schüler insgesamt die Note ERZ ergeben? Doch erhebt sich hier
schon die Möglichkeit, die ERZ 2, d. h. Lösung von drei Aufgaben auch
qualitativ abzustufen, d. h. bloß diejenige derartige Lösung als hervorragend
zu bezeichnen, die eine oder vielleicht richtiger beide schwierigeren Aufgaben
in sich enthält und dies auch nur innerhalb der jüngeren Altersstufen.
Auf Grundlage unserer auch qualitativen, hier der Raumersparnis halber
nicht mitgeteilten Berechnung der Häufigkeitszahl derjenigen, die die Auf¬
gaben A+B+C, A+B-f-D, A-fC-f-D, B-fC+D, ferner A+B, A-fC . . usw.
gelöst hatten, bestimmten wir sodann die Bedingungen der Verwendung
des Ranschburgschen Testes zur Diagnose der besonderen rech¬
nerischen Befähigung auf den verschiedenen Altersstufen des Schul¬
kindesalters in folgender Weise:
Falls wir die Schüler der vierten Volksschulklasse zu Jahresschluß sämt¬
liche als 9,6—10,6, die erste Gymnasialklasse als 10,6—11,6, die zweite als
11,6—12,6 alt betrachten, was den Verhältnissen nahezu aufs genaueste
entspricht, eine jede der beiden leichtesten Aufgaben A und D mit dem
Buchstaben 1 bezeichnen, so gilt
für die AS von 9,6—10,6 als HR die ERZ 1 und 2;
„ „ AS „ 10,6—11,6 „ HR „ ERZ 1 und 2 (B+C+l);
„ „ AS „ 11,6—12,6 w HR * ERZ 1.
Auf der jüngsten AS genügt daher die Lösung welcher drei Aufgaben immer,
auf der ersten Stufe der Mittelschule die Lösung von drei Aufgaben bloß,
wenn beide schwierigeren Aufgaben unter denselben sind, während die dritte
eine beliebige leichtere Aufgabe sein kann, auf der dritten Altersstufe hin¬
gegen bloß die Lösung aller vier Aufgaben. 1 )
’) Für die nachfolgenden Altersstufen erschwert Ranschburg die Bedingungen da¬
durch, daß anfangs bloß die leichteren, später auch die schwierigeren Aufgaben im Kopfe zu
lögen sind, wobei die Aufgabe C und D, spater blofi D dem Prüfling in Druckschrift vorliegt,
er aber dieselben ohne Bleistift zu lösen hat Auch die Zeit, die für das Rechnen zur Verfügung
steht, wird mit zunehmendem Alter herabgesetzt
Am wenigsten läfit sich die Prüfung im Massenversuch an der Altersstufe zwischen 14—18
Jahren verläßlich durchführen, da hier schon die algebraische Lösungsart mit der arith¬
metischen konkurriert und die Schüler allzusehr geneigt sind, die Lösung im Wege von
Gleichungen zu suchen. Anstatt sich die Aufgabe zu überlegen und auf die einfachste Art
rechnerisch zu lösen, wird die algebraische Rechenfertigkeit in Anspruch genommen und nicht
eigentlich gedacht, bloß gerechnet. Es handelt sich sodann um die richtige Aufstellung der
Gleichung, was bei .einiger Routine gegenüber unseren Aufgaben recht wenig Denkarbeit er¬
fordert, sodann um das rechnerisch richtige Durchführen der Lösung. Es läßt sich dies bloß
vermeiden, wenn wir nur das Aufschreiben des Endresultates gestatten und entsprechend zu
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296
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Nun haben wir also zur gröberen Wertung des Erfolges der rechnerischen
Denkfähigkeit unsere einfachere ERZ, die auch die negative Entfernung von
der Höhe der Hervorragenheit angibt, ferner die eigentliche, engbeschränkte
Zensur der rechnerischen Hervorragenheit, HR, in den eben mitgeteilten
Auswahlsbestimmungen zu unserer Verfügung.
Gruppierung der Kinder auf Grund des Ergebnisses der experi¬
mentellen Prüfung.
IX. Wir wollen also schauen, wie sich auf Grund der ERZ, ferner der HR
die untersuchten 731 Schüler bzw. Schülerinnen der IV. Normal—DL Gym¬
nasialklassen verteilen. Der leichteren Übersichtlichkeit sollen die Tabellen
II—VI dienen.
Tabelle n.
Verteilung der ERZ nach Schulklassen (Altersklassen):
ERZ
t
2
3
4
5
a) AS — 9;6—10;6
n — 240
0,42
1,25
6,25
16,66
75,42
b) AS — 10;0—11 ;6
n —277
1,80
9,39
24,55
38,63
25,63
c) AS — 11;6—12;6
n —214
3,27
12,16
32,24
35,61
16,82
AS — 9;6—12;6
n — 781
1,77
7,52
20,79
30,50
39,39
Also: bloß 1,77 Prozent
— in absoluten
Zahlen 13
— der
untersuchten
731 Kinder von 9,6—12,6 Jahren waren imstande, alle vier Aufgaben
richtig zu lösen, und sogar die ERZ 2 konnte bloß von 7,52 Prozent er¬
reicht werden.
Für eine Auswahl der Hervorragenden wäre ERZ 1 in den jüngeren Alters¬
klassen unvergleichlich strenger, als in den oberen (0,42 bzw. 3,27), hin¬
gegen ERZ 1 plus 2 schon auf der zweiten Altersstufe allzumild, da sich hier
schon 11,2 Proz., auf der dritten AS gar schon 15,4 Proz. Hervorragende er¬
geben würden.
Demgegenüber ergibt die Auswahl auf Grundlage unserer HR:
in der AS 9;6—10,6 insgesamt 4, d. h. 1;67 Proz. Hervorragende,
v , AS 10;6—11,6 „ 9, „ „ 3;25 „
» » AS 11;6 12,6 , 7, „ „ 3;27 „ »
Unter sämtlichen 731 Schülern von 9,6—12,6 Jahren findet un¬
sere Auswahl demgemäß insgesamt zwanzig, d. h. 3,73 Proz. rech¬
kontrollieren imstande sind, daß nicht auf besonderem Papier schriftlich gerechnet wird. Im
iSinzel^versuch läßt sich dies unschwer durchführen.
Nach Abgang von der Mittelschule nimmt der Hang zur Lösung auf algebraischem Wege bei
denjenigen, die sich nicht mit mathematischen Studien befassen, wieder ab, insbesondere, wo
gute rechnerische Denkfähigkeit vorhanden ist.
An Erwachsenen verwendet Ranschburg diese nämlichen Aufgaben — selbstredend aus¬
schließlich im Einzelversuch — als Test der Unversehrtheit der rechnerischen Denk¬
fähigkeit bei rechnerisch Gebildeten bzw. Ungebildeten unter den obigen ähnlich abgestuften
verschiedenen Bedingungen. Er wird über seine bezüglichen Untersuchungen an Nervenschwachen,
Gehirn- und Geisteskranken noch berichten.
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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 297
nerisch hervorragend Denkfähige. Diese Zahl ist noch ziemlich inner¬
halb unserer erlaubten Grenzzahl der Häufigkeit der Hervorragenden. Sie
spricht daher für die Gerechtigkeit unserer HR.
Verhältnis der experimentellen Rechenzensur (ERZ) und der
hervorragenden Rechenbegabung (HR) zur pädagogischen
Rechenzensur (PRZ).
X. Es fragt sich nun weiter, inwiefern unsere ERZ im allgemeinen, gleichwie
unsere HR mit der Schulzensur aus Rechnen, erteilt vom Pädagogen zum
Schluß des Schuljahres, also mit PRZ übereinstimmt.
Vorerst interessiert uns überhaupt die Verteilung der geprüften 731 Schul¬
kinder rein nach ihrer PRZ.') Wir geben sie in Prozentzahlen der folgenden
Tabelle DI
PRZ
1
2
3
4
5
a) AS
9;6—10;6
31,7
22,6
25,4
15,0
5,4
b) AS
10;6—11;6
20,2
32,9
40,8
6,1
e) AS
11;6—12;6
17,3
22,0
56,1
5,6
—
AS
9;6—12;6
28.1
26,3
39,9
8,9
1,8
Von den Kindern also, deren keine 10 Proz. die ERZ 1 und 2, ja keine
3 Proz. die HR erreicht hatten, hatte die Schule nahezu 50 Proz. mit der
PRZ = 1 bzw. 2 bedacht, demnach als im Rechnen ausgezeichnet bzw. vor¬
züglich gekennzeichnet.
Schon dieser auffällige Umstand allein spricht deutlich dafür, daß unsere
Bewertung der rechnerischen Leistung von derjenigen des Päd¬
agogen grundsätzlich verschieden ist. Würde ferner z. B. die
Auswahl der Befähigtesten aus irgendeiner pädagogischen oder didaktischen
Ursache, z. B. zur Entscheidung des Eintrittes in die Mittelschule oder bei
der Wahl, ob Realschule oder Gymnasium, auf Grundlage der Befähigungs¬
note des Pädagogen erfolgen, so würden laut der PRZ der ersten AS min¬
destens 31,7, eventuell aber 54,2 Proz. der Schüler der absolvierten vierten
Volksschulklasse als Bestbefähigte im Rechnen auserwählt werden. Unsere
gröbere ERZ 1 würde laut Tabelle II auf dieser AS nicht ein halbes Prozent,
die Zusammenfassung von ERZ 1 und 2 insgesamt 1,67 Proz. und die eigent¬
liche HR auf dieser AS die nämlichen 1,67 Proz. ergeben.
Wir hielten es schon auf Grundlage der Art unseres Tests von Anfang an
für wahrscheinlich, daß unsere Zensur nebst der rechnerischen Fertigkeit
hauptsächlich die rechnerische Denkfähigkeit beurteilt, wogegen die Note
des Lehrers zumindest auf diesen Altersstufen die rechnerische Fertig¬
keit allein bewertet Es sei hier bloß erwähnt, daß die gleichen Resultate
sich ergeben, wenn wir die Werte der einzelnen gleichen Klassenstufen der
verschiedenen von uns untersuchten Schulen, oder auch die von verschie¬
denen Lehrern unterrichteten Parallelklassen der nämlichen Schule mit unseren
Versuchszensuren vergleichen.
Daß unsere Wertung zumindest 90,7 Proz. der Schüler der geprüften AS
mit der ERZ 3, 4 und 5 als vom Gesichtspunkt der HR minderwertigere von
') Eins bedeutet in all unseren Schulen die beste, fünf in der Volksschule, vier in der
Mittelschule die schwächste, d. b. minderwertigste Schulnote.
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vornherein ausschließt, dabei mit der ERZ 4 und 5 fast 70 Proz. direkt als
von diesem Standpunkt aus beurteilt rechendenkschwach ausschaltet, während
die Schule von ihrem Standpunkt aus bloß 10,7 Proz. als rechnerisch schwach
mit den Zensuren 4 und 5 bedenkt, ist eine weitere Frage, die für sich be¬
urteilt werden muß. 1 )
Obereinstimmungsgrad der experimentellen Rechenzensur und
hervorragenden Rechenbegabung mit der pädagogischen Rechen¬
zensur.
XI. Wir können uns jetzt der näheren Beantwortung der Frage zuwenden, wie
es im einzelnen um die Größe der Übereinstimmung der ERZ, ferner der
HR mit der ERZ steht? Eine eigentliche Berechnung der Korrelations¬
oder Koordinationsgröße ist in diesen Fällen nicht möglich, da es sich bloß
um die Zuordnung von fünf zu fünferlei Größen handelt. Trotzdem läßt sich
die Größe der Korrelation mittelst der tabellarischen Zuordnung
der ERZ-Werte zu den PRZ-Werten mit einer Deutlichkeit kennzeichnen,
die eigentlich derjenigen einer r oder q mindestens gleichwertig ist, — bloß
sind es immer zwei Zahlen statt einer, auf die sich die Aufmerksamkeit
richten muß.
Tabelle IV.
ERZ
Zensur
1
2
3
4
5
Zusammen
1
6
22
52
40
49
169
2
4
14
51
70
63
192
PRZ 3
3
17
56
98
118
292
4
—
2
3
13
47
65
5
—
—
—
2
11
13
Zusammen:
13
56
152
223
288
731
Von den dreizehn Schülern also, die insgesamt aus 731 die ERZ 1 erhalten
hatten, waren zehn, d. h. 77 Proz. auch vom Pädagogen mit der Note 1 oder 2,
drei, d. h. 23 Proz. mit der Note 3, keiner mit der Note 4 oder 5 im Rechnen
klassifiziert worden. Auch von den fünfundfünfzig mit ERZ 2 bewerteten
Schülern hatte der Pädagoge bloß zwei, d. h. 3,6 Proz. mit 4, keinen mit 5
klassifiziert.
Betrachten wir bloß diejenigen zwanzig Schüler, die unsere Auswahl als
HR diagnostiziert hatte, so stellt sich ihre Zahl aus den oben schon be¬
sprochenen dreizehn Schülern mit der ERZ 1, sowie aus weiteren sieben Schülern
mit der ERZ 2, die aber den Bedingungen unserer HR entsprochen hatten,
zusammen. Bei diesen zwanzig Hervorragenden war
in 9 FäUen, d. h. 45 Proz., die PRZ 1,
, 5 „ „ „ 25 „ v v 2,
„6 „ „ „ 30 „ „ „ 3.
') Ran sch bürg hält im allgemeinen seine Maximaltests bloß in positivem Sinne für ge¬
nügend verläßlich, fordert aber von ihnen nicht das nämliche Maß der Verläßlichkeit in
negativem Sinne. Im Jugendlichen Alter ist daher die experimentelle Feststellung fehlender
Sonderbefähigung und der Grad der Entfernung von dieser Stufe nicht mit derselben Sicherheit
als verläßlich zu betrachten als die positive Feststellung des Vorhandenseins besonderer Begabung.
Das nämliche gilt bei der Anwendung dieser Tests an Erwachsenen zur Feststellung der Un¬
versehrtheit einer geistigen Funktion. Auch hier ist der positive Ausfall als beweisend, der
negative als bloß mit einem geringeren Wahrscheinlicbkeitsgrade zu verwerten. Für die Fest¬
stellung des Negativums, des Nichtkönnens, sind eben die niederen Teile der Testskala der
Fähigkeiten, die Minimaltests, zu verwenden.
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Zur Prüfung der rechnerischea Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 299
Siebzig Prozent der HR waren also pädagogisch ebenfalls als aus Rechnen
sehr gut, die restlichen 30 Prozent als mittelmäßig zensuriert worden.
In der vierten Volksschulklasse hatten die Lehrer sämtliche von uns als
hervorragend Beurteilte mit der Note 1 beurteilt. Die drei Schüler, die wir
oben trotz unserer ERZ 1, die ja auch stets zugleich HR bedeutet, als mit
der PRZ 3 bedacht bezeichneten, waren sämtlich Schüler des zweiten Gym¬
nasiums. Über alle drei äußerten sich ihre nachträglich befragten Fach¬
professoren dahin, daß sie dieselben für ganz vorzügliche Rechner halten
und daß die minder gute Note mehr als Rüge ihrer vielen Versäumnisse,
Nachlässigkeit, Unordentlichkeit usw., denn als eine Beurteilung ihrer eigent¬
lichen Kenntnisse und Fähigkeiten erfolgte.
Unter den weiteren vier Schülern, die nach den festgestellten Bestimmungen
im ersten Gymnasium trotz ihrer ERZ 2 ebenfalls als hervorragend zu gelten
haben, da unter ihren drei gelösten Aufgaben sich die beiden schwierigsten,
B und C befanden, waren klassifiziert
mit der PRZ 2 ein Schüler,
n v v 3 drei „
Unter den 55 Schülern mit der ERZ 2 befanden sich, nach Tabelle II
nicht weniger als 26 Schüler der zweiten Gymnasialklasse, die nach
unseren Bestimmungen der HR selbstredend nicht als hervorragend gelten
konnten.
Hätten wir sämtliche Schüler mit ERZ 1 oder 2 als HR bezeichnet, so
hätten aus den 68 Schülern mit ERZ 1 oder 2 noch immer 2,04 Proz. die
minderwertige Note PRZ 4. Die Übereinstimmung mit PRZ wäre also
gering. Wäre hingegen ausschließlich die strengere Bestimmung HR =
ERZ 1 gültig, so wäre auch die Übereinstimmung mit PRZ ebenfalls
besser, indem aus insgesamt 13 in diesem Sinne Hervorragenden drei, d. h.
15 Proz. die PRZ 3 erhielten, wogegen von den tatsächlich hervorragenden
20 Schülern im Sinne unserer Zensur der HR auf sechs, d. h. 30 Proz., die
PRZ 3 entfiel.
Prüfen wir nun umgekehrt die Übereinstimmung der PRZ mit unserer ERZ,
so ergibt sich bei 52,7 Proz. der PRZ 1 und ebenso bei 69,3 Proz. der PRZ 2,
also bei der Mehrzahl der in der Schule als besten bezeichneten Rechnern
die ERZ 4 und 5, d. h. die schwächste Zensur der rechnerischen Denkfähig¬
keit. Hingegen entfielen aus insgesamt 361 Schülern mit der PRZ 1 und 2
bloß 46, d. h. 12,7 Proz. mit der ERZ 1 oder 2. Bloß 14, d. h. 3,9 Proz.
der pädagogisch vorzüglichen (PRZ —= 1 und 2) waren auch unserem Test
gemäß tatsächlich Hervorragende. Es ist dies in erster Linie eine notwen¬
dige Folge der schon weiter oben behandelten Tatsache, daß die Schule eine
ganz andere Art der rechnerischen Befähigung klassifiziert als unser Test.
Kurz zusammengefaßt:
a) Wer nach unserem Test als hervorragend sich bewährt, ist
in der Schule auf Grundlage mindestens einjähriger Beobachtung
in der Mehrzahl der Fälle als sehr guter oder guter, nie als
schwacher Rechner bekannt.
b) Eine sehr gute oder gute Schulnote aus Rechnen entspricht
innerhalb der Altersstufe von 9;6—12;6 bloß ausnahmsweise
einer tatsächlichen Hervorragenheit der rechnerischen Denk-
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300
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fähigkeit. Im Gegenteil, sie geht sehr häufig anscheinend mit einem recht
großen Mangel an derartiger selbständiger Denkfähigkeit einher.
Die rechnerische Denkfähigkeit anerkannt hervorragend begabter
Kinder.
XII. Schließlich bedürfen wir noch des letzten Beweises der Brauchbarkeit
des Testes, nämlich, ob jemand, den wir auf Grund längerer Beobachtung
auf dem Gebiete des Rechnens als für hervorragend kennen, den Forderungen
des Testes entspricht. Diesbezüglich unternahm Ranschburg Untersuchungen
mit einem als ausgezeichneten Rechner anerkannten Knaben von acht Jahren
und zehn Monaten, ferner mit einem anderen in jeder Hinsicht für hervor¬
ragend anerkannten Knaben im Älter von 12; 9. Der erste löste alle vier
Aufgaben während einer minimalen Zeit aus dem Kopfe, und zwar nach ein¬
maligem Anhören der Aufgaben ohne Vorlage, erreichte also die ERZ = 1
unter unvergleichlich schwierigeren Bedingungen. Der zweite löste drei Auf¬
gaben ebenfalls richtig, spontan aus dem Kopfe, die vierte aber nur schrift¬
lich, viel rascher als in drei Minuten.
Rechnerische Höherbegabung und allgemeine Schulzensur.
XIII. Wir kommen nun zur Frage des Verhältnisses zwischen der im Ver¬
suchswege feststellbaren rechnerischen Denkfähigkeit und der all¬
gemeinen Schulzensur. Ranschburg betrachtet diese letztere (PAZ) als
Ausdruck dessen, was er als Schulintelligenz bezeichnet.
Vor allem wollen wir eine Statistik bloß vom Gesichtspunkte der PAZ aus
aufstellen.
Tabelle V.
Verteilung der Schüler gemäß ihrer
PAZ
1.
2.
3.
4,
6.
a) AS— 9;6—10;6
32 t 5
18,8
16,3
13,7
18,7
b) AS *= 10;6—11;6
19,5
22,7
22,4
30,3
5,1
c) AS — 11; 6—12; 6
13,5
13,1
45,5
30,4
7,6
Insgesamt:
22*0
18,5
24,2
24,9
10,3
40,5 Proz. der Gesamtzahl der Kinder gehören demnach zu den vorzüg¬
lichen, bzw. sehr guten Schülern, die übrigen 59,5 Proz. zu den mittel¬
mäßigen und schlechten. Es ist interessant, wohl auch sehr richtig, daß in
dieser Hinsicht, insbesondere was die Zensur 5 betrifft, die IV. Volksschul¬
klasse, von welcher aus bei uns der Obertritt in die Mittelschule normaler¬
weise erfolgt, bedeutend strenger klassifiziert ist, als die I. oder gar die
H. Gymnasialklasse.
Was nunmehr das Verhältnis zwischen ERZ und PAZ anbelangt, ist
a) in den vierten Volksschulklassen die PAZ der auf dem Gebiete der
rechnerischen Denkfähigkeit im Versuchswege mit 1 oder 2 zensurierten Kinder
ohne Ausnahme 1;
b) in den ersten Gymnasialklassen die PAZ der im Versuchswege mit 1
zensurierten Schüler in 80 Proz. 1, 20 Proz. 2, die PAZ der im Versuchs¬
wege mit 2 Zensurierten in 70 Proz. 1 oder 2, und in 30 Proz. 3 oder 4.
c) In den zweiten Gymnasialklassen erhielt noch immer fast die Hälfte der
im Versuchswege mit 1 zensurierten Kinder auch die PAZ 1, etwas mehr
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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 301
als die Hälfte erhielt 1 und 2 und ungefähr 43 Proz. die PAZ 3 bzw. 4.
Die PAZ der von uns mit ERZ 2 Zensurierten verteilt sich auf alle Arten
der Schulzensur 1—5, und zwar fällt der überwiegende Teil auf die PAZ 3,
ungefähr gleich teilen sie sich in den PAZ 1, 2 und 4, und ein ganz kleiner
Teil gehört zur PAZ 5.
Was nun die Übereinstimmung unserer Diagnose der HR mit PAZ
anbelangt, so war sie recht hochgradig. 60 Proz. unserer Hervorragenden
hatten zu Klassenschluß die beste Durchschnittsnote 1, 10 Proz. die PAZ 2,
je 15 Proz. die Note 3 oder 4.
Aus der hervorragenden rechnerischen Denkfähigkeit können
-wir daher in der vierten Volksschulklasse und auch noch im ersten
Gymnasium mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit einen sehr
guten oder vorzüglichen, durchschnittlichen Schulfortschritt
folgern.
Da die rechnerische Denkfähigkeit keineswegs bloß das Rechenwissen, son¬
dern nach Ranschburg auch die intellektuelle Aufmerksamkeit, die Auffassung,
den Willen, gleichwie die kombinatorische, schlußfolgernde und urteilende
Tätigkeit des Geistes in Anspruch nimmt, die nämlichen Faktoren aber auch
unentbehrliche Grundlagen der Schulintelligenz sind, so kann uns die hoch¬
gradige Übereinstimmung zwischen rechnerischer Denkfähig¬
keit — zumindest derjenigen in unserem Sinne — mit der Güte des all¬
gemeinen Schulfortschrittes nicht besonders wundemehmen. 1 )
Rechnerische Denkfähigkeit und Geschlecht.
XTV. Nun wollen wir unsere Aufmerksamkeit auch noch der Frage wid¬
men, wie sich die Fähigkeit des rechnerischen Denkens zwischen Knaben
und Mädchen verteilt.
Tabelle VI.
Die ERZ nach Geschlechtern.
ERZ
i
2
8
4
5
Knaben n*=478
2,1
8,7
22,2
32,6
34,3
Mädchen n » 258
1,1
5,1
18,2
26,5
49,0
Insgesamt n = 781
1,8
7,6
20,8
80,5
39,4
An der Prüfung haben 478 Knaben und 253 Mädchen teilgenommen, deren
Zahl sich zwischen der vierten Volksschulklasse und der ersten und zweiten
Gymnasialklasse ziemlich gleichmäßig verteilte. Wenn wir nunmehr auf Grund
der Tabelle VI die Differenzen zwischen den Leistungen der Knaben und
Mädchen betrachten, so ergibt sich folgendes:
1. Von den Knaben erreichten eine ERZ 1, d. h. lösten alle vier Aufgaben
richtig 2,1 Proz.; von den Mädchen hingegen bloß 1,1 Proz., also ungefähr
die Hälfte der Prozentzahl der Knaben.
l ) Nach Uoebiua (Ob. die Anlage z. Mathematik) lehrt die psychologische Erfahrung, dafi kein
direktes Verhältnis zwischen .der mathematischen Fähigkeit* und .der geistigen Tüchtigkeit
überhaupt“ besteht. Die von ihm angeführten Fälle sprechen aber überwiegend bloß dafür,
dafi es unter den geistig Hervorragenden häufig mathematisch Unbegabte gibt. Sein nachfolgender
Abschnitt bringt an einer großen Reihe von Beispielen der Entwicklung bedeutender Mathe¬
matiker den schlagenden Beweis der allgemeinen geistigen Tüchtigkeit der meisten hervor¬
ragenden Mathematiker.
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302
Irene Kaufman und Franz Schmidt
2. Auch die ERZ 2 wurde noch von einem viel höheren Prozent der
Knaben (8,7) als der Mädchen (5,1) erreicht.
8. Dieses Übergewicht behaupten die Knaben auch bei den ERZ 3 und 4, so daß
4. eine Ausgleichung erst bei der ERZ 5 eintrifft, indem 34,3 Proz. Knaben
gegenüber 49 Proz. Mädchen kein einziges der Beispiele zu lösen imstande
waren.
Die Verteilung unserer zwanzig tatsächlich als hervorragend befundenen
Schüler nach Geschlechtern ergab
17, d. h. 85 Proz. Knaben gegenüber 3, d. h. 15 Proz. Mädchen.
Hier war demnach der Vorteil der männlichen Schuljugend gegenüber der
weiblichen noch wesentlicher, als bei der Gegenüberstellung derselben
nach ERZ, wo die Häufigkeit der guten Zensuren der Knaben zu denen der
Mädchen sich ungefähr wie 2:1 verhielt.
Diese Tatsache ist um so bedeutender, da im Gegensatz dazu die Schul¬
zensur der Mädchen, sowohl im Rechnen, wie auch im allgemeinen, wesent¬
lich besser ist als die der Knaben.
Es waren durch die Schule 17 Proz. der Knaben, 35 Proz. der Mädchen
mit der RPZ 1 und 21 Proz. Knaben, dagegen 35 Proz. Mädchen mit PRZ 2
beurteilt worden. Die schlechte Note PRZ 4 oder 5 hatten hingegen die Knaben
etwas häufiger als die Mädchen erhalten. — Ferner entfielen auf die Durch-
schnittsnote PAZ 1 oder 2 von den Knaben 31, von den Mädchen hingegen
59 Proz.
Also: Die rechnerische Denkfähigkeit ist bei den Knaben im
Alter von 9;6—12;6 vielfach häufiger eine hervorragende als bei
den Mädchen, trotz des Umstandes, daß die Schulnote aus Rech¬
nen, gleichwie auch die des durchschnittlichen Schulfort¬
schrittes bei den Mädchen bedeutend häufiger eine vorzügliche
ist als bei den Knaben.
Bedeutung der Zensuren geringer rechnerischer Denkfähigkeit.
XV. Es sei noch der schon gestreiften Frage gedacht, ob unsere Proben
auch sämtliche rechnerisch hervorragend Denkenden gefunden haben. Eis
kann dies auf Grund unseres Versuches nicht bestimmt beantwortet werden,
um so weniger, als wohl dem negativen Erfolge im Massenversuche noch
weniger die entscheidende Bedeutung zukommt als im Einzelversuch. Vor¬
läufig müssen wir daher sagen, daß der negativen Erfolg unseres Versuches
noch keinen entschiedenen Beweis gegen die Rechenbefähigung liefert, obzwar
zahlreiche Argumente dafür sprechen, daß es unter denen, welche unter den
gegebenen Bedingungen zumindest dreiviertel der Aufgaben nicht lösen konnten,
wirklich Hervorragende überhaupt nicht oder nur ganz ausnahmsweise gibt.
Als Beweis hierfür möge das von Ranschburg untersuchte, bereits erwähnte
hervorragende Kind von nicht ganz neun Jahren erwähnt werden, welches
die Aufgaben auf einmaliges Hören auch ohne Vorlage, also rein im Kopfe
löste, und zwar alle binnen einer viel kürzeren Zeit, als in den vor¬
geschriebenen drei Minuten. Wir können daher ruhig sagen, daß im Falle
wirklicher, absoluter Sonderbefähigung die Aufgaben des Ransch-
burgschen Tests, schriftlich aufgegeben, eher zu leicht als zu
schwer sind. Wer daher — innerhalb der in Frage stehenden AS — diese
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Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren 303
unter den von uns gegebenen Bedingungen, trotz welcher äußeren oder inneren
Hemmung immer, innerhalb je drei Minuten nicht lösen kann, dürfte in Hin¬
sicht der rechnerischen Denkfähigkeit kaum absolut hervorragend sein.
Stflnden jedoch die Daten der einmaligen experimentellen Prüfung bezüg¬
lich einzelner Kinder mit dem Urteil des Pädagogen in Widerspruch, so wird
es sicherlich immer geboten und auch möglich sein, solche Kinder mittels
paralleler Tests im Wege eines individuellen Versuches und auch im Wege
sonstiger Prüfungen einer neueren eingehenden Untersuchung zu unterwerfen.
Übung und Lösbarkeit des Tests.
XVI. Auch die, wohl insbesondere dem Pädagogen naheliegende Frage sei
aufgeworfen, ob die richtige Lösung unseres Tests im Falle einer geänderten
Didaktik, also mehr einer darauf hinarbeitenden, intensiveren Übung des
eigentlichen rechnerischen Denkens auch mittelmäßigen Rechnern
der Altersstufen von 9;6—12;6 erreichbar würde? Es ist dies eine Frage,
über die sich streiten ließe. Unsere Erfahrungen — besonders diejenigen
am Schulmaterial des einen der oben erwähnten Gymnasien, wo es sich zu¬
meist um Kinder aus kaufmännischen Familien handelte, und wo auch gerade
der Rechenunterricht sehr intensiv und mit besonderer Betonung der Er¬
ziehung zum rechnerischen Denken betrieben wurde, — sprechen dagegen.
Auch an diesem Institut blieb die Zahl der unserem Test nach Hervorragenden
unverändert äußerst beschränkt.
Gegen die Möglichkeit einer erfolgreichen Erziehbarkeit zum eigentlichen
rechnerischen Denken auf diesen früheren Altersstufen sprechen aber auch die
Untersuchungen W. Voigts, die einzigen, die wir in der Literatur der ex¬
perimentellen Pädagogik über dieses Thema vorfanden, 1 ) deren Ergebnisse
aber scheinbar in allen Punkten alldem, was wir eben ausführten, wider¬
sprechen. Trotz alledem möchten wir uns bezüglich dieser Frage nicht auf
den Standpunkt der Unmöglichkeit der erfolgreicheren Erziehbarkeit des
rechnerischen Denkens auch schon auf den frühesten Stufen versteifen.
Umsoweniger, als ein gewisser Prozentsatz der schwachen Ergebnisse bei
unseren Versuchen jedenfalls dem Umstand beizumessen ist, daß in den
Revolutionsjahren 1918 und 1919, aber auch noch 1920 äußere und innere
Ursachen, in all diesen Jahren aber die sog. Kohlenferien die Gründlichkeit
und Nachhaltigkeit des Schul- und insbesondere daher des Rechenunterrichts,
bedeutend trübten. Der Mangel an guter Rechenfertigkeit vermindert auch
die Energie des rechnerischen Denkens. Allerdings gilt dies alles kaum
oder gar nicht für die wirklich hervorragend Begabten, die eines
4—6 jährigen Unterrichtes zur Lösung unseres Tests überhaupt nicht bedürfen.
Widerspruch oder Übereinstimmung mit den Ergebnissen
W. Voigts.
XVII. Waldemar Voigt hat schon 1913 eine sehr interessante Arbeit
„Über die Anlage zum Rechnen“ veröffentlicht, die wir umsomehr erwähnen
müssen, als sie sich hauptsächlich mit der Entwicklung der rechnerischen
Fähigkeit im Schulkindesalter von 10—14 Jahren befaßt. Voigt sucht zu
*) Es stand uns blofi die entsprechende Literatur bis 1914 in genügendem Maß zur Verfügung.
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304 Irene Kaufman und Franz Schmidt, Zar Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit ubw.
den zu lösenden Aufgaben einen Stoff, der „für zehnjährige Kinder nicht zu
schwer, für vierzehnjährige nicht zu leicht“ ist, bei dem auch die Einflüsse
des Volksschulrechenunterrichts nur dann nicht als störend anzusehen sind,
wenn sie automatisiert sind, d. h. für alle Vp-en möglichst übereinstimmen.
Voigt hält daher alle „Rechenbuchaufgaben“ von vornherein für völlig ungeeignet
und wählt als Stoff seiner Aufgaben Rechnungen mit fremden Systemen, die
als gänzlich neu den Kindern vorher an Beispielen recht deutlich erörtert
werden. So sind in den Untersuchungen Voigts an 10—14jährigen Volks¬
und Bürgerschiilern statt des dekadischen das hexadische und oktadische
System gewählt, in welche drei- bis sechsstellige Zahlen unseres Zehnersystems
lungeformt, ferner ein- bis fünfstellige Zahlen addiert werden sollen, als ob
es die Rechnungen von „Achtfinger-“ oder „Sechsfingermenschen“ wären.
Daß nun die Ergebnisse dieser Arbeit sich zum mindesten scheinbar in
keinem Punkte mit denen der unsrigen decken, wird seine Erklärung eben
in den abweichenden Intentionen und der infolgedessen abweichenden Methodik
der letzteren haben.
Voigt bietet eine psychologische Untersuchung der Entwicklung der Rechen¬
fähigkeit und bedient sich hierzu einer Methode, die als pädagogisch-psycho¬
logisches Prüfungsverfahren der Lösung der obigen Frage dienen soll.
Wir suchen und prüfen einen Test zur raschen Auswahl der auf dem
Gebiete der rechnerischen Denkfähigkeit besonders Begabten bzw. Hervor¬
ragenden. Daß der Ranschburgsche Test mit seinen Aufgaben, die in
letzter Linie doch „Rechenbuchaufgaben“, höchstens in etwas ungewohnter
Fassung und auf einer früheren AS geboten sind, als solcher seine Aufgabe
erfüllt, glauben wir für das Alter von 9;6—12;6 oben nachgewiesen zu haben.
Voigt findet die Entwicklung der rechnerischen Anlage stark beeinflußt
durch den Eintritt in die Pubertät. Wir könnten nun uns damit bescheiden,
festzustellen, daß unsere Untersuchungen in größerer, also verläßlicher Anzahl
bisher bloß bis zum Alter von 12; 6 reichen. Doch ergänzt V. diesen seinen
zweiten Satz auch mit der Behauptung, nach welcher Kinder vor dem Ein¬
tritt in die Pubertät nur mechanisch, „nach Vorlage zu rechnen imstande
sind“. Er kommt auf diesen Punkt in seinem Satz 6 ausführlicher zurück
und sagt wörtlich: „Die Anlage zum Rechnen ist bei zehn- bis vier¬
zehnjährigen Kindern individuell außerordentlich verschieden;
ihre Entwicklung aber insofern für alle Versuchspersonen gleich,
als vor Beginn der Pubertät von keiner selbständige rechnerische
Leistungen ... zu erwarten sind.“
Dies hieße also, wir prüfen mit dem R.schen Test eine Fähigkeit, die eben
in der von uns untersuchten AS noch nicht vorhanden ist. Nim wurde aber der
Ranschburgsche Test eben auf Grundlage dieser nämlichen Annahme ge¬
bildet Unsere Ergebnisse, nach denen aus 731 Neun- bis Zwölfjährigen
bloß 20 sich fanden, die eben auf dem Gebiete des selbständigen rechnerischen
Denkens tatsächlich mit Erfolg sich zu betätigen vermochten, die also eben
Ausnahmen, Hervorragende sind, sind zugleich auch ein Beweis der
Richtigkeit des Wesens des W. Voigt sehen Satzes.
Nun findet aber Voigt die rechnerischen Leistungen der Mädchen im Alter
von 10—14 Jahren für wesentlich besser, als die der gleichaltrigen Knaben.
Wehl setzt er vorsichtigerweise hinzu, daß sich dies auf die Prüfungen unter
den Bedingungen seines besonderen Experiments bezieht. Doch meint er.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
305
diesen seinen Befund gegen Möbius ins Feld führen zu dürfen, der be¬
kanntermaßen die mathematische Begabung des weiblichen Geschlechtes
gegenüber derjenigen der männlichen für rückständig hält. Hier stehen nun
unsere Erfahrungen — allerdings bloß für das Alter von 9;6—12;6 — den¬
jenigen Voigts entgegen.
Daß es sich bei der Lösung unserer Aufgaben in den geprüften Altersstufen
um das rechnerische Denken und nicht um mechanisierte Fertigkeiten han¬
delt, wird wohl nicht bestritten werden können. Auch wir Erwachsenen
haben zur Lösung in erster Reihe unser Denkvermögen und bloß in letzter
unser Rechenwissen zu verwenden. Allerdings ist es nicht die nämliche Art
des Denkens als diejenige, die zur Lösung der Voigt’sehen Aufgaben be¬
nötigt ist. Unseres Erachtens handelt es sich bei denselben in erster Reihe
um die Einfühlung in eine fremde Denkweise (hexadisches, oktadisches
System) und ein unablässiges Festhalten an derselben während der
ganzen Dauer der Berechnung. Wurde die Erklärung des Rechnens des Sechs¬
oder Achtfingermenschen vollauf verstanden, so kommt es kaum mehr zu
eigentlichen selbständigen,* kombinatorischen Denkleistungen, sondern bloß
zur Anwendung des elementaren Rechenwissens in der unbeirrbar festgehal¬
tenen neuen Denkweise. Geprüft wird mittels der Voigt sehen Aufgaben
eigentlich mehr der Wirkungsgrad einer Fremdsuggestion, der sich die
Geprüften mehr oder minder freiwillig unterordnen, die determinierende Kraft
einer Obervorstellung, einer Aufgabe im Wattschen Sinne, die genügend
kräftig sein muß, um der Übungsenergie des zu Fleisch und Blut gewordenen
Denkens im dekadischen System die Wage zu halten.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Über eine Begabungsprflfung beim Schuleintritt berichtet H. W. Witthöft.
Sie ist über ein Jahrzehnt angewendet worden an einer Seminarschule, an
der die Anmeldungen jedesmal die Zahl der verfügbaren Plätze überschritten
und so eine Auslese erforderten. Geleitet wurde diese von dem Ge¬
danken, die Unbegabten fernzuhalten. Es wurde also das Verfahren der
negativen Auslese angewendet, bei der die Untersuchung nicht nach der ge¬
wöhnlichen Weise auf die Ermittelung der Begabten, sondern der Unbegabten
eingestellt ist Über die sehr einfache Gestaltung der Prüfung teilt Witthöft mit:
„Wie aber die Unbegabten erkennen beim Schulantritt? Eine langjährige
Beobachtung hat mich überzeugt, daß an der Sprache der Schulanfänger
die Begabung nicht zu erkennen ist, weder an der Sprachrichtigkeit, noch
an der Sprachgewandtheit, noch an dem Sprachreichtum oder der Sprach-
form. Die Sprache der Kleinen ist in höchstem Maße ein Widerhall ihrer
sprachlichen Umgebung; sie heißt mit Recht die Muttersprache; die Sprache
der Kleinen ist Gedächtnisleistung, bezeugt aber nicht einmal ein gutes Ge¬
dächtnis bei guter Leistung, weil oft, bei guter Kinderstube nämlich, eine
überwältigende Übungsmenge ein gutes Ergebnis selbst bei schlechtem Ge¬
dächtnis einfach erzwingt. Es ist noch lange nicht genug beachtet, daß
selbst der dümmste „Gebildete“ z. B. richtig spricht, während ein kluger
„Ungebildeter“ Sprachfehler macht. Sprachtests sind keine Intelligenztests,
sondern Umwelttests. Wollte ich nicht von vornherein die Begabten aus den
Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 20
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306
Kleine Beiträge und Mitteilungen
sprachunreinen Schichten ausschließen, so durfte ich nicht mit Sprachtests
arbeiten. Es würde eine Auswahl nach Stand und Bildung der Eltern werden.
Langjährige Beobachtungen an Stadt- und Landkindem, wie an Kindern aller
Stände und Schichten, besonders auch genaue Beobachtungen an den eigenen
Kindern, überzeugten mich, daß die mathematischen Fähigkeiten wohl eine
geeignete Prüfungsgrundlage abgeben könnten. Sie unterliegen nur sehr
wenig dem Übungsfaktor der Kinderstube und scheinen eine gute Parallel¬
entwicklung zum Lebensalter zu nehmen, so daß hier ein Intelligenzquotient
festgestellt werden könnte. Der Begabte wird demnach einen Intelligenz¬
vorsprung auf weisen, der Unbegabte einen Intelligenzrückstand. Das soll
aber vorsichtshalber nur vom vorschulpflichtigen Kinde behauptet werden.
Das Schulkind ist wieder einer so verschiedenen Übungsmenge und -güte
ausgesetzt, daß das Urteil über Begabung wieder unsicherer wird. Trotzdem
ist Rechnen und Mathematik auch auf der Schule mit Recht ein viel be¬
nutztes Mittel, Begabung zu erkennen. Ich habe es mir aber versagt, bei
Aufnahmen in höhere Klassen solche Begabungsprüfungen vorzunehmen,
sondern habe mich stets in solchen Fällen ausschließlich auf das Lehrer¬
urteil verlassen, das mir im Zeugnisbuch oder gar im besonderen Bericht
vorlag. Ich würde auch für die Aufnahme der Sechsjährigen das Lehrer¬
urteil, das ich als Grundlage für die Schülerauslese seit zehn Jahren beharr¬
lich verlangt habe, benutzen, wenn es da wäre. So erscheint die Begabungs¬
prüfung bei den Sechsjährigen als eine durch die Verhältnisse erzwungene
Maßnahme; es sei aber gleich hinzugefügt, daß sie mir viel Freude bereitet,
manchen Einblick in die Kinderseele gestattet und auch wohl einige
pädagogische Werte geschaffen hat. Es müßte jetzt das Verfahren dar¬
gestellt werden; das soll so kurz wie möglich geschehen. Nachdem durch
ein paar Kunstgriffe die Unbefangenheit gesichert ist (nur 1—2 Proz. zeigen
sich befangen, gewöhnlich durch Schuld der Mutter), müssen die Kinder
zählen, und zwar Sachen abzählen: Finger, Rockknöpfe, Körperteile, Schnür-
löcher u. dgl. Dann folgt das Zuzählen von 2, zunächst an Sachen, dann
ohne sie, wenn nötig unter Vormachen, indem ich die folgende Zahl leise,
die darauffolgende Zahl laut sage, also: 6 „und noch 2“ 7 8 und dies Zählen
mit entsprechend betonter Bewegung begleite, die ich mit der Hand der
Kleinen ausführe. Diese Reihe wird fortgesetzt durch stets wiederholte Auf¬
forderung „und noch 2“, zunächst in der Reihe der Geraden, dann in der
Reihe der Ungeraden. Darauf wird mit 3 entsprechend verfahren. Die ganze
Prüfung darf 5—7 Minuten dauern. Der Verlauf im einzelnen hängt natür¬
lich von der Leistung und dem Benehmen des Kindes ab und ist nicht in
feste Formen gepreßt. Begabte Kinder steigen auf diese Weise mit 2 fast
beliebig weit auf, bis 50 und höher, zur großen Freude, ja zum Erstaunen
der Mutter. Auch mit 3 kommen sie nicht selten bis 50, mit entsprechender
Hilfe natürlich. Unbegabte können nicht bis 20 zählen, fühlen nicht, daß
sich jm zweiten Zehner der erste wiederholt, oder können nicht ihre Finger nicht
abzählen, also Zahlenreihe und Sachreihe nicht verbinden, oder verstehen
nicht, 2 zuzuzählen. Sie kennen niemals die Uhr oder können ihre Haus¬
nummer lesen, während Begabte zum mindesten lebhaftes Interesse dafür
zeigen, nicht selten aber von sich aus die Uhr gelernt haben und selbst drei¬
stellige Zahlen lesen, z. B. an Straßenbahnwagen. Doch ist nicht die er¬
reichte Höhe Maßstab für die Leistung, sondern die Leichtigkeit und Sicher-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
307
heit, mit der das Ergebnis erzielt wird, besonders aber die Fähigkeit, meine
Hilfen sich zunutze zu machen. Die meisten Kinder gehen auf meine An¬
regungen so gut ein, dafi die Sicherheit gegeben ist, daß sie nicht unbegabt
sind. Immer sind aber die Meldungen so zahlreich, daß nicht alle Kinder
aufgenommen werden können, die als geeignet befunden worden sind, so
daß die Nichtaufnahme keineswegs bedeutet, daß das Kind für unbegabt
gehalten worden ist."
Einige allgemeinere Erfahrungen, von denen Witthöft Mitteilung gibt, sind:
1. Die Kleinen fühlen nicht die 10 als Grenze, sondern die 12; sie fühlen
11 und 12 nicht als Zusammensetzung, sondern als einfache Namen und
zählen demnach auch 29, 10 und 20, 11 und 20, 12 und 20, aber nicht
13 und 20.
2. Alle zählen in der Reihe der Geraden leichter 2 zu als in der Reihe
der Ungeraden.
3. Wer einigermaßen begabt ist, fühlt im 2. Zehner die Zusammensetzung
und zählt unter Anlehnung an den 1. Zehner. Die Begabtesten zählen mit
3 von 33 zu 36 zu 39 merklich leichter als z. B. von 21 zu 24 zu 27, wohl
in Anlehnung an 3, 6, 9.
4. Die Kleinen kommen leicht von der Einer- in die Zehnerreihe; 29, 30,
40, 50. Es fehlt die Vorstellung des Zahlenraums.
5. Die Zahlen 22, 33, 44, 55 werden oft in der Reihe ausgelassen; sie y
werden wohl wegen des Anklangs an den Zehner als schon gezählt
empfunden; 11 dagegen fehlt nie. Fehler wie unter Nr. 4 und 5 sind ein
sicherer Beweis, daß das Kind ungeübt ist; es braucht aber nicht unbegabt
zu sein.“
Witthöft hat die Ergebnisse seiner Auslesen, weil er die Schulbahnen der
Schüler verfolgen konnte, vielfach nachprüfen können. Die Auswahl hat
sich im allgemeinen dabei als zuverlässig erwiesen. Selbst die späteren Rang¬
ordnungen stimmen im großen und ganzen zu dem Ergebnis der Prüfung. 1 )
Zur Frage der Befähigung und Eignungsprüfungen für den Musikerberuf
gibt der Kunstwart des Deutschen Musikerverbandes Arthur Jahn in der
Absicht, die Öffentlichkeit aufzuklären, folgende Ausführungen: „In keinem
andern Beruf kann man wohl so häufig Selbsttäuschungen über die Ge¬
eignetheit begegnen wie im Berufe des ausübenden Musikers. Im Leben
fast jedes Menschen gibt es Zeiten, wo die Fähigkeit zum musikalischen Er¬
leben besonders stark wird, und häufig steigert sich die Erlebniskraft so Behr,
daß der WunBcb, sich ganz der Musik ergeben zu können, für die Berufs¬
wahl ausschlaggebend wird. Aber ein anderes ist die Fähigkeit, subjektive
Erlebnisse zu objektivieren, sie ,darzustellen‘. Beide Fähigkeiten sind
keineswegs immer in einer Person vereinigt, und so sind gerade bei uns
,viele berufen, aber wenige auserwählt'. Bei der Wahl der Musik als
Lebensberuf ist also zwar die Fähigkeit zum Erleben und der Drang zur
l ) „Der Aufbau*, Wochenschrift für Elternhaus und Schule, Nr. 14/16. 1922. Wenn Witthart
schreibt, daß ähnliche Veranstaltungen nirgends im Gebrauch zu sein scheinen, so trifft dies
nicht zu. Es sei u. a. verwiesen auf Scheibner, Die Untersuchung der Schulneulinge als
pädagogische Übung im Seminarunterrichte („Die Arbeitsschule'*, 29. Jahrg., 1914, S. 273 ff.)
und auf die Hilfsmi ttel, die das Institut für experiment. Pädagogik im Leipziger Lehrerverein
herausgegeben hat
20 *
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
musikalischen Äußerung selbstverständliche Voraussetzung. Die Berufseignung
ist damit aber noch nicht gegeben: Das Vorhandensein gewisser sensorischer
und motorischer Fähigkeiten ist unerläßliche Bedingung. Diese festzustellen,
würde eine dankbare Aufgabe für die angewandte Psychologie sein, und
manches verfehlte Leben würde bei rechtzeitiger Beratung in dieser Hinsicht
in die rechte Bahn zu lenken gewesen sein, wenn geeignete Prüfungs¬
methoden vorhanden gewesen wären. Eine solche Prüfungsmethode auszu¬
arbeiten, ist der Deutsche Musikerverband bemüht, der mit Rücksicht auf
seinen beruflichen Nachwuchs das allergrößte Interesse an dieser Frage hat.
Er findet reiche Unterstützung von seiten des Berufsamtes der Stadt Berlin,
dessen Direktor, Dr. Liebenberg, sich wieder der Hilfe der Psychologen an der
Universität versichert. Zwei Serien von Schülern der der Staatlichen Aka¬
demischen Hochschule für Musik angegliederten Orchesterschule Bind bereits
auf Grund der in gemeinsamer Arbeit hier zusammengestellten Eignungs¬
prüfung aufgenommen worden, und man kann mit dem bisherigen Erfolge
sehr zufrieden sein, wenn auch mit wachsender Erfahrung die Methode immer
weiter verbessert werden muß. Die Prüfung erstreckt sich zunächst auf
allgemeine musikalische Fähigkeiten, sodann aber auf das Unterscheidungs¬
vermögen und Gedächtnis für Tonhöhen und Zeitmaße, auf die Intelligenz,
Beobachtungsgabe und Konzentrationsfähigkeit, auf die Zeit, die von der
Einwirkung eines Licht-, Gehör- oder Tastreizes bis zur Reaktion in Form
einer einfachen Bewegung verläuft, und endlich auf die Zahl einfacher gleicher
Bewegungen, die der Prüfling in einer Zeiteinheit auszuführen vermag. Wenn
man sich davor hütet, die Ergebnisse der psychotechnischen Prüfung in
ihrer Bedeutung zu überschätzen, sie vielmehr als das Sekundäre betrachtet,
das erst durch das Vorhandensein der musikalischen Vitalität als des Pri¬
mären Wert gewinnt, so kann mit dieser Prüfungsmethode jedenfalls viel
Schaden verhütet und Nutzen gestiftet werden, zum Segen der Menschheit
und der musikalischen Kunst.“ (Voss. Ztg. vom 21. Mai 1922.)
Die Koinstruktion in psychologischer Beleuchtung untersucht der Frank¬
furter Stadtschulrat Heinrich Schüßler in einer Abhandlung des Pharus
(13. Jahrg., 1922, S. 229 ff.). Er kommt zu folgenden Hauptergebnissen:
1. In der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen lassen sich deutlich
drei Phasen unterscheiden: Die Zeit vor der Pubertätskrisis, die Pubertäts¬
jahre und die darauf folgende Zeit.
2. Vor der Pubertätskrisis sind im allgemeinen die Mädchen den Knaben
überlegen. In der Pubertätszeit bereitet sich bei starker Differenzierung der
Geschlechter eine Umkehr vor. Nach den Pubertätsjahren sind die männ¬
lichen im Durchschnitt den weiblichen Jugendlichen überlegen.
3. Daraus ergibt sich vom psychologischen Standpunkt aus bei Aufrecht¬
erhaltung der vollen Gleichwertigkeit der beiden Geschlechter und des ge¬
meinsamen Endziels wenigstens für die Pubertätszeit eine Verschiedenartigkeit
in der Verteilung der Jahrespensen und damit eine Preisgabe des Koinstruk-
tionsprinzipes für diese Zeit oder eine Auflösung der Altersklassen in reine
Begabungs- oder Leistungsklassen.
4. Vor und nach der Pubertätszeit sind gegen die Koinstruktion vom
psychologischen Standpunkte keine Bedenken zu erheben, da die vorhandenen
Unterschiede bedeutend geringer sind.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
309
5. Ein bemerkenswerter psychischer Unterschied auf verschiedenen Ge¬
bieten zwischen der erwachsenen Frau und dem erwachsenen Manne ist
nicht wegzuleugnen.
6. Er besteht nach der Ansicht maßgebender Psychologen nicht in einer
Verschiedenheit der Intelligenz, sondern der Intellektualität und Emotionalität,
woraus folgt, daß das Unterrichtsziel (siehe Satz 31) vom psychologischen
Standpunkte aus nicht das gleiche sein soll.
Die belgische Fürsorgeerziehung beschreitet neue Bahnen, ähnlich wie sie
Dr. Karl Wilker im Lindenhof gegangen ist. In der Schrift L’observation
des enfants de justice hat M. Rouvroy, der Leiter des Beobachtungshauses
Moll (bei Antwerpen), seine Grundsätze und Erfahrungen niedergelegt.
Optimistische, verständnisbereite Liebe zu den gefährdeten Kindern, ein un¬
erschütterlicher Glaube an die guten Keime jedes menschlichen Wesens sind
die Vorbedingungen für jeden Erzieher. In Moll bekommen die jugendlichen
Gefährdeten eine Umgebung, die nach Möglichkeit sich dem Leben nähert.
Werkunterricht, Spiele, Spaziergänge lassen Freiheit zum Selbstausdruck. Die
Kinder, die nach Vor-Geschlechtsreifen, Geschlechtsreifen und Nach-Ge-
scblecbtsreifen eingeteilt sind, spüren das Vertrauen, das der Leiter ihrer
Gruppe in sie «etzt, und sie lohnen es. Ein Briefkasten nimmt Wünsche
der Zöglinge auf, namentlich das Verlangen nach einer persönlichen Aus¬
sprache mit dem Oberleiter, dem Arzt oder Geistlichen. Sogar das Recht,
am Essen zu kritisieren, ist zugelassen. Nur während der ersten Tage
wird der Neuankommende in einer Sonderzelle abgeschlossen, damit er nicht
mit seinen Streichen von draußen sich vor den anderen brüsten kann. Gegen¬
über von der Zelle werden die Zeichnungen und Handarbeiten der künftigen
Kameraden ausgestellt; der Neuling bekundet Verlangen, dies oder jenes auch
zu tun. Er bekommt mannigfache Gelegenheit dazu. Seine Neigungen und
Fähigkeiten werden offenbar, die Berufswahl für ihn ist so erleichtert, ein
gesundes Fortkommen meist gesichert. Schülerräte verhandeln mit den
Lehrern über die Organisation und die Zucht der Anstalt, und noch immer
sind die Würdigsten von ihren Kameraden mit der Vertretung betraut worden.
Kleine Arbeiten für die Anstalt werden mit Geld gelohnt, das in der Schul¬
kantine sofort in Zuckerwerk, Zigaretten usf. umgesetzt werden kann. Wer
es aber spart, erhält von der Anstalt einen Zuschuß von 20 v. H. Ein
Theatersaal, Musikinstrumente usw. stehen zur Verfügung, und die Ausübenden
widmen sich den unverhofft beschiedenen Betätigungsmöglichkeiten am Guten
und Schönen. Der Psychologe und der Arzt sind die Führer der Jugend¬
lichen.
Die Genfer Sonderklassen (classes faibles) sind jüngeren Ursprungs als die
Hilfsklassen für Anormale (classes spöciales). Sie nehmen Schüler auf, die
dem ihrer Altersstufe entsprechenden Unterricht nicht folgen können, sei es
infolge einer geringen intellektuellen Zurückgebliebenheit, sei es infolge
Krankheit oder mangelnder Familienerziehung. Sie erstrecken sich nur auf
die Kinder von 7—10 Jahren und werden von Lehrerinnen geführt. Die
Auswahl der Sonderschüler beginnt schon im Kindergarten (obliga¬
torische öcole enfantine), und zwar mit Hilfe von Tests, die zu diesem
Zwecke dauernd vervollkommnet werden. Zeigen sich in der achten bis
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310
Kleine Beitrfige und Mitteilungen
sechsten Klasse auffällige Lücken und Mängel bei schwachen Schülern, so
werden diese dem Inspektor der Sonderklassen, einem erfahrenen Psycho¬
logen, vorgestellt, der eine Prüfung vomimmt und über die Aufnahme in die
Sonderklasse entscheidet. Einen festen Plan gibt es hier nicht; Richtpunkt
ist der geistige Stand der Klasse. Erziehliche Spiele sind das Hauptmittel,
um Kenntnisse beizubringen und zu üben. Die unterste Sonderklasse darf
nicht über 18, die beiden andern dürfen nicht über 25 Schüler haben. Ober
jedes Kind wird ein psychologischer Beobachtungsbogen geführt. Die
Lehrerinnen haben regelmäßig Besprechungen mit dem leitenden Psycho¬
logen, der auch eine Spezialbücherei verwaltet und Versuche durchführt.
Nach Ablauf des dritten Schuljahres haben etwa 2 /3 der Sonderschüler ihre
Kameraden in den Normalklassen eingeholt. Das letzte Drittel wird in das
3. Normaljahr übergeführt.
Die Frage des Lehrfilms, dessen Gestaltung und pädagogische Verwertung
mehr, als es bisher geschehen ist, der psychologischen Untersuchung bedarf,
haben seit Jahren die Arbeitsgemeinschaft, die Leiter der amtlichen
Bildstellen (Alab) im Reiche und die Film- und Bild-Arbeitsgemeinschaft
Groß-Berlin in der Stille bearbeitet, um vorerst von sich aus mit allen
Lagen des erziehlichen Films und Lichtbildes vertraut zu werden und um
dann allmählich immer weitere Kreise mit ihren Erfahrungen beraten zu
können. Die Alab hat sich nun im Oktober 1921 zum Deutschen Bild¬
spielbund erweitert, um auch allen denen, die nicht Leiter amtlicher Bild¬
stellen sind, aber dem gleichen Ziele in kleineren Kreisen dienen, Gelegen¬
heit zum Anschluß zu geben. Der Bund arbeitet eng zusammen mit der
Berliner Arbeitsgemeinschaft, die durch ihren Sitz am Hauptort der Lehr-
filmherstellung zur Vermittlung besonders berufen ist. Beide Vereinigungen,
denen ein Heim im Friedrichs-Werderschen Gymnasium gewährt worden
ist, geben eine Zeitschrift „Das Bildspiel" heraus. Sie trägt den
Untertitel „Eine Zeitschrift für Lehrende“, um damit Ziel und Leser¬
kreis anzudeuten. Die Arbeitsgemeinschaft unterhält ferner ein Filmseminar
zur Ausbildung Lehrender in Filmfragen und Filmgebrauch, das zurzeit nur
für Berliner in Betracht kommt, und eine für das ganze Reichsgebiet arbei¬
tende Bestellanstalt, die gemeinsamen Filmbezug zu billigeren Preisen ver¬
mittelt.
Die Arbeitsgemeinschaften für praktische Psychologie in Westfalen und
Lippe, eingerichtet von der Provinzialabteilung für praktische Psychologie,
sind einheitlich in folgender Weise eingestellt: „Jede Arbeitsgemeinschaft ist
möglichst so auszubauen, daß aus jeder Schule, gleichgültig welcher Art,
mindestens ein Vertreter Mitglied der Arbeitsgemeinschaft ist, um deren An¬
regungen und Arbeiten im Kreise der eigenen Mitarbeiter bei geeigneten
Gelegenheiten eingebend besprechen zu können. Die psychologischen
Personalbogen sind möglichst zur Verbreitung und Bearbeitung zu bringen.
Eingehende Beobachtungen in Anlehnung an den Personalbogen sind zunächst
in Einzelfällen und allmählich in weiterer Ausdehnung in Angriff zu nehmen.
Für die verschiedenen seelischen Gebiete ist die Unterrichtspraxis sorgfältig
auf geeignete Beobachtungsgelegenheiten hin zu verfolgen. Aus der prak¬
tischen Beobachtung in Einzelfällen und aus der Suche nach guten Beob-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
311
achtungsgelegenheiten heraus ist die äußere Anlage der Personalbogen nach
der Art der Einteilung und nach Ausdehnung, Form und Inhalt der Fragen
einer ständigen kritischen Betrachtung zu unterstellen, da nur aus der Be¬
währung in der Praxis sich die richtige Beurteilung und Gestaltung des
Personalbogens in allen Einzelheiten ergeben kann. In gegenseitigem Aus¬
tausch der Erfahrungen kann die Förderung der einzelnen Mitglieder in der
Vertiefung der psychologischen Beobachtung weitergefflhrt werden. Als ge¬
eignete Form dieses Gedankenaustausches empfiehlt es sich, über einzelne
seelische Gebiete zunächst in einem Referat die wissenschaftlichen Begriffe
zu klären, die Beobachtung bzw. Prüfung der Funktionserscheinungen zu
erörtern, Beobachtungsgelegenheiten aus der Unterrichtspraxis innerhalb der
verschiedenen Schulfächer zusammenzutragen und die Fragengestaltung der
psychologischen Personalbogen kritisch zu besprechen. Am Ende einer ge¬
wissen Beobachtungszeit sind die Ergebnisse zusammenzufassen und zu einem
psychologischen Gutachten zu verarbeiten. Aus diesen psychologischen Gut¬
achten kann bei besonderer Einarbeitung einzelner Mitglieder der Arbeits¬
gemeinschaft ein Gutachten über die allgemeine Berufsgruppeneignung heraus¬
gearbeitet werden. Dieses Gutachten kann bei Schulabgängern in gemein¬
samer Besprechung mit dem Berufsberater des Berufsamtes oder durch Be¬
teiligung an dessen Beratungsstunden für die in der Schule beobachteten
Jugendlichen im Sinne praktischer Berufsberatung nutzbar gemacht werden.“
Gleichzeitig werden den Arbeitsgemeinschaften Sammelmappen mit den
wichtigsten psychologischen Beobachtungsbogen und den zugehörigen Er¬
läuterungsschriften zwecks Durcharbeitung seitens der einzelnen Mitglieder
leihweise zur Verfügung gestellt. Arbeitsgemeinschaften für praktische Psycho¬
logie bestehen bereits in Minden, Detmold, Lage, Buer, Gladbeck, Gelsen¬
kirchen, Recklinghausen, Witten, Siegen, Hagen, Iserlohn, Herne, Dortmund;
sie sind in der Bildung begriffen in Lüdenscheid, Arnsberg, Bochum, Bottrop,
Münster; sie sind in Vorbereitung in Herford, Bielefeld, Gütersloh, Waren¬
dorf, Hamm, Unna, Paderborn, Lippstadt, Soest, Rheine, Schwelm.
•
Ein Institut für Jugendkunde in Magdeburg ist auf Anregung des Lehrer¬
vereins vom Magistrat eingerichtet worden. Dem Verein ist die folgende
Mitteilung zugegangen: Der Magistrat hat die Absicht, von Ostern 1922 ab
bei der Schulverwaltung ein wissenschaftliches Institut für Jugendkunde unter
der Leitung eines Fachpsychologen zu begründen, in dem die Lehrkräfte der
hiesigen Schulen Gelegenheit haben, sich in die Probleme der modernen
Psychologie einzuarbeiten. Der Arbeitsplan, der zunächst einmal versuchs¬
weise auf vier Halbjahre verteilt ist, sieht Vorlesungen, Seminararbeiten und
Obungen vor und behandelt folgende Stoffe: A. Geschichte der Psychologie
mit besonderer Berücksichtigung der psychologischen Begriffe, Einführung in
psychologische Beobachtungen an der Hand von Sachbild- und Inversions¬
versuchen nebst Besprechung der Methoden psychologischer Forschungen.
B. Raumwahmehrtmngen des Auges und des Tastsinnes. C. Psychologie des
Lesens, Gedächtnis, Tierpsychologie, das Leib-Seele-Problem, massenpsycho¬
logische Fragen. D. Denkpsychologie und das Problem der Intelligenz¬
prüfung, Psychologie und Psychotechnik, Übung und Ermüdung, das Problem
des Tests, das Problem der Vererbung geistiger Eigenschaften, Psychologie
der Sprache und ihrer Störungen, Kinderpsychologie, Assoziationspsychologie
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312
Kleine Beiträge und Mitteilungen
und die Gestalttheorie, Aufmerksamkeitstheorie. — Neben den Vorlesungen
und Übungen sollen zusammenfassende Vorträge auswärtiger Universitäts¬
lehrer stattfinden. Die Vorlesungen, Übungen und Vorträge sind frei, doch
wird von den Teilnehmern zur Deckung der Verwaltungskosten ein Semester¬
beitrag von 25 M. erhoben.
Der Hamburger Lehrgang zur pädagogischen Psychologie, den Prof. William
Stern-Hamburg für Lehrer und Lehrerinnen aller Schulgattungen eingerichtet
hatte, ging mit dem Winterhalbjahr zu Ende. Studienrat Schwärig berichtet dar¬
über: „Der Lehrgang war besucht von Hörern aus ganz Deutschland und dem Aus¬
lande. In Vorlesungen und Übungen wurden die Teilnehmer bekannt gemacht
mit den Problemen der Kinder- und Jugendlichen-Psychologie. Durch selbstän¬
dige Arbeiten in Laboratorium und Schule wurden sie vertraut mit der Praxis
der Schülerbeobachtung, der Begabtenauslese und der Feststellung der Be¬
rufseignung. William Stern selbst führte in einem Sonderkursus ein in die
Methoden und Ergebnisse der Begabungs- und Eignungspsychologie. Einzel¬
vorträge und kurze Vortragsfolgen, gehalten von Hamburger Fach- und
Schulmännern, umspannten das gesamte Gebiet des Schul- und Bildungs¬
wesens dieser reformfreudigen Großstadt, die man wohl mit Recht als die
Keimzelle großzügiger pädagogischer Neuerungen bezeichnen darf: Landes¬
schulrat Prof. Umlauf sprach über Organisation des Hamburger Bildungs¬
wesens; Peter Petersen über Reformideen und Bestrebungen im höheren
Schulwesen; Schulrat Götze berichtete über die Hamburger Arbeits- und
Gemeinschaftsschulen, Dr. Riebesell, Direktor des Jugendamtes, über Jugend¬
pflege und Jugendfürsorge. Dr. Bondi führte ein in die Ziele und Bestre¬
bungen der bürgerlichen und proletarischen Jugendbewegung. Der bekannte
Heilpädagoge Dr. Bischof behandelte das weite Gebiet der Psychologie und
Erziehung geistig und körperlich Defekter (Psychopathen, Blinde, Taubstumme).
Lehrer Zimmermann sprach über die psychologischen Grundlagen der Didak¬
tik des ersten Lesens. Die Fragen der Berufsberatung und die Organisation
des Hamburger Berufsberatungsamtes schilderte eine Mitarbeiterin dieser Be¬
hörde. — Ergänzt wurden diese Vorträge durch Besibhtigungen: Von dem
Kindergarten nach Fröbel und Montessori über die meist verkannten und
falsch beurteilten Hamburger Gemeinschaftsschulen und die Heimschule für
Schulmüde, über Blinden- und Taubstummenanstalten, Reformschulen des
höheren Schulwesens bis zu den Volkshochschulkursen und den Vorlesungen
der Universität erstreckte sich der Arbeitskreis des Lehrganges. Reichste
Erfahrungen nehmen alle mit hinweg, und Prof. Stern hat sein Versprechen
eingelöst, den Teilnehmern, die beabsichtigen, in ihren Kreisen die Aufgaben
der Schulpsychologie und die psychologische Schulung der Lehrerschaft zu
fördern, das Rüstzeug zu liefern." (Sächs. Schulzeitung.)
Nachrichten. 1. Studienrat Dr. Ernst Hoffmann am Mommsen-Gymnasium
in Charlottenburg ist an ein etatmäßiges Extraordinariat für Philosophie
und Pädagogik der Universität Heidelberg berufen worden.
2. Stadtschulrat Dr. ing. Barth in Frankfurt a. M. erhielt innerhalb der
wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt
einen Lehrauftrag für Gewerbepädagogik.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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3. An der Frankfurter Universität ist Studienrat Dr. J. Wagner mit
einem Lehrauftrag für Jugendkunde betraut worden.
4. Der Ministerialrat im Sächsischen Kultusministerium Geh. Schulrat
Dr. Schmidt, dem die Leitung des neubegründeten praktisch-pädagogischen
Seminars bei der Technischen Hochschule zu Dresden übertragen wurde, er¬
hielt die Ernennung zum Honorarprofessor.
5. Dr. Otto Braun, o. Prof, der Pädagogik in Basel, ist gestorben.
6. Ein psychologisches Institut für das amerikanische Wirt¬
schaftsleben haben der bedeutendste Psychologe New Yorks, J. M. Cattell,
und der Präsident der Yale-Universität, J. B. An gell, ins Leben gerufen.
7. Die Lehrerschaft in Nürnberg wird mit Hilfe der Stadt ein Institut
für Jugendkunde einricbten, für das als wissenschaftlicher Leiter der
Prof. Dr. Baege, der Vertreter der Philosophie, Psychologie und Pädagogik
an der Handelshochschule in Aussicht genommen ist.
8. Von Lehrern der Volksschule, der höheren SchuleD und der Hochschule
ist in Mannheim eine pädagogische Gesellschaft gegründet worden,
die in gemeinsamer Arbeit die Zeitfragen des pädagogischen Lebens auf
wissenschaftlicher Grundlage und in ihren Beziehungen zu den sozialen
und kulturellen Erscheinungen untersuchen will.
9. In Dresden wurde vom Unterrichtsminister eine staatliche höhere
VerBUchsschüle eröffnet.
10. Im Sommer 1922 soll an der Technischen Hochschule in Dresden ein
Psychotechnisches Institut errichtet werden, das die Aufgabe haben
soll, nach wissenschaftlichen Grundsätzen die Fragen der Berufseignung und
Berufsberatung zu untersuchen und von dem man hofft, daß es vielleicht
der Ausgang für die Begründung eines staatlichen allgemein-pädagogischen
Laboratoriums werden wird.
11. In Berlin ist unter Leitung von Dr. Piorkowski das Orga-Institut,
eine Untersuchungs- und Forschungsanstalt für Arbeitswissen¬
schaft und Psychotechnik, gegründet worden. Das Institut hat vier
Abteilungen: 1. Kaufmännische Eignungsprüfungen zur Feststellung der Be¬
rufseignung und Anlern verfahren; 2. Objekts-Psychotechnik, d. h. psycho-
technische Untersuchungen an Arbeitsgeräten und Bureauhilfsmitteln;
3. Wissenschaftliche Betriebsführung; 4. Reklameberatung.
12. Der neugegründete Verein für Moralpädagogik wendet sich an
die Erzieher und die Jugend- und Volksfreunde mit einem Aufruf, in dem
er seine Ziele darlegt und um Mitarbeit und Mitgliedschaft wirbt. Anmel¬
dungen und Beiträge (20 M.) nimmt Lehrer Johannes Keilhack, Leipzig-
Schleußig, Oeserstr. 22II, entgegen.
13. Der Hessische Lehrerverein hat dem Psychologischen Institut
in Marburg eine 35000 M.-Spende aus freiwilligen Gaben seiner Mitglieder
überreicht.
14. Der Hauptausschuß im Preußischen Landtage hat die folgenden Anträge
zum Ausbau des psychologischen und pädagogischen Studiums an den Hoch¬
schulen angenommen: „An allen Universitäten und technischen Hochschulen
sind Lehrstühle für Erziehungswissenschaft zu errichten, soweit solche nicht
vorhanden sind.“ „In allen Fällen, wo keine besonderen Vertreter für
Pädagogik an einer Universität vorhanden sind oder wo diese nicht experi¬
mentelle Pädagogen sind, ist für die Vertretung der experimentellen Pädagogik
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
vorläufig wenigstens in der Weise Sorge zu tragen, daß geeignete Privat-
dozenten einen Lehrauftrag für experimentelle Pädagogik erhalten, daß außer¬
dem in Zukunft bei Besetzung von pädagogischen Professuren die experi¬
mentellen Pädagogen eine stärkere Berücksichtigung erfahren.“ (Antrag
Dr. Gottschalk-Hoff.)
15. Ein Lehrgang über Stottern, Stammeln und Stimmstörungen in der
Schule fand unter Leitung von Professor Dr. Fla tau vom 19.—24. Juni in
der Phonet. Abteilung der Universitätsklinik statt.
16. Die diesjährige Generalversammlung der Kant-Gesellschaft wurde
als allgemeiner deutscher Philosophenkongreß vom 6.-8. Juni in Halle ab¬
gehalten. Gleichzeitig tagte unter Führung ihres Begründers Geheimrat
Vaihinger der Kongreß der Freunde der Philosophie des Als-Ob.
17. Das Institut für praktische Psychologie in Dortmund, Ab¬
teilung „Wirtschaftspsychologie“, veranstaltete am 29., 30. und 31. Mai
1922 einen Psychotechnischen Kursus zur praktischen Einführung in die
Aufgaben und Arbeitsmethoden der wirtschaftlichen Psychotechnik. Es wurden
an Vorträgen geboten: Dr. J.Weber: „Aufgaben, Möglichkeiten und Leistungen
der Psychotechnik“. Dr. Th.Valentiner, Leiter des Instituts für Jugendkunde
in Bremen: „Erfahrungen bei der psychotechnischen Auslese industrieller
Lehrlinge in Bremen“. Rektor Beyer, Eickel i. W. (Mitarbeiter von Prof.
W. Stern, Hamburg): „Die Lehrlingsauslese nach dem Hamburger Ver¬
fahren“. Dr. J. Weber: „Aus der Praxis psychotechnischer Eignungs¬
feststellungen im rhein.-westf. Industriebezirke“. Ingenieur Dr. Gottschalck,
Berlin: „Aufbau, Eichung und Kontrolle psychotechnischer Apparate“.
Dr. J. Weber: „Vorbereitung, Durchführung, Auswertung und Bewährung
psychotechnischer Eignungsfeststellungen“. An den Nachmittagen wurden
von den Vortragenden praktische Übungen abgehalten.
18. Das pädagogisch-psychologische Institut München veranstaltet
im Sommerhalbjahr 1922 folgende Vorlesungen und Übungen: Praktische
Übungen in den Berechnungsmethoden der pädagogischen Psychologie (Huth),
18stündig. — Neue Wege der Jugendpsychologie: die eidetische Anlage
(Dr. Riekel), 4stündig. — Einführung in die Charakterkunde auf lebens¬
wissenschaftlicher Grundlage (Dr. Klages) 8stündig.
19. Für die diesjährigen Ferienkurse in Jena, die vom 2. bis 15. August
abgehalten werden, sind unter anderen die folgenden Vorlesungen und
Übungen angezeigt worden: Physiologische Psychologie (Prof. Dr. Berger-
Jena), Bildungsprobleme der Gegenwart (Prof. Dr. W. Rein-Jena), Kernfragen
der Pädagogik (Geh. Studienrat Dr. A. Rausch-Königsberg), Spezielle Didaktik
mit praktischen Übungen (Oberlehrer A. Höhne-Jena), Arbeitsunterricht und
Arbeitsschule (Prof. Dr. G. Weise-Jena), Die praktischen Grundlagen der
Arbeitsschule (Lehrer H. Denzer-Worms), Stoffe und Probleme des Religions¬
und Moralunterrichts (Prof. D. Weinel-Jena), Die Sprachentwicklung des
Kindes und die Methode des deutschen Sprachunterrichtes (Prof. Lic. Dr. Sell-
mann-Hagen), Fragen der Kunsterziehung (Dr. W. Flitner-Jena), Unterricht
in plastischer Gestaltung der Entwicklung des räumlichen Sehens und Vor¬
stellens (Martha Bergemann-Könitzer-Jena), Seelisch-abnorme Kinder- und
Jugendfürsorge (Prof. Dr. W. Strohmayer-Jena), Gehörleidende Kinder
(Direktor K. Braukmann-Jena), In welchem Umfange und in welcher Weise
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Literatur bericht
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unterscheiden sich Unterricht und Erziehung beim geistig minderwertigen und
normal begabten Kinde ? (Rektor M. Breitbarth-Halle), Sprachentwicklung und
Sprachstörungen beim Kinde (Sprachheillehrer J. Hecker-Jena).
Literaturbericht.
Selbstanzeigen.
Dr. Richard Müller-Freienfels, Psychologie des deutschen Menschen und seiner
Kultur. München 1922. Beck. 228 S. 61,50 M.
Dieses Buch unternimmt den tiicht leichten Versuch, einen Volkscharakter in wissen¬
schaftliche Begriffe einzufangen. Methodisch hatte es sich den Weg durch wenig be¬
bautes Gelände zu bahnen, denn soviel auch geredet und geschrieben wird über die Charaktere
der Völker, ganz selten, in Deutschland überhaupt nicht, sind solche Urteile auf systematischer
Basis erwachsen. Und doch ist es so unendlich notwendig, daß die Völker einander und auch
sich selber kennen lernen. Nicht nur politisch und kulturell im allgemeinen, auch die Pädagogik
braucht eine Kenntnis des Bodens, auf den sie säen solL Und wir haben es ja in der Beziehung
nicht mit einem klischeehaften Noimalmenschen, sondern mit jungen Deutschen in ihrer Besonderheit
zu tun. So hofft das Buch, ohne direkt pädagogische Ziele zu verfolgen, doch auch für die
Pädagogik fruchtbar werden zu können.
Es deckt zunächst die seelische Grundstruktur des deutschen Menschen auf und leitet
aus diesen Grundtatsachen die Komplexe der Erfahrungen: z. B. den deutschen Individualismus,
die Vielfältigkeit und Entwicklungsfähigkeit, die Formlosigkeit und den metaphysischen Stand
des deutschen Menschen ab. ln den Resultaten weicht es zum Teil stark ab von den land¬
läufigen Meinungen. Es glaubt jedoch für jede Darlegung reiches Beweismaterial aus Geschichte
und Leben erbracht zu haben. So hofft es ein Buch zu sein, das gerade in unserer Zeit der
wirtschaftlichen und politischen Überfremdung eine Notwendigkeit für unser Volk ist
Dr. Richard Müller-Freienfels, Bildungs- und Erziehungsideale in Vergangen¬
heit, Gegenwart und Zukunft. Leipzig. Quelle & Meyer. 1921. 103 S. 24 M.
Dies Büchlein möchte nicht sowohl ein fertiges Bildungsideal präsentieren, als zunächst
einmal die ganze Problematik des Bildungsbegriffs in psychologischer und philosophischer
Hinsicht aufrollen. Indem es den mannigfachen Wandlungen der Bildungsideale nachgeht, indem
es die zeitlichen, völkischen, ständischen Gegensätze auf psychologische Formeln bringt, will es
ein Verständnis erschließen für die pädagogischen Notwendigkeiten der Gegenwart. Es zeigt,
wie wir weit davon entfernt sind, alle Funktionen der Seele gleichmäßig auszubilden in
unseren Schulen, es deckt vielmehr die Mängel des Intellektualismus, der Abstraktheit und Un¬
freiheit auf, ohne allerdings auch die Aktiva der Bilanz zu verschweigen. Auf Grund einer
Prüfung des Erreichten und des Möglichen sucht es dann Ausblicke auf dasjenige Bildungsideal
zu gewinnen, das nach der historischen und völkischen Konstellation heute bei uns als das
notwendige erscheint.
Franz Weigl, Bildung durch Selbsttun. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis der Arbeits¬
schule. 3. Aufl. München 1922, Kösel-Pustet. 20 M.
—, Wesen und Gestaltung der Arbeitsschule (Bd. 1 der Handbücherei der Erziehungs¬
wissenschaft für Lehrer, Lehrerinnen und ihre Arbeitsgemeinschaften von Dr. Schneider). 2. Aufl.
Paderborn 1922. Ferd. Schöningh. 20 M.
Beide Bücher sind aus meiner psychologisch orientierten Praxis herausgewachsen.
In dem ersten Buch, das 1912 erstmals erschien, dann während des Krieges liegen
bleiben mußte, nunmehr rasch zwei weitere Auflagen nötig machte, habe ich eine um¬
fassende psychologische Grundlegung besonders vom Standpunkt der Sinnespflege aus gegeben,
den Begriff der Arbeitsschule auf die Erziehungsaufgaben auszuwirken versucht und für
jedes Fach mich bemüht zu zeigen, wie seine psychologische Begründung nach allseitiger
Sinnesbetätigung, auch jener der Hand, und nach geistiger Selbsttätigkeit ruft. Die Aus¬
führungen über Religionsunterricht und die erziehlichen Maßnahmen der Schule sind auf das
Wirken einer katholischen Bekenntnisschule eingestellt; es wurde mir aber wiederholt auch von
Andersdenkenden bekundet, daß ich z. B. zur Heiligenverehrung allgemeine Gesichtspunkte ge-
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Literaturbericht
geben hätte, die für Idealauswirkung in der Schule von durchgreifender Bedeutung wären. Be¬
sonders freundlich wurden auch aufgenommen die für verschiedene Fächer durchgeführten Jahres¬
pläne mit praktischer Anweisung, was hierbei für Beobachtungsunterricht, für Zeichnen, für
Handbetätigung, für geistige Selbsttätigkeit an Material anfüllt. Die Folgerungen für die Schal -
Organisation (Herabsetzung der Klassenfrequenzen, Reform des Prüfungswesens, Personalbogen,
Sondereinrichtungen für manuell besonders begabte Kinder) sind seit der Erstauflage teilweise erfüllt
Im zweiten Buch, das nach wenigen Wochen im 3. und 4. Tausend ausgegeben werden
mußte, habe ich die Wesensmerkmale der Arbeitsschule dahin erläutert: manuelle Arbeit im
Sachunterricht für Begründung der einschlägigen Vorstellungen, geistige Selbsttätigkeit, wo iipmer
möglich, religiös-sittliche Taterziehung statt des Maulbrauchens für sittliche Fragen. Hier war
besonders bei Begründung dieser Wesensmerkmale Gelegenheit gegeben, auf die psychologischen
Ursachen als Unterbau der didaktischen Arbeit einzugehen. Es war mir dann darum zu tun,
zu zeigen, wie im Einzelfall der Beobachtungsunterricht, Schulübungen, Zeichnen, Stäbchenlegen,
Formen in Ton, Plastilin und Sand, Papier- und Kartonarbeiten, Bau an einfachen Apparaten,
einem wirklich anschaulichen Unterrichtsverfahren dienen können, wie Lehrerfrage und Schüler¬
frage im Unterrichtsverlauf abwechseln, wie sich Aktivität des Kindes bei Stoffen seelischen
Erlebens wecken läßt, wie freie Übungsreihen der geistigen Selbsttätigkeit dienen können, wie
endlich tätiges religiöses Leben an die Stelle von bloßem Katechismuswort, Kindertugend und
Kindervollkommenheit an die Stelle der Tugend Erwachsener, sittliche Selbsterziehung an Stelle
des bloßen Redens treten können.
ln beiden Büchern sollen keine pädagogischen Rezepte für mechanische Nachahmung ge¬
geben werden. Ich wollte zeigen, wie ich es gemacht habe, und damit andere anregen, es ähnHch
zu versuchen.
Hylla, Die Bedeutung der Begabungsforschung für die Berufsberatung. Langen¬
salza 1922. 45 S. 12 M.
Das Buch ist die auf Anregung einer Reihe von Hörern vorgenommene Niederschrift
eines Vortrages, der hier und da allerdings erweitert wurde. Wie dieser es wollte, so soll
auch das Büchlein nicht Lösungen geben, nicht angeblich „gesicherte“ Forschungsergebnisse
darstellen, sondern vielmehr die Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit der Aufgaben zeigen, die
noch der Bewältigung harren, sowie allgemeinverständlich und in Kürze die Wege andeuten,
auf denen man ihre Lösung gesucht hat. Der Verfasser hält dies für die einzige Möglichkeit,
bei der gegenwärtigen Sachlage vor Nichtfachleuten diese Dinge zu behandeln. Eine solche
Behandlung an sich scheint ihm aber auch unbedingt notwendig, wenn die Lehrerschaft für
verständnisvolle Mitwirkung an der Berufsberatungsarbeit gewonnen werden soll, und ohne ihre
Mitwirkung wiederum ist diese Arbeit an ihrer wichtigsten Stelle, nämlich bei den zur Schul¬
entlassung kommenden Jugendlichen, nicht durchführbar. Daß auch allgemeinere Fragen
der Begabungsforschung etwas eingehender behandelt sind, glaubt der Verfasser dadurch gerecht¬
fertigt, daß er in der Bekanntschaft bloß mit diesem oder jenem Einzelverfahren der Begabungs¬
feststellung, wie sie in letzter Zeit in steigendem Maße auch durch Tageszeitungen und Unter¬
haltungszeitschriften aller Art vermittelt wird, geradezu eine Gefahr erblickt. Er meint übri¬
gens annehmen zu dürfen, daß dabei auch Gedankengänge berührt werden, die wohl selbst
in der wissenschaftlichen Begabungsforschung noch nicht allgemein geworden sind, jedenfalls
aber im psychotechnischen Gewerbe — die von Lipmann vorgenommene Scheidung dieser beiden
Arbeitsgebiete sollte man streng festhalten! — kaum berücksichtigt werden, obwohl doch auch
dies wissenschaftlich begründet sein will.
F. Reinkemeyer, Förderung der Begabten. Richtlinien und Vorschläge zur Neugliederung
der Volksschule. Köln 1921. M. du Mont-Schaubergsche Buchhandlung. 32 S. 5.50 M.
Die vorliegende Schrift, die ich hier auf besondere Anregung der Schriftleitung anzeige,
verfolgt praktische Ziele. Aus der genauen Kenntnis des Kölner Volksschulwesens erwachsen,
kommt sie zu einer scharfen Verurteilung der bestehenden Abschlußklasse, um sodann —
im bewußten Verzicht auf eine eingehendere psychologische Grundlegung — Notwendigkeit und
Möglichkeit des Neubaues nachzuweisen. Ihren Schwerpunkt sieht sie, läßt man die praktische
Herausarbeitung außer Betracht, in dem besonderen pädagogischen Standpunkt, von dem
aus die Neuordnung erfolgen soll. Hintergrund jeder Organisation ist der Erziehungsgedanke,
der bloße intellektuelle Höherzüchtung als Grundlage einer Differenzierung von sich aus
abweist. Für diese ist nicht eine Einzeleigenschaft entscheidend (Intelligenz ist ein nicht scharf
genug umgrenzter Begriff), sondern die Gesamtverfassung des Schülers, namentlich die
Willenssphäre, die die Möglichkeit des Ausgleichs gewisser Minderwertigkeiten in sich schließt.
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Literaturbericht
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Notwendig ist die Differenzierung, weil die Schulerziehung sich auf dem Wege über den
Unterricht, der Ziele setzt, auswirken mufi. Ihre Aufgabe ist Entlastung der Schulziele
und Schulbegabungen von Hemmungen. Der Gedanke der Entlastung bildet das tragende
Gebälk der neuen Schulorganisation. Er erkennt Intelligenzschwankungen an und
schützt vor den Gefahren einer überfeinen Differenzierung. Von diesem Stande aus verlangt der
Verfasser die Bildung von Normal-, Entlastung^ und Sammelklassen nach dem 3. oder 4. Schul¬
jahr auf Grund der Lehrerbeobachtung (Tests sind nur in Zweifelsfällen heranzuzieben).
Die Schrift leugnet nicht den örtlichen Hintergrund, der ihr als Vorwurf gedient hat, tritt
indessen aus ihm heraus infolge ihres pädagogischen Standpunktes und der praktischen Vor¬
schläge. Sie aufzuzeigen in ihren Beziehungen zu dem einschlägigen Schrifttum und den wissen¬
schaftlichen Nährboden zu kennzeichnen, aus dem sie erwachsen, bleibt späterer Zeit Vorbehalten.
Einzelbesprechungen.
Dr. Josef Geyser, Prof, der Philosophie an der Universität Freiburg i. Br., Abriß der Psy¬
chologie. Münster L Westf. 1922. SchÖningh. 152 S. 24 M.
Zu seinem zweibändigen, in katholischen Kreisen und darüber hinaus hochangesehenen
„Lehrbuch der Psychologie 11 , das eine sehr vordringliche Behandlung der spekulativen Probleme
aufweist, gesellt hier Geyser eine kürzere psychologische Gesamtdarstellung. Sie bietet, bei
allen inneren Berührungen mit dem größeren Werke, keinen Auszug aus ihm, sondern hat Un
Gehalte, im Aufbau und in der sprachlichen Fassung ein Eigengepräge. Der Verfasser selbst
bezeichnet seinen Abriß als Frucht weiterführender Forschungsarbeit an den Problemen der
psychologischen Grundbegriffe. So weiß er sich besonders in der Auffassung des Bewußtseins,
der Intentionalität, der Erinnerung, der Begriffsbildung u. a. weitergekommen.
Auch der Abriß vermählt Empirisches mit Spekulativem. Er erörtert, nach der üblichen Ein¬
leitung über Gegenstand, Aufgaben und Methoden der Psychologie, zunächst einmal — damit schon
seine metaphysische Einstellung bekundend — die Begriffe Bewußtsein und Seele, wobei alle
materialistischen Auffassungen abgewiesen werden. Es folgt die Darstellung der Bewußtseins-
Vorgänge, unter denen von dem Erkenntnisvermögen mit Wahrnehmen und Empfinden, Vor¬
stellen und Erinnern, Denken und Erkennen, das Gemüt als Gebiet der Gefühlserlebnisse und
des Strebens und Wollens geschieden wird. Eine Schlußbetrachtung führt mit gehobener Sprache
in philosophische Fernen und bekennt sich zu dem Glauben an den göttlichen Ursprung und die
Unsterblichkeit der Seele.
Auch wer in anderer als katholischer Weltanschauung lebt, wird nicht ohne innere Be¬
reicherung sich in die Art vertiefen, wie in den festgefügten Bau eines philosophischen Systems
die Ergebnisse empirischer Psychologie eingefügt und damit in das Licht einer eigenen Auf¬
fassung gerückt werden. Es täuscht sich aber Geyser, wenn er meint, sein Buch sei so ge¬
halten, daß es auch als Unterlage auf den oberen Klassen der Gymnasien und an den Lehrer¬
seminaren verwendbar sein dürfte. Darauf ist es weder sachlich noch sprachlich eingestellt;
es erhebt nach beiden Seiten hin doch größere Ansprüche an wissenschaftliche Schulung.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Martha Schneider, Psychologische Pädagogik. Eine Einführung in ihre Praxis,
aufgebaut auf einer experimentell-psychologischen Untersuchung einer Lyzeumsklasse des
Industriegebietes nach Kriegsschluß. Mit 20 Kurven und Figuren und einer graphischen Tafel.
Breslau 1920. Hirth 96 S. 5.50 M.
Das Buch trägt einen irreführenden Titel; denn letzthin bietet es nicht mehr als einen Bericht
darüber, wie die Verfasserin ein Psychogramm der ihr anvertrauten Schulklasse aufgestellt hat.
Damit ist eine wichtige und wertvolle Bemühung der praktisch-psychologischen Pädagogik in
der Ausführung gezeigt, keinesfalls aber eine „Einführung 11 in ihr Gebiet gegeben. Es leidet
auch sonst die Schrift in der sprachlich-logischen Prägung an wissenschaftlichem Zuge. Ebenso
läßt mitunter die Gedankenbildung und die Stellungnahme, stark beeinflußt von einer gefühls¬
getragenen hohen Wertschätzung der experimentellen Pädagogik, die sachliche Abwägung mit
dem Blick auf das Ganze einer pädagogischen Anschauung und das Total des Schullebens
vermissen. Schon jeder der ersten Sätze des Vorwortes z. B. bedarf einer ganz bedeutenden
Einschränkung.
Doch schätzen wir das Buch als einen tapferen Versuch, mit der praktischen Durchführung
der heute mehr als je geforderten Psychologisierung der Pädagogik zu beginnen und sich mit
dem Berichte darüber an die Öffentlichkeit zu wagen und damit anregend zu wirken, wiewohl
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Literaturbericht
solchen ersten Untersuchungen — Franz Weigl ist ihr in seiner Arbeit „Das Psychogramm einer
Schulklasse als Unterlage für pädagogische Maßnahmen* (Z. f. päd. Psych. u. exp. Päd. 1919)
vorangegangen — noch allerhand Unzulänglichkeiten und Fehlgriffe anhaften müssen. Sie hier
im einzelnen aufzuzeigen und eine Auseinandersetzung darüber herbeizuführen, läßt bei der
Fülle der notwendigen Einwendungeu der Raum nicht zu. Grundsätzlich sei nur hervorgehoben,
daß bei allen psychologischen Ermittelungen über die Schüler und die Schulklasse, wenn sie
nicht gerade einzelnen Absichten, wie denen der Auslesen, dienen sollen, das Experiment kaum Jemals
die große Rolle spielen wird, die ihm Dr. Martha Schneider bei der fleißigen Gewinnung ihres
Psychogrammes zuweist. Zwar benutzt auch sie die Beobachtung und Befragung ausgiebig.
Vordringlich bleibt aber bei ihr doch immer wieder das Experiment Es ist nun zu bedenken,
daß die allermeisten dieser Versuche durchaus noch nicht klare psychologische Deutung, sichere
Eichung und durchgebildete Technisierung für einen allgemeinen praktischen Gebrauch auf weisen.
Zudem: sie schädigen, wenn sie in so ausgebreiteter Weise sich mit dem Unterrichte verquicken,
die unmittelbaren unterrichtlichen Aufgaben des Lehrens und Erziehens, und sie verlangen vom
Lehrer, sollen sie ernst durchgeführt und verwertet werden, ein sehr hohes Maß psychologischer
Einsicht und praktischer Schulung, abgesehen noch davon, daß sie ihm eine Arbeit bei der
Auswertung der Ergebnisse aufbürden (man schätze die Mühe bei der Verrechnung des Zahlen¬
werkes und der Aufstellung der Kurven, die hinter dem Schneiderschen Psychogramm liegt,
nicht zu gering ein), das er inmitten seiner Berufspflichten unmöglich noch auf sich
nehmen kann. Und anderes mehr! Peinliche Erfahrungen haben mich sehr gegen die Gestalt
des experimentierenden Lehrers eingenommen. Entscheidend für mich ist die Einsicht geworden,
daß die experimentellen Untersuchungen, die zu einem klaren Bilde von der Ge samt Verfassung
der Schüler und der Klasse führen sollen, zumeist doch nicht viel mehr an Zügen, die der Lehrer
für seine Bildungsarbeit erkunden muß, aufdecken, als was dem guten Beobachter in den
wechselnden Arbeitslagen des Unterrichtes ohnedies unmittelbar erkennbar wird. Und dann:
wenn der Lehrer so wenig für sein königliches Amt der Jugenderziehung begabt und geschult
ist, daß er mit psychologisch geschärftem Blicke im täglichen, intimsten geistigen Umgänge mit
den Schülern deren seelische Eigenart nicht erfaßt, so nützen ihm auch die angeblich sicheren Ergeb¬
nisse eigener experimenteller Untersuchungen wenig oder nichts, am Ende gar, wie ich es an einem
üblen Beispiele beobachten mußte, werden sie ihm zu mancherlei Gefahr. Ein Wert freilich darf
nicht verkannt werden: über dem vorsichtigen und wissenschaftlich wie pädagogisch einwandfreien
Experimentieren an seinen Schülern schärft sich der natürliche psychologische Blick, und so muß
der Lehrer zu dem Buch von Dr. Martha Schneider nicht greifen, um ihre viele Sorge und Mühe
um ein Psychogramm der Schulklasse in getreuer Kopie nachzutun, sondern um von ihr das
Eine, was nottut, zu lernen: die tatfreudige Gesinnung und den Eifer zur psychologischen Ver¬
tiefung in die uns anvertraute Schülerschaft. Es wird in diesem Sinne dann das Buch, das
übrigens sonst — wie der Journalist sagt — eine sehr gute * Presse* gefunden hat, schön er¬
füllen, was es nach seinem Untertitel sein will: eine Einführung. Ganz anders aber, wenn Test¬
untersuchungen der Auslese für bestimmte Zwecke dienen. Aber auch hier hat man ja erkannt,
wie wichtig es ist, daß sich die freie Beobachtung des Lehrers mit dem psychologischen Ex¬
perimente vermähle.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Otto Tumlirz, Das Wesen der Frage. Beiträge zu ihrer Psychologie, Gegenstands¬
theorie und Pädagogik. Leipzig 1919. SchulwissenschaftL Verlag A. Haase. 160 S. 7,50 M.
Ein bisher wenig bearbeitetes Gebiet der alltäglichen Unterrichtsarbeit ist hier aus wissen¬
schaftlichem Denken heraus beleuchtet. Die Ergebnisse des ersten Teiles, Überschrieben: „Bei¬
träge zur Psychologie und Gegenstandstheorie der Frage“, faßt T. selbst folgendermaßen zu¬
sammen: „Mag in diesem kurzen Abriß noch manches ungeklärt und ungelöst geblieben sein,
so hoffe ich doch, den Nachweis erbracht zu haben, daß Fragen ganz gewiß kein intellektuelles,
sondern ein emotionales Erlebnis ist, das zwar als Begehren aufgefaßt werden muß, Jedoch soviel
des Eigenartigen an sich hat, daß ihm innerhalb des Begehrungsgebietes eine deutliche Sonder¬
stellung zuerkannt werden muß". Seine Auffassungen entwickelt dabei der Verfasser auf der
Grundlage der Meinong’schen Gegenstandstheorie, von deren Fruchtbarkeit für pädagogische
Anwendung dabei überzeugend.
Ganz besonders wertvoll wird T’s. Werk noch durch die pädagogische Auswertung seiner
theoretischen Untersuchungen. Er überschreibt in dieser Einstellung den n. Teil seines Buches:
„Beiträge zur Pädagogik der Frage". Hier wird Sinn, Wert und Gestaltung der Unter rieh ts-
frage behandelt. Wenn wir uns den Anschauungen des Verfassers über das Wesen der
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UNIVERSITY 0F MICHIGAN.
Literatur bericht
319
„pädagogischen Frage 1 * auch nicht durchweg anschließen können (ein demnächst in dieser Zeit¬
schrift erscheinender Artikel, der das Problem vom Standpunkt der Philosophie des Als-Ob
betrachtet, wird noch darauf zurückkommen), so schätzen wir doch T.s Werk als eine der wert¬
vollsten Schriften der pädagogischen Literatur der letzten Zeit ein.
Waldau, Ostpr. H. Fuchs.
Prof. Dr. W. A. Lay, Führer durch den Rechtschreibeunterricht, gegründet auf
psychologische Versuche und verbunden mit einer Kritik des heimatkund¬
lichen Unterrichts. 5. Aufl. Leipzig 1919. Quelle & Meyer. 225 S. 50 M.
Das Bild des Wissenschaftlers Lay schwankt im Urteil seiner Zeitgenossen. Neben den
aUerschärfsten Gegnern — man erinnert sich des scharfen Angriffs durch Cordsen — stehen
begeisterte Lobredner, die ihn — wie Eduard Burger — sicherlich weit überschätzen. Gesichert
bleiben aber muß Lay jedenfalls das Verdienst, daß er als einer der ersten die Bedeutung des
pädagogischen Experimentes erkannt und es kühn in]Angriff genommen hat. Und wenn, nach¬
dem sich der experimentellen Pädagogik nach und nach die zünftige Forschung bemächtigt
hat, man sich jener ersten Anfänge nicht mehr erinnern mag, wenn man die Bewegung erst
dort einsetzen läßt, wo die Unzulänglichkeiten des ersten mutigen Zugriffs überwunden waren,
wenn man aus den Frühzeiten nur Professor Meumann nennt, die Lehrer Lay und Lobsien aber
mit Schweigen übergeht, so fälscht man die Geschichte der experimentellen Pädagogik.
Lay's Führer durch den Rechtschreibunterricht steht mit an der Schwelle der didaktischen Be¬
wegung, die durch empirisch forschendes Verfahren zu unterrichtswissenschaftlichen Erkennt¬
nissen gelangen wilL Auf dem Wege durch ein Vierteljahrhundert hat sich das Buch bis hier
zur vorliegenden 5. Auflage nach und nach befreit von manchem Unzureichenden, das sich aus
den großen Schwierigkeiten des ersten Vorstoßes erklärte. Ebenso wurde immer Fühlung mit
den experimentellen Arbeiten anderer Forscher gehalten und die Auseinandersetzung mit ihren
teilweise anderen Ergebnissen versucht. So durchsetzt sich das Buch, besonders in Fußnoten,
auch reichlich mit Polemik. Insbesondere erfährt Meumann entschiedene Antwort auf seine
Kritik, ln einer Anzahl wichtigster Fragen steht aber immer noch Meinung gegen Meinung,
und es ist auf neue Untersuchungen zu warten, denen die Entscheidung gelingt Schade nur,
daß heute das Begabungsproblem so vordringlich die psychologische Pädagogik beherrscht, daß
die Untersuchung didaktischer Fragen, die ohnehin immer vernachlässigt blieb, ganz verdrängt
ist. Gerade daß Lay die unterrichtsmethodischen Probleme, die nach experimenteller Lösung
verlangen und ihr zugänglich sind, aufgewiesen und angegriffen hat sollte ihm zu besonderem
Verdienste zugerechnet werden, mag man sonst auch seine Methode, seine Versuchsdurchführung
und seine Ergebnisse unter strenge Kritik nehmen und vor allem seine Überschätzung der
experimentellen Pädagogik abweisen.
Für den in der Unterrichtstätigkeit stehenden Lehrer ist der Lay’sche Führer besonders wert¬
voll, weil er aus den Versuchsergebnissen die praktischen Folgerungen zieht und die sich so
ergebenden Lehrverfahren darstellt. Aus deren Bewährung werden letzthin die Lay’schen Unter¬
suchungen ihr Werturteil empfangen müssen.
Leipzig. Otto Scheibner.
E. Formiggini Santa-Maria, Ciö che ö vivo e ciö che 6 morto della pedagogia di
Federico Fröbel. („Noch-lebendiges und Abgestorbenes an Fröbels Pädagogik“). Genua
1916. 236 S.
Die Verfasserin — Privatdozentin an der Universität Rom, Gattin des Professors Formiggini —
gibt im ersten Teile vor allem eine Darstellung der Fröbelschen Pädagogik auf Grund der lite¬
rarischen Dokumente. Es schließen sich einige kritische Bemerkungen an (S. 137—151), welche
dem großen Ideenzuge des deutschen Erziehers gerecht zu werden suchen und dabei doch die
schwachen Seiten seines Systems nicht übersehen. Der zweite Teil bringt zunächst ein Kapitel
über die Propagatoren Fröbelscher Ideen. S. 155—166 sind der Freiin v. Marenholtz-Bülow
gewidmet. S. 168—176 spiegeln die Aufnahme wieder, welche Fröbels Ideen in der italienischen
pädagogischen Literatur gefunden haben.
Das folgende Kapitel berichtet über die Eindrücke, welche Verfasserin bei ihren Besuchen
in italienischen Kindergärten empfangen hat — Besuche, welche, wie sie in der Einleitung er¬
zählt, ihr den Anstoß zur Beschäftigung mit Fröbelscher Pädagogik gegeben haben. Dieses
Kapitel (S. 177—200) dürfte für den deutschen Leser das größte Interesse haben. Man merkt
den Blick der intelligenten Beobachterin und man bekommt einen gewissen Eindruck von dem
fleißigen, stets sanften und hingebenden, aber pedantischen und sklavisch den Fröbelschen Vor¬
schriften gehorchenden Walten der italienischen Kindergärtnerin.
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320
Literaturbericht
Weiterhin erfahren wir näheres über zwei Abarten Fröbelscher Pädagogik, welche in IhHftC
bodenständig sind: Rosa Agarri mit ihrem Kindergarten Mompiano (S. 201—20$) und Frinft
Montessori mit ihrer Casa dei bambini (S. 209—216). Verfasserin bespricht lobend die freiere,
kindesgemäßere Art der Unterweisung in Mompiano, die sie aus eigener Anschauung kennte
eine breiter ausladende theoretische Basis wird nicht entwickelt und scheint auch nicht su exi-.
stieren (S. 202). Wenn mit diesem Lobe ein bisher außerhalb Italiens gar nicht und auch in
Italien selbst nur wenig bekannter Name der Dunkelheit entrissen wird, so steht hinsfcbtlfeto
der Montessorischen Bestrebungen der Verfasserin Anerkennung im umgekehrten Ve rhältnis
zu der Bekanntheit des Namens. Verfasserin versteigt sich bis zu der Behauptung: Frau
Montessori habe Anerkennung gefunden, weil sie öffentliche Mittel für ihre Ziele in Anspruch,
nahm, woran es R. Agarri fehlen ließ (S. 216). Dabei wird sie nun wohl freilich der Monteasotf»
Methode nicht gerecht. Indessen sind einige kritische Bemerkungen über dieselbe ganz treffend
(S. 214).
Das Schlußkapitel bringt einige Vorschläge der Verfasserin für die Aus- bzw. Umges t a ltung
der Kindergärten. Wirkliche Selbstbetätigung des Kindes — im Gegensatz zu der nur schein«
baren des üblichen Kindergartens! — ist eine ihrer Hauptforderungen. Und verschieden« fein
ersonnene Einzelheiten geben ihren Plänen festere Gestalt. Im ganzen bleibt das aber doch
Schreibtisch-Pädagogik oder bestenfalls „impressionistische Pädagogik“. Wenn man soeben
gesehen hat, wie die großen Ideen Fröbels bei der Umsetzung in die Wirklichkeit „hölzern 44
geworden sind, so vermag man nicht ohne weiteres zu glauben, daß der Verfasserin sympathische
Ideen die Feuerprobe der Einführung in die Praxis und (schwieriger noch!) die Wasserprobe dar
Abnützung im Jahraus-jahrein-Betriebe überstehen würden. Man wünscht der Verfasserin, daß
sie Gelegenheit haben möge, ihre Ansicht über Kleinkinder - Pädagogik auf modern psycho¬
logischer Grundlage auszubauen; das würde ein lesenswertes Buch werden.
Göttingen. Walter Baad« +.
Heinrich Burhenne, Kinder herz. Ein Beitrag zur Frage der Kinderzeitschrift. Langen«
salza 1921. Beyer & Co. 80 S. 3 M. u. Teuerungszuschlag.
Das Heft bietet eine Auswahl von Beiträgen, die Schüler und Schülerinnen jüngeren Altem
zu einer Kinderzeitschrift beigesteuert haben. Zur Hälfte stammen sie von Bergmannsktmten
und sind so nicht ohne soziologischen Reiz. Wer Erlebnisaufsätze kennt, dem können sonst
aber diese Proben freien kindlichen Schaffens keine Offenbarungen sein. — Vorangestellt sind,
von dem Herausgeber, der sich von Berthold Otto stark angeregt weiß, einige grundsätzliche
Betrachtungen, getragen von einer tiefen Ehrfurcht vor dem freien Wachsen der Kinderaeele,
aber in der begeisterten Hingabe an die Jugend ohne rechte sachliche Wertmaßstäbe. Einen
ernsthaften Einwand gegen sein Unternehmen tut Burhenne z. B. kurzweg mit „Gerede“ ab (S. 16),
und Sätze wie „Der Gegensatz zu dem durchweg duftlosen Sprachunsinn des Lesebuches wurde
fühlbar, oft sogar uns allen widerwärtig“, stehen neben Äußerungen, die recht simple Schüler»
leistungen als feine Kunst preisen. Die psychologische Erklärung solcher Unsachlichkeit ergibt
sich vielleicht aus dem Bekenntnis des Verfassers, daß er „selbst wohl eine stärkere Veranlagung
zum dichterischen Denken als zum reinen d. i. abstrakten Denken habe“ (S. 16).
Leipzig. Otto Scheibnar.
Noppel, Constantin, Jugendzeit. Ergänzungshefte zu den Stimmen derZeit. Erste Reih«,
8. Heft. Freiburg 1921. Herder & Co. 58 S. 6,80 M. und Teuerungszuschläge.
Das Schriftchen will dazu beitragen, dem jungen Geschlecht die Möglichkeit zu schaffen,
wirklich jung zu sein und eine Jugendzeit zu erleben. Die Erwachsenen müssen lernen, im
Jugendlichen den Erziehungsbedürftigen zu sehen und selbst für den Verkommensten Geduld
und Liebe aufzubringen. Das Erleben der Jugendzeit ist ein Vorrecht der Jugend, daher darf
ihre Grenze erst nach der Vollendung der erziehungsbedürftigen Entwicklungsjahre festgelegt
werden. Der Verfasser setzt nach der Begriffsbestimmung den Gedanken der Jugendzeit mit
dem Familienleben, der Schule, der Jugendarbeit und dem öffentlichen Leben in Beziehung und
wendet ihn schließlich auf die verwahrloste Jugend an. Auch dieser billigt er das Recht aut
Jungsein zu und will die Kriminalstrafen durch Erziehungsmaßnahme^ ersetzt wissen. Vom
pädagogischen Standpunkt bieten die warmherzigen Ausführungen des Verfassers wenig Naue«,
wohl aber verdienen sie volle Beachtung der Jugendschutzbehörden.
Graz. Otto Tumlirs.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
Pik Zfitsdinft för j^dagogudie mM k und cxpcojneotcJk
und ist durdt -alle ÖwdiKatidläoijeß zu;kcikhat •Briife'i»4 : Ma««r ;
skriptc sind ah den gesAäfofiiiä'ghdga Scbriftfriter Senhhat *0jygndbre3r
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Ifäehöuogeif verbu/ideneit hotten ftiirtttge&Öhri» zu tragen. £a tfctgt 1<H „:(&«tf8«äfe Q
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Ist das Erziehungsziel „wissenschaftlich“ erkennbar?
Von August Messer.
Die nachfolgenden Bemerkungen beziehen sich auf die Abhandlung von
-Johannes Kretzschmar „Schulreform und Bildungszweck“ (Zeitschr. f. päd.Ps.,
23. Jahrg., 5./6. Heft, Mai—Juni 1922, S. 211—223).
Mit Kretzschmar bin ich in der Ansicht einig, daß alle pädagogischen
Maßnahmen an den Gesamtzweck der Erziehung gebunden seien und daß der
Zweckgedanke es sei, der die Aufnahme irgendeines Kulturgutes in den
Erziehungsplan überhaupt erst möglich mache und die pädagogische Ver¬
wertung dieses Kulturgutes bestimme (S. 213).
Wie kommen wir aber zur Feststellung des Gesamtzwecks der
Erziehung? In bezug auf diese Frage kann ich mich der Auffassung
Kretzschmars nicht anschließen. Er setzt — wenn ich ihn recht verstehe —
als selbstverständlich voraus, daß die „Erziehungswissenschaft“ diese Frage
beantworten müsse. Nur so versteht man seine Klage: „Leider müssen wir
gestehen, daß uns bei dieser so ungemein bedeutungsvollen Frage die wissen¬
schaftliche Forschung völlig im Stich läßt und versagt Was in den letzten
Jahren hier Wertvolles auf dem Gebiete der Schulreform geleistet worden ist,
was getan worden ist, um gewisse Unterrichtsgegenstände in den Hinter¬
grund und andere in den Vordergrund zu rücken, ist im wesentlichen rein gef ü h 1 s -
mäßigi) und auf Grund des gesunden Menschenverstands geschehen. Die
jugendliche Psyche, an die wir methodisch anknüpfen, kennen wir heute
einigermaßen — den Gesamtzweck der Erziehung, dem alle pädagogischen
* Einzelmaßnahmen unterzuordnen sind, kennen wir noch (t) nicht!“ (S. 214).
Gegen Vertreter der Sozialpädagogik wie Paulsen, Natorp, Kerschensteiner,
Bergemann, die als Erziehungsziel die Hingabe der Persönlichkeit an d ie
Gemeinschaft bezeichnen, führt Kretzschmar aus: so „berechtigt die tfWcle-
rung der sozialen Erziehung zweifellos (!) sei“, die Fixierung dieser Gesamt¬
aufgabe beruhe nicht „auf wissenschaftlichen Gründen“, sie sei nicht „das
Ergebnis eines streng logisch aufgebauten Erkenntnisaktes“. „Dieses Gesamt¬
ziel wird nicht erkannt, sondern gesetzt — es ist mehr oder weniger ein
Ergebnis der Willkür (I). Bedenklich stimmen muß auch die Tatsache, daß
viele Stimmen gegen diese Mitbestimmung laut geworden sind“ (S. 216).
Die weitere Auseinandersetzung mit der Sozialpädagogik bestärkt ihn in der
Überzeugung: „Einen wissenschaftlich begründeten (!) Gesamtzweck der Er¬
hebung, auf den sich ausnahmslos alle Maßnahmen als Teilzwecke logisch ein¬
wandfrei zurückführen lassen, besitzen wir augenblicklich noch nicht“ (S. 217).
Alle diese Äußerungen Kretzschmars scheinen mir zu bekunden, daß er
hs selbstverständlich voraussetzt: der Gesamtzweck der Erziehung läßt sich
«Streng logisch erkennen“ oder (was wohl, dasselbe sagen soll) „wissen¬
schaftlich begründen“.
*) Von mir gesperrt.
Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 21
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322
August Messer
Wie naheliegend diese Voraussetzung ist, weiß ich aus eigener Erfahrung;
ich habe sie selbst jahrelang geteilt Sie wurde uns allen gleichsam suggeriert
durch die übersteigerte Hochschätzung der Wissenschaft und der wissen¬
schaftlichen Erkenntnis, die für die letzten Jahrzehnte charakteristisch ist
und vielleicht nirgends grotesker zum Ausdruck gekommen ist als in der
Erklärung Wilhelm Ostwalds auf dem Hamburger Monisten-Koogreß von 1911:
„Wir erkennen, daß für uns Monisten der Begriff der Wissenschaft sich
unwiderstehlich an die Stelle schiebt, die für weniger entwickelte Geister
der Gottesbegriff bisher eingenommen hatte.“ Heute ist vor allen noch in
Arbeiterkreisen diese Vergötterung der Wissenschaft anzutreffen. Aber ist
sie wirklich ein Zeichen echt „wissenschaftlichen“, d. h. kritischen, selb¬
ständig ürteilenden Geistes? Und droht diese Überschätzung der Wissen¬
schaft nicht umzuschlagen in eine ebenso kritiklose Unterschätzung? —
Anzeichen dieses Umschwungs habe ich bereits vielfach in der Jugend¬
bewegung, bei jungen Lehrern und Studierenden, beobachtet. Und liegt
nicht in der nachgerade zum Schlagwort werdenden Verurteilung des sog.
„Intellektualismus“ neben viel Unklarheit und Mißverstand doch auch ein
richtiges Gefühl für die Grenzen dessen, was wissenschaftliches Erkennen
leisten kann?
Für uns handelt es sich hier um die Frage: Kann das Gesamt¬
erziehungsziel in wissenschaftlicher Weise erkannt werden?
Nach vielfältiger Beschäftigung mit dieser Frage bin ich zu einer ver¬
neinenden Antwort gelangt. Dies Ergebnis war für mich selbst erschütternd,
gerade weil ich so lange das Gegenteil als selbstverständlich vorausgesetzt
hatte und weil ich nunmehr zunächst den Eindruck hatte, jeglichen festen
Boden für meine erzieherische Tätigkeit unter den Füßen zu verlieren. Ich
würde darum auch gern eines Besseren mich belehren lassen. Aber bis
mir der Nachweis geführt ist, daß die Wissenschaft in objektiv gültiger
Weise das Erziehungsziel feststellen kann, muß ich bei meiner verneinenden
Antwort bleiben. Die Gründe, die ich dafür habe, will ich wenigstens in
aller Kürze andeuten ‘)*
Als Gegenstand der Erziehungswissenschaft kann man sowohl
die «Erziehung, wie sie tatsächlich war und ist, ansehen als auch die Er¬
ziehung, wie sie sein soll.
Im ersten Sinne ist Erziehungswissenschaft eine Erfahrungswissenschaft
von Tatsachen. Sie kann uns zu der Erkenntnis führen, was man zu den
verschiedenen Zeiten und bei den verschiedenen Völkern unter „Erziehung“
verstanden hat. Es läßt sich auf diesem Wege auch manche allgemeine
Einsicht in das Wesen der Erziehung gewinnen, wie z. B. die von Kretzsch-
mar erwähnte, „daß die erfahrungsmäßig gegebene Erziehung einerseits
Entwicklung der Anlagen, andererseits Übermittlung von Kulturgütern
ist“ (S. 217). Aber wenn dann etwa die Frage auftaucht: wird nicht da 3
erstgenannte Moment zu sehr von der Volksschule, das letztgenannte zu sehr
von der höheren Schule in den Vordergrund gerückt? 2 ) — so führt die
Beantwortung einer solchen Frage schon über die Zuständigkeit der Päd-
l ) Eine ausführlichere Darlegung meiner hier in Betracht kommenden Ansichten habe ich
gegeben in meinem Buch „Weltanschauung und Erziehung“ (Osterwieck am Harz 192t.
Verlag Zickfeldt). s
a ) Kr. bejaht diese Frage ohne weiteres. Aber kann er dies „wissenschaftlich“ begründen?
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Ist das Erziehungsziel „wissenschaftlich“ erkennbar?
323
agogik als Tatsachen wissenschaft hinaus; denn in dieser Frage handelt es
sich nicht mehr um die Erziehung, wie sie tatsächlich ist, sondern wie sie
sein soll. — Ebenso könnte diese erste Art der Pädagogik z. B. feststellen,
daß ein gewisses Erziehungsziel in der Gegenwart von unserem Volke (oder
einem überwiegenden Teil desselben) als das richtige angesehen und seine
Erreichung angestrebt wird. Aber wiederum rpuß sie uns die Antwort
schuldig bleiben auf die Frage: Ist denn dies Ziel auch wirklich das richtige?
Soll es angestrebt werden?
Solche Fragen drängen zu einer zweiten Art der Pädagogik, nämlich
einer Lehre von der Erziehung, wie sie sein soll. Sie wird als „Wissen¬
schaft“ auftreten können in den weiten Bereich, innerhalb dessen es sich
darum handelt, die Mittel und Wege festzustellen, um gewisse Erziehungs¬
ziele zu erreichen. Das bedarf keiner näheren Ausführung. Aber kann
sie auch die Erziehungsziele oder das umfassende oberste Erziehungsziel
„streng logisch erkennen“ und als das richtige, das seinsollende
„wissenschaftlich begründen“? Das ist die für uns entscheidende
Frage, und diese kann ich nur verneinen.
Warum dies? Unsere Zweck- und Zielsetzungen müssen sich vor unserem
Wertbewußtsein ausweisen. Der wissenschaftliche Nachweis von Tatsachen
kann aber Werturteile nicht wissenschaftlich begründen. Wenn einem Menschen
nachgewiesen würde, daß sein ganzes Volk ein bestimmtes Erziehungsziel
wertschätzt und deshalb anstrebt, so wäre es doch möglich, daß er er¬
klärte: ich halte dies Ziel für minderwertig und darum für unrichtig, ich
will euch ein wertvolleres zeigen. Diese Erklärung wäre logisch durchaus
einwandfrei. Streng logische Erkenntnis und wissenschaftliche Begründung
kann erst dann einsetzen, wenn man sich aus übereinstimmenden Wert¬
schätzungen heraus über ein oberstes Ziel geeinigt hat und wenn es nun
gilt, das zu erkennen, was der Erreichung dieses Zieles widerstrebt und was
sie fördert. Die Wissenschaft kann uns also für die Gestaltung der Er¬
ziehung (wie unserer Lebensgestaltung überhaupt) nicht mehr leisten als dem
Reisenden eine Landkarte oder ein Kursbuch leistet. Sie sagen ihm, welche
Wege er einzuschlagen hat, wenn er bestimmte Ziele erreichen will, sie
sagen ihm aber nicht, wohin die Reise gehen soll. So kann die Wissenschaft
nicht die oberste Führerin sein.
Wer aber soll dies sein? Unser Werterleben, unser Gewissen (im weitesten Sinne)!
Bestimmte Gestaltung menschlicher Persönlichkeit, menschlicher Gemein¬
schaften und menschlichen Lebens und Handelns müssen mir als wertvoll
einleuchten; dann werde ich sie als Ziel meines Strebens setzen.
Daß sie richtige Ziele sind, kann ich anderen nicht logisch beweisen.
„Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nie erjagen“. Wenn andere meine
Ziele verwerfen oder andere höher bewerten, so mag mir das Veranlassung
sein, meine Wertschätzungen nachzuprüfen und die ihrigen kennen zu lernen.
Vielleicht, daß sie auch mir als die höheren einleuchten. Ist dies nicht der
Fall, so bleibe ich bei den meinigen. Leuchten sie mir als gültig ein, so
kann ich wirklich sagen: ich habe ein Ziel „erkannt“ und eben darum mir
„gesetzt“. Nur ist diese Erkenntnis keine durch logischen Beweis übermittelte,
sondern nur unmittelbare (insofern gefühlsmäßig) *). — Es ist ein bloßes Vor-
') So erkennt ancb Kr. die Forderung der sozialen Erziehung „zweifellos als berechtigt“ an
(S. 216). Offenbar leuchtet sie ihm als gültig ein.
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Original ffom ‘
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324
August Messer, Ist das Erziehungsziel „wissenschaftlich“ erkennbar?
urteil zu meinen, nur was man logisch beweisen könne, sei objektiv gültig.
Das trifft auch für die Tatsachenwissenschaft nicht zu! — Es gibt ein Werter¬
leben, daß selbst den, der damit zunächst allein steht, vor dem Selbstvorwurf
sichert, es sei ein Ergebnis der „Willkür“ (S. 216). Man muß nur den Mut
haben, auf seine eigenen Wertschätzungen zu lauschen und sich zu ihnen
zu bekennen. Sapere aude!
Wenn Kretzschmar klagt, daß das Wertvolle, was auf dem Gebiete der
Schulreform geleistet worden sei, „im wesentlichen rein gefühlsmäßig und
auf Grund des gesunden Menschenverstandes geschehen sei“ (S. 214), so
finde ich hierin gar keinen Grund zur Klage. Denn gerade das „gefühls¬
mäßige“ (d. h. unmittelbar einleuchtende) Erleben von Werten und wert¬
vollen Zielen wird seinen Anspruch auf objektive Gültigkeit in dem be¬
gleitenden Bewußtsein bekunden, daß doch jeder Mensch „von gesundem
Menschenverstand“ auch so urteilen müsse. Das stellt sich nun freilich oft
als Irrtum heraus, und so bleibt es beim Kampf widerstreitender Wert¬
schätzungen und Zielsetzungen.
Wenn z. B. Kretzschmar dazu neigt, den Gesamtzweck der Erziehung darin
zu sehen, daß „das heranwachsende Individuum zu der für sein Wohl¬
ergehen notwendigen Lebensgestaltung befähigt werde“ (S. 218), so würde
ich auf Grund meines Wertschätzens diese Zielsetzung ablehnen, falls mit
„Wohlergehen“ ein wesentlich passiver, selbstischer Lebensgenuß gemeint
wäre. Aber wenn jemand das Erziehungsziel wirklich so faßte (ich vermute,
daß Kretzschmar selbst es nicht, tut), so würde ich mich doch außerstande
sehen, ihn logisch zu widerlegen; ich könnte nur versuchen, an sein tieferes
Wertgefühl zu appellieren und ihn für meine Wertschätzung einer der Förderung
der Kulturgemeinschaften sich hingebenden Persönlichkeit zu gewinnen.
Mit allen diesen Erörterungen sind wir übrigens mitteninne in dem, was
ich „philosophische Begründung der Pädagogik“ nenne, d. h. im Bereich der
Wert- und Kulturphilosophie. Ich hielte es für einen Irrtum, wenn Kretzschmar
die Meinung haben sollte, die „philosophisch begründete Erziehungslehre“
habe „den Willen der Gottheit“ zum „letzten Ausgangspunkt“ (S. 215), sie
sei „metaphysisch begründet“ (S. 218). Ich glaube, in meinem oben er¬
wähnten Büchlein „Weltanschauung und Erziehung“ den Tatbeweis geliefert
zu haben, daß es eine philosophische Pädagogik gibt, die — ohne meta-
physik- oder religionsfeindlich zu sein — doch weder in Metaphysik noch
in Religion ihre Grundlagen sucht, sondern von wertphilosophischen Er¬
örterungen letzte Klärung erwartet.
Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien
und ihre Bedeutung im Aufbau der Kultur. 1 )
Von M. Isserlin.
I.
Wissenschaftliche Anschauungen tragen den Wert ihrer Geltung allein
in sich. Die Schätzung ihrer Bedeutung, insbesondere die Beurteilung des
') Diese beiden Vorträge setzen die mit Kräpelins Arbeit begonnene Reibe von Abhandlungen
über die pädagogische Stellungnahme zur „Inversionswelle“ fort. Es folgen noch zwei
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M. Isserlin, Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw. 325
Grades ihrer Wahrheit darf nicht mit Interessen an der Erkenntnis ihrer psy¬
chologischen Entstehung vermengt werden. Gleichwohl kann dem gewissen¬
haften Forscher, welcher den Blick nur auf den Wahrheitsgehalt einer Lehre
richtet, der psychologische Mechanismus ihrer Entstehung nicht ganz
gleichgültig bleiben. Die Einsicht in die Entwicklung eines Werkes kann
Handhaben auch für die Erfassung seines objektiven Gehaltes liefern und
somit auch mittelbar solche für die objektive Wertung.
Gelten solche Gesichtspunkte für die Betrachtung jeder menschlichen
Schöpfung gemeinhin, so werden sie besondere Bedeutung gewinnen gegen¬
über Anschauungen, welche ohne Bedenken allgemein höchst gewertete
menschliche Güter zu ebenso allgemein als abwegig und abnorm beurteilten
und empfundenen seelischen Unterströmungen in Beziehung setzen wollen.
Wenn plötzlich die Offenbarung geboten wird, daß der Ursprung des
Staates in mannmännlicher Erotik verwurzelt liege, so wird der von
dieser Behauptung erzeugte Gefühlsvorgang den gewissenhaften Forscher
gewiß nicht hemmen dürfen, den Gehalt der vorgebrachten Darlegungen
objektiv zu prüfen. Aber den Trägern dieser Lehren wird auch einiges
psychologisches oder psychopathologisches Interesse gewidmet werden dürfen
oder vielmehr müssen.
Und da ist es zunächst wichtig festzustellen, daß die Lehren, welchen hier
einige Aufmerksamkeit geschenkt wird, in Zeiten allgemeiner Gärung ihre
Verbreitung gefunden haben, daß sie fernerhin nicht ohne Zusammenhang
sind mit jenen aufdringlichen Bestrebungen sowohl einzelner Persönlichkeiten
wie ganzer Geistes- und Gefühlsrichtungen, die — bisher allgemein als abnorm
beurteilt und empfunden — sich nunmehr Geltung zu verschaffen streben.
Dies gilt besonders von geschlechtlich Perversen, welche, zu einer Art
von Vereinigungen zusammengeschlossen und mit entsprechenden Mitteln des
Zeitungs- und Zeitschriftenwesens arbeitend, ihre Bedeutung für die Gemein¬
schaft zu erweisen und sich Freiheit des Auslebens zu gewinnen suchen.
Solche Bemühungen hätten aber nicht den Widerhall, welchen sie gefunden
haben, erzeugen können, wenn sie nicht den Anschluß an andere geistige
Strömungen, welchen bereits seit längerer Zeit eine größere Aufmerksamkeit
zuteil geworden ist, gesucht hätten. Will man die soziologische Verhimme¬
lung der sexuellen Perversionen, insbesondere der Homosexualität, verstehen
und werten, so muß man diese Lehren bis zu ihrem Ursprung aus be¬
stimmten neueren Auffassungen des Aufbaues des menschlichen
Seelenlebens zurückverfolgen.
Diese Auffassungen ihrerseits aber sind zu begreifen als eine besondere
Erscheinungsform der Gegenbewegung gegen einen übertriebenen
Rationalismus, welcher wie Weltanschauung und Einzel Wissenschaften
gemeinhin so auch Psychologie und Psychopathologie im besonderen in den
verflossenen Jahrzehnten teilweise beherrschte. Es ist eine sehr eigenartige
Auffassung des Unbewußten, welche den Mittelpunkt dieser Gegen¬
bewegung bildet.
Die Frage nach dem Unbewußten, seit langem als ein psychologisches
Grundproblem erfaßt, hat jeweils, auch bei denen, welche sie bejahten, sehr
Abhandlungen von Loewe: „Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blflhers Deutung des
WandervogelproblemB“ und „Allgemeine RichUinien zur Beeinflussung der von der homosexuellen
Infektion bedrohten Jugend“. (Schrifleitung.)
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M. Isserlin
326
verschiedenartige Beantwortungen gefunden: mechanistische und
teleologische, rationale und mystische. Die Auffassung des Unbe¬
wußten, von welcher hier gehandelt wird, verweist zunächst gegenüber einer
Berücksichtigung nur der Oberfläche des Seelenlebens eindringlich auf die
Untergründe des Unbewußten. Aber im Verlaufe der Enthüllungsarbeit er¬
scheint diese Anschauung vom Unbewußten selbst als eine extrem ratio¬
nalistisch-teleologisch eingestellte Auffassung des seelischen Geschehens.
Es handelt sich um nichts geringeres als um eine „Rationalisierung des
Unbewußten“. Es ist ein im hohen Maße planvoll und vernünftig han¬
delndes Unbewußte, welches die Lehren Freuds — denn von diesen reden
wir jetzt — als treibendes Moment allen seelischen Geschehens aufzudecken
streben. Dabei erhält der Aufbau der Theorie eine besonders über¬
raschende Wirkung durch den Versuch, gerade das Sexuelle als Wesen alles
seelischen Geschehens zu offenbaren. Dieses — allerdings sehr irrationale —
triebhafte Geschehen als bewegende Grundkraft in unserem Seelenleben vor¬
ausgesetzt, soll sich dann alles weitere sehr folgerichtig und vernünftig be¬
greifbar entwickeln.
Es erscheint notwendig, die wesentlichsten Grundgedanken der Freud-
schen Psychoanalyse, von denen ja die Weiterbildung ins Soziologische
erfolgt ist, auch an dieser Stelle festzulegen. Die Lehre geht aus von den
„Symptomen“. Unter diesen kann man getrost alle Unbegreiflichkeiten
des Lebens verstehen: die Erscheinungen des Traumes ebenso wie die Fehl¬
handlungen des Alltags (Versprechen, Verschreiben usw.), den hysterischen
Anfall, die hysterische Lähmung und Halluzination ebenso wie das paranoide
System eines Frühdementen und die Verkehrung des sexuellen Empfindens
bei einem gleichgeschlechtlich Eingestellten.
Die Symptome aber, unserem Bewußtsein sehr handgreiflich und deshalb
überwertig, erweisen sich tieferem Eindringen nur als Vorläufer eines weit
umfassenderen und bedeutungsvolleren, in Wahrheit einzig bedeutungsvollen
Systems seelischen Geschehens, welches außerhalb unseres Bewußtseins liegt
Dieses Unbewußte nach der Lehre Freuds ist aber nicht nur zeitweilig nicht
bewußt, sondern überhaupt nicht bewußtseinsfähig, dem Bewußtsein nicht
ertragbar. Es ist der Inbegriff alles dessen, was die bewußte Persönlichkeit
entweder schon seiner Qualität nach nicht duldet, oder was sie im Wider¬
streit entgegenstehender Strebungen nicht zu einem beruhigenden Ausgleich
zu bringen vermag. All diese Massen quälender, einander widerstreitender
Erlebnisse, von dem Bewußtsein als unerträglich abgewehrt und ins Unbe¬
wußte „verdrängt“, bleiben doch als Fremdkörper, von einer Affektsphäre
höchster Valenz umkleidet, dauernd fortbestehen. Und sie senden ihre
Wirkungen dauernd in das bewußte Leben hinein. Nur dürfen sie, da in
dem bewußten Leben die „Zensur“ der Verdrängung herrscht, nicht als das
erscheinen, was sie sind. Sie treten unter einer Verkleidung auf. Das ist
die Symbolik, die „indirekte Rede“ des Traumes, der Hysterie und der Zwangs¬
neurose. Die Sinnlosigkeit aber des Zusammentretens der Symptome im be¬
wußten Leben ist nur eine scheinbare. Sie entsteht dadurch, daß die Aus¬
läufer des unbewußten Geschehens nur bruchstückweise und maskiert im
bewußten Leben erscheinen. Der Blick des Analytikers indessen durchdringt
die Umhüllung der Symbolik. Er „schürft“ in die Tiefe und gelangt zu dem
im Unbewußten arbeitenden Triebwerk alles seelischen Gescheheds. Dun
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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw.
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offenbart sich das bewußte Leben als ein kleiner Ausschnitt aus dem Gesamt¬
bestand seelischer Geschehnisse. Das Bewußte ist gleichsam ein Marionetten¬
spiel im Vordergrund. Die bewegenden Fäden laufen zu dem Spielleiter im
Hintergrund, welcher geheimen Gedanken und Regungen mancherlei symbo¬
lischen Ausdruck zu geben vermag.
Der Spielleiter aber — um in dem Bilde zu bleiben — der Motor des
ganzen Triebwerkes im Unbewußten, ist nach Freud die Sexualität.
Waren es im Beginn der Lehre einzelne Erlebnisse aus der Geschlechtssphäre,
welche, als dem Bewußten imerträglich in das Unbewußte verdrängt, von dort
aus das seelische Geschehen bestimmten, so ist es in der Weiterbildung die
ganze Entwicklung, welche der Verdrängung anheimfällt.
Hierbei gewinnt der Begriff des Sexuellen bei Freud eine außerordentliche
Ausdehnung. Schon bei dem Säugling sind seine ersten Regungen deutlich
festzustellen. Die lustbetonten Tätigkeiten des Säuglings: Nahrungsaufnahme,
aber auch Entleerung von Harn und Kot, besondere Gewohnheiten, wie
„Wonnesaugen" (Ludeln“), werden als sexuell aufgefaßt; der Säugling und
das kleine Kind ist sexuell „polymorph pervers“.
Die weitere Entwicklung besteht nach Freud in einer Einschränkung der
Mannigfaltigkeit der Sexualbetätigung. Es werden allmählich nur diejenigen
Betätigungen beibehalten und zusammengefaßt, welche sich auf das
andere Geschlecht beziehen und der Fortpflanzung dienen. Alles anders¬
gestaltete Sexualtriebleben wird allmählich ausgeschaltet; Freud sagt auch hier,
wiewohl er den Vorgang zum Teil für organisch hält, „verdrängt“. — Allein bis
dieses Ziel mit Abschluß der Entwicklung völlig erreicht ist, geschieht doch noch
mancherlei. In der Kindheit, wenn die ersten erotischen Regungen des Kindes
sich auf Menschen zu richten beginnen, entstehen gesetzmäßig eine Reihe
von Konflikten. Die Menschen, die hier dem Kinde zur Verfügung stehen,
sind im allgemeinen seine Blutsverwandten, Eltern und Geschwister. Und
da um. diese Zeit die polymorphe Perversität noch nicht völlig ausgeschaltet
ist, entstehen sehr eigenartige Verwirrungen der Triebregungen. Der Knabe
begehrt als Sexualziel seine Mutter, er haßt darum als Nebenbuhler seinen
Vater; da die homosexuelle Komponente aber noch nicht ausgeschaltet ist,
richten sich auch Sexualbegehrungen auf den Vater. So entstehen die
Konflikte der kindlichen Seele, von denen Jung spricht. Keinem
Menschen sind sie nach Freud fremd. In jedem wird Oedipus, welcher seinen
Vater erschlug, um sich mit der Mutter zu vereinigen, neugeboren. All dieses
konfliktreiche Geschehen ruht aber im Unbewußten; nur der Traum, die
Fehlhandlungen des Alltags, Züge der Liebeswahl nach abgeschlossener Ent¬
wicklung, ebenso wie zahlreiche seelische Anomalien geben von ihm Kunde.
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Auffassung Freuds von
den sexuellen Perversionen der Erwachsenen. Diese kommen nach seiner
Anschauung dadurch zustande, daß der Ausschaltungsprozeß von der poly¬
morphen Perversität des kleinen Kindes zum alleinherrschenden normalen
Geschlechtstrieb nicht erfolgt. Bei den Perversen ist nicht genügend
oder verkehrt ausgeschaltet worden.
Angefügt sei weiter, daß in den Lehren Freuds und seiner Anhänger bei
der Schilderung der hier angedeuteten Entwicklung nicht nur von Sexualität,
sondern auch von Erotik gesprochen wird, wobei dieser letzte Begriff -reich¬
lich unbestimmt bleibt. So wirkt auch die von Freud vertretene Auffassung
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auf den ersten Blick weniger absurd, daß erotische Begehrungen nicht nur
verdrängt oder normal befriedigt, sondern auch zur Triebkraft anders¬
artiger Betätigungen und zwar solcher von höchstem Werte werden können.
Religiöse Inbrunst, Talen der Selbstopferung für die Menschheit, die
Betätigungen der Phantasie in Kunst und Dichtung sollen einer verwan¬
delten, letzten Endes aber doch als Sexualität gedachten Erotik entspringen
können. Das ist der Vorgang der Sublimierung der Sexualität nach Freud.
Es ist eine recht folgerichtige Weiterführung der Lehre Freuds, welche
die soziologische Auffassung der Perversionen, wie sie besonders Blüher 1 )
vertritt, unternimmt. Dabei kommt es gleichwohl zu entscheidenden Ände¬
rungen der Freud’schen Auffassung. Für die psychoanalytische Lehre sind
die sexuellen Abweichungen pathologische Erscheinungen, die Perversionen
sind „das Negativ“ der Neurose. Blüher bekämpft und schmäht auf das
Heftigste jede Auffassung, welche den Pervertierten als abnorm ansieht.
Die pathographische Auffassung der Perversionen ist nach Blüher gänzlich
unzulänglich. Da das Kind von Natur aus vielgestaltig geschlechtlich ist
und der spätere Entwicklungsvorgang die einen oder die anderen Seiten des
geschlechtlichen Trieblebens ausschaltet oder bisweilen mehrere verschieden¬
artige beibehält, so ist es nicht angängig, das eine oder andere Ent¬
wicklungsprodukt als gesund oder krank hervorzuheben oder gar
zu werten. Es sind einfach Spielarten. Blüher bekämpft es deshalb auch,
daß der gleichgeschlechtlich Empfindende als pervers oder homosexuell be¬
zeichnet werde. Der Terminus Homosexualität ist ihm durch „vorwissen¬
schaftliche und vormoralische Köpfe aufs äußerste verwiderwärtigt.“ „In¬
version“, „invertiert“ muß als Bezeichnung bevorzugt werden. Das Wort
ist „von Wohlklang“ und „gedanklicher Reinlichkeit“. Es hat außerdem
genetische Bedeutung und weist auf den Tatbestand, daß auch der Er¬
wachsene mannigfache Weisen des Sexualstrebens und der Sexualbetäti¬
gung aus der Kindheit behalten hat. Wirft sich die Sexualität mit dem
ganzen Register ihrer Strebungsformen auf das gleiche Geschlecht, so ent¬
steht die „Inversion“. An dieser hat jeder Mensch irgendwie teil, nur ver¬
schieden stark und in verschiedener Schichtung der Psyche. Den höchsten
Grad der Inversion stellt der Vollinvertierte (früher homosexuell genannt) dar.
Führt die nichtinvertierte Sexualität den Mann zum Weibe und liefert
den Triebbeitrag zur Familiengründung, so drängt die invertierte Sexualität
den Mann zum Mann, erfüllt andere soziologische Funktionen und erzielt
„großartige Wirkungen“. Denn fällt es dem Mann in der Gesellschaft des
Weibes zu, die Familie zu gründen und die Gattung fortzupflanzen, so kann
er nur als Genosse des Mannes die Höchstleistung erreichen, den Staat
zu schaffen.
Zu dieser Schöpfung des Staates, seinem höchsten Beruf, kann der Mann
als Genosse des Weibes nicht gelangen. Fortpflanzung, Familie — immer
Herdenwesen — kann bestenfalls aus dieser Gemeinschaft entspringen. Durch
die Inversion wird die Alleinherrschaft der mannweiblichen Sexualstrebung
und des Familientums durchbrochen. In der männlichen Gesellschaft allein,
die ihr Dasein dem mannmännlichen Eros verdankt und sich in den Männer¬
bünden auswirkt, kommt das Ereignis der menschlichen Staatsbildung zu-
*) Blüher, H.: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft Jena 1919. — Blüher, H.:
Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen.
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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien u%w.
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stände. Und w&hrend die Natur bei ihren sonstigen Staatsbildungen deutlich
verkrüppelte Wesen schuf (Ameisen-, Bienenstaat), um den Staat zu ermög¬
lichen, sah sie bei dem Menschen wie durch einen Gnadenerlaß hiervon ab
und überließ es der Inversion, dieses Wunder hervorzubringen. Die mann¬
männliche Bindung im Männerbund und Staat ist aber nur dadurch möglich,
daß alle Männer Beziehungen zur Inversion haben, daß in jedem Mann in¬
vertierte Komponenten stecken. . Diese Beziehungen gelangen in unendlicher
Stufenreihe zur Ausprägung von solchen mehr geistiger Art bis zur körperlich
päderastischen Betätigung des Vollinvertierten, der dasteht als eine „selb¬
ständige, unabhängige Mannesgestalt mit jeder Möglichkeit für das Höchste
und für das Verruchte“. Dabei bleibt die bewegende Tendenz der mann¬
männlichen Beziehungen eindeutig. Und ob es beim bloßen Schwärmen
bleibt oder zu grober Betätigung führt, die materielle Seite fehlt niemals.
„Wir sind nicht der Meinung, daß es ein in der Luft schwebendes Geistiges
sei, wodurch allein der Eros bestände, sondern immer ist auch zugleich
Körper und Trieb da.“
Überall in der Menschheit werden nun aus diesen Gesetzmäßigkeiten heraus
die Ansätze zur männlichen Gesellschaft, welche allein geistige Schöpferkraft
besitzt und so allein als Träger des Geistes in Frage kommt, gegeben. Sie
manifestieren sich stürmisch und mit größter Deutlichkeit in der männlichen
Jugend. Wie die Onanie an sich „die großartigste Erfindung des Menschen
auf sexuellem Gebiet“ ist, so stellen sich die Onaniebünde der männlichen
Jugend als „höchst wichtige Einrichtungen“ heraus. In ihnen scheiden sich
beim jugendlichen Manne zum ersten Male jene beiden großen soziologischen
Themata: die Familie und die männliche Gesellschaft. „Sie sind die primi¬
tivsten Vorbilder der Männerbünde.“ Diese Tendenz zum Männerbund führt
den Lebensstufen und den verschiedenen soziologischen Verhältnissen ent¬
sprechend immer wieder zu verschiedenartigen Bildungen. Wandervögel und
studentische Verbindungen, militärische Kameraderien und „Vereine christ¬
licher junger Männer“, Freimaurerverbände und geistliche Orden — in allen
waltet die gleiche erotische Tendenz.
Das letzte Fazit des Männerbundereignisses aber sind Gebilde von höchstem
Wert für das Menschengeschlecht. In allen Formen des Männerbund¬
wesens herrscht ein gemeinsamer Zug, „ihre Erotik verbindet sich mit einem
Überschwung des Menschlichen“. Und so quellen die Lehren vom
wahren Adel, von einem obersten Männerbund und vom Staate aus dem
Männerbundereignis. Wer im Bunde ist, kann nicht sinken; er kann nicht
der geliebten Todfeindin, der Frau, verfallen. Die Kultur wird davor
bewahrt, den Frauen ausgeliefert zu werden.
Kann somit die außerordentliche Bedeutung der Erotik in der männlichen
Gesellschaft für die Kultur in großen Zügen festgehalten werden, so bemühen
sich besondere Ausführungen wichtige Einzelheiten dem Bilde hinzuzufügen.
Zunächst einmal werden über die Natur der Invertierten bestimmte
Feststellungen zu sichern gesucht. Mit Leidenschaft wird — wie schon
bemerkt — die Anschauung bekämpft, daß der Homosexuelle
ein Psychopath, Degenerierter oder ähnliches sei. Mit Verachtung
und Hohn werden die entsprechenden Lehren der Psychiatrie und anderer
„Halbwissenschaften“ zurückgewiesen. Der „Vollinvertierte“ ist das Ur¬
bild der Gesundheit, ein „Kraftzentrum“, von dem Ströme der Energie
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in die um ihn Gescharten hinüberfließen. Mit Deutlichkeit wird hier auch
die Scheidung gegenüber Freud und seiner Schule vollzogen, die sich, trotz
der Orginalität ihrer Anschauungen, in dieser Sache von den Irrtümem der
übrigen Psychiatrie nicht hätten freihalten können. In eingehender Weise
wird das Walten des Typus inversus, die verschiedenen Formen und Grade
der männlichen Gesellschaft, die Mannigfaltigkeit der erotischen Beziehungen
in diesen geschildert und das Hohelied auf-den Vollinvertierten in einer für
jugendliche Gemüter sicher nicht wirkungslosen Weise gesungen.
Wohl gäbe es auch einen abnormen Homosexuellen, aber dieser
würde erst allmählich abnorm, und zwar nur dadurch, daß er sein Innen¬
leben bekämpft, unterdrückt, im Freud’schen Sinne „verdrängt“.
„Es gibt zwei Möglichkeiten für den Sexualkomplex. Entweder, die Sexu¬
alität wird als solche wirklich ausgeübt und tritt frei hervor: dann haben
wir im Falle der mannmännlichen Einstellung den echten Männerhelden,
oder wie man im Altertum sagte, den Päderasten. Oder aber: die Sexualität
stößt bei ihrem Entfaltungsversuch an eine niedrig liegende Peinlichkeite-
schwelle, wird verdrängt, und es entsteht der Typus inversus neuroticus.“
Der Typus neuroticus ist sein ganzes Leben hindurch mit genau derselben
Libidostärke ans eigene Geschlecht gebunden, wie der Männerheld — —
nur verwendet er oft die gewalttätigsten Mittel, um sein Bewußtsein von dieser
Tatsache zurückzudrängen: er kann zum Sittlichkeitsfanatiker werden, und alle
Päderasten wütend verfolgen. Er. beweist jedoch gerade dadurch seine
Verfallenheit dem eigenen Geschlecht gegenüber. Krank und neurotisch wird
dieser Typus nicht deshalb, weil er invertiert, sondern weil er seine inver¬
tierte Neigung zu unterdrücken, zu verdrängen sucht.
Die Tatsache, daß die Sexualität eine Peinlichkeitsschwelle hat, ist über¬
haupt entscheidend für das Entstehen zweier Menschentypen, abgesehen von
der Tatsache der Inversion. Es sind die Typen des „Muckers“ und des
„Fauns“, welche durch ihr verschiedenes Verhalten zur Peinlichkeitsschwelle
gekennzeichnet sind. Der „Mucker“ läßt sich „ducken", der Faun „dringt
durch“. Dem Mucker erregt alles sexuell Erregende zugleich Angst.
Die Sexualität wird das, was nicht sein soll, die Bezeichnung „sittlich“
erhält einen sexuellen Unterton. „Und das ist eine Tat des muckerischen
Menschen: weil er die Sexualität nicht vertragen kann, weil sie ihm unter
der Hand in Angst und Peinlichkeit, in Ekel, Scham, nervöse Unruhe und
Verwirrtheit umschlägt, soll die Menschheit nicht sexuell genießen!“ Der
Gedanke, daß das Sexuelle Sünde sei, rührt von der „privaten Sexualver¬
stimmung“ des Muckers her. Dieses rationalisierte „Tabugefühl“ wird zum
Kemdogma von alledem, was man in wirren Köpfen an „Sexualethik“ findet.
Demgegenüber der faunische Mensch, er bewahrt sich den Lust¬
charakter der Sexualität. Aber der Faun ist nicht einfach ein Wollüstling.
Er kennt die Verdrängung, hat an ihren Verfänglichkeiten gelitten, „dringt“
aber trotzdem „durch“. „Der faunische Mensch ist Sieger, er zwingt drohende
Mächte des Innern zu Boden.“ Der Wollüstling hingegen ist nur ein „ent¬
ronnener Mucker“. Auch der faunische Mensch kann enthaltsam leben; er
kann es aber niemals aus „muckerischen Gründen“. Mucker sind: der bür¬
gerliche Christ, ferner etwa: Temperenzler, Abstinenten, Gesundheitsapostel,
Tierschutzfanatiker und vegetarische Sonnenmenschen. Entlaufene Mucker
pflegen zu sein: sämtliche Freigeister, Atheisten, Monisten, sämtliche Sexual-
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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw.
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firzte, sämtliche Menschen, die es nötig haben, Nacktkultur zu treiben und
für heilige „Naturzwecke zu schwärmen“ usw. Nach der Muckermoral ist
Sünde, was dem Mucker Peinlichkeit erregt In Wahrheit aber ist die Ent¬
scheidung, ob eine sexuale Handlung stattfinden darf oder sogar muß, stets
in die Hände des autonomen Menschen gegeben, und keine Sitte hat hier
das mindeste Einspruchsrecht. Der Mensch kann nur eine Sünde begehen,
und das ist die gegen sein autonomes Wesen.
Mucker und neurotische Invertierte stellen auch den „Verfolgertypus“
dar, der das mannigfache Walten der Erotik in der männlichen Gesellschaft
zu hemmen und zu unterdrücken sucht. Der Fortschritt der Menschheit
verlangt es aber, daß dem Invertierten Freiheit für seine Art
zu leben und zu wirken gegeben werde. Das ist die „rettende Tat“
der Wandervögel und anderer Bünde. Sie stellen sozusagen einen „Harem“
für die invertierten Kraftzentren dar und bewahren sie vor Verdrängung und
Neurose. „Der Eros der männlichen Gesellschaft erfordert es, daß die männ¬
liche Jugend, also das eigentlich geliebte Geschlecht, den aktiven Mitgliedern
in allen seinen Reifestadien zur Verfügung steht.“ (!)
Der Erotik der männlichen Gesellschaft gegenüber tritt die mannweibliche
Erotik an Bedeutung für die Menschheit zurück. Diese letztere führt durch
das Mittel der Familie nur zur Erhaltung der Art. Immerhin ist auch diese
Leistung so bedeutungsvoll und die Beziehungen zum Weibe in ihren posi¬
tiven und negativen Wirkungen für den Mann so wichtig, daß ihnen ent¬
sprechende Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. — Das Gesetz weib¬
lichen Wesens dem Manne gegenüber ist das der „Hörigkeit“. Innerhalb
dieser Allgemeingesetzlichkeit gibt es aber zwei Strukturarten weiblichen
Wesens, denen auch zwei männliche Wahlsysteme entsprechen. Diese beiden
Arten innerhalb des weiblichen Geschlechtes sind: die Gattin und die
freie Frau („Hetäre“). Die Gattin ist einheitlich weiblich, ihr Wille,
Kinder zu gebären, kommt früh und spontan. Die freien Frauen hin¬
gegen gehören in das Zwischenreich. Sie sind in ihrem Liebesieben be¬
wußter und raffinierter und erstreben mitunter die Gleichberechtigung mit
dem Manne. Beide Frauenarten sind Naturerscheinungen, beide echt weib¬
lich und beide notwendig. Gäbe es nicht Hetären: das weibliche Geschlecht
fiele einer rücksichtslosen Entfärbung zum Opfer. Die „höchst jammerhafte
Erscheinung der bürgerlichen Gattin unserer Gesellschaft“ würde herrschen.
Demgemäß gehört der Liebe zur hetärischen Frau die Sanktion genau so
wie der zur Gattin. Auch die Ökonomie der Fortpflanzung verlangt eine
solche. „Je reicher, gehaltvoller und zukunftshaltiger ein Mann ist, um so
weniger wird eine Frau ihm genügen, um alle Kräfte seines Wesens in einer
neuen Zeugung herauszulocken.“ „Die monogame Ehe ... ist das große Hin¬
dernis für die zeugerische Entfaltung gerade der reichsten Männer. Somit
ist die „Mehrehe“ ein Vorrecht der Vorzüglichen, und ihr gebührt
das Sakrament.“
Dem weiblichen Geschlecht aber, das auf eine Erweckung durch den Mann
angewiesen ist, muß auch das Recht hierzu werden. Das ist der Sinn des
„Rechtes der ersten Nacht“. „Die Priester, d. h. die geweihten Vertreter des
Geistigen, haben das Amt, allen Frauen von einem bestimmten Alter die
Jungfrauenschaft abzunehmen und sie so zu erlösen.“ Das ist eine „sehr
tiefe und ernste“ Angelegenheit, die freilich als Einrichtung in unserer Ge-
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Seilschaft unmöglich ist, was nur gegen diese Gesellschaft spricht. Die Idee
aber, die ihr dauerndes Recht hat, kann heute nur getragen werden von
den ganz wenigen rein gebliebenen. Männern, die wirklich Träger des Gei¬
stigen in der Welt sind. Diese können „viele erlösen“, wenn es ihnen ge¬
lingt, „ehrfürchtig und schweigsam“ zu sein.
Es ist somit ein eigenartiger Gesamtaspekt, den diese Theorie der mensch¬
lichen Staatsbildung uns bietet: Mannigfache erotische Beziehungen gehen
von Mann zu Mann und vom Mann zum Weib. Die Frucht der Beziehungen
zum Weibe ist die Fortpflanzung der Art; alle geistige Schöpfung aber
stammt aus der Erotik der männlichen Gesellschaft. In dieser bedeuten die
invertierten Vollnaturen „Kraftzentren“. Aber in allen Männern, auch in
denen, die dem „Weibe verfallen“ sind, wirkt Inversion. Der Mann neigt
stets nach Zweierlei, nach der Familie und der männlichen Gesellschaft.
Und sehr mannigfaltig sind dementsprechend die erotischen Betätigungen der
meisten Männer: Tendenzen zur Gattin, zur Hetäre, zu Männern verschiedener
Altersstufen, insbesondere auch zu Knaben, verlangen ihr Recht. Sie zu
„verdrängen“, führt zur Unnatur und Neurose, während andererseits ihre
ungehemmte Entwicklung die höchsten Werte zeitigt.
II.
Soll zu den hier zunächst möglichst leidenschaftslos im Umriß wiederge¬
gebenen Lehren kritische und wertende Stellung genommen werden, so wird
zum Ursprung der Bewegung, welchen wir festzustellen suchten, zurückzu¬
gehen sein. Die Säulen, auf welchen auch die soziologische Verwertung
neuerer Sexuallehren ruht, sind die Theorie der Verdrängung und der poly¬
morphen Sexualität des Kindes. Von ihrer Haltbarkeit hängt die Sicherheit
des weiteren Aufbaues ab.
Um die Lehre von der Verdrängung wird seit Jahrzehnten in der Psycho¬
pathologie gestritten. Unter Anerkennung eines von Freud durch eine be¬
deutende Intuition erfaßten berechtigten Kernes wird die Übertreibung wie
überhaupt die ganze Art der Begründung der Lehre sehr allgemein abge¬
lehnt. Freud selbst hat die Tatsache der Verdrängung aus dem Auftreten
von „Widerstand“ und „Lückenbildung“ im Zusammenhang des in der Ana¬
lyse Vorgebrachten erschlossen. Geht man von irgendeinem „Symptom“
im Sinne Freuds analysierend (d. i. im wesentlichen zwanglos assoziieren
lassend) vor, so kommt man zu Stellen, an welchen der Strom des Vor¬
gebrachten unter mehr oder weniger lebhaften Abwehräußerungen des Unter¬
suchten stockt. Diese Erscheinungen werden auf die Wirkung der Ver¬
drängung, welche hier angeführte pathogene Tatsachen im Unbewußten
zurückhalten soll, bezogen. Es ist genugsam dargetan worden, daß diese
„Beweisführung“ höchst mangelhaft ist, daß es viele andere Hemmungen im
Laufe des seelischen Geschehens gibt als Verdrängung, daß aus Lücken¬
bildung und Widerstand weder im Einzelfalle noch allgemein eine Wirkung
von Verdrängung erschlossen werden kann und daß es auf solche Weise, falls
es eine Verdrängung geben sollte, nicht gelingen kann, das Verdrängte auf¬
zufinden. In Wahrheit ist der Tatbestand dieser, daß im Anschluß an ein
Symptom (z. B. ein auffälliges Vergessen) zwanglos assoziert, sobald Lücken
auftreten, besonders gedrängt („Widerstand überwunden“) wird und dann
nach Gutdünken und Einfühlung in die Gesamtsituation ein bestimmter Tat-
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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw.
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bestand als „verdrängt“ und ätiologisch fdr das zu erklärende Symptom
erachtet wird. Als Beispiel für die Art des Vorgehens sei auch hier auf den
von Freud berichteten Fall des Vergessens des Wortes „aliquis“ in dem Vers
„exoriare aliquis usw.“ hingewiesen. Im zwanglosen Assozieren gelangt der
„Analysierte“, welcher das Wort aliquis plötzlich zu seinem Erstaunen ver¬
gessen hat, über verschiedene Mittelglieder (a-liquis-liquid-fluid) schließlich
zu der Erinnerung der ausgebliebenen Periode der Geliebten. Dieser im
Unbewußten wirkende Tatbestand wird als ätiologisch für das Vergessen
des aliquis angesehen. Es kann unter Hinweis auf frühere umfassendere
Darlegungen genügen, in diesem Zusammenhang zu betonen, wie frag¬
würdig eine solche Begründung der Lehre von der Verdrängung
und der Art der Aufdeckung des Verdrängten ist.
Diese Sachlage wird auch nicht dadurch geändert, daß auf die Beseitigung
von krankhaften Symptomen, auf „Heilungen“ verwiesen wird. Heileffekte
bei psychisch-nervösen Störungen können auf sehr verschiedene Weise — vor
allem suggestiv bedingt — entstanden sein. Ein Schluß auf die Richtigkeit
der Theorie eines therapeutischen Vorgehens kann aus seiner etwaigen thera¬
peutischen Wirksamkeit nicht gemacht werden.
Sehr viel schlimmer noch als mit der Begründung der Prinzipien der ein¬
fachen allgemeinen Analyse steht es mit denen des besonderen Verfahrens
in ihr, welches als Deutung bekannt ist. Die aus dem Unbewußten kom¬
menden Auswirkungen geschehen ja nach Freud unter „Zensur“, in einer
Maske. Das in der Analyse zutage geförderte Material muß dementsprechend
der symbolischen Geheimsprache, welche die Zeichen höchster Denkleistung
an sich tragen soll, entkleidet, „gedeutet“ werden. Diese Deutung geschieht
nun, wie bekannt, nach sehr einfachen, dem Mechanismus der Zote ent¬
nommenen Maximen.
Auch Freud kennt jetzt eine fixe Symbolik sehr primitiver Art. Wie
sie wissenschaftlich fundiert ist, bleibt allerdings immer noch, trotz aller
Vorhaltungen, im Dunkel. Es kann kurz gesagt werden, daß dieser Teil der
Lehre in eine geistlose, gänzlich unkritische und tiefstehende Kombinatorik
ausgeartet ist. Es hat noch kein Mensch begreiflich gemacht, daß wir ein
Recht haben, Bleistift, Feder, Lampen, Hängelampen, Fontänen, Luftschiffe,
Schmuckkästchen, Dosen, Koffer, Maschinen, Landschaften usw. schlankweg
als männliche oder weibliche Genitale zu deuten. Dabei wird nicht bestritten,
was ja von nichtanalytischen Forschem dargetan ist, daß etwa Reize in der
Genitalsphäre nicht auch die Traumvorstellung eines Fliegevorgangs asso¬
ziativ hervorrufen könnten. Aber für die Lehre von der symbolischen Ziel¬
strebigkeit des Traumes als Erfüllung unbewußter Wünsche (Ödipuskomplex)
und gar für die Lehre einer feststehenden Traumsymbolik, die mit Hilfe eines
analytischen Lexikons glatt zu deuten sei, fehlt jeder Anhaltspunkt. Diese
Teile der psychoanalytischen Lehre können in theoretischer Hinsicht nur als
ein beschränkter Aberglaube, in praktischer als die Einübung einer einseitigen
Vorstellungsgymnastik gekennzeichnet werden.
Aber abgesehen von diesen Absurditäten im Einzelnen — die Freud’sche
Lehre alsGanzes, so viel suggestiv und geradezu hinreißend wirkende Züge
sie enthalten mag — ermangelt des Fundaments und erweist sich in der Tat
dem prüfenden Blick als haltlos in ihrem Gesamtaufbau. Die für Freuds
Lehre entscheidende Konzeption des Unbewußten ist erfahrungs- und
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wirklichkeitsfremd gestaltet. Dieses ist gedacht wie ein Raum für sich,
eine Sondersphäre höchster Vitalität, in welche das verdrängte Sexuelle hinein¬
gebannt ist, um von dort aus ins Bewußte wirkend ein höchst fatales, stür¬
misches, zielbewußtes Gespensterdasein zu führen. Dabei wird, was in diesen
Raum verdrängt wird, als den Gesetzen des bewußten Lebens entrückt ge¬
dacht. Es steht über der Zeit, verfällt der „Usur“ des Vergessens nicht
Es muß demgegenüber festgehalten werden, daß wir aus empirischen Grund¬
sätzen heraus keine Möglichkeit haben, uns ein solches „metapsychologisches“
(der Ausdruck stammt von Freud) Unbewußtes zu denken. Auch aus em¬
pirischen Gründen heraus nimmt die Psychologie ein Unbewußtes als Spur
des Erlebten, als Anlage zum Neuerleben an. Für ein Unbewußtes aber, das
alle Zeichen bewußten Geschehens höchster Valenz trägt, aber doch in einem
Sonderraum, vom Bewußtsein abgetrennt, ein zeitloses Dasein führt, für eine
solche Fiktion finden sich keine Möglichkeiten erfahrungswissenschaftlicher
Begriffsbildung. Auch die posthypnotische Suggestion, auf welche von der
Psychoanalyse zurückgegriffen wird, kann diese Auffassung nicht stützen.
Der posthypnotischen Suggestion kann zwar trotz evtl, energischer Wirksam¬
keit durch entsprechenden Befehl des Suggestors für kürzere oder längere
Zeit die Fähigkeit, bewußt erinnert zu werden, genommen sein. Außerhalb
der Gesetze des allgemeinen psychischen Geschehens befindet sie sich aber
nicht. Auch sie verliert ihre Kraft, blaßt ab und verfällt dem Vergessen.
Gilt diese Ablehnung gegenüber der Lehre vom Unbewußten, welche
Freud gibt, gemeinhin, so wird die Auffassung des Unbewußten als einer
sexuellen Wesenheit von ihr noch besonders getroffen. Die Lehre von
der infantilen Sexualität und der Pansexualismus der Freudschen Theorie
müssen in den wesentlichsten Zügen als Produkte einer phantastischen Kom¬
bination beurteilt werden. Die Behauptungen gründen sich fast durchweg
auf Unterlagen, deren Mangelhaftigkeit in den vorübergehenden kurzen Aus¬
führungen andeutend dargelegt wurde. Das allermeiste ist nicht beobachtet,
sondern erdeutet.
Trotz dieser Sachlage ist es nicht angängig, sich mit der einfachen allge¬
meinen Ablehnung der Lehre von der polymorphen Perversität des Kindes
zu begnügen. Die Einzelheiten des Entwurfes Freuds von der sexuellen
Entwicklung müssen gleichfalls geprüft werden, weil es doch sein könnte
und in der Tat so ist, daß in ihm richtige Beobachtungen enthalten sind,
wiewohl der Entwurf in seiner Gesamtheit, insbesondere das Theoretische
in ihm, nicht haltbar ist. Hier interessieren zunächst die angeblichen Be¬
ziehungen zwischen Sexualverdrängung und psychischen Anomalien. Nach
Freud wurzelt die krankhafte Angst in der Verdrängung. Die Angst
wieder kann Triebfeder aller möglichen abwegigen Symptome werden; in
der Zwangsneurose heftet sie sich an Vorstellungen, welche zunächst mit
den eigentlich ätiologischen verdrängten Inhalten keinen inneren Zusammen¬
hang haben. Und Blüher hält unserer Gesellschaft das Unrecht vor, das
sie begehe, wenn sie die Invertierten zwinge, ihre Sexualität zu ver¬
drängen.
So sehr nun der Zusammenhang von Sexualität und Angst von Freud
und seiner Schule übertrieben worden ist, so unberechtigt vor allem die
Neigung ist, krankhafte Angst immer auf „verdrängte“ Inhalte zu beziehen,
so müssen doch einige Bemerkungen zu den Beziehungen von Sexualität
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Neuere Anschauungen Uber das Wesen sexueller Anomalien usw.
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und Angst hier gemacht werden. Freud hat das Bild einer Angstneurose
beschrieben, welche dadurch entstehen soll, daß sexuelle Spannungen und
Erregungen gesetzt, aber nicht gelöst und befriedigt werden. Dieser Angst¬
neurose müßten also die Blüherschen Helden, welche durch unsere Gesell¬
schaftsordnung gehindert werden, sich sexuell-invertiert auszuleben, epidemisch
verfallen. — Nicht psychoanalytisch eingestellte Beobachter (so Herz, Erb)
haben auf den Zusammenhang von sexueller Spannung, unbefriedigter Liebes-
sehnsucht u. ähnl. und nervösen Herzsymptomen und Beklemmungs¬
zuständen ebenfalls hingewiesen. Auch andere Tatbestände dürfen dem
Pädagogen nicht unbekannt bleiben. Gelegentlich hören wir von neuro-
pathischen Kindern und Jugendlichen, daß sie in der Angst, z. B. vor einer
Prüfung, sogar wenn sie zur Prüfung aufgerufen werden, beginnen zu ma¬
sturbieren. Mit der darauffolgenden Erschlaffung schwinde die Angst Andere
berichten sogar, daß es unter der Angst von selbst zum Orgasmus komme.
Hierher gehört auch die Erfahrung, daß die Masturbation bisweilen als Schlaf¬
mittel benutzt wird.
Allein die hier angeführten Tatsachen sind doch keine Stütze für die
Lehre von der Umwandlung von verdrängter Sexualität in Angst. Sie zeigen
nur, daß sexuell betonte Spannungszustände einen angsthaften Charakter ge¬
winnen und umgekehrt allgemeine Spannungs- und Erregungszustände Er¬
regungen der sexuellen Sphäre setzen können. Die Angstneurose Freuds
ist keine einheitliche Krankheit. Entsprechende Symptome kommen’ in
Krankheit8bildem vor, welche keinerlei sexuelle Ätiologie haben. Zuzu¬
geben ist, daß, wenn bei labilen Persönlichkeiten sexuelle Erregungen ge¬
setzt und nicht gelöst werden, nervöse Symptome — übrigens nicht sehr
belangvoller Art — entstehen können. Hier hat eine entsprechende psychische
Hygiene entgegenzuwirken. Andererseits ist durch vielfache Erfahrungen
gezeigt, daß gesunde Individuen männlichen und weiblichen Geschlechts
sexuell abstinent leben können, ohne nervenkrank zu werden.
Was nun die Natur der Homosexualität anlangt, so ist sowohl der
Lehre Freuds wie insbesondere denen seiner soziologischen Nachfolger auf
das entschiedenste entgegenzutreten. Freuds Auffassung der Homosexualität
steht und fällt mit seinem allgemeinen Entwurf der sexuellen Entwicklung
von der polymorphen Perversität zur Tendenz zum andern Geschlecht Auch
für Freud steht der Homosexuelle an sich in der Nähe der Psychopathen
und Neurotiker. Perversion und Neurose verhalten sich ihm wie Positiv und
Negativ. Blüher will diesen pathographischen Gesichtspunkt ausschalten.
Er, wie andere Vorkämpfer für die Homosexualität, erklären die Inversion
nur für eine Spielart erotischer Empfindung und Betätigung, welcher gerade
die höchstwertigen Menschen verfallen. Wer Gelegenheit hat, viele „Inver¬
tierte“ zu sehen und sie unbeirrten Blickes zu prüfen, wird sich dieser An¬
schauung nicht anschließen können. Insbesondere wird der nüchterne Be¬
obachter bei den .als „Vollnaturen“ angehimmelten Gegenständen invertierter
Neigung im allgemeinen gerade die Züge vermissen, welche der Bewertung
als „Kraftzentrum“, „Urbild der Gesundheit“ Berechtigung geben könnten.
Als Kraftzentren imponieren die „Männerhelden“ nur solchen Persönlichkeiten,
welche infolge abnormer Veranlagung der Sexualüberschätzung des gleichen
Geschlechts verfallen und für Gleichgeschlechtliche schwärmen. Dem Un¬
beteiligten erscheinen die Kraftnaturen oft als Schwächlinge; selten fehlen
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jene Züge süßlichen Oberschwangs, welche Nicbtinvertierten ästhetisches
Unbehagen und Ekel hervorrufen.
Weiterhin ist aber eindringlich zu betonen, daß die Homosexuellen
keineswegs nur Abweichungen der sexuellen Sphäre darbieten. Bei genauerer
Prüfung finden sich durchweg bei ihnen auch Anomalien auf anderen Ge¬
bieten des Gefühls- und Willenslebens, welche sie als Psychopathen gemein¬
hin kennzeichnen. Sie unterscheiden sich hierin in keiner Weise von anders¬
artig geschlechtlich Perversen.
Besonders hervorzuheben ist ein der invertierten Erotik sehr wesentlicher
Zug, welcher sie als abwegig und pervers im Sinne der „Pathographie“ von
der Sexualität der Normalen unterscheidet: Ich meine hier das Verhalten
gegenüber der Jugend. Daß Heterosexuelle sich an Kindern vergreifen, ist
nach den bisher zu machenden Erfahrungen glücklicherweise noch nicht
Norm. Für die Vollinvertierten gehört aber die Knabenliebe zur Essenz
der Erotik.
Diesen Kraftmenschen ist es neben ihren mannigfachen anderen erotischen
Wünschen auch öfters ein Bedürfnis, einen schönen Knaben zu sich zu
nehmen. Und in welchem Maße sich bei der Schilderung der sexuellen Be¬
ziehungen zu Jugendlichen bezw. Knaben in den hier behandelten Schriften
Schamlosigkeit und Mangel an Gewissen offenbaren, war auch dem mit den
Krankengeschichten Degenerierter Vertrauten eindrucksvoll.
Daß Kinder und halbe Kinder dem Zugriff der Inversion schutzlos darge¬
boten werden, daß Wandervogel- und ähnliche Bünde als Harem die Jugend¬
lichen für die „Kraftzentren“ zur Verfügung stellen sollen, scheint diesen
neuen Staatslehrern damit gerechtfertigt, daß hier den Jugendlichen die
„rettende“ Tat zufällt, die hochwertigsten Menschen vor Neurose zu bewahren.
Verknüpft wird freilich hiermit noch die Lehre, daß von einer Verführung
der Jugendlichen nicht gesprochen werden könne, da sie sich ja ohnedies
als „dem Manne verfallen“ erweisen.
Wie es nun mit der Behauptung steht, daß der Homosexuelle durch Unter¬
drückung seiner erotischen Triebe der Neurose verfalle, ist schon geprüft
worden. Hier muß dem Teil der Lehre besondere Aufmerksamkeit geschenkt
werden, welcher sich mit der Behandlung Jugendlicher durch Erwachsene,
vielmehr mit dem, was sich Erwachsene Jugendlichen gegenübei sollen er¬
lauben dürfen, beschäftigt. Die Beweisführung ist offenbar die, daß ja schon
die Kinder ihre perverse Sexualität haben, daß die Entwicklung unentrinn¬
baren Gesetzen folge und daß, wenn es zu Betätigungen kommt, hier nur
reife Früchte aufgelesen, keine Schädigungen zugefügt, im Gegenteil Jugend¬
liche vor der Neurose bewahrt werden.
Diese Anschauung mag den homosexuellen Theoretikern sehr gelegen sein,
sie ist nichtsdestoweniger von Grund aus falsch. Tausendfältige Erfahrungen
lehren, daß die Jugend in ihren sexuellen Strebungen bestimmbar
ist, daß homosexuelle Neigungen aus entsprechender Betätigung und An¬
leitung erst erwachsen, daß kurz gesagt, perverse, besonders homosexuelle
Beispiele in der Jugend äußerst ansteckend wirken können. Die Lehre von
der angeborenen Vollinversion schwebt eben in der Luft. Die neuerdings
hierfür in Anspruch genommenen Lehren von der inneren Sekretion, neuere
Transplantationsversuche u. ähnl., haben bisher keinerlei sichere Unterlagen
für die Beurteilung der Frage nach der Entstehung der Homosexualität ge-
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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw.
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liefert Nach dem heutigen Stand unseres Wissens können wir nichts an¬
deres sagen als: Die Homosexuellen sind sexuell bestimmbare
Psychopathen, deren Sexualstreben und -betätigung im Laufe
der Entwicklung in die abwegige Bahn geraten ist.
Sehr unberechtigt ist der zur Verteidigung der Lehre von der angeborenen
Homosexualität übliche Hinweis, daß die „geborenen“ Homosexuellen von
Kindheit auf nie andere erotische Regungen empfunden hätten als „inver¬
tierte“. Derartige Angaben erhalten wir von sexuell Pervertierten mannig¬
fachster Art in oft nicht weniger glaubwürdiger Weise als bei den Homo¬
sexuellen. Es kann aber wohl nicht davon gesprochen werden, daß, wie
der Homosexuelle eine „anima muliebris in corpore virili“ haben soll, so
etwa ein Schuhfetischist durch Geburt eine Seele, die gerade an Schuhen
ihre geschlechtliche Befriedigung finden müsse. Es ist eben durchweg so,
daß wir bestimmbare Individualitäten vor uns haben, deren sexuelle Ent¬
wicklung öfters in frühester Jugend in bestimmte Abwege gerät
Jedenfalls ist die unverrückbare Tatsache festzustellen, daß man Kinder und
Jugendliche homosexuell infizieren und für ihr Leben homosexuell machen
kann. Die Geschichte, besonders die des klassischen Altertums, liefert ein¬
dringliche Beispiele allgemeinerer homosexueller Verseuchung.
Weil dieser Tatbestand unzweifelhaft ist, daß man Jugendliche künstlich
pervertieren kann, ist es ernsteste, unabweisliche Pflicht aller der, welchen das
Wohl der Jugend am Herzen liegt, vor allem der, denen es anvertraut ist,
alle Bestrebungen, welche darauf abzielen, unsere Jugend mit homosexueller
Vergiftung zu infizieren, sorgfältigst zu überwachen und, unter welcher Be¬
mäntelung sie auch erscheinen mögen, unnachsichtlich zu unterdrücken.
Ein Schwanken darf es hier nicht geben; insbesondere werden wir uns
keinen Dunst vormachen lassen durch die beweglichen Klagen, daß die „Voll¬
invertierten“ für ihren „großen Beruf“ in der „männlichen Gesellschaft“
unbrauchbar gemacht würden, wenn man ihnen nicht genügende sexuelle
Betätigung gestatte. Wir haben bereits gesehen, was wir sowohl von der
’ Rolle der Vollnaturen überhaupt, wie von der Lehre, daß sie durch sexuelle
Zurückhaltung Jugendlichen gegenüber neurotisch werden, zu halten haben.
Aber selbst, wenn es so wäre, wie es sicherlich nicht ist, so besteht kein
Zweifel, daß es der Staat mit erheblich geringerer Erschütterung
und Schädigung seines inneren Wertes hinnehmen würde, daß
seine sämtlichen „Kraftzentren“ neurotisch würden, als daß seine
Jugend entwürdigt und geschändet wird.
Nirgends enthüllt sich die wahre Tendenz der neuen Staatslehre so sehr,
als an den Stellen, wo für die Freiheit der Sexualbetätigung des Homo¬
sexuellen — seil, der Sexualbetätigung an Jugendlichen — gefochten wird.
Freud, der ja immer den Ausgangspunkt der weiteren Folgerungen bildet,
weicht hier in seinen theoretischen und praktischen Lehren erheblich von
diesen seinen Nachfolgern ab. Ganz abgesehen von dem „pathographischen“
Standpunkt, welchen er gegenüber der Homosexualität einnimmt, hat er sich
schon vor längerer Zeit „wilden“ Psychoanalytikern gegenüber dagegen ver¬
wahrt, daß die Lösung der Verdrängung etwa einfach in einem schrankenlosen
„Sichausleben“ verstanden werden dürfte. Eine besondere Rolle wird von
Freud hier der „Sublimierung“ zugeschrieben. Unter diesem Namen be¬
greift Freud, wie schon früher angedeutet, einen Vorgang, durch welchen
Zeitschrift f. pBdagog. Psychologie. 22
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Triebkräfte von sexuellen Zielen abgelenkt und auf sozial höher und höchst
stehende, nicht mehr sexuelle gerichtet werden sollen. Aber abgesehen von
diesem Verwandlungsvorgang will Freud auch noch eine andere Erledigung
verdrängter Triebe betätigt sehen. Man erkenne die Verwerfung pathogener
Regungen als zu Recht bestehend an, ersetze aber „den automatischen und
darum unzureichenden Mechanismus der Verdrängung durch eine Verurteilung
mit Hilfe der höchsten geistigen Leistungen des Menschen; man erreicht
seine bewußte Beherrschung.“
Es ist nun nicht so, daß Blüber diese Lehren nicht gelegentlich berührte
und auch für die Vollinvertierten zugestände. Praktisch liegt aber doch
der Hauptwert auf der Vermeidung der Züchtung des Typus neuroticus durch
Freigabe des „Harems“. Wohlgemerkt: der Harem sind Knaben und Jugend*
liehe. Es bleibt eben kennzeichnend für die intellektuelle und moralische
Verfassung der neuen Staatslehrer, daß sie die Achtung vor der Unberührtheit
der Kindheit und Jugend, die Zurückhaltung von der sexuellen Berührung
der Jugend nicht kennen. Auf diesen Punkt muß auf das eindringlichste
hingewiesen werden, kein tönendes Gerede darf hierüber hinwegtäuschen.
Es handelt sich um nichts anderes als die planmäßige Pervertierung der
Jugend, um eine gemeine und schamlose Ausnützung der Hilflosigkeit der
Jugend zur Befriedigung niedriger Triebregungen. Es ist keine Kunst, die
Jugend in der Pubertät, welche in ihrer Unausgeglichenheit neuen stürmischen
Affekten gegenüber noch nicht genügend zügelnde Kraft besitzt und des¬
halb in mancher Richtung hilfloser ist als die frühe Kindheit, in ent¬
sprechender Umgebung für entsprechende Zwecke reif werden zu lassen.
Hier gilt es, falschen Volksbeglückern die Larve vom Gesicht zu reißen und
erbärmliche Jugendvergifter an den Pranger zu stellen und unschädlich za
machen.
Es ist nicht unwichtig, den Mechanismus noch etwas genauer zu prüfen,
welchen die systematische Pervertierung benutzt, um ihre Bestrebungen zu
bemänteln. Im Anschluß an die Lehre von der Verdrängung wird von der
Peinlichkeitsschwelle gehandelt, welche um die Sexualität auf gerichtet ist Der
„Faun“ und die „invertierte Vollnatur“ haben sie überwunden. Sie betätigen
sich nicht als Wollüstige, sondern als autonome Herren ihres erotischen Er¬
lebens. Es dürfte aber nicht ganz leicht sein, Wollüstling und Vollnatur,
Peinlichkeit und Scham durch eine scharfe Linie zu trennen. Soll es der
Vollnatur gegeben sein, Scham nicht zu kennen? Die neue soziologische
Theorie sollte, da sie sich so sehr naturwissenschaftlich verbrämt gibt, wissen,
daß — auch rein biologisch-rassenhygienisch gewertet, von anderen Wer¬
tungen abgesehen — dem Schamgefühl eine außerordentliche Bedeutung zu¬
kommt. Freilich ist es nicht gerade die Fortpflanzung, auf welche nach
diesen Jugendbildnem der Geschlechtstrieb hinzielt. Diese ist für die „Voll¬
naturen“ nur bestenfalls eine Nebenaufgabe in der „Herde“. Die Leistungen
und Freuden des Männerbundes haben bei ihnen eine ganz andere Ein¬
schätzung.
Damit berühren wir nochmals die Stellung, welche die homosexuelle
Soziologie der Familie zuweist Sie hat nach dieser keine andere Auf¬
gaben als die, die körperliche Fortpflanzung zu sichern; geistige Werte
sollen in ihr nicht entspringen; sie sei nur die Vorstufe der Herde. Wer,
nicht durch den Dienst für eine schlechte Sache verblendet, die Bedeutung der
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Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw.
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Familie für die Entwicklung der Menschheit zu beurteilen sucht, wird zu
anderen Ergebnissen gelangen.
In Wahrheit ist die Familie die Stätte, in welcher die geschlechtlichen Be¬
ziehungen der Menschen die größtmögliche Veredelung gefunden haben, und
nur in ihr können sie solche finden. In der Familie verbindet sich das
Liebes- mit dem Fortpflanzungs- und Erziehungsgeschäft In ihr
betätigen und entfalten sich sittliche Pflichten nicht nur der sich Ver¬
einigenden gegeneinander, sondern der Erzieher gegen das Kind.
FQr das Kind aber ist bisher in der Menschheit noch keine
bessere Stätte gefunden worden als die vom Bewußtsein sittlicher
Pflichten erfüllte Familie. In ihr, und zwar am reinsten in der
Familie der Einehe, ruhen die Tugenden, die nicht die Herde,
sondern den Staat aufbauen und erhalten.
Dabei wird nicht verschleiert, daß hier dem menschlichen Handeln Auf¬
gaben gesetzt sind, welche in der Schwierigkeit der äußeren Umstände, in
den Stürmen der Leidenschaften, dem Konflikt der Pflichten oft nur allzu
unvollkommen erfüllt werden. Aber wie fadenscheinig ist diesem Aspekt
irdischer Unzulänglichkeiten gegenüber das Losungswort des „Faunentums“,
wie abgeschmackt die Theorie „von Gattin und Hetäre“ und dem „Sakrament“
der „Mehrehe“; welch ein jämmerlicher Tiefstand ästhetischen Empfindens —
von Ethischem gar nicht zu reden — offenbart sich in der Propaganda für
die „ehrfürchtigen und schweigsamen Träger des Geistigen“, welche bestimmt
sind, die Jungfrauen von der Jungfrauschaft zu „erlösen“. Hier bereitet
eine erbärmliche geistige Prostitution die körperliche vor.
Aber wenn wir somit den biologischen und sittlichen Wert der Familie für
das Gemeinwesen herausheben, so übersehen wir Schwächen, die auch
ihr anhaften, nicht.
Insbesondere muß zugestanden werden, daß oft die Sorge des Familien¬
vaters um Weib und Kind von höchsten Leistungen für die Gesamtheit ab¬
lenkt. Hier muß der Einzelne die Schwierigkeiten dieser Welt auskosten
und die Konflikte lösen, wie es ihm seine Kräfte gestatten. Nicht wenige
Menschen höchsten Wertes haben deshalb auf die Gründung einer
Familie verzichtet, um dem, was sie für ihre vornehmste Pflicht hielten,
leben zu können; ebenso wie religiöse Gemeinschaften aus solchen Gründen
den Verzicht auf Gründung einer Familie zugleich mit dem Verzicht auf das
Liebesieben überhaupt von ihren Mitgliedern verlangen.
Haben alle diese darum die Kraft für ihr Wirken aus der Erotik der männ¬
lichen Gesellschaft gezogen?
Diese Behauptung ist lächerlich und kann durch keine Gedankenakrobatik
aufrecht erhalten werden. Nicht nur die Lehre von der infantilen Sexualität,
von der „Vollinversion“ als „Kraftzentrum“ ist von Grund auf falsch, nicht
minder hinfällig ist die Unterstellung des erotischen Untergrundes, den alle
männlichen Gemeinschaften haben sollen. Wenn Männer sich zum Schaffen
vereinigen, so ist das kein erotisches Geschehen; hier wird aus dem Begriff
des Erotischen und Sexuellen gemacht, was man gerade will.
In der neuen Soziologie werden viele, viele Druckseiten für die Erörterung
dieses Begriffes in Anspruch genommen und entgegenstehende „verwissen¬
schaftliche“ Auffassungen mit Hohn bekämpft. Herausgebracht wird aber
ein gänzlich unbestimmtes kautschukartiges Wesen, das man dehnen und
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zusammengeschrumpft lassen kann, wie es beliebt. Und da auch diese De*
finiertechnik für die Begründung des Vorgebrachten nicht zulangt, wird zuletzt
auf die Deutung im Freudschen Sinne zurückgegangen, eine „Kunst“, welche
man in früheren geistvolleren Ansätzen zwar als falsch bekämpfte, aber noch
mit einigem Interesse verfolgen konnte, welche aber inzwischen zur ödesten
Plattheit entartet ist. Und bo haben wir es heute nicht mehr nötig, uns auf
langatmige Diskussionen einzulassen, sondern bezeichnen es als gänzlich
unbegründeten Unsinn, daß etwa der „Stammtisch“ einen symbolischen Ersatz
für eine homosexuelle Betätigung darstellt, oder daß der „Freund“ derjenige
ist, der unser „Liebling“ geworden wäre, wenn wir „vollinvertiert“ wären
und vieles andere von ähnlichem Niveau. Für die Tatsache ferner, daß der
Frau in der Gemeinschaft der Schaffenden nicht die gleiche Bedeutung zu¬
fällt wie in der Familie — ausgeschaltet ist sie auch bei den „Schaffenden“
keineswegs — wird der Unbefangene andere Gründe ausfindig machen, als
der von der „männlichen Erotik“ hypnotisierte.
Auch bei der Erörterung wichtiger gesellschaftlicher Einrichtungen der
Primitiven („Männerhäuser“) wird man dann nicht zu den künstlichen Kon¬
struktionen der homosexuellen Soziologie zu greifen brauchen.
Es kann also zusammengefaßt werden:
Dieser homosexuelle Heldengesang hat keinen wissenschaftlichen
Grund. Er ist haltlos und voll von grotesker Willkür. Er ist prak¬
tisch nichts anders als die Bemäntelung einer sehr gefährlichen
planmäßigen Ansteckung mit pervers - sexueller, besonders
homosexueller Vergiftung, die vor allem auf die Jugend abzielt
und diese erheblich gefährdet.
Will man diese äußerst gefährliche und raffinierte Werbung für homosexuelle
Betätigung wirksam bekämpfen, so werden ihre geistigen Grundlagen ein¬
gehend gekannt und geprüft sein müssen. Wesentlich für die Art des Vor¬
gehens dieser Jugendbeglücker ist, daß sie es verstehen, bei den in der
Entwicklung befindlichen jungen Menschen ideelle und grob triebhafte
Regungen zu gleicher Zeit in Bewegung zu setzen und auf den gleichen
Gegenstand zu vereinigen. Aufbau des Staates durch den Männerbund und
männlicher Eros sind Schlagworte, welche sehr geeignet sind, in heranreifenden
Knaben eine Art von Rauschzustand hervorzurufen und dem Verführer seine
niederträchtige Arbeit zu erleichtern.
Es ist in den vorhergehenden Darlegungen der Versuch gemacht worden,
darzutun, wie die Lehre vom Männerbund frühere psychoanalytische Lehren
fortsetzt, zum Teil auch zum Zwecke homosexueller Werbung umgestaltet.
Und es ist versucht worden unter sachlichen Gesichtspunkten die Unhalt¬
barkeit des Vorgetragenen nachzuweisen. Zum Schluß aber muß der prüfende
Blick sich nochmals der Psychoanalyse selbst zuwenden, welche es nun
tragen muß, daß so absurde und unsaubere Machenschaften sich nicht gänz¬
lich ohne Recht auf sie berufen.
Die erste Unklarheit, die hier ausgenützt wird, liegt in dem Begriff der
Verdrängung. So sicher in diesem wichtige empirische Tatsachen ein¬
geschlossen sind, sö wenig bestimmt und abgegrenzt ist er bei Freud selbst
Besteht doch in dessen Lehren gelegentlich Zweideutigkeit, ob es sich nur
um einen psychischen oder nicht auch um einen organischen Vorgang handle.
Aber auch die Trennung zwischen dem automatischen Vorgang der Ver-
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Neuere Anschauungen Aber das Wesen sexueller Anomalien usw.
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drängung ins Unbewußte und der bewußten Verurteilung ist nicht klar und
bestimmt genug, wiewohl gerade hier ein richtiger Kern vorhanden und noch
herauszuarbeiten ist. Diese Unsicherheit sahen wir bei Blüher in den Er¬
örterungen über Peinlichkeit (Scham) ausgenützt. Es muß aber demgegen¬
über daran festgehalten werden, daß Peinlichkeit und Scham keineswegs zur
Verdrängung führen müssen, daß sie vielmehr ganz im Gegenteil berufen
sind, sehr positive, bewußte, wenn auch nicht berechnete Folgen zu zeitigen.
Aber auch die Begriffsbestimmung der „Sublimierung“, in welcher
infantile (letzten Endes sexuelle) Wünsche auf ein höheres nicht sexuelles
Ziel geleitet werden sollen, verhüllt mehr ein Problem, als sie es der Lösung
näher bringt. So sind auch die psychoanalytischen Lehren über die Be¬
ziehungen von Wunsch, Traum, Kunst, Mythos und Religion nicht nur schlecht
begründet, sondern auch durch die Unklarheit, in welcher zugleich affektiv
mitreißende Momente wirksam werden, für jugendliche Gemüter gelegentlich
. ebenso anziehend wie von unerfreulicher Wirkung.
Oberhaupt erscheint der Hang zur Psychoanalyse, welcher zurzeit auch
bei den Pädagogen etwas reichlich einzutreten droht, nicht unbedenklich für
die Erreichung der Ziele, die der Erziehung wirklich gestellt sind. Der Päd¬
agoge soll den ihn zur Erziehung Anvertrauten kennen, verstehen und mit
ihm fühlen. Psychoanalyse aber ist etwas anderes als die Beobach¬
tung und Einfühlung des Lebens und der Wissenschaft. Sie setzt bei
Beobachtetem und Beobachter einen dauernden Zustand des sich
selbst Zergliederns; und nicht nur dieses, sie verquickt Beobachtimgen
dauernd und ohne Sonderung mit Reflexionen und sehr klügelnden Schlüssen.
Dem einfühlenden Takt des Pädagogen gegenüber, welcher etwas Unmittel¬
bares ist, ist diese Einstellung ein sehr gekünsteltes, das natürliche Ver¬
hältnis zwischen Lehrer und Schüler im hohen Maße störendes Geschehen.
Für den Schüler aber bedeutet sie eine systematische Zerstörung der Naivität,
eine lebensfremde, unnatürliche, reflektierende Beschäftigung mit sich selbst,
welche niemanden weniger ansteht und niemanden weniger frommt als gerade
der Jugend. Wer psychoanalysierte Jugendliche mit unvoreingenommenem
Blick beobachtet, wird sich diesem Urteil wohl anschließen. Dabei meine
ich hier nur die psychoanalytische Einstellung an sich, nicht den unsinnigen
sexualpsychologischen Aberglauben, mit welchem Kinder und Jugendliche
erfüllt werden sollen.
Aber abgesehen von diesen ihr an sich anhaftenden Bedenklichkeiten der
Psychoanalyse darf nicht vergessen werden, daß sie die Grundlage für
den geistigen Ausbau der systematischen Pervertierung der Ju¬
gend bildet. Will man diese bekämpfen, so wird man mit der Klarlegung
der psychoanalytischen Grundirrtümer beginnen müssen. Darüber
hinaus wird es notwendig sein, Eltern und Erzieher über den Inhalt der
Lehren der perversen und pervertierenden Propheten aufzuklären und alle
die, welchen das Wohl der Jugend anvertraut ist, instand zu setzen, den
Vergiftern der Jugend wirksam entgegenzutreten.
Der Staat muß aber auch darüber hinaus eingreifen. Homosexuelle
Werbearbeit in Wort und Schrift muß unmöglich gemacht werden.
Homosexuelle Filmvorführungen sind eine öffentliche Schande; sie sind un¬
bedingt zu verhindern. Homosexuelle Betätigung an Jugendlichen ist mit
schweren gesetzlichen Strafen zu belegen. Homosexuelle Lehrer dürfen
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342 M. Isserlin, Neuere Anschauungen über das Wesen sexueller Anomalien usw.
niemals Unterricht an Kinder ihres Geschlechts erteilen. Auf die Jugend¬
bewegung ist vorsorglich zu achten. Zu „Führern“ sind nur Persönlichkeiten
geeignet, welche sicher von jeder „Inversion“ frei sind. Und so wenig eine
Hetzjagd gegen Homosexuelle veranstaltet werden soll, welche unter ihrer
Anomalie leiden, so sehr muß überall der albernen Überhebung der Kraft¬
zentren, welche die höchsten menschlichen Werte in Beziehung zu Homo¬
sexualität setzen, entgegengetreten werden.
Einige Worte noch über sexuelle Entgleisungen der Jugend gemeinhin.
Sie dürfen nicht von vornherein allzu schwer genommen werden. Weil eben
die Jugend bestimmbar ist, braucht eine Abirrung noch nicht eine ungünstige
Prognose in sich zu schließen. Auch zu homosexueller Betätigung verführte
Jugendliche können durch entsprechende Beeinflussung durch Arzt und Er¬
zieher wieder von der Abweichung befreit werden. Mit zunehmendem Alter
wird allerdings die Aussicht auf das Gelingen einer solchen Korrektur immer
geringer. Das Wichtigste freilich ist hier, wie überall bei der Bekämp- *
fung von Anomalien, die Vorbeugung. Wir dürfen unsere Jugend im
Kampf gegen raffinierte und gewissenlose Verführer nicht allein lassen.
Achten wir aber auf die Wege dieser dunklen Propheten und legen ihnen
ihr Handwerk, so werden wir in der gesunden Widerstandskraft unserer
Jugend den besten Verbündeten in dem Kampf gegen Schmutz und Ver¬
derbnis finden. Enthüllen wir die Jämmerlichkeit dieser falschen Freunde,
so wird das gesunde Empfinden der Jugend das planvoll verbreitete Gift
schnell aus eigenen Kräften unschädlich machen.
Die Gefährdung der Jugendbewegung
durch Blühers Deutung des Wandervogelproblems.
Von Hans Loewe.
Durch die Ausführungen der Herren Professoren Kräpelin und Isserlin
sind Sie über das Wesen und die Bedeutung der homosexuellen Gefahr unter¬
richtet worden. Mediziner haben zu Ihnen gesprochen. Nunmehr gilt es,
die Frage auch von unserem Erzieherstandpunkt näher zu beleuchten. Wenn
wir Lehrer unserer Jugend verlässige Berater sein wollen, dann müssen wir
uns vor allem darüber klar sein, welcher Zusammenhang besteht zwischen
Blühers Schriftstellerei und der Jugendbewegung. Welchen Einfluß übt seine
Deutung des Wandervogelproblemes als eines sexuellen auf die Jugendbe¬
wegung ? Bevor wir uns über die erziehliche Beeinflussung der von der homo¬
sexuellen Infektion bedrohten Kinder aussprechen können, müssen wir zu¬
erst einmal die Persönlichkeit Blühers und den Charakter seiner Bücher
kennen lernen. Demgemäß sollen die beiden letzten Vorträge zwei Haupt¬
themen behandeln:
1. Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des
Wandervogelproblems.
2. Allgemeine Richtlinien für die erziehliche Beeinflussung der von der
homosexuellen Infektion bedrohten Kinder.
Da Blüh er seine Sexualtheorie durch Beobachtung im Wandervogel gewonnen
hat, so sind wir genötigt, uns zunächst eingehend mit dieser Bewegung und
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H. Löwe, Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutg. d. Wandervogelproblems 343
ihrer literarischen Darstellung im WV.-Werk Bltthers zu beschSftigen. Es
soll aber von vomeherein mit aller Entschiedenheit betont werden, daß der
WV., abgesehen von kleinen Kreisen, seihet mit aller Bestimmtheit Blüher
ablehnt, daß das WV.-Werk Blfihers durchaus nicht als eine anerkannte Ge¬
schichte dieser Bewegung gelten kann. Wie die Stimmung z. B. in der
hiesigen Ortsgruppe ist, können Sie aus einem Brief entnehmen, den mir einer
ihrer Leiter, ein Student, der seit 1911 in der Bewegung steht, geschrieben hat:
„Wohl hat Blüher Anhänger, aber ich glaube. Ihnen sagen zu können,
daß unter den tausenden von männlichen Wandervögeln wenig mehr
mit Blüh er s homosexueller Theorie einverstanden sind, als das Buch
Seiten hat.“
Durch unsere Erörterung soll also nicht in weiten Kreisen der Eltern Mi߬
trauen gegen den Wandervogel überhaupt hervorgerufen werden, eine Jugend¬
bewegung, die in ihrem Wesen durchaus gesund ist; es soll vielmehr nur
eindringlich aufmerksam gemacht werden auf die Gefahr, die von Blüher
und homosexuellen Wandervogelführern ausgehen kann. Nur wenn wir das
Wesen dieser Gefahr kennen, haben wir die Mittel in der Hand, sie erfolg¬
reich zu bekämpfen. Damit ist der Gedankengang des heutigen Vortrags
klar gegeben. Wir haben uns zu orientieren:
einmal über die Person Blühers und die Grundtendenz seiner Schrift¬
stellerei,
sodann über den Wandervogel als Teil der Jugendbewegung,
sein wahres Wesen und die Gründe seines Entstehens,
endlich über die Entstellung der WV.-Bewegung durch Blühers Deu¬
tung des WV.
Wer ist Hans Blüher? Unsere Jugend lernt ihn kennen entweder litera¬
risch durch seine in überraschend großer Zahl verbreiteten Schriften, die in
dem Verlag von Eugen Diederichs in Jena, bei Kampmann und Schnabel
in Prien oder im Selbstverlag erschienen sind, oder aber durch seine Vorträge,
die ja leider, wie Sie sich jederzeit selbst überzeugen können, ein andächti¬
ges Publikum von Mädchen, Buben und Studenten anlocken.
Das WV.-Buch, 3 Bände, das Erstlingswerk des Zweiundzwanzigjährigen,
ist schon in vierter Auflage erschienen: Die Rolle der Erotik, I. Bd., 10. Tau¬
send, II. Bd. 9. Tausend in vier bezw. zwei Jahren. Der 1. Band der Selbst¬
biographie erreichte bereits das vierte Tausend, für Ostern 1921 kündigt
Kampmann an: Die Aristie des Jesus von Nazareth, eine Christologie.
Orientiert sich die Jugend in der Presse, deren Wert und Bedeutung sie
natürlich gar nicht beurteilen kann, dann muß ihr Blüher erscheinen als „der
epochemachende schöpferische Genius, der dem wirklichen Geist Nietzsches
nahesteht“, als »ein Führer aus den Wirrnissen der Tage, als Nachfolger
Arthur Schopenhauers, als der geistvolle, in die Tiefe dringende Forscher*,
ln Eugen Diederichs Zeitschrift „Die Tat“ heißt es von dem Erotikwerk:
„Blüher gibt Deutungen der elementaren menschlichen Zusammenhänge, die
weit über alles bisher Geleistete hinausgehend an letztes anknüpfen.“ Der
Priener Verlag spricht von der vollkommenen Ungebundenheit und dem herben
männlichen Ernst, mit dem Blüher die als geheiligt geltenden Anschauungen,
die Säulen der überlieferten Christusidee, stürzt
Unsere Jugend, durch die Erlebnisse der Revolution und des Krieges viel¬
fach aus. dem seelischen Gleichgewicht gebracht, sehnt sich nach Führern,
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344
Hans Loewe
und hier bietet sich ihr in BIQher ein „geborener Führer“, der im Dienst
der Menschheit sich verzehrt, wobei er unter Menschheit nicht die tatsächliche,
vorliegende, zufällige Vielheit uon Erdenbewohnern versteht, sondern im
Sinne unserer großen humanistisch-gesinnten Männer das Maß für das ge¬
samt Menschliche 1 )“.
Wer wie Blüher mit dem Anspruch auftritt, ein geborener Führer zu sein,
der muß es sich gefallen lassen, wenn wir auf Grund seines persönlichen
Auftretens und einer genauen Prüfung seiner Schriften die Berechtigung
eines solchen Vorgehens kritisch würdigen. Wir sind dazu umsomehr sitt¬
lich verpflichtet, da auf unserer Jugend allein die Hoffnung einer besseren
Zukunft unseres Vaterlandes ruht und sie der Führer nicht entbehren kann.
Es gibt zwei Arten über Blüher zu sprechen; wir nehmen ihn nicht ernst
und reißen ihm die Larve vom Gesicht: so macht es Professor Plenge in
seiner Flugschrift „Anti-Blüher“, „Affenbund oder Männerbund“ (Greifen-
Verlag 1920). Sie ist entstanden aus dem heißen Glauben an die Jugend, an
eine bessere und reinere Jugend, die eine neue Höhe der Menschheit be¬
deuten sollte, und aus dem heiligen Zorn, daß der Weg vom hohen Meißner
zur Verblüherung führen sollte. Darum die außerordentliche Schärfe des
Tons. Es soll der gesunde Ekel über den Affen in uns und Glauben an
das Göttliche in uns geweckt werden.
Oder wir versuchen, der Jugend den Menschen Blüher in seiner Erbärmlich¬
keit zu zeigen, indem wir nur sein Selbstzeugnis reden lassen und die groben
Irrtümer in seiner Beweisführung nachweisen. Diesen Weg habe ich in
meinem Aufsatz in den Süddeutschen Monatsheften 2 ) zu gehen versucht. Sach¬
lich stimme ich mit Plenge ebenso überein wie mit Geheimrat Gruber,
der das Lachen als die beste Vorbeuge gegen die Ansteckung durch Herrn
Blühers Schmutz bezeichnet. Aber nach meinen persönlichen Erfahrungen
halte ich gegenüber der Jugend von heute, die leider nicht durchweg so
gesund mehr ist, wie die Jugend zur Zeit unserer Großeltern, den von mir
eingeschlagenen Weg für richtiger; diejenigen Jungen, die Blühers Schriften
mit brennendem Verlangen lesen, lassen sich mit derben Worten und Lächer¬
lichmachen nicht ohne weiteres abweisen. Sie werden dadurch in ihrer
Haltung eher noch bestärkt. Ihnen imponiert nur die ruhige Überlegenheit
des Lehrers an Einsicht und Wissen. Daß sie in Blüher nicht den „ge¬
fallenen Engel“ sehen, dafür kann man im Gespräch unter vier Augen sorgen.
Die gesunden Jungen lehnen Blüher von vornherein ab, ohne lang in seinen
Schriften zu wühlen. Schüler, die in ihrer ganzen Entwicklung ihren Ka¬
meraden voraus sind und gleichsam aus theoretischem Interesse sich mit
dem Sexualproblem beschäftigen, werden selbstverständlich ganz anders zu
behandeln sein als die weniger reifen. Einer besonderen Betrachtung be¬
dürfte die Inversionsgefahr bei der studentischen Jugend. Prof. Stern-Ham¬
burg hat in einem Aufsatz „Die Inversionswelle, ein zeitgeschichtlicher
Beitrag zur Jugendpsychologie“ 3 ), auf die Zusammenhänge zwischen Krieg,
Revolution und Ausbreitung der Inversion hingewiesen. Der Krieg schuf die
physiologische und psychologische Vorbedingung für ihre Ausdehnung. Die
( ) Blüher, In medias res, Grundbemerkungen zum Menschen, S. 2.
*) 18. Jahrgang, Heft 1: „An die Jugend“, S. 21 ff.
*) Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik (1920).
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Die QefBhrdung der Jugendbewegung durch Blflbers Deutung des Wandervogelproblems 345
Revolution trug ihrerseits dazu bei, den Kampf gegen die herkömmliche,
verrottete Geschlechtsmoral als Kampf für das Recht jedes erotischen Empfindens
und Tuns aufzufassen. So konnten Bücher im Freideutschen Verlag er¬
scheinen wie Kurt Zeidler: „Vom erziehenden Eros* (1919), und in Hamburg
bildete sich ein Kreis junger Lehrer „Der Wendekreis“, um an einer Versuchs¬
schule die praktische Durchführbarkeit des neuen Erziehungsgedankens zu
versuchen. Am stärksten wirkte die Inversionswelle auf die freideutsche
Jugend. Damit ist eine dritte Quelle der Gefährdung unserer Jugend durch
die homosexuelle Infektion gegeben. Studenten, die die Inversion aus Schwä¬
che zeigen, aus unsicher gewordenem Instinkt, aus dem Zuviel an Reflexionen,
versuchen Führer in der Jugendbewegung zu werden und vermitteln den
Jungen die Kenntnis der Bücher Blühers.
Für den Zweck unseres heutigen Zusammenseins scheint es mir zu genügen,
wenn ich Ihnen in kurzen Strichen ein Bild der Persönlichkeit Blühers
zeichne und die Ziele seiner Schriftstellerei kurz charakterisiere.
In einem Vortrag lernte ich Blüher kennen. Der Eindruck war denkbar
ungünstig und deckte sich völlig mit dem, den die temperamentvollen Aus¬
führungen Geheimrat Grubers in den Süddeutschen Monatsheften wider¬
geben (Januarheft 1921).
„Sprunghafte Einfälle, höchst ungefähre Analogien, rein zufällige Gedanken¬
verbindungen, Mangel an Empfindung für die Grenzen der Erkenntnis, Mangel
des Bedürfnisses, die Denkergebnisse zu prüfen. Mangelndes Bedürfnis nach
klaren Begriffen, überhaupt Fehlen des Dranges nach Wahrheit, Spiegelfech¬
tereien mit leeren Worten, fratzenhafte Zerrbilder der wirklichen Zusammen¬
hänge als Erzeugnisse hemmungsloser Lust- und Unlustgefühle. Das sind
bekannte Kennzeichen der sich entwickelnden Dementia.“
Über sein Leben und seine Jugend unterrichtet Sie am besten der 1. Band
der 1920 bei Diederichs erschienenen Selbstbiographie: „Werke und Tage,
Werdejahre“, sowie das Wandervogelwerk und die Rolle der Erotik in der
männlichen Gesellschaft.
Blüher stammt aus Steglitz, wo er das Gymnasium besuchte. Hier geriet
er unter den Einfluß Gurlitts, der angeblich seine Schüler mit revolutio¬
nären Gedankenblitzen begeisterte, wie: „Was reden die Leute immer von
der Pflicht der Arbeit; das ist ja gar nicht wahr“ oder: „Unser Unterricht
auf dem Gymnasium ist im Grunde die tollste Verkrüppelung“.
Mit dem Haß gegen die Schule und ihre Lehrer, die als Vollstrecker des
Staatsgedankens niemals Freunde der Jugend sein könnten, verband sich die
Abneigung gegen die Familie, wie sie in seinem Wort: „gezeugt worden zu
sein, ist nichts, wofür man jemandem zu danken hätte“, zum Ausdruck
kpmmt, sowie die wenig pietätvolle Stellung zu den Eltern überhaupt, für
die nach seinen Mitteilungen eine nicht geringe Anzahl Kinder nichts als
Haß und Verachtung übrig hatte.
Als Primaner brachte Blüher mit seinen Freunden am Steglitzer Gym¬
nasium das Erastenwesen zur bewußten Kultur und Blüte. Die Gleichaltrigen
ließen sich vom Eros naidixög durch alle Dunkelheiten fortreißen. Blühers
Eltern verzweifelten an ihrem Sohn, da er nichts leistete und sich zu keinem
Beruf entschließen konnte. Er sah es kalten Herzens an. Als der Vater
ihm schwere Vorwürfe machte, setzte er ihm auseinander: „Es wird der Tag
kommen, an dem Du einsehen wirst, daß Du keinen besseren Beruf hast
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Hans Loewe
ergreifen können als den, mein Vater zu werden.“ In ihm selbst erhielt nach
seiner Meinung die Familiensubstanz ihren Höhepunkt. In der F amili e des
Vaters zeigten sich alle Spuren der Degeneration.
In scharfer Kampfstellung gegen Schule und Elternhaus schloß sich Bl ah er
dem Begründer des WV. in Steglitz, Karl Fischer, mit seinen Bacchanten
begeistert an. Außerdem gewann für ihn die Lektüre von Spittelers
„Prometheus und Epimetheus“ Bedeutung, worin zum Kampf für den
heldischen Menschen aufgerufen wurde, ferner die Bekanntschaft mit dem
Rittergutsbesitzer Wilhelm Jansen, der nach Blühers Schilderung im
WV. eine bedeutsame Rolle spielte und ihn mit zur Abfassung seines WV.-
Buches anregte, endlich das Studium der Schriften des Wiener Psychiaters
Freud, das für die theoretische Deutung des Phänomens WV. wichtig war.
Schon in jenen Jugend jahren bewährte sich in Blüh er das Bewußtsein,
daß seine Grunderlebnisse objektive Erlebnisse der Menschheit seien, und
zwar waren es drei:
1. die Bejahung Karl Fischers, die Königsfrage der Menschheit, d. h.
die Frage: wer soll herrschen?
2. die Frage des Eros paidicos,
3. die Frauenfrage.
Seitdem ging sein Lebenskampf darum, jene drei Fragen in objektiver Form
aus sich herauszustellen, so daß die Mitmenschen endlich einsehen „daß nie¬
mals sie recht haben, sondern ich“. Welcherlei Anfeindungen Blüh er er¬
fahren mochte, zu keiner Zeit verließ ihn das Gefühl der absoluten Voll¬
kommenheit und Überlegenheit seiner eigenen Konzeptionen.
Dieses ins Maßlose gesteigerte Ich-Bewußtsein tritt uns in abstoßender
Weise auch entgegen, wenn wir seinen Schriften nähertreten. Bereits mit
20 Jahren schrieb er das Wandervogel-Buch mit dem deutlich hervortretenden
Bestreben, wegwerfende Kritik zu üben. Diese Neigung erscheint später
noch gesteigert. Es gibt fast kein Gebiet des menschlichen Kulturlebens,
über das er sich nicht ein sehr weitgehendes Urteil zutraut. Besonders markant
ist dabei seine Stellung zur Wissenschaft; in der Schrift „In medias res,
Grundbemerkungen zum Menschen“ 1919, spricht er von dem verdummenden
Einfluß der Universitäten. Begriffe seien jedem zugänglich, d. h. jeder könne
ein Gelehrter werden. Wer die Dinge der Welt und diese selbst als Totalität
durch das Mittel der Begriffe erkennen will, wer also noch wissenschaftlicher
Mensch ist, der will die Willensbrechung haben. Im Erotikwerk nennt er
die Universität ein gewöhnliches Warenhaus für intellektuelle Bedürfnisse.
Die Mediziner verspottet er wegen ihrer Unkenntnis des Menschen. Wer
nicht Freud-isch denkt, ist rückständig. Er selbst treibt als Laie Psychoanalyse.
Die Philologen erscheinen ihm nur als Verfälscher des Griechentums; denn
das mannmännliche Prinzip werde von ihnen unterdrückt. In einer infamen
Broschüre „Ulrich von Willamowitz und der deutsche Geist“ steht der Satz:
„Willamowitz ist nichts anderes als ein Fälscher.“ Blüher weiß nicht,
daß die philologische Wissenschaft längst über die Beschönigung der Knaben*
liebe hinaus ist. Schon 1910, also sechs Jahre vor dem Erscheinen seiner
Schmähschrift, hätte er in Willamowitz, „Staat und Gesellschaft der Griechen
und Römer“, ein aufschlußreiches Kapitel über die dorische Knabenliebe
finden können, das ihn zu einer andersartigen Auffassung jenes Problemen
der Päderastie hätte führen können. Das neueste Platonwerk von Willamo-
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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch BlOhere Deutung des Wanderrogelproblems 347
witz (1919) stellt das psychologische und sittliche Problem jener Erotik in
helles Licht und versucht, es geschichtlich zu begreifen. Die philologische
Wissenschaft hat ferner erkannt, daß Platon die innerliche Überwindung des
mannmännlichen Triebes verkörpert Die Behauptung Blühers, daß die
Kulturblüte Griechenlands durch die Päderastie bedingt war, ist einer der
vielen unbewiesenen Sätze, an denen die Schriften des „Historikers“ Blüher
so reich sind. Besonders hart und hämisch klingt sein Urteil über die Theo¬
logen, die er Lügner und Trottel nennt. Er vermag in ihnen nur Volks¬
betrüger zu sehen.
Entsprechend den drei Grunderlebnissen durchziehen sämtliche Schriften
Blühers drei Grundgedanken:
Herrschen soll der geborene Führer: „Führer werden geboren“ — heißt es
in der Schrift Blühers „Führer und Volk in der Jugendbewegung“ (Diede-
richs 1918) — „unter günstigem Stand der‘Gestirne und kommen auf, völlig
unabhängig davon, was die umgebende Menschheit denkt. Das Volk wird
nur durch den Führer Volk“.
Das zweite Erlebnis war der Eros paidicos, die Knabenliebe. Davon werden
wir noch ausführlicher zu sprechen haben.
Das dritte Erlebnis ist die neue Stellung zur Frau.
Blüher unterscheidet zwei Arten: die Gattin und die freie Frau, die Hetäre.
Die Gattin ist einheitlich weiblich. Ihr Wille, Kinder zu gebären, kommt
früh und triebhaft. Die freien Frauen gehören in das Zwischenreich. Sie
sind in ihrem Liebesieben bewußter und raffinierter und erstreben mitunter
Gleichberechtigung neben dem Mann. Beide Frauenarten sind Naturer¬
scheinungen, beide echt weiblich und beide notwendig. Gäbe es nicht Hetären,
das weibliche Geschlecht fiele einer rücksichtslosen Entfärbung zum Opfer,
die höchst jammerhafte Erscheinung der bürgerlichen Gattin unserer Gesell¬
schaft würde herrschen. Blüher fordert daher für die Liebe zur hetärischen
Frau die gleiche gesellschaftliche Billigung wie für die Liebe zur Gattin.
„Die monogame Ehe erscheint ihm als das große Hindernis für die zeugerische
Entfaltung gerade der reichsten Männer.“ Somit ist — zu diesem Schluß
kommt Blüher — die Mehrehe ein Vorrecht der Vorzüglichen und ihr ge¬
bührt das Sakrament 1 ).
Künstlich scheidet Blüher zwei Typen, den Penelopetypus und den Kalypso¬
typus. Alles Große, was die mannweibliche Liebe geschaffen hat, wird von
ihm einfach vernachlässigt; daher bleibt ihm auch von ärztlicher Seite herbe
Kritik nicht erspart. Dr. Steckei 2 ) wirft ihm in seiner Rezension des Erotik¬
werkes völlige Unkenntnis der Frau vor. Lächerlich nennt er Blühers
Stellung zur Dirne, da er diese unter eine Art modifizierter Tierschutzgesetz¬
gebung stellen möchte. „Das heißt den Tatsachen Gewalt antun, das ist
keine Wissenschaft, das ist der Ausbruch eines Temperamentes, das ist ein
Pamphlet.“ Blüher wisse wohl nicht, daß die Dime meist einen Typus in-
versus darstelle.
So viel über Blüher als Mensch und Schriftsteller.
1 ) Isserlin, „Die planmäßige Pervertierung unserer Jugend“ in Hochland. 2. Heft.
18. Jabrg. S. 179.
*) Zeitschr. f. Sexualwissenschaft, 1919, Bd. 6.
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Wir kommen zum zweiten Teil: Welches ist das wahre Wesen des Wander¬
vogels als eines Teils der Jugendbewegung? Welches sind die Gründe
seines Entstehens?
Ober den WV. unterrichtet eine kleine Schrift von Schomburg 1 )» die
von der Bundesleitung des WV. alr erschöpfend und klar anerkannt wurde,
ferner Blüher, „Der Wandervogel, Geschichte einer Jugendbewegung* 1 .
3 Bände; endlich Janke, „Erich und Hans“, „Die WV.-Bewegung als ero¬
tisches Problem“ 2 ).
Der WV. ist ein Teil der großen Jugend-Gemeinschaftsbewegung, die seit
der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Jugend heraus mächtig
hervortritt, einer Bewegung, deren Hauptziel ist 3 ):
Die geistig-sittliche Lebenserneuerung,
getragen zunächst von den jüngeren Schichten der Jugend.
Die tiefere Ursache dieses mit elementarer Wucht sich äußernden Dranges
war die quälende Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen des jugend¬
lichen Gemeinschaftslebens, wie es sich an den Hochschulen, in den studenti¬
schen Korporationen und an den Mittelschulen in den Froschverbindungen
organisiert hatte, mit seinem trostlosen Alkohol- und Nikotingenuß, mit dem
Mangel an geistigen Interessen, der Laxheit sittlicher Anschauungen, dem
Zurücktreten des sozialen Gefühls und des sozialen Verantwortlichkeits¬
bewußtseins.
So entstand die Jugend-Gemeinschaftsbewegung aus doppelter Wurzel, dem
Hamburger Wanderverein und dem Ur-Wandervogel Berlin. Im Sommer 1897
sammelte ein Student der Rechte, Karl Fischer, eine kleine Zahl Steglitzer
Gymnasiasten um sich. An Sonntagen ging es in die Umgebung von Steglitz
und in die Mark, in den Ferien ins Riesengebirge und in den Böhmerwald.
Man führte ein romantisches Wanderleben, sammelte und sang die alten Volks¬
lieder. Die Verpflegung und Kleidung war möglichst einfach und unabhängig.
Man mied die Touristenstraßen, man nächtigte in Dorfwirtshäusem und
Scheunen. Der Ur-WV. wollte nichts, er erlebte und wuchs, er gewann
eine bodenständige Heimatliebe. 1901 erfolgte eine Regelung des Verhält¬
nisses zwischen Schule, Elternhaus und der inzwischen stark angewachsenen
Jugendgruppe. Es wurde ein zahlender und die Verantwortung tragender
Eltemverein ins Leben gerufen, an den die wandernden Knaben und Jüng¬
linge angeschlossen wurden. Der Anschluß war nur ein äußerlicher; denn
die Mitglieder des Vereins, Eltern und Lehrer, ließen den Jungen auf den
Wanderungen und bei den Zusammenkünften volle Selbständigkeit.
1904 krachte es. Es entstand ein Nebenbund. Karl Fischer verschwand
nach China, die Zahl seiner Anhänger, der Alt-WV., vermehrte sich rasch;
der Nebenbund behielt den Namen WV. und wurde als e. V. Steglitz ins
Vereinsregister eingetragen. Überall entstanden durch zugewanderte Wander¬
vögel neue Ortsgruppen, so daß 1906 bereits 78 vorhanden waren. Damit
war die Gründungszeit abgeschlossen.
! ) „Der Wandervogel, seine Freunde und Gegner“. 1917.
3 ) ln „SexualProblemen“, herausgegeben von Marku6e, 1913.
3 ) A. Messer, Die freideutsche Jugendbewegung (1913 — 18) 1919; K. Ablborn, Die frei-
deutsche Jugendbewegung 1917.
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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des Wandervogelprobleme 349
Die zweite Periode umfaßt die Jahre 1907 bis 1913. Äußerlich die Zeit
der Bünde und Kämpfe um Einigung, innerlich die der Ausreifung des WV.-
Ideales und der Festigung seiner Grundsätze. 1907 gesellte sich zu den bereits
erwähnten Bünden des A.WV. und des Stegl. e. V. ein neuer dritter, der WV.,
deutscher Bund für Jugendwanderung, der an Zahl rasch die anderen über¬
flügelte. Die Gründe dieses Wachstums waren in erster Linie die ablehnende
Haltung gegenüber dem Alkohol und die geschickte Organisation in Orts¬
gruppen, eine Form der Dezentralisation im Gegensatz zu den Zentralisations¬
bestrebungen der beiden anderen Bünde. Die so hoffnungsvoll begonnene
Bewegung schien durch den Streit der Bünde untereinander schwer geschädigt
zu werden. Da siegte die zur Einigung drängende Strömung. Nach drei¬
jährigen Verhandlungen entstand der WV. e. V., Bund für deutsches Jugend-
wandem, die meisten Ortsgruppen der bisherigen Bünde schlossen sich an.
Selbständig blieb der 1910 vom A.WV. abgesprengte Jung-WV. und kleinere
Teile des A.WV., die völlig alkohol- und nikotinfreie Veranstaltungen nicht
mitmachen wollten. 1913 zählte man im Deutschen Reich 25000 WV.
Feinsinnig erörtert Schomburg, was der WV. 1907—13 an innerer Ent¬
wicklung verloren und gewonnen hat Die heilige Zeit des ver sacrum ist
vorüber, doch der Kern ist geblieben. Das Verständnis für das Volkslied
wurde jetzt erst Allgemeingut der WV. (1909 Zupf-Geigenhansl). Der WV.
schuf sich eine Literatur in seinen Bundes- und Gaublättern. Die dem Wandern
angemessenen Wanderformen wurden gefunden, das Mädchenwandern aufge¬
nommen, Landheime und Stadtnester gegründet Endlich vertiefte der WV.
in dieser Periode seine besondere Lebensauffassung und gab ihr für alle
Lebensgebiete feste Form.
WV. sein bedeutet: das auf den Wanderungen Erarbeitete ins Leben sich
auswirken lassen. Das trat in der schönsten Weise in Erscheinung in der
Kleidung, bei den Festen, die durch Spiel, Sang und Aussprache verschönt
wurden, in der Absage an Alkohol und Nikotin. Offen und natürlich ver¬
kehrten Knaben und Mädchen; der Schönheitssinn in Richtung auf das Einfache
und Natürlich-Schöne wurde gepflegt, die Arbeit als solche sittlich gewertet.
In alledem zeigt sich die feste Bejahung der natürlichen, wahrhaften und
gesunden Lebensführung. Leidenschaftlich erörtert wurde die Abstinenzbe¬
wegung und die Frage der Rassenhygiene.
So stellt sich einem unbefangenen Beobachter, der ein warmes Herz für
die Jugend und ihre Bedürfnisse hat, die Entwicklung der Wandervogel-
Bewegung von 1897 bis 1913 dar. Als die Hauptgründe der Entstehung
scheinen sich völlig imgezwungen zu ergeben, namentlich auch bei einer
sachlichen Prüfung der Literatur der ersten Periode: das Bestreben der Jugend,
unter sich Bein zu wollen, jener kerngesunde Trieb, der sich auch in Karl
Fischers Stube auf den Wanderungen des Alt-WV. ungestört auswirken
konnte. Mit dem Wunsche unter sich zu sein, verband sich das Sehnen nach
Selbständigkeit. Die WV. gingen ihre eigenen Wege in der Frage der Kleidung
und Unterkunft, schufen sich neue Formen des Zusammenseins. Wo Jugend
ist, da ist Kraft; das Gefühl, aus eigener Kraft etwas Selbständiges leisten
zu können, erfüllte die WV. mit stolzer Genugtuung. Wo Jugend ist, da
stellt sich naturgemäß auch romantisches Schwärmen ein, darum das begeisterte
Drängen nach nächtlichen Wanderfahrten, nach lodernden Feuern, nach dem
Besuch alter Burgruinen. Treu schloß sich Freund an Freund; mit tiefstem
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Glücksgefühl fand die wandernde Jugend im Umgang mit der Natur durch
die Entdeckungsfahrten in Heimat und Fremde seelische Bereicherung. Der
Sinn für Treue und Wahrheit als etwas Selbstverständliches war der schönste
Gewinn des neuen Lebens. Die Erkenntnis der wahren Lebenswerte gegen¬
über allen lügnerischen Scheinwerten, gegenüber den Unwahrhaftigkeiten der
Schule, dem Stumpfsinn der Kneiperei, der Oberflächlichkeit des Sonntags¬
bummels bahnte sich an. Der WV. war im Verhältnis zur Schule eine Er¬
gänzung; die durch die Staatsschule vernachlässigten Jugendinstinkte haben
in ihm ihre natürlichste, schönste und wahrste Gestaltung gefunden.
Greift unsere Jugend zu Blühers Wandervogelwerk, was hört sie dann
über diese ihre eigene Bewegung?
der WV. eine Empörung gegen die Schule,
der WV. eine Empörung gegen das Elternhaus,
der WV. ein sexuelles Problem.
Wir Lehrer und Erzieher der Jugend können gar nicht entschieden genug
auf die Gefahren hinweisen, die dieses Blühersche Erstlingswerk in sich
birgt. Aus ihm klingt uns jene bitterböse, maßlos einseitige, jedes erfolg¬
reiche Zusammenarbeiten zwischen Schule und Elternhaus zerstörende Kritik
entgegen, die wir auch aus Wynekens Schriften und besonders aus dem
„Anfang“ kennen. Die Autorität der Schule wie des Elternhauses wird
pietätlos vernichtet. Gleichzeitig verkündet Blüher die frohe Botschaft, daß
die Jugend im WV. sich der Bedeutung des mannmännlichen Triebes bewußt
geworden ist, und er fordert auf, den Typus inversus als den des Männer¬
helden zu achten und zu pflegen.
Wie raffiniert geht er dabei zu Werk. Er hat es uns in seiner Autobio¬
graphie selbst geschildert. Auf seinen Charakter fällt dadurch ein sehr
eigentümliches Licht.
Obwohl er in seinen „Grundbemerkungen vom Menschen“ als die hervor¬
ragendste Eigenschaft des edlen Mannes es bezeichnet, nicht rachsüchtig zu
sein, nennt er in seiner Autobiographie das WV.-Werk ein Rachewerk für
Karl Fischer. Er wollte das Plattfußvolk, d. h. die nicht Gleichgesinnten,
betrügen, die öffentliche Meinung überfallen. Der innere Aufbau des Werkes
enthält in der Dreiteilung des Stoffes eine List, indem erst der letzte Band
die gefährlichen Grundgedanken klar hervortreten läßt.
Im I. Band des WV.-Werkes fällt einem bei ruhiger Prüfung des Inhaltes
auf, wie verzeichnet die einzelnen Bilder sind. Über l /z des ganzen Bandes
behandelt das alte Steglitz und seine Menschen. Das 1. Kapitel soll dar¬
legen, warum gerade hier in der Mark die Empörung des WV. erfolgen
mußte. So schildert es nach feinsinnigen Ausführungen über die Lage und
Baugeschichte des Ortes die geistigen Richtungen seiner Bewohner, ihren
strengen Patriotismus und Protestantismus, aber freilich stets mit dem starken
Unterton des Spottes. Für den idealisierten Freiheitspädagogen Gur litt
findet Blüher ein passendes Relief an den unwahrhaftigen patriotischen
Oberlehrern, die am Sonntag Frömmigkeit heucheln. Friedrich Paulsen
erscheint als alter frömmelnder Greis ohne Verständnis für die Jugend und
ihre Liebe.
Unter dem Druck verständnisloser Alter, die ihre Pflicht taten, um versetzt
zu werden, wuchs die Jugend auf, erregt durch die bei ihr überall kursieren¬
den Bücher Gurlitts. Weil in Steglitz die Gegensätze so scharf und eigen-
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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des Wandervogelproblems 351
artig waren, konnte hier eine Bewegung aus der Jugend selbst entstehen,
die nichts war als Kampf. In glänzend gezeichneten Bildern führt Blüher
die Fahrten Karl Fischers vor.
Im 2. Kapitel „Die Romantik als Empörer“ sucht Bl Uh er das Wesen der
Jugend zu deuten. Er unterscheidet drei Stufen, die realistische des Kind¬
heitsalters, die romantische bis zum 20., die klassische, die selten eintritt,
etwa vom 20. an. Die Staatsschule vergewaltige daher das jugendliche
Gemüt, indem sie von Anfang an das klassische Ideal Vorhalte und die
Knaben mit Abstraktem und Begriffen plage. Jede klassische Erziehung,
sei es aus Rom, Hellas oder Weimar, bedeute daher eine Vergewaltigung,
^deshalb zweifeln heute nur noch wenige daran, daß es ein Fluch ist für
das weitere Leben, Gymnasiast gewesen zu sein“. Gegen diesen unglaub¬
lichen Zwang empöre sich das innerste Wesen der Jugend, die Romantik,
das Nichtklassische, das Gesunde, das Erdreistete gegenüber dem Verbotenen,
die Unordnung gegenüber der Ordnung. — Sie sehen, wie gut Blüh er kon¬
struiert. — Dazu kommt die moralische Verkrüppelung durch die Plichtlehre
der Schule. Mit der Schule teilt das Elternhaus die Schuld. Auch ihm gilt
der Kampf; die Eltern vergewaltigen die Jugend, mißachten oft ihre Dis¬
kretionspflichten, verlangen Dankbarkeit am Unrechten Platz, an einer Stelle
war wohl jeder von seinen Eltern mißachtet worden. Der Schluß des
I. Bandes bringt wieder packende Schilderungen des Aufganges der Be¬
wegung, über Karl Fischer und seine Bachanten, über ihre Abenteuer mit
den Kunden.
Der II. Band schildert Blüte und Niedergang. Besonders wichtig für
Blühers Auffassung vom WV. sind die Erörterungen, die sich an den
schweren Vorwurf anknüpfen, der WV. sei ein Päderastenklub. Er war
anläßlich eines häßlichen Prozesses in einem Provinzblatt erhoben worden;
Die überwiegende Majorität erklärte, der WV. habe mit gleichgeschlechtlicher
Erotik nichts zu tun. Das Vorhandensein von Männerhelden sei ein Zufall
und von außen kommend gewesen. Eine verschwindende Minorität meinte,
die physiologische Freundschaft gehöre zur Natur des WV.s. Sie müsse
kultiviert werden. In der hierüber entstehenden Aufregung sieht Blüher
die eigentliche Würze der nun folgenden Geschichte. Er schließt sich dem
zweiten Standpunkt an. Das letzte Kapitel handelt von den zerstörenden
Mächten; unweigerlich — meinte Blüher — mußte die Jugend sinken, als
sie sich anschickte, sich wieder mit den Eltern und der Schule auszusöhnen.
Wieder geht es über die Schule her, die der Jugend keine Freude -an der
Natur beibrachte, den Blick für die Dinge nicht schärfte, das Wesen der
Freundschaft nicht erschloß. Die Schule produzierte jahrhundertelang Schein¬
werte, weil sie vom Staate unterstützt wurde. Ebenso unterdrückte die
Kirche fast ausnahmslos die großen religiösen Naturen und blieb selbst ewig
unproduktiv. Die Schule arbeitet mit einem immensen Unlustüberschuß.
Naturen, die so etwas als Selbstverständlichkeit hinnehmen, seien zu Sklaven
geborene Menschen. Der freie Mann wird jene Zeit stets mit dem rechten
Namen, die Zeit seiner tiefsten seelischen Erniedrigung nennen. Ganz
besonders zieht Blüher gegen das Gymnasium los als die weltfremdeste
deutsche Erziehungsanstalt. Sein Hauptvorwurf ist der, dort werde das
Griechentum verfälscht; denn aus Sittlichkeitsgründen werde die antike
Erotik, der antike Pessimismus und das problematische dionysische Phänomen
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verschwiegen. Blüh er vermag als die besten Erzieher in Griechenland nur
Männer wie Sokrates anzusehen, jene scheinbar überflüssigen Männer, die
selten Kinder zeugten, die die Frauen nicht mochten, die dem Nebenberuf
frönten, die ersten Volkserzieher zu werden auf Jahrtausende, die iQaaxal.
Die Erziehung, die sittliche Höherführung übernahmen nur die, denen
von Natur ein besonderer Adel gegeben war, geborene Erzieher. Den
Unterschied zwischen der deutschen Schule, an ihrer Spitze das Gymnasium,
und der griechischen Erziehung glaubt Blüh er mit folgender Gegenüber¬
stellung richtig zu charakterisieren. Hier hieß es: „Erkenne dich selbst und
werde, der du bist,“ dort: „Verkenne dich und die Welt und werde, wie die
Autorität dich will!“
Von der Ausbildung des Oberlehrers entwirft Blüher ein geradezu groteskes
Bild. Sie sind das Unvorbildlichste, was man sich an geistigen Menschen denken
kann, ungemütliche, gespreizte Menschen, die sich alle Tage blamieren und
doch Respekt beanspruchen können. Sie haben etwas Morsches und Mecha¬
nisches an Sich, die Natur rächte sich durch Schaffung des Oberlehrertypes.
Für den WV. wurde es verhängnisvoll, als die Invasion der Oberlehrer, der
Patriotismus schnarrenden Offiziere und der Regierungsräte begann.
Betrachtet man Blühers Ein würfe gegen die Schule genauer, so fällt
einem sofort auf, wie stark er zu Verallgemeinerungen und schlimmsten
Übertreibungen neigt Er ist im Grunde seines Wesens ein Dogmatiker. Es
ist und bleibt ein allzu billiges Auskunftsmittel Blühers, diejenigen Schüler,
die ihrer Lehrer als Freunde gedenken, als unselbständige Köpfe zu brand¬
marken, deren eigenes Denken totgeschlagen sei. Daß die Schule reform¬
bedürftig ist, daß viele Lehrer die Nöte der Jugend nicht zu würdigen wissen,
soll gewiß nicht in Abrede gestellt werden. Wer aber als Beurteiler einer so
wichtigen Bewegung wie der Jugendbewegung auftreten will, wer mit seinen
Schriften die Anschauungen der Jugend beeinflußen will, der muß Verant¬
wortlichkeitsbewußtsein besitzen. Blüher drängt die Jungen, die ja schon
an und für sich in diesem Alter zu Übertreibungen neigen, denen die Er¬
fahrung für eine objektive Prüfung des ihnen Gebotenen fehlt, in einen
geradezu unheilbaren Gegensatz zu Schule und Elternhaus. Er zerstört das
Vertrauensverhältnis, auf dem allein eine wirklich erfolgreiche erzieherische
Beeinflussung beruht.
Lohnt es sich der Mühe, Briefe von jungen Kriegsteilnehmern mitzuteilen,
die rührende Bekenntnisse zum klassischen Altertum enthalten, die Blüher
Lügen strafen? Wo beweist Blüher jemals seine kühne Behauptung, daß
die griechische Geisteswelt von dem mannmännlichen Prinzip beherrscht ist?
Aber das ist ja eine „intuitive“ Wahrheit, wie er sie so sehr liebt.
Wahr ist sicherlich das Eine, daß eine einheitliche Revolutionsstimmung
gegen die Schule in der Gründungsperiode des WV. nicht vorhanden war,
wenn auch imangenehme Schulerfahrungen genug gemacht worden sein mögen.
Die zweite Behauptung Blühers — der WV. eine Empörung gegen das
Elternhaus — ist ebenso einseitig ungerecht und maßlos übertreibend wie
jene erste. Er sieht nur den Kampf der Jugend gegen das Alter. Er über¬
sieht vollkommen den Reichtum der Gestaltungen in den Lebensgemeinschaften
der Menschen. Er untersucht gar nicht, welche Bevölkerungsschichten ihre
Kinder zu den ersten WV.-Gruppen schickten, wie sich das Verhältnis
zwischen Vätern und Söhnen je nach der Schicht verschieden gestaltete.
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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des Wandervogelproblems 353
Jedenfalls könnte man den Zeugnissen Blühers über Feindschaft zwischen
Vater und Sohn eine recht stattliche Zahl von solchen gegenüberstellen, die
das Gegenteil beweisen. Und wie steht es mit den an den Feuern ihr
Familienelend beklagenden Wandervögeln? Ein feiner Psychologe der Jugend
muß doch Blüh er sein. Eine Jugend, die sich in schäumender Lebensfreude
dem neu entdeckten Naturgenuß hingibt, diese Jugend klagt und jammert
nicht über das Elternhaus, sie schließt ihre Freundschaften unbekümmert um
das Elternhaus.
Die Geringschätzung der Familie durch Blüh er hat ihren tiefsten Grund
in seiner Schätzung des ethischen Wertes des homosexuellen Triebes. „Ge¬
zeugt worden zu sein ist nichts, wofür man jemandem zu danken hätte“,
dieses höhnische Schlagwort, das ohne jedes Verständnis der tiefen Geheim¬
nisse der Blutzusammenhänge geschrieben ist, wurde Lügen gestraft durch
die Kriegserfahrungen, die zwischen Vätern und Söhnen in erschütternder
Weise Zartheit, Hingabe, Tatkraft und Opferfreudigkeit auslöste. Besonders
häßliche Worte findet Blüher bei der Darstellung, wie die Alten den WV.
zum Hurrapatriotismus verführten. Er redet von Personifizierung des eigenen
Vaterlandes, von Treugelöbnissen bis in den Tod, dies natürlich mit der
planmäßigen Hinschlachtung anderer Völker, von der gefährlichen Sorte der
Historienlehrer, von der Schule, dieser vergeblichen Erzieherin des Menschen,
von Unterweisung der Jugend in schnoddrigen Redensarten gegen andere
Völker. Die Antwort gab ihm die WV.-Jugend im Weltkrieg, oder wird
er es wagen, seinen Schmutz auch gegen den WV. Ernst Wurche zu
spritzen, dessen Leben und Sterben Walter Flex in einem der schönsten
Kriegsbücher — »Der Wanderer zwischen zwei Welten“ — geschildert hat?
So bleibt endlich Blühers letzte Behauptung, der WV. — ein erotisches
Problem. Damit kommen wir zum entscheidendsten Punkt unserer Betrachtung.
Wir werfen Blüher vor, daß er in unverantwortlichster Weise die Begriffe
der Jugend über sexuelle Dinge verwirrt, daß er sie in einem Entwicklungs¬
stadium, wo der sexuelle Trieb noch unsicher tastet, wo die nach Idealen
strebende Jugend durch den in ihr erwachenden Geschlechtstrieb wie von
einer rätselvollen Macht beunruhigt wird, wo sie förmlich nach einem Führer
verlangt, an einen Abgrund führt. Denn wohl wissend, daß die Heldenver¬
ehrung für die reine, hochstrebende Jugend etwas durchaus Natürliches ist,
verkündet er ihr die frohe Botschaft vom Männerhelden, vom Typus inversus.
Wollen wir unserer Jugend, die das WV.-Werk mit Interesse liest, wirk¬
lich helfen, müssen wir uns darüber klar sein, welche Methode Blüher als
Historiker befolgt, um zu seinen überraschenden Ergebnissen zu kommen.
Glaubt er doch wirklich den letzten Triebgrund der WV.-Bewegung enträtselt
zu haben. Er entwickelt sie Belbst im 3. Bd. seines WV.-Buches: Mit einer
Art „Vorurteil“ tritt er an die Dinge heran. Dieses Vorurteil wirkt als ab¬
leitender Grundsatz (deduktives Prinzip); es wird ergänzt durch Material-
Sammlung (induktives Prinzip); dazu kommt die Frage, sind die Dinge, die
neben- und nacheinander da sind, auch wegen- und durcheinander da? (Grund¬
satz der Kausalität). Aus der Zusammenstimmung der drei Faktoren entstehe
ein Erfahrungsurteil mit objektiver Gültigkeit.
Betrachten wir die Anwendung dieser Methode auf das WV.-Problem, so
erheben sich ernste methodische Bedenken. Blüher greift den Satz aus der
Luft: der WV. ist ein Erzeugnis der Inversion; das ist das Vorurteil. Danach
Zeitschrift f. pfldagog. Psychologie. 23
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354
Hans Loewe
richtet er jetzt die Induktion und sammelt Material. Dann beginnt die Kausal¬
betrachtung. Blüh er fragt: Haben die paar Dutzend Invertierte, die ich im
WV. kennen gelernt habe, eine wesentliche Bedeutung für die Bewegung
gehabt? Ja, denn gerade sie erzielten den größten Aufschwung, die tiefste
und innerlichste Begeisterung der Jugend, eine Behauptung, die mit viel
mehr Recht von der Gegenseite erhoben werden könnte. Weiter führt Blüher
als Beweis der Richtigkeit seiner These seine persönliche 10 jährige Erfahrung
an, wobei 6 Jahre der bewußten systematischen Beobachtung galten. Er hält
es dabei für notwendig, auffallend stark zu betonen, wie schwer es sei, einen
feinen Sinn für das Erotische zu gewinnen. Man müsse es fühlen, man
muß hören, wie Freund vom Geliebten gesprochen wird, ifian müsse ver¬
stehen, ob ein geschicktes Buch ein Gruß des Herzens sei. Sein eigenes
Empfindungsvermögen ist, nach einer Stelle in seiner Selbstbiographie zu
schließen, bereits so entwickelt, daß er, wenn er nachts über einen See weg
Stimmen von badenden Menschen, darunter Frauen hört, zu unterscheiden
vermag, ob eine Frau nackt ist oder nicht.
Blüher muß ferner zugeben, daß das System die Anwendung des Analogie¬
schlusses verlangt. Er konnte nicht jeden einzelnen Wandervogel nach seinem
Liebesieben ausfragen, hätte wohl auch meistens, wie er selbst ausführt, un¬
günstigere Antworten bekommen als die, die er selbst wußte. Daher durch¬
forschte er einzelne charakteristische Wirbelpunkte, Kraftzentren der Bewegung,
wobei er freilich den Beweis schuldig bleibt, warum gerade die von ihm ge¬
wählten Untersuchungsobjekte die charakteristischen Wirbelpunkte sind. Dann
macht er einen Sprung, indem er sich den Rest selbst ergänzt, wodurch seine
einheitliche Auffassung entsteht. In den Naturwissenschaften mag ein Analogie¬
schluß zu einem Erfahrungsurteil von verhältnismäßig objektiver Gültigkeit
führen, wenn die Objekte einander gleich sind. Im Bereich der Kulturwissen¬
schaften, wo seelische und geistige Veranlagung stark differenziert sind, ist
das gleiche Schlußverfahren nur mit höchster Sorgfalt anzuwenden.
Wie gefährlich muß ferner auf die Jugend die Unterscheidung wirken, die
Blüher auf Grund der von Prof. Moll eingeführten Begriffe „Kontrektation“
und „Detumeszenz“ macht? Moll versteht unter dem Kontrektationstrieb
den Trieb zur Gesellung. Seine äußerste Grenze ist die Zärtlichkeit, die Be¬
tastung der geliebten Persönlichkeit. Die sich plötzlich erhebende Begierde,
sie zu löschen, gehört ins Gebiet der Detumeszenz. Blüher schärft der Jugend
ein, eine tiefe Liebe zum eigenen Geschlecht sei möglich ohne das Aufkommen
der Libido, was durch die eintretende Verdrängung verhindert wird. Das
Liebesieben im WV. spielte sich nach seiner Behauptung wesentlich im
selbständig gewordenen Kontrektationstrieb ab. Für das Ganze des Organis¬
mus konnte das aber nicht genügen; die großen Führer und Kraftzentren
waren meist invertierte Vollmenschen, die den gesamten Liebeskomplex auf
das eigene Geschlecht übertrugen. Gleichzeitig muß er auch einräumen, daß
die Verdrängungsschranke jederzeit durch berauschende Getränke oder durch
heftig aufkommenden Affekt niedergerissen werden kann.
Blüher kann seine Auffassung vom Liebesieben im WV. nur dadurch auf¬
recht erhalten, daß er grundsätzlich Bisexualität annimmt. Er glaubt eine
Bestätigung dieser letzteren Ansicht in der Tatsache zu finden, daß in den
Jahren der Pubertät der erwachende Sexualtrieb zwischen beiden Geschlechtern
schwankt. Die Mädcheninvasionen im WV. erklärt Blüher als kluge Politik
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Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Bliihers Deutung des Wandervogelproblems 355
invertierter Führer, dem Verdacht der Homosexualität im WV. möglichst zu
entgehen, und als den Versuch jener Führer, die die Inversion vor sich selbst
verbergen möchten. Dem Einwande, es gebe doch tatsächlich im WV. ein
harmloses Zusammenwandern von Knaben und Mädchen, begegnet er mit
der Behauptung, noch kenne niemand die heimliche Tragik, die hinter jenem
erzwungenen Platonismus steckt.
Die allerschwerste Gefahr droht Blühers Theorie durch die Erfahrungs¬
tatsache: neben den vollinvertierten Führern wirkten ebensoviele — wir
dürfen wohl sagen weit mehr Führer — ebenso begeisternd und fördernd,
aber sie bekämpften die Homosexualität.
Freuds Theorie der Verdrängung bietet ihm nach seiner Meinung den
Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels. Mit ihrer Hilfe konstruiert er den Typ
des Verfolgers: Augen irr, Gesichtsausdruck unsicher, Zucken im Gesicht,
heftiges Sprechen, plötzliches Gerührtwerden beim Anblick der Jugend, dann
wieder Kälte und Haß. Dieser Typ hat Angst vor sexueller Erkenntnis, er
wird krank. Der Männertyp dagegen hat seinem invertierten Liebesieben
Betätigung gegönnt, sein Liebesieben sublimiert, d. h. den sexuellen Trieb
höher gezüchtet und weiter geführt zu allgemeineren Zielen, die der übrigen
Menschheit nützlich sind. Der Männerheld geht auf praktisch-soziale Auf¬
gaben. Der Künstler rettet sich vor Neurose durch Umbildung ursprünglich
gleichgeschlechtlicher Triebregungen in künstlerische Produkte. (Schiller:
Maltheser Frgm.; Goethe: Wilhelm Meister, ertrunkener Knabe.)
Trotz der schärfsten Einsprüche gegen seine Auffassung blieb Blüh er fest
und verlangt die Freigabe der Inversion als psychosanitärer Forderung und
preist Magnus Hirschfeld, weil dieser bemerkte, die Homosexuellen aus besseren
Ständen seien die nützlichsten Förderer in der Ausgleichung der Klassen¬
gegensätze, indem sie Lieblinge aus einfachen haben. Das sei eine Beobachtung
von seltenem Wert. Blüher sieht also in der Freigabe der Inversion einen
Gewinn für das Volksleben, das Volk werde auch viel gesünder werden durch
die Heilung vieler Neurotiker.
Die Art und Weise, wie Blüher die Verdrängungstheorie Freuds benützt,
bedeutet eine groteske Vergewaltigung der Tatsachen. Seine Verwendung
der Mollschen Begriffe „Kontrektation“ und „Detumeszenz“ ist völlig un¬
richtig; denn nach ärztlichen Feststellungen betrachten auch die Homosexuellen
als das Ziel ihrer Wünsche die sinnliche Triebstillung in den Armen des
Liebesobjektes.
Die allerernstesten Bedenken erregt endlich die viel zu weite Fassung des
Begriffes „sexual.“ Selbst in der von Eulenburg und Bloch gegründeten
Zeitschrift für Sexualwissenschaft wird in einer Kritik der Schriften Blühers
diese Veränderung nicht nur als falsch bezeichnet, sondern auch als geeignet,
die verhängnisvollste Begriffsverwirrung anzurichten, denn Blüher scheut
sich nicht, jede seelische Zuneigung, jede freundschaftliche soziale Sympathie
zwischen Männern als Inversion zu bezeichnen.
Auf solchen Grundlagen entwickelt Blüher seine Theorie der Männer-
bflnde in dem Werk „Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“.
Ein e unter der Vorherrschaft des Typus inversus stehende Gesellschaft von
Männern baue den Staat auf. Er glaubt, ihre Spuren zu finden ebenso bei
den Männerbünden der primitiven Völker wie beim WV., bei den Freimaurern
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356 H. Loewe, Die Gefährdung der Jugendbewegu ng durch Blühers Deutg. d. Wandervogelproblems
wie in den militärischen Kameraderien, im Templerorden wie bei Schiller,
in den studentischen Verbindungen wie in den Kegelgesellschaften.
Auch in diesen Beweisführungen dieselben groben Irrttlmer wie im WV.-
Werk, Vergewaltigung der Tatsachen, höchst anfechtbare Deutungen, eine
völlig imberechtigte Erweiterung des Sexualbegriffs, Mangel an Unterscheidungs¬
gabe, falsche Schlüsse aus dem Sexualleben Jugendlicher auf die Gefühls¬
welt erwachsener Homosexueller; — gerade seine Entdeckungen im WV., daß
die Homosexuellen die eigentlichen Träger sind, eine Entdeckung, die nicht
bewiesen wird, wird grundlegend für seine Auffassung der Männerbünde
überhaupt; —die völlige Verkennung des wahren Wesens der Homosexuellen,
die im Grunde alle unglückliche Menschen sind, deren Wünsche stets auf
die sinnliche Triebstillung in den Armen des Liebesobjekts gerichtet sind,
eine bedauernswerte Oberflächlichkeit in der Behandlung des Problems der
Liebeswahl und der Frau, Ablehnung der Wissenschaft, um zum Sinn der
Geschichte zu kommen, zugunsten einer vagen Deutungskunst.
Ein näheres Eingehen auf das Erotikwerk erübrigt sich. Die große Ge¬
fahr, die es, wie überhaupt die ganze Schriftstellerei Blühers für die Jugend
in sich birgt, liegt klar zutage. Unsere Jugend ahnt nicht, wo das Gift ver¬
borgen ist. Denn überraschend geschickt appelliert Blüh er an den in ihr
schlummernden idealen Sinn, an ihre Freude am Übertreiben der Kritik, an
ihr unbefriedigtes Sehnen, Mißverständnissen in Schule und Elternhaus zu
entgehen, an ihre Empfänglichkeit für schöne Naturschilderungen. Daher
muß eine völlige Begriffsverwirrung über das Sexualproblem gerade in der
Zeit eintreten, wo der erwachende Sexualtrieb unsicher tastet; der Männer¬
held erscheint als erstrebenswertes Ideal, die homosexuelle Liebe als wich¬
tigster Teil des Eros, als etwas Natürliches, die höchste Kultur Erzeugendes;
die vorübergehend auftretende sexuelle Neigung des Kindes zum eigenen
Geschlecht wird verstärkt und zu einer dauernden gemacht, gegenüber dem
andern Geschlecht tritt Kälte ein, es erfolgt selbstquälerische Selbstanalyse,
die Jugend verliert ihre Harmlosigkeit und wird entwurzelt.
So bleibt nur eine Losung übrig: schärfster Kampf gegen diesen „Jugend¬
führer“, dessen Selbstgefühl bis ins Pathologische gesteigert ist, der die
Wissenschaft schroff ablehnt zugunsten der Methode der unmittelbaren An¬
schauung, der blendende Schlagworte formuliert, von verblüffender Pietät¬
losigkeit ist, der in der Bekämpfung der Autorität in der Familie und Kirche
den Versuch macht, sich jeglicher Verantwortung zu entziehen, dessen ganze
Gedankenwelt beherrscht wird von dem Glauben an die einzigartige Be¬
deutung des mannmännlichen Prinzips.
Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer?
Von Gerhard Friedrich.
(Aus den seminaristischen Übungen von F. E. Otto Schultze, Frankfurt a. M.).
Unter den verschiedenen Gesichtspunkten, von denen aus man heute die
Fragen der Schulerziehung betrachtet, scheint mir einer der wesentlichsten
der einer harmonischen Vereinigung von Unterricht und Erziehung zu sein.
Mit Recht haben darum sowohl Theoretiker wie Praktiker immer wieder ihre
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Gerhard Friedrich, Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer?
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Aufmerksamkeit auf die Grundbedingungen für die Erreichung dieses Zieles
gelenkt, die zweifellos in der Persönlichkeit des Lehrers und Erziehers zu
suchen sind; und zwar ist Klarheit über die Forderungen, die an den Cha¬
rakter sowie an die theoretische und praktische Ausbildung des modernen
Lehrers und Erziehers gestellt werden müssen, grundlegend einerseits für
die Berufsberatung, die bestimmter Richtlinien zur Erfüllung ihrer verant¬
wortungsvollen Arbeit bedarf, andererseits für die Behörden, die wissen müssen,
auf welche Eigenschaften und Fähigkeiten bei den Anwärtern auf den Lehrer¬
und Erzieherberuf vornehmlich zu achten ist. Ebenso wichtig ist es für den
angehenden Lehrer selbst, feste Anhaltspunkte zu haben für die Selbstprüfung,
nach denen er die eigene pädagogische und menschliche Befähigung zu dem
erwählten Beruf messen kann.
Angesichts der Wichtigkeit der Fragen nach dem Wesen der Lehrer- und
Erzieherpersönlichkeit') erscheint es mir wertvoll und wünschenswert, diesen
in ihrer Bedeutung nicht hoch genug zu veranschlagenden Problemen ernst¬
haft induktiv nachzugehen und zutage tretende Ergebnisse nicht zu ver¬
schweigen.
Die Anregung zu der vorliegenden Untersuchung ist aus pädagogisch-psycho¬
logischen Übungen hervorgegangen, die Herr Prof. Dr. Schultze im Sommer¬
semester 1921 an der Universität Frankfurt abhielt. Es wurden da Einzel¬
persönlichkeiten analysiert und die Fragestellungen für die Charakteristik
ausgearbeitet. Das Beobachtungsmaterial mußte den Kursteilnehmern möglichst
genau persönlich bekannt sein, damit sich alle Theorie unmittelbar aus der
Wahrnehmung ergab. Daher wurden Menschen gewählt, die die einzelnen
Kursteilnehmer aus ihrem früheren Leben gut kannten. Von einem zwar
allen Teilnehmern zugänglichen Material wie Lehrergestalten aus „Gottfried
Kämpfer“ und anderen Erziehungsromanen oder Autobiographien von Päda¬
gogen wurde abgesehen, damit der Zwang, aus dem Leben zu schöpfen,
möglichst stark wurde. Die zufällige Zusammensetzung des Kurses führte
dazu, daß Fürsorgezöglinge und frühere Lehrer besprochen wurden. Be¬
sonders die letzten erwiesen sich als sehr geeignet, weil jeder Mensch aus seiner
Schulzeit wohl mindestens einen Lehrer genau genug kennt, um sein Urteil
über diesen an der Erinnerung zu klären, zu vervollständigen und in seinem
Ergebnis festzulegen. Jeder Teilnehmer bekam darum die Aufgabe, sich den
ihm noch am besten erinnerlichen Lehrer vorzustellen, in der Richtung be¬
stimmter Fragen zu charakterisieren und zu erzählen, wie sich der einzelne
Lehrer bei der gleichen Gelegenheit verhalten habe. Der Austausch der
Beobachtungen legte die verschiedenen Möglichkeiten des Verhaltens oft mit
schlagender Deutlichkeit dar. Die Situation ergab die Anregung des Kurs¬
leiters, weiteres Material zu sammeln und zusammenzustellen. Ich übernahm
diese Aufgabe, zumal ich mich mit dem Stoff bereits näher befaßt und im
Kurs zwei Lehrergestalten analysiert hatte. Das Material verschaffte ich mir
durch Rundfragen bei Studenten des ersten und zweiten Semesters; denn
gerade diese erschienen mir geeignet, weil bei ihnen einerseits die Erinnerung
an die Lehrer noch frisch und unverwischt ist, und weil man andererseits
bekanntlich nach dem Verlassen der Schule eher als vorher zu milder Be-
i) Vgl. William Stern, „Psychologie und Schule*, Zeitschr. f. päd. Psych. 1919, 5/6, S. 145 ff.,
und Martin Havenstein, „Was den rechten Lehrer macht*, Päd. Blfitt. 1921, 5, S. 177 ff.
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urteilung seiner Lehrer neigt und somit imstande ist, verhältnismäßig sachlich
zu urteilen.
Um Mißverständnisse von vornherein auszuschließen, möchte ich aus¬
drücklich betonen, daß Herr Prof. Schultze aus naheliegenden Gründen es
grundsätzlich abgelehnt hat, selbst Beobachtungsmaterial zu sammeln oder
anzunehmen über Lehrer, die ihm persönlich bekannt sind; er weiß vielmehr
ebensowenig wie ich, wer die Urbilder der beurteilten Gestalten sind. Die
Schilderungen stammen aus Nord- und Süddeutschland, aus Bayern wie von
der Wasserkante her. Im übrigen sind diese Gestalten zum Teil so typisch,
daß es durchaus möglich ist, daß schon durch die Auswahl aus dem ge¬
sammelten Material sich jemand, der gar nicht dargestellt ist, getroffen fühlt.
Diese Möglichkeit scheint mir um so näher zu liegen, als bereits mehrere
Menschen, denen die Beschreibungen vorgelegt wurden, die aber keinen der
geschilderten Lehrer kannten, sagten, die Gestalten kämen ihnen durchaus
bekannt vor oder wären mindestens sehr wohl denkbar. Sollte also wirklich
jemand in einer oder der anderen Beschreibung eigene Fehler oder Irrtflmer
wiedererkennen, so würde das besonders deutlich den Zweck meiner Unter¬
suchung rechtfertigen, die eben gerade auf das Typische hinausläuft.
Die vorliegende Arbeit enthält vier Teile, und zwar 1. Spontanangaben
von Studenten über frühere Lehrer, 2. Lehrercharakteristiken auf Grund von
Fragebogen, 3. die theoretische Auswertung der Spontanangaben und 4. den
Vergleich der Schülerwünsche mit den Idealforderungen eines Pädagogen.
I.
Schilderungen von Lehrern durch jüngere Studenten (Spontanangaben).
Die Schilderungen sind von den Studenten schriftlich eingereicht und, ohne
daß eine besondere Fragestellung gegeben war, in eigener Formulierung und
ohne Verbesserung in Stil und Rechtschreibung, meist nur verkürzt, ab¬
gefaßt worden. Dafür, daß die Studenten nicht rückhaltlos auf die Aufgabe
eingingen, sondern sich teilweise erst langsam dazu entschlossen, ein Beispiel:
„Es ist für uns Schüler bei einem Lehrer ungeheuer schwer, viel schwerer als bei irgend¬
einer Persönlichkeit, mit der wir Zusammenkommen, durch den Schleier der Lehrerautoritat, den
dieser absichtlich oder unabsichtlich über sich wirft, hindurchzusehen auf das Menschliche. Wir
sehen den Lehrer in den meisten Fällen leider nur von einer Seite, der dienstlichen; er tritt uns
gegenüber wie der Übergeordnete dem Untergebenen, als der Gebende gegenüber dem Emp¬
fangenden. Fast nie lernen wir den Lehrer in menschlicher Gleichstellung oder gar als seiner¬
seits Empfangenden kennen. Doppelt groß ist das unwillkürliche Bedürfnis des Schülers, auch
im Lehrer den Menschen mit seinen menschlichen Verhältnissen, mit seinen Fehlern und Schwächen,
aber auch mit seinen achtenswerten Eigenschaften zu erkennen, ein Bedürfnis, das nicht ohne
weiteres mit der Bezeichnung „Neugierde“ abgetan ist . . .
Im Folgenden gebe ich nun eine Auswahl aus dem Gesamtmaterial: 1 )
1. Ist ein ausgezeichneter Lehrer. Er versteht es wirklich gut, seinen Stoff, der meist an den
humanistischen Gymnasien etwas schlecht wegkommt und den beizubringen nicht leicht ist, in
hervorragender Weise beizubringen. Er versteht es ausgezeichnet, sich in das Problem, das
jeder einzelne Schüler für ihn bildet, hineinzuversenken. Er bildet den Beweis, daß man auch
in fortgeschritteneren Jahren sehr gut den Geist der Jugend zu erfassen vermag und daß man
mit ihr leben kann, ln den unteren Klassen mag man vielleicht sein wahres Wesen infolge von
mißverstandener Strenge noch nicht so recht zu würdigen wissen. Ich hatte aber Gelegenheit,
ihn im Kriegsprimanerkurs kennen zu lernen, und kann nur sagen, daß ich mich da immer
l ) Vgl. Michael Kesselring, „Untersuchungen über Ideale im höheren Jugendalter 4 *.
Zeitschr. f. päd. Psych. 1919, 1/2, S. 25/26.
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Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer?
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freute, mit was für einer Unvoreingenommenheit er an Jeden Menschen herangetreten ist, wie
er stets das Beste angenommen hat, selbst wenn er bemerkte, daß der Betreffende durchaus
nicht so harmlos war, wie er sich den Anschein gab. Der Eindruck eines tadellosen Charakters
und guten Menschen, den ich aus dem Unterricht gewonnen hatte, wurde noch durch ver¬
schiedene Privatgespräche über komplizierte Fragen des Schulwesens verstärkt. Glänzend ver¬
steht er es, die Schüler in Disziplin zu halten. Das konnte ich sowohl bei uns als auch bei
jüngeren Schülern bewundern. Während er uns mehr kameradschaftlich und vom Ehrenstand¬
punkt behandelte, suchte er auf die Kleinen durch das Beispiel einzuwirken. Mit einem Worte:
in ihm haben wir das Beispiel eines Pädagogen im besten Sinne des Wortes, der von seiner
Aufgabe durchdrungen ist, für sie lebt und vor allem auch für das, was er als recht anerkennt,
tatkräftig eintritt, ein Mann mit Ziviikonrage! Dieser kleine Abriß würde vollkommen unvoll¬
ständig sein, wenn ich nicht noch wenigstens des treffenden Humors erwähnte, der zeigt, daß
er in einer harten Schule des Lebens erworben ist.“
2. „.. Aus verschiedenen Äußerungen glaube ich entnehmen zu dürfen, daß ihn Ent¬
täuschungen von der Menschheit abgestoßen haben, so daß er sich als feinfühliger Mensch auf
sich selber zurückzog und so zu einer gewissen Weltfremdheit kam, die durch sein Junggesellentum
verstärkt wurde. Ich glaube hier eine zum Teil gestrandete Existenz gefunden zu haben. Er
würde sicher einen guten Privatgelehrten geben. M
3. „Ist ein Mann, der über ein sehr großes Fachwissen verfügt, nur besitzt er den großen
Fehler, alles vollständig einseitig nach seinem Gebiet orientiert zu betrachten. Dazu kommt
eine grenzenlose Selbstüberhebung. Aus seiner früheren Laufbahn hat er einen Ton mit herüber¬
gebracht, den — ein gesellschaftsfähigerer und ebenso treffender Ausdruck steht mir leider nicht
zur Verfügung — ich etwa mit Saubandenton bezeichnen möchte. Eine Eigenschaft, die mir
sehr unangenehm auffiel, war die geistige Tyrannei, die einem die Arbeiten gerade auf seinem
Gebiete sehr verleiden konnte. Betete man getreulich nach, was er vorgebetet hatte, und war
es selbst so deutlich wie möglich, daß keine eigene Meinung, sondern nur Angenommenes nach¬
geplappert wurde, so zog er es doch vor einer eigenen, aber seiner Ansicht entgegengesetzten
Ansicht vor.“
4. „Ist unfähig in allen Fächern, in denen ich ihn gehört habe. Dazu kommt eine Portion
Beschränktheit und, wie mir scheinen will, eine Portion Liebedienerei. Dazu kommt noch eine
tüchtige Portion Prahlerei mit Unbeholfenheit und außer diesen beiden das dringende Bedürfnis,
sich in alles hineinzumischen/ 1
5. „Er ist beinahe das Ideal eines Lehrers. Seine Unterrichtserfolge sind gut, die Anforde¬
rungen hoch, gehen aber nicht über den Horizont des Schülers hinaus. Vor allem versteht er
es, durch einen guten Witz am rechten Platze immer wieder einmal Leben in die Bude zu bringen,
wenn es wirklich etwas langweilig wird. Das wesentlichste aber ist, daß er sich sehr gut in
den Geist seiner Schüler hineinzuversetzen versteht und in der Arbeit an der Jugend wirklich
aufgeht. Er bietet seinen Schülern auch außerhalb des Unterrichtes sehr viel. Er ist nicht nur
bei seinen Schülern sehr hochgeschätzt und beliebt, sondern auch an vielen anderen Stellen
sieht man ihn als einen tüchtigen Mitarbeiter gern. Doppelt hoch ist es ihm daher anzurechnen,
daß er bei der großen Arbeitslast, die auf ihm ruht, sich noch in so weitgehendem Maße der
Vertretung der berechtigten Interessen der Schülerschaft widmet, da er von der Notwendigkeit
der Verwirklichung der Ideen überzeugt ist, die zu einem natürlichen Verhältnisse zwischen
Lehrern und Schülern führen. Er hat dadurch, daß er wirklich mit seinen Schülern verkehrte,
erkannt, daß man Autorität, wie die Vertreter des alten Systems die Schleierwolke, bestehend
aus Unnahbarkeit und vertrockneter Gelehrsamkeit nannten, in die sie sich zu hüllen beliebten»
wirklich nicht brauchte. Er faßte vielmehr das Problem innerlich an und erreichte so, daß er
durch sein Wirken bei seinen Schülern echte Achtung und Begeisterung für die überragende
Persönlichkeit hervorrief.Daß er, weil er ein impulsiver Mensch ist, auch einmal
danebenschießt, ist eben allzu menschlich. Er ist aber glücklicherweise kein Nachträger, und
hat er mal zu scharf zugepackt, dann versteht er es auch gut, den Schaden wieder gutzumachen.“
6. „Sein Unterricht wird gekennzeichnet durch das Wort Routine. Seine Methode ist gut, und
man lernt sehr viel bei ihm, was Grammatik betrifft. Die philosophischen Probleme, die er zu
erläutern hat, trägt er aus Routine zu sehr von sich aus ohne Mitwirkung der Schüler vor,
weshalb diese dabei oft schlafen, besonders bei der 10. Wiederholung, und sehr wenig davon
hehalten. Charakteristisch für seine übertriebene Strenge, die in den Unter- und Mittel-, zuweilen
auch in den Oberklassen die Schüler Angst schwitzen läßt, ist es, daß er auch dem Fehlenden
Vierer hinschreibt, weil er die Leistungen zu beurteilen habe und die Fehlenden nichts leisteten.
Er lebt durchaus in dem Untertänigkeitsverhältnis des vorigen Jahrhunderts. Dem Direktor als
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seinem Vorgesetzten folgt er unbedingt, wenn auch manchmal nur zähnekirschend, aber ebenso
verlangt er unbedingte Unterordnung von seinen Schülern. Sein Wille ist unumschränkt Er
kann Aufgaben stellen, so hoch er will, bis der Direktor Einspruch erhebt; er kann bei schlechter
Laune drei Viertel der Klasse einschreiben, er kann mit beißender Satire seine Anspielungen
auf die Gegenwart machen, er kann in beißender Ironie heruntermachen: die Schüler haben
sich ganz still zu verhalten. Anzuerkennen ist sein tiefgehendes und umfangreiches Wissen.“
7. „.furchtbar langweilig. Auch den Unbegabten hilft er nicht viel, denn seine
Erklärungen sind dunkel und mißverständlich, weil er sich, besonders in der letzten Zeit, bei
drei Sätzen wohl zweimal verspricht Hat er seine Sache dreimal wiederholt, geht er unbe¬
kümmert weiter und läßt die andern sehen, wie sie das Pensum verstehen können.“
8. „Zu scheiden ist sein Unterricht und seine Stellung zu den Schülern. Sein Unterricht in
den Sprachen ist künstlich und verderblich. Er erzieht die Schüler tadellos zum Mogeln, ins¬
besondere zum Vorpräparieren. Sämtliche Schüler, auch die guten, zittern während der Stunde
vor Angst zumal er sehr oft seine üble Laune an ihnen ausläßt Es ist ein Fall vorgekommen,
daß er infolge seiner gänzlich verkehrten Unterrichtsmethode einem schwächeren Schüler, den
er auf dem Striche hatte, wegen eines Versehens, das die ganze Klasse gemeinsam begangen
hatte, eine schlechte Note gab.Dazu wiederholt er bis zum Überdruß immer dieselben
Witze, die in Wirklichkeit gar keine sind. Die Schönheit der Lektüre verdirbt er vielfach,
indem er zuviel Grammatik hineinbringt. In seinem geschichtlichen Unterricht ist er kleinlich,
verlangt mehr die Einzelheiten, nicht Verständnis für die großen Linien. Seine philosophische
Propädeutik ist geradezu ein Verbrechen an den philosophischen Büchern, die er vorliest Er
legt zuerst seine bzw. seines Lehrmeisters Gedanken hinein, um sie von den Schülern in der
nächsten Stunde sich wieder erzählen zu lassen. Eine Diskussion der Fragen, die in den ganzen
zwei Jahren nur einmal vorkam, ist meistens unmöglich, weil sie in der Schule zur Denkfaulheit
erzogen werden. Er weiß sehr viel, aber er glaubt alles zu wissen und empfindet jeden Wider¬
spruch als eine persönliche Beleidigung. Zu seiner Stellung zu den Schülern: daß er den
wenigsten näher stand, kaum mit einem oder zweien. Er suchte sicher eine Annäherung und
war auch auf den Ausflügen umgänglicher, im Schulhaus aber umgab er sich sofort mit Würde
und Autorität. Da er nervös überreizt und sehr jähzornig ist, die Wahrheit nicht vertragen
kann und immer für seine Autorität fürchtet, kann kein Schüler sich länger als 5 Minuten mit
ihm unterhalten, ohne in den Gewissenskonflikt zu kommen, entweder zu kriechen und Um mit
Schmeicheleien zu belügen (das tun 90 °/ 0 ), oder ihm die Wahrheit schonend beizubringen, in
der Erwartung, jeden Augenblick vor die Tür gewiesen zu werden (das waren kaum 10°/ o )!
Aber er will nicht nur die Wahrheit nicht hören; wenn er sie zufällig einmal hört, glaubt er
sie einfach nicht. Findet sich nur eine Stimme, die dagegen spricht, so erklärt er die Wahrheit
für Lüge, und alles bleibt beim Alten. Er rät seinen Schülern, nicht mit Scheuklappen durch
die Welt zu gehen, aber er tut es selbst am meisten; er will nichts sehen oder hören, was ihn
in seiner hohen Meinung von sich wankend machen könnte. Daher arbeitet er gegen jede
Neuerung, wo er nur kann, nach dem Grundsatz „der Zweck heiligt die Mittel“ und ist gegen
Lehrer und Schüler nicht immer ganz wahrhaftig. Er ist viel zu stolz, um jemals auch nur
einzugestehen, daß er in seinem Jähzorn zu weit gegangen ist, geschweige denn, daß er sich
je bei einem Schüler entschuldigte. Statt andere um Verzeihung zu bitten, verzeiht er den
anderen, usw.Er scheint ein wahres Vergnügen daran zu finden, schlechte Noten
anzuschreiben, und ist in den Mittelklassen unglaublich streng. Alle Schüler zittern bisweilen
vor Angst. In Oberklassen ist er unangenehm schmeichelnd und freundlich. Als Pauker ist
er ganz gut.
9. „.Wenig beliebt, weil wenig verstanden. Er tritt für die Freiheit in der
Schule ein. Er behandelt die Schüler der Oberklasse als jüngere Freunde, die ihr Urteil haben
und ihre Meinung sagen dürfen, bei denen man angesichts ihres Alters diese oder jene vor¬
schnelle Bemerkung nicht tragisch nimmt, auf deren durchaus anständiges und einwandfreies
Benehmen dem Lehrer gegenüber man aber rechnet und deren Wort man glauben kann. —
.Er erzieht mit einer einzigen Ausnahme sonst noch an der Schule allein zum
Selbstdenken. tt
10. „Ein Mann, der sich durchaus dem Alter und der Empfindungswelt seiner Schüler anzu-
passen versteht. Er tollt mit den Jungen, ist lustig, wenn es gilt lustig zu sein, versteht Spaß
und kann doch jederzeit zum Ernst zurückkehren.“
11. „Freundlicher, lustiger Herr, nicht allzu streng, der den Schülern möglichste Freiheit gönnt,
jedoch nach oben nicht immer fest bleibt. . . .“
12. „Er ist der einzige, der Mathematik schön unterrichtet, allerdings in den Oberklassen nur
für die Begabteren. Die andern können nicht folgen. Er ist noch frisch vom Studium and ist
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Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer?
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bei allen seinen Erklärungen selbst dabei; er macht die Beweise selbst noch einmal mit. Der
Mangel an Routine berührt wohltuend, der Unterricht ist infolgedessen anregend. . .
13. „Weiß sehr viel. Will alles anbringen und ist dadurch furchtbar trocken und geradezu
langweilig, außerdem ungeschickt im Verkehr, verständnislos für alles außer in seinem Fache.“
14. „Als Mensch und Wissenschaftler sehr hoch zu schätzen. Als Lehrer bringt er seinen
Schülern sehr viel bei. Er betreibt dieses Geschäft aber mit einer so maßlosen Pedanterie, daß
er Leuten, die nicht ebensolche Kleinigkeitskrämer sind wie er, einfach unausstehlich wird.
Der Jugend steht er wegen seines Alters ziemlich fremd gegenüber. Daher ist er bei den
kleineren Schülern reichlich unbeliebt und langweilt sie zu Tode. Bei den Schülern der oberen
Klassen stellt er bisweilen allzuhobe Anforderungen; diese, gepaart mit übertriebener Akribie,
langweilen und spannen die Schüler ab. Diese Tatsachen drängen selbst die große Ge¬
rechtigkeitsliebe des Mannes in den Schatten, und so kommt es, daß man ihn wohl schätzen,
zu ihm aber in kein Verhältnis kommen kann,“
15. „Ein (alkoholischer?) Choleriker, im Grundzug seines Wesens sehr gutmütig. Sein Unter¬
richt ist durch Fachkenntnis nicht getrübt. Pädagogische Erfolge sehr minimal.“
16. „Man muß scharf unterscheiden zwischen der dienstlichen und privaten Persönlichkeit.
Im privaten Leben sehr gemütlich und auch liebenswürdig, dafür dienstlich um so schlimmer.
Er ist maßlos vom Autoritätsdünkel gepackt Er spielt gerne den Wohlwollenden. Von Vor¬
urteilen kann er sich nicht ganz frei machen. Pädagogisch steht er nicht gerade sehr auf der
Höhe. Er liebt es bisweilen, den Stoff in geradezu alberner Weise vorzutragen. Ferner sieht
er auch in den Schülern der Oberklassen durchaus nicht immer Menschen, mit denen man nach
den Regeln, die sonst unter kultivierten Mitteleuropäern üblich sind, verkehrt. Als Anhänger
konservativer Ideen stemmt er sich mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht — und das ist
sehr viel — gegen das Aufkeimen des neuen Geistes. Er benutzt hierzu Mittel, die pädagogisch¬
psychologisch durchaus nicht einwandfrei sind, z. B. Einschüchterung der Schüler, wenn das
vielleicht bisweilen auch nur unabsichtlich erfolgen mag. Durch dauerndes Hineinziehen der
Politik bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten verschärft er das Aufeinanderplatzen
der Geister. Ein weiterer großer Fehler von ihm ist es, daß er sich systematisch der Er¬
kenntnis der tatsächlichen Lage verschließt. Durch einige wenige Schmeichler, die das Heer
der Ängstlichen und Indifferenten mit sich reißen, wird er leider in seinem Wahne immer aufs
neue gestärkt Leider fehlt ihm auch die nötige Zivilcourage, wie ich aus seinem Verkehr mit
seinen Vorgesetzten festzustellen Gelegenheit hatte. Er, dem ich den guten Willen durchaus
nicht absprechen möchte, und der, wie gesagt, außerdienstlich ein ganz passabler Mensch ist,
bedeutet für seinen Wirkungskreis — fast möchte ich sagen — ein Unglück, da er, von falschen
Voraussetzungen ausgehend, den Gang der Entwicklung aufzuhalten sucht in Verkennung des
Wesens der Jugend und der Gegenwart. Umlernen verlangt von ihm niemand; nur sollte er
Jüngeren, freudigeren Erziehern der Jugend Plajz machen.“
17. „Ist ein Pauker, aber auch nichts mehr. Fachkenntnisse besitzt er, dafür aber andere
nicht so sehr viele, und von Kultur ist keine Spur zu finden. Er ist wohl der einzige durchaus
nicht einwandfreie Charakter aus einem Kollegium von 18 Lehrern. Zu diesen Vorzügen kommt
noch ein serviles Wesen, Günstlingswirtschaft und religiöse Intoleranz. Erzieht unfehlbar selbst¬
bewußte Charaktere.
18. „Muster und Vorbild der vorrevolutionären-amtlichen Beamtenschaft; sachlich pedantisch;
Standesdünkel; ohne eigene Meinung; willfähriges Sprechorgan „amtlicher Verlautbarungen“; amt¬
liche Staatsauffassung: „S. M. lebe hoch!“ „Ich hab’ mich ergeben“ mit Herkommensüberzeugung
und unbewußter Selbsttäuschung; amtliche Religionsauffassung: „Gott mit uns“ „Helm ab zum
Gebet“; zurückhaltend religiös, offiziell christlich, sittlich betont, kantisches Sittlichkeits- und
Pflichtgefühl; nach oben stumm, nach unten amtlich. Unproduktiv an Gedanken, eifrig in
Zusammenstellungen; innerhalb der amtlichen bedingten Verhältnisse ehrlich, sachlich, eigenwillig,
rücksichtslos, außerordentliches Autoritätsbedürfnis bis zur Willkür und Selbstgefälligkeit, doch
nicht aus Wollust oder Ungerechtigkeit, sondern stets kantisch sittlich oder staatsautoritativ be¬
gründet mit meisterhaft unbewußt unehrlicher und abstoßender Freundlichkeit oder Wohlwollen;
infolge unpersönlicher, nur einer spießerhaft unbewußten Selbsteingenommenheit entgegen¬
kommenden Kritik kindlich und kindisch unerfahren, beinahe dumm im Urteil und im Erkennen
(doch gilt das nicht für die Wissenschaft). Gestaltet, nicht gestaltend, trotz andauernder Reden
fUber Persönlichkeit keine Persönlichkeit, sondern ein Opfer von Erziehung und Umgebung, mit
entstelltem, formenverdecktem Grundcharakter der Dummheitsgüte und menschlicher Einfalt
repräsentativ aufgeputzt und schulmeisterlich gedrillt.
19. „Sprechende Göschenbücherei und Lexikon; alles Umfassenwollen, Schnellzugsmensch
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Gerhard Friedrich
witzig, zugänglich, kameradschaftlich, geschmeidig und eitel, doch mit gesundem und anregendem
Oberblicksbedürfnis; entwickelnd und vortragend.“
20. „.Bei ihm kann es Vorkommen, daß er nach einem dreiviertel Jahr, seitdem
er die Klasse übernommen hat, die Namen seiner Schüler noch nicht kennt, eben weil er ihnen
gar nicht näher kommt und sie nur durch die Gelehrtenbrille ansieht und froh ist, wenn er mit
seinem Pensum fertig wird.“
21. „Behält den Überblick für die großen kulturgeschichtlichen Zusammenhänge, deshalb im
Unterricht lebhaft und interessant — mißtrauisch, kein Pädagoge.“
22.Allerdings hat er mich in der Überzeugung seines sittlichen Standpunktes
einige Mate stutzig gemacht; ich sah und hörte verschiedenes, das auf innere Unwahrhaftigkeit,
ja auf Heuchelei schließen ließ. Seine Handlungsweise war jedenfalls nicht immer so einwandfrei
wie seine Worte.Es gelingt ihm, aufkeimenden Ärger oder Mißstimmungen gegen einen
Einzelnen zu überwinden. Trägt nicht nach.
II.
Schilderungen von Lehrern auf Grund von Fragebogen.
Da die bisherigen Angaben dem Zufall entstammten und daher mehr oder
weniger unvollständig waren, wurde ein Fragebogen zusammengestellt und
mit seiner Hilfe u. a. folgende Charakterbilder von Lehrern entworfen:
Beispiel:
„Direktor eines Gymnasiums in einer Stadt von 260 000 Einwohnern; Mitte der 40er Jahre.
Fachgelehrter, der völlig in der Antike lebte und in seinem Berufe aufging. Er dichtete
mehrere Einakter, die auch zur Aufführung kamen und einer gewissen Dramatik nicht entbehrten.
Körperlich war er wenig widerstandsfähig, öfters krank, fast stets leidend. Er starb schnell
mitten in den 40er Jahren dahin. Er wirkte durch seine volle Beherrschung der Sache; durch
die lebendige Vermittlung des Stoffes riß er alle mit Er besaß unerschütterliche Ruhe und
zeigte starke Selbstbeherrschung, selbst wenn er innerlich erregt war. Er war durchaus gütig,
dabei aber stets bestimmt, jedoch ohne Härte. Wir bewunderten ihn, weil er trotz seines schweren
Leidens alles vermochte, was er wollte, und weil er ganz aus dem Rahmen der Lehrerschaft
herausfiel. Wir kamen infolge der sonstigen Schulerziehung und der Kriegswirkung förmlich
verloddert zu ihm; verschiedene Kandidaten hatten wir herausgegrault. Er erklärte uns bei der
Übernahme der Klasse, er wollte uns wie Studenten behandeln. Dieser unerwartete Griff wirkte
ungeheuer stark auf uns. In unverhältnismäßig kurzer Zeit brachte er uns ausnahmslos dazu*
daß wir zu jeder Stunde mit Begeisterung unsere 100 Verse Homer präparierten. Angst vor
Strafe kannten wir nicht, obschon er viel verlangte. Wir hätten uns geschämt, wenn wir
unsere Arbeit minderwertig gemacht hätten. Wir bereiteten uns auf unsere Stunden wie aus
einer selbst auf erlegten Pflicht und aus zwingender Selbstverständlichkeit heraus vor. Er besaß
unser volles Vertrauen, und wir sahen zu ihm auf wie zu einem Unfehlbaren.
Seine Homerstunden verliefen in folgender Weise: Er fragte zunächst, wer sich nicht vor¬
bereitet hätte. Wir meldeten uns gegebenenfalls unbefangen und gaben auch an, weswegen:
der eine hatte einen Roman gelesen, der andere war gewandert, ein dritter hatte Besuch gehabt
und so fort. Wir verabredeten uns hierfür, damit sich nicht dieselben Kameraden öfters zu
melden hatten und es ihrer nicht zu viele wurden. Drei oder vier durften sich melden. Diese
Gewohnheit hatte er programmäßig selbst eingeftihrt. — Hierauf fragte er nach denen, die skia
besonders gut vorbereitet hatten. Von den dreien oder vieren, die sich meldeten, mußte einer
vor die Klasse treten und das ganze Pensum von 100 Versen aus dem Handexemplar des Direktor*
ohne Hilfe übersetzen. Jeder gab sich Mühe, in gutem Deutsch zu reden. Die andern unter¬
strichen während dieser Übersetzung die Stellen, die sie selbst anders Übersetzt hätten. Am
Schluß der Übersetzung gab er stets eine Note. Wenn jemand eine Vier verdient hatte, sagte
er es ihm, gab ihm aber stets Gelegenheit, diesen Mangel auszubessern. — Hierauf sprach er
über Einzelheiten des Stoffes vom grammatischen, etymologischen und kulturgeschichtlichen
Standpunkt. Wir mußten außerdem kritisieren und sagen, was wir selbst anders übersetzt hätten.-
Nachdem der Stoff so durchgearbeitet war, las er das Griechische ohne grammatische oder
sonstige Zwischenbemerkungen als Ganzes vor, und wir wurden uns dabei der Schönheit Homora
voll bewußt. Dann gab er eine Musterübersetzung in seiner schönen Rede- und Sprechweise,
und wenn wir nachher, seiner Aufforderung folgend, die Vossische Homerübersetzung verglichest,
fanden wir, daß er Besseres bot. Wir wußten, daß hiermit die Stunde eigentlich zu Bsk de wer.
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Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer?
363
Er folgte nun einer Liebhaberei, indem er einige Minuten lang Homervokabeln diktierte, die er
nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet hatte, so über das homerische Haus, die Rüstung u. a.
Von besonderem Interesse waren die vielen Synonima, die er dabei gab. — Den Schluß der
Stunde bildete ein Privatgespräch über alles Mögliche. Zwanglos unterhielten wir uns das eine
Mal über Kinos, das andere Mal über barhäuptiges Gehen und so fort. Trotzdem herrschte
tadellose Disziplin. 41
Gegenbeispiel:
Lateinlehrer der oberen Klasse eines humanistischen Gymnasiums in einer Stadt* von
250 000 Einwohnern. Junggeselle, etwa 60 Jahre alt.
Ich war etwa 1 Jahr bei ihm und habe nur Erinnerungen an seine Horazstunden. Von
seiner fachmännischen Tüchtigkeit hatten wir alle eine sehr wenig günstige Vorstellung; wir
haben uns sogar überlegt, wie es möglich war, daß er sein Oberlehrerexamen bestanden hatte.
Man kann ihn weder einen Zunftgeiehrten noch Fachmann noch Dilettanten, selbst nicht einmal
Pfuscher nennen; denn er hatte kein Streben, keine Richtung, keine Geste, war absolut stumm,
stumpfsinnig und denkfaul. Von Kritik keine Spur; von Großzügigkeit war ebensowenig zu
bemerken wie von Kleinlichkeit oder von Tatsachenrespekt, Gründlichkeit oder Tiefe. Aufgeregt
hat er sich einige Male. Leider sind mir die Einzelheiten hiervon nicht erinnerlich. Strenge
Konsequenz und Energie gingen ihm völlig ab. Eine gewisse Gewandtheit besaß er — er war
Ja lange genug Lehrer —, sie bestand aber zugleich mehr in Lässigkeit und Gerissenheit; sein
Arbeitstempo war langsam, seine Stunden maßlos langweilig. Von Wannherzigkeit war ebenso¬
wenig wie von Kälte etwas zu merken; sein ganzes Handeln war durch seine Stumpfheit bedingt.
Ungerecht war er im allgemeinen nicht, auch kein Lügner. Allenthalben ging es nach seinem
Schema. Interesse an der Schule brachte er ebensowenig auf wie Hohn oder Spott. Als wir
von ihm weggingen, waren unsere Lateinkenntnisse eingerostet.
Seine Berufsaufgabe schien er darin zu sehen, daß er uns das vorgeschriebene Pensum Über¬
setzen und einige Stellen auswendig lernen ließ. Andere Aufgaben schien er nicht zu kennen.
Direkte Fehler machte er dabei nicht, ein Vorzug, den er seinen Übersetzungen (Spickern,
Schwarten) verdankte; denn ohne diqpe konnte er nie arbeiten. Bei den Vor- und Musterüber-
setznngen, die er als Lehrer zu geben hatte, stellten wir häufig fest, daß er sie aus eigener
Kraft nicht zustande gebracht, sondern die gleiche Übersetzung benutzt hatte, die wir heimlich
gebrauchten. Grammatische, metrische und etymologische Eigenheiten traten in seinem Unter¬
richt zurück. Einen Versuch, das Kulturbild der horazischen Periode zu rekonstruieren, machte
er nicht. Interesse hierfür bekundete er nur, soweit die Schlüpfrigkeit seiner Lebensauffassung
es bedingte. Diese kam bei erotischen Lektürestellen unverhohlen und mit breitem Grinsen zum
Ausdruck. Es kam vor, daß er bei solch einer Stelle zu schmunzeln anfing; wenn die Klasse
ihrerseits mit Lachen reagierte, hörte er auf zu übersetzen und überließ sich hemmungslos
seinem Behagen. Wir haben ihn deshalb wiederholt unter uns als Schwein bezeichnet
In seiner pädagogischen Behandlung unserer Leistungen kam fast nur in Betracht, daß jemand
glatt übersetzen konnte, sonst bekam er eine geringe Note. Mühe gab er sich mit keinem
von uns. Sinn für den guten Willen eines Schülers schien er nicht zu besitzen. Ein Eingehen
auf unsere Eigenart konnten wir nicht bemerken, überhaupt schien ihm eigentliches Menschen¬
verständnis abzugehen. Der Grundzug seines Wesens war, wie gesagt, eine hochgradige Stumpfheit.
Trieb und Interesse fehlten ihm vollständig. Launen dagegen spielten bei ihm eine große Rolle
und beeinflußten auch seine Noten weitgehend. Seine Zeugnisse gab er im allgemeinen schematisch
nach der Rangordnung, dem Primus gut, der breiten Mitte genügend, den letzten eine 4.
Erzieherfähigkeiten gingen ihm völlig ab. Die Disziplin in seiner Klasse war mäßig, die
Langeweile tödlich; sie wurde nur dadurch erträglich, daß wir vieles andere nebenbei trieben,
vor allem viel lasen. Er wurde reichlich an der Nase herumgeführt. Wenn er einem mit Recht
auf den Kopf zusagte, er lese seine Übersetzung ab, so konnte man, wenn er gute Laune hatte,
ohne Strafe befürchten zu müssen, ruhig das Gegenteil behaupten. War er schlechter Laune,
so stellte er sich neben einen und ließ einen weiter übersetzen. Man mußte dann die Über¬
setzung, die man auf dem Rücken seines Vordermannes mit einer Stecknadel festgemacht hatte,
schnell wegnehmen. Es kam wiederholt vor, daß jemand mit solch einem Zettel auf dem
Rücken plötzlich vorgerufen wurde. Wenn dieser dann zurückgehen muße, merkte er erst am
Lachen der Klasse den Rückenschmuck. Mit breitem, gleichgültigem Lächeln gab er dann dem
dazugehörigen Hintermann eine 5. — Mitunter saß er mit aufgestützem Arm wohl minutenlang
grinsend, die Klasse anblickend, da. Im Selbstgespräch sagte er dann wiederholt vor sich hin
„Wie dumm! Wie dumm! 41 Wenn nun die Schüler lachten, fragte er: „Warum lachen Sie denn? 44
Der angeredete Schüler versicherte empört: „Ich lache ja gar nicht. 41 Er replizierte gleichmütig
in seinem stumpfen Phlegma: „Sie unverschämter Mensch, Sie lachen ja dauernd. Ich. sehe Sie
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Ja lachen“. So kam es mitunter zu Unterhaltungen zwischen Lehrer und Schüler, aus denen
mir nur noch sein näselnder, fauler Ton in Erinnerung geblieben ist. Schließlich brach er mit
dem typischen Wort: „Ach, setzen Sie sich!“ diese Szene ab. — Folgende Geschichte ist ihm
mit mir passiert; Ich fehlte einmal. Am Ende der Stunde gab er seine Aufgaben und rief, um
zu prüfen, daß wir sie verstanden hatten, mich beim Namen auf. Niemand antwortete. Er wieder¬
holte meinen Namen. Abermals keine Antwort. Nochmalige Aufforderung. Die Klasse beginnt
zu lachen. „Stehen Sie auf, wenn ich mit ihnen spreche!“ Mehrmals hat er mich, den Ab¬
wesenden, so aufgefordert; schließlich endete er seine Rede mit den üblichen Worten: „Ach,
setzen Sie sich!“ und ging hinaus, ohne gemerkt zu haben, daß ich fehlte.
In seinem Privatleben trauten wir ihm keine Beschäftigung mit geistigen Dingen zu. Der
Politik, dem Vaterland, selbst dem Kriegsausbruch stand er völlig teilnahmslos gegenüber. Für
Weltanschauung, Religion, Philosophie, Kunst hatte er kein Interesse, für Pädagogik selbst¬
verständlich nicht.
Unter seinen Kollegen war er wenig geachtet. Er stand, ein Junggeselle, isoliert da.
Von geselligen Beziehungen war uns durch Mitschüler bekannt, daß sie ihn im Kaffeehaus mit
Kokotten gesehen hatten und daß er ständiger Gast in einem berüchtigen Weinlokal mit Damen¬
bedienung war.
Körperlich war er kümmerlich entwickelt. Ob er krank war, weiß ich nicht. Seine Kleidung
ist mir nicht als nachlässig in Erinnerung. Seine Haltung zeigte einen starken Schlendrian,
eine gewisse läppische Selbstgefälligkeit. Seine Sprechweise war nusselnd und gleichgültig.
Die Worte kamen langgezogen und knarrend heraus. Es war, als wenn es ihm zuviel war,
seinen Mund aufzumachen. Sein Benehmen war Montags am häßlichsten, dann gab er sich
mit flegelhaftestem Gähnen und Sichdehnen in der schamlosesten Weise nach. Bescheidenheit
und Dünkel lagen ihm gleich fern. Selbsterziehung schien er nicht zu kennen. Sein Einfluß
auf uns war traurig. Er konnte uns nicht zum Denken anspornen, keine edlen Gefühle in
uns wecken, unsern Willen nicht anregen.
HI.
Theoretische Ergebnisse.
Aus den unverkürzten 68 Spontanschilderungen wurden alle zur Charak¬
teristik der betreffenden Lehrer dienenden Urteile ausgesondert, und es er¬
gaben sich 522 Einzelurteile (235 günstige, 18 wertindifferente, 269 un¬
günstige). Diese ließen sich fast zwanglos zusammenordnen und führten von
selbst zu zwei verschiedenen Fragen:
1. Wie denkt sich der Schüler seinen Lehrer?
2. Wie wünscht er sich seinen Lehrer?
Was die Zahlen betrifft, die in den Zusammenstellungen verwendet sind,
so ist zu berücksichtigen, daß in mehreren Schülerurteilen der gleiche Lehrer
dargestellt ist. Ferner ist zu bedenken, daß die Interesserichtung der Schüler
zumal in ihren Darstellungen ganz vom Zufall abhängig ist; manche haben
sicher vieles anzugeben vergessen, worüber sie bei ausdrücklichem Fragen
hätten Auskunft geben können. Hieraus, aus der Unreife der Urteilenden
und aus dem verhältnismäßig geringen Umfang des Materials verbietet es
sich natürlich, aus diesen Zahlen auf den objektiven Tatbestand zu schließen,
etwa auf die durchschnittliche Beschaffenheit des deutschen Oberlehrers
überhaupt.
Methodologisch kommt noch in Betracht, daß bei der Rubrizierung gelegentliche Wieder¬
holungen nicht zu vermeiden waren; so ist z. B. Gelehrsamkeit unter „Fachliche Tüchtigkeit“
und zugleich unter „Geistige Gesamthöhe“ gebracht, Gutmütigkeit und Boshaftigkeit unter „Soziale
Anlage“ und „Gefühlsmäßige Einstellung“ u. a. m. Bei der Abzählung der Werturteile (günstig
indifferent, ungünstig) sind die doppelten Rubrizierungen weggelassen. Da die seltener gebrauchten
Urteile zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen, wird die Anzahl der abgegebenen Urteile nur da
genannt, wo sie größer als 4 ist; sie wird in Klammem beigefügt.
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Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer?
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Im Folgenden werden die Urteile, nach psychologischen Gesichtspunkten
geordnet, angeführt; sie sprechen zum großen Teil so deutlich für sich selbst,
daß im allgemeinen nur wenig zur Erläuterung hinzugefügt zu werden braucht.
Fachliche Tüchtigkeit (33 günstige, 7 ungünstige Schülerurteile): Äußerst gelehrt, ge¬
lehrt (6); wissenschaftlich ausgezeichnet; große Fachkenntnisse (18); sachlich; kritisch; tief;
scharf; klar. — Unwissend; unwissenschaftlich; durch keine Facbkenntnis getrübt; unfähig in allen
Fächern; schulmeisterlich gedrillt.
Die Urteile zeigen, daß die Schüler einen Blick für das haben, was der
Fachmann beachtet, für Vorzüge wie Schwächen. Aus der großen Anzahl
günstiger Urteile widerlegt sich wohl ohne weiteres die Meinung, daß die
Schüler auf Grund einer gehässigen Einstellung oder natürlichen Feindschaft
gegen ihre Lehrer ihre Äußerungen getan haben; vielmehr wird gründliche
Fachkenntnis durchaus anerkannt.
Lehrerfolg (16 günstige, 11 ungünstige Schülerurteile): Bringt den schweren Stoff in her¬
vorragender Weise bei; bringt sehr viel bei; gut (11J. — Unterricht fürchterlich und verderblich;
erzieht zu Unselbständigkeit und Denkfaulheit (5); wird mit dem Stoff nicht fertig; nur für die
Begabten gut; gering.
Lehrmethode (10 günstige, 11 ungünstige Schülerurteile): Geschick; Routine; fehlende
Routine wirkt wohltuend, weil nicht übertrieben gewandt; nicht ungeschickt; Pauken ist ihm
verhaßt; macht die Beweise selbst noch einmal mit; entwickelnd. — Ungewandt; unbeholfen (5);
Pauker; yortragend; abgeleiert; geschäftsmäßig; trocken; schematisch; stellt zu hohe An¬
forderungen.
Aus den Bemerkungen über die Lehrmethode als solche erkennt man den
Ruf der Schüler nach geschicktem, der Art des jeweiligen Stoffes Rechnung
tragenden Unterricht.
Eingehen auf Einzelheiten (6 günstige, 16 ungünstige Schülerurteile): Gründlich (5);
sorgfältig. — Akribie; pedantisch (5); kleinlich; wiederholt zu oft; will alles anbringen;
oberflächlich.
Die Schüler zeigen Verständnis für gründliche Arbeit, klagen aber lebhaft
über Kleinkrämerei und übertriebene Sorgfalt.
Eindruck des Unterrichts (8 günstige, 11 ungünstige Schülerurteile): Interessant (7);
unterhaltend. — Langweilig (11); [trocken; geschäftsmäßig; abgeleiert; vortragend]. 1 )
Bei der großen Bedeutung des Unterrichtseindrucks auf die Schüler muß
die hohe Ziffer für Langeweile recht bedenklich stimmen; denn Langeweile
ist schlechthin die gefährlichste Kulturgiftpflanze in der Schule. Die Schüler
leiden unter dem Mangel an Schwung und mitreißender Begeisterungsfähigkeit
des Lehrers.
Gefühlsmäßige Einstellung (21 günstige, 3 indifferente, 17 ungünstige Schülerurteile):
Froh; lustig; lebhaft (5); temperamentvoll; gutmütig; Geduld; Herzensgüte; Gefühlsinnigkeit;
reiche Innerlichkeit. — Emst. — Verbittert; nervös; reizbar; jähzornig; aufbrausend; ungeduldig;
von Launen abhängig; boshaft; interesselos.
Das Zahlenverhältnis der Urteile 21:17 entspricht nicht dem Gedanken
Jean Pauls: „Heiterkeit ist der Himmel, unter dem alles gedeiht außer den
Giften“. Die Schüler empfinden gerade den Mangel des Lehrers an Frohsinn
und innerer Freudigkeit oft sehr lebhaft.
Erzieherfähigkeiten (28 günstige, 1 indifferentes, 49 ungünstige Schülerurteile): Guter
Pädagoge, Lehrer (11); wirkt durch Beispiel; erzieht zum Selbstdenken; Wille zur Erziehung,
nicht zum Pensum; feste Erziehungsgrundsätze; hält Disziplin; gerecht (6); macht eigene Fehler
wieder gut; nicht nachtragend. — Streng. — Kein Pädagoge; lächerlich unfähig; schlechter
Lehrer; pädagogisch nicht auf der Höhe; pädagogische Erfolge sehr minimal; [Pauker; schul¬
meisterlich gedrillt]; kein Vorbild; haut daneben; pensionsbedürftig; zum Pensionieren reif (5),
*) Wiederkehrende Urteile sind bei der Wiederholung hier und in den folgenden Fällen in
eckige Klammem gesetzt.
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verbraucht; [unbeholfen (5); ungewandt]; zu bewußt wirkend; kennt nur gute und schlechte
Schüler; hält schlecht Disziplin; ungerecht; erzieht selbstbewußte Charaktere; erzieht zum
Mogeln; erzieht zum Heucheln; [erzieht zu Unselbständigkeit und Denkfaulheit (5)]; zieht vor;
erzieht von oben herab; selbstherrlich; autokratisch; absolut; tyrannisch; schüchtert ein; macht
Angst; übertrieben streng; autoritätsbedürftig.
Den Erzieherfähigkeiten messen die Schüler ungeheure Wichtigkeit bei,
und dementsprechend sind auch gerade unter diesem Gesichtspunkt bei weitem
die meisten Urteile abgegeben worden. Erschreckend ist die Menge der
ungünstigen Urteile, besonders der Reichtum an Einzelbemerkungen über
Erziehungsfehler, deren Anschaulichkeit sicher nicht auf Vorurteile und Irr-
tümer zurückgeht, sondern offenbar auf ein lebhaftes Sehnen der Schüler
nach echten Erzieherpersönlichkeiten, nach wirklicher Erziehung zurück¬
schließen läßt.
Fähigkeit zum Eingehen auf die Schüler (30 günstige, 2 indifferente, 18 ungünstige
Schülerurteile): vorhanden; Liebe zu den Schülern; herzlich; feinfühlig; volle Anpassung; sieht
die Schüler als jüngere Freunde an; verkehrt mit den Schülern, daher Verzicht auf Autorität;
Kameradschaft; vertritt die Interessen der Schüler; bat den Geist der Schule erfaßt; überzeugter
Vertreter eines neuen Geistes in der Schule; für Freiheit der Schule; gönnt den Schülern mög¬
lichste Freiheit; sucht die Schüler zu verstehen; jeden als Problem nehmend. — Patriarchalisches
Verhältnis; wenig beliebt, weil wenig verstanden. — Fähigkeit zum Eingehen auf die Schüler
fehlt (10); feindseliges Verhältnis; vertieft absichtlich die Distanz; Untertänigkeitsverhältnis;
abweisend; kühl; fremd; verkennt da9 Wesen der Jugend.
Das Auffällige ist hier nach den Urteilen das verhältnismäßig häufige
Fehlen des Verständnisses der Lehrer für die Schüler; andrerseits sieht man
aus der Mannigfaltigkeit der günstigen Bemerkungen, daß die Fähigkeit des
Lehrers zum Eingehen auf die Schülereigenart ebenso wie die Erzieher¬
fähigkeiten überhaupt den Schülern ganz besonders wichtig erscheinen, daß
sie also einen offenen und herzlichen Verkehr mit den Lehrern herbeiwünschen.
Allgemeinbildung (8 günstige, 6 indifferente, 9 ungünstige Schülerurteile): Allgemein-
bildung auffällig gut; fein; äußerst kultiviert; vielseitig; erfahren; fördert die Allgemeinbildung. —
Achtbarer Spießer; unbedeutend; unbedeutender Durchschnitt. — Allgemeinbildung fehlt; auf
dem Stand seines 30. Jahres stehen geblieben; innere Unbildung; unkultiviert; unfeiner Ton;
einseitige Bildung; verständnislos für alles außer seinem Fach; fehlender Emst.
Gute Allgemeinbildung wird lebhaft anerkannt und nach den verschiedensten
Seiten hin charakterisiert; für ihren wirklichen oder vermeintlichen Mangel
finden sich einige drastische Ausdrücke. Man erkennt, daß sich die Schüler
durch eine einseitige Fachbildung des Lehrers in dem dringenden Bedürfnis
nach allgemeingeistiger Anregung nicht befriedigt fühlen.
Geistige Gesamthöhe (15 günstige, 1 indifferentes, 28 ungünstige Schülerurteile): [äußerst
gelehrt, gelehrt (6)]; Streben nach Tiefe; [klug; kritisch; tief; scharf; klar; sachlich]; weltoffen;
geistig beweglich; als Mensch unterhaltsam; frei; vorurteilslos; eigene Überzeugung; besitzt
erstrebt Übersicht; steckt hohe Ziele; für höhere Gesichtspunkte empfänglich. — Noch imbeständig;
[achtbarer Spießer; unbedeutend; imbedeutender Durchschnitt]. — Dumm; beschränkt; nicht be¬
sonders begabt; [unproduktiv]; ohne eigene Meinung; von Vorurteil abhängig; unfähig zu ob¬
jektivem Urteil; kein Verständnis für große Zusammenhänge; Überblick fehlt; ohne innere
Festigkeit; fachsimpelnd; [verständnislos für alles außer seinem Fach]; höheren Fragen hilflos
preisgegeben; für höhere Gesichtspunkte unempfänglich; innerlich und äußerlich alt; nicht mehr
neuerungsfähig; stemmt sich gegen Neues; albern; Narr.
Eine große Reichhaltigkeit an Einzelbemerkungen kennzeichnet die Ein¬
stellung der Schüler zu der geistigen Gesamthöhe des Lehrers, an die sie
offenbar hohe Anforderungen stellen. Aus dieser Einstellung dürfte sich
auch die überwiegende Anzahl der imgünstigen Urteile erklären.
Soziale Anlage (32 günstige, 21 ungünstige Schülerurteile): Vertrauend; [gutmütig]; ge¬
mütlich; wohlwollend; väterlich; familiär; freundlich (6); nett; zuvorkommend; nobel; vornehm-
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Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer?
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aristokratisch; [gerecht (5); macht eigene Fehler wieder gut]; tolerant; offen; zugänglich; [fein¬
fühlig]; anhänglich. — Mißtrauisch; hinterlistig; abstoßend freundlich und wohlwollend; freundlich
schmeichelnd; hämisch; beißende Ironie; [boshaft]; sich einmischend; indiskret; taktlos; auf¬
dringlich; rücksichtslos; brutal gegen Unbegabte; ehemaliger Unteroffizier, sehr grob; grob;
unberechenbar; [ungerecht; abweisend; kühl]; unzugänglich.
Viele Urteile liegen über die soziale Anlage vor; sie hängt eben eng mit
der Erzieherpersönlichkeit und ihrem Verhalten den Schülern gegenüber zu¬
sammen, als deren fein menschliche Seite sie von diesen besonders hervor¬
gehoben und scharf kritisiert wird.
Stellung zum Selbst (6 günstige, 3 indifferente, 37 ungünstige Schülerurteile): Große
Selbstüberwindung, Selbstbeherrschung; zurückhaltend; religiös zurückhaltend) stark sittlich;
pflichtbewußt. — Impulsiv; hält viel auf äußere Form. — Unbeherrscht; religiös intolerant;
eigenwillig; verträgt keinen Widerspruch; empfindlich; leicht beleidigt; Prahlerei; selbstgefällig;
eingebildet (7); eitel; glaubt alles zu wissen; [selbstherrlich]; grenzenlose Überhebung; Standes¬
dünkel; AutoritätsdUnkel; [erzieht von oben herab]; spielt gern den Wohlwollenden; neugierig;
schwatzhaft; [albern; Narr]; Selbstironie; lebemännisch; angefaulte Moral; egoistisch; zu schüchtern.
Man sollte meinen, daß die Schüler auf die Stellung des Lehrers zum
Selbst weniger achten; um so mehr überrascht die große Anzahl der Urteile
auf diesem Gebiet. Darin und in dem Inhalt der einzelnen ungünstigen
Urteile zeigt sich der natürliche Instinkt der Schüler für wahre menschliche
Werte und ihre Empfindsamkeit gegen die Verletzung der Pflichten, deren
Erfüllung sie vom Lehrer seinem eigenen Ich gegenüber verlangen.
Stellung zum Vorgesetzten (1 günstiges, 1 indifferentes, 11 ungünstige Schülerurteile)
Zivilkourage vorhanden. — Noch nicht angestellt, daher sehr von oben abhängig. — Zivilkourage
fehlt; servil; liebedienerisch; Kapitulantennatur; kein Rückgrat nach oben; willfähriges Sprech¬
organ amtlicher Verlautbarungen; nach oben stumm, nach unten amtlich; wenig Willensstärke
gegenüber dem Direktor; nach oben nicht immer fest.
Die große Bedeutung des Verhaltens des Lehrers zu seinem Vorgesetzten
tritt klar zutage. Mögen die Urteile sachlich richtig sein oder nicht, jeden¬
falls ist es bedauerlich, daß solch Bild sich in den Köpfen dieser Jungen
widerspiegelt. Aus diesen Urteilen klingt aufs deutlichste ihr Schrei nach
wahren Führematuren unter den Lehrern wider.
Stellung zur Politik (1 indifferentes, 7 ungünstige Schülerurteile): Weiß in unserer Zeit
Bescheid. — Gegenwartsverständnis fehlt; beißende Anspielungen auf die Gegenwart; politischer
Katzenjammer; Politik bei passenden und unpassenden Gelegenheiten hereingezogen; dringt seine
Auffassung auf.
Die Hinzufüguug dieser Rubrik rechtfertigt sich durch eine Anzahl Äuße¬
rungen, die hauptsächlich bei älteren Lehrern fehlendes Verständnis für die
Gegenwart und vielfach beobachtete Unfähigkeit zur Umstellung auf die
neuen Verhältnisse betonen.
Wahrhaftigkeit (4 günstige, 5 ungünstige Schülerurteile): Aufrichtig; ehrlich; spricht die
Wahrheit. — Unaufrichtig; innerlich unwahr; Heuchelei.
Daß sich hierüber sehr wenig Urteile finden, hat seinen Grund offenbar
darin, daß auch die Schüler die Wahrhaftigkeit als eine selbstverständliche
Voraussetzung für jeden Lehrer ansehen und die Sachlage dieser Voraussetzling
wohl im allgemeinen entspricht.
Humor und Witz (4 günstige, 1 ungünstiges Schülerurteil): Humor vorhanden; Witz vor¬
handen. — [Verbittert]; wiederholt stets denselben Witz, der kein Witz ist; [albern; Narr].
Schönheitssinn (2 günstige, 2 ungünstige Schülerurteile): Ästhetische Begabung; betont
poetische Schönheiten. — Schöngeistiger Dilettant; verdirbt die Schönheit der Lektüre durch
Grammatik.
Es ist auffällig, daß über diese beiden Rubriken so wenig von den Schülern
gesagt wird. Es scheinen für sie demnach Humor, Witz und Schönheitssinn
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Gerhard Friedrich, Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer?
bei ihren Lehrern etwas Besonderes und Seltenes zu sein, während sie doch,
wie im Leben überhaupt, so vornehmlich in der Erziehung immer von neuem
Quellen echten Frohsinns und tiefinnerer Freude sein sollten.
Guter Wille (11 günstige, 1 ungünstiges Schülerur^il): Guter Wille vorhanden (11); [Wille
zur Erziehung, nicht zum Pensum; hohe Ziele]. — Schwach. —
Der fast rein positive Charakter dieser Urteile läfit zurückschließen auf das
Bestreben der Schüler, möglichst sachlich und gerecht eu urteilen.
Ein Gesamtüberblick über die Spontanschilderungen zeigt die.erfreuliche
Tatsache, daß in zwei Gebieten, „Fachliche Tüchtigkeit“ und „Guter Wille“,
die günstigen Urteile stark überwiegen, daß also auch nach dem Schülerurteil
unser Oberlehrerstand Gutes will und kann. Dagegen muß es ernst stimmen,
daß die Anzahl der Urteile über Erzieherleistungen sehr groß und die Meinung
der Schüler darüber sehr gering ist.
IV.
Vergleich der.Schülerwünsche mit den Idealforderungen eines Pädagogen.
Nach Feststellung der Ergebnisse aus den Schülerurteilen liegt es nahe,
irgendein Lehrerideal aus der Literatur damit zu vergleichen. Betrachtet
man z. B. die Forderungen, die Adolf Matthias 1 ) an den vollwertigen
Lehrer stellt, so ergibt sich Folgendes:
Von den sieben Hauptgruppen, die Matthias aufstellt, sind sechs auch in
den Schülerurteilen vertreten; es fehlt nur die Gruppe, die über amtlichen
Charakter, Kollegialität und soziale Stellung des Lehrers handelt. Aus den
übrigen Gruppen, die 24 positive und 18 negative Forderungen enthalten,
sind nur drei von den Schülern nicht erwähnt: 1. Der Lehrer muß selbst
ein Ideal vor Augen haben; 2. er muß Ideal und Wirklichkeit stets in Ver¬
bindung halten; 3. seine Religiosität soll sich nicht in vielen Worten äußern,
sondern im ganzen Ton und Tun sich ausdrücken.
Man sieht also, daß außer der erwähnten Gruppe der Beamteneigen¬
schaften ,. die an sich nicht im engeren Gesichtskreis der Schüler liegt, nur
drei einzelne Idealforderungen fehlen. Dieser Mangel ist eine natürliche
Folge der Altersstufe der Schüler. Das wichtigste aber ist, daß die Schüler
sonst auf genau die gleichen Momente achten wie der Pädagoge und daß
in keinem Punkte ein Widerspruch zwischen den Forderungen der Schüler
und denen von Matthias besteht Diese Tatsache zeigt ganz deutlich, daß
(mindestens) die älteren Schüler sehr gut beobachten und in ihren
Werturteilen im allgemeinen durchaus das treffen, was auch der
Fachmann erkennt und fordert. Nur die Altersstufe hindert sie, einige
abstrakte Forderungen zu stellen, die erst dem gereiften Manne nahe liegen.
Die Schüler erkennen nicht nur mit feinem Instinkt Vorzüge wie Schwächen
des Lehrers, sondern achten auch scharf darauf und richten ihr Verhalten
dem Lehrer gegenüber weitgehend darnach ein. So möge das Ergebnis der
Arbeit zngleich als Mahnung angesehen werden, die Schülerurteile ernst zu
nehmen und nicht von vornherein als unreif und geringschätzig oder gar
gehässig beiseite zu werfen.
’) Vgl. Baumeister, „Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre lür höhere Schulen,“
II. Bd„ 2. Abt., S. 10/29.
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H. Fuchs, Die Unterrichtsfrage vom Standpunkt der Psychologie des „Als-Ob
369
Betrachtungen Aber die Unterrichtsfrage vom Standpunkt
der Philosophie des „Als-Ob“.
Von Hans Fuchs.
Die von Vaihinger in seinem grundlegenden Werke 0 niedergelegte Philo¬
sophie des Als-Ob hat das moderne Denken nachhaltig beeinflußt, indem es
moderne Weltanschauungsfragen in neue Beleuchtung rückte und neue eigen¬
artige Probleme aufwarf. Die Meinungen über viele Anschauungen Vaihingers
z. B. über seine Kantinterpretation, über seine biologische Lebensauffassung,
über seinen idealistischen Positivismus mögen sehr geteilt sein — das ist gerade
deshalb verständlich, weil die verschiedensten Weltanschauungen in seiner
Philosophie einen Konzentrationspunkt gefunden haben —, in einem Punkte
sind sich aber wohl alle, die sich mit V. beschäftigt haben, einig, über die
Bedeutung der formalen Auswertung des Fiktionalismus für die einzelnen
Wissenschaften.
Auch die Pädagogik kann an V.s Werk nicht achtlos vorübergehen und
wird in Zukunft noch manche fruchtbare Anregung vom Fiktionalismus er¬
fahren. Besonders die Unterrichtslehre wird die völlige Deutung vieler Ma߬
nahmen nur mit Hilfe des Fiktionalismus herbeiführen können. So scheint
auch die heute so viel umstrittene Unterrichtsfrage vom fiktionalistischen
Standpunkt aus eine Erklärung zu finden. Zu ihrer näheren Untersuchung
wird man auch auf eine kurze geschichtliche Erörterung nicht verzichten
können, und man wird daher gut tun, auf die Sokratik des Rationalismus zurück¬
zugehen.
Die rein scholastisch und dogmatisch orientierte Zeit nach der Reformation
führte in der Pädagogik zu einer mechanischen, geisttödenden Methode, be¬
sonders zu einem memorierenden, grammatikalisch zergliedernden Religions¬
unterricht, der aber auch für die andern Unterrichtszweige maßgebend wurde.
Die Unterrichtsweise bestand im öden Abfragen des zif memorieren¬
den Stoffes, und wo man einen vertiefenden Unterricht zu erteilen glaubte,
wurde ohne Rücksicht auf die menschliche und besonders die kindliche Psyche
die Methode des wissenschaftlich philosophischen Denkens auf die Schul¬
methode übertragen. Lernstoff waren die Dogmen der Kirche, und ihre
gelehrten Interpretationen gestatteten nichts anderes als eine memorierende
Methode, weil der Laie von vomeherein darauf verzichten mußte, verständnis¬
voll dem Dogmengebäude der Kirche nahe zu treten.
Da kam die Zeit des Rationalismus, und basierend auf der Lehre vom
Naturrecht und der Naturreligion formulierte man in der Pädagogik das Prinzip
der Naturgemäßheit. Jetzt sah man die Psyche des Menschen ganz anders.
Sie erschien als eine organische Einheit, deren Hauptfunktion die Ratio war.
Man zog daraus die methodische Konsequenz und sah das Ziel des Unterrichts
darin, der Ratio zu zweckmäßiger, naturgemäßer Tätigkeit zu verhelfen, sie
selbständig zu machen, nur die Stoffe an sie heran zu bringen und sie von
ihr assimilieren zu lassen. Mit dem Rationalismus kam man auf den Ge¬
danken des Sokrates zurück, der Seele die Möglichkeit zu geben, sich aus
*) Hans Vaihinger! Die Philosophie des Als-Ob. System der theoretischen, praktischen und
religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem
Anhang über Kant und Nietzsche. Vierte Auflage. Leipzig 1920.
Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie.
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370
Hans Fuchs
sich selbst zu entwickeln, „in sie den Stachel zu legen, der sie unwider¬
stehlich vorwärts treibt“, den Drang zur Wahrheit, entsprungen aus der Tiefe
der Seele, der zur Einheit des Erkennens und Wollens strebt, zu der Gewi߬
heit, daß unser Leben bestimmt ist durch die Ideen, die ihm Wert geben.
So soll die Seele Motiv und Ziel der Selbstentfaltung erhalten.
Das soll geschehen durch den sokratischen Unterricht, der die Selbsttätigkeit
fördert und die Kräfte der Seele wachruft. Die sokratische Methode bildete
eine wesentliche Seite der Philosophie des Sokrates, war die Methode des
griechischen Rationalismus und wurde auch die Methode des Rationalismus
des 18. Jahrhunderts. Es waren also die Prinzipien der Anschaulichkeit und
der Selbständigkeit, die für die neue Methode bedeutsam wurden. Daß diese
Prinzipien tatsächlich vorherrschten, beweisen uns neben Basedow, Bahrdt und
Dinter *) viele andere Sokratiker l 2 ). Ihnen schwebte für die Schularbeit theoretisch
zweifellos eine Arbeitsgemeinschaft vor, wie sie jetzt in der Arbeitsschule
verwirklicht wird. In der Praxis ist das allerdings nicht deutlich geworden.
Es ist nun interessant festzustellen, daß die Pädagogik trotz der neuen
Orientierung bei der Fragemethode blieb. Das ist nur zu erklären mit
der Annahme, daß jetzt der Methode eine andere Auffassung der
Frage, wenn auch unbewußt, zugrunde lag. Unsere Ansicht geht
dahin, daß auch die Unterrichtsfrage dazu beitragen kann, die eben gekenn¬
zeichnete Absicht der Sokratiker zu verwirklichen.
Wir sehen mit Tumlirz den hauptsächlichsten Teil der Frage in ihrer
emotionalen Seite, und deshalb erscheint sie uns in erster Linie als Wahr¬
heitsbegehren. Was in ihr so gewissermaßen keimartig enthalten ist, das
soll im ganzen Unterricht allmählich zu einem die ganze Seele erfüllenden
Begehren entwickelt' werden. So ist die pädagogische Frage 3 ) nicht ein
zufälliges pädagogisches Mittel, geheiligt durch ehrwürdige Tradition, sondern
ihr Gebrauch ist tief in der Eigenart der Menschenseele begründet. Sie ist,
um mit Hugo Gaudig zu reden, „eine Naturform, eine Lebensform geistiger
Energie, die in der gesamten Struktur des menschlichen Geistes hohen und
bleibenden Wert hat“ 4 ). Die gesamte Bildung eines Menschen wird erreicht
durch stufenweise aufsteigende Abwechslung ineinandergreifender Fragen und
Antworten 3 ). Diese Entwickelung soll jedes Kind, wenn auch möglichst ab¬
gekürzt, durchmachen; und da der Unterricht den von der Natur vorgezeich¬
neten Gang nachzugehen hat, wird er immer wieder auf das Frage- und
Antwortverfahren zurückkommen. Im Dienste der Entwickelung der Selbst¬
tätigkeit stehend, muß dieser Frageprozeß aber in den Zögling hineingelegt
werden. Darum muß die pädagogische Frage sogegeben werden, alsob sie der
l ) Siehe Basedow, Methodischer Unterricht der Jugend in der Religion und Sittenlehre der
Vernunft. Altona 1764. Bahrdt, Philanthropinischer Erziehungsplan oder Vollständige Nach¬
richt von dem ersten wirklichen Philanthropin Marschlins. Frankfurt a. M. 1776, S. 136 und 201.
Di nt er, Regeln der Katechetik, herausgegeb. von Mann. Langensalza 1887. Derselbe: Die
vorzüglichsten Regeln der Pädagogik. Neustadt 1827, S. VTEIff.
*) Siehe Schien, Die Sokratik im Zeitalter der Aufklärung. Breslau 1900, S. 316 ff.
9 ) Die Bezeichnung „Pädagogische Frage“ ist hier gebraucht im Anschluß am Tumlirz: „Das
Wesen der Frage. Beiträge zu ihrer Psychologie, Gegenstandstheorie und Pädagogik.“ Leipzig 1919.
Dieser Begriff wird jedoch weiter unten etwas enger gefaßt werden als bei Tumlirz und sich
nur auf die fiktive Unterrichtsfrage beziehen.
4 ) Gaudig, Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit Leipzig 1917, S. 109.
*) O. Liebmann, Kant u. die Epigonen. Stuttgart 1866, S. 63.
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Die Unterricbtsfrage vom Standpunkt der Psychologie des .Als-Ob“
371
Schüler gestellt hätte, als ob sie aus dem Gedankenverlauf des Schülers
entstanden wäre. So drängt also das Prinzip der Entfaltung der Kräfte dazu,
den Grundcharakter der pädagogischen Frage fiktionalistisch zu gestalten.
Der Sokratik wird nun heute gerade ihre Fragemethode zum Vorwurf ge¬
macht, und man kann die Berechtigung dieser Vorwürfe nicht bestreiten.
Es kam aber zum falschen Gebrauch der Unterrichtsfrage (abgesehen davon,
dafi man zu einem Fragegebrauch im fiktionalistischen Sinne nicht kommen
konnte), deshalb, weil 1. der Unterricht seinen Angelpunkt in der Person des
Lehrers behielt und 2. weil man nicht einmal zu einer besonderen Theorie
der Unterrichtsfrage sich aufschwingen konnte, sondern die logische und
pädagogische Interpretation der Frage durcheinanderwarf.
Die praktische Pädagogik konnte trotz der oben angedeuteten Ansätze und
obgleich Rousseau dem Kinde eine bisher nicht geahnte Bedeutung gegeben
hatte, von der Autorität des Lehrers nicht so viel aufgeben, wie zur Schaffung
der erstrebten „Arbeitsgemeinschaft“ notwendig gewesen wäre 1 ). Im Mittel¬
punkt des Unterrichtes stand die Morallehre. Und war nicht eine Autorität
notwendig, um dem Zögling den Pflichtenimperativ und damit die moralischen
Prinzipien als im Geiste ruhend zum Bewußtsein zu bringen? Außerdem
kam der mangelhaft ausgebildete Lehrer immer darauf zurück, das Ziel des
Unterrichts in der Aneignung des Wissensstoffes zu sehen und die Frage als
Mittel, den Fortgang dep begrifflichen Aneignens zu kontrollieren, zu gebrauchen.
Zweitens gestatteten die Ansichten über die Theorie der Frage nicht eine
Entwickelung in der angegebenen Richtung.
Die alte Logik hat das Wesen der Frage nicht richtig erkannt. Die Frage
wurde angesehen als ein unvollständiger Satz. Für diese Ansicht scheint
damals der Engländer Harris 2 ) maßgebend gewesen zu sein, weil sowohl Moses
Mendelssohn als auch Gräffe 3 ) sich auf ihn beziehen. Mendelssohn definiert
die Frage so: „Es ist offenbar, daß jeder Fragende etwas zu erfahren ver¬
langt, wodurch ein mangelhafter Satz ergänzt und vollständig gemacht wird.
Die Antwort ersetzt diesen Mangel und verwandelt also einen gegebenen
unvollständigen in einen vollständigen Satz.“ Ihm pflichtet Gräffe bei, indem
er diese Ansicht noch durch Diogenes Laertius bestätigen läßt. Wenn hier
das Verlangen, etwas zu erfahren (allerdings ohne diese Wendung allzuviel
zu betonen) wenigstens erwähnt ist, so beschränkt Mendelssohn selbst sich
später nur auf den 2. Teil der Definition *). Viele Nachfolger haben sehr
zum Schaden der pädagogischen Methodik diesen Gedanken einfach über¬
nommen. Am deutlichsten sehen wir das an Dinter, der einfach definiert:
„Eine Frage entsteht, wenn ich einen oder mehrere Bestandteile eines Satzes
-weglasse und von dem Gefragten verlange, daß er das Fehlende ergänzt 5 ).
Diese oberflächliche grammatische Auslegung der Frage scheint allerdings
die Zweckmäßigkeit der pädagogischen Frage, wie sie in der Zeit vor der
*) Daß Ansätze dazu vorhanden gewesen sind, zeigt auch Vierthaler im „Geist der Sokratik“.
Salzburg 1793, S. 33, 69 (Hinweis darauf, daß Sokrates im Euthyphron nur Schüler sein will;
b. ebenda S. 97).
*) James Harris, Hermes, or A philosophical Inquiry conceming universal Grammar. The third
edition London 1771. Liegt hier vor in der Übersetzung von Ewerbeck. Halle 1788. S. dort S. 124 ff.
*) M. Mendelssohn, Morgenstunden, Kap. VH. J. F. C. Gräffe, Vollständiges Lehrbuch der
«dlgem. Katechetik nach Kantischen Grundsätzen. Göttingen 1717. Bd. I, S. 344.
4 ) M. a. a. 0. S. 404 (Mendelssohn).
5 ) Dinter, Regeln der Katechetik, a. a. 0., S. 1.
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372
Hans Fachs
Sokratik gebraucht wurde, zu bestätigen 1 ). Die wirkliche Eigenart der päd¬
agogischen Frage konnte aber von dieser Ansicht aus nie erfaßt werden 2 ).
Dem Wesen der Frage überhaupt kam man etwas näher, als man zur logischen
Interpretation überging und die Frage als ein „unvollständiges Urteil“ de¬
finierte. Die Pädagogik ging dabei augenscheinlich auf den Logiker Maaß 3 )
zurück, dessen Definition von der Frage lautet: „Die Frage ist eine Vor¬
stellung oder ein Inbegriff mehrerer Vorstellungen, die als Stoff zu einem
Urteil gedacht werden.“ Diese Definition gilt auch jetzt noch immer. Lipps
definiert: „Die Fragen sind unvollständige, unfertige Urteile, eine Vorstufe
des Urteils“ 4 ), und Martinak hat in Beiner klaren Darstellung über das Wesen
der Frage diese Definition als die treffendste bezeichnet 3 ). Aber auch von
dieser Erklärung aus konnte man auf das Eigentümliche der pädagogischen
Frage nicht kommen, es blieb bei ganz geringen Ansätzen; v. Zezschwitz 6 ),
der zur Geschichte der pädagog. Frage recht viel Material zusammengetragen
hat, weist auf einen Theologen Nitzsch hin, der das nvafia und igd/zy/ia
im Sinne der Alten als Erkundigungs- und Lehrfrage unterscheiden zu müssen
glaubte. Darin lag insofern ein Fortschritt, als hier der Unterschied zwischen
der Unterrichtsfrage und der eigentlichen Frage deutlich ausgesprochen wurde.
Etwas näher kam Thilo 7 ) dem Wesen der pädagog. Frage. Die eigentliche
Frage bezeichnet er als „den Ausdruck eines Verlangens, an eine Person ge¬
richtet, um eine Erkenntnis, die sich im Werden begriffen darstellt, zu ihrer
Abschließung zu bringen“ 8 ). Wenn diese Definition auch, wie Thilo es tut,
auf die pädagog. Frage bezogen wird, kann sie nur in einer das Leben anti¬
zipierenden Arbeitsgemeinschaft Berechtigung haben. Thilo fordert deshalb,
daß die Frage des Lehrers ganz der Lage und dem Erkenntnisinteresse des
Schülers gemäß gebildet sei, zur Wahrung der Selbsttätigkeit des Schülers 9 ).
Dann muß aber die pädagog. Frage als Fiktion aufgefaßt werden. Diesen
letzten Schluß hat Thilo nicht getan; wir sehen aber, daß schon der erste
Schritt zur Charakterisierung der pädagog. Frage zur Fiktion führt
Reinstein 10 ) hat die Definition der Frage folgendermaßen gefaßt: „Die
Frage ist ein grammatisch vollständiger Satz, der die absichtliche indirekte
') v. Zezschwitz, System der christlichen kirchlichen Katechetik, Leipzig 1872, weist mit
Recht darauf hin, dafi auf diese Definition Fragen passen, die Dinter selbst verpönt. Z. B, Waa
sind alle Menschen? Antw.: Ertrunken (v. Z. II, S. 321). v. Z. führt noch andere PBdagogen an,
die in gleichem Sinne definiert haben: Thierbach, Wachler, Geyer.
s ) Wenn Gräffe, a. a. 0. I, 349 besondere katecbetische Fragen unterscheidet, so hat das
wenig Bedeutung, weil seine Einteilung gegeben ist nach dem äußerlichen Gebrauch der Frage,
ohne der Eigenart der päd. Frage näher zu kommen.
3 ) Maaß, Grundriß der Logik, Halle 1793, S. 174.
4 ) Grundzüge der Logik § 59 (zitiert nach Martinak, Das Wesen der Frage).
5 ) Siehe Martinak, Das Wesen der Frage. Atti del V Congresso internazionale di Psicologia,
Roma 1906, S. 333. Interessante Zusammenstellungen Uber Fragedefinitionen finden sieb auch
bei Kreibig: „Beiträge zur Psychologie und Logik der Frage.“ Archiv für die gesamte Psycho¬
logie. XXX11I. Bd. S. 194 ff.
Besonders ist da der Engländer Welton, der die Lehre Bolzanos aulnimmt und die Frage als ein
Urteil über den Zustand des fragenden Subjekts auflaßt, bemerkenswert. „But indirectly it may
be taken to express a judgment as to the mental state of the questioner — the judgment that
he is ignorant and desires information on a certain point.
•) v. Zezschwitz, 11,2, S. 322. 7 ) Schmidt, Enzyklopädie. H, S. 4191.
*) Ebenda, S. 419 f. 9 ) Ebenda, S. 422.
,0 ) Reinstein, Die Frage im Unterricht. Leipzig 1895, S. 9.
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Die Unterrichtsfrage vom Standpunkt der Psychologie des „Als-Ob“
373
Aufforderung für den Gefragten enthält, eine Entscheidung über die Qualität
eines Urteils abzugeben (Entscheidungs- oder Wahlfrage) oder ein Urteil zu
ergänzen.“ Auch hier wird diese Definition auf die Unterrichtsfrage bezogen,
diese wird dann aber ein zur Aufforderung abgeschwächter Befehl, und auch
der Ausdruck „indirekte Aufforderung“ kann darüber nicht hinwegtäuschen.
Der Unterricht muß dann aber einen solch starken imperativen Charakter
erhalten, den jede einsichtige Pädagogik ablehnen muß.
Sigwart 1 ) hat unzweideutig darauf hingewiesen, daß die Frage „nur dann
wahrhaftig ist, wenn sie ein Ja oder Nein erst erwartet, daß sie aber, wo
sie nur um einen anderen zu versuchen gestellt wird, keine eigentliche Frage
ist, sondern ein Imperativ. Aus diesem Grunde wurde, als im Anfänge des
20. Jahrhunderts die pädagogischen Reformbestrebungen einsetzten, gegen die
unterrichtliche Frage Sturm gelaufen 2 ). Man kann es als eine pädagogische
Ironie bezeichnen, daß diese Formen, durch die einstmals die Selbsttätigkeit
der Kinder entwickelt werden sollte, jetzt verbannt werden mußten, tun der
Persönlichkeit des Kindes zu ihrem Rechte zu verhelfen.
Mit einer Abweisung der pädagogischen Frage ist es aber nicht getan. Die
Praxis zeigt, daß sie nicht zu entbehren ist, so daß hier unbedingte Klarheit
geschaffen werden muß. Dazu hat Tumlirz einen wesentlichen Beitrag ge¬
liefert 3 ), als er das Wesen der Frage vom Standpunkt der Gegenstandstheorie
Meinongs eingehend untersuchte. Tumlirz faßte die emotionale Seite als die
wesentliche ins Auge und bezeichnete die Frage als ein subjektives Wahrheits¬
begehren, das jedoch so viel des Eigenartigen an sich hat,' daß ihm innerhalb
des Begehrungsgebietes eine deutliche Sonderstellung zuerkannt werden muß.
Im Hinblick auf diese Auffassung sagt er dann von der pädagogischen Frage:
„Wie wenig es gelingen möchte, bei diesen Fragen ein Wissenssollen und ein
dieses präsentierendes Wissensbegehren nachzuweisen, wird sofort ersichtlich,
wenn man erwägt, was denn der Lehrer mit seiner Frage beabsichtigt, was
er eigentlich erreichen wiB. Ganz gewiß keine Bereicherung seines eigenen
Wissens, denn was und wonach er fragt, das muß er bereits selbst wissen.
Ebenso sicher aber auch keine Orientierung über den Wissensbestand des
Schülers, denn die Entwickelungsfragen „entwickeln“ eine gegenständliche
Materie, die dem Schüler noch unbekannt ist. Das Nichtwissen des Schülers
ist ja die Voraussetzung dieser Fragen, wie sollten sie sich also bereits an
sein Wissen wenden können?-sie (die pädag. Fragen) wollen den
Schüler zu irgendeiner geistigen Leistung veranlassen. Daß diese Absicht,
dieser Zweck nicht Gegenstand einer normalen Wahrheitsbegehrung sein kann,
versteht sich. Wir haben es mit einer normalen Wertbegehrung zu tun, der
ein unpersönliches Wertsollen gegenübersteht“ 4 ). Die pädagogische Frage hat
also den Fragecharakter ganz abgestreift, sie wird ihm zur Scheinfrage. So
gesehen ist die Unterrichtsfrage allerdings „ein Denkbefehl in Frageform, den
der Schüler infolge seiner Abhängigkeit vom Lehrer und der moralischen
') Sigwart: Logik, 2. erweiterte Auflage, Freiburg i. W., 1889, I, S. 230f.
*) Siebe Mflnch: Geist des Lehramts, S. 377, Berlin 1903. Gaudig: Didaktische Präludien,
Leipzig 1910, S. 13, a. a. 0., S. 109. Uuthesius: Die Berufsbildung des Lehrers, München 1913,
S. 131. Im gleichen Sinne haben sich ausgesprochen Gansberg in seiner .,Demokratischen
Pädagogik“ und G. Kerschensteiner in den „Grundfragen der Schulorganisation*,
s) Tumlirz, a. a. 0. S. 90. *) Tumlirz, a. a. 0. S. 69 u. 91.
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374
Hans Fuchs
Zwangsmittel, die dem Lehrer in die Hand gegeben sind, befolgen muß. ln
der moralischen und intellektuellen Autorität des Lehrers ist eine suggestive
Kraft begründet, die es ihm ermöglicht, dem Schüler auch ohne dessen evidente
Überzeugung und vollkommen freien Willen eine bestimmte Überzeugung
nahezulegen“ ')•
Auf Grund solcher Deutung muß die Frage allerdings zum ärgsten Feind
der Selbsttätigkeit werden, und Gaudigs Ausführungen 2 ) gegen sie sind von
diesem Standpunkt aus berechtigt. Trotzdem ist Tumlirz auf dem Wege, das
Problem der pädagogischen Frage in unserm Sinne zu lösen. Er sagt 3 ):
„Nun kommt aber dieser Befehl nicht offen und unverhüllt zum Ausdruck,
sondern gleichsam versteckt und verborgen hinter einer Frage. Dieses Ver¬
bergen kann doch nur dann einen Sinn haben, wenn die Frage auf das
andere Subjekt eine günstigere Wirkung hat als der Befehl, wenn also durch
die Frageform das gewollte Ziel leichter erreicht wird. Wenn jemand, der
einem anderen eine bestimmte Überzeugung aufdrängen will, sich der Be¬
fehlsform bedient, dann muß er auch seine Absicht unzweifelhaft zum Aus¬
druck bringen. Die Folge davon ist, daß der andere sich häufig gegen die
Zumutung, sich eine Überzeugung, die er vielleicht gar nicht zu teilen ge¬
willt ist, aufdrängen zu lassen, sträubt und dem Versuch des Beeinflussenden
einen Widerstand entgegensetzt, wodurch dann das Gegenteil des Gewollten
erreicht wird.“ — Demgegenüber muß gesagt werden, daß man eine päd¬
agogische Frage niemals stellt in der Voraussetzung, der Schüler könnte sich
gegen die Zumutung, sich eine Überzeugung aufdrängen zu lassen, sträuben.
Tatsächlich ist es so, daß er nur zu leicht geneigt ist, andere Meinungen
anzunehmen. Dem Schüler auf versteckte Art eine Überzeugung einzusugge¬
rieren, widerspricht allen pädagogischen Grundsätzen der Sokratik sowohl,
als auch der Jetztzeit. Bedeutsam für uns ist aber, daß Tumlirz die Frage
aus einer gewissen fiktiven Einstellung heraus erklärt. Er geht darin noch
weiter und schreibt 4 ): „Der Fragende gibt sich dadurch den Anschein, als
wisse er etwas nicht, was er dem Gefragten bereits zutraue; durch die
Frage werden die Gedanken des Gefragten auf den Gegenstand der Frage
gelenkt, und da ihm die Fragematerie zur Beurteilung vorgelegt wird, so
wird in ihm die Meinung erweckt, als ob sein Urteil vom
Fragenden unbeeinflußt sei.“ Hier ist der fiktionalistische Charakter
der Unterrichtsfrage, soweit wir sehen, zum ersten Male als Ergebnis einer
wissenschaftlichen Untersuchung deutlich ausgesprochen worden.
Tatsächlich können wir alle Merkmale, die Vaihinger für eine Fiktion an¬
gegeben hat, auf die pädagogische Frage anwenden. Es findet ein will¬
kürliches Abweichen von der Wirklichkeit statt Der Lehrer gibt
sich den Anschein, als wisse er etwas nicht, er erscheint als Mitschüler,
Mitarbeiter. Er tut so, als ob er als Schüler die Frage stellt, der Schüler
arbeitet, als ob er die Frage sich selbst gestellt hätte. Für den Lehrer
kommt es dabei hauptsächlich darauf an, sich in die Fragevoraussetzungen
des Schülers einzufühlen 5 ). Diese Fragen werden gestellt mit der Absicht,
praktische Ergebnisse zu erzielen. Dem Schüler sollen Anregungen
*) Tumlirz, a. a. 0. S. 91. *) Gaudig, Didaktische Präludien, Leipzig 1910, S. 131.
3 ) Tumlirz, a. a. O. S. 91. *) Turmlirz, a. a. O., S. 91.
‘1 Martinak, a. a. 0., S. 335.
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Die Unterrichtsfrage vom Standpunkt der Psychologie des „Als-Ob“
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zur Fortführung des Gedankenganges gegeben werden. Er wird geführt zu
den entscheidenden Momenten der Denkprozesse, wodurch das Denken ein
Procedere ist 1 ). Die Fragen sollen also die selbständige Entwicklung des
Zöglings befördern helfen, indem sie die bedeutsamsten Momente in den
Gedankenverlauf einschieben und so auch eine gradlinige Entwickelung des
Denkens bewirken, so daß Umwege vermieden und Ansätze weiter entwickelt
werden. Nach Erreichung dieser Absicht fallen sie sofort weg, sie
kommen für das Resultat nicht mehr in Frage, so daß dann auch die Ab¬
weichung von der Wirklichkeit dadurch wieder ausgeglichen wird. Sie
müssen auch gegeben werden mit dem klaren Bewußtsein ihrer
Fiktizität. Dieses Moment fehlt bei Tumlirz, und diese Tatsache hat auch
nach unserer Ansicht seine allgemeine Stellung zur pädagogischen Frage so
beeinflußt, daß wir seinen Standpunkt nicht teilen können, weil er .zu jeder
praktischen Erfahrung widersprechenden Erlebnissen kommt. Unser fiktio-
nalistischer Standpunkt kann an dem logischen und psycholo¬
gischen Charakter der Frage nichts ändern. Die pädagogische Frage
behält nach unserer Ansicht den Charakter der eigentlichen Frage; sie bleibt
also „Wahrheitsbegehren verbunden mit einem Wissenssollen“. Dieses wird
dem Schüler gewissermaßen einsuggeriert 2 ). Dann aber kann die pädagogische
Frage nicht auch ganz anderen Charakter erhalten und zum „Wertbegehren“
werden.
Wenn wir diese Fiktion nach der Vaihingerschen Einteilung einordnen wollen,
so müssen wir sie wohl den abstraktiven Fiktionen zuzählen; denn eine
wesentliche Vemachlässigung von Wirklichkeitselementen ist insofern eingetreten,
als der Lehrer alles, was ihn zum Lehrer macht, ignoriert und vom Lehrenden
ein Lernender wird. Man kann hier wieder sehen, wie verschwommen die
Grenze zwischen eigentlicher Fiktion und Semifiktion ist. Diese Abweichung
von der Wirklichkeit trägt fast den Charakter des inneren Widerspruchs, so daß
hier aus der Halbfiktion fast eine wirkliche Fiktion wird.
Man kann nun einwenden, daß die pädagogische Praxis dieser Auslegung
der pädagogischen Frage insofern zu widersprechen scheint, als es schwierig
ist, ihre Fiktizität in die Praxis umzusetzen. Dem gegenüber muß gesagt
werden, daß 1. die fiktive Frage nicht als einzige im Unterricht Verwendung
finden solL Man wird vielmehr auch solche Fragen gebrauchen, die nichts
weiter als ein Denkanstoß mit imperativem Charakter sind. Daneben werden
sich die Prüfungsfragen immer behaupten, beide sind aber nur als Neben¬
formen zu betrachten.
Wir können also die Unterrichtsfragen folgendermaßen einteilen:
Hauptform Nebenformen
eigentliche pädagog. Frage Prüfungsfragen
Fiktion! Unterrichtsfragen mit imperativem Charakter
’) Siehe dazu Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Leipzig 1910,
S. 42. Vergleiche dazu auch Richard Müller-Freienfels: Das Denken und die Phantasie,
Leipzig 1916, S. 254. „Die Hauptsache ist, daS eine Vitaldifferenz erzielt wird, eine Unsicher¬
heit, ein Zweifel, was sich im Bewußtsein als Gefühl geltend macht, und das nun zum Mittel¬
und Ausgangspunkt der weiteren Operationen wird.“
*) Siehe darüber weiter unten.
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Hans Fuchs
2. aber hat man das Kind nur daran zu gewöhnen, die Fragen als von ihm
selbst gestellt aufzufassen und sie immer zu nehmen ohne auch nur die
geringste Rücksichtnahme auf die Person des Lehrers.
Die fiktionalistische Frage soll grundlegend sein. Sie wird immer eine
vorteilhafte regulierende Wirkung austtben, weil sich bei ihr eine öftere
Verwendung von selbst verbietet. Als Grundform der Unterrichts*
frage überhaupt, wird man nur ausnahmsweise von ihr abweichen und zu
den imperativen Formen greifen. Auch die Verwendung der Prüfungsfrage
wird damit auf das notwendigste Maß beschränkt bleiben, weil die fiktio¬
nalistische Betrachtungsweise der Unterrichtsfrage die Wahrung
der Selbständigkeit des Schülers als Hauptgesichtspunkt in die
Pädagogik bringt. Mit der Beschränkung im Gebrauch der Frage werden
die sogenannten Fragenreihen auch von selbst fortfallen, die mit den natür¬
lichen Schwankungen der kindlichen Aufmerksamkeit nicht in Einklang zu
bringen sind. Dann sind aber alle Vorwürfe der modernen Pädagogen gegen
die Unterrichtsfragen gegenstandslos. Es bestätigt sich also auch hier,
daß alte, bereits als unbrauchbar bezeichnete pädagogische
Mittel in fiktionalistischer Bedeutung brauchbar werden').
Die Nachteile, die aus dem Obersehen des fiktionalistischen Charakters der
pädagogischen Frage erwachsen, sind z. B. bei Dinter deutlich zu erkennen.
Es wird z. B. über den 103. Psalm gesprochen. Die Verse 1—3 sind gelesen,
Gottes Barmherzigkeit soll gezeigt werden. L.: Was sagt David in den letzten
Worten? Was hat Gott getan? K.: Gott hat ihn mit Gnade und Barmherzigkeit
gekrönt. L.: Kränze und Kronen waren schon in alten Zeiten, so wie bis¬
weilen noch jetzt, Zeichen der Ehre und Freude. Wir wollen hier bei dem
Letzten stehen bleiben. Was heißt nun: Gott habe ihn gekrönt? K.: Er habe
ihn erfreut. L.: Und wodurch habe ihn Gott erfreut? K.: Durch seine Gnade.
L.: Laß 6ehen, was David damit meint Wie heißt’s in den vorhergehenden
Worten? 2 ) usw. Das sind alles Denkbefehle in Frageform, die der unter dem
Eindruck der Autorität des Lehrers stehende Schüler befolgen muß. Gerade
dieses Moment mußte auch die besten Absichten der Sokratiker vereiteln.
Man beachte in dem hier von Dinter angeführten Beispiel nur einmal die
eigenartige, dem Kinde fernliegende Gedankenführung. Das im Bibeltext
enthaltene Bild wird gar nicht ausgenutzt Das Kind kann unmöglich zu eigenen
Äußerungen kommen. — Denken wir nun diese Bibelstelle so behandelt wie
es unsere fiktionalistische Auffassung der pädagogischen Frage erfordert! Der
religiöse Dichter hat, bewegt von starkem, zur Gestaltung drängendem inneren,
religiösen Erleben, das Lob von Gottes Barmherzigkeit gesungen. Das soll
der Schüler nacherleben, und dazu führt nur die lebendige Schilderung einer
fiktiven Situation, die so eingeführt wird, als ob der Psalm aus ihr heraus
entstanden sei. Daraus ergibt sich, vom Schüler gefunden, die Problemstellung:
Lob der Barmherzigkeit Gottes; und dann die selbständige Lösung des Problems.
Die Kinder sprechen sich im Anschluß an den gelesenen Text darüber aus.
Kommen sie nicht weiter oder schweifen sie ab, dann erfolgt eine Frage des
Lehrers, gegeben, als ob sie aus der Klasse selbst gestellt wäre, gegeben ohne
störenden Eingriff in den Gedankenverlauf des Kindes, zum lückenlosen Fort-
') A. Kowalewski, Annalen Bd. H, S. 511 ff.
*) Dinter, Unterredungen über die Lehre vom Gebet, Neustadt 1818, S. 126.
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Die Unterricbtsfrage vom Standpunkt der Psychologie des „Ais-Ob“
377
gang in seinem Denkprozeß. Aber es bleibt nicht bei diesem Denkprozeß.
Dieses „Sich dem Kinde Anpassen“ macht das Herz warm und belebt auch
das Gefühl 1 ).
Diese Art von Fragen, wie wir sie bei Dinter kennen gelernt haben 2 ),
besitzen eine erheblich suggestive Kraft, die sich leicht zum Schaden des
Unterrichts auswirken kann. Otto Lipmann 3 ) hat festgestellt, daß die suggestive
Frage abhängig ist: 1. von der Formulierung der Frage, 2. von der Person
des Gefragten, 3. von der Person des Fragenden, 4. vom Inhalt der Frage.
Die fiktionalistische Auffassung der pädagogischen Frage schaltet nun die
'schädliche Wirkung dieser Momente aus. Man muß sich klar sein, daß die
als Fiktion aufgefaßte Frage gleichfalls eine Suggestion notwendig macht.
Wir verstehen mit Stern 4 ) unter Suggestion „das Übernehmen einer ander¬
weitigen geistigen Stellungnahme unter dem Schein des eigenen Stellung¬
nehmens“. Diese Definition paßt auch auf den Vorgang bei der pädagogischen
Frage. Hier muß aber die Suggestion unschädlich bleiben (unschädlich in
didaktischem Sinne), weil vor der Suggestion der Lehrer seine geistige Stellung¬
nahme der des Schülers nach Möglichkeit angepaßt hat. Dadurch verliert die
Person des Fragenden ihre Bedeutung, und das Selbstbewußtsein des Gefragten
muß sich steigern, wird zum mindesten nicht beeinträchtigt. Nr. ^ und 3
der von Lipmann erwähnten Punkte fallen also nicht mehr ins Gewicht. —
Damit die fiktionalistische pädagogische Frage ihren Zweck erfüllt, muß sie,
wie wir sahen, auch nach Form und Inhalt so beschaffen sein, daß jeder
störende Eingriff in den fremden Gedankenverlauf vermieden wird. Damit
aber sind auch die Lipmannschen Punkte 1 und 4 hinfällig geworden. — Es
werden also durch zweckmäßige beabsichtigte Suggestionen schädliche, un¬
beabsichtigte Suggestionswirkungen des Unterrichts ausgeschaltet. Das ist
besonders wichtig für alle Kinder mit schwacher Determination, weil dadurch
eine große Zahl assoziativer Reproduktionstendenzen, die den Willensverlauf
empfindlich hemmen mußten, ausgeschaltet werden.
‘) Siebe dazu Dr. R. Seylert, bie Unterrichtslektion alB didaktische Kunstform, Leipzig 1909,
S. 22 and besonders S. 6411. S. 72 f. finden sich ähnliche Ausführungen, wie die hier gemachten.
Sie würden durch die fiktionalistische Auffassung der pädagogischen Frage an Oberzeugungskraft
wesentlich gewinnen.
*) Andere Beispiele für dieses Frageverfahren: Siehe Dinter, Unterricht über die allgemeinen
Begriffe von Recht und Unrecht, Neustadt 1834, S. 177. (Schon durch die einleitenden Worte
sind die Kinder suggestiv beeinflußt.)
D. behauptet, daß die Antworten von den Kindern auch so gebracht worden seien, wie er
sie in seinen Büchern aufgeschrieben habe. Das ist ohne suggestive Einwirkung nicht möglich.
Siehe Unterricht über das Gebet, S. XU.
Sehr gebräuchlich ist es, zuerst einen Begriff zu gewinnen und diesen dann durch eine Frage
auf irgend etwas anderes zu beziehen. D. hat z. B. die Begriffe „zerstreut und gesammelt sein“
gewonnen. Diese werden durch ein paar geschickte Fragen sofort auf das Gebet bezogen. Die
Fragen sind so gestellt, daß das Kind einfach mit den vorher gewonnenen Begriffen antworten muß.
Siehe Unterredungen über Gebet a. a. 0., S. 74 ff.
*) O. Lipmann, Die Wirkung der Suggestivfrage, Leipzig 1908, S. 2.
4 ) Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage, Leipzig 1904, S. 335.
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378
Heinrich Schiißler, Experiment und Lehrerurteil
Experiment und Lehrerurteil.
Von Heinrich Schflfiler.
Im Jahrgang XXII 1 ) der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie“ habe
ich gemeinsam mit W. Schwarzhaupt über „Die pädagogische und
experimentell-psychologische Auslese der Begabten für die Übergangsklasse n
in Frankfurt a. M.“ berichtet. Die Ergebnisse der beiden Ausleseverfahren
mit dem Lehrerurteil zu vergleichen, wie es sich nach einem Jahre Unter¬
richt in der betreffenden Klasse gebildet hat, dürfte nicht ohne Interesse sein.
Von den 26 Prüflingen waren 19 aufgenommen worden 2 ), 12 Knaben und
7 Mädchen. Wegen ihrer verschiedenartigen Vorbildung und des Unter¬
schiedes zwischen dem Lehrplan für Knaben- und Mädchenmittelschulklassen
konnten sie nur teilweise gemeinsam unterrichtet werden. Dem Lehrkörper
fiel es daher schwer, eine gemeinsame Rangreihe nach der Begabung für
Knaben und Mädchen aufzustellen. Er entschloß sich, Knaben und Mädchen
bei der Beurteilung zu trennen. Ich betone, daß auch die pädagogische
Prüfung im Jahre 1921 eingestellt war auf die Erkennung der geistigen Ver¬
anlagung 3 ). Bei der experimentell-psychologischen Prüfung ist dies eine
Selbstverständlichkeit Die drei Rangreihen dürfen also miteinander ver¬
glichen werden.
•) S. 188—196, Leipzig 1921.
*) In der Tabelle S. 194 (Zeitschr. f. päd. Psych., Jahrg. 1922) müssen die Mädchen Nr. 13
und 19 mit einem Kreuz bezeichnet werden, weil sie beide in der pädagogischen Prüfung
durchgefallen sind.
*) A. a. O. S. 189.
4 ) Bei den Knaben ist die Beurteilung gleich, weil sie von demselben Lehrer stammt.
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Experiment und Lehrerurteil
379
Hinzugefügt habe ich in der Tabelle die Urteile der einzelnen Fachlehrer,
aus denen das Gesamturteil des Lehrkörpers erwachsen ist.
Bezeichnen wir die vollständige Übereinstimmung und das Abweichen
innerhalb der Rangreihen um einen Platz nach oben oder unten als Treffer,
so haben — wenn wir das Gesamturteil des Lehrkörpers als Maßstab an-
legen 1 ) — die päd. und die exp.-psych. Prüfung je 8 Treffer. Beide Ver¬
fahren sind also gleich. Dasselbe Ergebnis stellt sich heraus, wenn man
nur die vollständige Übereinstimmung als Treffer gelten läßt. Beide Ver¬
fahren haben dann je 3 Treffer.
Berücksichtigt man aber, daß die päd. Prüfung dreimal so lang gedauert
hat, so war das Experiment leistungsfähiger.
Interessant ist, daß man fast dasselbe übereinstimmende Ergebnis erhält,
wenn man zusieht, ob das Prüfungsergebnis mit dem Urteil eines Fach¬
lehrers übereinstimmt. Das Ergebnis der päd. und der exp.-psych. Prüfung
stimmten in je 8 Fällen mit wenigstens einem Fachlehrerurteil überein.
Rechnet man eine Abweichung um 1 nach oben oder unten in der Rang¬
reihe als Treffer hinzu, so stimmen beide Prüfungen in je 12 Fällen mit
wenigstens einem Fachlehrerurteil überein.
Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die Korrelationsmethode 2 ) als
Gradmesser der Übereinstimmung anlegt. Der Korrelationskoeffizient zwischen
der päd. Prüfung und dem Lehrerurteil beträgt bei den Knaben 0,59, bei
den Mädchen 0,60. Die entsprechenden wahrscheinlichen Fehler sind 0,13
und 0,17. Die Korrelationskoeffizienten zwischen Experiment und Lehrer¬
urteil betragen bei den Knaben 0,53, bei den Mädchen aber — 0,47. Die
dazu gehörigen wahrscheinlichen Fehler stellen sich auf 0,15 und 0,20.
Nur wenn der Korrelationskoeffizient mindestens das Dreifache des wahr¬
scheinlichen Fehlers beträgt, ist der Korrelation eine reelle Bedeutung zu¬
zumessen 3 ). Bei den Mädchen ist also eine Korrelation zwischen Experiment
und Lehreruiteil nicht festzustellen, während bei den Knaben zwischen
Experiment und Lehrerurteil annähernd die gleiche Korrelation besteht wie
zwischen päd. Prüfung und Lehrerurteil.
Die ersten 7 Knaben und die ersten beiden Mädchen der exp.-psych.
Rangreihe hatten nach dem Experiment einen Intelligenzvorsprung von
2 Jahren 4 )* Wie beurteilen die Lehrer ihre Begabung nach einem Jahre
Unterricht? Die 9 Kinder haben nicht ganz gehalten, was man nach
dem Experiment von ihnen erwarten konnte. Die Knaben Gö und Hau,
die im Experiment den 9. und 10. Rangplatz hatten, nehmen nach dem
Lelnrerurteil den 2. und 4. ein. Es muß darauf hingewiesen werden, daß
beide Knaben in der päd. Prüfung den 8. und 7. Platz inne hatten.
t
*) H. Wilhelm kommt in einer Untersuchung über Schülerbegabung aut Grund des Lehrer¬
urteils u. a. zu folgendem Ergebnis: „Der Lehrer geht in seinem Urteil über die Schüler von
deren Leistungen aus, vermag diese jedoch durch seine sonstigen Beobachtungen und Erwägungen
von der Begabung zu scheiden. Eine genauere Analyse des Lehrerurteils muß Vorbehalten
bleiben, doch vermag der Lehrer nach dem vorliegenden Material mit zureichender Sicherheit
über die Schülerbegabung zu urteilen". Zeitschr. f. päd. Psych., Bd. 23, S. 147, Leipzig 1922,
und Zeitschr. f. angew. Psych., Bd. 13, S. 291 ff., Leipzig 1921.
*) uu 3 ) W. Stern, „Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen", S. 65, Leipzig 1920.
4 ) A. a. O., S. 194.
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380
Heinrich Schüßler, Experiment and Lehrerurteil
Die beiden Mädchen sind auf den letzten Platz gerückt. An ihre Stelle
traten an die Spitze die Mädchen Kra und Küb, die nach dem Experiment
an 3. und 7. und nach der päd. Prüfung an 1. und 5. Stelle standen.
Sieht man daraufhin die nichtveröffentlichten Tabellen 1 ) durch, so erhält
man folgende Aufschlüsse: Der Khabe Gö besitzt eine starke Aufmerksamkeits¬
konzentration, ein gutes logisches Gedächtnis und Schlußvermögen. Die
Stärke des Knaben Hau liegt in der Aufmerksamkeit, im logischen Gedächtnis
und der sprachlichen Kombination.
Das Mädchen Ho wies in der anschaulichen Beobachtung und im schlu߬
folgernden Denken Höchstleistungen von 100°/o auf, versagte aber vollständig
bei der Prüfung des mechanischen Gedächtnisses. Das Mädchen Wei schnitt
bei der Prüfung der Aufmerksamkeit und Beobachtungsfähigkeit gut ab,
versagte aber beim mechanischen Gedächtnis und dem schlußfolgernden
Denken. Hingegen besitzt das Mädchen Kra eine Durchschnittsveranlagung,
die ihre schwächste Stelle in der unanschaulichen Beobachtung hat Das
Mädchen Küb ist schwach im anschaulichen Beobachten und im schlu߬
folgernden Denken, dagegen stark in der Aufmerksamkeitskonzentration und
in der unanschaulichen Beobachtung. Zur vollständigen Erfassung der
Persönlichkeit gehört der Wille, der wegen der geringen Zahl der ein¬
gereichten Beobachtungsbogen 2 ) leider nicht berücksichtigt werden konnte.
Aus der vorliegenden Gegenüberstellung ziehe ich folgende Schlüsse:
1. Das Experiment hat sich, bemessen nach der Zahl der Treffer, der
päd. Prüfung ebenbürtig zur Seite gestellt.
2. Nach der Korrelationsmethode ist die päd. Prüfung den von mir
angewandten Tests überlegen 3 ).
3. Da sich die Tests bei den Knaben fast ebenso bewährten wie die
päd. Prüfung, muß untersucht werden, warum sie bei den Mädchen
versagten.
4. Ich vermute den Grund darin, daß in der Schule Höchstleistungen
der einen psychischen Funktion Ausfall oder Schwäche einer andern
Funktion nicht immer ausgleichen können.
Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre
Beziehung zum Begabungsproblem.
Von Kurt Piorkowski.
M. Vaerting kommt in einem die gleiche Überschrift tragenden Aufsatz
im Mai/Juni-Heft zu dem Schluß, daß Konzentrationsprüfungen, worin nicht
die vom Interesse getragene, sondern die vom Willen angetriebene Konzen¬
tration das Hauptelement bildet, als Bestandteil der Begabungsprüfungen zur
Feststellung höherer Begabungen durchaus abzulehnen seien. Vaerting schreibt
') Sie sind im Schulmuseum zu Frankfurt a. M. hinterlegt.
*) A. a. O., S. 194.
3 ) Bei der Bewertung der päd. Prüfung und ihrer Leistungen muß die kleine Zahl der
Kinder berücksichtigt werden, die es einer einzigen Kommission gestattete, Jedes Kind einzeln
zu prüfen.
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Kurt Piorkowski, Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung usvs.
381
weiter (Seite 204) „Die Entwicklung und Ausbildung der beiden Fähigkeiten, der
Konzentration aus Interesse und dem Willen heraus, stehen sich also ent¬
gegen. Jede Ausbildung und Übung der einen Fähigkeit bedeutet
einen Rückgang der anderen. Wird die Konzentrationsfähigkeit, die auf
dem Willen ruht, geschult, sinkt die Fähigkeit, sich aus Interesse zu konzen¬
trieren, und umgekehrt.“
Abgesehen von der völligen Willkürlichkeit dieser Behauptung, die Verfasserin
rein analytisch abzuleiten sucht, möchten wir folgendes feststellen: Die Auswahl
besonders befähigter Volksschüler, wie sie in den Begabungsprüfungen in
Berlin, Hamburg, Leipzig, Hannover usw. vorgenommen werden, hat als erste
konkrete Stufe das Ziel zu erreichen, Schüler, die voraussichtlich in kürzerer
Zeit als sonst üblich den Lehrstoff der höheren Schule sich anzueignen ver¬
mögen, herauszufinden, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß diese Schüler
meistens nur mit sehr mangelhaften Kenntnissen in der deutschen Grammatik
auf die neuen Schulen kommen, so daß die doppelte Schwierigkeit des Lernens
neuer Sprachen und des mangelhaften Beherrschens der eigenen im Anfang
vorliegt. Somit besteht auch für den stark Begabten die Notwendigkeit, auf
den neuen Schulen sehr intensiv zu arbeiten, um sich Material anzueignen,
das nicht in allen Fällen seinem spontanen Interesse entsprechen wird.
Auch wir sind der Meinung, daß zum Vollbringen jeder über den Durch¬
schnitt herausragenden Leistung ein spontanes Interesse an dem betreffenden
Problem durchaus unentbehrlich ist. Aber genügt dies allein? Kein ernst¬
hafter Forscher ist heute mehr der Ansicht, daß selbst einem Genie alles
ohne intensive Arbeit in den Schoß fiele. Und je weiter Wissenschaft und
Technik fortschreiten, desto größere Stoffmengen rein tatsächlichen Charakters
müssen von demjenigen beherrscht werden, der auf dem betreffenden Ge¬
biet erfolgreich weiterbauen will.
Aus diesem Grunde ist es unentbehrlich, sowohl Art und Weise des Auf¬
nehmens und Behaltens von Stoffen wie Vorhandensein oder Fehlen der
Fähigkeit, sich willensmäßig zu konzentrieren, auch bei den Begabtesten
festzustellen. Würde man hierauf verzichten und sich lediglich auf die Fest¬
stellung von Konzentrationsfähigkeit aus spontanem Interesse begrenzen,
so würde man mit großer Wahrscheinlichkeit eine Generation verbummelter
Genies züchten; denn das ist ja gerade das Wesen des verbummelten Genies,
daß es nur darauf dich konzentriert, was ihm augenblickliches Interesse ein¬
flößt, daß aber jede Schwierigkeit auf dem Wege zur Erreichung eines Zieles,
wo sein spontanes Interesse erlöscht und wo nur die von M. Vaerting so
sehr verdammte willensmäßige Konzentration über tote Strecken hinweg
helfen kann, es zum Erlahmen bringt.
Das spontane Interesse der für die Begabungsprüfung gemeldeten Schüler
wird durch ausgiebiges vorheriges Befragen der Kinder nach ihren Berufs¬
zielen, Lieblingsfächern, Wünschen u. dergl. festgestellt. Wir stellen ihnen
auch anheim, Arbeiten technischer oder künstlerischer Art, die sie selbständig
angefertigt haben, mitzubringen. Wir vernachlässigen das spontane Inter¬
esse also keineswegs, zumal auch in der Prüfung noch einige freiere Proben
direkte Möglichkeit zum Auswirken dieser Spontaneität bieten. Aber die
willensmäßige Konzentration zu eliminieren und nicht jede Möglichkeit,
sie wenigsten stichprobenweise zu erfassen, wahrzunehmen, wäre umso
unverständlicher, als ja gerade der Wille das Gebiet ist, das sich der Prüfung
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382
Kurt Piorkoweki, Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung usw.
relativ am meisten entzieht und deshalb die verhältnismäßig befechtigsten
Angriffe gegen derartige Prüfungen auslöst.
Wir können uns deshalb der Ansicht, daß „Konzentration auf eine Tätig¬
keit höherer Art, deren Motor der Wille sei und Konzentration in der Sphäre
der höheren Intellektualität“ aus Interesse sich ausschlössen, nicht anschließen,
und werden deshalb diese Konzentrationsprüfungen im Gegenteil nach der
erstgenannten Richtung noch ausbauen.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Ober Fachstudium und Allgemeinbildung äußert sich Staatsminister Dr.
O. Boelitz in den Berliner Hochschulnachrichten in folgenden Ausführungen:
„Die Klage ist nicht neu, daß unsere Hochschule ihren alten Charakter als
Universitas scientiarum immer mehr eingebüßt habe und daß ihr immer
mehr der Charakter der Stätte reiner Berufsbildung aufgeprägt worden
sei. Die Verfeinerung der wissenschaftlichen Methoden, eine weitgehende
Spezialisierung, immer erneute Arbeitsteilung innerhalb der einzelnen For¬
schungsgebiete haben — daran ist nicht zu zweifeln — den Gesichtskreis
des wissenschaftlichen Arbeiters verengt, und die Folge ist, daß er oft nur
Ausschnitte des eigenen Gebietes übersieht und den Zusammenhang selbst
mit benachbarten Forschungsgebieten ganz verliert. Dazu kommt eine
Arbeitstendenz, die in den letzten Jahrzehnten aus unseren geistigen Arbeitern
Menschen einer immer feiner gearteten Arbeitstechnik in der höchstgesteigerten
Form gemacht hat.
Das Spezialistentum hat auf dem Gebiete der Einzelforschung, der Technik
und Industrie zwar eine staunenswerte Blüte hervorgebracht, die aber ander-
• seits uns mit Wehmut erfüllen muß. Denn leider ist die Vervollkomm¬
nung des Menschen hinter der der Dinge zurückgeblieben.
Die Hervorbringung der Kulturmittel ist vielfach zum Selbstzweck geworden;
die Arbeit ist entseelt, mechanisiert worden. Darin liegt die Kulturtragik
unserer Zeit, die schon vor dem Kriege lebhaft empfunden und oft darge¬
stellt, die aber jetzt erst in ihrer ganzen Tiefe erkannt worden ist. Sie muß
überwunden werden; aber sie kann nur überwunden werden durch den
denkenden, schaffenden, ringenden Menschen, der sich einstellt auf ein
neues Bildungsideal.
Das ist der tiefste Sinn des Wortes von der Kultureinheit, daß der Mensch
von den Kulturmitteln zum letzten Kulturzweck vordringe, daß er alle seine
Arbeit einem höchsten Kulturziele einordne, daß er den Begriff der Totalität
des Menschseins ganz erfasse.
Hier kann die höhere Schule nur Vorarbeit leisten; die letzte Formung
erhält der reifere Mensch in den Jahren nach der Schulzeit
Kleine Mittel freilich dringen nicht bis zur Wurzel des Übels vor. öffent¬
liche Vorlesungen, Vortragsfolgen, Theater- und Kunstbetrachtungen sind an
sich gewiß sehr wertvoll, ja vollkommen unentbehrlich. Aber das Entschei¬
dende ist nicht das Nebeneinander des Berufsmenschen und des angeregten
Kulturmenschen, des Brotgelehrten und philosophischen Kopfes im Sinne
Schillers, sondern die Durchdringung von ernster Berufsauffassung
und höchster Allgemeinbildung. Das ist aber nur möglich, wenn es
gelingt, das Fachstudium wirklich zur Philosophie zu erheben, der Erkenntnis
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
383
zum Durchbruch zu verhelfen, „daß es sich bei aller Forschung doch darum
handelt, das Universum zu erkennen und die Stellung des Menschengeistes
in ihm zu bestimmen.“ Darum muß die Forderung für Gegenwart und Zu¬
kunft lauten: Nicht Allgemeinbildung neben der Berufsbildung,
sondern in und mit der Berufsbildung und vor allem durch die
Berufsbildung! Das eigentlich Letzte kann hier nicht der Hochschullehrer
tun, entscheidend ist die Neueinstellung des Studenten selbst, sein Wille zu
einer neuen Berufsvorbereitung. Der Student hat sich auf der Hochschule
nicht nur das Handwerkszeug zu eigen zu machen und seinen Gebrauch zur
höchsten Virtuosität zu steigern, um später einmal in seinem Beruf möglichst
Vollkommenes zu leisten; er hat vor allem den Menschen und-seine letzten
und größten Bedürfnisse ins Auge zu fassen, er muß es lernen, sich als
Glied der Kulturgemeinschaft zu fühlen und mitzuarbeiten an dem letzten
Ziel der Kultureinheit.
Das Spezialistentum ist zum Verhängnis unserer Zeit geworden. Als Bei¬
spiel greife ich die mir nahestehende Gruppe der Philologen heraus. Wenn
der Altsprachler nicht übersieht, welchen Kulturbeitrag die Biologie und die
Chemie beibringt, wenn der Naturwissenschaftler die deutsche Kulturent¬
wicklung nicht einordnen kann in die europäische Geistesgeschichte, wenn
der Germanist die Literaturgeschichte ohne Zusammenhang mit Religion,
Philosophie, Kirnst, Wirtschaft und Politik betrachtet, dann kann ein Kolle¬
gium von Spezialisten niemals die innere Einheit der Gesamtbildung seiner
Schüler .gewährleisten, dann haben wir Schulen der Einzelfächer, aber kein
beherrschendes Ideal.
Freilich die Grundbedingung für eine solche Neueinstellung unserer Stu¬
denten, so wie sie Schleiermacher schon vor hundert Jahren als notwendig
hinstellte, liegt in der Hinleitung des zur Selbständigkeit erwachenden Intel¬
lekts auf dieses letzte große Ziel. Auf den höheren Schulen muß der
Schüler bereits zur philosophischen Betrachtung geführt werden. Die Einzel¬
fächer müssen aus ihrer Isolierung losgelöst und in einer unlöslichen Einheit
innerlich verbunden werden. Auf der Hochschule aber darf dann der Stu¬
dent nie vergessen, daß er nicht zum Knecht des Berufsgedankens werden darf,
daß wissenschaftlich eine Sache betreiben so viel bedeutet, wie „alles einzelne
nicht für sich, sondern in seinen wissenschaftlichen Verbindungen anzuschauen“.
Leitsätze über hygienische Erziehung in der Schule und Vorbildung der
Lehramtskandidaten in Hygiene wurden auf der Reichsschulkonferenz im
Anschluß an den Vortrag von Prof. Dr. Selter (Königsberg) einstimmig an¬
genommen. Sie lauten:
1. Die hygienische Erziehung der Schüler ist notwendig zur Verbesserung
der gesundheitlichen Lebensbedingungen und als Voraussetzung der gesund¬
heitsgemäßen Lebensführung der Schüler selbst. Sie ist die Grundlage der
Verbreitung hygienischer Lehren im Volke, der Bekämpfung der Volks¬
krankheiten und der Hebung der Volkskraft. Die hygienische Erziehung ist
daher in allen Schulen und auf allen Stufen durchzuführen.
2. Die hygienische Erziehung in der Schule hat durch die Lehrer zu er¬
folgen. In geeigneten Fällen ist die Mitwirkung des Arztes geboten.
3. Die hygienische Erziehung soll das ganze Schulleben durchdringen.
Jedes Unterrichtsfach kann ihr dienstbar gemacht werden, besonders der
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384
Kleine Beiträge und Mitteilungen
naturwissenschaftliche Unterricht. Aber auch besondere Unterrichtsstunden
in der Hygiene sind in allen Schulen einzufahren.
4. Die hygienische EJrziehung der Schaler setzt die hygienische Vorbildung
aller Lehrer voraus, die nach einheitlichen Grundsätzen für die Lehrer aller
Lehranstalten durchgeführt werden soll. Sie hat im besonderen Anatomie,
Physiologie und Hygiene zu umfassen und ist durch eine Prüfung nach¬
zuweisen.
5. Es ist Vorsorge zu treffen, daß in der Übergangszeit, bis die ordnungs¬
gemäße hygienische Vorbildung der Lehrer allgemein durchgeführt ist, auch
die bereits im Amte befindlichen Lehrer in geeigneter Weise zur hygienischen
Erziehung der Schüler befähigt werden.
Die psychologische Erforschung der Schulanfänger hat die Lehrerschaft
schon in den Anfangszeiten der experimentellen Pädagogik stark beschäftigt.
Ausgehend von der „Analyse des kindlichen Gedankenkreises 11 hat
man die seelische Verfassung der Schulneulinge in dem letzten Jahrzehnt nun
auch mittels Testprüfungen aufzuschließen versucht. Freilich hat sich dabei
hier und da ein höchst gefährlicher Dilettantismus breit gemacht und über
den Schaden hinaus, den bei solchem Tun die Schularbeit erleiden muß, das
Ansehen der experimentellen Pädagogik geschädigt. So mußten die Fach¬
leute der psychologischen Pädagogik, wenn sie beobachteten, wie in einzelnen
Fällen ihre Bestrebungen durch ungeschulte Kräfte aufs schwerste diskreditiert
wurden, öffentlich vor mißbräuchlichen Experimentieren warnen *)• Zu be¬
greifen ist es nun, daß sich neuerdings den Untersuchungen der Schulneulinge
eine so ernste Forschungsstätte wie das psychologische Institut des Leipziger
Lehrervereins gewidmet hat. Die wissenschaftliche Strenge, mit der man dort
forschende Arbeit treibt, wird auf dem kleinen Gebiete der Testuntersuchung
an Schulanfängern vielleicht dem unwissenschaftlichen Gebaren wild experi¬
mentierender Lehrer zu steuern vermögen. Man berichtet über die im Gange
stehenden Unternehmungen das Folgende:
„Im Februar und März des Jahres 1922 wurden vom Assistenten des Institutes, Dr. Winkler,
zwei Kurse abgehalten, in denen er einer größeren Anzahl Leipziger Lehrer eine von ihm
zusammen gestellte Testserie zur Untersuchung von Schulneulingen vorführte und zum Ge¬
brauche empfahl. 14 Leipziger Lehrer haben dann an insgesamt 500 Schulneulingen die
Untersuchung vorgenommen. Die Ergebnisse mit ausführlichen theoretischen und praktischen
Erläuterungen werden voraussichtlich im XII. Bande der Veröffentlichungen des Institutes er¬
scheinen. Die Testserie stützt sich auf die erfolgreichen Vorarbeiten von Bin et, Bobertag,
Rossolimo, Scheibner u. a. und ist hervorgewachsen aus den vom Begabungsausschuß des
Institutes herausgegebenen Hilfsmitteln zur Untersuchung von Schulneulingen
Der Wert der Testserie liegt darin, daß die einzelnen Aufgaben von Dr. Winkler durch mehr¬
jährige Untersuchungen ausprobiert und mit den Leistungen der betreffenden Kinder in einem
zweijährigen Unterrichte verglichen werden konnten. Es ist besonders der Versuchsscbole
Leipzig-Connewitz zu verdanken, daß in gemeinschaftlicher Arbeit mit Dr. Winkler wichtige
Bausteine zur Erforschung des Seelenlebens der Eiernentaristen gelegt wurden. Ein weiterer
Vorteil der Testserie ist, daß ihre einzelnen Aufgaben durch Zahlenwerte gut geeicht sind, d. h.
auf Grund des vorliegenden Materials konnte festgestellt werden, welche Art der Lösung einer
Aufgabe für Kinder dieser Altersstufe die normale bildet, wo die Grenze der Leistungsfähigkeit
bei den Aufgaben nach oben und nach unten liegt Daraufhin sind die einzelnen Aufgaben so
ausgesucht worden, daß der Durchschnitt der Kinder sie lösen kann, daß aber außerdem für
besser begabte Kinder die Möglichkeit besteht, ihre Befähigung zu zeigen, so daß schließlich
*) Vergl. u. a. die scharfe Ablehnung eines solchen Falles durch 0. Scheibner in dem Sammel¬
werke von Gaudig, „Freie Schularbeit in Theorie und Praxis“. S. 279.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
385
die Begabungen in ihrer verschiedenen Art und Stärke sich ausprägen. Die Testserie besteht
aus 17 Aufgaben, in denen folgende psychische Fähigkeiten des Schulneulings geprüft werden
sollen: 1. Konstruktive Kombination durch eine Lege- und zwei Bauaufgaben. 2. Formauf¬
fassung als wichtige Grundlage für den Schreibprozeß durch Abzeicbnen mehrerer Figuren.
3. Motorisches Behalten durch zeichnerische Wiedergabe einer motorisch aufgenommenen Figur,
besonders wertvoll für Unterricht mit stark manueller Betätigung. 4. Behalten von Wörtern bei
akustischer Darbietung. 5. Behalten sinnvoller Stoffe; Wiedergabe einer kurzen Geschichte.
6. Sprachlicher Auffassungsumfang, geprüft durch Nachsprechen von Silben. 7. Sprachliche
Gewandtheit, in ähnlicher Weise geprüft wie vorher. 8. Visuelles Behalten durch Vorzeigen und
Merkenlassen von Gegenständen. 9. Zahlauffassung als wichtige Grundlage für den Rechen¬
unterricht. (Es werden Zahlbilder zur simultanen bzw. Gruppenerfassung vorgelegt.) 10. Die
Prüfung des Begriffs- oder Wortschatzes wird mehr als Kenntnisprüfung aufgefaßt und geschieht
durch Abfragen an der Hand eines Bildes. 11. Kenntnis von Farbnamen. 12. Begriffsbildung
durch Definieren einfacher Dinge. 13. Beobachtungsfähigkeit geprüft durch Vergleichen zweier
Bilder. 14. Phantasie durch Deutung eines dreifachen Bildes. 15. Auffassungsgeschwindigkeit
mit Hilfe von Farbblättchen. 16. Handgeschicklichkeit durch Ausschneiden einer Figur. 17. Aus¬
dauer und Konzentrationsfähigkeit durch Ausfüllen von Kästchen durch einfache zeichnerische
Elemente. Diese Testserie benutzt unter den vielen Methoden zur Erforschung der kindlichen Veran¬
lagung den mehr experimentell gerichteten Weg und bemüht sich, möglichst vollständige und
wissenschaftlich exakte Ergebnisse zu gewinnen. Dabei gilt als oberster Grundsatz der einer
gewissenhaften psychologischen Anpassung an das einzelne Kind und der Vermeidung des
Schematisierens. Wie jede andere Methode der Erforschung der kindlichen Psyche nur dann
vollen Wert hat, wenn sie auf ihrem Gebiete systematisch durchdacht ist und die Grenzen ihrer
Anwendungsmöglichkeit wohl beachtet werden, so gilt dies auch für die vorliegende Testserie.
Die reichhaltigen Ergebnisse, die durch die einzelnen Aufgaben gewonnen werden, sind zunächst
nur Bruchstücke, die dem Lehrer zwar wertvolle Winke geben können, die sich aber sofort zu
einem lebensnahen psychischen Bilde zusammenschließen, sobald Beobachtung und Einfühlung
des Lehrers hinzukommen. Für den, der die Versuche ausgeführt hat, sind sie kein totes Schema,
sondern bieten ihm viele Anhaltspunkte, um den Schulneuling kennen zu lernen. Indem sich
also der Elementarlehrer noch vor Beginn des Unterrichts oder wenigstens während der ersten
Tage mit jedem Kinde eine halbe Stunde auf diese Art beschäftigt, erhält er ein ziemlich um¬
fassendes Bild von der geistigen Struktur jedes Schülers. Es ist erstaunlich, welches Band sich
lediglich durch diesen kurzen Austausch zwischen Lehrer und Kind bildet, und wie er tatsächlich
sehr frühzeitig Einblick in die individuelle Eigenart seiner Schüler gewinnt.*
Ober die Jahresarbeit 1921 des Leipziger Institutes für experimentelle Päda¬
gogik und Psychologie gibt Felix Schlotte in der Leipziger Lehrerzeitung
den folgenden Bericht. Von dem Institute eines Lehrervereins erwartet man,
daß es neben der Einführung seiner Mitglieder in die experimentelle Päda¬
gogik und Psychologie sein Augenmerk besonders auf die Kinderpsychologie
richtet, da dieses Gebiet in den Instituten der Hochschulen weniger gepflegt
wird. Beiden Aufgaben hat sich das Institut auch im Berichtsjahre ausgiebig
gewidmet.
G. Schierack setzte den bereits im vorigen Jahre begonnenen psycho¬
logischen Einführungskursus für Junglehrer fort; im Wintersemester 1921/22
richtete Herr R. Schulze einen zweiten derartigen Kursus für Junglehrer und
Mitglieder gemeinsam ein. Für solche Mitglieder, die bereits mit den Methoden
der Psychologie im allgemeinen vertraut sind, sollte ein technischer Kursus
ein einzelnes Problem, nämlich das der Zeitmessung, eingehend kennen lehren.
Alis dem technischen Kursus des vorangehenden Jahres, „Untersuchungen
über geistige und körperliche Arbeit“, hatte sich in der Zwischenzeit eine
Arbeitsgemeinschaft gebildet, die diese Methoden in einer Untersuchung an
Leipziger Schulkindern anwandte.
Unter dem Titel „Haupttypen psychologischer Theorienbildung“ zeigte
W. Zenker, wie die klassische Laboratoriumspsychologie entstanden ist und
Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie. 25
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
ging dann unter Kennzeichnung der gegenwärtigen Lage ausführlicher auf
die Stellung der Psychoanalyse innerhalb der heutigen Psychologie ein.
Prof. Dr. F. Krueger, der Nachfolger W. Wundts, legte klar, welche Stellung
das von ihm besonders gepflegte Gebiet der Entwicklungspsychologie ein¬
nimmt und veranschaulichte an den Beispielen des Lautwandels und der
psychologischen Entwicklung der menschlichen Arbeit das Vorgehen seiner
Wissenschaft Prof. Dr. W. Wirth, Direktor des Psychophysischen Seminars,
führte vor, wie man experimentell Aufschluß über den Willensvorgang er¬
halten kann. Über dasselbe Thema hielt Herr Rudolf Schulze, der wissen¬
schaftliche Leiter unseres Institutes, eine Reihe von fünf Demonstrationsvor¬
trägen. Dieselbe Reihe wurde auch für die Teilnehmer an den Akademischen
Ferienkursen des Sächsischen Lehrervereins gelesen.
In das Gebiet der Völkerpsychologie führte Leicht durch eine Vortragsreihe
ein. Prof. Dr. Kirschmann las in einer längeren Vortragsreihe über die
psychologischen Probleme der Raumlehre und Optik und zeigte in seinem
letzten Vortrage das Gebiet feiner neuesten Forschung: Die Entstehung und
Nachahmung des Metallglanzes.
Besonderem Interesse begegneten die Veranstaltungen des Institutes, die
sich mit den Fragen der Kinderpsychologie beschäftigten.
Privatdozent Dr. Pfeifer berichtete über „Drüsensekretion und Pubertät*
und fügte auf Wunsch noch einen Vortrag über das für den Lehrer wichtige
Gebiet „Epilepsie“ an. Max Döring vertrat das Institut auf dem ersten
„Internationalen Kongreß für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher
Grundlage“ in Berlin und führte die Vereinigung des Institutes für Sexual¬
wissenschaft in Berlin und unseres Institutes zu einer Arbeitsgemeinschaft für
Erforschung der Sexualentwicklung des Jugendlichen herbei. Sein Kongre߬
vortrag behandelte das Thema: „Jugendliche Zeugen in Sexualprozessen*.
Die in Leitsätzen vorgelegten Anschauungen des Institutes zu einer Reform
der Strafprozeßordnung in bezug auf die Behandlung jugendlicher Zeugen
machte der Kongreß zu den seinen, und er wurde in ihrer Richtung beim
Reichsjustizministerium vorstellig.
Im Institut hielt Max Döring eine Vortragsreihe über die Entwicklung des
Wahrheitsbewußtseins und der Zeugnisfähigkeit beim Kinde, ferner gab er
einen Überblick über die Entwicklung der jugendlichen Sexualität. Der Aus¬
schuß für Aussage und Zeugenpsychologie wurde neben seiner wissenschaft¬
lichen Tätigkeit wiederholt zur Beratung und Begutachtung in praktischen
Rechtsfällen in Anspruch genommen und zwar von seiten des Gerichts, des
Rechtsschutzes und einzelner Lehrer und Lehrerinnen. Elternräte und Vereine
haben die Mitglieder des Ausschusses mehrfach um Vorträge über „Aussage
und Lüge beim Kinde“ und dessen Erziehung zur Wahrhaftigkeit gebeten.
Durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft und durch das Entgegenkommen
der Gefängnisdirektion bekamen die Mitglieder dieses Ausschusses auch Ge¬
legenheit, Einblick in den Strafvollzug in einem modernen Gefängnisse nehmen
zu können.
Mit den Fragen der religiösen und sittlichen Entwicklung des Jugendlichen
befaßte sich der von 0. Kupky geleitete Ausschuß, der sich im Anschluß an
einen einführenden Vortrag des Leiters gebildet hatte.
Im Januar berichtete der Kombinationsausschuß in einem Diskussionsabende
über seine Arbeit zur Klärung des Begriffs: Kombination. Weiterhin be-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
387
schäftigte sich der Ausschuß mit der Frage: Ist es möglich, den Kombinations¬
vorgang noch weiter zu analysieren? Dies führte zu einem Kursus in der
Psychoanalyse, dessen Leitung in dankenswerter Weise Dr. med. Knopf
übernahm.
Über Prof. Dr. Joh. Kretzschmars Buch „Das Ende der philosophischen
Pädagogik" gab Fuß einen eingehenden Bericht. In der Aussprache wurde
anerkannt, daß die philosophische Pädagogik heute nicht mehr in der Lage
ist, die praktischen Maßnahmen der Erziehung zu begründen; es wurde ge¬
fordert, daß die pädagogische Tatsachenforschung viel stärker als bisher
betont werden muß.
Im Mittelpunkte der Institutsarbeit steht zurzeit noch die Begabungsforschung.
Der Ansturm, der zunächst über das gesamte Gebiet hereinbrach und bei dem
man nach möglichst vielen und immer neuen Tests suchte, ist abgeflaut, und
an seine Stelle ist eine wissenschaftlich vertiefende Arbeit getreten. Nachdem
G. Schierack im vorigen Jahre die Kritik der einzelnen Tests durch Einzel¬
versuche vorgenommen hatte, ging die Weiterarbeit in diesem Jahre in der
Richtung des Fragebogens. Um den Zustand des Schülers aus seiner Ent¬
wicklung heraus verstehen zu können, bedarf es einer Ergänzung des Aus¬
leseverfahrens durch einen Beobachtungsbogen. Der Ausschuß für Be¬
gabungsprüfungen hat sich bemüht, einen Schülerbogen zu schaffen, dessen
Ausfüllung auch dem Nichtpsychologen möglich ist; er verfolgt also in erster
Linie praktische Ziele. Die Frage „Test oder Fragebogen“ beantwortete Prof.
Dr. J. Kretzschmar in einem Vortrage mit Test und Fragebogen. Einzel¬
untersuchungen nach den Methoden von Rossolimo nahm K. Bartsch an
Hilfsschülern vor.
So oft sich Gelegenheit dazu bot, wurde Berührung mit dem praktischen
Leben gesucht. An die Aussprache zur Psychologie der Arbeitsschule schloß
sich ein Vortrag von Rudolf Bär, der über den Gesamtunterricht in seiner
sechsten Knabenklasse berichtete. Dem darauffolgenden Besuch einer Klasse
reihte sich eine Aussprache im Institut an über die Beobachtungen, die bei
dieser Gelegenheit gemacht worden waren.
Im Aufträge des Institutes wirkte der neue Assistent, Dr. phiL H. Winkler,
in der neugegründeten Versuchsschule als forschender und beratender Psy¬
chologe. Diese Mitarbeit geschah sowohl im Interesse des Institutes als auch
der genannten Schule und erstreckte sich auf Aufstellung und Eichung von
Testserien für die verschiedenen Altersstufen, insbesondere unter Berück¬
sichtigung der von den einzelnen Lehrern gestellten praktisch-psychologischen
Wünschen, z. B. Ermittlung von noch nicht schulreifen Elementaristen, Fest¬
stellung der Befähigung für höhere Schulen, Scheidung in Arbeitsgruppen
nach der Befähigung im sechsten und siebenten Schuljahre, psychologische
Beratung für den künftigen Beruf.
In den vom wissenschaftlichen Leiter und vom wissenschaftlichen Assi¬
stenten gehaltenen Sprechstunden suchten Lehrer und Mitglieder Gelegenheit,
sich Rat und Unterstützung für ihre wissenschaftlichen Spezialstudien und
für ihre Berufsarbeit aus dem Institut zu holen.
Band XI der Pädagogisch-Psychologischen Arbeiten bringt eine Arbeit von
Joh. Schlag „Häufigkeitsproben aus dem Sprachschätze von sechs- und acht¬
jährigen Kindern“ und stellt die Wörter in einem Häufigkeitswörterbuche
zusammen. An zweiter Stelle enthält dieser Band den Bericht über eine
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
experimentelle Prüfung von Sprachbefähigten von F. Schlotte; der Verfasser
will eingehend über den Gang einer Begabungsauslese unterrichten und an
den Ergebnissen Bewertungsmöglichkeiten vorführen. Im Anhang sind die*
jenigen Hilfsmittel für Begabungsuntersuchungen, Lückentexte usw., zu¬
sammengestellt, die bisher vom Institute des Leipziger Lehrervereins ver¬
öffentlicht worden sind.
Das Institut zählte am Ausgange des Jahres 396 aktive und 1371 passive
Mitglieder.
Ein Kursus zur Einführung in die Jugendwohlfahrtspflege ist im Juni
d. J. von der Frankfurter Zentrale für private Fürsorge in der Kindererholungs¬
stätte Wegscheide bei Stadt Orb veranstaltet worden. Zum ersten Male wurde
hier versucht, in größerem Kreise das schwierige Grenzgebiet zwischen Schule
und Jugendwohlfahrtspflege zu behandeln und die Abgrenzung und Ver¬
bindung ihrer Aufgaben, wie sie durch das Reichschulgesetz und das Reichs¬
jugendwohlfahrtsgesetz, das 1924 in Kraft tritt, gegeben sind, herauszu¬
arbeiten. Bei der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit konnte es nicht
so sehr Ziel der Veranstaltung sein, ein Bild der vielfältigen Aufgaben der
Jugendwohlfahrtspflege zu geben, als der Lehrerschaft zu zeigen, wie das
Eindringen der Jugendwohlfahrtspflege in die Schule eine Belebung und
Ergänzung ihrer Arbeit mit sich führt.
Einleitend wurden grundsätzliche Fragen geklärt: Dr. Polligkeit, Frankfurt a. M.,
sprach über die gesetzlichen Grundlagen: Kreisjugendwohlfahrtsgesetz und
Schule. Die Referate von Professor Klumker, Frankfurt a. M., über Schule
und Jugendwohlfahrtspfege als Ergänzung der Familienerziehung, und Rektor
Jaspert, Frankfurt a. M., über die Aufgaben von Schule und Jugendamt,
ihre Abgrenzung und ihre Verbindung gaben ein Bild über die engen
geistigen und tatsächlichen Beziehungen, die eine Zusammenarbeit der
Lehrerschaft mit der Jugendfürsorgepflege fordern. Wie diese zu gestalten
sei, welche Möglichkeiten dafür im Rahmen der Schule selbst, wie innerhalb
der Einrichtungen der Jugendwohlfahrtspflege bestehen, war der Verhandlungs¬
stoff der folgenden Tage. Die theoretisch-wissenschaftliche Grundlage gab
das Referat von Professor Häberlin-Bem: „Zur Psychologie der Kinderfehler".
Über die Behandlung der Kinderfehler durch den Lehrer sprach aus lang¬
jähriger praktischer Erfahrung Stadtschulrat Schüßler; für die höheren
Schulen, mit besonderer Berücksichtigung der Schuldisziplin, Direktor
Dr. Sander. Die Bedeutung verständnisvollen Eingehens auf die Psyche
des Schülers für den Kampf gegen die jugendliche Verwahrlosung wurde
besonders hervorgehoben. Stadtmedizinalrat Oschmann handelte über Ge¬
sundheitsfürsorge als gemeinsame Aufgabe von Schule und Jugendwohl¬
fahrtspflege und zeigte den Wert und die Notwendigkeit enger Zusammen¬
arbeit. Besonders klar trat dies hervor durch die Referate von Rektor
Grauvogel und Dr. Bappert, die die Fürsorge für das geistig normale Kind
behandelten und das Ineinandergreifen der Schuleinrichtungen (Hilfsschule)
und der dem Jugendamt unterstehenden Frankfurter Jugendsichtungsstelle
widerspiegelten.
Aber nicht nur in selbständiger Arbeit, sondern auch als Mitarbeiterin in
der Jugendfürsorge steht die Lehrerschaft vor großen Aufgaben. Viel ist
zu tun in der Jugendgerichtshilfe und in der Schutzaufsicht für Jugendliche.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
389
Hierzu gab Amtsgerichtsrat Allmenroeder aus seiner Praxis als Jugendrichter
lebendige Anregung und Anleitung zur Behandlung straffälliger und verwahr¬
loster Jugendlicher, und Stadtschulrat Göbel zeigte Angaben und Tätigkeit der
Schulpflegerinnen.
Die lebhaften Aussprachen gaben Gelegenheit zum Austausch praktischer
Erfahrungen und Besprechung von Reformversuchen und bewiesen, welch
großes Interesse man in Lehrerkreisen der FQrsorgearbeit entgegenbringt.
Der Eindruck wurde noch verstärkt durch zahlreiche Äußerungen der Teil¬
nehmer, daß ihre Mitarbeit in der Jugendwohlfahrtspflege oft gehemmt sei
durch mangelhafte Schulung in diesen Fragen. Eine stärkere Berücksichtigung
der Jugendwohlfahrtspflege in der Lehrerausbildung muß gefordert werden.
Allgemeine Anerkennung und Bekräftigung fand die Ansicht, daß letztes
Ziel sein müsse, Schule und Jugendwohlfahrtspflege in einem Ganzen zu ver¬
schmelzen, in dem der Gedanke der Lebens- und Erziehungsgemeinschaft sich
durchsetze, dessen belebende Kraft die Kindererholungsstätte Wegscheide den
Kursteilnehmern täglich bewies.
Ein gekürzter Druckbericht über die Verhandlungen wird voraussichtlich
im Herbst erscheinen.
Nachrichten. l.Dr.WalterBaade, Privatdozent der Psychologie in Göttingen,
Leiter des dortigen Universitätsinstituts für angewandte Psychologie ist, erst
40 Jahre alt, an Herzschlag gestorben. Baade verband ein ererbtes Interesse für
Pädagogik — sein Vater war ein bekannter Didaktiker — mit einer gründ¬
lichen exakt-psychologischen Schulung, die er in Göttingen bei G. E. Müller
erworben hatte. Seine umfangreiche Doktorarbeit behandelte ein experimentell¬
pädagogisches Thema: Die Einwirkung des Unterrichts auf Empfänglichkeit
und Ermüdung des Schülers. Eine Zeitlang war er Assistent am Institut
für angewandte Psychologie in Kleinglienicke; hier hat er in engem persön¬
lichen Zusammenwirken mit den damaligen Leitern des Instituts, Dr. Lipmann
und Prof. Stern, an den Problemen der Psychographie (die Bezeichnung
stammt von ihm) und der Aussagepsychologie wertvolle Arbeit geleistet. In
den letzten Jahren beschäftigte ihn die prinzipielle Grundlegung einer „dar¬
stellenden“ Psychologie; leider war es ihm nicht mehr vergönnt, aus seinen
umfangreichen Vorarbeiten die Früchte zu ernten. Dagegen hatte er noch
die Freude, in Göttingen das von ihm lange erstrebte eigene Institut für
pädagogische Psychologie gründen und einrichten zu können. Die erste
kleine Veröffentlichung aus diesem Institut (von Michaelis) ist im vorigen Heft
dieser Zeitschrift erschienen.
2. Im Psychologischen Institute des Leipziger Lehrer¬
vereins i$t der wissenschaftliche Leiter Rudolf Schulze von
seinem Amte zurückgetreten. Als Nachfolger wurde Max Döring gewählt.
In wissenschaftlichen Kreisen ist er zuerst bekannt geworden durch einige
experimentelle didaktische Untersuchungen (erschienen in der Zeitschrift
f. experim. Pädagogik und der Zeitschrift f. päd. Psychologie). Er gab später
mit Max Brahn das Pädagogische Archiv heraus und ist heute Schriftleiter
der wissenschaftlichen und literarischen Beilage der Leipziger Lehrerzeitung.
Seine wissenschaftliche Arbeit der letzten Zeit auf dem Gebiete der Sexual¬
pädagogik und der Kinderaussagen haben für die theoretische Entwicklung
dieser Fragenkreise und ihre praktische Auswirkung, besonders auf die
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390
Kleine Beiträge und Mitteilungen
Zeugenvernehmung Jugendlicher, bedeutsame Erfolge gezeitigt. Ein Verdienst
hat sich außer durch andere schriftstellerische Leistungen Döring auch damit
erworben, daß er erstmals eine Bibliographie der pädagogischen Fachpresse
deutscher Zunge gegeben hat. (Leipzig 1910.)
3. Der katholische Lehrerverband des Deutschen Reiches hat auf seiner
Verbandstagung in Fulda ebenso wie der Verein katholischer deutscher
Lehrerinnen auf seiner Versammlung in Hamburg beschlossen, die Finanzierung
des Instituts fOr wissenschaftliche Pädagogik in Münster i. W. zu übernehmen
und gutzuheißen, daß von diesen beiden Verbänden das Institut getragen
wird. Für das Jahr 1922 ist eine einmalige außerordentliche Umlage von
10 Mark für das Mitglied im katholischen Lehrerverband festgesetzt worden.
4. Das Institut für praktische Psychologie in Dortmund (Leiter
Dr. J. Weber), hat in seiner Abteilung für Schulpsychologie die Arbeit mit
folgenden einführenden Kursen eröffnet. Frl. Dr. Hilverding: „Weg der
Psychologie zum Experiment"; Ebel: „Die Untersuchung der Sechsjährigen
als Grundlage des Arbeitsunterrichts"; Göbel: „Die typischen Eigenarten im
Seelenleben des Schulkindes"; Klempt: „Die neuzeitliche Gedächtnisforschung";
Schulte: „Das Problem der psychologischen Beobachtung“; Lorenz: „Aus der
Praxis der Schülerbeobachtung"; Dr. Weber: „Begabungsforschung und
Berufseignung*. 1
5. Das Fürsorgeseminar an der Universität Frankfurt a. M. ver¬
anstaltet fortlaufend Lehrgänge über Jugendfürsorge, um Akademiker aller
Fakultäten mit abgeschlossenem Studium für die Arbeit in der Jugendwohlfahrts¬
pflege zu schulen und der Durchführung des Reichs-Jugendwohlfahrtsgesetzes,
das am 1. April 1924 in Kraft treten wird und eine große Zahl gut vorgebildeter
Kräfte verlang^ entgegenzukommen. Die Zulassung von Persönlichkeiten
mit andersartiger Vorbildung behält sich die Kursleitung vor. Die Lehrgänge
sind bis auf weiteres von einjähriger Dauer. Sie gliedern sich in einen
theoretischen Teil während des Sommersemesters (Vorlesungen und Übungen
an der Universität, Besichtigungen) und ein Winterhalbjahr mit praktischer
Arbeit in Erziehungsanstalten, Jugend- und Wohlfahrtsämtern, Organisationen
der privaten Fürsorge usw. Die Kursleitung haben Prof. Dr. Klumker,
Dr. Polligkeit, Dr. Studders. Nähere Auskunft erteilt die Geschäftsstelle:
Fürsorgeseminar, Frankfurt a. M., Stiftstraße 30.
6. Der deutsche Gewerbeschulverband ließ seiner 29. Wander¬
versammlung, die vom 7. bis 11. Juni d. Js. in Frankfurt a.’M. stattfand,
zum ersten Male eine Hochschulwoche vom 1. bis 7. Juni vorausgehen. Die
Vorbereitung und Leitung lag in den Händen des Studienrates Dr. Julius Wagner,
Dozent für Jugendkunde und Pädagogik an der Universität Frankfurt a. M.
Die Vorlesungen hatten zwei Problem« in den Mittelpunkt fbstellt. „Zur
Kenntnis des Fachschülers in der Pubertätszeit" und „Fragen aus
Verfassung und Organisation des Wirtschaftslebens". Einleitend
sprach Prof. D. Ziehen über den Bildungswert der Technik. Das jugend-
kundliche Gebiet behandelten folgende Vorlesungen: 1. Prof. Dr.F.O. Schul tze:
Ziele und Aufgaben der Erziehung, lsttindig; 2. Dr. J. Wagner: Psychologie
der Pubertätszeit, 5 ständig; 3. Amtsgerichtsrat Dr. Allmenröder: Die Straf¬
fälligen vor dem Jugendgericht, 1 ständig; 4. Prof. D. Klumker: Jugend¬
fürsorge, 2 ständig; 5. Dipl.-Ing. Bramesfeld: Psychotechnik, 2 ständig;
6. Pfarrer Groenhoff: Die moderne Jugendbewegung, 2stündig; 7. Prof.
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Literaturbericht
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v. Düring: Die seelische Entartung, ihre Erkennung und erziehliche Behand¬
lung, 2 stündig; 8. Stadttumrat Echternach: Die körperliche Ausbildung
der beruflich tätigen Jugend, 2stflndig; 9. Dr. Lagner: Über innere
Sekretionen, 2 stündig. Die neun Vortragsreihen gaben ein abgerundetes
Bild der körperlichen und seelischen Eigenart der Pubertätszeit.
7. Eine ärztliche Gesellschaft für parapsychische Forschung ist in
Berlin gegründet worden.
8. Über denMar burger Psychologen-Kongreß (Ostern 1921), über den
hier seinerzeit ausführlich berichtet wurde, (Bd. 22, S. 262 ff.), liegen nun¬
mehr zwei Veröffentlichungen vor. Der offizielle „Bericht über den VII. Kon¬
greß f. exp. Psychol. in Marburg“ wird im Aufträge der Gesellschaft für exp.
Psychol. herausgegeben von Karl Bühler (Jena, G. Fischer, S. 192). Er ent¬
hält die Sammelreferate ausführlich, die Einzelvorträge in kurzen Auszügen.
Für den Pädagogen ist das Sammelreferat von E. Jaensch (Marburg) „Über
die subjektiven Anschauungsbilder“ besonders bedeutsam. — Eine Sonderver¬
öffentlichung ist dann der angewandten P sy chologie auf dem Kongreß ge¬
widmet. Zwölf hierauf bezügliche Vorträge sind in ausführlicher Wieder¬
gabe zusammengefaßt in dem Buch: „Vorträge über angew. Psychol., gehalten
beim 7. Kongreß f.exp. Psychol.“ Herausg. von O. Lipmannu.W. Stern (Beiheft
29 zur Ztschr. f. angew. Psychol., Leipzig, Barth 1921, 187 S.). Drei Vorträge
von Stern, Lipmann, Rupp behandeln methodische Grundfragen der Begabungs¬
und Eignungsprüfung; die übrigen berichten über Sonderuntersuchungen zur
Berufseignung, zur Gedächtnispsychol. usw. — Die „Gesellschaft für experi¬
mentelle Psychologie“ veranstaltet in der nächsten Zeit zwei Tagungen. Im
Oktober 1922 tagt die in ihr begründete Gruppe für angewandte Psychologie
in Berlin, um sich über die Methoden der Fähigkeitsfeststellung in Schule
und Beruf auszusprechen, zugelassen sind nur Mitglieder und eingeführte Gäste.
Ostern 1923 findet der VIII. Kongreß der Gesamtgesellschaft in Leipzig statt.
9. Der III. Internationale Kongreß für Psychotechnik wird 1922 in
Mailand tagen. Verhandelt werden soll über die Aufstellung eines inter¬
nationalen Schemas für Ausleseprüfungen.
10. Von dem Amsterdamer Philosophen Prof. Kohnstamm ist der Kant¬
gesellschaft ein bedeutender Preis für ein Preisausschreiben über das
Thema: „Personalismus und Idealismus als Grundtypen der Weltanschauung“
zur Verfügung gestellt worden.
Literaturbericht.
Selbstanzeigen.
Lindworsky, Der Wille, seine Erscheinung und seine Beherrschung nach de
Ergebnissen der experimentellen Forschung. J. A. Barth, Leipzig. 1. Aufl. 1919,
2. unveränderte mit einem Anhang versehene Aufl. 1921. 222 S.
Das Buch war ursprünglich als kritisches Sammelreferat für Fachgenossen verlangt worden
und sollte als erstes Beiheft zu dem von W. Peters herausgegebenen „Zentralblatt für Psycho¬
logie usw.“ erscheinen. Es bietet auf knappem Raum eine Inhaltsangabe der bisherigen ex¬
perimentellen Arbeiten mit Ausschluß der Reaktionsversuche im engeren Sinne. Die immanente
Kritik sucht dann die Probleme weiterzuführen. So gelangt der Verf. unter Ablehnung der
determinierenden Tendenzen als neuer elementarer Faktoren und durch Weiterführung der Kontro¬
verse über das assoziative Äquivalent (Messung der Willenskraft)* zu einer selbständigen Theorie
des Wollens, die fern von jedem Eklektizismus, allen bisher bekannten Tatsachen gerecht zu
werden sucht. Das Wesen des Wollens besteht danach in dem Streben nach Werten; die
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
392
Lite?aturbericht
Wirkung des Wollens in der Verstärkung der Vorstellung des angestrebten Wertes. Voraus¬
setzung des erfolgreichen Wollens ist das Vorhandensein geläufiger Vorstellungskomplexe. In
einem praktisch-pädagogischen Anhang wird von diesem Standpunkt aus das Problem auf¬
geworfen, ob es eine Willensstärke und eine Erziehung zu ihr im landläufigen Sinne gebe,
bzw. was an deren Stelle zu treten habe. — Der Anhang zur zweiten Auflage berichtet über
inzwischen veröffentlichten Willensarbeiten und einer vom Verf. angeregten Münchener Disser¬
tation über das assoziative Äquivalent, die seine aus der immanenten Kritik gewonnenen An¬
schauungen bestätigen, teilweise auch ergänzend berichtigen.
J. Lindworsky, Willensschule, Handbücherei der Erziehungswissenschaften
Nr. 3, Paderborn 1922. F. Schöningh. % 126 S.
Das Büchlein ist zunächst für die Arbeitsgemeinschaften der Junglehrer gedacht und ent¬
hält darum am Schluß Aufgaben und Themen für diese. In einem ersten Teil legt der Verf.
seine Willenstheorie in leicht verständlicher Form vor. Ein zweiter Teil behandelt ausführlich
die Pädagogik des Willens. Die gemeinhin empfohlenen Mittel der Willensbildung werden vom
psychologisch-pädagogischen Standpunkt aus gewertet, sodann die Einzelaufgaben und die Gesamt¬
aufgabe der Willensbildung besprochen. Das Neue an dem Büchlein ist in der konsequenten Durch¬
führung einer bestimmten Willenstheorie zu suchen. Gelegentlich der Gesamtaufgabe der Erziehung
wird als Beispiel in formaler Hinsicht „Das Geheimnis der ignatianischen Exerzitien“ ausführlich dar¬
gestellt. Die Wirksamkeit dieser , «Obungen“ zur Willenslenkung ist geschichtlich erwiesen. Merk¬
würdig ist, wie sehr sich dieses Werk eines Praktikers der hier vorgetragenen Willenstheorie fügt.
J. Lindworsky, Experimentelle Psychologie, 5. Band der „Phil. HandbibL“ Kösel,
Kempten 1921. 307 S. 2. Aufl. (Neudruck) 1922.
Die „Philos. Handbibliothek“ ist für angehende Akademiker berechnet. Des Verf. Aufgabe
war es, durch einen gedrängten Überblick Über die empirisch ermittelten Haupttatsacben der
Psychologie zu unterrichten. Seine vorausgehenden Arbeiten, namentlich die Untersuchungen
über das schlußfolgernde Denken (Freiburg, Herder, 1916, vergriffen) und überden Willen hatten
ihn zu Auffassungen geführt, die es nicht erlaubten, bei dem schlichten Referat stehenzubleiben.
Es wird über dieses hinaus ein systematischer Aufbau des seelischen Lebens versucht Weiter
sollte die Bedeutung des Denkens auch für die Entwicklung der Wahmehmungswelt betont
werden. Anderseits möchte der Verf. das Denken nur in dem Beziehungsakte erblicken. Er
verzichtet darum auf „unanschauliche Gedanken“, insofern sie mehr sein sollen als Beziehnngs-
erfassungen an anschaulichen Fundamenten und wagt den Versuch, das ganze höhere Seelen¬
leben mit nur zwei einfachen Funktionen, der Beziehungserfassung und dem Streben, natürlich
in Verbindung mit dem Vorstellungsleben, aufzubauen. Auf die Rätsel des Traumes fällt von
dieser Auffassung aus manch neues Licht. — Daß die erste Auflage von 3000 Exemplaren in
neun Monaten vergriffen war, beweist das Bedürfnis für einen Abriß dieses Umfanges.
J. Lindworsky, Umrißskizze zu einer theoretischen Psychologie. Barth, Leipzig 1922.
48 S.
Die Skizze bildet eine Ergänzung des Lehrbuches. Allgemein fühlt man die Notwendig¬
keit einer theoretischen Psychologie im Sinne einer theoretischen Physik. Bevor man zu einer
philosophischen Verwertung der psychischen Gesetzmäßigkeiten schreitet, sollten sie unter weiteren
Gesichtspunkten zusammengefaßt werden. Übergeordnete Gesetze sind zu suchen, aus denen
sich die Einzelerscheinungen ableiten lassen. Vielleicht ist heute eine theoretische Gesamt¬
orientierung wichtiger als theoretische Einzelarbeiten, da diese ganz wesentlich von der Gesamt-
anschauung beeinflußt werden.
1) 2) Clara und William Stern, Monographien über die seelische * Entwicklung
des Kindes. Leipzig. Barth.
L Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Dritte
ergänzte Aufl. 1922. 434 S.
II. Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit. Dritte AufL 1922. 160 S.
3) W. Stern, Psychologie der frühen Kindheit bis zum 6. Lebensjahre. Mit Benutzung
ungedruckter Tagebücher von Clara Stern. 2. Aufl. Leipzig, Quelle & Meyer. 1921. 362 S.
4) Aus einer Kinderstube. Tagebuchblätter von Clara Stern. Bearbeitet von Toni
Meyer. Zweite unveränderte Aufl. Leipzig. Teubner. 1921. 156 S.
Obige Bücher haben sämtlich die frühe Kindheit vom ersten bis zum sechsten Lebensjahr
zum Gegenstand. Das ihnen zugrunde liegende Material besteht einesteils in den umfassenden
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Literaturbericht
393
Tagebuchaufzeichnungen meiner Frau, andemteils in den Veröffentlichungen der deutschen und
ausländischen Literatur; dies Material aber wurde einer weitgehenden psychologischen Bearbei¬
tung unterzogen. Die schon vor Jahren erstmalig erschienenen Bücher waren längere oder kürzere
Zeit vergriffen und deshalb aus dem Gesichtskreis der Leser geschwunden; es sei daher gestattet,
an dieser Stelle auf die im letzten Jahr erfolgten Neuausgaben hinzuweisen. Der Charakter
der Bücher ist ein recht verschiedener. Nr. 3 versucht eine Gesamtdarstellung des Themas,
Nr. 1 und 2 sind wissenschaftliche Spezialdarstellungen, Nr. 4 eine volkstümliche, hauptsächlich
für Eltern bestimmte Auslese aus den Aufzeichnungen.
1) und 2). Ursprünglich bestand der Plan, in einer größeren Reihe von Monographien den
umfassenden Stoff erschöpfend zu bearbeiten. Seine Ausführung ist leider nicht über die zwei
bereits 1907 erstmalig erschienenen Werke über die Rindersprache und die frühkindliche
Erinnerung gediehen. Die „Kind er spräche“ stellt im ersten Teil dokumentarisch die Sprach¬
entwicklungen unserer beiden ältesten Kinder dar, die bis zum 6. Lebensjahr durchgeführt sind.
Zahlreiche Sprachproben, Wortschätze, Tabellen sind beigegeben. Der zweite Teil behandelt
die eigentliche Psychologie der Kindessprache, erörtert das Kausalproblem, die Vorstadien und
Anfänge, die Entwicklung des Satzes, der Worte und Wortklassen. Überall fällt auch Licht
auf die mit der Sprache verknüpfte Entwicklung des kindlichen Denkens. Ein dritter Teil
geht auf die eigentliche Linguistik der Kindersprache (Wortverstümmlüng, Lallwörter, Schall¬
nachahmung, Urschöpfung usw.) ein und erhofft neben dem Interesse des Psychologen und
Pädagogen auch das des Sprachwissenschaftlers. Die jetzt erschienene dritte Auflage gibt den
Text der ersten unverändert wieder; aber ein längeres Nachwort fügt eine Anleitung zur
Beobachtung der Sprachentwicklung sowie eine Übersicht über die Fortschritte der Kinder¬
sprachforschung seit 1907 hinzu. Eine vollständige Bibliographie ist beigegeben.
Die zweite Monographie ist um das Problem der Aussage orientiert und will zu den so
zahlreichen Untersuchungen über die Aussage des Schulkindes die Ergänzung aus der frühen
Kindheit geben. Wieder wird mit der Darstellung einer individuellen Entwicklung begonnen;
es folgt eine vergleichende Psychologie der frühkindlichen Aussage auf Grund von Beobach-
tnngen und Experimenten: es werden sowohl die Erscheinungen des richtigen Aussagens (Wieder¬
erkennen, Erinnerung) wie die Arten und Ursachen der falschen Aussage behandelt. Das
Hauptgewicht liegt auf dem Nachweis, daß es neben der echten Lüge eine Reihe von falschen
Aussagen gibt, die den Charakter des reinen Phantasiespiels oder der Scheinlüge haben.
Praktische Ausblicke über Erziehung der frühkindlichen Aussagen und Behandlung der Lüge
schließen das Buch.
Nr. 3. Die „Psychologie der frühen Kindheit“ bildete nach dem ein Menschenalter
zurückliegenden Buche Preyers den ersten Versuch innerhalb des deutschen Schrifttums, ein
Gesamtbild des frühkindlichen Seelenlebens zu entwerfen. Die Notwendigkeit einer möglichst
vielseitigen Beleuchtung der seelischen Frühentwicklung zwang zu einer gewissen Knappheit
bei Behandlung der Einzel gebiete; doch bestand das Bestreben, durch Herausarbeitung des
Wesentlichen, durch ständige Bezugnahme auf die psychologischen Grundlagen der geschilderten
Seelenvorgänge und durch zahlreiche Proben aus den Tagebüchern, den Lesern des Buches
die wünschenswerte Klarheit zu geben. Daß sich der Verfasser fast ausschließlich auf Erfah¬
rungen an Kindern der gehobenen Stände stützen mußte, bildet freilich eine Grenze des Buches.
Die Gliederung ist teils chronologisch (sprachlose Zeit, Sprachentwicklung), teils systematisch: es
wird das Gedächtnis, das Spiel, das Denken, das Gemüts- und Willensleben gesondert behandelt.
Gerade die ausführliche Behandlung der nicht-intellektuellen Seelenvorgänge unterscheidet das
Buch von den neueren Werken Bühlers und Koffkas, die sich vorwiegend auf die Behandlung
der geistigen Entwicklung beziehen. Deshalb darf ich hoffen, daß auch die unveränderte Ausgabe,
wenn sie auch die neueste Literatur nicht einzubeziehen vermochte, den Lesern willkommen
sein wird. Die Schreibweise des Buches ist, obwohl es durchaus den Ernst wissenschaftlicher
Darstellung zu wahren bestrebt ist, doch so gehalten, daß auch psychologische Laien es zu
verstehen vermögen.
Nr. 4 ist ganz vorwiegend für Eltern und Kindergärtnerinnen bestimmt, denen hier eine
von anderer Hand bewirkte Blütenlese aus den Tagebüchern meiner Frau dargeboten wird.
Es sind nur solche Stellen gewählt worden, die einen unmittelbar erziehlichen Einschlag haben
und die zugleich das unbefangene Leben einer Kinderstube und die sehr verschiedenen Indi-
vidualitäten ihrer drei Insassen zur Anschauung bringen konnten. W. St.
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Literaturbericht
Einzelbesprechungen.
Oswald Külpe, Vorlesungen über Psychologie. Herausgegeben von Karl Bühler, Prof,
der Philosophie an der Techn. Hochschule in Dresden. 2. AufL Leipzig 1922. 340 S. 66 M.
Ich habe im 21. Jahrgang dieser Zeitschrift (S. 165) die Külpeschen „Vorlesungen* bei
ihrem Erscheinen ausführlicher besprochen. Meiner dort gegebenen Anregung, es möge die
schöne Arbeit, die Külpe 1912 über „die moderne Psychologie des Denkens“ geschrieben hatte,
dem Buche angefügt werden, ist in der zweiten Auflage der Herausgeber gefolgt. So werden
nun die Vorlesungen nicht mehr enttäuschen, wenn man nach ihnen in der Erwartung greift,
gerade in ihnen eine denkpsychologische Orientierung zu finden. Der Herausgeber weist zudem
noch in seinem Vorwort darauf hin, daß der erste Band der „Realisierung“ (bei Hirzel 1912)
„eine wohldurchdachte Anwendung der modernen psychologischen Analyse des Denkens auf
die Erkenntnistheorie enthält“. Sch.
Hugo Münsterberg, Psychologie und Wissenschaftsleben. Ein Beitrag zur an¬
gewandten Experimental-Psychologie. 5. unv. Aufl. Leipzig 1922. Barth. 192 S.
Henry C. Link, Ph. D., Eignungs-Psychologie (Employment Psychology). Anwendung
wissenschaftlicher Verfahren bei der Auswahl und Ausbildung von Angestellten und Arbeitern.
Übersetzung von J. M. Witte. Mit einem Vorwort von C. Piorkowski. München u. Berlin 1922.
Oldenburg. 212 S.
Münsterbergs Werk ist hervorgegangen aus einem Kolleg, das der 1915 verstorben«
Professor der Havard-Universität im Herbste 1910 als Austauschgelehrter in Berlin gehalten hat
Es war dies wohl das erstemal, daß dies neue Forschungsgebiet an einer Hochschule dar¬
gestellt wurde, und Münsterberg war sich nach seinem Bekenntnis im Vorworte wohl bewußt,
daß seine Darbietungen nur vorläufige Ergebnisse bieten und nur Beispiele sein konnten. Er
sprach dabei den Wunsch aus, es möge Deutschland gelingen, auf diesem neuen Felde die
Mitführerschaft zu gewinnen — im Interesse der Wissenschaft und zum Besten der nationalen
wirtschaftlichen Kraft. Und nun ist es erstaunlich, in welclr ungeahntem Aufschwung sich in wenig
mehr als einem Jahrzehnt die deutsche Forschung und bei der praktischen Verwirklichung Hand
in Hand mit ihr das deutsche Wirtschaftsleben des jungen Feldes bemächtigt hat
Wie weit unterdessen das Ausland — insbesondere auch Amerika vorgedrungen war —
blieb in Zeiten des Krieges und auch in den folgenden Jahren zum guten Teil verdeckt Die
Übersetzung des Buches von Henry C. Link ist darum zu vergleichender Betrachtung und zur Gewin¬
nung neuer Anregungen höchst willkommen. Piorkowski hebt in seiner Einführung kurz das Unter¬
scheidende heraus und deutet an, wie die Unterschiede aus anderen soziologischen und wirtschaft¬
lichen Gegebenheiten verständlich werden. „Während die deutschen Psychotecbniker versucht haben,
bei ihren Fähigkeitsfeststellungen systematisch so vorzugehen, daß Kenntnisprüfungen möglichst
ausgeschaltet wurden, um so ein annähernd reines Bild der Anlagen zu gewinnen, sind die
amerikanischen Methoden gemischt, und Fähigkeitsprüfung und Kenntnisprüfung geht vielfach
ineinander über. Dies liegt zum grpßen TeU in den spezifisch amerikanischen Verhältnissen
begründet, wo die Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten auf Abendschulen, in freien
Kursen usw. viel mannigfaltiger sind als bei uns in Deutschland und andererseits dem Zeugnis-
und Berechtigungswesen nur ein geringer Wert beigemessen wird. Somit ist der amerikanische
Psychologe zunächst genötigt, sich selbst erst einmal von dem Kenntnisstand der Be¬
werber zu überzeugen, während der Deutsche sich hier mehr auf Zeugnisse verlassen kann.“
Methodisch sind, gemessen an dem deutschen Verfahren, die amerikanischen Eignungsprüfungöl
einfacher. Erklärlich werden die leichteren Tests — es sind etwa 35 im Buch beschrieben —
aus der Verschiedenartigkeit und dem vielfach sehr geringen Grade der Vorbildung, die
amerikanische Arbeiter zeigen. Besonders beachtenswert für die deutsche Eignungspsychologie
ist das, was Link über Bewährungsveranstaltungeu und über die Einrichtung von Anlern¬
schulen berichtet. Man hat in Amerika erkannt, daß Auswahlprüfungen ohne weitere sich
anschließende Veranstaltungen ein unvollendetes Unternehmen darstellen. Es gilt vielmehr,
daß die Ausgewählten nun in besonderen Anlemschulen auf charakterologische Eigenschaften,
die wie Fleiß, Ausdauer, Mut u. s. f. ein wichtigstes Bestimmungsstück der Berulstüchtigkeit
bilden, erkennbar werden, und daß auf besondere berufliche Leistungen hin die Arbeiter in
einem Übungskurse eine Einschulung bekommen. Nebenbei leistet diese Anlemschule auch
noch betriebsorganisatorische Vorteile. Für die praktische und psychologische Pädagogik
bedeutungsvoll sind in dem Buch vor allem die Abschnitte über die Fragemethode und das
beobachtende Verfahren.
Leipzig. Otto Scheibner.
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Literaturbericht
395
Dr. C. von Heydebrand, Gegen Experimentalpsychologie und -pädagogik. Stuttgart
1921. Der kommende Tag-Verlag. 30 S. 2,40 M.
Es würde dieser kleinen Schrift; viel zu viel Bedeutung zugemessen, wenn man sich mit
ihr am wissenschaftlichen Orte auseinandersetzen wollte. Denn ganz im Banne anthroposo¬
phischen Glaubens stehend, wagt ihr Verfasser sich an die Beurteilung und Verurteilung eines
Wissenschaftsgebietes in völlig unwissenschaftlicher, fast mittelalterlich anmutender Haltung.
Die Grundeinstellung gewinnt er in Rudolf Steiners Lehre. Dogma ist ihm dessen Satz: „Daß
ein Mensch nur ein Beobachtungsgegenstand für uns sein könnte, dieser Gedanke darf uns nicht
einen Augenblick erfüllen“. Und daß nun — wie in der Schrift kühn behauptet wird — der
experimentellen Pädagogik das Gefühl heiliger Scheu vor allem Menschlichen fehle, darin soll
der tiefste Grund liegen für das, was verderblich ist an ihrem Wesen und Wirken: „Ihre
Forscher haben vergessen und berücksichtigen nicht, was als Verborgenstes, Allerheiligstes
unantastbar in jedem Menschen ruht, auch schon im werdenden Menschen nach Offenbarung
ringt und nur noch in künstlerischer Anschauung intuitiv, von innen herkommend, erfaßt
werden kann“ (S. 29). Meumanns „Vorlesungen“ und sein „Abriß“, die seinerzeit der Abschluß
einer ersten Entwicklungsperiode der experimentellen Pädagogik waren, aber schon länger nicht
mehr als führend gelten können, müssen nun herhalten, als Beleg zu dienen für die „gefahr¬
vollen Tendenzen“ der experimental psychologischen Forschung, Tendenzen, die — wenn ihnen
gefolgt wird — „die moderne Pädagogik in einen Abgrund hinunterreißen und lebendige
Kinderseelen unter Steinen bei Skeletten und Gespenstern begraben“ (S. 30). Es werden hierbei
als Beweisstücke einzelne Gedanken und Beispiele Meumanns aus dem sinngebenden Zusammen¬
hänge seiner gesamten Darlegungen herausgerissen — für die Zwecke der Kritik sehr geschickt
gewählt — und ihnen die anthroposophische Weisheit gegenübergestellt. Einen „betrübenden
Eindruck auf die kinderliebenden Beschauer“ macht z. B. eine Abbildung aus Meumanns Abriß :
„Ein kleiner Schuljunge sitzt vor einer Trommel, die sich mit Hilfe eines elektrischen Apparates
langsam dreht und bespannt ist mit einem Papierstreifen, auf dem sinnlose Silben stehen“, und
„in einem gleichmäßigen Tempo erscheint (lern Kinde eine Silbe nach der anderen durch einen
Spalt“. Von anderen Untersuchungen wird behauptet, sie enthielten „lauter psychologische
Selbstverständlichkeiten“ (S. 20). „Man hat bei den experimentellen Forschern leicht das Gefühl
von Wesen, die von irgendeinem Orte des Weltenraumes, wo es keine Kinder gibt, auf die
Erde gekommen sind und sich plötzlich den fremdartigen kleinen Geschöpfen zwecks wissen¬
schaftlicher Erforschung gegenüber befinden, an denen sie nnn die seltensten Dinge entdecken
und in ein großes Notizbuch schreiben.“ Man halte nun aber, so wird bedeutend gesprochen,
gegen Meumanns Schriften etwa Rudolf Steiners Buch „Erziehung des Kindes“, beispielsweise
in der Lehre vom „Ätherleib **, der sich im wesentlichen vom Zahnwechsel bis zur Geschlechts¬
reife entwickelt (S. 28). Genug von solchem Gerede! — Zuletzt noch wird versucht, die experi¬
mentelle Pädagogik auf den rechten Weg zu bringen: sie soll sich „befruchten lassen von dem,
was aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft ihr erfließen kann“. Es ist ihr guter
wissenschaftlicher Geist, der die experimentelle Pädagogik — die sich übrigens ihrer Grenzen und
Unzulänglichkeiten ebenso begrüßt ist wie der großen Bedeutung ihrer Methoden und Ergebnisse —
bewahren wird, dieser fragwürdigen Einladung zu folgen.
Leipzig. Otto Scheibner.
Charlotte Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und
Theorie der psychischen Pubertät Jena 1922. Fischer. 103 S.
Das Werk weist m. E. vier Vorzüge aut Zuerst: Die zerstreut liegende Literatur, die Psycho¬
logen, Pädagogen, Mediziner, Theologen und Dichter von einander isoliert über die Pubertäts¬
erscheinungen auf den Büchermarkt brachten, wird gesammelt, bewertet und gesichtet Dann
umreißt Ch. Bühler zunächst im Sinne gegenwärtiger psychologischer Forschungsweise überhaupt
einmal die biologische Grundlage sowohl der körperlichen, als auch seelischen-Pubertät. Damit
wird auch in die Psychologie der Pubertät der Gedanke getragen, der eine erfolgreiche Deutung
sichert. Pubertät ist nicht nur körperliche, sondern *auch seelische Ergänzungsbedürftigkeit.
Vom Standpunkt des Jugendlieben begrenzt sie charakteristische Perioden der seelischen Puber¬
tät: die der Verneinung und der Bejahung, für die sie die von Schopen gebrauchten Termini
Pubertät und Adoleszenz wählt, denen eine Vorperiode sowohl körperlich, als auch seelisch
vorau8geht Mit dem Herausheben dieser Vorperiode, die wir auf Grund eigner Materialsamm¬
lung bestätigen, differenziert Ch. B. die instinktive Entwicklungsreihe, die Karl Groos an einer
Analyse der Instinkte des Reifenden für die psychischen Erscheinungen der Pubertät fest¬
legte: Das sexuelle Bedürfnis, dem psychisch das Annäherungsbedürfnis (Kontraktationstrieb)
entspricht, das Bedürfnis zur Selbstdarstellung, der Gegenzug der Scham und der Kampftrieb.
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Literaturberich
Diese glückliche Sichtung und Gruppierung der bisher scheinbar unentwirrbaren Pubertät»-
erscheinungen gibt Fingerzeige für die biologisch-psychologische Forschung und Deutung,
die nun Ch. Bühler richtig weiter herausarbeitet. Ferner wird der Rhythmus der Entwick¬
lung in den Einzelperioden und in ihrer Folge aufeinander herausgehoben. So ist ei
typisch, daß jeder Phase der Entwicklung eine Lösung vorausgeht und eine Zeit der Latenz
folgt Es scheinen mir die Gesetze der jeder Assoziation und Assimilation vorangehenden
Dissoziation und Dissimilation erkennbar, denen biologisch Energiesammlung folgt Hier sehe
ich die gleiche Rhythmisierung wie in der frühen Kindheit Und damit hebe ich den letzt« *
Wert der Analyse hervor, daß die Verfasserin Vergleiche und Beziehungen zur frühen Kindheit,
der ersten, ähnlich gewaltigen Entwicklungsperiode des Individuums herstellt An der Hand
der gewonnenen Struktur untersucht die Verfasserin die Entwicklungserscheinungen des Instinkts,
der Gefühle, des Willens und des Intellekts. Am schärfsten und vollendetsten ist ihre psycho¬
logische Darstellung im Kapitel über den Willen, wo ich z. B. die Parallele in der Trotzperiode
zwischen früher Kindheit und Pubertät besonders erwähne, psychische Erlebnisse, in denen
Konträrsuggestion und das Humesche Problem eine Rolle spielen. Im Kapitel über Gefühl und
Intellekt arbeitet Ch. B. scharf die Perioden der Verneinung und Bejahung, der Lösung und
Neuerschließung heraus. Dort ist es besonders „der Schwarm 11 , den sie psychologisch basiert,
und hier wird an der Entwicklung des Ichbewußtseins die Rhythmik der Verneinung und Be¬
jahung, der Vereinsamung und des Freundschaftsuchens — „Idealhabens“ — begründet. Der
Wendung nach innen folgt in der Adoleszenz der Anschluß an die soziale Umwelt, die Auf¬
nahme ihrer Ideenziele und Gesetze. Aus allen psychologischen Hinweisen und Fingerzeigen
sieht man, daß die Verfasserin auch in diesen Abschnitten später zu einer gleichen abgeschlos¬
senen, mit der frühen Kindheit vergleichenden Darstellung dieser seelischen Fähigkeiten kommen
wird wie in Kapitel 5. Im 5. und 6. Abschnitt linden wir Prinzipielles über Ethik und Religion
und über Kunst- und Literaturverständnis der Jugendlichen. Die religiösen Probleme treten als
Probleme des Glaubens und Wissens in der Pubertät und als Weltanschauungsproblem mit aus¬
gehender Adoleszenz auf. Die Deutungen sind beachtenswert für den Pädagogen, und wir empfeh¬
len sie z. Z. im Streite um den Religionsunterricht sowohl den Vertretern der Kirche, als auch
denen der Schule zum Durchdenken. Die früher herausgearbeiteten drei Stufen des Literatur¬
bedürfnisses des Kindes: dem Struwelpeteralter, dem Märchenalter und dem Robinsonalter, fügt
die Verfasserin im 6. Abschnitt für das Pubertätsalter das Heldenalter als 4. Stufe an, die sie
scheidet in die Seite der Tatenlust des Wachsenden und Lebenshungrigen und die der stillen
Sehnsucht erwachenden Liebesbedürfnisses; die 2. löst die 1. ab; beim Mädchen biologisch be¬
gründet früher als beim Knaben.
Damit habe ich im Rahmen einer Besprechung schon eine Fülle psychologischer Deutungen
und Erkenntnisse angeführt, die Ch. Bühler bietet und die zum eignen Nachlesen reizen sollen.
Man könnte noch einwenden, daß Verfasserin ihre Erkenntnisse an Jugendlichen höherer Kultur¬
stufe gewann und von dort aus nicht über diese wichtige Entwicklungsperiode des primitiven
Pubeszenten urteilen dürfe, was sie übrigens treffend tut. Dazu möchten wir betonen, daß es
sich um Herausarbeiten von Typen handelt und vom biologischen Standpunkt aus sich bei jedem
Individuum diese Perioden finden, wenn auch durch Vererbung, Individual- und Milieubeein¬
flussung Hemmungen, Verschiebungen, Verlängerungen der Perioden, Änderung des Rhythmus
in der Phasenfolge eintreten werden und müssen. Es bleibt der Einzelforscbung überlassen,
an der Hand der von Ch. Bühler vorläufig gegebenen biologisch-psychologischen Struktur der
seelischen Pubertät auch aus dem Leben der primitiv Kultivierten — um da6 häßliche Wort
Proletarier zu vermeiden — Material zu sammeln und zu deuten. Wie sich körperlich eine
Typisierung ergab, wird sie zweifellos auch psychisch zu finden sein; beachtenswert erscheint
mir noch, dann besonders auf das Abnorme — das Psychopathologische zu achten, um auch
hier zu einer scharfen Abgrenzung von dem zu kommen, was in der Sturmzeit oft als patholo¬
gisch erscheint, an sich aber nur eine überwertige Steigerung, Verzerrung einer seelischen Er¬
scheinung ist, die biologisch und physiologisch in körperlichen Strukturverhältnissen normal
begründet ist. Endlich sei noch erwähnt, daß die pädagogischen Schlußfolgerungen von
Ch. Bühler beachtenswert sind.
Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.
Dr. H. Hug-Hellmuth, Aus dem Seelenleben des Kindes. Eine psychanalytische Studie.
2., verm. Aufl. Leipzig—Wien 1921. Deuticke. 164 S.
Man muß schon zustimmen, wenn die Verfasserin behauptet, daß sich in unseren kinderpsycho¬
logischen Darstellungen solche Erscheinungen, die mehr oder minder sicher der Sexualentwicklung
zugehören, nicht behandelt finden und damit manche Züge des frühkindlichen Seelenlebens
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Literatur bericht
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unaufgedeckt geblieben und andere in falsche Auffassungen gekommen sind. Max Döring
bat Jüngst auf diese Lücke mit allem Nachdruck htngewiesen. Hinwiederum schlägt Hug-Hellmuth
nach der anderen Seite über alles Maß hinaus. Ausgehend von der unhaltbaren Meinung, daß
das sexuelle Moment „in der Kindheit zumindest keine geringere Rolle spielt als im Leben des
Erwachsenen“, durchblickt sie in dieser Einstellung die bekannten kinderpsychologischen Material-
Sammlungen von Preyer, Shinn, Scupin, Sully, Stern u. a., fügt eigene Beobachtungen hinzu und
deutet nun, ganz in den Lehren Freudsbefangen, unbesonnen darauf los. Sie nennt diese ihre un¬
bekümmerte Kühnheit „psychoanalytische Offenheit“ Trotz aller Einseitigkeit aber hat das Buch,
das sich in die beiden Abschnitte der Säuglingszeit und der Spielzeit gliedert, doch die Wirkung
gehabt, den Blick der Kinderpsychologen für ungebührlich vernachlässigte Tatsachen der frühen
Entwicklung zu schärfen, ln den acht Jahren zwischen der ersten und zweiten Auflage hat sich
ja auch der Sturm der hohnvollen Entrüstung, mit dem es bei seinem Erscheinen empfangen
wurde, gelegt, und es ist ihm der Erfolg der Übersetzung ins Englische geworden.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Fritz Klatt, Autoerotik und* Gemeinschaftserotik in den ersten Stufen der
Jugend. Zeitschr. f. Sexualw. 8. Bd. S. 241 ff.
In enger Anlehnung an Hans Blüher und Wyneken versucht der V., die jugendliche Ent¬
wicklung bis etwa zum 20. Lebensjahr auf die Formel zu bringen: Von der naturgegebenen
Enge der Autoerotik (Onanie, Onaniebtinde) über die Aufweitung in der gleichgeschlechtlich
gerichteten Gemeinschaftserotik (Jugendbewegung, Emanzipation vom selbstbefriedigenden „Zweck“,
Feindschaft gegen Familie und anderes Geschlecht) zur selbstgewählten Enge heterosexueller
Einzelliebe.
Löbau i. Sa. Heinz Burkhardt
Dr. Julius Moses, Konstitution und Erlebnis in der Sexualpsychologie und
-pathologie des Kindesalters. Zeitschr. f. Sexualw. 8. Bd. S. 305ff.
Wenn auch die Forschungen der Steinachschen Schule über die Bedeutung des endokrinen
Gewebes für die geschlechtliche Entwicklung und Betätigung die Konstitution als das ma߬
gebliche für das normale und anormale Sexualleben des Kindes erscheinen lassen, so darf man
doch, zur Vorsicht gemahnt durch die zahlreichen konträren Ergebnisse anderer Untersuchungen
und durch die praktische Erfahrung, den richtunggebenden Einfluß besonders des ersten Sexual¬
erlebnisses nicht unterschätzen.
Löbau i. Sa. Heinz Burkhardt.
Hoffmann, Dr., Jakob, Geistlicher Rat und Oberstüdienrat, Handbuch der Jugendkunde
und Jugenderziehung. 2. und 3. vollständig neu bearbeitete Auflage. XXXIV. Frei¬
burg i. Br. 1922. Herder. 416 S. 82 M. u. Teuerungszuschlag.
Das Werk will über die Eigenarten der Jugendlichen — den Begriff der Jugend ein¬
geschränkt auf die Geschlechtsreifezeit — im leiblichen, geistigen, gefühlsmäßigen und reli¬
giösen Lebenskreis unterrichten und auf Grund der psychologischen Tatsachen Anleitungen zur
Erziehung der Jugendlichen dieser Altersstufe bieten. Daß uns die jugendkundlicben Forschungen
bisher so wenig Aufschluß über den wichtigsten Entwicklungsabschnitt, die Reifezeit gaben,
wurde von allen Erziehern und Lehrern als schmerzliche Lücke empfunden; daher begrüßte
man dankbar die Werke von W. Hoffmann und Charlotte Bühler, die zum erstenmal die
Reifezeit, nicht das Schulalter, zum Gegenstand psychologischer Untersuchungen hatten. Und
nun ein neues, umfangreiches Werk, das nicht allein die Psychologie, sondern auch die Erzie¬
hung der reifenden Jugend darstellen will. Leider erfüllt es nicht die hochgespannten Er¬
wartungen, mit denen man an das Buch herantritt.
Daß es auf einem einseitig katholischen Standpunkt steht, würde man ihm durchaus nicht
zum Vorwurf machen, wenn sich bei Hoffmann wie z. B. in den Werken des Jesuitenpaters
Lindworsky katholische Weltanschauung mit wissenschaftlicher Sachlichkeit vertrüge. Dem ist
nicht so; schon ganz äußerlich zeigt sich die Einseitigkeit in der überwiegenden Heranziehung
katholischer Autoren und katholischer Fachzeitschriften (z. B. Pharus, katechetiscbe Blätter usw.),
während oft hervorragende nichtkatholische Autoren und sehr bedeutsame Veröffentlichungen
vor allem in den Zeitschriften „für päd. Psych.“ und „für angew. Psych.“ nicht berücksichtigt
werden; innerlich dadurch, daß als wichtigstes, vielfach einziges Bildungsmittel des Gefühls¬
und Willenslebens die katholische Religion hingestellt wird und daß der Hinweis auf die
religiöse Bildung uns über alle psychologischen und pädagogischen Schwierigkeiten hinweg¬
helfen soll. Ohne den Wert der religiösen Erziehung und Belehrung irgendwie bestreiten zu
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Literaturbericht
wollen, müssen wir doch mit Rücksicht auf die gegebenen jugendpsychologischen Tatsachen
betonen, daß uns ein derartiges pädagogisches Allheilmittel weder in der Religion, noch z. B.
in Comenius, Naturgemäßheit, noch in irgendeinem anderen hochgepriesenen Bildungsverfahren
zur Verfügung steht Wäre dies der Fall, dann wäre der Erzieherberuf ebenso ideal als leicht
und erfolgreich. Gewiß hat die katholische Weltanschauung den unschätzbaren Vorteü, daß
von dieser Grundlage aus sichere Richtungslinien gezogen und klare, ideale Ziele aufgestellt
werden können, was man z. B. von einer monistischen Weltanschauung kaum behaupten
dürfte; nur kommen wir durch das Verfahren Hoflmanns wieder in den Bannkreis der alten
spekulativen Pädagogik, die Ziele aufstellte, ohne zu fragen, ob diese mit den Entwicklungs¬
tatsachen in Einklang gebracht werden können.
An diesen überwundenen Standpunkt gemahnt übrigens noch eine andere, viel bedenk liehe«
Tatsache: Die psychologischen Anschauungen des Verfassers. Hoffmann verwendet die altes
Vermögensbegriffe, als ob die Psychologie über die Ansichten Herbarts, ja vielfach der Scholastik
nicht hinaus wäre. Begriffsbestimmungen wie: „Während die Phantasie das Vermögen der
veränderten Wiedergabe des Aufgenommenen ist, kann das Gedächtnis das der unveränderten
Reproduktion genannt werden 1 *, oder ,,Die Aufmerksamkeit ist die Sammlung der psychischen
Kraft auf Bewußtseinsinhalte“, oder „Gemüt ist alles, was im einzelnen die besondere Bedin¬
gung für Gefühle und Stimmungen bildet“, usw dürften in einer Jugendpsychologie des 20. Jahr¬
hunderts nicht Vorkommen. Zudem läßt es der Autor nicht bei diesen sonderbaren Definitionen
bewenden, sondern leitet aus ihnen oft genug Behauptungen ab, die kein Jugendpsychologe
anerkennen möchte.
Das Ausgehn von einer ganz bestimmten Weltanschauung und die Ableitung der Erziebungs-
und Bildungsziele aus dieser enthebt offensichtlich den Verfasser der Aufgabe, sich über Ent¬
wicklungsgesetze, über die Grundfragen der Bildsamkeit des jugendlichen Geistes, über das
grundsätzliche Verhältnis zwischen Vererbung und Umwelt, zwischen Fremdbildung und Selbst-
büdung, über die Bedeutung der „Lebensformen“ für die Bildungsfähigkeit des einzelnen
Jugendlichen usw. Gedanken zu machen. Daß wir aber solche grundsätzliche und für alle
erzieherische Beeinflussung grundlegenden Erörterungen in einem wissenschaftlichen Handbuch
der Jugendkunde und Jugenderziehung nicht vermissen dürften, braucht kaum begründet zu
werden. Es genügt nicht, zu behaupten, die Phantasie, das Denken, das Gefühlsleben, der
Wille usw. müssen gebildet werden, wir müssen auch wissen, wie weit die einzelnen Fähigkeiten
überhaupt bildungsfähig sind und wie weit Unterschiede in der einzelpersönlichen Bildsamkeit
gegeben sind je nach den Entwicklungsformen, in denen die angeborenen Anlagen beim Einzel¬
wesen auftreten. Es genügt nicht, zu fordern, dieses und jenes Ziel müsse die Erziehung der
Phantasie, des Willens usw. erreichen; wir müssen auch nachweisen, daß das gegebene Ziel
mit Rücksicht auf die Vererbungs- und Entwicklungstatsachen überhaupt erreichbar ist Auf
die Untersuchung aller dieser grundsätzlichen Fragen der Büdsamkeit verzichtet der Verfasser
vollständig, so daß wir auch von hier aus wieder zu einer bloß normativen Pädagogik kommen,
die oft genug nur scheinbar ihre Berechtigung durch den Hinweis auf jugendkundliche Tat¬
sachen erweisen will.
Endlich der gesamte Aufbau des Buches. Ich vermisse manchmal die Planmäßigkeit der
Gliederung. Die Frage der Koedukation z. B. wird im Kapitel „rationales Leben“, bei „geschlecht¬
licher Erziehung“ und überdies in einem eigenen Abschnitt der „emotionalen Lebensphäre* 1
behandelt, ebenso Tanz, Nikotin, Alkohol, Kino an mehreren verschiedenen Stellen. Ferner sind
wir bezüglich der Wichtigkeit der einzelnen Abschnitte mit dem Verfasser nicht gleicher
Meinung. Daß er der religiösen Entwicklung und Erziehung einen breiten Raum gönnt, ist
selbstverständlich, und wir können ihm dafür dankbar sein, da die Jugendkunde gerade diese
Seite des jugendlichen Seelenlebens bisher recht stiefmütterlich bedacht hat Einen fast ebenso
breiten Raum nimmt aber die Darstellung der geschlechtlichen Gefühle und der geschlechtlichen
Erziehung ein, während daneben die wichtigsten intellektuellen Fähigkeiten, die anderen Gefühle
und selbst die WUlensbildung sich mit einigen Seiten begnügen müssen. Gewiß spielt das
Erwachen der Geschlechtsgefühle in der Reifezeit eine wichtige Rolle, aber ich meine, es ließen
sich auch über die anderen Seiten des jugendlichen Seelenlebens sehr wichtige und beachtens¬
werte Tatsachen Vorbringen, die der Verfasser wegen der einseitigen Bevorzugung der beiden
genannten Entwicklungserscheinungen recht flüchtig behandelt hat.
Wenn wir ein Werk trotz der schwerwiegenden Einwände, die wir dagegen erheben müssen,
einer eingehenderen Kritik unterziehen und es nicht in wenigen verurteilenden Worten abtun,
so soll damit gesagt sein, daß es sich dennoch um eine beachtenswerte literarische Leistung
handelt, die mit der notwendigen kritischen Vorsicht gelesen, in manchen Partien Neues und
Wertvolles bietet. So ist, wie schon erwähnt, der Abschnitt über religiöse Entwicklung und
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Literaturbericht
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Erziehung gut gelungen — auf gewisse Einzelheiten wie z. B. Zwang zum Besuche des Gottes¬
dienstes und zum Empfange der Sakramente, in denen wir mit dem Verfasser nicht überein¬
stimmen, können wir hier nicht eingehen —, aber auch das, was der Autor über Freiheitsdrang,
sittliche Selbständigkeit, Ehrgefühl der Jugendlichen, Auflehnung gegen die Autoritäten sagt,
bedeutet einen Fortschritt in der Erkenntnis des jugendlichen Gefühlslebens. Im Kapitel
„Heilpädagogik“ bringt der Abschnitt „Selbstmord Jugendlicher“ manches Beachtenswerte zum
Verständnis dieser pathologischen Erscheinung.
Zur ersten Einführung halten wir Hoffmanns Handbuch der Jugendkunde für ungeeignet,
da es im ungeschulten Leser eine ganze Reihe irriger jugendpsychologischer Ansichten begründen
könnte; dem geschulten Fachmann jedoch vermag es in manchem Belange dankenswerte
Anregungen zu gewähren.
Graz, Otto Tumlirz.
Dr. Rudolf Lämmel, Intelligenz-Prüfung und Psychologische Berufsberatung.
Zürich—Meilen 1922. Verlag des Verfassers. 157 S.
Außer durch einen klugen Gedanken Über Intelligenzprüfung und psychologische Berufs¬
beratung und außer durch einige neue Tests in dem Untersuchungsplan für die Begabungs¬
prüfung bei Schulkindern interessiert dies Buch durch ein anschauliches Verfahren, die Ergeb¬
nisse einer Begabungsuntersuchung darzustellen. Der Verfasser empfiehlt — ähnlich wie es in
den psychischen Profilen geschieht — die Herstellung von Schaubildern, die er Ingenogramme
nennt Es sind dies flächenhafte Darstellungen, aus denen mit einem Blicke ersichtlich wird,
wie die Begabung eines Prüflings positiv oder negativ vom Durchschnittlichen abweicht Der
Verfasser unternimmt zunächst mit einem sehr reich ausgebauten Testsystem die Untersuchung
gleichaltriger Kinder und gewinnt, indem er für jeden der Tests — sie sind gegliedert in die
Gruppen: Gedächtnis; Technische Begabung; Aufmerksamkeit und Konzentration; Kombination
und Phantasie; Künstlerische Veranlagung; Urteil und Kritik; Allgemeine geistige Reife; Blick,
Beobachtung, Zeugnistreue — den Mittelwert und die lineare Streuung als Radien in bestimmtem
Verfahren auf die Fläche bringt, zunächst ein „Ingenogramm des Milieus“. In dieses Schaubild
wird nun durch Eintragung der für jeden Prüfling erhaltenen Einzel werte der Linienzug
gewonnen, der das „persönliche Ingenogramm“ darstellt und die sichtbaren Abweichungen
vom Durchschnitt erkennen läßt Es ist leichtverständlich, wie sich durch Typisierung dann
leicht auch bestimmte psychische Berufsverfassungen mittels des Ingenogramms gewinnen lassen
und wie eine Reihe von Ingenogrammen des gleichen Prüflings auf verschiedenen Altersstufen
auch der Biographie dienstbar werden kann. Der Verfasser ist sich selbst bewußt, daß es bis
zur praktischen Verwendung seiner Vorschläge aber so umfassender Untersuchungen bedarf, wie
sie der Einzelne allein nicht zu leisten vermag.
Leipzig. Richard Tränkmann.
Paul Österreich, Strafanstalt oder Lebensschule. Erlebnisse und Ergebnisse zum
«Thema*. Allerlei Weckrufe und Denkhilfe für Lehrer, Eltern, „Sonstige“ und „Instanzen“.
Karlsruhe i. Br. 1922. G. Braun. 176 S. 80 M.
' Ober Schulstrafen ist in der überlieferten Pädagogik weniger gern und tief nachgedacht
worden als Über andere Erziehungsfragen; auch inmitten der starken pädagogischen Bewegung
unserer Zeit blieben sie gegen ihre Bedeutung im Hintergrund der Erörterungen. Mit dem
leidenschaftlichen Drängen, das sie kennzeichnet, haben nun die entschiedenen Schulreformer
das Problem aufgegriffen, und ihr Vorstand hat den obersten Schulbehörden der deutschen
Länder eine Denkschrift unterbreitet, die neben Grundsätzlichem eine lange Reihe einzelner
Anregungen und Vorschläge darreicht. Mit dieser Eingabe steht das Buch Österreichs in
Zusammenhang. Der Verfasser hatte sich an weitere Kreise mit der Bitte gewandt, die Eingabe
zu stützen. Aus den Antworten wurde dann das Buch gefügt. Vorliegend kommen Schul¬
leute — den verschiedensten Schularten entstammend, vor allem aber der höheren Schule —
zu Wort Unter sie mischen sich aber auch u. a. Ärzte, ein Jurist und — ein Primaner.
Für die Natur des Gegenstandes „Schulstrafen“ ist es bezeichnend, wie die Mitarbeiter zu
allermeist nicht in ruhiger, abgeklärter Erwägung — „in wissenschaftlicher Haltung“ —, sondern
zumeist aus einer Stimmung, einer Sehnsucht, mitunter in leidenschaftlicher Erregung sich des
Problems bemächtigen. So tritt an die Stelle der erwarteten Studie vorwiegend das Feuilleton —
manchmal recht belangslos —, und anstatt einer allgemeinen Behandlung der Frage erörtert
man in kasuistischem Verfahren einzelne konkrete Fälle, meist aus eigener Erfahrung. Selbst
ein Denker und Schriftsteller wie Kerschensteiner, dessen Schriften geradezu gekennzeichnet
sind durch die wissenschaftliche Strenge, mit der sie Grundsätze und allgemeine Gedanken
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Literabirbericht
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herausarbeiten, beginnt seine Ausführungen, indem er vier Straffälle eigenen Erlebens hinstellt —
übrigens mit einer Meisterschaft reizvollen, humorvollen Schildems — und führt dann in freierer
Form seine Gedanken weiter zu dem schönen Schluß: „Strafe so, wie es dich die padagogteehtfa
Liebe lehrt“, womit wir in der pädagogischen Erkenntnis durch Um nicht eben weiter gefördert^
sind. „Wie man straft“, so bekennt er und wir stimmen ihm zu — „das kann uns gra~
und gar nur die eigene, reife Seele sagen“! (S. 15.) Selten berührt wird in den bunte* rj
Meinungen des Buches der wichtige Punkt, wie aus der herkömmlichen gebundenen Unter
richtshaltung der Anlaß zum Strafen kommt und wie schon durch eine Wandlung der Unter
richtsweisen in der Art der Arbeitsschule, die dem Schüler zu freier geistiger Tätigkeit ver
helfen will, das Problem in andere Beleuchtung gerückt wird. Bezeichnend, daß unter <ta
Mitarbeitern gerade die Vertreter der Volksschule hierauf hin weisen.
An psychologischer Ausbeute bietet das Buch nicht soviel, als man vermuten durfte»
Es sei als wertvoll in dieser Richtung aber verwiesen auf Siegfried Kaweraus Beitrag: „Strafe
und Minderwertigkeitsbewußtsein“ und auf die Ausführungen des Arztes Bruno Saal» „Ob*
Prügelstrafe“. „ f
Leipzig. Otto Scheibner.
Kerschensteiner, Georg, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung. 4. Anfl.
Leipzig 1919. Teubner. 160 S. Preis 3,50 M. und Teuerungszuschläge.
Bei der Neubearbeitung des vorliegenden Büchleins konnte der Verfasser nicht stillschweigend
an den staatlichen Umwälzungen Vorbeigehen, die Bich in den letzten Jahren vollzogen haben.
Was der alte monarchische Staat zur Not entbehren konnte, ist im neuen Volksstaat unerlä߬
liche Notwendigkeit geworden, die Erziehung aller Teile des Volkes zum staatsbürgerlichen Emp*
finden, Denken und Handeln. Allerdings ist der wissenschaftliche Begriff der staatsbürgerlichen
Erziehung unabhängig von der Jeweiligen Form des Verfassungsstaates, unabhängig auch von
den Staatsideen der einzelnen politischen Parteien. Diesen absoluten Begriff sucht Kerscheo-
steiner festzulegen, und nach Ablehnung verschiedener fehlerhafter Begriffsbestimmungen gelangt ^
er zu dem Ergebnis, daß das Ziel der staatsbürgerlichen Erziehung die Verwirklichung ein*:;
sittlichen Gemeinwesens sei und die Aufgabe dieser Erziehung, die Bürger dem Ideal einer]
sittlichen Gemeinwesens, d. h. einer Gemeinschaft, in welcher die staatliche Rechtsordnung
keiner Zwangsgewalt mehr bedarf, näher zu führen. Die staatsbürgerliche Erziehung ist ziem¬
lich gleichbedeutend mit der Erziehung zu den Tugenden der Rücksichtnahme und der Hingabe
an eine höchste sittliche Idee. Gerechtigkeit und Billigkeit sind die Grundlagen des Staate¬
lebens, und die beiden staatsbürgerlichen Haupttugenden sind der vom Sinn für Gerechtigkeit
getragene moralische Mut und das vom Gefühl der Billigkeit geleitete selbstlose Wohlwollen.
Da für den Verfasser staatsbürgerliche Erziehung bis zu einem gewissen Grade mit Charakter¬
erziehung zusammenfällt, so entwickelt er in der praktischen Anwendung seiner Grundanschaur
ungen auf die höheren und niederen Schulen Gedanken, die er in ähnlicher Form in seiner
vortrefflichen Schrift „Charakterbegriff und Charaktererziehung“ niedergelegt hat und die im
Wesen in die Ideen der freien Arbeitsgemeinschaft und der Selbstregierung einmünden. Die
Aufgabe der staatsbürgerlichen Erziehung kann aber trotz Gewöhnung an gemeinsame Arbeit
und Einordnung in eine Gemeinschaft, trotz Klärung der sittlichen Einsicht nicht gelöst werden
ohne Erziehung zur Ehrfurcht, ohne Erweckung des Nationalgefühls, ohne Schonung des be¬
rechtigten Individualismus des Einzelnen und der Parteien.
Kerschensteiners gedankenreiche Schrift, die interessante Vergleiche mit Foersters Werk
über staatsbürgerliche Erziehung zuließe, läßt vor allem eine sehr wichtige Frage unbeantwortet;
Ist unsere deutsche Jugend ohne weiteres einer Einwirkung im Sinne seiner staatsbürgerlichen
Erziehungsgedanken zugänglich? Die Seitenblicke, die er wie auch Förster auf englische und
amerikanische Verhältnisse wirft, das häufige Mißlingen der Versuche mit der Schulgemeinde
und Selbstregierung in deutschen und deutschösterreicbischen Schulen lassen erkennen, daß
die geistige Einstellung der deutschen Jugend, aber auch der Erwachsenen, eine wesentlich
andere ist als jene der englischen Jugend. Es wäre daher dringend notwendig, das Problem
einmal auch von der anderen Seite zu fassen und zu untersuchen, wie unsere Jugend sich mit
den Ideen der Gemeinschaft und des Staates abfindet und wie sie allmählich in das Staatslebea
hineinwächst. Durch diese Jugendpsycbologische Untersuchung würden Kerschensteiners Begriffs¬
bestimmungen und Zielsetzungen erst ihre Bedeutung für die Erziehungstätigkeit erlangen.
Graz. Otto Tumlirz.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik.
Von Woldemar Oskar Döring.
Wer die mannigfaltigen Strömungen aufmerksam verfolgt, die sich jetzt
innerhalb der Pädagogik als Reformbestrebungen immer machtvoller
durchzusetzen versuchen, dem wird nicht entgehen, daß sie alle aus
einem gemeinsamen Quellpunkte entspringen: aus einem veränderten
Begriffe der menschlichen Persönlichkeit. Wir mögen uns
dagegen sträuben, soviel wir wollen, wir müssen doch zugeben: die
alte Schule, so wie sie heute noch immer im Ganzen besteht, baut sich
in ihrem Betriebe auf einem mechanistisch orientierten Persönlich¬
keitsbegriffe auf. Nicht das Individuelle an den Persönlichkeitswerten,
sondern das Vergleichbare wird in den Vordergrund gestellt, nicht das
Qualitative, sondern das Quantitative, nicht das nur individuell Charak¬
terisierbare, sondern das generell Zensierbare. Die Zensur ist das
Symbol dieser mechanistisch gefärbten Auffassung der menschlichen
Persönlichkeit, und die einseitige Betonung und Bewertung des Wissens
ist ihre Folge.
Dagegen machen nur die Schulreformer Front. Sie sagen sich los
von der alten Wissensschule. Sie haben erkannt, daß das bloße Wissen
etwas Sachartiges an sich hat, das sich zwar der mechanistischen An¬
schauung bequem unterordnet, das insbesondere einer quantitativen
Beurteilung zugänglich ist, das aber für die menschliche Persönlichkeit
an sich sehr wenig, viel zu wenig bedeutet. Sie fordern statt der
Kenntnis- und Gedächtnisschule die Erlebnisschule, die dazu helfen
soll, daß eine allseitige Entwicklung der kindlichen Anlagen möglich
werde, daß insbesondere auch das Wissen zum wahrhaften Erleben
gestaltet werden könne. Man braucht nur den Verlauf der Reichsschul¬
konferenz verfolgt zu haben, braucht die Leitsätze zu durchdenken, die
den einzelnen Ausschüssen eingereicht, bzw. von ihnen aufgestellt worden
sind: in ihnen allen, soweit sie von fortschrittlichem Geiste erfüllt sind,
ist als treibendes Motiv eine neuartige Auffassung der menschlichen
Persönlichkeit wirksam.
Welches ist nun dieser neue Persönlichkeitsbegriff? Wie soll man
ihn klar und deutlich in seinen wesentlichen Merkmalen erfassen und
entwickeln? Wer das versuchen wollte, der würde gar bald zu dem
Ergebnisse kommen: hier handelt es sich um ein tiefgründiges philo¬
sophisches Problem, dessen Lösung zwar für die Pädagogik von der
allerrealsten Bedeutung ist, das aber nur im Rahmen einer geschlossenen
Weltanschauung gelöst werden kann. Denn gerade die schwierigsten
philosophischen Probleme sind im Persönlichkeitsbegriffe verankert.
Daß die mechanistische Weltanschauung eine befriedigende Lösung
des Persönlichkeitsproblems nicht geben kann, liegt in der Natur der
Persönlichkeit begründet, die wir eben als das Gegenteil des Sachlichen,
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 26
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
402
Woldemar Oskar Döring
des mechanistisch Auffaßbaren erleben. Der Mechanismus konnte uns
auf pädagogischem Gebiete nichts anderes bringen als die Wissensschule,
von der wir uns heute als von einer völlig unzulänglichen Einrichtung
so entschieden lossagen.
Hier kann uns nur eine teleologisch orientierte Weltanschauung helfen,
die Raum hat für zielstrebige Kräfte und die uns das Wesen des Persön¬
lichen, So wie wir es in uns erleben, aus dem ganzen Weltzusammen¬
hang zu erklären weiß. Und es ist ein bedeutsames Zeichen der Zeit,
daß gerade jetzt eine solche Philosophie, die von so vielen geistigen
Strömungen der Gegenwart mehr oder weniger klar bewußt gesucht
wird, im Entstehen begriffen ist. William Stern hat in seinem ersten
Bande „Person und Sache“ die allgemeine Ableitung und die Grund¬
lehre einer personalistischen Philosophie gegeben und hat sie weiter¬
geführt in seinem zweiten Bande: „Die menschliche Persönlichkeit“.
Und ich möchte glauben, daß kein denkender Pädagog die Sternschen
Bücher ohne innere Ergriffenheit lesen kann und ohne zu spüren, daß
hier zukunftsträchtige, für die Pädagogik ungemein bedeutsame Ge¬
danken erörtert werden. Im Laufe einer Arbeitsgemeinschaft mit jungen
Lehrern, der das Buch „Die menschliche Persönlichkeit“ zugrunde gelegt
wurde, zeigte sich mir recht deutlich, wie tief die Sternschen Gedanken¬
gänge in das Interessengebiet des Lehrers hineingreifen. Und so möchte
ich an dieser Stelle ganz kurz auf einiges hinweisen, was den Pädagogen
besonders angeht, ohne auch nur annähernd einen Begriff von der Fülle
der Anregungen geben zu können, die die Sternschen Bücher bieten.
Nach Stern ist die menschliche Persönlichkeit eine zielstrebige,
eigenartige und eigen wertige Vieleinheit, ein System zielstrebiger
Kräfte, ein Zweck- und zugleich ein Wirkenssystem. Sie hat die Tendenz
und zugleich die Fähigkeit, das System ihrer Zwecke zu verwirklichen.
Sie ist also gerichtet und gerüstet. Sie hat Anlagen und Eigenschaften,
die auf die Verwirklichung dieser Zwecke zielen.
Wie ungemein bedeutsam ist solch eine Auffassung für die Pädagogik!
Das Kind, das der Lehrer bilden will, ist ein System bestimmter eigen¬
artiger Zwecke, die nach Verwirklichung streben. Nicht von außen her
stößt die entwickelnde Kraft. Sie treibt von innen heraus. Sie steht
dem Lehrer in der Persönlichkeit des Kindes als eine Vieleinheit strebender
Kräfte, als Entelechie gegenüber.
Und jedes Kind ist eine Besonderheit, eine Individualität. Ohne Be¬
rücksichtigung dieses Eigenartigen, Individuellen wird der Lehrer das
Beste im Zöglinge gar nicht erfassen können. Und er muß die ent¬
wickelnden Kräfte im Kinde selber suchen. Denn jedes Kind ist nicht
nur in seinem Streben gerichtet, sondern zur Verwirklichung desselben
auch gerüstet. Der Lehrer kann dem Kinde nichts geben, was nicht
schon — in höherem Sinne — sein Eigentum war. Und er soll nichts
ins Kind verpflanzen wollen, was nicht schon keimhaft in ihm vor¬
gebildet ist.
Diese Respektierung des Besonderen in jedem einzelnen Zöglinge wird
auch weiterhin gefordert, weil ja — wie oben gesagt — jede Person
eine eigen wertige Vieleinheit darstellt. DaS ist auch eine Forderung,
die jetzt in den Köpfen der Besten lebt, und die bei Stern ihre phüo-
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I
Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik
403
sophische Begründung findet: in jedem Zöglinge das Besondere als ein
Eigenwertiges zu achten. Jeder Mensch hat eine ganz einzigartige, durch
keinen andern Menschen ersetzbare Aufgabe zu erfüllen. Jeder Mensch
hat seine besondere Mission. Und das ist gerade das höchste, das der
Pädagog überhaupt erreichen kann, daß er diese Mission seines Zöglings
erkennt und ihn in die Richtung ihrer Erfüllung stellt.
Dies alles sind ja nun aber die schon oben angedeuteten Gedanken
der Schulreformer. Sie springen — wie wir sehen — aus dem Grund¬
begriffe der Stemschen Philosophie, aus dem Personbegriffe.
Und das ist das Bedeutsame der Sternschen Leistung: dieser Person¬
begriff schwebt nicht in der Luft, ist nicht etwa für die Bedürfnisse
der Pädagogen zurechtgemacht. Er ist vielmehr zum Angelbegriff der
ganzen Weltanschauung erhoben, die deshalb mit Recht als per-
sonalistische Philosophie bezeichnet werden darf. Die ganze Welt
ist nach Stern ein Stufenreich von Personen, d. h. von zielstrebigen,
eigenartigen und eigenwertigen Vieleinheiten, die sich hierarchisch
übereinander bauen. Und jedes Existierende wird als Person erkannt
durch seine Zielstrebigkeit, die auf Erhaltung und Entfaltung der Viel¬
einheit hinzielt. „Person ist ein solches Existierendes, das
trotz der Vielheit der Teile eine reale, eigenartige und eigen¬
wertige Einheit bildet und als solche, trotz der Vielheit der
Teilfunktionen, eine einheitliche, zielstrebige Selbsttätig¬
keit vollbringt.“ Moleküle, Zelle, Pflanze, Tier, Mensch, Familie,
Volk, Menschheit, Erde, Welt sind für sich betrachtet Personen, d. h.
selbsterhaltungs- und selbstentfaltungsstrebige und -fähige Vieleinheiten,
während sie im Verhältnis zu übergeordneten Personen betrachtet als
Sachen, d. h. als mit andern vergleichbar erscheinen. So ist die den
menschlichen Leib aufbauende Zelle für sich betrachtet Person, im Ver¬
hältnis zum Menschen dagegen Sache, weil sie mit vielen andern Zellen
zugleich demselben Zwecke des Menschen dient, insofern also vertausch¬
bar, vergleichbar, ersetzbar ist.
Durch eine solche Betrachtungsweise wird auch der etwa drohende
Einwand entkräftet, die Stemsche Auffassung der menschlichen Persön¬
lichkeit führe zu einem gefährlichen Individualismus, der die gerechten
Ans prüche des Volksganzen an das Individuum übersehe. In Wahrheit
lehrt ja Stern — wie eben ausgeführt — die Welt als ein Stufenreich
von Personen auffassen, in denen jede folgende Stufe unter der Ein¬
wirkung der übergeordneten Personen steht. So ist der Mensch für
sich betrachtet Person und hat als solche Selbstzweck und Selbstwert.
In Beziehung zu den übergeordneten Personen — Familie, Volk, Mensch¬
heit, Gottheit — nimmt aber auch er eine nur dienende Stellung ein,
d. h. in Beziehung auf sie muß er als Sache, als Vergleichbarkeit be¬
trachtet werden. Ihr Dienst besteht darin, die Zwecke der übergeord¬
neten Personen verwirklichen zu helfen.
Diese fremden Zwecke dürfen aber dem Menschen nicht aufgedrängt
werden als etwas Fremdartiges, sondern sie müssen vom Menschen
durch eigene innere Tätigkeit angeeignet werden. Stern prägt für diese
innere Aneignung das Wort Introzeption.
Darin also würde hier die Aufgabe des Lehrers bestehen, daß er diese
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Woldemar Oskar Döring
Introzeption dem Kinde erleichtern hilft, daß er nach Möglichkeit die
Hemmungen wegräumt, die der Aneignung der Fremdzwecke durch das
Kind im Wege stehen. Und nur dann darf solch ein Bemühen als er¬
folgreich angesehen werden, wenn diese Fremdzwecke vom Kinde in
das eigene Zielstreben aufgenommen worden sind, so daß das Kind von
sich aus nach der Verwirklichung dieser Ziele strebt. Das ist von je¬
her die viel bewunderte Leistung begnadeter Erzieherpersonlichkeiten
gewesen, daß sie ihren Zöglingen zum Erlebnis der Introzeption ver¬
halten, so daß diese nun aus eigenem Streben heraus sich in den Dienst
übergeordneter Personen oder auch ihrer Mitmenschen stellten. Sterns
Verdienst aber ist es, gegenüber den einseitigen Standpunkten des In¬
dividualismus und Sozialismus, des Egoismus und Altruismus im Be¬
griffe der Introzeption den Weg zur Versöhnung der beiden Gegensätze
gewiesen zu haben.
Aber picht nur die konkreten Zwecke der Über- oder Nebenpersonen
sollen innerlich angeeignet werden, sondern auch die Zielbestimmtheiten,
die wir als Ideen bezeichnen. Der Mensch soll auch das Streben nach
Verwirklichung der Ideen des Guten, Wahren, Schönen, Heiligen in sich
aufnehmen. Und der Lehrer steht hier vor seiner wichtigsten Aufgabe.
Im Sinne des Personalismus soll er die Ideen dem Zöglinge verständ¬
lich machen als konkrete Lebensformen übergeordneter Personalein¬
heiten, insbesondere des Volkes, der Menschheit, der Gottheit. Er soll
ihn also verstehen lehren, daß die Ideale nicht etwa nur abstrakte Vor¬
stellungen bedeuten, daß sie vielmehr wahrhaft objektive Bedeutung
und Geltung haben. Zu einem konkreten Idealismus soll' er ihn
erziehen, für den das Gute, Wahre, Schöne, Heilige mehr bedeutet als
nur leere Begriffe.
In dieser bedeutsamen, für die Pädagogik so fruchtbaren Auffassung
Sterns, daß der Mensch sowohl als Person, d. h. als Selbstzweck, und
zugleich auch — im Hinblick auf übergeordnete Personen — als dienen¬
des und daher auch ersetzbares Glied, d. h. als Sache anzusehen ist,
drückt sich der besondere Standpunkt des Personalismus aus, daß näm¬
lich Person und Sache gar nicht zwei substantiell getrennte Seins¬
gebiete sind, sondern zwei Betrachtungsweisen derselben Wesenheiten,
die im ersten Falle eben nur an sich selbst, im zweiten in ihrer Zu¬
gehörigkeit und Abhängigkeit von Überpersonen betrachtet werden.
Diesen Tatbestand nennt Stern den „teleomechanischen Parallelis¬
mus“, und er führt damit einen ganz neuartigen Begriff und ein ganz
neues Problem in die Philosophie ein, das auch für die Pädagogik von
höchster Bedeutung ist. Erst dann wird der Zögling zur reifen Menschen¬
persönlichkeit herangebildet sein, wenn ihm dieser Parallelismus deutlich
geworden ist, wenn er also erkannt hat, daß alles, was von oben her,
d. h. an sich betrachtet, als Person erscheint, von unten her, d. h. von den
Teilen aus, als Sache angesehen werden kann. Für den Sachstandpunkt
hat der Mechanismus seine volle Gültigkeit. Stern will ihn keineswegs als
wertlos beiseite schieben; er will ihm vielmehr nur die ihm zukommende
Stellung zuweisen. Für den Personstandpunkt und damit zugleich für die
Pädagogik hat die mechanistische Weltbetrachtung jedenfalls nichts zu
bieten. Sie kann die selbsterhaltungs- und selbstentfaltungsstrebigen
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Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik
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Vieleinheiten, also auch die Persönlichkeit des Schülers, nicht aus blind
mechanisch wirkenden Kräften verständlich machen.
Dieser teleomechanische Parallelismus hat eine gewisse Ähnlichkeit
mit dem psycho-physischen Parallelismus. Sehen wir uns aber die
oben gegebene Definition der Person genauer an, so werden wir finden,
daß alle ihre Merkmale ebensowohl für das Gebiet des Psychischen
wie des Physischen gelten. Der Personbegriff, wie Stern ihn faßt, ist
psychophysisch neutral. Das Prinzip des Persönlichen, des Teleo¬
logischen ist also keineswegs identisch mit dem Prinzip des Geistigen;
das Prinzip des Sachlichen nicht mit dem des Stofflichen. Der Stemsche
Personalismus ist überhaupt nicht nach dem Stoff-Geist-Gegensatz
orientiert wie alle bisher aufgestellten Weltanschauungen, sondern nach
dem Person-Sache-Gegensatz (Person = zielstrebige individuelle Viel¬
einheit; Sache = z’weckfremde mechanische Summe), der aber — wie
oben ausgeführt — durch den teleomechanischen Parallelismus über¬
brückt wird. Und dieser fundamentale Begriff der psycho-physischen
Neutralität ist nun auch für die Pädagogik von der größten Bedeutung.
Das zeigt sich besonders deutlich bei der Betrachtung der mensch¬
lichen Dispositionen. Stern gehört nicht zu den Psychologen, die
den Dispositionsbegriff zur einen Tür hinauswerfen, weil sie pur seelische
Vorgänge zugeben zu dürfen glauben, und ihn doch zur andern Tür
wieder hereinholen, weil sie nun einmal ohne ihn nicht auskommen
können. Stern steht — wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht —
auf dem Standpunkte, daß man zum Verständnis persönlicher Leistungen
den Begriff zielstrebiger Kräfte nun einmal nicht entbehren kann. Und
diese im Menschen wirksamen zielstrebigen Kräfte, diese dauernden
Wirkungsfähigkeiten nennt er Dispositionen. Sie sind nur Teilstrahlen
der Entelechie, d. h. der Gesamtzielstrebigkeit und -Wirkungsfähigkeit
der Person. Nicht die Dispositionen wirken, sondern die Person
als Ganzes wirkt. Stern ist also gegen den Vorwurf geschützt, die
alte, überwundene Vermögenstheorie erneuern zu wollen. Denn er be¬
hauptet ja nicht, daß der Mensch eine Summe selbständig wirkender
Kräfte darstelle.
Wie wichtig nun gerade diese Auffassung für den Pädagogen ist,
wird recht deutlich, wenn man bedenkt, daß doch jede im Schulbetrieb
vom Kinde geforderte Leistung immer auf ein zu verwirklichendes
Resultat hin gerichtet ist, d. h. daß sie zielstrebige Tätigkeit bedeutet,
die nur aus der Annahme zielstrebiger Kräfte, also der Dispositionen
verstanden werden kann.
Die Dispositionen sind nun nach Stern — ebenso wie die Gesamt-
entelechie — psychophysisch neutral, d. h. sie beziehen sich ebensowohl
auf das Gebiet des Psychischen wie des Physischen. Denken wir
z. B. an die Ermüdbarkeit, Erholungsfähigkeit, Übungsfähigkeit, die ja
für den Pädagogen eine besonders wichtige Rolle spielen. Die Phänomen¬
psychologie, die sich nur an die Vorgänge hält, weiß mit diesen Er¬
scheinungen herzlich wenig anzufangen. Der Personalismus aber zeigt
uns ihr wahres Wesen: sie sind Dispositionen und als solche psycho¬
physisch-neutral. Die Person als Ganzes wird ermüdet, geübt,
erholt sich, und dies zeigt sich ebensowohl auf dem Gebiete des
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Woldemar Oskar Döring
Psychischen wie des Physischen, also des Seelischen wie des Körper¬
lichen. Und ist nicht letzten Endes jede Schulleistung des Kindes so¬
wohl psychisch als auch physisch? Drückt sich nicht jedes seelische
Geschehen einer solchen Leistung immer zugleich in einer körperlichen
Bewegung aus, sei es nun Sprech-, Schreib- oder sonstige Ausdrucks¬
bewegung? So darf man eigentlich gar nicht von psychischen oder
physischen Dispositionen reden. Die Phantasie z. B. wird zwar gern
als psychische Disposition bezeichnet, weil man bei ihr das Haupt¬
augenmerk auf die Hervorbringung von Phantasievorstellungen zu
legen gewohnt ist. Tatsächlich dient sie doch aber ebenso dem Zwecke,
Phantasied Erstellungen, also körperliche Bewegungen hervorzubringen.
Man denke nur an das kindliche Spiel, an den Zeichenunterricht usw.
Und das Gleiche gilt für jede andere Disposition. Sie alle sind in Wahr¬
heit psycho-physisch neutral. Und der Lehrer würde dem Kinde
und seinem Zielstreben nicht gerecht, wenn er nicht immer
im Auge behielte, daß eben bei jeder Wirkungsäußerung die
Person als Ganzes wirkt und daß das Wesen der Person nicht
einseitig als psychisch oder physisch zu erfassen ist.
Wie wertvoll muß dem Lehrer auch der Sternsche Versuch einer
Einteilung der Dispositionen sein! Könnte ihm doch damit eine
Möglichkeit der Orientierung durch die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit
der kindlichen Strebungen gegeben werden. Besonders fördernd scheint
mir in dieser Richtung die Sternsche Einteilung der Dispositionen in
Eigenschaften und Anlagen und weiterhin in Richtungs- und
Rüstungsdispositionen zu sein.
Eigenschaften sind solche Dispositionen, die schon vorhandene
Zwecksetzungen in gleichförmiger Weise weiterhin zu verwirklichen
streben. Anlagen sind solche Dispositionen, die auf künftige Entfal¬
tung noch nicht verwirklichter Zweckbestimmungen gerichtet sind. Wie
wichtig sind diese Unterscheidungen für den Pädagogen! Eigenschaften
sind relativ eindeutige und konstante Wirkungsweisen, mit deren Hilfe
die Person ihre Selbsterhaltung zu sichern sucht. Da wäre es ein nutz¬
loses Beginnen, wollte der Lehrer die Eigenschaften der Kinder umzu¬
bilden versuchen. Die Anlagen aber sind noch unentwickelte Disposi¬
tionen. Sie funktionieren noch nicht eindeutig und konstant, sondern
besitzen eine gewisse Spielraumbreite, innerhalb deren sie sich verwirk¬
lichen können. Sie sind nicht an einen bestimmten Inhalt, sondern nur
an ein bestimmtes Ziel gebunden. Der Lehrer hat es nun zum Teil
in seiner Hand, die Verwirklichung der Anlagen innerhalb ihrer Spiel¬
raumbreite zu bestimmen. Und gerade dadurch arbeitet er am unmittel¬
barsten an der Selbstentfaltung des Zöglings, die doch letztes und höch¬
stes Ziel aller Menschenbildung sein soll.
Wie nun die Person als Ganzes nicht bloß ein einheitliches Zielstreben,
sondern zugleich auch das Rüstzeug besitzt, dieses Streben zu befrie¬
digen, so ist auch jede Einzeldisposition — sie mag Eigenschaft oder
Anlage sein — zielstrebig gerichtet und zugleich auch zweck¬
dienlich gerüstet. Überwiegt in einer Disposition der Richtungs¬
charakter, so nennt Stern sie eine Richtungsdisposition; überwiegt
der Rüstungscharakter, so heißt sie RUstungsdisposition. Und
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Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik
gerade diese Unterscheidung kann für den Lehrer von der größten Be¬
deutung sein. Denn durch sie werden vielumstrittene Begriffe in ein
neues, aufhellendes Licht gerückt. Was wir Zielungen oder Tendenzen
im Kinde nennen, das sind Richtungsdispositionen; was wir kindliche
Fähigkeiten oder Potenzen nennen, das sind Rüstungsdispositionen. So
ist der „Charakter“ eines Menschen nichts anderes als die Einheit aller
seiner Richtungsdispositionen. Und der „Wille“ ist die psychische Seite
des Charakters. Die Einheit aller Rüstungsdispositionen dagegen ist der
psychophysische Gesundheitszustand. Und vom Verhältnis der Rich¬
tungsdispositionen zu den Rüstungsdispositionen hängt es ab, ob dem
Wollen des Kindes das Können entspricht.
Es wird gerade jetzt in der Pädagogik viel davon geschrieben, daß
der einseitige Intellektualismus überwunden werden müsse, daß auch die
Willensanlagen des Zöglings entwickelt und stärker bewertet werden
müßten. Intellektualismus und Voluntarismus stehen sich feindlich
gegenüber. Wie muß man sich nun hier vom Stemschen Standpunkte
aus entscheiden? — Da die Richtungsdispositionen sich auf die Zwecke
der Person selbst beziehen, die ihr Wesen ausmachen, die Rüstungs¬
dispositionen dagegen nur auf die Mittel, um diese Zwecke zu verwirk¬
lichen, so müssen auch die Richtungsdispositionen, also die Wollungen
und Strebungen eine zentralere Bedeutung haben als die Rüstungen..
Der Intellekt aber ist nur eine Rüstungsdisposition, die mit dem Rüst¬
zeug der Denkmittel die Strebungen des Willens zu verwirklichen sucht.
Stern stellt sich also auf den Boden des Voluntarismus.
Von seinem Standpunkte aus läßt sich auch die in der Pädagogik
viel umstrittene Frage leicht beantworten: in welchem Verhältnis stehen
Begabung und Interesse zueinander? Bringt die Begabung das Inter¬
esse hervor oder das Interesse die Begabung? — Das Interesse ist Rich¬
tungsdisposition, die Begabung dagegen RUstungsdisposition. Es ist
also nicht so, wie der Intellektualismus einseitig annimmt, daß die Be¬
gabung, und zwar insbesondere die intellektuelle, das Primäre sei und
daß erst aus ihr das Interesse hervorgehe. Vielmehr kann man häufig
genug Fälle feststellen, in denen das Interesse der Kinder sich auf Ge¬
biete richtet, für die eine entsprechende Begabung fehlt. Und man
kann auch das normalerweise vorliegende Zusammentreffen von Inter¬
esse und Begabung daraus erklären, daß ein ursprünglich vorhandenes
Interesse, d. h. Zielstreben, sich im Laufe von Generationen auf dem
Wege der Vererbung allmählich die entsprechende Begabung geschaffen
habe. Die Richtungsdispositionen sind eben das Wesentliche im Menschen.
Aus dieser Auffassung heraus läßt sich auch das für den Pädagogen
gerade in der Gegenwart recht bedeutsame Problem der Begabungs¬
formen leicht lösen. Worin unterscheiden sich denn die drei Haupt¬
formen der Begabung: Genie — Talent — Intelligenz? Stern antwortet:
„Im Genie ist die Richtung das Grundwesentliche, der Drang nach
Gestaltung, das Leiden am Problem, die schöpferische Mission.“ Alle
vorhandene Rüstung wird in ihren Dienst gestellt. „Im Talente ist
zwar nicht mehr eine alles andere überschattende Mission vorhanden,
wohl aber ein vorwiegendes Interesse“, das sich auf seinem Gebiete
mit allem vorhandenen Rüstzeug zu betätigen versucht. „In der In-
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408 Woldemar Oskar Döring, Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik
teiligenz endlich haben wir die Rüstung noch ziemlich richtungslos
vor uns. Sie ist ein Allerweits Werkzeug.“
Bisher haben wir die Person immer nur für sich betrachtet In welchem
Verhältnis steht sie nun zur Welt? Ist sie unabhängig von ihr, oder
wird ihr Sein und Tun von der Umwelt beeinflußt? Diese Frage ist
gerade für den Pädagogen von entscheidender Bedeutung, denn er stellt
ja dem Zögling gegenüber einen Umweltfaktor dar.
Der Nativismus lehrt bekanntlich: alles persönliche Sein und Tun
wird ausschließlich oder doch fast ausschließlich durch Innenfaktoren,
durch angeborene Anlagen bestimmt. Das bedeutet für die Pädagogik:
der Lehrer hat keinen oder doch fast keinen Einfluß auf die Entwick¬
lung des Zöglings.
Der Empirismus dagegen lehrt: das Sein und Tun der Person werden
fast ausschließlich durch die Umwelt, durch das Milieu, bestimmt. Der
Zögling ist Wachs in den Händen des Erziehers.
Gegenüber diesen einseitigen Anschauungen, die gerade auf dem Ge¬
biete der Pädagogik schon viel Verwirrung angerichtet haben, vertritt
nun Stern eine ganz neuartige, in solcher Allgemeinheit noch niemals
aufgestellte Theorie. Er sagt: Die in der Person eingeborenen
Anlagen und Strebungen können nur verwirklicht werden,
wenn sie mit der Welt Zusammentreffen. Person und Welt
müssen konvergieren, wenn aus den vieldeutigen Anlagen eindeu¬
tige Verwirklichung werden soll. An jedem persönlichen Sein und Tun
ist also sowohl ein Innenfaktor (angeborene Anlagen) als auch ein Um¬
weltsfaktor (die Umweltsbedingungen) beteiligt. Es ist falsch, zu fragen:
Ist diese Eigenschaft angeboren, oder ist sie durch Umweltseinwirkung
erworben? Vielmehr muß die Fragestellung lauten: Was an den per¬
sönlichen Eigenschaften und Taten ist auf angeborene Anlagen und was
ist auf Einwirkung der Umwelt zurückzuführen?
Stern überbrückt also auch hier die Gegensätze, indem er Nativismus
und Empirismus in seiner Konvergenzlehre vereinigt. Es würde viel zu
weit führen, wollte man alle die bedeutsamen Konsequenzen dieser
Theorie auf den verschiedensten Gebieten, die sich mit persönlichem
Sein und Tun beschäftigen, auch nur andeuten. Es muß hier genügen,
auf das Gebiet der Pädagogik hinzuweisen. Dem Lehrer steht aller¬
dings in dem Zögling eine Vieleinheit strebender Kräfte gegenüber, die
er unbedingt respektieren muß. Aber diese Strebungen, diese Anlagen
sind noch vieldeutig. Um verwirklicht werden zu können, bedürfen sie
des Zusammentreffens mit der Welt. Und da bedeutet nun der Lehrer
einen deir wichtigsten Umweltsfaktoren. In seiner Macht liegt es, die
vieldeutige Anlage zur eindeutigen Eigenschaft zu verdichten. Er vermag
also auch nach Sterns Auffassung bestimmend und maßgebend in die
Entwicklung des Zöglings einzugreifen, ohne freilich allmächtig zu sein.
So findet der Pädagog in der Sternschen Philosophie alle wichtigen
Fragen seines Gebietes in ein ganz neuartiges, aufhellendes Licht ge¬
rückt. Er kann an ihr nicht mehr achtlos vorübergehen; denn die Zeit
ist nicht fern, da der kritische Personalismus in seiner ganzen Bedeutung
und Fruchtbarkeit allgemein erkannt und anerkannt werden wird. Und
die Zukunft wird ihm gehören.
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Georg Hirsch, Persönlichkeit, und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage
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Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage.
Von Georg Hirsch. '
Das vergangene Jahrhundert umfaßt für das deutsche Volk eine äußerlich
scharf abgeschlossene Periode, an deren Anfang ein stetiger politischer und
wirtschaftlicher Aufstieg aus einem tiefgehenden Niveau bis zu einem glän¬
zenden Kulminationspunkt, an deren Ende der plötzliche Zusammenfall des
stolzen Gebäudes steht. Die ungeheure Geschäftigkeit, die jenes Bauwerk
aufführte, die erstaunlichen Erfolge, die sie auf allen Gebieten zeitigte, täuschte
alle an dem Werke Beteiligten über den Charakter dieses Werkes oder viel¬
mehr, diese Geschäftigkeit ließ keine Zeit darüber nachzudenken, ob hier
einer inneren geistigen Fortentwicklung äußere Gestalt verliehen wurde oder
tatsächlich nur der Sieg einer raffiniert durchgebildeten Methode über eine
geistig durchblutete Arbeit in Erscheinung trat. In Anlehnung an ein Wort
Nietzsches möchten wir unser Jahrhundert als die Zeit ansehen, die die Herr¬
schaft der Arbeitsmethode über die Arbeit herbeigeführt hat. Und wenn wir
nach dem wesentlichen Kennzeichen der Arbeitsweise des 19. Jahrhunderts
fragen, nach dem Mittel, dem diese Zeit ihren äußeren Aufstieg verdankt
und von dem sie schließlich auch ihren Untergang ableiten muß, so wird
uns immer wieder ein Gedanke entgegentreten, der der Persönlichkeit dieser
Epoche seinen unauslöschlichen Stempel aufgeprägt und ihrem Verhältnis
zum Ganzen Richtung und Ziel gegeben hat. Dieser Gedanke ist der Gedanke
der Masse. Mit ihm werden wir uns daher im folgenden auseinanderzusetzen
haben. '
Der Begriff der Masse ist aus der Naturwissenschaft herübergenommen
worden. In der Physik bedeutet die Masse eine unveränderliche Eigenschaft
der Körper, die sich aus dem konstanten Verhältnis der wirkenden Kräfte zu
den Beschleunigungen ergibt, die jene hervorgerufen haben. Vom Meuschen aus
betrachtet, erscheint diese dauernde Stetigkeit in den Kräften der Naturkörper
und ihren Wirkungen als das Charakteristikum der natürlichen Masse über¬
haupt. Dieses ewig bleibende Gleichmaß der Masse ist es, was der Mensch .
in der Natur bewundert und fürchtet — bewundert, weil der unbedingte Sieg
der Masse über alle schwächeren Kräfte sich voraussehen und berechnen
läßt — fürchtet, weil er die geheime Angst nicht überwindet, daß seine Rech¬
nung nicht stimmen könnte. Die Furchtbarkeit der Masse beruht für uns
in der ewigen Dauer ihrer Kraftäußerung, die dadurch auch stärkeren Kräften
gegenüber niemals aus dem Zusammenspiel ausgeschaltet werden kann.
Selbst, wenn sie zunächst vollständig paralysiert ist von stärkeren Massen,
so bleibt doch durch die sofortige Bereitschaft zur Wirkung eine ständige
Drohung auch für die stärkste Kraft zurück. Auch eine Zertrümmerung
der Masse hat nur eine teilweise Aufhebung und momentane Überwindung
jener Kohäsion zur Folge, aus der die Summierung und Zusammenfassung
der gleichartigen Urteilchen zur Masse und die Zusammenschweißung zu einer
Einheit, deren Kräfte fortan alle nach einer Richtung einheitlich wirken, her¬
vorgegangen ist. Denn diese Trümmer werden sich früher oder später schlie߬
lich wieder zu einem neuen Zusammensein, zu einer neuen Masse vereinigen,
eben weil die einheitliche Kraftrichtung sie notwendig zusammenführen muß
und weil die wesensgleichen Ursachen, aus denen die gleichartigen Moleküle
geboren wurden, ewig fortwirken und immer neue Emanationen in das Welt-
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Georg Hirsch
all schleuderet. So wird das Lebendige genötigt, sich immer aufs neue mit
der nicht auszutilgenden Masse und ihren weder zu steigernden noch zu
schwächenden Kräften abzufinden und immer von neuem den Versuch zu
wagen, die Herrschaft über sie zu gewinnen. Hinzu kommt, daß die Fragen
des Zieles und der zweckmäßigen Einteilung ihrer Kraftentfaltung für die
Masse von vornherein ausscheiden und keiner Beantwortung harren. Indem
sie naturgemäßen Gegebenheiten unterworfen ist, spielt die Art ihrer Arbeit,
die sie durch ihr bloßes Dasein und durch die Ausübung ihres Druckes oder
ihrer Bewegung vollbringt, für sie keine wesentliche Rolle. Die Lage des
Angriffspunktes ihrer Kraft mag sich immer wieder ändern — auch dadurch
wird die Masse weder verlieren noch gewinnen. Hierin liegt auch der Grund,
warum sie einer absoluten Unterwerfung durch das Lebendige immer wieder
entgleitet. Unfähig, der Wirkung und Richtung ihrer Kraft irgend etwas hin¬
zuzufügen oder fortzunehmen, ordnet sie sich ein für allemal dem Spiel der
Kräfte ein, ohne diesen Rangplatz in der Dauer ihres Daseins zu wechseln.
Auch die Einwirkung neuer positiver, lebendiger Kräfte würde an dieser
Tatsache nur zeitweilig und in gewissem Grade etwas ändern können. Gleich¬
mütig würde die Masse dem Untergange wie dem Erfolge entgegentaumeln,
wenn diese Begriffe für sie irgendwelche Bedeutung haben könnten. Indem
der Wille für sie nicht in Frage kommt, muß sie ihre Kraft ausüben, unter
welchen günstigen oder widrigen Verhältnissen es auch sein möge: eine
Herrschaft über sich selbst kann die Masse nie besitzen. Hierin liegt ihre
Furchtbarkeit und ihre Schwäche gegenüber dem Lebendigen begründet Sie
zwingt das Leben, sich mit ihr abzufinden, mit ihr zu rechnen, und wo dies
nicht geschieht, wirkt sie als Vemichterin um so entsetzlicher. Der Kampf
gegen die Masse und ihre Kräfte, das Ringen um die Herrschaft über sie
nimmt insbesondere alles Denken des Menschen in Anspruch. Der Sieg über
sie ist sein Stolz und sein Fortschritt, Quelle neuen Strebens und erhöhter
Lebensfreude. Seine Niederlage zwingt ihn, sich von neuem aufzuraffen,
nach neuen Mitteln und Wegen zu suchen, sich der Mächte zu erwehren,
die der Feind alles Lebendigen sind. In seiner Hand erst werden die Massen
lebendig gemacht, in Wirkung gesetzt oder gelähmt. Massenkräfte beherrschen
zu lernen muß als natürliche und umfassendste Aufgabe alles menschlichen
Strebens bezeichnet werden.
Ein Begriff, der eine derartige Bedeutung für die Stellung alles Lebendigen
zur anorganischen Natur besitzt, wird natürlicherweise sehr leicht auch auf
menschliche Verhältnisse übertragen. Zu sehr erinnert die Zusammenhäufung
einer größeren Menschenmenge besonders im umschlossenen Raume an das
Zusammensein vieler gleichartiger Moleküle, und ihr gemeinsames Sprechen,
Singen und Schreien, die gleichartigen Gesten und Ausdrucksbewegungen
lassen leicht ein geheimnisvolles Band, das alle Einzelnen zusammenschweißt
wie die Kohäsion die Urteilchen, vermuten. Aber mit diesem einen Grund¬
zuge ist auch die äußere Übereinstimmung des menschlichen Massenbegriffes
mit dem naturwissenschaftlichen erschöpft. Während wir die natürliche Masse
als die Summe ihrer Moleküle, ihre Gesamtkraft als die Summe ihrer Einzel¬
kräfte ansprechen dürfen, wehrt sich der einzelne Mensch, sein äußerst
deutliches Bewußtsein von seiner eigenen, von andern scharf zu unter¬
scheidenden Individualität aufzugeben und diese seiner Umgebung gegenüber
nicht in Wirkung setzen zu dürfen. Mit den ersten Regungen seines Geistes-
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leben8 beginnt er den Kampf um seine geistige Selbständigkeit, die für ihn
mehr oder minder das Endziel seiner gesamten seelischen Entwicklung ist
und zusammen mit der Unabhängigkeit von den äußeren Verhältnissen immer
wieder erstrebt wird. Dieses Bewußtsein, daß vollkommene Freiheit der
Lebensgestaltung die einzige wahre Quelle des Glückes alles Lebendigen
ist, geht dem Menschen nie vollkommen verloren, auch nicht oder vielmehr
besonders nicht im Zusammensein mit andern Individuen. Nirgends ist die
innere Überzeugung von der Eigenart seiner Lebendigkeit dem Einzelnen
klarer und deutlicher, nirgends wird ihm die Einsicht, daß alles Lebendige
wächst und stärker wird, eindringlicher vor Augen gestellt als im Zusammen¬
strom der Menschenmenge. Und diese Erkenntnis wird um so klarer sein,
je mehr sich die Richtung der von der menschlichen Masse erzeugten Kraft
auf die Unterdrückung lebendiger Geistesäußerungen des Individuums einstellt.
Darum zeigt auch die von dem menschlichen Zusammensein ausgehende
Kraft andere und eigentümlichere Qualitäten als die Massenkräfte der Natur.
Ihre Konstanz ist fortwährenden Schwankungen unterworfen. Zwar kann
sich der Mensch unvermeidlicherweise dem Einflüsse einer Masse an sich so
wenig entziehen, wie eine Nadel der Kraft eines Magneten widerstehen könnte,
aber eben jenes oben angedeutete äiißerst eindringliche Bewußtsein seiner
eigenen Individualität und der dahinter stehende Wunsch, diese Individualität
zu verwirklichen und ihr Gestalt zu verleihen, veranlassen den Einzelnen
immer wieder, sich bei dieser oder jener Gelegenheit dem Einflüsse der einen
Masse zu entziehen und sich einer anderen zuzuwenden. Der Zwang, einer
und derselben Menschengruppe für die Dauer anzugehören, ist für den
einzelnen Menschen unerträglich und erscheint um so unerträglicher, je
mehr die Freiheit der Wahl und des Wechsels unterdrückt wird. Dement¬
sprechend schwankt die Größe der Wucht, in der sich die Masse äußert, und
auch die Richtungen, die die Massenkraft einschlagen wird, lassen sich nicht
mit Sicherheit bestimmen. Die natürliche Masse gehorcht eben den Gesetzen
mit Notwendigkeit, während den Gesetzen des Lebens nur größere oder
geringere Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden kann. So kann die
Menschengruppe nur vorgestellt werden unter dem Bilde des wogenden
Meeres, dessen Oberfläche bald sich leicht kräuselt, bald wild erregte Wellen
zeigt und zugleich im fortwährenden Auf und Nieder der Flut und Ebbe
größere oder geringere Strecken Landes überbrandet. Diesem Gewoge der
Menschenmenge steht die ruhige und stetige Kraftäußerung der anorganischen
Masse mit überragender Sicherheit gegenüber. Sie schreitet ihren geraden
Weg unbeirrbar fort, und dieser Weg ist wenigstens eine weite Strecke über¬
sehbar und der Berechnung zugänglich; dagegen ist die menschliche Masse
Träger vieler einzigartiger und vielgestaltiger Kraftrichtungen, von denen die
eine heute, die andere schon morgen die Herrschaft davontragen kann. Schon
die unitas multiplex des einzelnen Individuums kommt nur nach Überwindung
zahlreicher Schwierigkeiten zu dem Erfolge, sich wenigstens in den Höhe¬
punkten seines Lebens einheitlich zu verhalten und als ganze Persönlichkeit
in Wirkung zu treten. Um so weniger ist dies bei einer Menge denkender —
und daß auch in der blödesten Masse immer noch gedacht wird, ist mir
unzweifelhaft — Individuen der Fall. Es ist also unmöglich, der Masse der
Menschen irgendeine Aufgabe zu stellen, die eine nachhaltige und längere
Zeit dauernde Inanspruchnahme ihrer Wucht voraussetzt Nur eine momentane
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Anwendung ihrer Stoßkraft im gegebenen Augenblicke kann zu Augenblicks¬
erfolgen führen, da schon die nächste kürzeste Zeitspanne die Veränderung
der Kraftrichtung oder gar die Auflösung der zusammengeballten Menschen¬
masse bringen kann. Und diese wird unfehlbar eintreten, wenn ihre Ansetzung
zum Stoße in einer Richtung erfolgt, die ihrem augenblicklichen inneren
Zustande nicht adäquat ist. So kommt man schließlich zu der Frage, ob es
überhaupt berechtigt ist, eine Ansammlung menschlicher Individuen eine
Masse zu nennen, selbst wenn man dabei den stillen Vorbehalt der großen
Zahl macht. Sie im Näheren zu beantworten, wird Aufgabe der folgenden
Ausführungen sein müssen, aber schon jetzt können wir sagen, daß die
Übertragung des naturwissenschaftlichen Massenbegriffes auf das menschliche
Leben und seine lebendigen, d. h. sich in fortwährender Bewegung befindlichen
Verhältnisse etwas Gewaltsames und Gezwungenes an sich hat. Indem man
mit der gemeinsamen Bezeichnung zweier so durchaus verschiedener und sich
einander ausschließender Dinge das einzige, beiden zugehörige Merkmal —
die Zusammenschließung Vieler durch ein festeres oder loseres Band — über¬
mäßig in den Vordergrund schiebt, verrät man damit die Absicht, ein Merkmal
der menschlichen Gesellschaft wesentlich zu machen, das in Wirklichkeit
nur die Peripherie des menschlichen Gesellschaftswesens berührt, um dadurch
einen gewissen Einfluß auf die Entwicklungsrichtung desselben zu gewinnen
und auszuüben. Diese Entwicklungsrichtung muß notwendig unheilvoll sein;
denn sie überträgt Gesetze der anorganischen Materie auf die Tatsachen des
vorwärtsdrängenden Lebens; sie muß schließlich zu einem Stillstand, zum
Aufhören der Entwicklung überhaupt führen, den lebendigen Fluß zum sta¬
gnierenden Wasser reduzieren und so das Leben der Einwirkung des Toten
Unterwerfen.
Aus diesem Grunde ist es nicht weiter verwunderlich, daß der auf menschliche
Verhältnisse übertragene Begriff der Masse im allgemeinen Gebrauch der
Volkssprache sehr bald den Schimmer eines Werturteils angenommen hat
Die Sprache, als Barometer alles dessen, was das geistige Leben eines Volkes
durchwogt, hat ja eine sehr feine Empfindung für die Zeiten, in denen der
Massenbegriff erhöhte Bedeutung für die Gesamtkultur des menschlichen
Zusammenseins gewinnt, und es ist ihr nicht verborgen, daß dies Zeiten des
Verfalles, der gelähmten Arbeitsfreudigkeit und der gefesselten Schaffenslust
sind. Indem man sich bei der Anwendung des Begriffes die Menschengruppen
aus durchaus gleichartigen Wesen zusammengestellt denkt, spricht man über
ihre Struktur und innere Zusammensetzung ein Werturteil aus, das sich nur
auf den rein quantitativen Begriff der physikalischen Masse zurückbezieht
Dieses Werturteil erhält seine bestimmte Färbung durch das Plumpe und
Unwiderstehliche, das der Wirkung der natürlichen Massenkräfte eigen ist;
man kennzeichnet darin ihre Wucht und Stoßkraft und nimmt gleichzeitig
ihren Erfolgen den adelnden Charakter des durch selbstschöpferische Arbeit
errungenen Fortschrittes. Man wertet die äußere Formengröße des geschaffenen
Werkes und versetzt ihm im selben Augenblick den tödlichen Stoß, indem
man ihm das Zeichen der inneren Leere anheftet. Die Bezeichnung Masse
heißt den Geist hindern, die kolossale Form zum machtvollen, die riesigen
Umfänge zum tiefen Gefäße zu machen. Die menschliche Masse ist eine
bloße Zusammenrottung hunderter und tausender von Menschen, denen man
eo ipso den Menschencharakter genommen hat. Man sieht nur bei ihnen
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allen denselben erregten Gesichtsausdruck, dieselbe leidenschaftliche oder
stumpfe Haltung; man hört nur das Getöse und Gesumme der Massenver¬
sammlung, ohne die Laute und Worte des Einzelnen unterscheiden zu wollen
und zu können. In dem eklen Odem, der von dem Gedränge ausgeht, läßt
- man die sympathischen Gefühle, die man vielleicht zu diesem oder jenem
Individuum noch hatte, sich verflüchtigen — im besten Falle tritt man der
Masse gegenüber mit dem geheimen Urteil: „Welch eine Bestie“, nicht ohne
sich dabei des furchtbaren Druckes bewußt zu werden, den die Masse aus¬
üben muß, wenn eine frevle Hand wagen sollte, sie in Bewegung zu setzen.
Der individuelle Gesichtsausdruck, die eigentümliche Haltung, die persönliche
Äußerungsweise des einzelnen Massenmitgliedes spielen in der Bewertung
keine Rolle mehr: der Begriff der menschlichen Masse kennt nur einen
einzigen durchschnittlichen Typus Mensch; er setzt alle Persönlichkeiten auf
einer einzigen horizontalen Linie gleich; er verdammt alles, was darüber
hinausragt ebenso wie alles, was diese Mittellinie nicht erreicht. Daß dieser
Massentyp dem Menschen eine sehr niedrige Rangstufe zuweist, kann nicht
weiter wundernehmen; denn die Größe der Menschheit findet und wird
immer in ihren Spitzengrößen ihren Ausdruck finden. Anderseits aber bewegen
sich die Massenmenschen immer noch nicht auf der tiefsten Stufe, die vielleicht
für Menschen denkbar ist Für eine ganze Gruppe von ihnen würde die
Einreihung in die Masse vielleicht eine Erhebung, eine Förderung bedeuten,
wenigstens soweit dadurch erstorbene Tatfähigkeit in gewissem Grade wieder
erweckt werden kann. Derjenige aber, der mit der Masse „arbeitet“, sieht
in ihr die Verkörperung aller Mittelmäßigkeiten, reduziert das geistige Aus¬
drucksvermögen, das er auch dem geringsten Mitgliede einzeln nicht abzu¬
sprechen wagen würde, auf ein geringes, nicht mehr erfaßbares Minimum
und verengert den geistigen Horizont aller ihrer Mitglieder zu kleinsten
Kreisen, die sich in ihren Durchmessern aufs genaueste gleichen. Ein solcher
Herdenmensch — der in Wirklichkeit nichts als ein Abstraktum, ein Phantom
und Durchschnittsbeispiel sein kann — ist seiner höchsten Würde wie seiner
tiefsten Gemeinheit völlig entkleidet; hier enthält der Gedanke der Masse die
Verneinung alles Menschentums überhaupt, insofern er den geistigen Wert
dem Sachwerte gleichsetzt und nun dazu verleitet, wie die Sachwerte auch
menschliche Werte ihres Selbstzweckes zu berauben und fremden Zwecken
endgültig zu unterwerfen.
Hier beginnt nun deutlich zu werden, welche Stellung der Gedanke der
Masse in der Gedankenwelt des Einzelnen eigentlich einnimmt. Soviel nämlioh
die individuelle Persönlichkeit auch von der Masse spricht und über sie urteilt,
einen wie großen Einfluß dieser Gedanke auch auf die Denkweise und
Handlungen ausüben mag, merkwürdig ist es jedenfalls, daß niemals ein
Einzelner sich selbst als zur Masse gehörig betrachtet, sondern immer bereit
ist, mit ihr, aber niemals in ihr zu arbeiten. Unablässig ist das Individuum
bestrebt, die Masse zu haben, sie zu benutzen -und wenn irgend möglich
auszubeuten. Dieses ureigene Bestreben des Menschen, sich seinen Mitmenschen
gegenüber die beherrschende Stellung zu schaffen, sie auf alle mögliche Weise
zu erringen und festzuhalten, muß als die eigentliche Quelle und Wurzel des
Massengedankens bezeichnet werden. Das Individuum treibt der Menge gegen¬
über immer Prestigepolitik; sie ist ihm nicht Mutterschoß, sondern Mittel zur
Erreichung größter Wirkungsfähigkeit seiner eigenen persönlichen Kraft —;
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darum schafft es sich die Verkörperung dessen, was es hochzuheben, zu
einer Sonderstellung zu befördern geeignet ist. Dieses Streben nach Herrschaft
ist der Grundfaktor alles Geistes überhaupt, sein wesentlichstes und charak¬
teristisches Kennzeichen. Je mehr im Individuum die Fähigkeit zu durch¬
geistigter oder schöpferischer Arbeit überwiegt, desto mehr tritt das Ziel, die
Ingeltungsetzung der eigenen Maxime und die daraus folgende Unterdrückung
derjenigen seiner Mitmenschen deutlich in die reale Welt ein. Es bedeutet
allemal die tiefste Tragik im Leben des Genies, wenn es sich mit seinem
Werke zufrieden geben soll, ohne daß die Welt ihm die gebührende Aner¬
kennung der im Werke zutage tretenden geistigen Größe zollt Indem es
dann sehr bald zur Verachtung der andern schreitet, sucht es sich vor sich
selbst auf einen erhöhten Platz zu stellen und bemüht sich selbst zu beweisen,
daß es diesen Platz mit begründetem Recht beanspruchen darf. Allen Menschen
ist dieser Grundzug ihres Wesens angeboren, für alle ergibt sich daraus der
Sinn ihres Kampfes ums Dasein, der Sinn alles menschlichen Strebens und
Bemühens, die Notwendigkeit jeder Betätigung überhaupt. Demgegenüber
vermag das sogenannte „Gemeinschaftsgefühl“ niemals ein gleichwertiges
Gegengewicht zu bieten, und dementsprechend kann auch der fortwährende
Wechsel der gesellschaftlichen Formen nicht angesehen werden als eine un¬
unterbrochene Reihe von Versuchen, diese Formen zu vervollkommnen und
die Bande, die den Einzelnen an die Menge binden, enger zu gestalten.
Gewiß ist die Gesellung des Menschen als ursprünglich und naturgegeben
anzusehen; aber von dem Augenblicke der Ichfindung an beginnt schon das
junge Menschenkind den Kampf gegen dieses natürliche Band; es bedeutet
ihm ein persönlicher Erfolg, wenn es die Bindung vor sich und andern ver¬
bergen und verschleiern kann. Die Notwendigkeit der unausgesetzten Um¬
änderung der Formen menschlichen Zusammenseins ist mir ein klarer Beweis
für diesen ständigen und erbitterten Kampf des Einzelnen gegen das Vor¬
handensein solcher Formen, für die Tatsache, daß das Gemeinschaftsgefühl
nicht angeboren ist, sondern vielleicht unter gewissen Umständen erworben
werden kann unter dem Drucke der Logik des Zusammenlebenmüssens aller
geistig tätigen Individuen. Dieses Beisammensein kann auch nicht in seiner
frühesten Gestalt unter dem Bilde einer tierischen Herde, etwa des Bienen¬
volkes, gedacht werden. Den einzigen Fortschritt, den eine solche Zusammen¬
häufung lebendiger Wesen gegenüber der anorganischen Masse bedeutet, kann
man in einer gewissen Ordnung, die alles Lebendige vor dem Anorganischen
auszeichnet, in einer gewissen Arbeitsteilung und in dem unterstützenden
Ineinandergreifen der einzelnen ausgeübten Funktionen sehen. Aber das
unbedingte Prinzip der Gleichwertigkeit aller Einzelmitglieder, das wir auch
in der anorganischen Masse der Urteilchen verkörpert fanden, die absolute
Unmöglichkeit, innerhalb dieses Zusammenseins auch nur den Schatten einer
Rangordnung zu denken, deutet mit aller Schärfe auf die grundlegenden
Unterschiede der tierischen Herde und der menschlichen Gesellung hin. Der
Terror, der in jener ausgeübt werden muß und dem sich kein Einzelner
entziehen kann, wäre für Menschen unerträglich. Jedes Mitglied hat in der
tierischen Menge seine festbegrenzte Aufgabe, der es sich für die Dauef
seines Daseins zu widmen hat. Mit unerbittlicher Konsequenz sorgt die
Gesamtheit dafür, daß jedes Mitglied sich für diese Aufgabe aufopfert und
keine andere Funktion, die eventuell zu einer Hervorhebung des Einzelnen
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führen könnte, ausübt Davon werden selbst die Glieder des Volkes, die die
höchstwertigsten Arbeiten zu vollführen haben, die geradezu die Haupt¬
bedingung für das Bestehen des Ganzen bilden, nicht ausgenommen. Ein
unbeschränkter Despotismus hält jeden auf der Stufe fest, auf der er gerade
seine Aufgabe für die Gesamtheit am vollkommensten erfüllen kann, und
beseitigt ihn, wenn diese Aufgabe gelöst ist. Die Rangordnung, die der Mensch
durch seine Namengebung für. das Bienenvolk aufgestellt hat, existiert nicht;
die Bienenkönigin ist in Wirklichkeit nicht die Beherrscherin des Volkes; sie
, unterliegt der absoluten Herrschaft der Gesamtheit ebenso sehr wie alle
anderen Mitglieder derselben, trotzdem ihre Aufgabe den Kernpunkt des
Ganzen bildet und ihr Ausscheiden den Zerfall desselben zur Folge haben
würde. Gegen eine derartige unbedingte Unterwerfung, gegen die gänzliche
Hingabe des persönlichen Inhaltes an das Gegenüber wehrt sich aber das
menschliche Individuum, sobald seine intellektuellen Fähigkeiten diejenigen
des Tieres auch nur um wenige Grade überschreiten. Es ist keine Gesellung
von Menschen denkbar, in der nicht dieses Prinzip immer wieder hervor¬
treten und eine Schichtung nach den Graden des Könnens der Einzelnen
erstrebt würde, die dann wiederum nur den ersten Schritt zur Dissoziation
des Gliedes von der Gesamtheit bilden müßte.
Jeder ist natürlich von den Lebensnotwendigkeiten gezwungen, einer Ge¬
sellung anzugehören und sich ihrer zur Selbsterhaltung und Selbstbehauptung
zu bedienen. Solange der Einzelne kein Selbstbqwußtsein, kein persönliches
Ich besäße, solange er also in Wirklichkeit noch nicht „Mensch“ ist, könnte
man sich Herdenmenschen als möglich vorstellen. Jedes Mitglied der Herde
• hätte dann seine ganze Aufmerksamkeit auf die Ausübung der Funktion zu
konzentrieren, die ihm durch seine körperliche Eignung, durch die besonderen
Verhältnisse des Wohnortes und der Ernährung der Herde naturgemäß zu¬
gewiesen ist Solange diese Konzentration auf seine zugleich soziale und
individuelle Fähigkeit anhält, solange wird die Enge des Bewußtseinsfeldes
keinen Raum freigeben für' Aufgaben, die außerhalb der naturgegebenen
Linie liegen, und insbesondere wird der Gedanke einer Beurteilung der Arbeit
der anderen Genossen nicht aufkommen — auch dann nicht, wenn sie die
natürlichen Funktionen stören und darum aus dem Wege geräumt werden
müssen. Aber diese fiktive Gleichwertigkeit aller Einzelnen kann nicht lange
anhalten. Durch die immerwährend wiederholte Ausführung derselben äußeren
Willenshandlungen, durch die daraus folgende Automatisierung der Bewegungen
wird einerseits bei jedem Einzelnen der Übungserfolg in sehr verschiedenen
Graden zutage treten und anderseits der Geist nicht mehr gezwungen sein,
sich nur auf die richtige Ausführung einer einzigen Funktion zu beschränken.
Indem er dadurch freier wird, indem die krampfartige Enge des Bewußtseins¬
kreises sich zu lösen beginnt, ist die Möglichkeit einer Erweiterung des Tätig¬
keitsfeldes gegeben, und zugleich fängt das Individuum an, sich seiner eigenen
Persönlichkeit und ihrer eigenartigen Stellung innerhalb der Herde bewußt
zu werden. . Die Ausführungsart der Funktionen der Mitgenossen wird nun
beobachtet und beurteilt und damit die Grundlage einer Rangordnung geschaffen.
Erfolge und Mißerfolge fordern dieses Urteil heraus; sie legen den Vergleich
der eignen Leistungen mit denen der andern nahe, und schließlich kommt
die Persönlichkeit dazu, sich als Kraftquelle, wenn nicht gar als Kraftzentrum
der menschlichen Genossenschaft zu fühlen. Die Überzeugung der Gleich-
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Wertigkeit, die in der Herdenschaft mit aller Schärfe deutlich war, wird er¬
schüttert mit der immer mehr zunehmenden Erkenntnis, daß nur das geistig
und körperlich bevorzugte Individuum Fortschritte der Gesamtheit zu bewirken
vermag. Der Einzelne sieht sich fortan als Erzeuger von Werten und Gütern,
die die äußere Darstellung seiner Gedanken und Kenntnisse bilden und
denen er mit Hilfe seiner Fertigkeiten und Geschicklichkeiten äußere Gestalt
verliehen hat. Er- bemerkt, wie von ihm in konzentrischen Wirkungskreisen
neue Einsichten und Künste, neue Ordnungen und Entwicklungen herbei¬
geführt und wenigstens zunächst noch äußerlich der Gesamtheit dienstbar
gemacht werden. Sein soziales Prestige wächst damit in fortwährend ge¬
steigertem Maße — aber zugleich und noch viel geschwinder wächst das
Prestige, das die Persönlichkeit daraus sich selber schafft. Sie fängt an, um
ihre Stellung zu ringen, eine Stellung in der Gesamtheit zu erobern, aber
so heftig auch dieser Kampf nach äußerer Erhebung dem Betrachter erscheinen
möchte, viel eindringlicher und alle geistigen Kräfte in weitestem Maße in
Anspruch nehmend ist das Ringen des Individuums um Geltung vor sich
selbst. Denn, in demselben Augenblicke, wo es sich des höheren Grades
seiner Leistungen bewußt wird, muß ihm auch bewußt werden, daß es nicht
allein auf der steilen Leiter des Erfolges emporklimmt. Es wird niemals die
einzige Spitze sein, die aus dem Ganzen hervorzuragen strebt, die Zahl derer,
die sich emporschwingen wollen, wird ständig wachsen, und damit muß zu¬
gleich das soziale Ansehen der schon Emporgestiegenen mehr oder weniger
starke Einbuße erleiden. Neue Antriebe werden daraus dem Ringen nach
dem Gefühl der Macht gegeben werden, weil das drohende Gefühl der Unter¬
legenheit und der Minderwertigkeit eine unerträgliche Hemmung des Persönlich¬
keitsbewußtseins bedeutet. Die schweren Affektstörungen des Zweifels an
sich selbst und in weiterem Verlaufe der Angst vor der Unmöglichkeit, das
Ziel zu erreichen, und damit die Sorge, dem eigenen Ich schweren Schaden
zuzufügen, drohen die Persönlichkeit aus ihrem seelischen Gleichgewicht zu
stürzen und veranlassen sie zu allen nur denkbaren Maßregeln, um dem
Gefühl der Schwäche zu entfliehen. Je näher sich der Einzelne in seiner
seelischen Verfassung und in seiner äußeren Position noch dem durchschnitt¬
lichen Niveau des Ganzen befindet, um so schwerer wird die Affektstörung
auf ihn einwirken und um so größer wird der daraus hervorgehende Antrieb
zu seinem Wollen sein. Es wird für ihn peinlich sein, noch immer an sich
Koincidenzpunkte zu finden, mit denen er fest an die Horizontallinie der
Gesamtheit gebunden erscheint, der Teil seiner seelischen Persönlichkeit, mit
dem er noch zur Gesamtheit gehört, wird sich ihm als die eigentliche Ursache
jenes hemmenden Gefühls der Unterlegenheit darstellen, als das Hindernis
par excellence, das den Weg zur Herrschaft versperrt. So folgt daraus die
unablässige Bemühung, diesen Teil zu verkleinern, der Spaltung in eine
soziale und individuelle Persönlichkeit zu entrinnen. An die Stelle des bis¬
herigen harmonischen Verhältnisses zur Gemeinschaft, an die Stelle der selbst-
und bewußtlosen Teilnahme an der Sicherung und Erhaltung des Ganzen
tritt eine mehr oder weniger schrille Disharmonie, die nach und nach zur
fortschreitenden inneren Loslösung von der Gesamtheit führen muß.
Die Züge dieses seelischen Prozesses, dem jeder Einzelne je nach dem
Grade seines geistigen Lebens unterworfen ist, treten besonders klar hervor
in der Stellung des Kindes zur Familie. Das Kind tritt in die naturgegebene
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Gesamtheit der Familie im vorpersönlichen Stadium ein. Sein körperlicher
Zustand, seine Hilflosigkeit gegenüber den Einwirkungen der Außenwelt, das
Nichtvorhandensein geistiger Äußerungen lassen ihm keine andere Aufgabe
zukommen als die naturbestimmte: das neue Reis zu sein, das die Erhaltung
der Familie sichert durch sein bloßes Dasein. Das Leben in der Familie ist
in der Tat durch den Eintritt eines Kindes zu ganz anderer Bedeutung gelangt
als vorher. Die Arbeit des Vaters erhält einen anderen Schimmer, ein neues
Stimulans; sie wird in ihrem augenblicklichen Stande von ihm selbst anders,
und zwar niedriger bewertet Die Notwendigkeit einer Steigerung in bezug
auf Qualität und Quantität derselben tritt ihm auf einmal deutlich vor Augen,
kn Ansehen seines Kindes merkt auch der Stumpfsinnigste noch einmal das
Wertgefühl in sich aufsteigen, das vielleicht noch als Rest eines ehemals
starken Gefühls der Überlegenheit in ihm lebendig ist, und nimmt daraus
den Anlaß und die Verpflichtung zu einem neuen Versuche des Aufschwunges.
Die Einwirkung des Daseins des Kindes auf das individuelle Verhalten der
Mutter ist augenscheinlich. Ihre Geschäftigkeit, ihr Diensteifer, ihre imendliche
Hingabe an die Pflege des Kindes, die Überwindung, die sie bei widerwärtigen
Arbeiten auch in den persönlich ungelegensten Zeitpunkten zeigt, machen
bemerkbar, wie auch bei ihr durch das Erscheinen des Kindes die Steigerung
des Lehensgefühles in hohem Maße eingetreten ist. Die junge Mutter erscheint
körperlich schöner, im geselligen Verkehr persönlich liebenswürdiger, ihre
Aufmerksamkeitsfähigkeit verteilter und beweglicher, ihr ganzes Wesen ist
gehooen, weil sie sich mehr als je als Herrscherin des Hauses fühlt, und
von den übrigen Angehörigen in dieser Zeit auch als solche angesehen wird.
Dieses persönliche Gehobensein, die individuelle Wertsteigerung, das erhöhte
Kraftgefühl ist es, was den Grundzug der Freude der Eltern ausmacht Das
Interesse am Kinde wird von diesem Standpunkte aus bestimmt und sein
Dasein von hier aus bewußt oder unbewußt beurteilt. Die Persönlichkeit des
Kindes selbst hat damit recht wenig zu tun; es ist immer Mittel zum Zwecke der
Erhebung und Wertsteigerung seiner beiden Erzeuger, ein Symbol des gefühlten
Eigenwertes. Diese Tatsache tritt außerordentlich deutlich hervor, wenn die Zahl
der Kinder sich vergrößert. Zwar ist auch beim Erscheinen dieser Kinder der
Einfluß auf die individuelle Selbstwertung der Eltern nicht zu verkennen, aber
dieser Einfluß ist in seiner Gradstärke von dem des ersten Ereignisses doch sehr
stark unterschieden. Zu sehr macht sich dann die Schwierigkeit der Lebens¬
unterhaltung, die Notwendigkeit, auf manche liebgewordene Gewohnheit zu
verzichten, bemerkbar; der Vater zumal murrt, wenn er sich der Kinder wegen
Einschränkungen auf erlegen soll. Diese Tatsache tritt beim ersten Kinde
nicht annähernd so stark in Erscheinung und mindert darum die Selbstfreude
der Eltern nicht oder doch nur in geringem Maße herab. Diese findet nun
auch in der Hilflosigkeit und Schwäche des Säuglings zunächst noch eine
weitere Förderung. Indem beide Eltern bemerken, wie sehr ihr Kind von
ihnen, von ihrer Sorgsamkeit und ihrer Hilfe abhängig ist, wie diese kleine
Persönlichkeit so gar nichts ohne sie wäre, empfinden sie den Stolz des
Schutzgebenkönnens um so deutlicher, je mehr die Lebenserhaltung ihres
Sprößlings auf diesem Schutze und dieser Fürsorge beruht, je mehr jeder
Fortschritt nach der körperlichen und geistigen Richtung ihrer Tätigkeit zu
verdanken ist. Die restlose Unterordnung des Kindes unter den Willen der
Pfleger gibt den Willenshandlungen dieser eine so starke, völlig einseitig
Zeitschrift t. padagog. Psychologie. 27
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beurteilte Bedeutung und schaltet die hemmenden Motive, die sonst von der
Persönlichkeit dessen ausgehen, auf den sie sich beziehen, so vollständig aus,
daß die Eltern sich gänzlich in ihrem „Glücke“ fühlen, d. h. eine Steigerung
ihres Selbstwertgefühls vornehmen können, die selbst bei den kühnsten
äußeren Lebenserfolgen infolge der bei ihnen immer vorhandenen Kehrseite
nicht eintreten würde. Dieser Glückszustand aber erreicht seinen Höhepunkt
in dem Augenblicke, wo das Kind zum ersten Male das Wörtchen „Ich“ aus¬
spricht oder sonst Zeichen der eingetretenen Ichfindung gibt Von da ab
beginnt das Kind seine eigene Rolle zu spielen und seine individuelle Per¬
sönlichkeit nach seinem eigenen Lebensplane zu entwickeln. Seine geistige
Seite, die besondere Note alles geistigen Wesens, die Herrschaft über die
naturgegebene Umgebung zu gewinnen, tritt von nun an nach und nach
immer deutlicher hervor. Es fängt an, Forderungen an die Gemeinschaft zu
stellen und damit ein Moment der Spannung in sein Verhältnis zu ihr
hineinzutragen. Der unbewußte Zwang zur Gestaltung „seiner“ Persönlich¬
keit läßt es aus allen seinen seelischen Vorgängen, aus seinen Vorstellungen,
Wahrnehmungen, Gefühlen und aus seinen Willenshandlungen' die Richtungen
und die Züge hervorheben, die auf dem vorgezeichneten Wege weiterführen,
aber damit auch weitere und verstärkte Anforderungen an die Umgebung
gebären müssen. Zunächst wird ihm allerdings die unbedingte Überlegenheit
der Erwachsenen sehr deutlich entgegentreten; aber deshalb wird es keinen
Augenblick zögern, den Kampf um die Geltung seines Selbst mit allen kind¬
lichen Mitteln aufzunehmen. Da die Lebensgemeinschaft des Kindes mit der
Mutter, schon wenn man ganz äußerlich nur die gemeinsam verbrachte Zeit
berücksichtigt, eine bedeutend innigere ist als zum Vater, so richten sich
natürlicherweise seine Selbständigkeitsbestrebungen zuerst gegen jene. Sehr
bald verstehen es die kaum dem Säuglingsalter entwachsenen Kinder die
Mutter zu zwingen, sich mit ihnen vorzugsweise zu beschäftigen, ihre Zeit¬
einteilung nach den Bedürfnissen des Kindes vorzunehmen, kleine, scheinbar
unschuldige Wünsche, mögen sie sich auf die Speisen oder auf Spielzeug,
oder sonst dergleichen beziehen, zu erfüllen. Mit erstaunlicher Schärfe beob¬
achten sie bei solchen Gelegenheiten das Verhalten der Erwachsenen und
verstehen sich den Eigenarten derselben unübertrefflich anzupassen. Indem
sie sich fügen und mit Zärtlichkeiten und Schmeicheleien, mit Diensteifer
und freudiger Hingebung die Mutter ihren Wünschen geneigt zu machen
suchen, beabsichtigen und können sie nichts weiter beabsichtigen, als ihre
eigene Persönlichkeit in den Vordergrund des Familiengeschehens zu schieben.
Sehr schnell überwinden sie die kindliche Unsicherheit ihrer Handlungen,
deren Folgen sie nicht zu übersehen und zu beurteilen vermögen und die
Schwankungen ihrer eigenen Verhaltungsweisen. Wo gute Eigenschaften nicht
zum Ziele führen, versucht es durch Trotz, Eigensinn und Indolenz, zuweilen
auch durch absichtliches Betonen körperlicher Mängel und Schwächen die
Aufmerksamkeit auf seine kleine Person zu lenken und die Nachgiebigkeit
gegen seine Wünsche zu erreichen. Besonders in Zeiten der Krankheit ver¬
langen sie, daß die Eltern sich mit ihnen fast ununterbrochen beschäftigen,
stören zu jeder Tages- und Nachtzeit, beklagen sich, daß man sie allein läßt,
und versuchen immer von neuem durch Erregen von Mitleid oder durch starr¬
köpfiges Beharren bei ungehörigen Betätigungen — ohne daß dabei aus¬
gesprochenermaßen eine boshafte und quälerische Absicht zugrunde liegt —,
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ihre eigene Bedeutung der Umwelt recht deutlich vor Augen zu führen.
Diese Stimmungslage kann naturgemäß sehr leicht dazu führen, die Span¬
nungen zwischen den Gliedern der Familiengemeinschaft aufzupeitschen und
die gemütlichen Bande innerhalb derselben mit Vernichtung zu bedrohen.
Jedenfalls aber vollzieht sich langsam und ohne Aufenthalt die innere Los¬
lösung des Familiengliedes von der Gemeinschaft: welchen Grad aber dieser
Kampf des Einzelnen auch erreichen möge — und dies wird notwendig von
der Impulsivität seiner geistigen Entwicklung und von der Richtung, in der
sich diese vollzieht, abhängen —, ausgefochten werden muß er von jedem
Individuum, das nicht zum Niederbruch seines geistigen Wesens kommen will.
Besonders zur Zeit der Pubertät, wo die besonderen Strebungen der indivi¬
duellen Persönlichkeit stürmisch in Erscheinung treten, ist die Krisis in dem
Verhältnis des Einzelnen zur .Gesamtheit eminent. Da erscheinen dem jungen
Menschen die übrigen Glieder als außerordentlich rückständig, da fühlt er
in sich die Mission, seinerseits sich aufzuschwingen über das Niveau der
Gemeinschaft, aus der er geboren ist; eine schrankenlose Ausbreitung des
Aggressionstriebes läßt ihn alle Mittel des Ehrgeizes und der Eitelkeit, des
Mißtrauens und der übermäßigen Hingabe, des trotzigen Widerstandes und
der schüchternen Unterwerfung benutzen, um der Gesamtheit fühlen zu lassen,
daß er ihrer nicht mehr bedarf. Viele Familien leiden schwer unter der
Tragik des Ringens zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeit; der fertige
Mensch wehrt sich, von dem werdenden beherrscht zu werden, und gar manche
geben den Kampf auf und legen müde und resigniert die Hände in den Schoß
In diesem Falle aber ist die Gemeinschaft unwiederbringlich zerstört; denn
nun glaubt der Einzelne das Recht zu haben, nicht nur sich loszulösen,
sondern auch die Gesamtheit zu benutzen zur Erreichung der selbstischen
Zwecke, und in diesem Augenblicke wird sie für ihn zur Masse.
Derselbe Kampf spielt sich selbstverständlich audsh innerhalb der anderen
menschlichen Gruppen ab, nur daß er sozusagen objektiver und weniger
schmerzlich für die übrigen Mitglieder sich vollzieht. Dafür aber kommt der.
Massengedanke in dem Einzelnen diesen Gruppen gegenüber auch viel skrupel¬
loser und viel schärfer zur Entfaltung. Auch wenn die eben gezeichnete
Gedankenreihe bei dem aufbegehrenden Familiengliede noch so sehr zu dem
innerlich-en Bruche mit der Gemeinschaft führt, alle Hemmungen, die von
dieser für ihn ausgehen, wird er nicht aus dem Wege räumen können. Die
Stimme des Blutes, die Tatsache, daß er eine lange Zeit in diesem Kreise
geweilt hat, daß er unter ihrem Schutze seine ursprüngliche Minderwertigkeit
und Unsicherheit überwinden konnte, werden ihn nicht gänzlich loslassen,
und nur in den extremsten Fällen ist ein Herabsinken dieser ihm so ver¬
trauten Gemeinschaft zur Masse für ihn möglich. Seine Stellung in den
andern Gesamtheiten ist von jener unendlich verschieden. In die Familien¬
gemeinschaft wird der Mensch hineingeboren, er gehört ihr naturgemäß an.
Die Zugehörigkeit zu den anderen Kreisen der menschlichen Gesamtheit wird
da gegen mehr oder minder von seiner Wahl und von seiner Zustimmung
abhängig sein. Selbst die Sprach- und Rassengesellung ist für ihn wechsel¬
bar, wenigstens so, daß nur noch äußere Spuren an seine frühere Zugehörig¬
keit erinnern, und Berufs- wie Religionskreis werden oft mit erstaunlicher
Leichtigkeit der Änderung unterworfen. Denn in diese Gruppen tritt der
Mensch erst ein — abgesehen von rein äußerlichen Beziehungen —, wenn
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Georg Hirsch, Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage
seine psychische Aktivität schon bis zu einem ziemlich hohen Grade ent¬
wickelt und er geistig in der Lage ist, sich mit ihnen abztlfinden; er bringt
ihnen sozusagen sein eigenes innerliches Erleben schon entgegen und will
ihnen nur notwendig angehören, sofern sie ihm ein Mittel sind, zur inneren
Freiheit seiner geistigen Persönlichkeit zu gelangen. In der Familie haben
wir zwar gesehen, daß die Möglichkeiten des Nichtverstehens bis zur Krisis
wachsen können, aber es darf wiederum nicht vergessen werden, daß die
Tiefe des Verstehens in diesem kleinen und eng umzogenen Kreise doch
immerhin zuvor einen ziemlich hohen Grad erreicht haben muß auf Grund
der so naheliegenden eingehenden Beobachtung des Tuns und Lassens der
andern. Diese Verständnistiefe wird sich immer wieder in Wirkung setzen,
wenn später der freie Mensch selbst wieder in einer Ehe aus seiner Freiheit
eine innere Notwendigkeit zur Gemeinschaft herauswachsen läßt; dagegen
wird er aus dem durch die menschlichen Verhältnisse gegebenen Zwange,
auch anderen Gesamtheiten anzugehören, immer für sich das Recht zur Los¬
lösung von ihnen entnehmen und erkämpfen, wenigstens aber wird er immer
klar in seinem Bewußtsein haben, daß ohne seine innere Zustimmung über
seine Zugehörigkeit zu ihnen nicht entschieden werden kann. Aus diesen
Gründen ist es verständlich, daß der Aufschwung und die überragende
Stellung des Individuums in diesen Gruppen mit weit geringeren inneren
Hemmungen zu kämpfen hat als innerhalb des Familienkreises. Die Ver¬
suchung zu herrschen ist hier viel größer, der in Aussicht stehende Erfolg
viel verlockender, der Anreiz zum Vorwärts- und Aufwärtsstürmen viel häu¬
figer und eindringlicher als dort. Zwar wollen viele den Aufstieg mitmachen
und treten ihm dann als seine geborenen Widersacher entgegen; aber noch
mehreren begegnet et, die sich nur schwach gegen seine Vorherrschaft
wehren, die sich so willenlos, wie es Menschen irgend möglich sein mag,
als Geführte hingeben und nur zaghaft in ihrem Verhalten an die ehemals
besessene Selbständigkeit zu erinnern wagen. Innerhalb dieses Kreises kommt
dann der Einzelne leicht zu dem Schritt, von der Tatsache der Geistigkeit
jener Geführten gänzlich abzusehen und sich nun als Herr einer von ihm
entgeistigten Masse anzusehen und dieselbe seinen Selbstzwecken nutzbar zu
machen. Denn dies muß als der Endzweck des hier gezeichneten geistigen
Prozesses angesehen werden: bewußt oder unbewußt, kraft des im Geiste
wohnenden Zwanges zur Entwicklung seiner individuellen Persönlichkeit
strebt der Einzelne danach, seine Eigenzwecke auf die Persönlichkeiten seiner
Umgebung zu übertragen und sie zur Verwirklichung derselben zu benutzen.
So wie das Kind langsam seine Kraft in sich aufkeimen läßt und nach und
nach immer mehr die Mutter zurückdrängt, weil es in allen kleinen Ma߬
nahmen der Kinderstube die Gefahr wittert, von einer stärkeren Persönlich¬
keit erdrückt zu werden, und nun seinerseits alle seine kindlichen Fähig¬
keiten benutzt, um sich zur Geltung zu bringen und die andern zum Mittel
zu machen, so zieht sich auch der erwachsende Mensch seelisch immer
stärker aus den Gemeinschaften zurück, in die ihn natürliche Notwendig¬
keiten hineinversetzt haben. Auch er sieht sein Ideal in der endgültigen
Befreiung von dem Lebensschema, das jede Gesamtheit in mehr oder minder
ausgeprägtem Maße für ihre Mitglieder bereit hält, und vervollständigt dieses
Ideal zugleich durch das zähe Bestreben, sein eigenes Lebensleitbild für das
allgemeine Geschehen maßgebend zu machen. Indem er in seinem Bewußt-
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H. Loewe, Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten Jugend 421
sein die Persönlichkeiten seiner Umgebung immer mehr entgeistigt und sie
zu Molekülen einer Masse entwürdigt, indem er gleichsam alle Vorzüge der
andern in sich hineinprojiziert und wie in einem Brennpunkte sammelt, so
daß er ihr Vorhandensein bei jenen ableugnen kann, schafft er den Massen¬
gedanken durch Überentwicklung seines Ich, verbunden mit der entsprechenden
Distanz von der Gesamtheit. Fortan glaubt er sich als ihr wollender Zentral¬
punkt, als der eigentlich allein zum Handeln Befähigte, als derjenige, der
den Kampf der Willensmotive allein auszufechten und daraus das Recht
herzuleiten hat, den Erfolg für sich in Anspruch zu nehmen. Die Masse
liegt ihm nur zur Hand als Werkzeug und physische Kraftquelle, mittelst
deren er die Ziele erreichen wird, die ohne jene Masse über seine Kraft
hinausragen würden. Dieser Gedankengang vollendet sich in ihm, sobald er
durch eigene oder zufällige Gestaltung der äußeren Verhältnisse in eine
leitende Stellung gelangt. In dem Augenblicke, wo die Verbindung mit
denen, die ihm unterstellt sind, am innigsten und tiefsten gewoben sein sollte,
zerreißen in dem Geiste des „Führers“ die letzten Fäden von Mensch zu
Mensch, wird der Niveauunterschied so bedeutend, daß er von dem eigent¬
lichen Wesen jener nur noch den Schatten bemerkt.
Wollen wir nun zusammenfassend unsere Überlegungen über die Ent¬
stehung des Massengedankens noch einmal überblicken, so ist folgendes zu
bedenken: Das angeborene Streben des Menschen nach persönlicher Über¬
legenheit führt ihn dazu, sich die natürlichen Massenkräfte dienstbar zu
machen. In der Folge muß dieses Bestreben ihm die Frage vorlegen, wie
er sich sein Verhältnis zu den Mitgliedern der menschlichen Gesamtheit ge¬
stalten wolle. Er entscheidet sich durch Übertragung des natürlichen Massen¬
begriffes auf die Persönlichkeiten seiner Umgebung, die Forderungen der
andern an ihn abzuweisen, sein individuelles Selbst aus ihrem Verbände
loszulösen, aus ihrem Niveau herauszuheben und die Gesamtheit zu benutzen,
die Entwicklung seiner Persönlichkeit vorwärtszupeitschen und den eigenen
Willen mit Hilfe der ungeheuren Gesamtheitsstoßkraft zur äußeren Wirkung
zu bringen. Der Begriff der Masse bedeutet die Peripetie dieses ganzen
Denkverlaufes, den Abschluß der inneren Loslösung von der Gemeinschaft.
Fortan wird der Einzelne in seinem individuellen Handeln nicht mehr mit
einer Gemeinschaft, sondern nur noch mit ihrem Phantom, der Masse rechnen,
und alle lebendigen Menschen seiner Umgebung wird er mit diesem Begriffe
zusammenfassen, ohne Rücksicht auf ihre Zahl und ihren Aufenthaltsort,
überhaupt ohne Berücksichtigung des Wesens jener, die er zur Masse zählt.
Damit steigert er das Leben in sich bis zur höchstmöglichen Potenz und
tötet zugleich die Lebendigkeit der andern. Die Schöpfung des Massen¬
gedankens ist ein Versuch, das Tote für die Steigerung des Lebens zu
gewinnen. (Ein zweiter Teil folgt)
Allgemeine Richtlinien zur erziehlichen Beeinflussung der
von der homosexuellen Infektion bedrohten Jugend.
Von Hans Loewe.
Im Mittelpunkte unserer letzten Betrachtungen steht das Problem der er¬
ziehlichen Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten
Jugend. Seine Lösung wird nur dann gelingen, wenn wir unsere Aufgabe
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Hans Loewe
nicht zu eng fassen. Es genügt nicht, bloß vorbeugende Schutzmaßnahmen
zu treffen, damit das Gift der Verführung nicht an die Jugend herankommt,
so wichtig diese auch sein mögen. Wir müssen vielmehr auch den Fragen¬
komplex gründlich erörtern: „Wie machen wir unsere Jugend von vornherein
widerstandsfähig, so daß sie trotz evtl. Berührung mit Personen oder Schriften
jener Richtung keinen Schaden erleidet? Das bedeutet aber nichts Geringeres
als eine sorgfältige Durchberatung von Vorschlägen und grundlegenden Ver¬
änderungen in den Formen unseres Gesellschaftslebens, eine Auseinander¬
setzung über das Problem der Autorität in Schule und Elternhaus, über die
sexuelle Frage, über das Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander, über
unerläßliche Änderung unserer Schullehrpläne, über die Reform der körper¬
lichen Ausbildung; denn die große Gefahr der „Verblüherung“ liegt ja
gerade auch darin, daß die neue Lehre vom Männerhelden auf das innigste
verknüpft wird mit der Not der Jugend, wie sie sich durch Mißstände in
Schule und Elternhaus, im Zusammenhang mit dem romantischen Streben
der Sehnsucht nach Führern, dem Ringen nach dem Ideal, der Beunruhigung
durch den erwachenden Sexualtrieb entwickelt hat.
Damit ist eine Zweiteilung des Stoffes für den heutigen Vortrag ge¬
geben, wir sprechen
einmal: von den vorbeugenden Schutzmaßregeln,
sodann: von den grundlegenden Reformen.
Was zunächst die direkte Bekämpfung der Gefahr betrifft, so steht an
erster Stelle die Forderung der schärfsten gesetzlichen Maßnahmen zur Be¬
strafung homosexueller Betätigung an Jugendlichen; sollte der § 175 aufge¬
hoben werden, so muß das Schutzalter der Jugendlichen wesentlich ausge¬
dehnt werden; die homosexuelle Werbearbeit in Wort und Schrift ist auf
das energischste zu unterdrücken, die Vorführung von Filmen zur An¬
preisung der gleichgeschlechtlichen Liebe rücksichtslos zu verbieten. In dieser
Hinsicht ist ja schon manches Erfreuliche geschehen; indessen sollte nach
meiner Meinung der Kampf gegen den Schundfilm noch viel energischer
durchgeführt werden; denn solange es möglich ist, daß Hunderttausende
von Jugendlichen täglich in Detektivfilms- und ähnlichen Vorstellungen in
ihrem ästhetischen und erotischen Empfinden irregeleitet und aufgewühlt
werden, ist die Gefahr homosexueller Verführung stets zu befürchten. Aufs
freudigste begrüßen wir alle Versuche, die wertvollen technischen Erfolge der
Filmindustrie in den Dienst der Schule zu stellen. Die Versuche des Zentral¬
institutes für Erziehung und Unterricht verdienen unsere ernstliche Aufmerk¬
samkeit. Filme, wie der jüngst hier in München gezeigte „Ski-Film“ sind
ausgezeichnet.
Besonderes Augenmerk bedarf die Bekämpfung der homosexuellen Schund¬
literatur durch den Kolportagehandel und in den Auslagen der Buchhand¬
lungen. Wieviel Buchhändler sind sich über die Bedeutung der Blüherischen
Bücher klar? Ich kenne Beispiele aus Erlangen, wo auf aufklärende Be¬
merkungen seitens energischer Studenten solche Bücher aus den Auslagen
sofort verschwanden. Der Jugendring, in den verschiedensten Städten
bereits organisiert, hat sich entschlossen, den Kampf gegen Schmutz in der
Literatur energisch aufzunehmen. Sehr schwierig ist es, die unglaubliche
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Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten Jugend 423
Propaganda zu beseitigen, wie sie z. B. Diederichs in Jena für Blüher macht ‘)
oder wie sie in den Zeitschriften der freideutschen Jugend und in ihrem
Verlage von Adolf Saal in Erscheinung tritt In Kurt Zeidlers Schrift
„Vom erziehenden Eros“ (1919) stehen die bezeichnenden Worte: «Über das
Geschlechtliche in der Erziehung sprechen bedeutet letzte, tiefste Zusammen¬
hänge aufdecken, in dem verbildeten Gefühl vieler wehrt sich etwas gegen
solche Entschleierung.“ Er ist überzeugt, daß bei der Entstehung und Ent¬
wicklung der Jugendbewegung die Inversion eine besondere Rolle spielt und
bezeichnet es als Hans Blühers Verdienst, die Beziehungen erkannt und mit
der ihm eigenen Unerschrockenheit und Konsequenz dargestellt zu haben.
Der Wendekreis, eine Vereinigung junger Lehrer in Hamburg, versucht
diese Ideen in zahlreichen Schriften zu propagieren und hat eine Schule
gegründet. Von verschiedenen Seiten wird der Versuch gemacht, diese Propa¬
ganda an den Pranger zu stellen, so in ( schärfster Form von Plenge im
Antiblüher oder von Maria Grüner in dem „Deutschen Bücherboten“ *),
November Nr. 21/22. Aber es ist nicht zu vergeasen, daß solche Schriften
doch nur auf verhältnismäßig kleine Kreise wirken und daß einer plan¬
mäßigen Bekämpfung durch die Tagespresse die ernstesten Bedenken ent¬
gegenstehen.
Unter allen Umständen muß verhindert werden, daß homosexuelle Lehrer
an Kinder ihres Geschlechtes Unterricht erteilen dürfen. Mehr wie je müssen
wir unsere Aufmerksamkeit auch unseren Vereinen zuwenden, die Jugend¬
gruppen haben; denn es ist einfach unglaublich, mit welcher Zudringlichkeit
sich schmutzige Elemente hier breitzumachen suchen. Pervertierte dürfen
unter gar keinen Umständen Führer von Jugendgruppen werden; denn auf
kleinen oder größeren Wanderungen, bei gemeinsamen Nachtlagern ist die
Möglichkeit einer Verführung viel zu leicht gegeben. Ich habe nicht den
Optimismus, wie Blüher, daß die Mehrzahl der Invertierten aus Scheu vor
der Jugend die Grenze ehrfurchtsvoll einhalten wird. Wir müssen auch auf
jene Stellenangebote achten, wie sie in der homosexuellen Zeitschrift „Der
Eigene“ zu lesen sind. Gerade in Landerziehungsheimen werden Stellen
von Sportsleitem, Turnlehrern und Musiklehrem von solchen Leuten mit Vor¬
liebe gesucht.
Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Bekämpfung der Gefahr bildet die
Aufklärung der Erzieher, Eltern und Lehrer. Unsere Besprechungen hier
stellen einen ersten Versuch in dieser Richtung dar, der, falls er Erfolg hat,
weiter ausgebaut werden soll. Die allermeisten Eltern und sehr viele Lehrer
stehen ja zunächst den Blüherischen Schriften und denen seiner Anhänger
ratlos gegenüber, falls sie dieselben in den Händen ihrer Kinder finden. Daher
gilt es nach zwei Seiten hin helfend einzugreifen: die Ärzte müssen uüs
das Material liefern, um die grundlegenden Thesen Blühers und seiner An¬
hänger in ihrer Haltlosigheit erkennen zu ^können, soweit sie das medizini¬
sche Gebiet betreffen. Einzelne von uns, die Schriften Blühers und der
ihm nahestehenden Kreise genau studiert haben, sollen diesen „Jugendführer“
*) Im Februarheft des Vortrupp (1921) S. 88, betont Plenge in einer Zuschrift an den Heraus¬
geber, Hermann Popert, daß Diederichs im Buchhändlerbörsenblatt (3. Dez.) eine ganzseitige An¬
zeige für Blüher veröffentlicht und neue Prospekte zur Anpreisung versendet, in Diederichs
Organ die Tat (Januarheft 1921) spricht D. sogar von „erwerbsmäßigen Verleumdern“.
*) Zeitschrift zur Stärkung des Deutschgedankens im Schrifttum 1920.
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Hans Loewe
und die Art seiner Schriftstellerei kritisch beleuchten; denn nur dann, wenn
-> wir mit diesen Gedankengängen vertraut sind, können wir unsern Schülern
mit Rat und Tat beistehen. Besonders sollten auch, zunächst im engen Kreis
der Eltembeiräte, Beratungen dieser Fragen stattfinden und die Ansichten
über die verschiedenartige Behandlung der einzelnen Fälle gründlich durch¬
gesprochen werden.
Indessen all die erwähnten Forderungen greifen noch nicht tief genug, es
sind vorbeugende Schutzmaßregeln. Das Problem muß an der Wurzel gefaßt
Werden. Eine erziehliche Beeinflussung hat zur Grundvoraussetzung die
Schaffung eines dreifachen Vertrauensverhältnisses:
Einmal zwischen Schülern und Lehrern,
sodann zwischen Eltern und Kindern,
endlich zwischen männlicher und weiblicher Jugend.
Der Boden für das Fortwuchem Blüherischer Ideen, wie sie in seinen
Büchern niedergelegt sind, ist so lange gegeben, solange die Not der Jugend,
aus der die Jugendbewegung hervorgegangen ist, fortbesteht. Daher müssen
wir den idealen Antrieben, von denen unsere Jugend bewegt ist, selbst
einen Inhalt geben. Es ist ja ganz bestimmt nicht der schlechteste Teil,
der Blüh er zujubelt; im Gegenteil: es sind häufig solche, in deren Herzen
ein brennender Ekel gegenüber veralteten, veräußerlichten und verrohten Ge¬
sellschaftsformen wohnt; es sind die, die unter dem Druck falscher Auto¬
rität gelitten haben, denen ein sehr hoch gestecktes Menschheitsideal vor¬
schwebt. Diese Jugend verlangt, wie die Jugend überhaupt, nach
Führern; die Helden Verehrung, das deutsche heldische Gefühl, regt sich in
ihr; „Mut zum Blut tt ist ein.charakteristisches Merkmal des jungen Germanen.
Weil Blüher das nicht von vom herein verdammt, daher jubeln ihm die
germanisch Empfindenden zu. Das Führerproblem, das Problem der starken
männlichen Persönlichkeit, gilt es also zu lösen. Die Jugend hat ein Recht
darauf, in ihren Lehrern Vorbilder, Wegweiser zur Höhe des Ideales, Berater
in allen seelischen Nöten zu sehen. Daher lautet das wichtigste Gebot der
Stunde: die Lehrer müssen selbst Führer sein. Durch ihr überlegenes
Wissen, durch die Kraft ihrer Persönlichkeit, durch die gewissenhafteste
Hingabe an ihren Beruf, den sie sich nicht stundenweise bezahlen
lassen. Das Furchtbarste, was unserem Lehrerstande widerfahren könnte,
wäre das Eindringen jener Grundanschauung, daß unser Erzieherberuf ein
bezahltes Amt sei. Unsere Jungen haben ein außerordentlich feines Ge¬
fühl dafür, wie der Lehrer seinen Beruf auffaßt. Sie dürfen in uns nicht
Beamte oder nur Lehrer sehen; jeder von uns muß wissen, wie es in den
Herzen der Jugend aussieht, welche Nöte sie bedrängen. Es genügt nicht,
wenn wir uns auf unseren Unterricht beschränken; freilich geht auch von
ihm, wenn er gut ist, eine wertvolle Wirkung aus. Strenge gegen rieh
selbst, nicht nur, was Abhärtung und körperliche Anstrengung betrifft, sondern
namentlich auch straffe Zucht in der geistigen Arbeit, ist eine der vor¬
dringlichsten Forderungen der Gegenwart. Denn nichts macht die Jungen
empfänglicher für Verführungen als die übertriebene Weichlichkeit und
Rücksichtnahme gegenüber der eigenen Person. Willensschwäche beraubt
sie der Widerstandsfähigkeit, wenn Infektion droht. Mit der Strenge gegen
sich muß ein klares, auf Tatsachen begründetes Urteil, das Gesundes und
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Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten Jugend 425
Krankes wohl zu unterscheiden vermag, in Verbindung treten, ferner ein
lebhaftes Interesse an dem Wahren, Guten und Schönen, ein ausgesprochener
Ekel an dem Unnatürlichen; all das vermag ein guter, erziehender Unter¬
richt zu leisten. Wir sollten aber auch die Lektüre kennen, die unsere Jugend
beschäftigt, ihr mit Rat und Tat bei deren Auswahl helfen, ihr Lesebe¬
dürfnis durch Leihen eigener Bücher unterstützen und so unvermerkt einen
stetig wachsenden Einfluß auf sie gewinnen. Wir müssen unsere Schüler
auch in ihren Leistungen außerhalb der Schule beurteilen lernen, sie bei
Spiel und Wanderungen beobachten. Jeder von uns, der nur den guten
Willen hat, wird irgendeine seelische Not stillen können; dann aber ist be¬
reits der Boden für vertrauensvolles Arbeiten geschaffen. Das kann ich
aus eigener Erfahrung bestätigen, und darin stimmen mit mir alle Freunde
überein, die Gleiches versucht haben.
„Lehrersein“ bedeutet also: Verantwortlichkeitsbewußtsein haben, Leh¬
rer sein bedeutet: ein volles Verständnis für die Freuden und Leiden der
Jugend besitzen, Lehrer sein bedeutet: aus Liebe zur Jugend selbstlos alle
seine Kräfte in ihren Dienst stellen.
Wer in diesem Sinn den Erzieherberuf auffaßt, der darf nach meiner An¬
sicht mit vollem Rechte den Anspruch erheben, Führer zu sein. Einem
solchen Manne wird sich die Jugend anschließen, er wird dann auch auf
Grund seiner genauen Kenntnis der einzelnen Jungen imstande sein, bei
der Wahl von Jugendgruppenführern mitzuwirken; denn die Jugend hat ein
Recht, auf ihren Wanderungen und bei ihren Spielen unter sich zu sein.
Wer dazu irgendwie veranlagt ist, muß in der Jugendbewegung außerhalb
der Schule ein Feld der Betätigung suchen. Auf alle Fälle sollten wir Lehrer
der Jugend die Möglichkeit geben, sich jederzeit vertrauensvoll an uns zu
wenden. „Also Sprechstunden?“ ruft mir vielleicht mancher entsetzt zu,
„haben wir nicht genug schlechte Erfahrung mit den Elternsprechstunden
gemacht?“ Nun, wenn der Vorschlag zu Sprechstunden zwischen Lehrern
und älteren Schülern gemacht wird, so ist das nicht wörtlich zu verstehen;
wir werden nicht immer auf unserem Katheder sitzen und an der Türe hängt
ein Zettel: „Sprechstunde von 3—4“, sondern jeder meiner Schüler weiß:
Wenn m ir etwas Besonderes am Herzen liegt, dann darf ich mich an meinen
Lehrer wenden; ich kann ihn nach Hause begleiten oder in seiner Wohnung
aufsuchen; ein andermal ist auf einem gemeinsamen Ausflug Gelegenheit zur
Aussprache geboten. Schüler, die in ein solches Vertrauensverhältnis zu mir
getreten sind, kann ich auch ruhig über Dinge fragen, die sie sonst nicht
ohne weiteres mitteilen würden. So habe ich einen meiner Schüler in Blüh er s
Vorträgen gesehen und ihn gebeten, mir seine Eindrücke zu schildern. Im
Gespräch unter vier Augen konnte ich ihm in aller Ruhe auseinandersetzen,
worin die außerordentliche Gefahr der Blüherischen Ausführungen besteht.
Der Junge hatte ein so gesundes, natürliches Gefühl, war so erfüllt von reiner
Freude an den Wanderungen, die er mit einer kleinen Schar junger Wander¬
vögel in die Umgebung Münchens unternahm, daß meinerseits nicht viel zu
hin mehr übrig blieb.
Nichts wäre verkehrter, als wenn unter -unseren Jungen der Eindruck ent¬
stünde, daß sie beobachtet sind, daß eine Art Spitzelsystem eingerichtet
ist, um die Schuldigen zu fassen und sie, wenn möglich, einer Bestrafung
zuzuführen. Das hätte nur zu Folge, daß das Übel durch möglichste
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Hans Loewe
Geheimhaltung größer würde als zuvor. Vielmehr gilt es mit äußerstem
Takt vorzugehen, mit offenen Augen, die Jugend in und außerhalb der
Schule zu betrachten, ob sich in ihrem ganzen Benehmen, in ihrer psychi¬
schen Verfassung, ihren Äußerungen Anhaltspunkte gewinnen lassen für
eine Beschäftigung mit Blüherischen Ideen. Nur, wer ihr Vertrauen in vollem
Maße besitzt, darf meiner Ansicht nach überhaupt den Versuch machen, sie
erzieherisch zu beeinflussen. Allgemeine Vorschriften lassen sich dabei nicht
auf stellen, vielmehr muß oberster Grundsatz sein, individuelle Behandlung,
unter steter Berücksichtigung der besonderen Lage des einzelnen Falles.
Wie zwischen Lehrern und Schülern, so muß auch zwischen Eltern und
Kindern ein Vertrauensverhältnis hergestellt werden. Ein Gutteil der Ver¬
antwortung für die übermäßige Romantik in unserer Jugend tragen Väter
und Mütter, weil sie ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern vernachlässigt
haben. In selten feiner Weise hat Frau Marie Gröner in einem Vortrag
„die Jugendbewegung und ihre Gefährdung“ als die vordringlichste
Forderung für den Wiederaufstieg unseres Vaterlandes und den Schutz
unserer Jugend aufgestellt, die Wiedergeburt des Elternhauses. Ein
Kind, das an Vater und Mutter die richtige Stütze hat, sucht nicht homo-
, sexuelle Befriedigung mit Kameraden; ein Kind, dem das Vaterhaus ein
Heim bedeutet, wohin es sich nach seinen Schulnöten flüchten kann,
gerät nicht in eine Konfliktstimmung; Jungen, die mit ihren Vätern an
den Sonntagen spazieren gehen und ihren Müttern in stillen Stunden
beim Erzählen oder Vorlesen lauschen, sind gegen erotische Verirrungen ge¬
feit. Das natürlichste ist es, wenn die sexuelle Aufklärung unaufdringlich,
von Vater oder Mutter erfolgt. Das schwierigste Problem entsteht, wenn
die Knaben zu Jünglingen heranwachsen und zwischen ihren auf- und vor¬
wärts drängenden Gedanken und den Ansichten der Eltern Spannungen ent¬
stehen, wenn die Kinder das Gefühl haben: Vater und Mutter sind rück¬
ständig und benützen ihre Autorität, einen Druck auszuüben. Eine solche
Lage wird nicht eintreten, wenn es den Eltern möglich ist, ihren . Kindern
eine starke, gesunde in sich geschlossene Weltanschauung zu vermitteln; die
Bedeutung eines lebhaften religiösen Lebens in der Familie darf in keiner
Weise unterschätzt werden.
Wie viele Millionen gibt es aber, die kein Vaterhaus, kein Heim besitzen,
das sie vor den Gefahren der homosexuellen Infektion und der Verblüherung
schützen könnte? Sollen wir der Entwicklung, die die Wirtschaft der ver¬
flossenen Jahrzehnte genommen hat und die zur Zusammenballung von
Millionen in Industrievierteln führte, ruhig zusehen? Als ein unabänderliches
Schicksal hinnehmen? Durchaus nicht. Auch hier möchte ich als das
Ideal, dem mit allen Kräften zuzustreben ist, hinstellen: die Wiedergeburt
des Elternhauses. Die Wege, die dazu führen, sind sehr schwer. Aber
sie müssen im Interesse unseres Volkes unter allen Umständen beschritten
werden. Als der wichtigste erscheint eine großzügig durchgeführte Boden¬
reform, die den Heimgedanken in den Scharen der Entwurzelten wieder
aufkeimen läßt, die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen und
Arbeitslöhne, die auch den einfachsten Volksgenossen ermöglicht, freie Stunden
im Familienkreis zu verleben. Ein Mann, der wie wenige gerade das Leben
der einfachen Leute kannte und von tiefstem Sympathiegefühl für sie erfüllt
war, weil er ihre Leiden und Freuden aus eigenster Anschauung zu würdigen
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Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Infektion bedrohten .Jugend 427
wußte, Pestalozzi, wird nicht müde, auf die Bedeutung der Familie auch
in jenen Kreisen hinzuweisen. „Die häuslichen Freuden des Menschen sind
die schönsten der Erde, und die Freude der Eltern über ihre Bänder ist die
heiligste Freude der Menschheit," so schreibt er in „Lienhardt und Gertrud“.
Gleichzeitig müssen aber hier ergänzend die Jugendorganisationen ein-
schreiten und die Aufgaben übernehmen, die vom Elternhaus nicht über¬
nommen werden können.
Die größte Gefahr droht vonseiten Blühers, wenn zwischen der männ¬
lichen und weiblichen Jugend kein Vertrauensverhältnis besteht, begründet
auf gegenseitiger Wertschätzung. In der Sexualfrage muß der oberste Grund¬
satz lauten: Mann und Weib, nicht Mann und Mann, nicht Weib und Weib.
Eine Reihe von Mädchentypen unserer Zeit hat zweifellos dazu beigetragen,
gerade die feiner empfindende männliche Jugend abzustoßen und sie den
Lockungen Blühers zugänglich zu machen, der das herbe Ideal des „allein
produktive wertvolle Arbeit leistenden Männerhelden“ aufstellt. Das ist
einmal der Typus einer bestimmten Gruppe studierender Mädchen, die jedes
Gefühl für das verloren haben, was den Reiz und den Vorzug ihres Ge¬
schlechtes ausmacht; ferner der Typ Mädchen, die auf das Heiraten dressiert
den Mann erwarten und ihn in oberflächlichen Abendgesellschaften zu finden
hoffen; endlich der Typ, der sich durch Art und Wahl der Kleidung prostituiert.
Reformbestrebungen, die Erfolg versprechen sollen, müssen schon früh
einsetzen. Die Absperrung der beiden Geschlechter voneinander ist ja
allerdings nicht mehr so streng wie früher, kann aber noch bedeutend er¬
leichtert werden. Jungen und Mädchen sollen und müssen Gelegenheit zu
natürlichem, ungezwungenem Verkehr haben, der ihnen die Gelegenheit bietet,
sich gegenseitig in ihrer Eigenart kennen und schätzen zu lernen. Zweifellos
hat unsere Turn- und Sportbewegung schon viel Gutes geleistet, auch die
gemeinsamen Wanderungen oder Ski- und Bergtouren sind in ihrem er¬
zieherischen Einfluß durchaus nicht zu unterschätzen. Namentlich wenn d^r
Junge Anleitung empfängt, in ritterlicher Weise sich seiner Pflicht als der
körperlich Stärkere bewußt zu werden. Gemeinsam überstandene Schwierig¬
keiten, ja Gefahren, verbinden enger als jedes andere Band. Die Feste
unserer freideutschen Jugend mit ihren künstlerischen und geschmackvollen
Kleidern, ihren hübschen Gesängen und Tänzen, ihrer übersprudelnden natür¬
lichen Fröhlichkeit haben gezeigt, welche Kraft und Gesundheit in unserer
Jugend steckt. Wie weit man in der Frage der Koeduktion gehen soll,
das ist mit wenigen Worten schwer zu entscheiden. Jedenfalls sollten die
pädagogischen Gründe, die Ungleichheit in der Entwicklung der beiden Ge¬
schlechter, die Verschiedenheit in den Erziehungsmethoden nicht zu gering
eingeschätzt werden.
Die Hauptsache bleibt, daß unsere männliche Jugend Achtung gewinnt vor
dem körperlich gesunden und reinen und geistig wohlgeschulten Mädchen.
Wieviel kann da auch schon im engen Familienkreis an wertvoller Arbeit
geleistet werden? In keiner Weise darf der Einfluß der Schwester auf ihre
Brüder unterschätzt werden. Hier im täglichen Verkehr miteinander, im Ge¬
nuß gemeinsamer Freude und im Ertragen gemeinsamer Schwierigkeiten und
Leiden soll jenes Vertrauensverhältnis immer tiefere Wurzeln schlagen, aus
dem dann das rechte Verständnis für das Wesen der Frau und ihre Auf¬
gaben erwächst. Ähnliche Wirkung vermag ein schönes Freundschafts-
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Hans Loewe
Verhältnis zu erzielen, in dem der heranwachsende Jüngling das Mädchen
als mit zur Höhe strebende Gefährtin kennen lernt. Mit rücksichtsloser
Schärfe ist die Jugend darauf aufmerksam zu machen, wie pietätlos
Blüher über die Familie denkt. Sätze wie: „der Wille zur Familie ist die
weiche, unheldische träge Stelle im Wesen“ oder „gezeugt worden zu sein
ist nichts, wofür man jemandem zu danken hätte“ sind „Giftpillen“. Das
Gleiche gilt von Blühers Einschätzung der Monogamie und seinen Aus¬
führungen über die zwei Frauentypen.
Ganz besonders schädliche Wirkungen auch hinsichtlich des Eindringens
der Blüherschen Idee bringt der Kampf gegen die Autorität, wie er für
die moderne Jugend- und Schulbewegung charakteristisch ist. Damit
kommen wir zum Gebiet der Schule. Wir fragen, welche Maßregeln können
hier getroffen werden, um dem Einfluß Blühers und seiner Gesinnungs¬
genossen zu begegnen, um aufbauend zu wirken?
Die Schule muß für die Kinder eine Stätte der Freude sein, niemals
darf sie zu einer Stätte der Qual werden, wo in äußerlicher Weise Autorität
durch Gewalt erzwungen wird. Welche Bedeutung dabei der Persönlichkeit
des Lehrers zukommt, haben wir bereits gesehen. Innige Zusammenarbeit
von Lehrern und Schülern, bei der die Wangen der Jugend sich röten und
die Augen leuchten, schließt durchaus nicht hohe Anforderungen an die
geistigen Fähigkeiten der Kinder aus. Kräfteentwicklung bedeutet immer
zugleich Willensstärkung, aber freilich muß strengste Rücksicht darauf
genommen werden, daß das Maß der Aufgaben an den einzelnen Tagen für
die verschiedenen Fächer stets der Leistungsfähigkeit der Schüler angepaßt
ist, denn nichts wirkt auf den Charakter der Jugend schädlicher, als die
Nötigung, zu unredlichen Mitteln zu greifen, um allen Anforderungen genügen
zu können. Übertrieben hochgeschraubte Forderungen zerstören die mora-'
lische Feinfühligkeit und führen zur Gleichgültigkeit und zur Betrügerei.
Daher muß der oberste Grundsatz bei der Aufstellung der Lehrpläne sein,
sorgfältigste Beschränkung auf die Kräfte entwickelnden und hohe Bildungs¬
werte enthaltenden Fächer und stete Rücksichtnahme auf die Leistungs¬
fähigkeit der Jugend. Lehrer, die infolge mangelnder Erziehungsfähigkeiten
ungünstig auf den Charakter der Jugend einwirken, sind unter allen Um¬
ständen sofort zu entfernen.
Freude an der Arbeit setzt ferner Interesse und Erfolg voraus. Mit
steigender Fähigkeit der Schüler muß sich die Möglichkeit zu erweitertem
und vertieftem Studium bieten. Deshalb die Forderung: freiere Gestaltung
der Lehrpläne auf den oberen Stufen der Schulen, damit die Jugend ihrer
Neigung und Begabung entsprechend auf enger umgrenztem Gebiet mehr zu
leisten vermag, Beseitigung allzu einengender Bestimmungen der Schulordnung,
die in allen Fächern gleich hohe Anforderungen verlangt, größere Bewegungs¬
freiheit für den Lehrer in der Behandlung seines Stoffes.
Unsere Schulstundenpläne leiden ferner durch die unglückselige Inein¬
anderschiebung der wissenschaftlichen Fächer und der Tum- und Spiel¬
stunden. Es müßte gänzlich ausgeschlossen sein, daß Turnstunden sogar
am Anfang des Unterrichts liegen; denn es ist eine unbestreitbare Tatsache,
daß es nach Turnstunden eine Qual ist, Unterricht zu erteilen — das gilt für
die Jungen wie für die Lehrer. Einen einigermaßen normalen Zustand kann
ich mir nur denken, wenn der gesamte wissenschaftliche Unterricht zusammen-
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Erziehliche Beeinflussung der von der homosexuellen Inlektion bedrohten Jugend 429
gelegt wird und die Turn- und Spielstunden an das Ende oder auf die freien
Nachmittage verlegt werden.
Mit diesen Betrachtungen kommen wir bereits zum letzten Punkt. Eine
der allerbesten Vorbeiigungsmaßregeln gegen Verblüherung, Willensschwäche
und sexuelle Verirrungen ist eine wirklich großzügig geleitete Körper¬
pflege, die gerade den in der Pubertätszeit befindlichen Jungen die
Möglichkeit gibt, ihren Kraftüberschuß auf natürliche Weise auszunutzen.
Baden, Turnen, Spielen, Wandern und Skilaufen muß dieses Programm
enthalten. Dabei möchte ich besonders nur darauf hinweisen, daß die
Schule um Gotteswillen nicht alles selbst machen soll. Hier gilt es, der
Jugend ihr Recht einräumen, unter sich zu sein. Wir wollen ihr mit Rat
und Tat helfen, aber sie nicht auf Schritt und Tritt überwachen. Daß die
Jugend Wertvolles leisten kann, hat der Wandervogel gezeigt. Schon sehen
wir in ihr Kräfte am Werk, die uns Gutes hoffen lassen, die uns zeigen,
wie wir den in ihr schlummernden idealen Antrieben Richtung und Inhalt
geben können. Ich meine den Jugendring; in den verschiedensten Städten
Deutschlands hat sich die gesamte Jugend zusammengeschlossen zu auf¬
bauender Arbeit. Neben den Deutschnationalen sitzen einträchtig die kon¬
fessionell organisierten, die kommunistischen; nur eine fehlt hier in München,
die Mehrheitssozialdemokratie. Ihre Vertreter waren voll Eifer bei der ersten
Zusammenkunft dabei, als aus Berlin die Weisung kam, die Jugend der
M. S. P. dürfe sich nur an Vereinigungen beteiligen, die den Klassenkampf
fördern.
Diese im Jugendring zusammengeschlossene Jugend hat sich eine doppelte
Aufgabe gestellt: eine negative und eine positive. Was die negative
betrifft, so soll der Kampf gegen Schmutz in Literatur und Kunst auf¬
genommen werden: daher suchen die Ringvertreter z. B. als Berater in. die
Filmzensur einzutreten; gerade der hiesige Vertreter der kommunistischen
Jugend führt den stärksten Kampf gegen das Kino in seiner zersetzenden
Wirkung. Höher aber noch als die negative schätzen sie die auf bauen de
Arbeit. Daher veranstalten diese Ringe Aufführungen von Märchen, Weih-
nachtsspielen, singen mit den Kindern Volkslieder, eröffnen ihnen Einblicke
in die wundervollen Schätze unserer Volksliteratur. Sie bekämpfen die
häßlichen modernen Negertänze durch Pflege der alten volkstümlichen
Reigen; Studenten und Studentinnen wandern auch in die Kinderhorte,
Waisenanstalten, Verwahrlostenheime und erfreuen die Kinder durch ihre
Vorführungen.
Die Bedeutung dieser Bewegung liegt für uns Erzieher darin, daß uns
hier die Anknüpfungspunkte gegeben sind, die beiden brennendsten Auf¬
gaben der Gegenwart lösen zu helfen: die soziale und die nationale.
Wir stellen damit der ideal gerichteten Jugend, die, ihrer Kräfte bewußt,
etwas Großes leisten will, Ziele, die sie mit Begeisterung erfüllen können,
an deren Erreichung Jungen und Mädchen in gleicher Weise wetteifernd
beteiligt sind, so daß sie gar keine Lust noch Zeit haben, Blüher nachzuspüren.
Das deutsche Volk einig in allen seinen Schichten, tief verwurzelt im
Heimatboden, treu pflegend das hohe Erbe, das ihm seine größten Söhne
hinterlassen haben, — das deutsche Volk, sich seinen deutschen Staat
schaffend, seine Weltmission erfüllend, — ein Ziel, wert, daß sich die beste
deutsche Jugend daran versucht!
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430
A. SchwSrig
Zwei Begabungsprüfungen.
Von A. Schwärig. \
Die beiden Prüfungen, von denen im nachfolgenden berichtet werden soll,
fanden kurz nach Ostern 1921 statt. Die erste in Dresden an der früheren
Kadettenanstalt diente der Auslese 13—14 jähriger zum Zwecke der Auf¬
nahme in eine Aufbauschule; die zweite war nach Form und Inhalt der
ersten gleich und wurde abgehalten am Lehrerseminar in Schneeberg zur
Nachprüfung der Dresdner Erfahrungen und Ergebnisse. Die ehemalige
Kadettenanstalt, die frühere Schule für zukünftige Offiziere, sollte vom Reiche
in sächsische Verwaltung übergehen und in eine „sächsische Landesschule“ <
umgeformt werden. Die großen und schönen Schul- und Internatsgebäude
mit ihren weiten Garten- und Waldanlagen, am Rande der Dresdner Heide
gelegen, waren wie geschaffen zu einer großen modernen Reformanstalt, die
in sich vereinigen sollte: Oberrealschule, Realgymnasium und Begabtenschule.
Staat und Gemeinden stellten eine Menge Freistellen und Stipendien zur Ver¬
fügung. Aufnahme in die Aufbauschule, die 6jährig gedacht war, sollten
begabte Schüler der Volksschule finden, die diese 7 bzw. 8 Jahre besucht
batten. Es war geplant, diese Aufbauklassen nach 3 jährigem Sonderunterricht
einmünden zu lassen in die Obersekunda des Realgymnasiums und sie dann
mit dieser gemeinsam weiter zu führen. Dieser Plan hat sich dann in der
Praxis noch verschiedentlich verschoben. Es erhob sich nun die Frage: Wie
soll die Aufnahmeprüfung bei so verschiedenartigem Schülermaterial gestaltet
werden? (Die Knaben kamen aus allen möglichen Formen des reichgegliederten
sächsischen Schulorganismus: von der einfachen Dorfschule, aus Stadtschulen—
6 und 8klassig, mit und ohne fremdsprachlichen Unterricht usw.) Eine Kenntnfy-
prüfung im alten Sinne, mit der man übrigens den mehr oder weniger reich*
gegliederten Lehrplan der betreffenden Schule getroffen hätte, war einfach
unmöglich. Man kam also auf eine Begabungsprüfung zu, wie sie in Berlir.
und Hamburg schon zu wiederholten Malen und mit Erfolg abgehalten wordei
war. Da ich gerade zur Teilnahme an der 8. Berliner Begabtenprüfung
beurlaubt war, erhielt ich den Auftrag, eine Testserie für eine solche Prüfung
zusammenzustellen. Herr Dr. Bobertag, Leiter der psychologischen Abteilung;
des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, hat mich dabei tatkräftig
unterstützt; ich möchte ihm hier noch für seine freundliche Mitarbeit meinen
Dank aussprechen. Die Tests sind z. T. neu, z. T. sind sie entnommen d'em
Berliner, Hamburger und Leipziger Material. Die Prüfung war zunächst 2 tägig
gedacht, aus technischen Gründen und weil die Prüflinge das Resultat' am
nächsten Tage bereits erfahren sollten, mußte sie auf den Vor- und Nach¬
mittag eines Tages zusammengedrängt werden; es hat sich dies als eine zu
starke Belastung der Prüflinge herausgestellt, und ebenso konnte die Korrektor
nur durch Heranziehung aller Kräfte des Lehrerkollegiums erledigt werden.
Durch eine sorgfältige Instruktion über die einzelnen Tests, ihre Beurteilung
und ihre Verwertung war für eine einheitliche Zensurierung Sorge getragen.
Gewiß lassen sich gegen diese schnelle Entscheidung, die eine Nachprüfung
ziemlich unmöglich machte, allerlei Bedenken erheben; zukünftig werden auch
diese Mängel abgestellt werden, letzten Endes entscheidet ja doch der Erfolg,
und darüber wird die Arbeit berichten. Es hatten sich zur Aufnahme un¬
gefähr 75 angemeldet, aufgenommen sollten 20—24 werden. Von der Leitung
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zwei Begabangsforschungen
431
der Schule war eine Vorauslese insofern getroffen worden, als man alle die¬
jenigen, die im Deutschen die Zensur 2 b und darunter hatten, zurückwies.
£s blieben so noch 40 Prüflinge übrig. Sie brachten zur Prüfung mit das
Zensurbucb, Aufsatzheft und einen vom Lehrer ausgefüllten Beobachtungs¬
bogen, der vom Dresdner Stadtschulrat Hartnacke verfaßt ist. Ich lasse hier
die wichtigsten Punkte dieses Bogens folgen:
1. Einfügung in die Schulordnung und äußeres Verhalten.
2. Sittliches Verhalten. Liegen Beobachtungen vor, die auf Charaktermängel deuten?
3. KlasBenplätze, möglichst der letzten 3 Jahre. Wenn eine Rangordnung nicht besteht, welchem
Fünfte] gehört der Bewerber an, nach der nach bestem Ermessen geschätzten Rangordnung ?
4. Bei ausgesprochen günstigem Stand der Leistungen:
a) Ist dieser erreicht im wesentlichen durch Fleiß und Pflichterfüllung;
b) oder durch natürliche Begabung in bezug auf Denkfähigkeit (Urteil-Kombination) — in
bezug auf Gedächtnis;
c) durch beides (a und b)?
Wenn 4a bejaht wird: geht der Fleiß nach dem Urteil der Schule im wesentlichen auf
Antriebe der Schüler selbst oder Antriebe der Schule zurück, oder ist er etwa das Er¬
gebnis starker Antriebe auf Seite des Elternhauses (Ehrgeiz der Eltern)?
6. Wie stellt sich das Haus zu dem Streben des Schülers ein: fördernd, hemmend, verständ¬
nisvoll, gleichgültig? Hat er Hemmnisse zu überwinden? Insbesondere auch solche, die
in der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Familie liegen?
6. Bei nicht so ausgesprochen günstiger Leistung: Worin sieht die Schule Hemmungen der
Leistung?
a) Ist die Konzentration mangelhaft — öfter nacblassend — gelegentlich nachlassend?
b) Fehlt es meist — oft — hier und da — am Fleiße?
c) Liegen die Grenzen in der intellektuellen Begabung (sehr mäßige — mäßige — durch¬
schnittliche Begabung)? Liegen die Begabungsmängel vielleicht nur in besonderer
Richtung?
d) Wirken ungünstige häusliche Verhältnisse auf die Leistung ein ? (Wirtschaftliche Lage —
ungünstige Arbeitsgelegenheit im Hause? — starke Inanspruchnahme durch häusliche
Verrichtungen — gewerbliche Beschäftigungen — ungünstige Erziehungsverhältnisse.)
e) Gehen die Interessen des Schülers vielleicht auf Dinge außerhalb der Schule? Welches
sind solche Interessen ?
f) Liegt ungünstiger Gesundheits- und Kräftezustand vor?
g) Unterbrochener Schulbesuch? Aus welchem Anlaß?
h) Schulwechsel? wann? woher? — etwaige sonstige Ungunstmomente?
7. Handelt es sich um länger dauernde Minderleistung, oder ist anzunehmen, daß es sich um
vorübergehendes Nachlassen handelt?
8. Liegt die Veranlagung des Schülers vorzugsweise in reproduktiver Richtung oder handelt
es sich um eine Veranlagung mehr spekulativer, schöpferischer, geistig produktiver Art?
9. Liegen praktisch-technische — künstlerische Anlagen vor? welcher Art? welchen Grades?
besondere Fähigkeiten, auf welchem Gebiete?
10. Weiteres zur Charakteristik des Bewerbers. Besondere WesenszÜge: Ehrgeiz, Art sich zu
geben (verschlossen, offen, gesellig) usw. Interessenrichtung.
11. Letztes Zeugnis.
12. Wie werden die Aussichten der künftigen Entwicklung beurteilt?
Die Ausfüllung der Bogen war recht verschiedenartig und durchaus nicht
gleichwertig. Während einige Lehrer ein durchaus brauchbares psychologisches
Schülerbild mit reichen Beobachtungen aufstellten, hatten andre sich einfach
geholfen durch Unterstreichen der etwa in Frage kommenden Ausdrücke im
Beobachtungsbogen. Es fehlt im allgemeinen noch an der psychologischen
Einstellung, und hier wäre meiner Meinung nach ein reiches Feld der Betätigung
für den von Professor Stern befürworteten Schulpsychologen, der zunächst
für einen größeren Kreis von Schulen zuständig sein mag und die Lehrerschaft
in die Fragen der Schulpsychologie und Berufsberatung durch Vorträge und
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
432
A. Schwang
Arbeitsgemeinschaften einführen könnte. Jetzt, wo durch den Abbau der
Seminare auch eine Menge psychologisch geschulter Kräfte frei werden, scheint
mir der geeignetste Augenblick für die Verwirklichung dieses Planes zu sein.
Natürlich müßte der Nachweis der Kenntnisse moderner Psychologie gefordert
werden, aber vielleicht entschließt sich Prof*. Stern, Hamburg, seinen Lehrgang
über pädagogische Psychologie für Lehrer aller Schulgattungen, die er dieses
Wintersemester abhielt, baldigst zu wiederholen. Die Dresdner Erfahrungen
lehren, daß unbedingt etwas getan werden muß, wenn der Anspruch der
Lehrer, bei Auswahl der Begabten beteiligt zu sein, nicht bloß auf dem Papier
stehen soll. Die Bogen wurden trotzdem zur Entscheidung herangezogen,
wo nur irgend,möglich. Die Prüfung selbst dauerte von 7—11 Uhr mit einer
Pause von 20 Minuten und nachm, von */a4—6 Uhr. Sie war natürlich infolge
des Zusammendrängens auf einen Tag gleichzeitig eine Prüfung der Stärke
des Arbeitswillens und der Konzentration und ergab schon hier interessante
Beobachtungen. Anwesend bei der Prüfung waren außer dem Versuchsleiter
noch 2—3 Herren vom Kollegium. Die Versuchszeiten wurden mit der Sekunden¬
uhr abgenommen. Quartblätter und Bleistift bildeten das Schreibmaterial
Vor Beginn wurde darauf aufmerksam gemacht, daß es weniger auf tadellose
Schrift und fehlerlose Niederschrift als auf gute Leistung ankomme. Um die
Schüler an den Versuchsleiter zu gewöhnen und ihnen etwaige Examensangst
zu nehmen, wurden ihnen erst folgende Fragen zur schriftlichen Beantwortung
gestellt:
I. Wie heifit du? Wann bist du geboren? Wo? Welche Schnle, welche Klasse hast da
besucht?
II. Welche Krankheiten hast du durchgemacht?
III. Hast du Geschwister? Wieviel?
IV. Welches ist dein Lieblingsfach in der Schule? Warum?
V. Was machst du am liebsten außerhalb der Schule? Warum?
VI. Welches Fach liebst du am wenigsten? Warum?
VII. Was möchtest du gern werden? Warum?
VIII. Was wollen deine Eltern aus dir machen? Warum?
Als erstes wurde das Gedächtnis für sinnvolle Stoffe geprüft. Den Schülern
wurden 3teilige Wortgruppen geboten, die in einem sinnvollen Zusammen¬
hänge stehen, z. B. Geburtstag-Geschenk-Freude; es solt damit das unmittel¬
bare Behalten geprüft werden. Den Zöglingen wurde gesagt: Ich werde
euch jetzt 12 solcher Wortgruppen vorlesen; jede Gruppe besteht aus 3 Wörtern,
die zusammengehören. Diese 3 Worte sollt ihr euch jetzt fest einprägen,
so daß ihr sie dann aufschreiben könnt. Paßt auf!
1. Treppe — Fehltritt — Beinbruch
3. Fremde — Heimweh — Heimkehr
5. Regen — Erkältung — Fieber
7. Sturm — Schiffbruch — Rettung
9. Schlacht — Niederlage — Flucht
11. Erkenntnis — Reue -r- Besserung
2. Schmerz — Ansteckung — Krankheit
4. Obung — Fortschritt — Fertigkeit
6. Unfall — Arbeitslosigkeit — Armut
8. Glück — Reichtum — Hochmut
10. Dürre — Futtermangel — Fleischnot
12. Wohltat — Undank — Verdruß.
Die Wörtergruppen werden langsam und deutlich vorgelesen, nach jeder
Gruppe eine Pause von 5 Sekunden eingelegt; das Vorlesen der Gesamtreihe
dauert 1 ‘/j—2 Minuten. Nach kurzer Pause erfolgt eine 2. Lesung. Un¬
willkürlich beginnen die Schüler mitzusprechen; es soll ihnen nicht verboten
werden. Kamen bei dem ersten Male die Akustiker zu ihrem Rechte, so darf
man die Motoriker nicht benachteiligen. Die Abnahme erfolgt nach der Treffer¬
methode. Der Versuchsleiter erklärt: „Ich sage euch jetzt immer das erste
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Zwei Begabungsprüfungen
433
Wort einer Gruppe, und ihr sollt sofort das 2. und 3. Wort hinschreiben; das
erste wird nicht mitgeschrieben. Also ich sage z. B. Geburtstag — und ihr
schreibt hin: Geschenk — Freude. Wenn ihr nur noch ein Wort wißt, schreibt
ihr eben nur das eine hin. ' Jede neue Wörtergruppe kommt auf eine neue
Zeile." Die Abnahme erfolgt nicht in der Reihenfolge des Vorlesens; begonnen
wurde mit einem konkreten Beispiel, weil die erfahrungsgemäß besser gemerkt
werden wie die abstrakten und damit die Schüler nicht von vornherein ab¬
geschreckt wurden. Die Niederschrift einer Gruppe dauerte 20 Sekunden, und
die ganze Reihe war in 5—6 Minuten beendet. Jede vollständig und in der
richtigen Reihenfolge niedergeschriebene Gruppe wurde mit 2 Punkten, jedes
einzelne Wort mit 1 Punkte gewertet; 2 richtige Wörter, aber Umstellung in
der Reihenfolge, zählten Vji Punkt; höchstmögliche Punktzahl war also 24.
Ein 2. Versuch sollte die Fähigkeit freien Kombinierens untersuchen; ver¬
langt wird vom Schüler möglichste Beweglichkeit und eine gewisse Geschwindig¬
keit im Herstellen von verschiedenen sinnvollen Geschichten aus 3 gegebenen
Worten. Zur Einführung in die Aufgabe wurden folgende 3 Worte an die
Wandtafel geschrieben: Spaziergänger — Sturm — Loch in Kopf, und die
Kinder nun aufgefordert, möglichst viel voneinander verschiedene Geschichten
zu erfinden. Besonders wichtig ist es, hier in der Instruktion schon das Wesen
einer prinzipiell neuen Verbindung der Worte deutlich zu machen; es erscheinen
sonst in den Lösungen oft nur unwesentliche und nebensächliche Abwand¬
lungen einer ersten Auffassung. Als nicht neu und vollgültig wurde es in
unserm Beispiel angesehen, wenn ein Kind zuerst von einem Manne erzählt,
dem ein Ziegel auf den Kopf fällt, und in der 2. Geschichte war dann eine
Frau die Leidtragende; oder wenn anstatt eines Ziegels ein Stück Dachrinne
dem Spaziergänger das geforderte Loch verursacht. Nach genauer Verdeut¬
lichung der Aufgabe wurden folgende 3 Wortgruppen zur Bearbeitung gegeben:
1. Mensch — Schneesturm — treuer Hund
2. Krieg — Kind — Unheil
3. Regen — Kälte — zerbrochener Krug.
30 Minuten waren als Arbeitszeit vorgesehen. Die Berechnung erfolgte
dergestalt, daß das erste Beispiel mit 1 Punkte gewertet wurde, jedes folgende
sinnvolle neue erhielt einen Punkt mehr, so daß z. B. ein Schüler mit 3 voll¬
gültigen Geschichten einer Gruppe 6 Punkte erlangte: (1. Beispiel 1 Punkt,
2. Beispiel 2 Punkte, 3. Beispiel 3 = 6 Punkte). Es erschienen trotz der
genauen Instruktion wieder nebeneinander Geschichten mit nur kleinen Ab¬
weichungen; sie wurden mit nur 1 Punkt bewertet. Der Unterschied in der
Lösung dieser Tests war außerordentlich groß; besonders zeigte sich dies
bei den 3 Worten: Krieg — Kind — Unheil. Der beste Knabe hat 9 Lösungen
gefunden; es liegt dies wohl an der Vielseitigkeit des Wortes „Unheil“, das
geradezu zu vielseitigen Kombinationen anreizt, bei Aufstellung neuer Tests
dieser Variationsmethode muß besonders darauf Rücksicht genommen werden.
Der Beste hatte 48 Punkte, der Schlechteste 9 Punkte erreicht. Die höchste
Leistung wurde mit 100% bewertet und daraufhin die andern berechnet.
Diese Art der Verrechnung habe ich bei allen Tests verwendet, so daß am
Ende nur die Prozentzahlen zusammenzuzählen waren; es ergab sich so eine
klare Abstufung in den Gesamtleistungen.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 28
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434
A. Schwärig
Beurteilung und Einfühlung in ein Bild, verbunden mit anschaulicher
Kombinationsfähigkeit wurden geprüft am bekannten „Schneeballbild“
(Münchner Bilderbogen). Die Schüler sollten nach genauer Betrachtung die
gemachten Beobachtungen und gefühlten Zusammenhänge unter folgenden
3 Gesichtspunkten darstellen:
1. Was hat sich bis jetzt auf dem Bilde zugetragen?
2. Was mag jede Person in diesem Augenblicke denken?
3. Was wird sie wohl nachher sagen?
Um einen Maßstab für die Bewertung zu erlangen, waren schon im voraus
auf dem Wege der Eichung die typischen Antworten gefunden; sie kehrten
auch in der Prüfung wieder, besonders originelle Lösungen wurden mit einem
Zusatzpunkte bedacht. Die Dauer des Versuchs war auf 30 Minuten berechnet.
Analogien;
Es handelt sich darum, zu 3 gegebenen Worten das 4. zu finden, das sich
zum 3. so verhalten soll wie das 1. zum 2. An die Wandtafel wurden folgende
3 Worte geschrieben: Ei — Schale, Buch —? Der Versuchsleiter bildete nun
folgenden Satz: das Ei hat eine Schale, das Buch hat? Und fast alle haben
bereits die Antwort gefunden: einen Deckel. Zur Vorsicht werden noch einige
Beispiele gelöst. Dann werden im Abstande von je 1^2 Minuten folgende
Aufgaben zur Lösung vorgelegt:
Apfel — Schale, Hase — (Fell)
Sturm — Ruhe, Krieg — (Frieden)
Staat — König, Schule — (Direktor)
Bekanntes — Unbekanntes, Gegenwart — (Zukunft)
Mensch — Gehirn, Staat — (Regierung)
Eis — Sonne, Trotz — (Güte)
Bauer — Feld, Arzt — (Kranker)
Jahr — Frühling, Mensch — (Jugend)
Ohr — Telephon, Auge — (photographischer Apparat)
Bild — Rahmen, Land — (Grenze).
Die Lösungen, die am meisten gebracht wurden, stehen in Klammer. Jede
treffende Antwort wurde mit 2 Punkten, jede angängige mit 1 Punkte be¬
wertet; auch hier zeigt sich wieder deutlich ein starker Unterschied in der
Lösung von konkreten und abstrakten Aufgaben.
Da die Schüler Aufnahme finden sollten in eine höhere Schule, diese aber
vor allem stark sprachlich eingestellt ist, mußte auch die sprachliche bzw.
fremdsprachliche Begabung untersucht werden. Das Erfassen fremdsprach¬
licher Stoffe und das Behalten dieser neuartigen Gesichts- und Lauteindrücke
wurde untersucht mit 10 Deklinationsformen gotischer Substantive; es mußte
zu so femliegendem Stoffe gegriffen werden, weil lateinische oder englisch¬
französische Elementarkenntnisse bei verschiedenen Schülern vorhanden waren
und somit eine einheitliche Basis der Beurteilung gefehlt hätte. An der Wand¬
tafel wurden die Deklinationsformen der 4 Wörter: bloma - Blume, atta - Vater,
gadaila - Teilnehmer und aha - Verstand entwickelt und eingeprägt. 3 Minuten
waren zum Lernen freigegeben. Dann mußten die Schüler folgende Formen
gotisch wiedergeben:
Den Blumen, dem Teilnehmer, den Vätern, den Verstand, die Blumen, des
Vaters, den Teilnehmern, der Blumen, des Verstandes, die Väter.
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Zwei Begabungeprüfungen
435
Qrammatisch-logisches Verständnis für deutsche Sprachstoffe wurde an den
4 Arten des Genitivs untersucht: z. B. Tür des Hauses: partitiver Gen. Herr
des Hauses: possessiver Gen. Emst des Lebens: subjektiver Gen. Pflege
des Gartens: objektiver Gen. Nachdem den Prüflingen klar gemacht worden
war, worum es sich handele, wurden ihnen 10 Genitive zur Bestimmung nach
den 4 Arten vorgelegt.
Den Wortreichtum und die Verwendungsbereitschaft der richtigen Aus¬
drücke sollten die Umformungen erweisen. Die Einführungsfrage lautete:
Wie kann man den Satz: „Gestern ist sein Großvater gestorben“, noch anders
ausdrücken. Folgende 3 Sätze wurden dann zur Umformung vorgelegt:
1. Am nächsten Morgen ging ich in die Stadt.
2. Er konnte den Freund nicht retten.
3. Es ist Sache des Arztes, dem Kranken zu helfen.
Die Bearbeitung dieser Tests nahm infolge der langen Einführungszeit
besonders beim 1. Test 75 Minuten in Anspruch. Die Bewertung war ein¬
fach; beim gotischen Test galt jedes richtig gelöste Beispiel (Stamm und
Endung — 2 Punkte, nur Stamm oder nur Endung = 1 Punkt), beim Genitiv
zählte jede richtige Einordnung 1 Punkt, ebenso wurde bei den Umformungen
jeder neue Ausdruck mit 1 Punkte bewertet.
Die gebundene sprachliche Kombination wurde untersucht an der Hand
des bekannten Ebbinghaustests. In einem zusammenhängenden Text sind
Worte ausgelassen; die so entstandenen Lücken soll die Versuchsperson wieder
ausfüllen und somit den Faden der Erzählung wieder herstellen. Der Versuch
dauerte 20 Minuten. Jede richtig ausgefüllte Lücke erhielt 2 Punkte, jede
angängige Lösung 1 Punkt; jede falsche oder fehlende wurde mit 0 bewertet.
Wirre Gedanken:
Dieser Test ist entstanden aus einem andern, den die Leipziger Psychologen
Mosaiktest nennen; ein Beispiel soll es erläutern:
bei nicht schlechtem Wetter statt der Ausflug findet
Der Versuchsleiter erzählt: ein kleiner Junge nahm aus seinem Lesekasten
eine Menge Wörter und stellte sie nebeneinander; da kam heraus, was ihr
jetzt an der Wandtafel seht und doch ist’s ein richtiger Satz 1 Wie heißt er?
Nun habe ich hier eine ganze Geschichte; da sind aber die Sätze durch¬
einander geraten, die sollt ihr nun ordnen, daß sie einen guten Zusammen¬
hang ergeben. Ihr schreibt nur jedesmal den Anfang des Satzes auf euer
Blatt. Man prüft auch hier Kombinationsfähigkeit am gegebenen Stoff und
das Auffinden logischer Zusammenhänge zwischen den einzelnen Sätzen.
Benutzt wurde der vom Leipziger Institut herausgegebene Test: „Der Hirt“.
Er besteht aus 11 durcheinander geratenen Sätzen; 10 Beziehungen sind also
festzustellen, jede gefundene wird mit 1 Punkte bewertet. Freilich stellte
sich bei der Durchsicht heraus, daß der Test für diese Altersstufe zu leicht
war und keine Begabungsunterschiede erkennen ließ; hier fehlen uns noch
gute, für ältere Jahrgänge brauchbare Tests. In 7 Minuten hatten alle die
Arbeit beendet, auch diejenigen, die keine völlig richtige Lösung gefunden
hatten.
Zur Prüfung der Konzentration und der Dauerspannung der Aufmerksamkeit
benützte man meist den Bourdontest, der darin besteht, daß man z. B. in
einem Text alle a, e und n durchstreichen läßt. Das Auge stellt sich aber
sehr bald auf die geforderten Buchstabenbilder ein, und so prüft man meiner
28 *
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
436
A. Schwang
Ansicht nach mehr optische Fähigkeiten. Um die Konzentration besser zu
treffen, wurden von Frl. Dr. Baumgarten Versuche mit einem neuen Test
angestellt, der auch in der Dresdner Prüfung verwandt wurde: auf einem
Blatt befinden sich 20 Linien von je 30 einstelligen Zahlen; die Versuchs¬
personen erhielten nun den Auftrag, zu jeder 4. Zahl 3 zuzuzählen, von jeder
7. Zahl 2 abzuziehen; an der Wandtafel wurde es an einem Beispiel erläutert;
das Resultat mußte über die betreffende Zahl geschrieben werden. Worin
besteht nun die Leistung der Kinder? Sie müssen dauernd im Blickpunkte
der Aufmerksamkeit folgende vielseitige Aufgabe erhalten: 1. ich soll abzählen
und zwar erst 4 Zahlen, dann 7 Zahlen u. s. f., 2. dann soll ich addieren
und zwar zu jeder 4. Zahl 3, und 3. dann soll ich subtrahieren und zwar
von jeder 7. Zahl 2, und dann muß ich 4. das Resultat darüberschreiben.
Es wurden die durchgerechneten Zeilen gewertet mit je 2 Pkten., für einen
Fehler wurde eine halbe Zeile abgezogen, z. B. 14 Zeilen, 2 Fehler = 13 Pkte.
Interessant waren auch die Fehler: a) entweder verrechnet sich der Schüler
beim Abzählen der Gruppe oder b) die eben abgezählte Gruppe beharrt im
Bewußtsein, und es werden mehrere Gruppen der gleichen Art, z. B. Vierer-
Gruppen abgezählt, oder c) es werden die das Ende einer Zeile bildenden
Zahlen vergessen und auf der neuen Zeile mit dem Abzählen neu begonnen;
es wird Addieren und Subtrahieren verwechselt, es wird das Vorzeichen
der Zahlen verwechselt, anstatt + 3 — 3, — 2 + 2 gerechnet. Der Test ist
auch für höhere Altersstufen gut brauchbar, da er sich außerordentlich va¬
riieren läßt. Er bietet vor allem eine klare Einsicht in die Arbeitsweise und
das Arbeitstempo der Versuchspersonen, und man kann leicht folgende
Typen der Arbeitenden unterscheiden:
1. den guten und schnellen Arbeiter,
2. den schnellen, aber schlechten Arbeiter,
3. den langsamen, aber guten Arbeiter,
4. den langsamen und schlechten Arbeiter.
Für die Beurteilung, ob einer geeignet ist oder nicht für die Aufnahme
in eine höhere Schule, durchaus wichtige Erkenntnisse.
Die Klarheit und Schärfe der Begriffe und der Begriffsbildung, das scharfe
logische Vergleichen wurde an folgenden Begriffspaaren geprüft, die den
Versuchspersonen mit der Aufforderung vorgelegt wurden:
„Erkläre mir, was ist:
1. Ein Kind und ein Zwerg,
2. ein Ofen und ein Herd,
3. Irrtum und Lüge,
4. Standhaftigkeit und Starrsinn,
5. klug und schlau.“
Zur Verfügung standen 15 Minuten Arbeitszeit
Die nächste Aufgabe bestand in der Lösung zweier Ordnungstests mehr¬
dimensionaler Art. 6 verschiedene Vierecke wurden an die Tafel angeheftet
und waren nach selbstzufindenden Gesichtspunkten zu ordnen, z. B. nach
Größe, Farbe, Regelmäßigkeit, Stärke des schwarzen Randes, Entfernung eines
Punktes vom Mittelpunkt, Anzahl der von diesem Punkte ausgehenden Ecklinien.
Ein 2. ähnlicher Test brachte eine Erschwerung insofern, als hier jedesmal
2 Gruppen von Figuren zu bilden waren; es sollte geschieden werden in 1. kleine
Digitized b)
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Zwei Begabungsprüfungen
437
und große, 2 . farbige und farblose, 3. regelmäßige und unregelmäßige,
4. offene und geschlossene, 5. geradlinige und krummlinige. Zur bequemem
Benennung waren die Figuren mit Buchstaben versehen, so daß nur diese
bei der Lösung hinzuschreiben waren. Für jeden Ordnungsgesichtspunkt
mit richtig erfolgter Einordnung wurden 4 Punkte gegeben. Die Tests er¬
gaben eine starke Differenzierung und erschienen außerordentlich geeignet
zur Prüfung für 13—14jährige Begabte. Was prüfen diese Aufgaben? Zu¬
nächst die Fähigkeit, eine gegebene Masse zu differenzieren, in ihr einen
gemeinsamen Ordnungsgesichtspunkt zu entdecken, die Kraft, alle die Einzel¬
erscheinungen unter das gefundene Ordnungsprinzip zu subsumieren und
so wieder aus den einzelnen Teilen ein wohlgeordnetes Ganzes aufzubauen.
Da die Prüflinge ausgelesen werden sollten für eine Oberrealschule, mußte
natürlich auch Wert gelegt werden auf Untersuchung der mathematischen
Fähigkeiten. Auch hier konnte es sich natürlich nicht um die Rechenauf¬
gaben alten Stils handeln mit ihren Riesenzahlen und unmöglichsten Ope¬
rationen. Die Schnelligkeit, mit einfachsten Aufgaben fertig zu werden, wurde
QR . O Q A
geprüft an folgenden Aufgaben: 117 " 2 3 ’ '* Steides ist je 1 Minute
lang fortzusetzen. Schwieriger gestaltete sich schon das Erkennen des einer
Zahlenreihe zugrunde liegenden Prinzips, von der nur 3 Glieder gegeben
sind, die Reihe ist nach rechts und links zu ergänzen und das Prinzip der
Reihenbildung möglichst klar in Worten wiederzugeben.
12 17 23
Beispiele: gj ^ 36 * * Beim 2. Beispiele fanden einige Knaben
eine doppelte Lösung*.
Die räumlich mathematische Anschauung suchte ich zu treffen in Kon¬
struktionsaufgaben: aus 2 , 4, 8 Dreiecken §/) ein Quadrat zu bilden; aus
2 Quadraten und 2 Rechtecken, die in ihrer Größe der Formel a 2 -f- 2ab 4 - b J = c 2
entsprechen, soll ein neues Quadrat zusammengesetzt werden.
Aus einem Rhombus, der durch Diagonalen zerlegt ist, sind alle Teilfiguren
herauszuzeichnen und es soll bestimmt werden, in welcher Anzahl sie Vor¬
kommen. Die ersten zwei der bekannten Rybakowschen Figuren sollen durch
eine Gerade so zerlegt werden, daß aus den Teilstücken Quadrate zusammen¬
gesetzt werden können.
Der letzte, darum aber nicht minder wichtige Test prüfte die Beobachtungs¬
fähigkeit der Schüler. Durch folgende Instruktion wurden sie auf die Auf¬
gabe vorbereitet: Es werden jetzt 2 Herren ins Zimmer treten, seht euch
die Personen recht genau an und beobachtet genau, was sich hier abspielen
wird von dem Augenblicke, wo es klopft, bis zu dem Augenblicke, wo die
Herren das Zimmer verlassen. Durch 12 Fragen wurde dann festgestellt,
inwieweit sie die Vorgänge und Personen beobachtet hatten. Ein interessantes
Schlaglicht auf die Psychologie der Aussage warf die Frage 2 : Hatte der
Herr (es war der Rektor, mit dem die Schüler schon dauernd in Verbindung
getreten waren) eine Brille oder einen Klemmer, und prompt antworteten
50 0/0 Klemmer (falsch).
Damit war die Prüfung beendet; die zahlreichen Tests wurden nun in
10 Gruppen geordnet:
1 . Logisches und sprachliches Gedächtnis,
2. Freie Kombination,
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438
A. Schwärig
3. Gebundene Kombination: Ebbinghaus und wirre Gedanken,
4. Analogien und Unterschiedsfragen,
5. Umformungen und Genetive
6. Beurteilung und Einfühlung (Bild),
7. Beobachtung am natürlichen Vorgang,
8. Ordnungstests,
9. Konzentration,
10. Mathematisches.
Oa die höchst erreichte Punktzahl in jeder Testgruppe mit 100 °/ 0 gewertet
wurde, waren theoretisch 1000 Punkte zu erreichen, der beste kam auf 800
Punkte, der schlechteste auf 381 Punkte, es zeigte sich also eine starke
Differenzierung, der Durchschnitt betrug 570. Nachstehende Kurve gibt
einen Überblick über den Schwie¬
rigkeitsgrad der einzelnen Test-
gruppen.
Es wurden nun zunächst
20 Schüler zur Aufnahme aus¬
gewählt, die auf Grund der Test¬
prüfung und eines einwand¬
freien Beobachtungsbogens die
sichersten Vorbedingungen für
ein Fortkommen in der höheren
Schule zu geben schienen; dann
nahm man noch 4 weitere hin-
zu, darunter 2 ausgesprochene
Zweifelsfälle; der 23. und 24.
hatten in der Testprüfung nur
Rangplatz 27 bzw. 29 erreicht;
im Beobachtungsbogen fanden
sich bei beiden die Bemer¬
kungen: ängstlich und ver¬
schüchtert bei neuer Umgebung,
Prüfungsangst usw.
Die Schüler wurden nach
ihrer Gesamtpunktzahl in eine
Rangreihe geordnet. Die Berechnung der Korrelation der Einzeltests zu dieser
Rangreihe zeitigte folgende Ergebnisse:
Rangreihe: Gedächtnis
q — 0,61
„ freie Kombination
q = 0,85
„ gebundene Kombination
e = 0,71
„ Analogie und Unterschied
Q — 0,62
„ Umformungen und Genetive
q = 0,62
„ Einfühlung und Beobachtung
q — 0,68
„ Ordnungstests
q = 0,63
„ Konzentration
e = 0,38
„ Mathematischer Test
q — • 0,25
„ Beobachtung
q = 0,56
Mit Ausnahme des Konzentrations- und Mathematischen Tests zeigen alle
Aufgaben eine durchaus brauchbare Korrelation zur Gesamtbegabung. Im
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Zwei BegabungsprOfungen
439
Falle «Konzentration* hat schon Dr. Baumgarten darauf hingewiesen, daß
dieser Test vielleicht mehr als die eigentliche Begabung die Arbeitsweise des
Geprüften trifft und uns zeige, ob der Schüler ein schneller und guter, schneller
und oberflächlicher, langsamer und guter, langsamer und schlechter Arbeiter
sei: Erkenntnisse, die für den Lehrer der höheren Schule unbedingt wichtig
sind. Aus diesem Grunde möchte ich auch diesen Test nicht ohne besseres
wieder ausgeschieden wissen. Daß die mathematische Begabung als Sonder¬
begabung bzw. Talent nicht unbedingt mit der Allgemeinbildung korrelieren
muß, ist eine Erkenntnis, die man auch schon früher in der alten Schule
intuitiv erfaßt halte und die nun auch die Psychologie experimentell er¬
härtet hat Trotzdem sind auch die mathematischen Tests m. E. nach bei¬
zubehalten, da wir für die höhere Schule auswäblen, und diese mit Ausnahme
des Gymnasiums einen starken Ton auf mathematische Fähigkeiten legt
Wie haben sich die so Ausgewählten bewährt? Nach s /4 Jahren, Weih¬
nachten 1921 holte ich den Bescheid darüber ein: Rektor und Lehrer dieser
Aufbauklasse gaben ein außerordentlich günstiges Urteil über diese Schüler
ab, hervorragend sei Lebendigkeit und Mitarbeit in dieser Klasse, versagt
habe keiner, schwach sind N (= 22 */s Rangplatz nach der Tpstprüfung) und
der sehr junge Z (=■= 22 ‘/2 Pt), hoffnungslos infolge Kränklichkeit nur
K = 19 Va PL und der sehr faule W (21. Rg. PL) Der Vergleich der Schul¬
platzreihe, die Weihnachten auf Grund 3 A jähriger Schulleistungen aufge¬
stellt wurde, und der durch die Testprüfung gefundenen Rangreihe ergibt
die hohe Korrelation von 0,68. Es zeigt sich also eine klare und eindeutige
Übereinstimmung zwischen Lehrerurteil und Begabungsprüfung. Nur Kr.,
der in der Testprüfung den 1. Rangplatz erhalten hatte, schien die auf ihn
gesetzten Hoffnungen nicht ganz zu erfüllen: er erhielt nur den 7. Platz auf
der Schulleistungsreihe. Und doch klärte sich auch diese Diskrepanz: Kr. war
14 ‘/i Jahre alt, 9 Monate älter als der Durchschnitt, mußte daher auch
mehr Punkte erreichen als jüngere und wäre demnach schon nicht als Erster
in Frage gekommen; die genaue Einbeziehung des Alters in die Bewertung
ist leider bei der Testprüfung infolge Zeitmangels unterblieben, darf aber
bei genauer Berechnung nicht übersehen werden. — Soweit die Dresdener
Prüfung, die als ein gelungener Versuch einer Begabungsprüfung anzusehen
ist. Es erhoben sich aber noch einige Fragen, die Antwort heischten: Wie
werden andere Schüler auf eine solche Prüfung reagieren? Ergeben sich
bei gleichem Schülermaterial und gleichem Alter die gleichen Ergebnisse?
Wird sich bei größerem Alter der Prüflinge ein Fortschritt im Gesamtdurch¬
schnitt ergeben und wie groß ist er?
, Zur Klärung dieser Fragen habe ich die Prüfung in der gleichen Form kurz
vor Pfingsten 1921 in den drei untersten Klassen (Septima, Sexta, Quinta)
des Lehrerseminars in Schneeberg wiederholt. Die Zahl der Geprüften be¬
trug: Kl. VH: 15; Klasse VI: 16; Kl. V: 15; das Durchschnittsalter von
Kl. VH war 13 Jhr., 7 Mon. und entsprach dem der Dresdner Prüflinge; die
Schüler der VI. Kl. waren durchschnittlich 14 Jahr, 6 Mon. alt. Der Alters¬
unterschied von Klasse zu Klasse betrug demnach 1 Jahr. 599 Punkte
wurden als Gesamtdurchschnitt in Kl. VII erreicht; die Durchschnittszahl in
Kl. VI (14 6 Jahr) war um 80 Punkte, die der V. Kl. (15 6 ) um abermals
82 Punkte höher als die VI. Kl. Es ergibt sich also ein klarer eindeutiger
Alterefortschritt in der Lösungshäufigkeit der Tests. Daraus folgt aber auch
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440
A. Schwang
die Notwendigkeit, überalterte Schüler z. B. B. und M., die mit 15 6 Jahren
in Kl. VII saßen, bei der Aufstellung der Rangreihe dieser Klasse auszu¬
scheiden; sie wären sonst mit ihrer hohen Punktzahl, die aber nicht ihrer
Begabung, sondern eben ihrem hohen Alter entsprach, an die ersten Stellen
der Klassenrangreihe gerückt; bei Einreihung aber unter ihre Altersgenossen
in Klasse V ergab sich, daß sie ihrer Begabung nach in das letzte Klassen¬
drittel gehörten. Dieser Befund stimmte bei B. mit dem Lehrerurteil über¬
ein; B. machte Kl. VQ zum 2. Male durch. Hier klärt sich nun auch
der erwähnte Dresdener Fall auf: Kr. erreichte infolge seines höheren
Alters (9 Monate älter als der Durchschnitt) die hohe Punktzahl, die nicht
allein seiner Begabung ent¬
sprach, daher auch das schein¬
bare Zurückgehen in den Leis¬
tungen (7. Schulplatz); bei ge¬
nauer Einbeziehung des Alters
hätte er schon in der Test¬
prüfung nur Rangplatz 3 erhalten.
Einen Vergleich der in der Dres¬
dener und Schneeberger Prüfung
erreichten Durchschnittszahlen
der einzelnen Testgruppen soll
nebenstehende Tabelle veran¬
schaulichen.
Das Begabungsniveau ist un¬
gefähr das gleiche, die geringe
Verschiebung, die sich scheinbar
zugunsten der Schneeberger
VII. Klasse ergibt, erklärt sich
daraus, daß diese erst auf Grund
einer Aufnahmeprüfung in das
Seminar ausgewählt worden
waren, während bei den Dres¬
denern diese Auswahl erst durch
die Prüfung stattfand. Begabte und Unbegabte noch nicht getrennt waren.
Um nun noch festzustellen, inwieweit das Ergebnis der Testprüfung über¬
einstimme mit dem Lehrerurteil über die Geprüften, ließ ich von all den
Herren, die in Kl. VI und V unterrichten, Intelligenzschätzungen vor¬
nehmen. Die Schüler waren den Unterrichtenden seit 1 bzw. 2 Jahren bekannt;
jeder sollte nun für sich eine Rangreihe aufstellen, die, so wurde nochmals
betont — losgelöst sein sollte von der sonst üblichen und vorherrschenden
Einschätzung der Schüler nach dem äußeren Leistungserfolg und nur die
Fähigkeiten treffen sollte, die die Leistungen erst ermöglichten. Das war
in unserem Falle besonders schwierig, weil ja in der höheren Schule das
Fachlehrersystem herrscht, jeder Lehrer seine Schüler nur einseitig in einem
bestimmten Fache kennen lernt. So liegt nun die Gefahr vor, daß er die in
seinem Fach hervortretende Leistungsfähigkeit verwechselt mit allgemeiner
Intelligenz. Es ergaben sich denn auch in einem ersten Versuche ziemliche
Diskrepanzen zwischen den Schätzungsreihen einzelner Lehrer, z. B. nahm
Schüler S. einmal den ersten, auf einer anderen Schätzungsreihe den 12.
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Zwei Begabungspriif ungen
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Rg.-Pl. unter 16 Schülern ein. Bei nochmaliger Überprüfung der Reihen,
bei der nur geistige Reife, Selbständigkeit und Anpassungsfähigkeit an neue
Forderungen die Kriterien bildeten, zeigten sich einheitlichere Resultate, ohne
daß die Lehrer bei der Aufstellung der Reihen in Verbindung miteinander
getreten wären und so eine etwaige gegenseitige Beeinflussung das Resultat
getrübt hätte. So entstand dann aus 7 Einzelrangreihen der Kl. VI eine
kombinierte Gesamtrangreihe. Ein
Vergleich dieser mit der Rangreihe
der Testprüfung ergab die hohe
Korrelation von 0,75. In Klasse V —
die Schüler waren also schon 2 Jahre
den Lehrern bekannt — schätzten
6 Herren; die kombinierte Schät¬
zungsreihe wies mit der Prüfungs¬
rangreihe eine Korrelation von
0,78 auf.
Die Tafel zeigt die Kurven des
Bestbegabten (1) und des Wenigst-
begabten (2) der Dresdener und
Schneeberger Prüfung.
Die Ergebnisse beider Prüfungen,
Dresden und Schneeberg sind kurz
folgende: Die durch die Intelligenz¬
prüfung ausgewählte Sexta der Lan¬
desschule wird nach 3 ji jähriger Be¬
währungsfrist durch das allgemeine
Lehrerurteil als durchaus gut be¬
zeichnet.
Ein zahlenmäßiger Vergleich von
Testergebnis und Sch ulplatz ergibt
die Korrelationszahl 0,68.
, In Schneeberg zeigt ein Vergleich
von Testprüfung und Lehrerurteil einen Korrelationswert von 0,75 bzw. 0,78.
Aus alledem geht hervor, daß die Intelligenzprüfung, wie sie zuerst im
großen Wurfe in Berlin und Hamburg versucht und dann in jahrelanger
systematischer Arbeit fortgebildet wurde, nach ihrem heutigen Stand durch¬
aus in der Lage ist, eine brauchbare Grundlage für die Differenzierung der
Begabungen abzugeben.
Literatur.
1. W. Stern: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlieben. 3. Aufl., Leipzig 1920, A. Barth. —
W. Stern: Untersuchungen über die Intelligenzprüfung von Kindern und Jugendlichen. Ham¬
burger Arbeiten zur Begabtenforschung II. Leipzig, Barth. — W. Stern: Das psychologisch-
pädagogische Verfahren der Begabtenauslese. Leipzig 1918, Quelle & Meyer.
2. Peter u. Stern: Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. Bericht über das
psycholog Verfahren. Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung I. Leipzig, Barth, 2. Aufl. 1921.
3. Stern u. Wiegmann: Methodensammlung zur Intelligenzprüfung. Hamburger Arbeiten
zur Begabtenforschung Nr. 3. Barth, Leipzig, 2. Aufl. 1921.
4. Bob er tag, O.: Über Intelligenzprüfung nach der Methode Binet-Simon. Leipzig 1914, J. A. Barth.
6. Moede-Piorkowski, Wolf: Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organisation und die
Methoden der Schülerauswahl. 2. Aufl., Langensalza 1918, Berger & Söhne.
6. Veröffentlichungen des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie des Leipziger
Lehrervereins. IX. Bd., Leipzig 1920, Dürr.
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442
Gustav Rose
Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik-
und Rechenunterricht.
Von Gustav Rose.
Wie in jedem andern Unterricht, so neigte man früher auch im Mathematik¬
unterricht dazu, das Gedächtnis mehr als jede andere Geistesfunktion in Anspruch
zu nehmen. Man ließ nicht selten lange Beweise, die oft über die kindliche
Fassungskraft hinausgingen, auswendig lernen. Wenn ein solches Unterrichts¬
verfahren auch nicht zu billigen ist, so ist es doch immerhin verständlich.
Denn: Jede Arbeit ist eingestellt auf Erfolg. Lehrer, Schüler und Aufsichts¬
beamte wollten den Fortschritt der Arbeit sehen. Wo aber ist dieser leichter
festzustellen als bei dem gedächtnismäßig angeeigneten, leicht feststellbaren
und meßbaren Wissensstoff? Man denke z. B. an die mehr oder weniger
wortgetreue Wiederholung eines mathematischen Beweises oder an das Wurzel¬
ausziehen, das nach diesem Schema schon oft erfolgt ist.
Neuerdings neigt man vereinzelt im Mathematikunterricht zu einer Unter¬
schätzung des Gedächtnisses. Man hält die anderen Geistesfunktionen für
vornehmer und glaubt aus, diesem Grunde das Gedächtnis vernachlässigen
zu dürfen. Dieselbe Anschauung findet man auch im öffentlichen Leben
nicht selten vertreten. Gelegentlich hört man sogar, daß sich jemand seines
schlechten Gedächtnisses rühmt.. Dieselbe Person würde es aber mit Ent¬
rüstung zurückweisen, wenn man sie auf ihre vielleicht mangelhafte Denk¬
fähigkeit hinweisen würde.
Gegen beide einseitigen Anschauungen muß entschieden Front gemacht
werden, und zwar werde ich zuerst die Unrichtigkeit der zweiten Ansicht
zu zeigen versuchen, um alBdann vor einer allzu starken Überschätzung des
Gedächtnisses im Mathematikunterricht zu warnen.
1. Bei jeder Gedächtnisleistung (z. B. Erlernung eines Lehrsatzes) kann man
eine materiale (d. i. der Lehrsatz) und eine formale Seite (d. i. die dabei
wirksame Geisteskraft, das Gedächtnis) unterscheiden. Beide Teilfaktoren
machen die Gedächtnisleistungen unbedingt erforderlich. «
Im Mathematikunterricht kann man wiederum zwei Arten der materialen
Gedächtnisleistungen unterscheiden, nämlich einmal das Wissen und außerdem
die Fertigkeiten. Zum Wissen rechnet man die gedächtnismäßig angeeigneten
mathematischen Lehrsätze, die sogenannten „geometrischen Örter“, die Kenntnis '
gewisser Rechenoperationen, z. B. die Regel, welche Auskunft gibt über die
Division zweier Brüche usw. Dem gegenüber hat man z. B. das Lösen der
planimetrischen Konstruktionsaufgaben und die bekannten arithmetischen und
Rechenfertigkeiten (z. B. Addition von Brüchen) zu den Fertigkeiten zu zählen.
An den angesetzten Gleichungen mit zwei Unbekannten möchte ich zeigen,
wie die Fertigkeiten im Mathematikunterricht zustande kommen können.
Anfänglich treten beim Lösen dieser Gleichungen höhere Geistesfunktionen
in Kraft, insbesondere das Denken und die aktive Phantasie. Man führt die
neuen Aufgaben auf etwas Bekanntes zurück, in diesem Falle auf die Gleichungen
mit einer Unbekannten. Die Phantasie führt uns verschiedene Möglichkeiten
der Lösung vor Augen, die vom kritischen Denken auf ihren Wert hin ge¬
prüft werden, bis man sich vielleicht zum Additionsverfahren entschließt.
Im Laufe der Übung schalten die höheren geistigen Funktionen immer mehr
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Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- und Rechenunterricht
443
aus. Die aktuelle Betätigung beim häufigen Lösen hinterläßt Dispositionen,
so daß man gedächtnismäßig weiß, was man der Reihe nach zu tun hat. Die
ursprüngliche Denkarbeit ist zu einer geistigen Fertigkeit geworden. Diese
Überführung in Fertigkeiten muß durch häufige Übung in der Mathematik
unbedingt vollzogen werden. Bei diesen mechanisierten Leistungen tritt
nämlich der Wille immer mehr zurück, so daß bei ihnen der Aufwand an
geistiger Kraft bedeutend geringer ist. Trotz alledem büßen sie gegenüber
den Denkleistungen, aus denen sie hervorgegangen sind, nichts an Voll¬
kommenheit ein. Obige Betrachtungen über die Entstehung der mathema¬
tischen Fertigkeiten zeigen zugleich, daß es neben diesen vollwertigen mathe¬
matischen Fertigkeiten auch Fertigkeiten geben kann, bei denen die oben
besprochenen inneren Denkvorgänge von vornherein übersprungen sind.
Ganz besonders der Rechenunterricht früherer Jahrhunderte wies Fertigkeiten
auf, die von Anfang an mechanisch waren. Diese Fertigkeiten sind durch
bloßen äußeren Drill im Schüler entstanden. Wenn man gelegentlich gering¬
schätzig von den mathematischen Fertigkeiten spricht, so kann sich diese
Minderbewertung nur gegen die zweite Art von Fertigkeiten richten.
Ich gehe kurz ein auf die unterscheidenden kennzeichnenden Merkmale
des Wissens und der Fertigkeiten. Während sich das Wissen, sowohl was
die Aneignung als auch was die Reproduktion betrifft, durch seine Passivität
auszeichnet, zeigen die Fertigkeiten das Gefühl ausgesprochener Aktivität.
Es wird deutlich, wenn man das Hersagen eines mathematischen Lehrsatzes
oder eines gedächtnismäßig angeeigneten Beweises vergleicht mit dem Lösen
einer angesetzten oder eingekleideten Gleichung. Dieselben Beispiele lassen
auch erkennen, daß das Wissen oder die Kenntnisse ein starres Gefüge zeigen,
während die mathematischen und Rechenfertigkeiten in einer lockeren und
veränderlichen Verbindung von Vorstellungen bestehen. Die im Mathematik¬
unterricht erforderlichen manuellen Fertigkeiten, nämlich Zeichnen und
Schreiben, bilden eine entsprechende Verbindung von Bewegungen und Vor¬
stellungen. Man kann die Kenntnisse vergleichen mit einer Kette, bei der
man nur auf einem Wege und nur unter Benutzung eines jeden Kettengliedes
vom Anfang bis zum Ende kommen kann. Entsprechend gleichen die arith¬
metischen und geometrischen Fertigkeiten einem Spinnengewebe, bei welchem
zwei Glieder mannigfach verbunden sind.
Der Übungserfolg, der zurückzuführen ist auf den Assoziationsmechanismus,
macht sich bei den Kenntnissen kaum geltend; das Hersagen eines mathe¬
matischen Lehrsatzes erfolgt bei gesteigerter Wiederholungszahl kaum schneller.
Dem gegenüber werden die Fertigkeiten durch die Übung in auffallender
Weise günstig beeinflußt. So löst der Schüler die Gleichungen mit fort¬
laufender Übung immer besser und schneller. Und ähnlich wie die turne¬
rischen Fertigkeiten bei häufiger Wiederholung immer anmutiger werden,
werden auch die mathematischen Fertigkeiten durch die gesteigerte Übung
immer anmutiger und eleganter, d. h. man kommt ohne Umwege zum ge¬
wünschten Ziel.
Auch die methodische Behandlung ist bei den Kenntnissen und Fertigkeiten
verschieden. Im allgemeinen zeigt sich nämlich, daß bei Übermittlung von
Kenntnissen der Einzelbehandlung eine Darbietung des Ganzen voraufgeht,
während man bei den Fertigkeiten meistens umgekehrt verfährt. Man denke
z. B. an eine turnerische Übung.
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444
Gustav Rose
Wenn ich schließlich diese beiden Gedächtniswirkungen vergleichend
bewerte, so möchte ich auch für den Mathematikunterricht Pestalozzi recht
geben, wenn er sagt: „Es ist vielleicht das schrecklichste Geschenk, das ein
feindlicher Genius unserm Zeitalter machte: Kenntnisse ohne Fertigkeiten.“
Entsprechend möchte ich dem Wort des englischen Philosophen Bacon:
„Wissen ist Macht“ in der umgeprägten Form: „Können ist Macht“ die größere
Bedeutung beilegen.
Sowohl die Kenntnisse wie auch die Fertigkeiten müssen im Mathematik¬
unterricht unbedingt gepflegt werden und zwar einmal um ihrer selbst willen.
Von jedem müssen wir verlangen, daß er imstande ist, wenigstens einfache
mathematische Berechnungen auszuführen, ich denke z. B. an die Inhalts¬
berechnung des Kreises. Daß rechnerische Fertigkeiten im Leben unbedingt
erforderlich sind, wird wohl von keinem bestritten werden. Darüber hinaus
dienen die mathematischen Kenntnisse und Fertigkeiten aber auch als Mittel
zum Zweck. Nur der Schüler ist imstande, dem Mathematikunterricht zu
folgen, neue Begriffe zu erfassen und sie denkend zu verarbeiten, welcher
über den nötigen mathematischen Wissensstoff verfügt. Ein Beispiel aus dem
Rechenunterricht möge die Richtigkeit dieser Behauptung zeigen. Ein Schüler
ist nur dann imstande, die Addition von Brüchen zu erfassen, wenn er u. a.
folgende Denkstützpunkte aus dem früheren Unterricht vermittels seiner Ge¬
dächtniskraft festgehalten hat: Zerlegung in Primfaktoren, Aufsuchen des
kleinsten gemeinschaftlichen Vielfachen, Brüche gleichnamig machen. Mit
anderen Worten: die höheren Geistesfunktionen (Denken und Phantasie) sind
ohnmächtig, wenn ihnen keine Bausteine d. h. keine Kenntnisse zur Ver¬
fügung stehen.
Aber auch das Gedächtnis selbst erfährt wiederum innerhalb gewisser
Grenzen durch die Mehrung des Wissensstoffs eine Förderung. Isolierte Vor¬
stellungen gehen im Laufe der Zeit verloren. Ein Festhalten mit Hilfe des
Gedächtnisses ist nur dann möglich, wenn man jede neue Vorstellung (z. B.
die Winkelsumme eines Vierecks) mit einer bekannten Vorstellung (Winkel¬
summe eines Dreiecks) apperzeptiv verknüpft. In ähnlicher Weise wird das
Einprägen botanischer Namen dadurch bedeutend erleichtert, wenn man schon
andere Namen kennt.
Diese Abhängigkeit vom Wissensstoff, der selbstverständlich denkend er¬
faßt sein muß, zeigt sich in keinem andern Unterrichtsfach deutlicher als in
Mathematik. Kein Unterricht i^t derart an Voraussetzungen gebunden, wie
gerade die Mathematik. Die Erdkunde Asiens verstehe ich, auch wenn mir
Afrika völlig unbekannt ist; hingegen bleibt mir die denkende Erfassung der
Gleichungen mit zwei Unbekannten ohne Kenntnis der Gleichung mit einer
Unbekannten versagt. Ebenso wird es einem Schüler unmöglich sein, die
gemeinschaftlichen Tangenten an zwei Kreise zu legen, wenn er nicht die
entsprechende Aufgabe bei einem Kreise beherrscht. Aus dieser Tatsache
erklärt es sich auch, daß man so viele Schüler mathematisch für völlig un¬
begabt hält. Die Behauptung selbst, daß die betreffenden Schüler außerstande
sind, dem mathematischen Unterricht zu folgen, stimmt. Diese Unfähigkeit
ist jedoch häufig nicht auf einen Mangel irgendwelcher geistigen Funktionen
(z. B. des Denkens) zurückzuführen. Es würde auch irrig sein, für die Er¬
fassung der Mathematik eine besondere geistige Funktion vorauszusetzen,
sondern die unterrichtliche Praxis zeigt deutlich, daß in der Mehrzahl der
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Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- und Rechenunterricht
445
Fälle diese mangelhafte Begabung für Mathematik zurückzuführen ist auf
mangelhafte Kenntnisse l ). Aus diesen Erwägungen heraus ist auch die Forderung
von Lietzmann 2 ) zu verstehen: „Gerade der Anfangsunterricht in Mathematik
gehört in die Hand eines psychologisch feinfühligen Methodikers“.
Ein erfolgreicher Mathematikunterricht ist jedoch nicht nur abhängig vom
Gedächtnisstoff. Auch die Kraft des Gedächtnisses selbst bedarf in diesem
Unterricht dringend der Pflege, d. h. die Gedächtnisleistungen müssen nach
ihrer zeit- wie auch nach ihrer kraftökonomischen Seite hin gesteigert werden.
Denn jeder Unterricht hat nicht nur Wissen und Fertigkeiten zu über¬
mitteln, sondern er muß gleichzeitig der formalen Bildung dienen, d. h. er
muß sich die Schulung aller Geisteskräfte angelegen sein lassen. Ebenso
wie unsere körperliche Nahrung zwei Bedürfnisse befriedigen muß, nämlich
die augenblickliche Stillung des Hungers und därüber hinaus die Ansammlung
von Kräften für später, so muß auch unsere geistige Nahrung einem doppelten
Zwecke dienen. Sie muß einmal Kenntnisse und Fertigkeiten übermitteln
(Stillung unseres Wissensdurstes) und gleichzeitig, wie oben gesagt, formal¬
bildend sein (Kraftentwicklung). Wie bedeutungsvoll gerade das letzte Ziel
ganz besonders für den Mathematikunterricht ist, erhellt aus folgender Be¬
trachtung: Prüfen wir einen gebildeten Erwachsenen', der jahrelang mit bestem
Erfolg Mathematikunterricht genossen hat. Er „weiß“ nichts mehr, d. h. die
erworbenen mathematischen Kenntnisse und Fertigkeiten sind fast ganz ver¬
loren gegangen, zum mindesten sind sie nicht mehr reproduktionsfähig.
Zurückgeblieben ist fast nur noch die durch den Unterricht gesteigerte Kraft
der Geistesfunktionen.
Und unter diesen Geisteskräften steht, wie allgemein, so auch im Mathe¬
matikunterricht das Gedächtnis seinem Werte nach nicht an letzter Stelle.
Ich weise nur hin auf die Bedeutung des unmittelbaren Behaltens für das
Kopfrechnen. Jeder Schüler versagt beim Kopfrechnen, desgleichen in der
Kopfarithmetik und Kopfgeometrie, wenn er nicht imstande ist, die Zahlen
und was es sonst immer sein mag, in seinem Bewußtsein festzuhalten. Ein
Wort — ich glaube es stammt von Napoleon I. — beleuchtet uns dieses:
„Ein Mann ohne Gedächtnis ist wie eine Festung ohne Soldaten.“ Daß ein
Bedürfnis nach einer Gedächtniskultur vorhanden ist, zeigt die weite Ver¬
breitung der Abhandlungen von Poehlmann, Hans Gloy usw. über Gedächt¬
nisschulung. Dabei ist die Schule aus verschiedenen Gründen weit besser
geeignet, diese Aufgabe zu übernehmen. *
An dieser Stelle weise ich nur hin auf eine Bedingung, die erfüllt werden
muß, wenn man daran denkt, das Gedächtnis der Schüler zu steigern —
und es ist steigerungsfähig.
Die Übung ist in starkem Maße abhängig vom Willen des Schülers. Des¬
halb muß man den Schüler anregen, daß er nicht nur bestrebt ist, sich gewisse
Kenntnisse (z. B. mathematische Formeln) anzueignen, sondern daß er da¬
neben auch sein Augenmerk richtet auf die Steigerung seiner Gedächtniskraft.
Neben praktischen Anweisungen wird man ihm mitteilen, daß das Gedächtnis
zu üben ist. Zahlenmäßige Angaben über die Übungsfähigkeit des Gedächt¬
nisses macht Meumann (Ökonomie und Technik des Gedächtnisses, 4. Aufl.,
! ) cf. Katz f Psychologie und mathematischer Unterricht, S. 60.
2 ) Lietzmann, Methodik des mathematischen Unterrichts, 1. Teil.
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446
Gustav Rose
S. 264). Der Wille wiederum kann durch nichts besser angefeuert werden
als durch Erweckung des Erfolgsgefflhles. Man muß dem Schüler zeigen,
wie er vorangekommen ist. Bei der Aneignung von Kenntnissen und Fertig¬
keiten (s. o.) ist es am leichtesten möglich. Zu Beginn einer jeden Unter¬
richtsstunde öffnet man dem Schüler durch die Zielstellung die Augen für
das, was erforscht werden soll. Ebenso sollte man aber auch am Ende dieser
Stunde nach Erklimmen des Berges die Blicke der Schüler rückwärts richten,
damit sie sehen, was sie geleistet haben. Demselben Zwecke können nach
Beendigung des Tertials die Zeugnisse dienen.
Schwieriger gelingt es, dem Schüler zu zeigen, wie seine Geisteskraft, in
unserem Falle: wie seine Gedächtniskraft gestiegen ist, und zwar liegt es in
der Hauptsache daran, daß es wie jedes organische Wachsen nicht sprunghaft,
sondern nur allmählich erfolgt. Aber auch nach dieser Richtung hin ist eine
Erweckung des Erfolgsgefühls möglich. Auf dem Gebiete des Gedächtnisses
gelingt es nach meiner Erfahrung sehr leicht beim unmittelbaren Gedächtnis,
das im Kopfrechnen stark in Anspruch genommen wird. Bevor eine solche
Schulung des unmittelbaren Behaltene einsetzt, lasse ich eine Selbstprüfung
vorausgehen, die nur einige Minuten erfordert Indem ich gleichzeitig prak¬
tische Anweisung für das Behalten gebe, zeige ich den Schülern von Zeit
zu Zeit, wie ihre Merkfähigkeit wächst. Am besten würde es natürlich sein,
wenn man den Schülern zahlenmäßig die Zunahme ihrer Gedächtniskraft
zeigen würde.
2. Während wir bisher hauptsächlich vor einer Unterschätzung des
Gedächtnisstoffes und der Gedächtniskraft warnen wollten, möchte ich
jetzt auf die Gefahren einer allzu starken Betonung des Gedächtnisses hin-
weisen. Die verlangten Kenntnisse sollte man gerade in der Mathematik auf
das Allemotwendigste beschränken, soweit sie nämlich erforderlich sind als
spätere Apperzeptionsstützen, wenn nicht außerdem praktische Gründe be¬
stimmend sind. Ich trete ganz der Ansicht von Lietzmann 1 ) bei, der sagt:
„Ich würde gar nichts dagegen haben, wenn man ihm (dem Schüler) ge*
statten würde, einzelne Formeln, bei denen auch der praktische Mathematiker
gern zur Formeltabelle greift, aus einer geschriebenen oder gedruckten (hek-
tographierten) Zusammenstellung zu entnehmen. Diese Formalkenntnis ist
wirklich für die Leistungsprüfung manchmal ohne Belang; ein Fehlgriff aber
erschwert die Lösung der Aufgabe, oder macht sie gar unmöglich.“ Legt
man allzu großen Wert auf Kenntnisse, so erzieht man Treibhauspflanzen,
die zwar unter den künstlichen Bedingungen des Unterrichts günstige Erfolge
aufweisen können, die aber versagen, wenn sie im Leben auf eigne Füße
gestellt werden. Frachtet man den Schülern zu viel Ballast, d. h. Gedächtnis¬
stoff, auf, so sinkt — um in diesem Bilde zu bleiben — entweder das Schiff,
oder sie müssen den Ballast über Bord werfen, d. h. vergessen, wobei der
letztere Fall noch der günstigere ist.
Bei aller Achtung, die ich oben dem Gedächtnis entgegengebracht habe,
darf dasselbe jedoch nicht zum Tyrann werden. Es hat — ohne daß ich
damit ein bewertendes Urteil aussprechen will — die Rolle eines Handlangers
zu übernehmen, während den anderen Geistesfunktionen die mehr bauende
Tätigkeit zukommt Z. B. muß bei einer planimetrischen Konstruktionsaufgabe
’) Lietzmann, Methodik des mathematischen Unterrichts, l.Teil, S. 177.
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Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- und Rechenunterricht
447
die Phantasie die vom Gedächtnis herbeigeschleppten Steine, d. h. Vor¬
stellungen, zusammenfügen. Dem Denken kommt dann die weitere Aufgabe
zu, die so entstandenen Gebilde auf ihre Richtigkeit und Brauchbarkeit hin
zu prüfen.
So viel psychologisches Verständnis sollte nun jeder Lehrer besitzen, daß
er imstande ist, Gedächtnisleistungen von Denkleistungen (dieses Wort im
weiteren Sinne gefaßt) zu unterscheiden. In keinem anderen Fach ist eine
solche Scheidung leichter möglich als gerade in der Mathematik. Allerdings
kommt es auch in diesem Fache vor, daß — ich fasse die negative Seite
ins Auge — mangelhaftes Wissen mangelhafte Begabung für Mathematik
vortäuscht (s. o.). Ebenso, wenn auch nicht so oft, kommt in unserm Fach
der umgekehrte Fall vor, bei dem ein gesteigerter Besitz mathematischer
Kenntnisse und Fertigkeiten erhöhte Begabung für Mathematik vortäuscht.
Am leichtesten unterläuft uns dieser Irrtum im Rechenunterricht, weniger
leicht im arithmetischen und noch weniger im geometrischen Unterricht
Dieses liegt daran, daß die Fertigkeiten, die ja in der Hauptsache Gedächt¬
niswirkungen sind, im Rechenunterricht eine große Rolle spielen, während
sie in Arithmetik und Geometrie immer mehr zurücktreten. Diese Tatsache
zeigt sich schon äußerlich im Lehr- bzw. Übungsbuch. Während ein und
dieselbe Materie im Rechen- und Arithmetikbuch mehrere Seiten in Anspruch
nimmt, wechselt der Stoff im Geometriebuch oft mehrfach auf einer Seite.
Daß uns, wie oben gesagt, das Gedächtnis im Unterricht Intelligenz vor¬
getäuscht hat, erkennen wir oft daran, daß ein Schüler, der im Rechnen
Gutes leistet^, gelegentlich versagt, wenn der Mathematikunterricht einsetzt.
Gelegentlich kommt es auch vor, daß das Gedächtnis Denkleistungen ent¬
gegenwirkt. Als Beleg zitiere ich folgenden Fall aus meinen Unterrichts¬
skizzen, die ich nach den einzelnen Unterrichtsstunden schriftlich niederlege:
Ein Parallelogramm sollte in ein Rechteck verwandelt werden. Die Inhalts¬
gleichheit von Rechteck und Parallelogramm sollte durch die Kongruenz des „ab¬
geschnittenen“ und „zugefügten“ Dreiecks bewiesen werden. Diese Kongruenz
war bewiesen, und nun folgerte die Schülerin weiter: „In kongruenten Drei¬
ecken sind homöloge Stücke einander gleich.“ Man erkennt deutlich die
störende Wirkung früherer Assoziationen, die gestiftet winden, wenn es sich
darum handelte, vermittels der Kongruenz die Gleichheit zweier Seiten bzw.
Winkel nachzuweisen.
Diese Warnung vor allzu starker Betonung des Gedächtnisses bezieht sich
nicht nur auf den mündlichen Unterricht, sie gilt auch für die sogenannten
schriftlichen Klassenarbeiten, welche vom Lehrer verbessert und beurteilt
werden. Im allgemeinen findet man, daß in ihnen fast einzig und allein
Gedächtnisleistungen verlangt werden; z. B. Wiederholung von eingeprägten
Beweisen und Fertigkeiten, Auflösung von angesetzten Gleichungen nach
einem oft geübten Schema. Man sollte jedoch auch durch die Klassen¬
arbeiten Auskunft über die anderen psychischen Funktionen zu gewinnen
versuchen, d. h. die Klassenarbeiten in Zweck und Form den psychologischen
Intelligenkprüfungen anpassen. Wenn ich diese Forderung auch nicht kon¬
sequent durchführe, so pflege ich doch i. a. bei jeder Arbeit drei Arten von
Aufgaben zu stellen. In einer Aufgabe prüfe ich das Wissen und damit
gleichzeitig den Fleiß, denn Wissen und Fleiß sind stark von einander ab¬
hängig. Ferner gab ich eine sogenannte Fertigkeitsaufgabe, z. B. eine mathe-
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448 Gustav Rose, Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- u. Rechenunterricht
matische Konstruktionsaufgabe, die Lösung einer Gleichung usw. Auch bei
dieser Aufgabe wird in der Hauptsache das Gedächtnis ins Spiel gesetzt,
vorausgesetzt, daß sie genügend im Unterricht geübt sind. Daneben spielen
aber auch andere geistige Funktionen eine Rolle. Diese Art von Aufgaben
wird bei den Klassenarbeiten meistens vordringlich. Bei einer dritten Auf¬
gabe suche ich die übrigen geistigen Funktionen und, wenn eben möglich,
isoliert zu untersuchen, so daß, wie gesagt, diese Aufgabe den Intelligenz¬
prüfungen ähnelt. Ich möchte aber nicht behaupten, daß ich dieses Ziel
restlos erreiche oder auch erreichen will, weil ja diese Aufgabe zugleich
mathematischen Übungswert besitzen soll. Zur Erläuterung füge ich zwei
Beispiele aus meinen Unterrichtsskizzen an. Eine Aufgabe lautete: „Falte
ein Blatt um eine zuvor gezeichnete Gerade, durchstich es alsdann mit einer
Nadel und verbinde die so entstandenen Punkte mit zwei oder mehr Punkten,
die du auf der ersten Geraden beliebig allgenommen hast. Gib die Merk¬
male der so entstandenen Figur an.“ Man erkennt in dieser Aufgabe ohne
weiteres einen Appell an die Beobachtungsfähigkeit. Eine andere Aufgabe,
bei der der Abstraktionsprozeß, wenn auch nicht die einzige, so doch eine
Hauptrolle spielte, lautete: „Gib die Beziehungen an, die bestehen zwischen
einer zweistelligen Zahl (z. B. 37), ihrer Umkehrung (73) und dem Unterschied
der beiden Zahlen (73 — 37 = 36). Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß
diese Art von Aufgaben im Unterricht nicht geübt waren, sonst wäre es
nicht eine allgemeine Intelligenz-, sondern eine Gedächtnisprobe gewesen.
Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht
Von Max Trümper-Bödemann.
Meine Erfahrung hat mich gelehrt, daß die Farbe 1 ) im Leben unserer
Schwachsinnigen vieles, wenn nicht alles bedeutet. Map bedenke nur das
eine: Wie gering sind die Ausdrucks- und Verständigungsmöglichkeiten
unserer Kinder! Sprachlich und körperlich siud viele gehemmt. Meine
Arbeiten in unserer Aufnahme- und Beobachtungsstation ergaben, daß z. B.
bei rund */3 der Neuaufnahmen eine reine Intellig.-Prfg. nach Binet-Simon
nicht möglich ist wegen des Unvermögens der Kinder, sich sprachlich aus¬
zudrücken, und daß 2/3 der Aufnahmen nur ein Int. Alter bis 5 Jahre haben.
Dazu sind die weitaus meisten Kinder technisch äußerst tiefstehend. Und
doch gärt und braust es oft auch in der kleinen Brust und drängt nach
außen zur Betätigung. Ich bin oft erstaunt und erschüttert, welch reges
und reiches Innenleben manche unserer Kinder führen, eben jene Kinder,
die äußerlich stumpf, häßlich und teilnahmlos erscheinen, denen aber das
Schicksal nur die Mittel versagte, sich auszuwirken und auszugeben. Und
dies Mittel gebe ich den Kindern in die Hand — auch den tiefststehenden
meiner Station: Es sind Papier und Buntstift! Und mir geht wie oft das
') Ein Zufall will es, daß ich zu eben der Zeit, da meines Amtsgenossen Wittigs
Aufsatz — Visueller Moralunterricht, Zeitschr. f. d. Beh. Schwache., Mai 1922 — erscheint,
eine Arbeit beende, die sich in ähnlichen Gedankengängen bewegt. Und wenn ich sie der
Öffentlichkeit übergebe, will ich nicht nur weitere Kreise zur Mitarbeit anregen, ich möchte
auch meinem Kollegen W. ein Sekundant sein, der da befürchtet, daß seine Vorschläge als
z. T. zu neuartig, ungeprüft beiseite geschoben würden.
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Max Trümper-Bödemann, Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht 449
Herz auf, wenn ich die kleinen, oft wirren Werke betrachte, welche die
Kinder schufen, nur .aus sich heraus, völlig unbeeinflußt, rein expres¬
sionistisch, im vollen Vertrauen auf ihre Kunst und stolz auf das Ge¬
schaffene. — Die Erkenntnis vom Werte solcher „Freier Kinderzeichnungen“
ist leider noch nicht Allgemeingut. Stiehler sagt u. a. darüber in seinem
«Neuland“: Sie bietet der experimentellen Pädagogik ein frisches, wenig
bebautes Feld der Betätigung — und ähnlich schreibt auch Stern, indem er
darauf hinweist, daß man die „Freie Kinderzeichnung“ mehr als bisher,
nicht rein als Fach, pflegen solle, denn sie lasse tiefe Blicke in das Seelen¬
leben der Kinder tun. — Ich habe z. Z. eine Ausstellung solcher Kinder¬
zeichnungen veranstaltet und die Arbeiten nach verschiedenen Grundsätzen
gruppiert 1 )- — Der allgemeine Eindruck, auch des flüchtigen Beobachters,
ist der, daß das schwachsinnige Kind ein direktes Bedürfnis hat, sich in
dieser Form auszugeben und auszudrücken — es wühlt förmlich in Farben.
Und die dominierende Farbe ist Rot. Sie drängt sich jedem Beschauer, der
vor einer Wand voll solcher Arbeiten steht, ohne weiteres auf. Nun ist Rot
die Farbe, welche von hysterischen und leicht erregbaren Menschen bevor¬
zugt wird, während Schwachsinnige meist nichts weniger als empfindsam
erscheinen. Und doch bin ich überzeugt, daß auch das geistig tiefstehende
Kind in dem Augenblicke, da es, vielleicht' zum ersten Male in seinem Leben,
sich durch Farben ausdrücken darf, sich in einem Zustande hoher innerer
Erregung befindet. Man bedenke: Dieses arme Wesen hat bisher ein Leben
geführt ohne eine andere Möglichkeit, als vielleicht durch Schreien seinem
inneren Erregungszustände Luft zu.machen. Da gibt ihm jemand Kreide
und Papier in die Hand, und im Augenblicke hat es begriffen: Jetzt darfst
du dich auf andere, neue Art äußern. Und es arbeitet, und die kleine arme
Seele zittert. Und so konnte es geschehen, daß Kinder beide Seiten ihres
Bogens rot bemalten, um dann ermattet und erleichtert, seelisch wieder im
Gleichgewicht, die Arbeit beiseite zu legen. Das sollte uns zu denken
geben! — Eine große Zahl anderer Kinder gefällt sich darin, bunte Farb-
klexe nebeneinander zu setzen, gewissermaßen die Farben ausprobierend,
die sie zum ersten Male frei gebrauchen dürfen. Diese farbenfrohen Naturen
bevorzugen ebenfalls Rot, und an ihnen erkennen wir den reinen Ausdrucks¬
wert der Farbe, losgelöst vom Gegenständlichen. — Andere Arbeiten sind
nichts weiter als ein Gewirr bunter Linien. Nichts wäre verkehrter, als
solche Arbeiten als wertlos abzutun. Der erfahrene Blick wird vielmehr
finden, daß solch tolles Farbgewirr ein Abbild geistiger Verworrenheit und
Unklarheit ist. Über die psychologische Auswertung „Freier Kinderzeich¬
nungen“ zu sprechen, ist zwar äußerst interessant, überschreitet aber den
Rahmen unserer Aufgabe. Die technische Seite der „Kinderzeichnung“ hat
nur sekundäre Bedeutung. Ich kann von einem Kinde, das noch nie den
Stift führte, kein technisches Können erwarten. Der erfahrene Beschauer
wird in solchen Arbeiten vielmehr nur Ausdrucksformen und Äußerungen
inneren Erlebens erblicken. Und so besitze ich auch eine große Anzahl
f ) Es sei an dieser Stelle an eine einzigartige Sammlung erinnert, die die psych. Klinik der
Universität Heidelberg unter Prof. Wilmann zusammengestellt bat. Es sind künstlerische Arbeiten
Geisteskranker, und gewiß ließen sich interessante Parallelen ziehen zwischen diesen und denen
meiner Kinder, denn auch meine Kinderzeichnungen berühren z. T., wenn auch elementar und
kindertümlich, das große Grenzgebiet zwischen Genie und Wahnsinn.
Zeitschrift t pädagog. Psychologie.
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Max Trümper-Bödemann
„Gemälde* technisch begabter, aber geistig tiefstehender Kinder, die ich als
expressionistische Arbeiten im künstlerischen Sinne anspreche und die neben
dem Kunstwert einen hohen psychologischen Wert haben. Bei diesen Kindern
ist im allgemeinen die Spanne zwischen Lebens- und Intelligenzalter nicht
so groß wie bei den obengenannten. Sie arbeiten durchgängig bereits
figürlich ohne Rücksicht auf Tiefe, beherrschen die Technik, sind aber zu¬
meist noch Typenzeichner (Kasten, Kaulquappe u. a.). Sie zucken mit keiner
Wimper, wenn sie einen Baum rot malen oder einem Manne ein grünes
Gesicht geben — sie sehen es eben, oder richtiger, sie empfinden es iro
Augenblicke so. Für sie ist Farbe weder Licht noch Stoff — sie ist eine
Empfindung! — Es sind glückliche Künstler, die sich nicht an Modelle oder
Vorlagen zu halten brauchen, die nicht ängstlich bemüht sein müssen, ihrem
Bilde die gleichen Töne zu verleihen wie dem Modell. Sie sind glücklich,
weil sie sich ausgeben dürfen, ohne eine Kritik fürchten zu müssen. Und
das ist eine Hauptsache für das Gelingen einer freien Kinderzeichnung
überhaupt: Man beurteile sie mit Liebe und mache den Kindern, wenn es
nötig sein sollte, Mut; denn nur ein Kind, welches Vertrauen zum Lehrer
hat, enthüllt sein Innerstes mit Farbe und Stift. Solch Tun ist feines Pflänz¬
chen — ein scheeler Blick, ein unbedachtes Wort können alles verderben.
Aber warum auch wäre das je nötig? Geben die Kinder uns doch das
Beste, was sie haben, so gut, wie es ihnen nur möglich ist.
In diesem Zusammenhänge muß auch das Kapitel der Lieblingsfarben
berührt werden. Nach dem schon oben Gesagten muß im allgemeinen Rot
als bevorzugte Farbe gelten, wenn auch mit Einschränkungen! Kann man
es aber als Lieblingsfarbe ohne weiteres ansprechen oder ist es nur Ausdruck
einer ersten, tiefen Erregung? Dr. Anna Martin schreibt hierzu: Eine
Lieblingsfarbe der Kinder in dem Sinne, daß eine einzelne Farbe allgemein
und konstant bevorzugt würde, gibt es nicht. — Diesem Urteil kann ich
mich, soweit es tiefstehende Kinder betrifft, nicht anschließen. An der Hand
von Tausenden von Kinderzeichnungen und im Laufe vieler Jahre habe ich
festgestellt, daß tiefstehende Kinder Rot bevorzugen und am liebsten ver¬
wenden. Mit steigendem Intelligenzalter aber und durch schulische Beein¬
flussung und häusliche Erziehung gewinnen sie Freude auch an anderen
Farben. In dieser Richtung habe ich Kinder durch Jahre beobachtet und
verfolgt und gefunden, daß sich mancher Expressionist zum Realisten wandelte.
An den Schülerarbeiten unserer geistig höher entwickelten Kinder kann ich
auch bei freier Farbengebung eine Bevorzugung von Rot nicht feststellen. —
Ich besitze nur zwei Arbeiten, in denen Kinder beide Bogenseiten blau
bzw. grün bemalt haben. — Um exakte Ergebnisse in der Frage der bevor¬
zugten Farben zu gewinnen, habe ich den Weg des Experimentes beschritten.
Für Nuancen von Blau über Grün bis Gelb haben Schwachsinnige kein
Empfinden. Sie werden von ihnen gleich behandelt, in der Bezeichnung
verwechselt. Sicher vermögen mir Neuaufnahmen in vielen Fällen neben
Rot nur Schwarz und Weiß zu zeigen und zu nennen. (Schwarz und Weiß
als Farben aufgefaßt.) Untersuchungen über Farbenkenntnis ebenso wie über
Farbenblindheit, die ja ab und zu in Frage kommen wird, stoßen natur¬
gemäß bei unsern Kindern auf große Schwierigkeiten, und der Farbkreisei
z. B. ist nur in wenig Fällen zu Feststellungen zu verwenden.
Wie schon erwähnt, habe ich ferner Versuche gemacht, das Farben-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht
451
gedächtnis schwachsinniger Kinder zu prüfen. Zu diesem Zwecke biete ich
mit Hilfe des „Minnemann“ J ) 5 Reize im Abstande von 5 Sekunden. Zu
dieser Reizzahl und Dauer habe ich mich auf Grund der Erfahrungen aus
Vorversuchen entschlossen. Auf einer dargebotenen Farbtafel müssen als¬
dann die Kinder, ohne daß sie zu sprechen brauchen, die gesehenen Farb¬
töne zeigen. Mit l ji der Kinder ist der Versuch nicht durchführbar. Sie
zeigen eine beliebige, meist nicht gebotene Farbe, um dann automatisch
die Farbleiter auf- oder abwärts zu gehen. Dieser Automatismus, den ich
auch bei andern ähnlichen Versuchen feststellte, ist für mich ein Zeichen
besonderen geistigen Tiefstandes. — Von dem Rest der Kinder erkannten
s /4 Rot bestimmt wieder; dann Schwarz und in weitem Abstande Gelb, Grün,
Blau. — Diese Ergebnisse decken sich, obwohl die Versuche fortgesetzt werden
müssen, mit meinen allgemeinen Erfahrungen bei Kinderzeichnungen. —
Von großer Bedeutung sind ferner Untersuchungen, welche die Einwirkung
von Farben auf Atmung und Puls prüfen. Das hierbei von mir gefundene
Material ist ebenfalls noch nicht so reichhaltig, um einwandfreie Schlüsse
zuztdassen. Ich habe die merkwürdige Erfahrung gemacht, daß sich äußerst
unruhige Kinder, von denen sich eine Normalkurve nicht herstellen ließ,
dennoch beruhigten, wenn ich ihnen leuchtende Farben oder Bilder bot.
Aus den Feststellungen entspringt für die Praxis das folgende: Ich
räume der Farbe eine dominierende Stellung in jedem Fache ein, denn das
Auge ist bei Schwachsinnigen das beste Zugangstor. Und wenn Lehrer
und Schüler nicht gerade selbst praktisch mit Farben arbeiten, dann muß
der Lehrer „farbig erzählen“ — aber Farbe und Farbenfreude müssen die
Stunde beherrschen! Es ist die höchste Stufe anschaulicher Redeweise,
die es den Kindern ermöglicht, ein denkbar klarstes Vorstellungsbild zu ge¬
winnen. Bei Scharrelmann las ich: Ein Lehrer, der nicht Geschichten
erfinden kann, der Disziplinarmittel gebraucht, um Ruhe in der Klasse zu
haben, der nicht zu malen und komponieren versteht, der nicht auch dem
ödesten Unterrichtsthema eine völlig neue Seite abgewinnen kann, der ist
nur eine halbe Kraft. — Dieses Wort hat doppelte Bedeutung für den Lehrer
v an Schwachsinnigen. Der Stift ergänze dazu das Gesprochene — der Stift
in der Hand des Lehrers und der Kinder. Und wie die Farben leuchtend
und klar, oft grell dissonierend sind, so auch die Worte: In kräftiger Manier
muß sie der Lehrer führen, wie den Stift. Ja, das Malen! Das ist wohl
etwas Schweres und etwas Schönes, bei gutem Willen wird es jeder Lehrer
zu einigem Können bringen. Und innere Befriedigung wird ihn neben
der Freude der Kinder reich für die gehabte Mühe entschädigen. — Ich
habe einmal das Wort geprägt: Der beste Lehrer verbraucht die meiste
Kreide! Und so muß der Lehrer befähigt sein, so wie er spricht: Kurz,
anschaulich und farbenfroh — auch zu zeichnen. Mit wenig Strichen muß
es ihm möglich sein, ein buntes Anschauungsbild an die Tafel zu zaubern.
Ich' bin immer eingetreten für das selbstgefertigte Anschauungsbild, das so
viele Vorteile hat gegenüber dem gekauften, wiewohl anerkannt werden
muß, daß die modernen Künstler und Verleger auch viel für unsere Anor¬
malen geeignetes herausbringen. Über den Wert eines guten Anschauungs-
*) Ein Gedächtnisapparat mit automatischem Kartenwechsler.
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452 Max Trümper-Bödemann, Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht
bildes habe ich mich früher eingehend verbreitet 1 ); ich verlange noch heute
von ihm Übersichtlichkeit und Farbenfrohsinn. Und wie in der figürlichen
Behandlung der Bilder, so muß ich auch für die Farbenbetonung ein kräftiges
Wörtlein reden: Ich halte die Übertreibung in Form und Farbe bei unserm
Unterrichte für äußerst wichtig. Ist doch die Reizempfindlichkeit unserer
Kinder oft erschreckend gering, das lehren mich Unterricht und Experiment
täglich. Da muß stark aufgetragen werden, will man einen Eindruck erzielen.
Und hier berühren sich beide Gebiete: Drastisch in der Erzählung, über¬
trieben in Form und Farbe I — Zu diesem meinem Lieblingsthema der
„Karikatur im Unterrichte" finde ich eine Bestätigung, so trefflich geschrieben,
daß ich einen Teil derselben folgen lasse 2 ). Scheltet nicht, ihr Lehrer, wenn
ihr eines Tages auf der Tafel euer wohlgelungenes Konterfei erblickt, sondern
lächelt. Leitet das Bedürfnis nach Karikatur, das nirgends und niemals so
stark ist, wie in der Jugend, in rechte Bahnen. Gerade die Kreide kann
euch die Brücke schlagen helfen zu den künstlerischen Werten des Erhabenen
und Großen der Menschenkunst, denn auch sie liegen ja in der Wirklichkeit
nicht für jedes blöde Auge da, auch sie müssen aus ihr erst „herausgeschaut“
werden. — Aber vergeßt auch nicht den Eigenwert der Karikatur selbst
Sie ist eine Äußerung frischen Lebens, sie sollte nicht unterbunden werden,
sie, die unmittelbar wieder Lebensfreude schafft. Des Lachens ist ja in der
Welt immer noch viel zu wenig. Und besonders in der Arbeitsstätte der
Jugend, der Schule. — Und wenn mirs nicht Gefühl und Erfahrung sagten,
daß kräftige Reize die eindrucksvollsten für unsere Kinder sind, dann würde
es mich der Versuch lehren: Mit mir werden viele Lehrer bei Intelligenz¬
prüfungen die Erfahrung gemacht haben, daß tiefstehende Kinder den Binet-
Simon Ästhetischen Text IV 6 im obigen Sinne lösten, d. h. sie bezeichnen
die Zerrbilder als schön und ihnen gefallend, weil sie eindrucksvoller sind. —
Eine starke Farbbetonung ist natürlich für mich auch Leitmotiv im Zeichen¬
unterrichte. Von hier aus haben sich bei uns die Fäden dann weiter ge¬
zogen und auch den freien Holzarbeitsunterricht in gleiche Bahnen geleitet
Zunächst kamen die Kinder zu mir mit Brettern und sonstigen Holzabfällen
aus der Werkstatt. Ich zeichnete ihnen rasch ein gewünschtes, lustiges Bild
darauf — ich kann ja nicht verlangen, daß Schwachsinnige selbst entwerfen
und schöpferisch tätig sind —, dann wurden die Entwürfe ausgemalt und
ausgesägt, und dieser Anfang hat sich so erfreulich weiter entwickelt, daß
unsere Jungen heute unter trefflicher Anleitung einen guten Teil Spiel¬
sachen für die Anstalt selbst herstellen. — Die Farbe spielt ferner im Schreib¬
unterricht eine wichtige Rolle. Auch hier schafft sie Freude, Anregung und
Klarheit. Im Anfangsunterrichte wird bei Silben und einzelnen Wörtern
jeder Buchstabe in besonderer Farbe geschrieben. Später, in &ät£en, er¬
hält jedes Wort einen eigenen Farbton, und selbst in den Oberklassen wird
das Geschriebene den Kindern übersichtlicher, wenn an der Wandtafel jeder
Satz oder im Gedicht jede Zeile in anderer Farbe angeschrieben wird. —
Ähnlich verfahre ich im Rechenunterrichte.
Neben dem Unterricht muß der Farbe eine größere Rolle in der Heil¬
behandlung zugewiesen werden. Es ist darüber vieles geschrieben und be-
1 ) Zeitschrift für die Beh. Schwachs. Januar 1914, Heft 1. Eine Herausgabe der Bilder
scheiterte bis heute an den hohen Kosten.
2 ) Kunstwart 1909, Erstes Oktoberheft: Die Fratze in der Schule.
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Kleine Beiträge and Mitteilungen
453
sonders in Irrenanstalten manches versucht worden. Und wie mein Kollege
Wittig mit jugendlichen Strafgefangenen, so müssen wir, wenn auch in
anderem Sinne, mit gewissen Schwachsinnigen eine Farbbehandlung vor¬
nehmen. Ich weiß, daß ich mit diesen Gedanken auf manchen Widerstand
stoßen werde, aber sie sind aus der Praxis geboren und imschwer auszu¬
führen. Für unsere Kinder kann die Farbbehandlung zunächst nur einen
doppelten Zweck haben: Sie kann anregen oder beruhigen! Das tut schon
analog die Mutter und das tut der Lehrer, wenn sie dem Kinde einen
„Geschmacks- oder Gefühlsreiz“ bieten. Wir haben Kinder, auf die nur
Musik im ähnlichen Sinne wirkt. Warum sollte es, nachdem wir die ersten
Erfahrungen hinter uns haben, nicht auch mit der Farbe versucht werden?
Das wäre um vieles einfacher, als schlechthin angenommen wird: Man
braucht die Kinder nur stundenweise täglich einer Farbbehandlung zu unter¬
ziehen. Hat man nur ein Zimmer zur Verfügung, so kann man sogar auf
den entsprechenden Wandanstrich verzichten, indem man durch verschieb¬
bare Fensterverglasung die jeweils benötigte Wirkung erzielt. Ebenso müßten
die Kinder während der Nacht statt bei weißem Licht besser bei blauem bzw.
meergrünem schlafen; eine allgemeine Beruhigung ist sicher zu erwarten.—
Daß man mit der Farbbehandlung den Schwachsinn nicht heilt, weiß ich,
aber indem man in einem Falle die Kinder anregt und im andern beruhigt,
schafft man die Stimmung und damit die Basis, auf der die Erziehung in
Schule und Haus leichter weiterbauen kann.
Durch das verständnisvolle Entgegenkommen, welches ich bei meiner
Anstaltsdirektion auch für die Durchführung der obigen Gedanken finde,
wird es möglich sein, die Farbbehandlung auf eine breite Grundlage zu
stellen und damit das Problem der Farbwirkung — zunächst auf schwach¬
sinnige. und irre Kinder — seiner Lösung näher zu bringen. Es ist das ein
Arbeitsgebiet, auf dem sich Ärzte und Lehrer zu segenbringender Arbeit die
Hand reichen.
Kleine Beitrage und Mitteilungen.
Jugendkunde in der Tschechoslowakei. Die jugendkundlichen Bestrebungen
bei uns knüpfen sich eng an den Namen Prof. Fr. Oäda, der vom Jahre
1900 an sowohl an der Universität als auch in den häufig stattfindenden
Kursen für Lehrer mit besonderer Vorliebe Vorlesungen über diese neue
Wissenschaft gehalten hat und auch als Schriftleiter der pädopsychologischen
Abteilung in unserer bedeutendsten Zeitschrift „Pedagogickö rozhledy“ (Päd¬
agogische Rundschau) gemeinsam mit Prof. Fr. Drtina und Prof. Ot. Kädner
sich große Verdienste um die Verbreitung der neuen Gedanken erworben
hat. Mit den eifrigsten von seinen Hörern aus der Lehrerschaft hat er
gegen Ende des ersten Jahrhundertes „Sdruzeni pro v^zkum dit&te“ (Arbeits¬
gemeinschaft für Kinderforschung) gebildet, wo er mit seinen Mitarbeitern
eine planmäßige Untersuchung') des Vorstellungskreises der Prager Schulneu-
') Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in der obenerwähnten Monatsschrift in den Jahrg. 1910
und 1911 und auch selbständig („Vfzkum zactva“ — Schalererforschung) veröffentlicht worden.
Daneben sind in denselben Jahren andere wichtige Arbeiten von ihm über die Kindersprache,
Kinderzeichnungen, Psychologie der Jugendlichen u. a. m. erschienen.
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454
Kleine Beiträge und Mitteilungen
linge vorgenommen hat. Bemerkenswert ist, daß dabei nicht so großes Ge¬
wicht auf Massenprüfung, als auf eingehende Erforschung einzelner Kinder
gelegt wurde, wobei auch an der Hand eines umfangreichen Personalbogens
nähere Kenntnisse über die Umwelt jedes ABC-Schützens ermittelt werden
sollten.
Eine derartige freie Arbeitsgemeinschaft trennt begreiflicherweise nur ein
ganz kleiner Schritt von einer höheren Entwicklungsstufe, von der Gründung
einer ständigen, fester organisierten Arbeitsstätte, mag sie anfangs noch s»
bescheiden sein. Und so hat Cäda gegen Ende 1910 „Cesky pedologicky
üstav“ (Tschechisches Institut für Jugendkunde) mit dem Professor der Anthro¬
pologie H. Matiegka und mit Rektor J. Dolensky, als Vertretern der Schul¬
ärzte und der Lehrer gegründet. Das Institut blieb bis zum vorigen Jahre
in einem der beiden Amtszimmer der Knabenschule von Rektor Dolensky
untergebracht.
Von den Arbeiten, die noch vor dem Kriege vollendet worden sind, seien
folgende erwähnt: Prof. Matiegka hat schon damals angefangen, Kinder aller
Jahrgänge von mehreren Schulen wiederholt systematisch zu messen. Dozent
Leier hat sämtliche Studenten einer höheren Schule auf ihre Sehschärfe
bzw. Kurzsichtigkeit hin untersucht. Direktor Maty von einer Taubstummen¬
anstalt hat viele Hunderte von Kindern geprüft, um die mit irgendwelchem
Sprachfehler behafteten Schüler besonderen Sprachkursen überweisen zu
können. Von den psychologischen Problemen wurden damals folgende be¬
arbeitet: Freie Assoziation der Kinder, wodurch nur frühere Erfahrungen
bestätigt worden sind, z. B. die bekannten typischen Unterschiede (im Durch¬
schnitt!) von begabten und geistig schwachen Kindern, steigende Einförmigkeit
mit dem Alter u. a. m. Von größerer Bedeutung ist eine Prüfung der Schüler¬
intelligenz, welche auf Cädas Veranlassung von Rektor Dolensky und von dem
Unterzeichneten im Jahre 1913 vorgenommen wurde. Wir haben die Skala
Binet-Simon 1911 aus dem Französischen übertragen, nur in einigen Kleinig¬
keiten (insbes. die Verstandesfragen und die wenig passenden Absurditäten)
für unsere Verhältnisse abgeändert und danach mit Hilfe dieser Tests un¬
gefähr 100 Kinder, darunter 15 Zöglinge der Schwachsinnigenanstalt „Eme-
stinum“, geprüft. Der Zweck dieser Prüfung war kein anderer, als die Zu¬
verlässigkeit der Binetschen Methode aus eigener Erfahrung zu erkennen.
Darum hielten wir alle Vorschriften Binets fest (betreffend die strenge Aus¬
wahl nach dem Alter, das Bewertungsverfahren usw.), wobei auch wertvolle
Erfahrungen anderer Forscher, besonders diejenigen von Bobertag nicht un¬
beachtet geblieben sind. Und doch war das Ergebnis, zu dem wir gelangt
sind, für uns nicht wenig überraschend! Keiner von unseren 7—9jährigen
Volksschülern ist als „—“ gefunden worden, im Gegenteil haben sich alle
durchschnittlich um i 3 /4 Jahresstufen ihren Pariser Altersgenossen überlegen
erwiesen. 1 ) Dieser beträchtliche Unterschied läßt sich wohl aus demselben
') Bei den älteren wurde sehr störend die unangenehme Lücke Ittr 11jährige empfunden,
wodurch die wahrscheinlich erreichbare Leistungshöhe beträchtlich heruntergedrückt wurde.
Nur in einigen Fällen, wo die älteren Schüler auch bei den Aufgaben für das 12. Jahr gut
abgeschnitten haben, wagte ich von zwei Übeln das geringere zu wählen und mir einstweilen
mit einer gewissermaßen nicht ganz gerechtfertigten Supposition auszuhelfen, nämlich auf die
Weise, daß ich ihnen soviel Punkte für das 11. Jahr zugute zuzählte, wieviel das arithmetische
Mittel der erreichten Punkte auf der Stufe X und XII ausmachte.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
455
Umstand' erklären, der bei den Brüsseler (Decroly), Breslauer (Hofmann),
Römer (Jeronutti), Sheffielder (Johnston), New-Orleanser (Strong) u. a. Kindern
eine so entscheidende Rolle gespielt zu haben scheint, nämlich daß die Schule,
wo sich auch unser Institut befindet, inmitten der Stadt liegt und zum großen
Teil von Kindern besucht wird, die wohlhabenderen oder besser gesagt (vor
dem Kriege!) gebildeteren Familien entstammen. Daß in irgendwelcher Schule
einer Vorstadt der Ausfall der Prüfung erheblich anders gewesen wäre, das
steht außer Zweifel.
. Der Weltkrieg hat fast gänzlich unsere Arbeit untergebrochen. Mit der
x Selbständigkeit sind neue, nie früher geahnte Hoffnungen und Pläne, aber
auch freudvolle Pflichten gekommen. Inmitten emsigster Vorbereitungen
wurden wir von einem schweren Verluste betroffen: Prof. Cäda ist plötzlich
gestorben (Dez. 1918). Neue Mitarbeiter und Freunde haben sich allmählich
gefunden, so daß jetzt in 4 Abteilungen gearbeitet wird:
I. Die pädometrische Abteilung (Prof. Matiegka, Doz. Suk, Assist. Frl.
M. U. Dr. Lukäiovä) mißt Jahr für Jahr in regelmäßigen Zeitabständen wo¬
möglich dieselben Schüler mehrerer Schulen, so daß das körperliche Wachs¬
tum jedes Kindes (Länge, Gewicht, Kopfmaße, Brustumfang, Entwicklung der
Zähne, der Muskelkraft u. a. m.) mehrere Jahre hindurch sorgfältig verfolgt
wird. Das Ziel, das dieser mühsamen Arbeit gesteckt winde, ist folgendes:
für jede Altersstufe möglichst zuverlässige „normale Körpermaße“ erst des
Prager, dann einst des tschechoslowakischen Kindes überhaupt festzustellen.
Ein großer Vorteil dieser Messungen besteht darin, daß hier das einzelne
Kind im Vordergrund steht, wodurch ermöglicht ist, daß man seine relativen
Zuwächse jedes Jahr verfolgen kann, die doch für die Feststellung seines
wirklichen, physiologischen Alters viel wichtiger und ausschlaggebender sind,
wie vor einigen Jahren schon Baldwin angedeutet hat. Es ist zu hoffen,
daß in diesen Messungen der erste Schritt zur planmäßigen Auffindung und
Normalisierung der Entwicklungsmerkmale zwecks Feststellung des physio¬
logischen Alters erblickt werden darf. Denn das tut uns noch jetzt bei
psychologischen Prüfungen schlecht entwickelter, kränklicher, unterernährter,
besonders aber anormaler Kinder am meisten not.
n. Der pädagogischen Abteilung (Rektor Dolensk^) ist als allgemeine
Aufgabe zuteil geworden, das Kind in der Schule zu beobachten und den
ganzen Schulbetrieb, sowohl was den äußeren Ausbau als auch das innere
Leben anbelangt, von psychologischen Gesichtspunkten aus nachzuprüfen, wo
sich das Bedürfnis herausstellt Im vorigen Jahre wurde eine breit geplante
statistische Untersuchung begonnen, von der wichtige Winke und Aufschlüsse
zu erhoffen waren. Wir wollten etwas Näheres erfahren von der Schulbahn
unserer Schüler (auch mit Rücksicht auf ihre sozialen Verhältnisse), wieviel
von ihnen ihr Schulziel, und wie sie es erreichen, wie die Verteilung der
Zensuren und die Art und Weise der bisherigen Klassifikation überhaupt ist,
wie häufig die Schülerverschiebungen aus einer Schule in eine andere sind
u. a. m. Leider mußte diese Arbeit zurzeit aufgegeben werden. An ihre
Stelle ist eine Erhebung für das Ministerium der sozialen Fürsorge getreten
über die Verhältnisse und die geistige Umwelt der Fortbildungsschüler und
-Schülerinnen.
ID. Die pädopsychologische Abteilung hat ihre von dem Kriege unter¬
brochene Untersuchung von neuem in Angriff genommen. Bei den Versuchen
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456
Kleine Beiträge und Mitteilungen
mit den Binetschen Tests hat sich berausgestellt, daß sie in mancher Richtung
einer Vertiefung bedürfen und daß manche Aufgaben durch neue, sorgfältig
ausgewählte ersetzt werden müssen. Als Ziel unserer Arbeit schwebt uns
vor die Aufgabe, mit der sich freilich alle Institute noch jahrelang zu be¬
fassen haben, nämlich neue, passende Tests auszusuchen, diese auf ihren
Symptomwert hin zu erproben, sie bestimmten Stufen zuzuweisen und zu
versuchen, ein wirkliches Testsystem zusammenzustellen, wo auf jeder Stufe
jede Teilfunktion der Intelligenz ihrer Wichtigkeit entsprechend vertreten sein
wird; dabei soll aber auch dem genetischen Standpunkt Rechnung getragen
werden, und zwar auf die Weise, daß innerhalb dieses zu bildenden Systems
immer in den Vordergrund diejenige Funktion gerückt werden wird, welche
eben in dem betreffenden Altersabschnitt in mächtiger Entwicklung begriffen
und für dieses Alter besonders charakteristisch ist.
Daraus wurde inzwischen zur Bearbeitung ein kleineres Teilproblem ge¬
wählt: die Intelligenz der Elfjährigen. Entscheidend war bei dieser Wahl ein
praktisches Bedürfnis. Die sowieso schwierige Arbeit in den unteren Klassen
unserer höheren Schulen, wo nicht selten gegen 50 Schüler beisammen sitzen,
wird noch erheblich durch Anwesenheit einer ganzen Reihe von Knaben er¬
schwert, welche offensichtlich den Anforderungen nicht gewachsen sind. Es
ist im Interesse aller geboten, eine sorgfältigere Auslese zu treffen und derartige
Schüler gleich femzuhalten. Unsere Aufgabe in dieser praktischen Hinsicht
ist also, festzustellen, inwiefern bei einem negativen Ausleseverfahren auch
die psychologische Intelligenzprüfung mithelfen kann.
Zehn Tests zur Prüfung der theoretischen Intelligenz fanden insgesamt
bei unseren Versuchen Verwendung. Die Idee ist den deutschen und
amerikanischen Tests, die sich schon gut bewährt haben, entlehnt, ich
habe nur versucht, ihnen eine neue Form zu geben. Diese Aufgaben sind
folgende:
1. Den logischen Gegensatz zu 25 Begriffen
angeben.
2. Analogiebegriffe, 50 Aufgaben.
3. Ergänzungstest (Vögelwettfliegen).
4. Bindeworttest (Himbeerenpflücken).
5. Sechs lückenhafte Rechenaufgaben er¬
gänzen.
6. Absurditäten (Unser Ausflug nach Karlstein).
7. Kombinationstest: ,
a) aus 2 Worten (6 Aufg.);
b) aus 3 Worten (5 Aufg,).
8. Meumanns Test: eine Geschichte aus Stich¬
worten bilden (3 Aufg.).
9. Neun angewandte Rechenaufgaben.
10. Die Lehre und passende Überschrift von
5 Fabeln finden.
Mit diesen Tests wurden gegen 700 Schüler im Alter durchschnittlich von
11 Jahren zu Beginn des Schuljahres geprüft, und zwar Knaben und Mädchen,
vorwiegend aus den Primen (d. h. untersten Klassen) einiger Realgymnasien,
zum Vergleich auch ihre Altersgenossen in zwei ersten Bürgerschulklassen.
Die Verarbeitung des gewonnenen Materials geht langsam vonstatten, da ein
streng einheitlicher Maßstab bei der Verwertung sämtlicher Arbeiten bewahrt
werden muß; doch an der Hand der aus meiner Klasse gewonnenen Er¬
fahrungen kann ich schon jetzt folgendes mitteilen: Im großen ganzen ist
das Ergebnis unserer Untersuchung sehr befriedigend; vergleicht man die
Testleistungen einerseits mit der Rangreihe, die der Klassenlehrer gegen Ende
des Schuljahres nach der Intelligenz seiner Schüler aufgestellt hat, und anderer¬
seits—und das ist für unser Problem das Maßgebende —mit den Schulleistungen,
so findet man, daß die Reihen am Anfang und am Ende eine ziemlich hohe
Übereinstimmung aufweisen. Wir dürfen also hoffen, ein allem Anschein nach
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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genügend zuverlässiges Hilfsmittel für unsere Zwecke gefunden zu haben —
natürlich unter einer Bedingung, wenn es von einem psychologisch einge¬
übten Prüfer einsichtsvoll gehandhabt wird.
IV. Die pädopathologische Abteilung (Dozent K. Herfort, Direktor des
„Emestinums“) ist dabei, sich allmählich in eine „Psychological Clinic“ im
amerikanischen Sinne umzugestalten. Dozent Herfort hat nämlich im Institut
ein anfangs ganz bescheidenes Ambulatorium für nervös und geistig auf¬
fällige Kinder und Jugendliche errichtet, wo die Eltern ihre Sorgenkinder
unentgeltlich untersuchen lassen können. Ober jedes wird zuerst mit Hilfe
der Mutter eine möglichst eingehende Anamnese verfaßt, dann, stellt der
Dozent der Eugenik, Dr. A. BroZek oder Fachlehrer Müller den Stamm¬
baum fest, einschließlich der Großeltern, ihrer Geschwister und 1 deren Nach¬
kommen; danach werden dem Kinde übliche anthropometrische Maße ab¬
genommen, darauf folgt die Untersuchung seines körperlichen und nervösen
Zustandes, zuletzt wird es auf seine Intelligenz hin in der psychologischen
Abteilung geprüft. Das Ambulatorium setzt sich allmählich mit den Kliniken
und tüchtigen Spezialärzten in Verbindung, wodurch eine gründliche Unter¬
suchung des Blutes (Wassermann), der Augen, der Zähne, der Mundhöhle usw.
gesichert ist. Auf diese Weise wurden im Laufe von l l /2 Jahren über 200
Fälle untersucht und zugleich ein kostbares eugenisches Material gesammelt.
Im letzten Frühjahr hat die Schulbehörde in einem Rundschreiben die Schul¬
leiter beauftragt, alle auffälligen Schüler ins Ambulatorium zu schicken, wo¬
durch nur wiederholt bestätigt wird, daß die pädopathologische Abteilung
einen richtigen Weg eingeschlagen hat.
Das ist eine kurze Übersicht unserer geleisteten und der zu leistenden
Arbeit. Sie läßt naturgemäß noch viel zu wünschen übrig, denn alles ist
heute noch in den Anfängen begriffen, und die überwiegende Mehrheit der
Probleme harrt erst ihrer Bearbeitung. Das liegt wohl zum großen Teil auch
daran, daß sämtliche Glieder dem Institut nur ihre Mußestunden nach eigener
Berufstätigkeit widmen können. Auch die Stellung des Instituts ist noch
nicht geklärt. Es steht einerseits in naher Beziehung zur Stadtschulorgani¬
sation, andererseits zum Ministerium für Schulwesen, bzw. zur besonderen
Studienabteilung desselben, die den Namen „Pedagogick^ üstav Komensköho“
(Pädagogisches Institut Comenius’) trägt. Die Aufgabe dieses Instituts ist,
die Entwicklung der Schuleinrichtungen im Auslande zu verfolgen und Re¬
formen unseres Schulwesens wissenschaftlich vorzubereiten. Es wird vom
Professor der Pädagogik, Ot. Kädner geleitet, der von Anfang seiner wissen¬
schaftlichen Tätigkeit an 1 ) auch das Gebiet der pädagogischen Psychologie
bearbeitet und das Institut für Jugendkunde mit allen Kräften unterstützt.
In der letzten Zeit fängt noch eine andere, neu gegründete Anstalt an, in
enger Berührung mit unserem Institut zu arbeiten: an der großen Masaryks
Arbeitsakademie wurde ein psychotechnisches Institut eingerichtet, dem sich
vor kurzem die Berufsberatungsstelle für Jugendliche angegliedert hat.
Von den Anstalten außerhalb Prags ist das jugendkundliche Institut in Brünn
zu nennen, das von der dortigen Arbeitsgemeinschaft für Kinderstudimn
eben gegründet wird und von Prof. Ot. Chlup geleitet werden soll. Auch in
*) Seine Habilitationsschrift „Prfspevky k pedagogice experimentälni“ (Beiträge zur experi¬
mentellen Pädagogik) war vor 15 Jahren bei uns die erste selbständige Arbeit aut diesem Gebiete.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
Reichenberg besteht seit einigen Monaten ein ähnliches deutsches Institut;
etwas Näheres weiß ich aber nicht von ihm anzugeben.
Am erfreulichsten an allen diesen Bestrebungen ist die Tatsache zu be¬
grüßen, daß seitens der Lehrerschaft immer entschiedener der feste Wille
wach \frird, alles daran zu setzen, um die Ausbildung der künftigen Lehrer
auf gründlichem Studium der Jugendkunde und der benachbarten Gebiete
als unerläßlicher Grundlage sämtlicher Lehrtätigkeit aufzubauen. Als der
Plan von Prof. Kädner und Vertretern der Lehrerschaft, besondere zweijährige
pädagogische Fakultäten an der Hochschule zu errichten und später daneben
ihnen gleichwertige zweijährige pädagogische Akademien in einigen Städten
ohne Hochschule zu gründen, hauptsächlich wegen formaler Hindernisse zur¬
zeit aufgegeben werden mußte, entschloß sich der Lehrerbund, nach seinem
längst bewährten Mittel der Selbsthilfe zu greifen und im nächsten Herbst
aus eigenen Mitteln seine Akademie Comenius’ zu eröffnen, wo in längeren
Fortbildungskursen Vorträge über experimentelle Pädagogik und andere Gebiete
der Pädagogik und Philosophie für Lehrer stattfinden sollen. Dieser energische
Schritt läßt zweifelsohne auch für den Fortschritt unserer Wissenschaft bei
uns eine Wendung zum Besseren erhoffen.
Prag. Dr. Kyril Stejskal.
Die Kieler Arbeitsgemeinschaft für experimentelle Pädagogik berichtet in
ihrer ersten Veröffentlichung 1 ) über ihre Aufgaben, ihre Entwicklung und
ihre äußere Gestaltung das Folgende: Im Januar 1920 schlossen sich in Kiel
etwa 30 Lehrer und Lehrerinnen zu einer Arbeitsgemeinschaft für experi¬
mentelle Pädagogik zusammen. So wertvoll die Gründung einer solchen
Arbeitsgemeinschaft auch sein kann, so ist die Arbeit in ihr doch mancherlei
Schwierigkeiten und Gefahren ausgesetzt, auf die in aller Kürze und Offen¬
heit hinzuweiseq mir in Übereinstimmung mit den Mitgliedern unserer Arbeits¬
gemeinschaft zweckmäßig erscheint. Wir haben sie kennengelernt und nur
dadurch, daß wir uns ihrer dauernd bewußt blieben, ist es uns möglich
geworden, unsere Arbeitsgemeinschaft lebensfähig zu erhalten. Der Arbeit
in den Arbeitsgemeinschaften der Lehrer drohen von verschiedenen Seiten
recht ernste Gefahren; sie haben leicht zur Folge, daß die Arbeitsgemein¬
schaften — sofern sie nicht amtlich vorgeschrieben sind — entweder langsam
eingehen, oder daß sie ein nach außen hin zwar sehr rege erscheinendes,
im Innern aber doch leeres Leben zeigen, ein Scheinleben, das für die Weiter¬
bildung des Lehrers — das soll ja wohl das Hauptziel aller Arbeitsgemein¬
schaften sein — gefährlicher sein kann als ein Nichtbestehen.
Die größte Gefahr ist ohne Zweifel in der Ausbildung des Lehrers und
ihren Folgen begründet; und zwar darin, daß der Lehrer auf dem Seminar
nicht in gleicher Weise zum wissenschaftlichen Arbeiten erzogen worden ist,
wie der Student auf der Hochschule erzogen wird. Auf dem Seminar lernt
der Lehrer leider zu wenig, die Wirklichkeit — zu ihr gehören auch Bücher —
! ) Kieler Arbeiten zur Begabungsforschung, herausgegeben von a. o. Pro!. Dr. Johannes Witt¬
mann. Nr. 1: Der Aufbau der seelisch-körperlichen Funktionen und die Erkennung der Be¬
gabung mit Hilfe des Prüfungsexperiments. Abhandlungen und Vorträge, gehalten auf mehreren
Versammlungen der Kieler, Eutiner, Schleswiger Lehrer- und Pbilologenvereine, mit An¬
merkungen von Johannes Wittmann. Berlin-Wilmersdorf 1922. Volkskraft Verlagsgesellschaft.
103 S.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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denkend, methodisch und kritisch zu erfassen. Statt daß er sich selbständig
denkend bewegen dürfte, muß er in dogmatischer Weise eine Fülle von
Wissen, von angeblichen Tatsachen in erster Linie zu Examenszwecken in
sich aufnehmen, mit denen er im Leben wie in der Schule unter Umständen
wenig anfangen kann. Bis jetzt dürfte sich darin auch noch nicht viel ge¬
ändert haben, wenigstens was die pädagogisch-psychologische Ausbildung auf
den Seminaren betrifft, an die ich hier zunächst denke. Sehr viel trägt dazu
bei, daß hier dem Unterricht Lehrbücher zugrunde gelegt werden, die für ihren
Zweck, sowohl vom wissenschaftlichen wie vom methodischen Standpunkte
aus betrachtet, als ungenügend zu bezeichnen sind. Diese Schriften sind im
allgemeinen durch ein mehr oder weniger kritikloses Ausschreiben wissen¬
schaftlicher Darstellungen der Psychologie, Pädagogik und Logik sehr ver¬
schiedener Richtung entstanden. Sie entbehren daher der wissenschaftlichen
Selbständigkeit und überliefern dem heranwachsenden Lehrer ein nutzloses
Wortwissen. Es ist überaus zu beklagen, daß man auch bei bei der Aus¬
bildung der Studienreferendare nicht selten in gleicher äußerlicher Weise
minderwertige pädagogisch-psychologische Lehrbücher verwendet, und zwar
mit demselben Erfolge: Der Referendar, der auf der Universität in seinen
Hauptfächern wissenschaftlich denken und arbeiten gelernt hat, fühlt sich
von dem geistlosen Betriebe dieser pädagogisch-psychologischen Ausbildung
nur angeödet und verspricht sich keinen Gewinn von einer weiteren Be¬
schäftigung mit pädagogisch-psychologischen Fragen.
Man könnte sagen, daß jene Schriften keinen großen Schaden anrichteten,
wenn sie nur in der Hand tüchtiger Lehrer seien. Allein die Lehrer, welche
die Seminaristen und Studienreferendare in den genannten Disziplinen unter¬
richten, sind nicht selten selber sehr dürftig in ihnen unterrichtet; so sehen
sie sich gezwungen, sich eng an irgendeine Modeautorität zu halten und sich
mehr oder weniger pendantisch nach dem eingeführten Leitfaden zu richten.
Die Seminaristen werden so entweder ganz langsam zu dem Glauben an
Autoritäten, an Lehrbücher, oder zum Heucheln erzogen. Dagegen können
sie sich auf dem Seminar wegen ihrer Abhängigkeit wenig wehren, so sehr
sie auch den Trieb nach selbständigem Denken in sich spüren mögen. Ohne
Zweifel ist gerade bei den seminaristisch vorgebildeten Lehrern ein starkes
Sehnen nach wissenschaftlich begründetem Wissen und Erkennen vorhanden;
dies führte ja zur Gründung der Arbeitsgemeinschaften, zum Verlangen nach
Ausbildung auf der Universität.
Was die pädagogisch-psychologische Ausbildung der Studienreferendare
betrifft, so müßte es selbstverständlich sein, daß sie die Pädagogik und Psycho¬
logie — sofern sie beide als Wissenschaft kennenlernen sollen — dort
studieren, wo sie — vor allem die Psychologie — allein studiert werden
können: auf der Universität. Für die künftigen Lehrer dürfte es zweckvoller
sein, mehrere Semester Psychologie wirklich zu studieren, als sich in äußer¬
licher Weise — wie das gar nicht selten geschieht — ich nenne nur den
auch in Kiel sehr fleißig benützten „Friedlein“ — für eine nicht ernst ge¬
nommene Prüfung in der Philosophie vorzubereiten. Wird das Studium der
Philosophie nicht ernsthaft betrieben, so ist es wertlos. Zur Bildung trägt
flüchtiges, äußerliches Studium der Philosophie, wie es meist betrieben wird,
nicht bei. Das Studium der Psychologie wäre ohne Zweifel wertvoll; auch
würde es hinreichende Gelegenheit und beste Grundlage bieten zu besonderen
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
philosophischen (erkenntnistheoretischen, ethischen, ästhetischen, sozio¬
logischen, historischen) Studien. Tatsächlich liegen die Dinge aber so, daß
die Referendare im allgemeinen nicht die geringsten psychologischen Studien
getrieben haben, daher in ihrem Seminarjahr sehr oft nur das kennenlernen,
was in dem eingeführten Leitfaden steht, was ihnen der ausbildende Direktor
oder Studienrat, der vielleicht selbst nicht über der Sache steht, aus dem
Leitfaden vorträgt. Es ist nicht zu erwarten, daß auf diese Weise eine wirklich
wissenschaftliche psychologische Ausbildung des zukünftigen Lehrers an den
höheren Schulen erreicht wird. Entweder sollte man gar nichts in dieser
Richtung tun oder etwas wissenschaftlich Anständiges; das Beste, das sich
zurzeit tun ließe, wäre eben gut genug. Wie aber soll ein Direktor oder
Studienrat die ihm anvertrauten Referendare z. B. über das „Gedächtnis*
oder über das Problem der Begabtenauslese unterrichten, wenn er selber von
der Gedächtnisforschung oder Begabungsforschung nicht die leiseste Ahnung
hat? Daß dies gar nicht selten der Fall ist, kann nicht bestritten werden.
Es wird auch niemals anders werden, wenn nicht das Studium der Psycho¬
logie auf der Universität jedem zukünftigen Lehrer zur Pflicht gemacht wird.
Die Folge der seminaristischen Erziehung kann nur sein, daß der Lehrer
sich von der wissenschaftlichen Arbeit einen recht falschen Begriff macht.
Zunächst stellt er sich wissenschaftliche Arbeit leicht zu äußerlich vor; er
hat dann die Auffassung, daß es mit dem „Durcharbeiten* irgendeines viel¬
genannten Buches getan ist. So kann man auch bei studierenden Lehrern
nicht selten beobachten, daß sie sich die von einem Dozenten als besonders
wichtig bezeicbneten Werke sofort anschaffen, z. B. Wundts Physiologische
Psychologie, um sie von Anfang bis zum Ende in recht naiver Weise „durch¬
zuarbeiten*, ohne zu bedenken, daß die Lektüre eines solchen Buches reiche
psychologische Erfahrungen und kritische Stellungnahme verlangt; 'man neigt
eben mehr zu einem dogmatischen Hinnehmen des Gedruckten, nicht selten
auf Kosten des Verständnisses. In einem Berichte von A. Meyer (Päd¬
agogische Warte, Heft 21, 1921) über eine Junglehrer-Arbeitsgemeinschaft
lesen wir:
„Um 4‘/2—6 Uhr wird Wundts ,Grundriß* weiter behandelt. Wir haben im
ersten Arbeitsjahre den ,Grundriß* Satz für Satz gelesen und besprochen.
Bei solchem Verfahren kommen wir freilich in der Seitenzahl des Buches
nur langsam voran. Aber nur so wäre es möglich, daß die jungen Kollegen
sich an Wundt gewöhnten-.“
Ich muß gestehen, daß ich zur Einführung in die Psychologie für den
Lehrer kaum ein Buch als ungeeigneter ansehe als den Grundriß von Wundt;
vor allem ist er ohne Bezugnahme auf das Experiment weder zu verstehen
noch zu beurteilen. Bewunderswert ist die Ausdauer, mit der wir hier ein
einzelnes Buch über zwei Jahre hin bearbeitet sehen. Man würde wünschen,
soviel Mühe möchte einem glücklicheren konkreteren Studium zugewandt
worden sein.
Sodann denkt sich der Lehrer die wissenschaftliche Arbeit zu einfach, als
ob sie fast keiner Voraussetzungen, die nun einmal erfüllt sein müssen, be¬
dürfe. Endlich denkt er sie sich zu produktiv, als ob sie spielend von Er¬
folg zu Erfolg fortschritte. Daher greift der Lehrer in der Arbeitsgemeinschaft
nur allzu schnell zu den schwierigsten Problemen, ohne zu bedenken, daß
diese vielleicht ans Ende einer langjährigen ernsten Arbeit gehören; daher
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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meint er, einmal angefafite, wenn auch noch so schwierige Probleme müßten
durch die Arbeit in der Arbeitsgemeinschaft in kurzer Zeit restlos gelöst
werden. Er bedenkt nicht, daß schon die Einsicht in die Schwierigkeiten
und relativ berechtigten Mannigfaltigkeiten bzw. Unmöglichkeiten der Problem¬
lösungen einen wertvollen wissenschaftlichen Gewinn bietet. Der Lehrer hat
eben nicht gelernt, sich an das Nächstliegende, an das Einfache, das Tat¬
sächliche zu halten und dieses mit Ausdauer zu bearbeiten und aus dieser
oft ermüdenden, oft monotonen und vor allem bescheidenen Arbeit zu einem
für ihn wertvollen Ergebnis zu gelangen. Diese wirkliche Arbeit schreckt
ihn nur gar zu leicht ab, so daß das anfängliche große Interesse bald schwindet
und er von den Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft fern bleibt. Statt sich
in seinem Arbeitsziele zu beschränken, neigt er — entgegen dem guten Spruche
non multa sed multum, für den er sonst eintritt — hier, dazu, allzu viele
und zu schwierige Fragen, deren Beantwortung gar zu oft über seine Kräfte
geht, gleichzeitig in den Kreis seiner Betrachtung zu ziehen. Natürlich kann
er so nur zu Scheinerfolgen und zu einer Vielwisserei kommen, was vor
allem für die Junglehrer eine ganz besondere Gefahr ist.
Man sehe sich z. B. einmal das in der Pädagogischen Warte (Heft 1 u. 3,
1922) von Rektor Kammler veröffentlichte Programm der Pädagogischen
Arbeitsgemeinschaft des Kreises Glatz für 1919 bis 1921, besonders für Winter
1920/21 an. Für die einzelnen Sitzungen ist hier ein Programm mitgeteilt,
das an Fülle und Schwierigkeiten wirklich nichts zu wünschen übrig
läßt. Zum Beispiel ist in der 3. Sitzung besprochen worden:
1. Die Moralphilosophie Kants; die neuere Philosophie bis Kant, Kants Leben, Charakteristik
seiner Philosophie, Darstellung seiner praktischen Philosophie, nach Kants Schrift Grund¬
legung zur Metaphysik der Sitten 1. Teil, und Hensel, Hauptproblem der Ethik.
2. die experimentelle BegabungBforschung; Methoden, Kritik, die Berliner Begabtenschulen.
3. Behandlung des Lesestücks: Kindesdank« 4. Schuljahr. Besprechung: Die methodische
Stufe der sittlichen Anwendung.
Es wurden also in einer einzigen Sitzung die Moralphilosophie Kants und
die Methoden der experimentellen Begabungsforschung abschließend behandelt.
Wie ist so etwas möglich? Jedes der beiden Themen hätte die Glatzer Arbeits¬
gemeinschaft eine Reihe von Wochen beschäftigen müssen, sofern ihre Mit¬
glieder wirklich arbeiten und sich nicht durch Referate über Bücher unter¬
halten, d. h. sich das Arbeiten leicht und angenehm machen wollten. Schon
die Lektüre der Kantischen Schriften, die für eine Arbeitsgemeinschaft Pflicht
ist, sofern sie sich „wissenschaftlich“, „produktiv“ mit Kants Moralphilosophie
auseinander setzen will, dürfte Zeit und Mühe genug gekostet haben.
Es geht ferner nicht an, in zwei ganzen Sitzungen, in denen zugleich auch
die schwierigsten ethischen Fragen besprochen werden, das Begabungsproblem
(1. Begabungsforschung als Voraussetzung der Einheitsschule, das Wesen
der Begabung, ihre Diagnose, der psychologische Schülerbogen — Aufgabe:
Ausfüllen eines Bogens, ein Psychogramm —; 2. die experimentelle Begabungs¬
forschung: Methode, Kritik, die Berliner Begabtenschulen) zu erörtern. Es
handelt sich hier um so wichtige und schwierige Fragen, daß eine Arbeits¬
gemeinschaft, die überhaupt einmal die Bedeutung der mit dem Begabungs¬
problem zusammenhängenden Fragen begriffen hat, mit einem halben Jahre
nicht zu viel Zeit auf sie verwandt hätte. Wollte doch jede Arbeitsgemein¬
schaft sich einmal ernsthaft und grundsätzlich mit dem Begabungsproblem
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
befassen! Dann wäre zu erwarten, daß in den Kreisen der Lehrer mehr
Einsicht in den Wert bzw. Unwert der Methoden der Begabtenauslese Platz
griffe.' Aus einer so flüchtigen Beschäftigung mit diesen Fragen kann noch
nicht einmal eine genügende Kenntnis, auf keinen Fall aber eine Erkenntnis
bezüglich der in Frage stehenden Probleme, Methoden, Ergebnisse hervor¬
gehen; und doch finden wir immer wieder und sehr eindringlich das Streben
nach Erkenntnis, das eigene „Forschen“ als das wichtigste Ziel der Arbeit
in den Arbeitsgemeinschaften bezeichnet (so von Graf v. Pestalozza [Päd¬
agogische Warte, Heft 7 u. 9, 1921], so von Homburg [Pädagogische Warte,
Heft 3, 1921]). Die Glatzer stehen aber gewiß nicht vereinzelt da.
Eine zweite Gefahr liegt darin, daß die Arbeitsgemeinschaften nicht immer
die geeignete Leitung finden können. Soll ein Berufsgenosse die Leitung
übernehmen, so wird er, falls er seine Kollegen nicht wirklich im Wissen
und Können dauernd überragt, wenig nachhaltigen Einfluß gewinnen, es sei
denn, daß die Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft 1. nicht zu häufig statt¬
finden, 2. nur einem allgemeinen Geklöne dienen, 3. infolge eines Zwanges
besucht werden.
Eine dritte Gefahr, die teils durch die Ausbildung, teils durch die Tätig¬
keit als Lehrer von Kindern bedingt ist, liegt darin, daß die Individualität
des Lehrers nur allzu leicht so stark ausgeprägt ist (er zum Eigenbrötler
geworden ist), daß er in gedanklicher Hinsicht intolerant geworden ist, daß
er in seinem Denken nicht mehr beweglich genug ist, sich auf Fremdes ein¬
zustellen, fremde Ansichten als besser anzuerkennen und eigene lieb ge¬
wordene Auffassungen zu verlassen. Nicht selten wird er fremden An¬
sichten geradezu mit Mißtrauen begegnen, da er nicht gelernt hat, rein sach¬
lich das Für und Wider zu erwägen. In mißtrauisch ablehnender Weise
wird er sich fremden Ansichten gegenüber überlegen und gewappnet fühlen.
Eine vierte Gefahr liegt darin, daß die Lehrer im allgemeinen durch ihren
Unterricht und durch oft sehr mannigfaltige, berechtigte Umstände (z. B. im
Sommer durch die Arbeit im Garten, durch Nebenbeschäftigungen, Mangel
an Büchern usw.) von einem wirklich regelmäßigen Besuche der Sitzungen und
von einer Mitarbeit zu‘Hause auf natürliche Weise stark abgehalten werden.
Um diesen wichtigsten Gefahren eines gedeihlichen längeren Zusammen-
arbeitens in einer Arbeitsgemeinschaft zu begegnen, wies ich auf sie schon
gleich bei der Gründung unserer Arbeitsgemeinschaft offen hin. Es lag mir
ferne, damit irgend jemanden persönlich kränken zu wollen; ich freute mich,
daß ich in den wesentlichsten Punkten richtig verstanden wurde und Zu¬
stimmung fand. Prinzipiell vertrat ich und vertrete ich auch heute noch die
Auffassung, daß eine wirklich zweckmäßige Arbeit in einer Arbeitsgemein¬
schaft nur dann möglich ist, wenn die Mitglieder zunächst eine Anleitung
zum Arbeiten selbst erhalten, wie sie der Student während seines Studiums
vor allem in den Seminarübungen erhält. Da dies aber nur in den seltensten
Fällen wird zu erreichen sein (Mangel an geeignetem Leiter, zu starker Wunsch
nach positiver „produktiver“ Arbeit, Länge des. Weges, Mangel an Zeit, zu
geringe Bildsamkeit infolge zu hohen Alters usw.), so wird man einstweilen
stets auf Kompromisse hinauskommen.
Grundsätzlich aber schlug ich, ehe wir unsere eigentliche Arbeit auf päd¬
agogischem Gebiete angriffen, einen mindestens halbjährigen Kursus zur Ein¬
führung in die experimentelle Psychologie vor. Mein Bestreben war es, ohne
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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Zugrundelegung eines Buches rücksichtslos und ohne Orientierung an über¬
lieferten Theorien von den Tatsachen, von der Analyse des entwickelten seelisch¬
körperlichen Lebens auszugehen. Dem öfters geäußerten Wunsche nach
einer weniger empirischen, sondern mehr vergleichenden theoretischen Dar¬
stellung der Psychologie widersetzte ich mich entschieden. Psychologie ist
die Wissenschaft von den seelischen Lebenserscheinungen des Individuums
und des Zusammenschlusses der Individuen in Familie, Volk usw.; diese
Wissenschaft kann daher nur im engsten Anschluß an das Leben selbst und
niemals im Anschluß an einen Abriß studiert werden. Sie fordert auf Schritt
und Tritt selbständige Stellungnahme, selbständiges Urteilen, beste Selbst¬
beobachtung, beste Fremdbeobachtung, vorsichtigste Analyse und kann in
keiner Weise buchmäßig gelernt werden. Es war mir eine große Freude
daß dieser Weg, so unbequem, so langsam fortschreitend und beschwerlich
er auch für manchen zunächst war, von der überwiegenden Mehrheit der
Mitglieder gebilligt und gewünscht wurde. Für viele galt es, in psychologischen
Dingen noch einmal von vorne anzufangen, gewohnte ui»d lieb gewordene
Anschauungen zu verlassen. Einzelnen paßte das nicht; sie verließen uns
daher schon im Laufe des ersten halben Jahres. Neue Mitglieder traten an
ihre Stelle, seit Herbst 1920 auch Studenten, so daß die Gesamtzahl stets
um 30 schwankte. Im Herbst 1920 löste sich die Arbeitsgemeinschaft für
experimentelle Pädagogik von der Arbeitsgemeinschaft für Pädagogik, mit
der sie bis dahin als Teil verbunden war, ohne aber in einer weiteren inneren
Beziehung zu ihr gestanden zu haben; sie wurde eine Universitätseinrichtung.
Das hatte den Vorteil, daß Studierende als Mitglieder ein treten konnten, daß
nunmehr die Räume und die Mittel des Psychologischen Instituts offiziell zur
Verfügung standen.
Ich möchte nicht versäumen, auch an dieser Stelle Herrn Geheimrat Prof.
Dr. G. Martius für die liberale Überlassung seines Instituts zu unseren
Zwecken meinen und unser aller herzlichsten Dank auszusprechen.
Erst im November 1920 wandten wir uns auf meinen Vorschlag dem Problem
der Begabtenauslese zu. Dieses hatten wir schon während zweier Semester
in den von Herrn Geheimrat Prof. Dr. G. Martius geleiteten Sitzungen des
„Psychologischen Seminars“ behandelt. Um den neuen an sich noch recht
weitschichtigen und schwierigen Fragenkomplex zu begrenzen, beschäftigten
wir uns — stets vom Versuche ausgehend — mit denkpsychologischen Fragen;
viele der bekannteren Tests haben wir hier an uns selbst erprobt. . In zahl¬
reichen Sitzungen haben wir uns gemeinschaftlich besprochen, wie wir die
Tests in den Klassen einführen wollten, wie wir die Bedingungen für das
Zustandekommen der Leistungen erfassen könnten, wie wir die Versuche ab¬
änderten usw. So haben wir aus über 60 Klassen von über 3000 Kindern
jeden Alters Material zur Frage der Begabtenauslese systematisch gesammelt.
Es erwies sich als zweckmäßig, die Bearbeitung des Materials einer be¬
sonderen Kommission zuzuweisen. Diese Gruppe tagte seit Winter 1920/21
unter meiner Leitung jeden Mittwochabend von 7‘/2 bis 11 Uhr. Die Ergeb¬
nisse dieser Arbeiten und zahlloser Besprechungen beabsichtigen wir, unter dem
Titel „Kieler Arbeiten zur Begabungsforschung“ bekanntzugeben, und zwar:
Nr. 2. W. Voß, Lehrer an der Provinzial-Blindenanstalt Kiel: Die Beurteilung der durch Tests
herbeigeftthrten Leistungen.
Nr. 3. E. Möller, Lehrerin: Ober das Verstehen einer Fabel.
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
Nr. 4. Schulz, Lehrer: Inwiefern können die Teste zum Verstehen einer Leistung und zur
Diagnose von Entwicklungsstadien wertvoll sein?
Nr. 6. Clausen, Lehrer: Prüfung der moralischen Veranlagung von Schulkindern.
Nr. 6. Dr. Petermann, Assistent am Psychologischen Seminar: Kritik der bisherigen Prü¬
fungsverfahren.
Nr. 7. Prof. Witt mann: Das Problem der Individualität. Mit Beitrag über Schülerbeobach¬
tungsbogen und Entwurf eines neuen Bogens.
Nr. 8. Dr. Petermann: Kritischer Bericht über den gegenwärtigen Stand der Begabtenaus-
lesebestrebungen in Schleswig-Holstein.
Nr. 9. Laage, Mittelschullehrer: Die Reform der Lehrerausbildung in psychologischer
Hinsicht.
In den Hauptsitzungen (Sonnabends von 4 bis 6 Uhr) wandten wir uns
Ostern 1921 der Untersuchung des Vorstellungs- und Phantasielebens der
Kinder und Primitiven zu. Hier wurden die Bücher: 1. Verworn: Über
ideoplastische und physioplastische Kunst; 2. Bechterew: Objektive Psycho¬
logie; 3. Preuß: Die geistige Kultur der Naturvölker; 4. Ribot: Die
Schöpferkraft der Phantasie; 5. Fr. Reinhold: Beiträge zur Assoziations¬
lehre usw.; 6. H. Pohlmann; Beitrag zur Psychologie des Schulkindes,
1912, eingehend besprochen.
Dazu wurden wieder neue Versuche in den Klassen gemacht, so vor allem -
von ca. 3000 Kindern Material über Assoziationen gesammelt, das zu einer
Revision des von Fr. Reinhold aufgestellten Assoziationslexikons und anderen
Zwecken verwandt werden soll. Aus den allgemeinen Betrachtungen er¬
wuchs das Bedürfnis, uns mit dem religiösen Vorstellungs- und Gefühlsleben
der Kinder und Primitiven genauer zu befassen. Da wir in der engeren
Arbeitsgruppe im Herbst 1921 das Begabungsproblem einstweilen verlassen
und den Abschluß der Arbeiten den Verfassern selbst zunächst überlassen
konnten, so wandten wir uns hier religionspsychologischen Erörterungen zu.
Mit ihnen sind wir an der Hand folgender Bücher
1. James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit,
2. St oll, Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie, 1904,
3. Girgensohn, Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens, 1921,
4. Wobbermin, Zum Streit um die Religionspsychologie, 1913,
zurzeit beschäftigt; folgende Mitglieder gehören gegenwärtig dieser Arbeits¬
gruppe an: Die Damen: Fräulein L. Doormann, Fräulein E. Möller, Frau
Voß; die Herren: Clausen, Füllgraff, Jungjohann, Laage, Dr. Petermann,
Schulz, Voß, Witt und Prof. Wittmann als Leiter.
In den Gesamtsitzungen beschäftigten wir uns wieder seit Herbst 1921 bis
Ostern 1922 mit allgemeinen psychologischen Fragen (Perzeption, Apperzep¬
tion, Gedächtnis, Denken, Affekte); wiederum nicht an der Hand eines
Buches, sondern stets vom Versuche ausgehend.
So viel über die innere Entwicklung unserer Arbeitsgemeinschaft
Unseren Arbeiten kommt es zustatten, daß uns das technisch reich aus¬
gestattete psychologische Institut von Herrn Geheimrat G. Martius mit seinen
Räumlichkeiten (7 große Räume: Hörsaal, 2 Dunkelräume, 2 Arbeitssäle,
1 Laboratorium, 1 Bibliotheksraum) zur Verfügung steht; eine eigene Bibliothek,
die schon über mehrere Hundert Bände verfügt (Zeitschrift für Psychologie,
Archiv für die gesamte Psychologie, Psychologische Forschung, Zeit¬
schrift für angewandte Psychologie, Praktische Psychologie, Päd¬
agogische Psychologie) ist vorhanden. Eine besondere Materialsammlung
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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ist im Entstehen. Diese Sammlung enthält schon jetzt von mehreren Tausend
Kindern und Erwachsenen Material über Assoziationen, Intelligenz-Leistungen,
vor allem eine stattliche Anzahl von Kinderzeichnungen.
Die Pädagogische Interessengemeinschaft OstpreuSen ist eine Vereinigung
von Lehrern und Lehrerinnen zur Pflege der wissenschaftlichen Pädagogik,
mit dem Sitz in Königsberg. Ihrem Zwecke dienen:
a) ein Institut für experimentelle Psychologie und Pädagogik als Fort-
bildungs- und Forschungsstätte unter wissenschaftlicher Leitung und inniger
Beziehung zur Universität. Einführungskurse und experimentelle Arbeiten
bilden die Hauptaufgaben. Die Ergebnisse der Arbeiten werden, soweit an¬
hängig, veröffentlicht;
b) Ferienkurse für auswärtige Mitglieder;
c) Vorträge aus dem Gebiete der wissenschaftlichen Pädagogik in ver¬
schiedenen Bezirken der Provinz;
d) eine wissenschaftliche Bücherei unter besonderer Berücksichtigung der
Psychologie und Pädagogik experimenteller Richtung;
e) eine Beratungsstelle für wissenschaftliche Bestrebungen auswärtiger Mit¬
glieder.
Über Kinderaussagen In Sittlichkeitsprozessen hat der Erste inter¬
nationale Kongreß für Sexualreform in Berlin nach einem Vortrage
.von ,M. Döring, Leipzig (Institut für experimentelle Pädagogik und Psycho¬
logie des Leipziger Lehrervereins) folgende Entschließung gefaßt und an das
Reichsjustizministerium weitergegeben. »Der Kongreß erhebt für die Neu¬
gestaltung der Strafprozeßordnung die Forderung, daß besondere Bestimmungen
in sie aufgenommen werden über die Verwendung von jugendlichen Zeugen
im Rechtsgange besonders von Sexualprozessen. In diesen neuen Be¬
stimmungen müssen folgende Gnindsätze zum Ausdruck kommen: 1. Die
erste Vernehmung jugendlicher Zeugen darf nur von pädagogisch-psycho¬
logisch geschulten und erfahrenen Personen erfolgen. 2. Die Zahl der Ver¬
nehmungen überhaupt und die Zahl der Vernehmenden ist im Interesse der
Schonung der jugendlichen Zeugen möglichst zu beschränke^. 3. Auf Antrag
des Angeschuldigten und in Fällen, wo Jugendliche als alleinige Zeugen in
Frage kommen, ist von seiten des Gerichts ein pädagogisch-psychologischer
Sachverständiger und ein Sexualarzt als Gutachter hinzuzuzieben. Diese
haben das Recht der Einsichtnahme in die Akten und dürfen die Zeugen
schon während der Voruntersuchung prüfen. Auch dürfen sie Anträge zu
notwendigen Erhebungen in bezug auf die Zeugen und den Angeklagten
stellen. 4. In schwierigen Fällen hat schon die Staatsanwaltschaft vor Er¬
hebung der Anklage einen Gutachter zu hören.“
Die Schulkinderfürsorge ist in hohem Maße von der verständnisvollen
Mitarbeit der Lehrerschaft abhängig. Die im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz,
das im April 1924 in Kraft treten soll, gesteckten Ziele — ganz besonders
die Forderung vorbeugender Fürsorge — können nur erreicht werden,
wenn es gelingt, die Lehrerschaft zu stärkster Mitarbeit zu gewinnen. Auch
im Interesse der Lehrerschaft ist zu wünschen, daß sie in den künftigen Jugend¬
ämtern angemessen vertreten ist. Das wird überall dort der Fall sein, wo
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 30
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
Lehrpersönlichkeiten zu den Sachverständigen der Kinderfürsorge zählen.
Nun ist das Gebiet der Jugendwohlfahrtspflege sehr weit und vielgestaltig.
Die Neuerungen und Umwälzungen sind in letzter Zeit so zahlreich und die
Probleme häufig so verwickelt, daß es einzelnen Lehrpersonen kaum mög¬
lich sein dürfte, sich über alles Wichtige auf dem Laufenden zu halten. Das
Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht (Berlin W 85, Potsdamer Straße 120)
ist deshalb bestrebt, der Lehrerschaft in diesen Fragen mit Rat und Aus¬
kunft zur Hand zu gehen. Die Auskunftsstelle für Kinderfürsorge des In¬
stituts hat gegen 60 verschiedene Leihmappen zusammengestellt, die einzelne
Fragen aus den Gebieten der Kleinkinder- und Schulkinderfürsorge behan¬
deln und auch demjenigen zur Verfügung stehen, der fern von den An¬
regungen und Hilfsmitteln der Großstadt arbeitet. Die Mappen, die in knapper
und übersichtlicher Form über das Wichtigste aus jedem Gebiet orientieren,
beachtenswerte Richtlinien, Aufsätze u. dergl. mehr, sowie Verzeichnisse der
neueren einschlägigen Literatur enthalten, sind gegen eine Gebühr von 2 M.
für die Woche nebst Ersatz der Portokosten zu beziehen. Nachstehend seien
einige neuere Mappen genannt, die besonders für die Arbeit der Schule
auf dem Gebiete der Jugendwohlfahrtspflege Anregungen enthalten: Schul¬
zahnpflege. — Die Montessori-Methode. — Fürsorge für kinderreiche
Familien. — Der Kinderspielplatz. — Aufgaben der Schulkinderfürsorge. —
Sonderkindergärten für Abnorme und Vorklassen bezw. Schulkindergärten.
— Schulkinderhorte. — Schülerwanderungen. — Künstlerische Darbietungen
für Kinder und von Kindern. — Schulsparkassen. — Kinderlesestuben, Jugend¬
büchereien. — Aufklärung über Schulkinderpflege und Erziehung durch das
gedruckte Wort. — Schulschwester und Schulpflegerin. — Schularzt.
Zu den Lichtbildern über Entwicklung und Pflege des Kleinkindes, Ein¬
richtung und Betrieb von Volkskindergärten, Bilderbücher und Spielzeug sind
neu hinzugekommen bezw. erweitert worden: „Lehrmittel der Montessori-
Methode“ (6 Bilder). — »Wie kleide ich mein Kind?“ (erweitert, jetzt
23 Bilder). — „Waldschule Charlottenburg“ (8 Bilder). „Erholungs- und Heil¬
stätten für Klein- und Schulkinder“ (16 Bilder). — »Der Kinderhort“ (11
Bilder). Die Leihgebühr beträgt zurzeit für jedes Bild 2 M. Vollständiges
Verzeichnis des Leihgutes gegen Einsendung von 3 M. Hingewiesen sei
auch auf die Merkblätter über Fragen häuslicher Erziehung.
Zur Frage der heilpädagogischen Orientierung in der künftigen Lehrerbildung
wurden von Stadtschulrat Franz Weigl in Amberg auf dem I. Kongreß
für Heilpädagogik in München folgende Leitgedanken vertreten:
1. Die Beachtung der einschlägigen Forschungsergebnisse aus dem Gebiete
der Heilpädagogik ist in zweifacher Beziehung für die Lehrerbildung von Wert:
a) Der Pädagogikstudierende gewinnt aus der Beobachtung der anormalen
Zustände und ihrer Behandlung außerordentlich viel für das Verständnis der
normalen Kindesseele und der methodischen Arbeit am Normalschüler.
b) Die gerade in der Gegenwart viel verbreiteten anormalen Grenzfälle
unter der Masse der in öffentlichen Erziehungsstätten untergebrachten Kinder
zwingen dazu, daß auch der Lehrer der Normalschulen die pathologischen
Fälle kennt, um nicht einzelne Individuen falsch oder ungerecht zu beurteilen
und zu behandeln.
2. Insbesondere gibt das weite Gebiet der pädagogischen Psychologie An-
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
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knüpfungspunkte für einschlägige Belehrungen, so z. B. bei der Sinnes¬
psychologie Ober die Vier- und Dreisinnigen, bei der Lehre von der Auf¬
merksamkeit über Erscheinungen der Dissoziation, bei der Anpassungsfähig¬
keit über Psychasthenie, beim Arbeitsrhythmus Ober Dispositionsschwankungen.
3. Auch die allgemeine Methodik und die der einzelnen Unterrichtsfächer
bieten Anlaß zu zeigen, wie Kindern, welche sich schwer konzentrieren oder
die apperzeptiv mangelhaft eingestellt sind, Hilfe gebracht werden ka'im.
Außerdem fördert die pädagogische Pathologie auch die Erziehungsarbeit,
die rechte Behandlung „schwer erziehbarer Kinder", mit Verständnis für
manche Fälle von krankhaftem Trotz, Eigensinn, pathologischer Faulheit und
Lügenhaftigkeit u. ä.
4. Die Einfügung solcher heilpädagogischer Erkenntnisse in die Lehrer¬
bildung ist unabhängig von der Organisation derselben und setzt nur eine
wesentliche Vertiefung der Berufsausbildung der künftigen Lehrer und Er¬
zieher voraus.
Eine Gesellschaft für Heilpädagogik e. V. ist auf dem ersten heilpäd¬
agogischen Kongresse gegründet worden. Sie bezweckt die Förderung des
Gesamtgebietes der Heilpädagogik. Dazu dienen der alle 2 Jahre tagende
Kongreß für Heilpädagogik, ferner Sammelforschungen nach gemeinsamen Ge¬
sichtspunkten, Veröffentlichungen im Aufträge der Gesellschaft und sonstige
Maßnahmen. Als Mitglieder haben sich bereits zahlreiche Ärzte, Psycho¬
logen, Geistliche, Lehrer, Fürsorger, Berufsberater, Jugendrichter, Verwaltungs¬
beamte usw. angemeldet, auch aus dem Ausland. Zum Ehrenvorsitzenden
wurde der Direktor der Heilpädagogischen Anstalt Wien-Grinzing Dr. Heller
gewählt, der allen pädagogisch eingestellten Kreisen durch seinen „Grundriß
der Heilpädagogik" und durch seine „Heilpädagogische Therapie für praktische
Ärzte“ bekannt ist. Den Vorstand bilden: Oberlehrer Egenberger, 1. Vor¬
sitzender des Bayrischen Hilfsschulverbandes, Direktor Hofbauer der Landes¬
taubstummenanstalt, Universitätsprofessor Dr. Isserlin, Leiter der Hirnver-
letzten-Abteilung, sämtlich im München, ferner Professor Dr. Gregor der
Erziehungsanstalt Flehingen (Baden), Schulrat Henze-Frankfurt a. M., Inspektor
Rudolf Hinder des bürgerlichen Armenwesens der Stadt Zürich, Fürsorger
H. Kestenholz-Rudin, Präsident der Baseler Webstube in Basel, Privatdozent
Dr. J. Lindworsky-Köln, Fräulein Ruth von der Leyen-Berlin und Stadtschulrat
Weigl-Amberg. Der Kongreß ist in seiner regelmäßigen und erfolgreichen
Fortführung ein wichtiges Arbeitsorgan der Forschungsinstitution. Er besteht
außerhalb jeder Standesvereinigung, will die Interessenten aus den ver¬
schiedenen Berufen zusammenführen und soll jeweils über den neuesten
Stand der wissenschaftlichen Forschung und der allgemeinen Fortschritte auf
dem Gesamtgebiete der Heilpädagogik berichten. Der II. Kongreß, für den
die Vorarbeiten schon in Angriff genommen wurden, soll in seinem wesent¬
lichen Teil Forschungsarbeit bieten. Darum ergeht an eine Reihe von
wissenschaftlichen Autoritäten das Ersuchen, in den folgenden Jahren be¬
stimmte Aufgaben näher zu erforschen. So soll auch auf Grund von sozio¬
logischen und nationalökonomischen Studien die Frage in den Forschungs¬
bereich des Kongresses gestellt werden, welche Menge von Minderwertigkeit
ein Staatsorganismus zu ertragen vermag, um noch gesund arbeiten zu können,
und ebenso die Frage nach den soziologischen, nationalökonomischen, päd-
:w*
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
agogischen Vorzügen einer rechtzeitigen (prophylaktischen) Fürsorge, nach
' ihrer gesamten Wirtschaftlichkeit. Als Sammelforschung der Gesellschaft
wird sofort eine Sammlung von Kinderdokumenten (Schreibheften und Kinder¬
zeichnungen, Spielkonstruktionen usf. von gesunden und anormalen Kindern
und anormalen Erwachsenen) in Angriff genommen. Alle Senkungen sind
an die Münchener Geschäftsstelle der Gesellschaft (Kaulbachstraße 63 a I 1.)
zu richten.
Ober die deutsche Lehrkunst und die Montessori-Methode im ersten An¬
schauungsunterricht wurden von Stadtschulrat Franz Weigl in Amberg auf
dem I. Kongreß für Heilpädagogik in München folgende Sätze begründet:
1. Das didaktisch Wertvolle der Montessori-Methode greift auf die deutsche
Lehrkunst zurück. Insbesondere Fröbel, Ludwig Auer, die Praxis der
Heilerziehungsanstalten und Hilfsschulen haben längst geübt, was die Mon¬
tessori-Methode als neu bietet.
2. Als Voraussetzung für die von der Montessori empfohlene umfassende
Sinnespflege kommt für die Schule vor allem auch die sorgfältige Prüfung
des Vorstellungsschatzes der Schüler in Frage. Die dabei aufgedeckten
Mängel sind aber nicht durch formale Sinnesübungen zu beheben, sondern
durch Pflege der Sinnestätigkeit im Rahmen lebensvoller Stoffe des ersten
Anschauungsunterrichts.
3. Die Einengung der ersten bildenden Tätigkeit auf eine so umfassende
Sinnespflege, wie sie die Montessori propagiert, übersieht die bedeutungs¬
vollen Aufgaben, die der Gesinnungsbildung zufallen. Letztere darf über
der Sinnespflege nicht übersehen oder zurückgedrängt werden, wenn nicht
ein Materialismus im ersten Unterricht Platz greifen soll, dem es unbekannt
ist, daß auch das Kind in seiner ersten Entwicklung und auch das schwach¬
sinnige Kind neben der Welt der Sinne eine Welt der Gesinnung in sich
trägt, die der Entfaltung harrt.
Das zehnte Preisausschreiben der Kantgesellschaft 1 ), ermöglicht durch
eine Spende des Professors Dr. Philipp Kohnstamm in Amsterdam, hat zum
Thema: „Personalismus und Idealismus als Grundtypen der Weltanschauung,
erläutert und beurteilt an den gegenwärtigen Versuchen einer philosophischen
Philosophie“. Das Preisrichteramt haben übernommen die Professoren William
Stern in Hamburg, Karl Jaspers in Heidelberg, Theodor Litt in Leipzig.
Die Richtlinien für die Bearbeitung werden in folgender Erläuterung gegeben:
Es lassen sich zwei Typen der Weltanschauung danach unterscheiden, ob
das Gültige in der Form des Allgemeinen, Abstrakten (der absoluten Ver¬
nunft, der Idee, des Gesetzes) oder in der Form einmaliger, konkreter Ganz¬
heiten (Personen, Persönlichkeiten) gefaßt wird. Man kann jenen als den
idealistischen, diesen als den personalistischen Typus bezeichnen.
In der Geschichte des philosophischen Denkens ist bis jetzt der erste Typus
weitaus am stärksten vertreten worden. Wohl finden sich bei Aristoteles
und Leibniz, in neuerer Zeit bei Eduard von Hartmann, Lotze, Nietzsche,
sowie an einzelnen Stellen idealistischer Systeme (z. B. in Kants Lehre von
*) Abzüge des Ausschreibens mit den ausführlichen Bedingungen versendet auf Wunsch im
Auftrag der Kant-Gesellscbalt unentgeltlich der stellvertretende Geschäftsführer Prof, Dr. Arthur
Lieber, Berlin W 15, Fasanenstr. 48.
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- r ;t ry. yt w» . *
Kleine Beiträge und Mitteilungen
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der sittlichen Persönlichkeit) Ansätze zum Personalismus. Die eigentliche
Vertretung dieser Überzeugung wurde aber bisher meist dem naiven Perso¬
nalismus überlassen, wie er sich, abseits von der Philosophie, in Mythus,
Religion, Kunst, tätigem Leben äußert. Erst in unserer Zeit hat sich die
Philosophie die Aufgabe gesetzt, personalistische Überzeugungen mit den Hilfs¬
mitteln systematischer und kritischer Methodik zu durchdenken. Hierbei
haben sich eigenartige Beziehungen positiver und negativer Art zu den
Kategorien des abstrakten Idealismus herausgebildet. Diese »Beziehungen zu
untersuchen, soll die Aufgabe der Preisschrift sein.
Hierfür ist es nicht erwünscht, daß die Gedankengänge der idealistischen
Systeme, die ja bereits in aller Gründlichkeit philosophisch durchgearbeitet
sind, nochmals ausführlich behandelt werden. Vielmehr sind die persona-
listischen Ansätze und Systemversuche unserer Zeit zum Mittelpunkt der
Arbeit zu machen. Von diesem Mittelpunkt aus soll der Bearbeiter die
genannten Beziehungen zum Idealismus darlegen und zu ihnen kritisch
Stellung nehmen.
Es wird vorausgesetzt, daß die der eigentlichen Philosophie angehörigen
Ansätze zu einem Personalismus, wie sie etwa in der Diltheyschen, in der
südwestdeutschen Schule, bei Eucken, Simmel, Troeltsch, in der Ethik Schelers
zu finden sind, dann besonders der Ausbau der Idee des Personalismus in
dem metaphysischen System William Sterns berücksichtigt werden. Weiterhin
ist den Bearbeitern die Heranziehung verwandter Gedankengänge aus der
nichtdeutschen Philosophie freigestellt. Ebenso ist es ihnen überlassen, in
welchem Umfange sie analoge Gedanken in den Spezialwissenschaften (z. B.
die vitalistische Hypothese in der Biologie, das Gestaltungsprinzip in der
Psychologie, die verstehende Methode in der Geschichtsschreibung, den Be¬
griff der juristischen Persönlichkeit in der Rechtswissenschaft usw.) ein¬
beziehen wollen.
Nachrichten. 1. In Weimar, wo er am Lehrerseminare wirkte, starb nach
eben vollendetem 49. Lebensjahre Studienrat Prof. Hermann Itschner.
Durch eine reiche schriftstellerische Tätigkeit hat er sich auf dem Gebiete
der Pädagogik hohen wissenschaftlichen Ruf erworben, vor allem durch seine
vierbändige Unterrichtslehre, Leipzig (Quelle & Meyer), in der er das Wesen
alles Lehrens und Erziehens als Entbindung gestaltender Kräfte im Dienste
der Persönlichkeitsbildung entwickelte. Weitere Arbeiten galten der Grund¬
legung der Lehrerbildung und der Gestaltung des Religionsunterrichts. Von
dem Ministerium für Volksbildung in Weimar war er für bedeutsame Auf¬
gaben in der Entwicklung des Thüringischen pädagogischen Lebens in Aus¬
sicht genommen.
2. Prof. Dr. Paul Barth in Leipzig ist gestorben. Um die pädagogische
Wissenschaft hat er sich vor allem durch seine Erziehungs- und Unterrichts¬
lehre, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde, und durch seine Be¬
mühungen um den Moralunterricht hochverdient gemacht.
3. Der Physiologe MaxVerworn, der sich auch mit psychologischen Fragen
forschend beschäftigte, ist in Bonn gestorben.
4. Prof. Dr. med. et phil. Schultze, der in Frankfurt a. Main als außer¬
ordentlicher Professor einen Lehrauftrag für Pädagogik erfüllte, folgt dem
Ruf, ein Ordinariat für Pädagogik in Königsberg zu übernehmen. Er
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Kleine Beiträge und Mitteilungen
ist Schüler von Lipps, Wundt, Marbe und Külpe und hat vor seiner
Arbeit in Frankfurt als Gymnasialiehrerbildner in Buenos Aires ge¬
arbeitet.
5. Prof. Dr. Narziß Ach in Königsberg hat einen Ruf auf den Lehr¬
stuhl für Psychologie nach Göttingen erhalten.
6. Dem Studienrat am Wöhler Realgymnasium in Frankfurt a. Main
Dr. Julius Richter jst ein Lehrauftrag für Religionspädagogik an der
Universität erteilt worden.
7. Zum Nachfolger Natorps auf den Lehrstuhl der Philosophie an der
Universität Marburg ist der o. Prof. Dr. R. Hartmann in Aussicht genom¬
men, der dort bereits seit 1909 wirkt.
8. Der Studienrat Dr. phil. Ernst Hoffmann am Mommsen-Gymnasium
in Charlottenburg ist zum etatsmäßigen außerordentlichen Professor der
Philosophie und Pädagogik an der Universität Heidelberg ernannt worden.
9. Dem Privatdozenten für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der
Bonner Universität Dr. Oskar Kutzner ist die Dienstbezeichnung „außer¬
ordentlicher Professor“ verliehen worden.
10. Die Leitung des Instituts für angewandte Psychologie uhd
experimentelle Pädagogik an der Universität Göttingen ist nach dem
Tode von Dr. W. Baade dem Privatdozenten für Philosophie und Pädagogik
Dr. Oswald Kroh übertragen worden.
11. Eine „gemeinnützig arbeitende Stelle für praktische Psy¬
chologie“ ist mit Unterstützung des preußischen Ministeriums in Spandau
ins Leben gerufen worden. Das Institut, das unter der ehrenamtlichen Lei¬
tung von Dr. R. W. Schulte steht, will nach der Art einer Poliklinik für
praktische Psychologie wirken, in der neben Untersuchungen vor allem Be¬
ratung und Behandlung erfolgt.
12. Ein Institut für Jugendkunde will die Lehrerschaft Nürnbergs mit
Hilfe der Stadt errichten. Die wissenschaftliche Leitung soll Prof. Dr. Baege
übernehmen.
13. In dem diesjährigen Akademischen Ferienkurse des Sächsischen
Lehi'ervereins (9.—21. Oktober in Leipzig) waren Psychologie und Päd¬
agogik mit folgenden Vorlesungen vertreten: Pädagogik und Psychologie.
Professor Dr. Litt. (4 Std.) — Psychologie des Gefühlslebens. Professor
Dr. Krueger. (8 Std.) — Zur Psychologie jugendlicher Zeugen nnd deren
Begutachtung durch den Lehrer. Lehrer Max Döring, wissenschaftlicher
Leiter des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie. (4 Std.) —
Ausgewählte Kapitel aus der allgemeinen Psychiatrie. Dr. med. Pfeifer.
(8 Std.).
14. Die Gesellschaft für experimentelle Psychologie veranstaltet
den 8. Kongreß für experimentelle Psychologie am 17. bis 20. April 1923
in Leipzig. Folgende Sammelreferate werden erstattet werden: Privatdozent
Dr. O. Selz und Prof. R. Sommer: Über die Persönlichkeitstypen.
Prof. J. Cohn: Geschlecht und Persönlichkeit. Prof. W. Peters: Vererbung
und Persönlichkeit. Prof. F. Krueger: Der Strukturbegriff in der Psycho¬
logie. Außerdem wird eine Reihe von Einzelvorträgen gehalten werden. An¬
fragen sind zu richten an Prof. Dr. Otto Klemm, Leipzig, Schwägrichenstr. 5.
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Literaturbericht
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Literaturbericht.
Selbstanzeigen.
Richard Müller - Freienfels, Philosophie der Individualität Leipzig 1921. Meiner.
270 8.
Dies Buch versucht einen der nächstliegenden und doch kaum jemals ernsthaft beschrittenen
Pfad ins Land der Erkenntnis einzuschlagen, indem es die Individualität zum philosophischen
Problem macht, diesen schillernden Zauberspiegel, in dem wir wohl meinen, unser eignes Ich
zu schauen, in der doch zugleich auch die einzige Möglichkeit ist, uns ein Bild der übrigen
Welt zu formen. So ist es nicht Psychologie allein, was ich treibe, sondern Philosophie. Und
zwar steht mir im Mittelpunkt die Irrationalität des Ich, sein wechselndes, sich spaltendes,
keine feste Grenzen kennendes und doch in diesem Wechsel stets sich selbst behauptendes
Wesen. Gewiß sucht es sich zu rationalisieren, zur „Persönlichkeit* zu verfestigen, aber seine
irrationale Art bleibt doch bestehen. Gerade für die Pädagogik ist dies Wechselspiel des irra¬
tionalen Lebens und des Strebens nach festen Formen und überindividuellen Werten ein un¬
endlich wichtiges Gebiet, denn das Geheimnis alles Menschenverstehens beruht auf dem Erfassen
dieser Gegensätze. Hinter diesen Problemen aber tauchen die großen metaphysischen Fragen
auf nach dem innersten Wesen von Leben, Tod und Unsterblichkeit und das Problem des. über-
individuellen Seins. Auch alle diese Probleme zieht mein Buch in seinen Kreis.
Martin Honecker, Gegenstandslogik und Depklogik. Vorschlag zu einer Neugestaltung
der Logik. Berlin 1921. Dümmler. 127 S.
Wenn trotz Husserls eingehender Kritik der „Psycbologismus*, wie in andern philo¬
sophischen Disziplinen, so auch in der Logik nicht verschwinden will, so wird dies vielleicht
daran liegen, daß die heutige Logik einen nicht homogenen Problemkreis darstellt, dessen Be¬
standstücke eine psychologische Behandlung teils verbieten, teils erfordern. Dies nachzuweisen
ist Aufgabe der vorgenannten Schrift. Sie versucht, aufzuzeigen, daß die Schullogik einerseits
Probleme behandelt, welche in einer allgemeinen Gegenstandsieh re ihren wissenschaftlichen
Ort haben, daß sie anderseits ein zweites Problemgebiet enthält, welches als Denklehre von
jener grundverschieden ist. Dabei ergibt sich, daß die Gegenstandslogik von psychologischen
Rücksichten gänzlich frei sein muß, während in der Denklogik die Verwendung psychologischer
Erkenntnisse durchaus gerechtfertigt, ja gefordert ist. Des weiteren behandelt der Verfasser in
programmatischer, kurzgedrängter Übersicht die Grundbegriffe und Hauptprobleme der beiden
Wissenschaftszweige, wobei bezüglich der Gegenstandslehre eine Verwandtschaft mit der Meinong-
schule nicht zu leugnen ist und in den Analysen zur Denklehre der Einfluß Husserls sich wirksam
macht. Schließlich wird in knappen Zügen dargelegt, in welcher Weise die einzelnen Kapitel
der bisherigen Logik auf die beiden neuen Disziplinen zu verteilen sind.
Einige Stellen, wie z. B. die Behandlung der Methodenlehre, sind von einem über das eigent¬
liche Thema hinausliegenden, allgemeinwissenschaftlichen Belang und dürften auch bei Psycho¬
logen und Pädagogen Interesse finden.
Einzelbesprechungen.
Else Wentscher, Grundzüge der Ethik mit besonderer Berücksichtigung des
pädagogischen Problems. 2. Aufl. Leipzig 1920. Teubner. 127 S.
Wir weisen erneut darauf hin, daß diese kurzgefaßte Ethik wegen ihrer Stütze, die sie in
der Psychologie sucht — so ist zwischendurch eine gute Analyse der Willenshandlung
gegeben —, und wegen ihrer Ausblicke in die ethische Begründung der Pädagogik ganz
besonders auch denen zu empfehlen ist, die von der Erziehungs- und Unterrichtswissenschaft
her sich ethisch orientieren wollen. “ Tr.
Dr. Alois Höfler, Universitätsprofessor Wifcn, Logik und Erkenntnistheorie. 1. Band:
Logik. Zweite, sehr vermehrte Auflage mit vier Beiträgen als Überleitungen von der Logik
zur Logistik von Universitätsprofessor Dr. Ernst Mally in Graz. Wien 1922. Hölder
Pichler-Tempsky. 936 S.
Der dickleibige, von schwerer Wissenschaft erfüllte Band ist erwachsen aus der viel weniger
umfänglicheren und leichter lesbaren „Logik*, die Höfler 1890 für die Hand der Lehrer in
dem Schulfach Philosophische Propädeutik verfaßt hatte, — einem schon längst vergriffenen
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Literaturbericht
Werke, dem später noch die beiden bekannteren Schulbücher „Grundlehren der Logik 44 und
„Propädeutische Logik“ entnommen worden sind. Dieser genetische Zusammenhang der vier
Schriften wird sichtbar in der gleichen Gliederung des gewaltigen Stoffgebietes. Eine psycho¬
logische Einleitung — wenig beeinflußt von neueren Anschauungen — führt zunächst bin
zu der überlieferten Erfassung der Logik als der „Lehre vom richtigen Denken“. Der erste
Teil bringt, wie es ln den logischen Gesamtdarstellungen üblich ist, die Elementarlehre, ge¬
gliedert in zwei Abschnitte: Die logischen Vorstellungen und die logischen Urteile, unter die
Urteile einbeschlossen als deren Gewinnung und Begründung das Schließen und Beweisen. Die
Methodenlehre mußte dann notwendig den zweiten Teil bilden. Sie enthält die Abschnitte
„Heuristik“ und „Systematik“ und ist — wieder nach der Gewohnheit der logischen Lehr¬
bücher — unverhältnismäßig kurz bedacht. Ein Band Erkenntnistheorie soll sich noch an¬
schließen.
Zur Kennzeichnung des Höflerschen Standpunktes mögen die Hinweise genügen, daß eine
mittlere Linie zwischen psychologischer und psychologiefreier Logik eingehalten ist, daß
Nominalismus, Relativismus und Skeptizismus als „drei Denkfehler im Großen“ abgelehnt
werden, daß im Wesentlichen die Lehre Meinongs dem Ganzen eine feste Stütze gibt und daß
— Hm der aufkommenden symbolischen Logik ihr Recht zu geben — am geeigneten Orte vier
Beiträge von Prof. Mally (Graz) als „Überleitung von der Logik zur Logistik“ Aufnahme gefunden
haben.
An der Darstellung ist bemerkenswert, wie die logischen Probleme und Sachverhalte
durchweg mit reichlich eingestreuten Beispielen bedacht worden sind und wie sich — verständ¬
lich aus den besonderen Arbeitsgebieten Höflers — breitere Einschläge von Erörterungen zur
Logik der Mathematik und Physik vorfinden.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Fritz Giese, Psychologie und Psychotechnik. Band 2 von Dünnhaupts Studien- and
Berufsfübrern, herausgegeben von Dr. Kurt Jagow und Dr. Friedrich Mattbaesius. Dessau 1922.
C. Dünnhaupt. 63 S.
Die erstaunlich rasche — vielleicht gar überhastete — Entwicklung der angewandten Psycho¬
logie bat zu dem psychologischen Fachgelehrten die Berufsgestalt des praktischen Psychologen
gestellt. Erzieher, Ärzte, Volkswirte, Ingenieure, Berufsberater, Juristen, Betriebsräte usw.
stützen sich heute in entscheidenden Maßnahmen auf psychologische Befunde, deren Ermittlung
fachmännische Schulung erfordert und zu beruflicher Verselbständigung drängt. Freilich haben
sich diese neuen Berufe — der Scbulpsychologe, der industrielle Psychotechniker, der psycho¬
logische Sachverständige bei Gericht, die psychologische Laborantin usw. — noch durchaus
nicht im Kreis ihrer Aufgaben, im Ausbau ihres Tätigkeitsfeldes, in dem Ausbildungsgange,
in der wirtschaftlichen Sicherstellung, in der Einordnung ins Ganze des Berufslebens noch keines¬
wegs klar herausgebildet — sie sind in ihrer Daseinsberechtigung sogar noch vielfach umstritten.
Ein verdienstliches Unternehmen ist es darum, daß sich Giese der spröden Aufgabe unterzöget
hat, unter Dünnhaupts Studien- und Berufsführer auch einen Wegweiser zu Psychologie und }
Psychotechnik einzureihen und dem Gebiete damit ebenso nützlich zu werden wie schon früher ^
mit seinem „Psychologischen Wörterbuche* und dem „Psychotechnischen Praktikum“, ver- \
dienstlich vor allem, weil er dabei mit allem Nachdruck betont, wie die psychologische Praxis
ein sehr verantwortliches Tun ist und von streng wissenschaftlicher Schulung getragen sein
will. Die Schrift stellt zuerst die verschiedenen „Lebensberufe der Psychologie“ vor und unter¬
sucht dann die Frage der Eignung zu psychotechnischer Fähigkeit. Es werden hierauf die
Studienmittel besprochen. Weiterhin folgen die Studienpläne für Psychologie als Haupt- und
Nebenfach. Eine besondere Darstellung ist dem Psychotechniker (dem Laboranten und tech¬
nischen Assistenten) gewidmet. Über die unmittelbaren Zwecke des Buches hinaus wird dann
ein ausführlicher und sorgfältiger Literaturnachweis wichtig. Eigenartig ist die abschließende
Aufzählung von 600 Studienfragen, die psychologische Sachverhalte und Probleme anführen, die
den Blick auf das Wesentliche des so vielseitigen Gebietes lenken sollen.
Leipzig. • Rieh. Tränkmann.
Prof. Dr. med. Erwin Stransky und Dr. med. et jur. Bernhard Dattner, Über Psycho¬
analyse. Berlin 1922. Karger. 119 S.
Der Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie in Wien hat den Versuch
gewagt, den vielumstrittenen Fragenkreis der Psychoanalyse vor einem Kreis von Vertretern
aller Fakultäten zur Diskussion zu stellen. Die Höhe, in der sich der einleitende Vortrag
1
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Literaturbericht
473
•
Rudolf Adlers und die ausgedehnte Aussprache, in der Freunde und Gegner schar! aufeinander
stießen, sich fast durchweg bewegte, bat es gerechtfertigt erscheinen lassen, das Ganse der
Verhandlungen in der vorliegenden Schrift der Öffentlichkeit vorzulegen. Daß sie auf dem für
die Psychoanalyse klassischen Boden Wien erwachsen ist, sichert ihr von vornherein eine ge¬
wisse bevorzugte Stellung in dem allgemach schon kaum noch zu überschauenden psycho¬
analytischen Schrifttum. Sch.
Dr. J. Varendonck, Ober das vorbewußte phantasierende Denken. Internationale
psychanalytische Bibliothek Bd. II. Leipzig—Wien—Zürich 1922. Internationaler psychana-
lytischer Verlag. 172 S.
Varendonck legt in seinem Buch einen überaus wertvollen Beitrag zur Denkpsychologie
vor. Gegenstand seiner Untersuchung sind assoziative Gedankenketten, wie sie als Tagträume,
als phantasierende Denktätigkeit, als „freiaufsteigende“ Vorstellungsverläufe im Dämmer des
Einschlafens und Ausschlafens bekannt sind und dem apperzeptiven Denken als wesensunter¬
schiedlich gegenübergestellt werden. Angeregt von Freunds „Traumdeutung 44 , bedient er sich
mit einer geringen Abweichung dessen analytischer Technik, ohne dann aber bei der Deutung
im Banne der Freud'schen Lehren zu stehen. Kaum daß aus der reichen psychoanalytischen
BegriffsbUdung hier und da einmal die Erscheinungen der „Verdrängung 44 und des „Komplexes 44
genannt werden. Die Ergebnisse der Untersuchung aber klingen mit denen der Psycho¬
analytiker schön zusammen.
An der Hand seines bis ins Letzte zergliederten Materials geht Varendonck zunächst der
Entstehung der Gedankenketten nach und findet: „Wenn die vorbewußten Gedankengänge
bei ruhender Seelentätigkeit entstehen, so ist ihr Anlaß entweder ein sensorischer oder psychi¬
scher Reiz, und wenn sie unsere Aufmerksamkeit vom willkürlichen Denken ablenken und in
vorbewußte Bahnen hinlenken, kann die Ursache der Entstehung die gleiche sein; der Übergang
von der einen Art zu der anderen Art des Denkens wird in diesem Fall durch eine äußere
Assoziation vermittelt (S. 34).
In großer Breite wird weiter dann über den Inhalt und den Vollzug des phantasierenden
Denkens gehandelt. Es dürfte nach den Untersuchungen Varendoncks kaum möglich sein, eine
vorbewußte Gedankenkette zu verfolgen, in der nicht visuelle Bestandteile aufzufinden sind;
ja es scheint geradezu die Verbildlichung ein Merkmal des phantasierenden Denkens zu sein,
wobei sich der Tagträumer als Zuschauer der vorüberziehenden Bilder fühlt (S. 86—37). Wohl
aber ist die Vordringlichkeit des Denkens in Bildern und des Denkens in Wörtern jeweils ver¬
schieden. Einmal rollen die inneren, lebhaft bewegten, sich auseinander herausentwickelnden
Bilder filmartig ab, und von ihnen erscheint abhängig, was an Gedanklichem in den Bewußtseins-
strom eingeht; andermal wieder reiht das Denken vornehmlich Wortvorstellungen aneinander, die
dann von Bildern — mehr oder minder deutlich wie ein Buchtext illustriert werden. Beide Fälle,
zwischen denen fließende Übergänge bestehen, unterscheiden sich in der Gefühlsbetonung.
Beim ausgesprochenen Bilddenken kehren die Affekte, die beim wirklichen Erleben auftreten,
in der Erinnerung zurück; beim Wortdenken werden sie nicht erkennbar (S. 39). Auch
sonst bestehen Unterschiede. Wenn die Assoziationskette mit Wortvorstellungen arbeitet, so
sind wir nicht weit vom bewußten Denken entfernt, während sich alle visuelle Träumerei mit
ihrer starken Verbildlichung an das der unbewußten Tätigkeit annähert. Neu an den Auf¬
schlüssen Varendoncks ist es, daß er aufdeckt, wie die oft sehr komplizierten freien Gedanken¬
ketten eine sie kennzeichnende Aufeinanderfolge von Fragen und Antworten, Annahmen und
Einwendungen, Vorschlägen und Ablehnungen aufweisen, gelegentlich durch halluzinatorische
Erinnerungen unterbrochen, und wie hierin wahrscheinlich eine allgemeine Eigentümlichkeit des
vorbewußten Denkens zu erblicken ist — eine Erscheinung, die den Eindruck einer Prüfung auf
zweckmäßige Verwendung machen kann und die sich auch in primitiven Formen des Lernens
(Frage- und Antwortverfahren) und im kindlichen und volkstümlichen Denken findet (S. 64}.
Ihren Ausgang nimmt die Gedankenreihe meist von einer affektbetonten Erinnerung, sei es,
daß diese freisteigend oder durch eine Wahrnehmung veranlaßt auftritt. Die Richtung aber deEf
Assoziationsstromes wird bestimmt durch die Wirksamkeit eines oder mehrerer Wünsche. Je
geringer deren Kraft ist, umso auffälliger tritt das Merkmal der Sprunghaftigkeit, die das
unbewußte Denken kennzeichnet, in die Erscheinung. Immer aber haben unsere Tagträume
nur den Drang nach vorwärts; sie gestatten keine Rückschau — außer unter Heranziehung
bewußter Fähigkeiten — und machen damit im Gegensatz zum bewußten Denken eine Prüfung
und Berichtigung unmöglich. In ihnen herrscht das Vergessen — eine Quelle ihrer reichen
Fehler und damit ihrer Unzulänglichkeit. Der Abbruch schließlich geschieht im Zustande der
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Literaturbericht
Passivität entweder unter dem Einflüsse eines Affektes oder auf Einwirkung eines änderen
Reizes, die nun die Erinnerungen, die vorher im freien Zuge und Spiele waren, in den Dienst
eines Zieles — etwa der Wahrnehmung — stellen. Varendonck schließt seine Untersuchungen ab
mit Ausführungen über die nicht zu gering einzuschätzende Bedeutung des vorbewußten Denkens
und über seine Beziehung zur bewußten Denktätigkeit. Wenn wir gerichtet denken, so kann
sich dies dem Vorgang der unbewußten Gedankenbildung ziemlich angleichen. Beide sind
verwandte psychische Erscheinungen. Nur daß im bewußten Denken die Affekte behoben sind
und die Gedankenabfolge unter der Regelung des Willens steht Die Vorzüge willkürlichen
Denkens aber werden bezahlt mit einer Einbuße an der Fähigkeit, über den Gedächtnisbesitz
zu verfügen, ein bedeutsamer Verlust, weil damit die Grundlage der Denktätigkeit dürftiger
geworden ist. Außerdem entsteht ein Nachteil dadurch, daß die Spontaneität gewisser Vorgänge,
die das eigentlich schöpferische Denken bewirken, verloren geht. Ein Ausgleich aber wird
möglich, wenn beide Arten des Denkens in einem einzigen Prozeß, der mit Vermeidung ihrer
Mängel die Vorzüge zusammenführt, vereint wirken (S. 168—170).
Es sind nicht neue Unterscheidungen, die Varendoncks Untersuchungen vornehmen. Ans
Wundts Lehre vom assoziativ-apperzeptiven Gedankenverlauf ist z. B. das Wesentliche geläufig.
Verdienstlich an den neuen Forschungen ist aber, daß sie die Tagträume aus der Sphäre des
Unnormalen herausheben und als ein allgemeines psychisches Phänomen beschreiben, daß sie
an einem reichen wissenschaftlich einwandfrei gewonnenen Beispielmaterial klarer und ergiebiger,
als es bisher geschehen ist, die Gesetzmäßigkeiten der vorbewußten Gedankentätigkeit heraus¬
arbeiten, daß sie ihre Beziehungen zu der Wirksamkeit des unbewußten und bewußten Denkens
aufdecken und alle drei Formen als verschiedene Äußerungen einer in der Wurzel gleichen
Funktion aufdecken. Freilich dürfen die Ergebnisse nicht vorschnell verallgemeinert werden.
Aus dem Erleben einer einzigen Person gewonnen, haben sie ganz offenbar nur Geltung für
einen bestimmten Denktypus. So verlangen sie eine Ausdehnung der Untersuchung auf breiteres
Material in vergleichender Betrachtung. Dabei wäre auch das experimentelle Verfahren an¬
zuwenden, wofür die Beobachtungen Varendoncks viele Fragestellungen aufzeigen.
Für die Pädagogik erscheinen uns die Untersuchungen Varendoncks sehr bedeutungsvoll.
Die theoretische Begründung der Arbeitsschule, die als Wesenszug die Pflege freier geistiger
Tätigkeit des Schülers verwirklichen will, bedarf solcher denkpsycbologischer Forschungen ganz
dringend. Varendonck aber unterläßt, wiewohl er offenbar aus dem Lehrerberufe herüberkommt,
die pädagogische Auswertung. Doch ergeben sich wenigstens zwischendurch einige wertvolle
praktische Winke, wie die Kunst des Denkens zu pflegen sei.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Kurt Schulze, Gestaltwahrnehmung von drei und mehr Punkten auf dem
Gebiete des Hautsinnes. Heft 4 der Philosophischen und psychologischen Arbeiten,
herausgegeben von Theodor Ziehen. Langensalza 1922. Beyer & Sö. 57 S.
Die stärkere Betonung der handlichen Betätigung im Unterricht der neuen Schule fordert,
wenn ihre Begründung und methodische Gestaltung auf sicherer wissenschaftlicher Grundlage
geschehen soll, ganz dringend eine Psychologie der Hand. Noch aber mangelt es außerordent¬
lich an Forschungen, die hierzu die Bausteine darreichen. Vor allem müßten sich die Unter¬
suchungen in den von Katz eingeschlagenen Richtungen bewegen. Einiges für pädagogische
Auswertung bietet auch die vorliegende Untersuchung. Sie stellte sich drei experimentelle Auf¬
gaben : wie geschieht durch den Hautsinn die Wahrnehmung von drei in einer Gerade gelegenen
Punkten; wie die Auffassung von Winkeln; wie die Erkennung einfacher geometrischer Eck¬
figuren? Beschränkt wurden die Versuche über Gestaltwahrnehmung nur auf die Rückenfläche
des Vorderarmes. Versuchspersonen waren Kinder und Erwachsene. Von den Ergebnissen,
wie sie Schulze selbst zusammengestellt bat, sind besonders die Aufschlüsse über die Figuren¬
auffassung bemerkenswert. Es ergab sich das folgende: „1. Die Größe des Tastkreises spielt
bei der Auffassung von größeren Figuren nur eine relativ geringe Rolle, dagegen ist es von
großer Bedeutung, ob die Vp. die zur Verwendung gelangten Figuren kennt oder nicht. Beim
wissentlichen Verfahren ist die Prozentzahl der richtigen Antworten für alle drei Figurenarten
bedeutend höher als beim unwissentlichen Verfahren. Auch Erkennen innerhalb eines Tast-
kreises ist nicht ausgeschlossen. 2. Der Einfluß der Übung ist sehr bedeutend; er kann
dahin führen, daß die Vp. am Schluß der Versuchsreihen bei den angewandten Figuren nur
noch richtige Antworten gibt. Diese Tatsache ergab sich auch beim unwissentlichen Verfahren.
3. Neben der Übung des rechten Vorderarmes geht wahrscheinlich auch eine Übung des linken
Armes einher, wie sich beim Übergang von Sukzessiv- zu Simultanversuchen zeigte. 4. Ist die
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Literaturbericht
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Vp. in der Lage, einen Vergleich zwischen zwei Figuren anstellen zu können, so steigt die Zahl
der richtigen Antworten. Hierbei ist es gleichgültig, ob die Darbietung der beiden Figuren
sukzessiv (nacheinander auf demselben Arm)- oder simultan (zugleich auf beiden Armen) ge¬
schieht Die Zeit- bezw. Raumlage ist für das Erkennen der Figuren ohne große Bedeutung.
5. Bei Eckenfiguren besteht eine ausgesprochene Neigung, die Anzahl der Ecken zu unter¬
schätzen ; die Vp. vermag im allgemeinen höchstens drei Punkte mit Sicherheit zu unterscheiden.
Die Zahl der richtigen Antworten ist für das Dreieck am größten, dann folgt das Quadrat und
zum Schluß das Trapezoid. 6. Von den Flächenfiguren ist der große Kreis am besten erkannt
worden; dann folgt der kleine Kreis, zum Schluß die Ellipse. Die individuellen Differenzen
sind auffällig groß. Manche Vpp. haben ein sehr gutes Auffassungsvermögen für diese Figuren,
während andere nur sehr schwer Umrisse und Ecken erkennen können. 7. Bei den Hohlfiguren
ist die Auffassung am besten. An der Spitze der richtigen Antworten stehen die beiden
Kreise, während das Viereck am schlechtesten erkannt worden ist Vom Viereck empfanden
viele Vpp. nur eine Ecke. 8. Werden beide Arten von Figuren durcheinander aufgesetzt, so
st es schwierig, Flächen- und Hohlfiguren auseinanderzuhalten. Es zeigt sich eine Neigung,
hohle Figuren mit ausgefüllten zu verwechseln. 9. Innerhalb der Prozentzahlen der richtigen
Antworten zeigen sich sowohl bei den einzelnen Vpp. als auch bei den einzelnen Figuren große
Schwankungen, die auf den Einfluß der Übung, Ermüdung, Aufmerksamkeit usw. zurückzu¬
führen sind.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. phil. et med. G. Sommer, Geistige Veranlagung und Vererbung. 2. Aufl.
Leipzig 1919. Teubner. 122 S.
Der Eifer, dem gegenwärtig die psychologische Forschung und Praktik der Frage der Ver¬
erbung zuwendet, lenkt die Aufmerksamkeit auch schärfer wieder auf die Frage der Vererbung.
Sommers Buch leistet für die erste Orientierung über den Stand der gegenwärtigen Erkenntnis
die beste Handreichung. Er behandelt zuerst nach einleitenden und grundlegenden Erörterungen
das körperliche Substrat der Seele — das Nervensystem — und seine Vererbung und wendet
sich dann in gleicher Ausdehnung zu den ererbten seelischen Konstitutionen, den besonderen
Anlagen (Instinkt, Sprache, Begabung, Talent, Genie). Den Schluß bildet die Vererbung von
im Individualleben erworbenen Eigenschaften. Tr.
Karl Mosse, Volontärarzt an der Charite in Berlin, Über Suggestion und Suggestions¬
therapie im Kindesalter. (Heft 184 der „Beiträge zur Kinderforschung und Heil¬
erziehung“.) Langensalza 1922. 18 S.
Die kurze, mehr medizinisch als psychologisch und pädagogisch eingestellte Arbeit berichtet
über einen etwas robusten Kindergartenversuch des Verfassers, über einige Untersuchungen
anderer Forscher und über die Auswertung des einschlagenden poliklinischen Materials einer
Universitätsklinik. Wesentlich Neues legt sie nicht vor. Als Hauptergebnisse treten unter
anderem heraus, daß bei Dreijährigen eine starke Suggestibilität nachgewiesen wurde, daß mit
fortschreitendem Alter gesunde Kinder weniger suggestibel befunden wurden, während Neuro-
pathen und Hysteriker sich suggestiver Beeinflussung mehr und mehr zugänglich zeigen, daß
ferner Schwachsinnige eine weit niedere Suggestibilität als normale aufweisen. Sch.
Karl Bartsch, Hilfsschullehrer in Leipzig, Das psychologische Profil. Eine Erforschung
der psychischen Funktionen des normalen und des anormalen Kindes. Mit 101 Abbildungen
im Text und einer Text-Tafel in zwei Exemplaren. Halle a. S. 1922. C. Marbold. 62 S.
Bartsch hat die bekannte Testreihe Rossolimos abgeändert und legt nun die damit erzielten
Ergebnisse vor. Die angeführten Beispiele — „gedeutete Profile“ — sind reizvoll und lehrreich.
Sie werden aber überzeugen, daß solche Untersuchungen, sollen sie wirklich ertragreich sein, nicht
bloß eine sehr gute psychologische Schulung des Lehrers erfordern, sondern auch ganz erheb¬
liche Anforderungen an seine Arbeitskraft stellen. Tr.
Dr. A. Roth, Oberstabsarzt, Sehproben naclf Snellens Prinzip. 5 Tafeln mit 4 Text¬
beilagen. Leipzig 1922. Georg Thieme.
Die handlich ausgestattete Reihe der Tafeln ist für ärztlichen Gebrauch bestimmt. Eine
Bearbeitung für Schulkinderuntersuchungen, die dort, wo kein Schularzt angestellt ist, vom
Lehrer auszuführen sind, wäre sehr erwünscht. Es müßte dann vor allem auch eine aus¬
führlichere Erläuterung und Gebrauchsanweisung beigegeben werden. Sch.
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Literaturbericht
Dr. Eugen Matthias, Privatdozent, Bedeutung und Aufgaben der Leibesübungen
im Dienste der Gesamterziehung. Bern 1922. Haupt. 22 S.
Die Erziehung der letzten Jahrhunderte hat sich, einseitig auf die Geistespflege eingestellt,
schwer an der Leiblichkeit der Zöglinge versündigt Wenn eine Wandlung sich anzubahnen
beginnt, so ist sie nicht zuletzt hervorgegangen aus den treibenden Kräften der Jugendbewegung.
Was es dabei zu begreifen und zu tun gibt, stellt das Schweizer Schriftchen von Dr. Eugen
Matthias wohldurchdacht und in erfreulicher Knappheit zusammen, wobei in rechtem pädagogischen
Denken nun nicht in die andere Einseitigkeit verfallen wird, sondern aus dem Ganzen einer
Erziehungsanschauung heraus die körperliche und geistige Schulung in ihrer Vergeschwisterung
und Wechselseitigkeit erfaßt sind. Schade aber, daß die erziehlichen Wirkungen der Leibes¬
übungen uns nur bis zu der — allerdings entscheidenden — Zeit der Reife aufgedeckt werden
und,es für die nachfolgenden Altersstufen bei einigen grundsätzlichen Gedanken verbleibt
Leipzig. Otto Scheibner.
Geheimer Regierungsrat Dr. Karl Heilmann, Oberregierungs- und Schulrat, Handbuch der
Pädagogik. I. Bd.: Psychologie und Logik. Unterrichts- und Erziehungslehre. Schulkunde.
22 , verb. Aufl. 395 S. II. Bd.: Besondere Unterrichtslehre. 12 , verb. Aufl., 332 S. III. Bd.:
Geschichte der Pädagogik. 14., verb. Aufl. 385 S. Berlin 1922. Union Deutsche Verlags-
geseilschaft.
Im Hinsterben der Lehrerseminare und im Aufdämmem einer neuen Lehrerbildung erscheint
noch einmal — war es nötig? — dieses umfängliche Schullehrbuch der Pädagogik, das bei
der berufswissenschaftlichen Ausbildung so vieler Lehrer feste Stütze und sichere Wegweisung
sein durfte — ein Dokument für das Lehrgut und den Lehrgeist auf den deutschen Lehrerbildungs¬
anstalten. Mit welchem Eifer und Fleiße ist hier eine erstaunliche Menge erziehungskundlicber
Tatsachen, Forderungen und Gedanken auf gespeichert worden — darunter manch Urväterhausrat
pädagogischen Wissens und auch allzu wichtig genommener methodischer Kleinkram —; mit
welcher Anstrengung haben sich Seminaristen und Junglehrer bei den Prüfuugsvorbereitungen
durch solche Stoffmengen hindurcbquälen müssen. Lehrende und Lernende haben es sich auf
den Seminaren wahrhaftig sauer werden lassen. Es blieb dabei aber vielfach da hinten das
Schwerste am Gesetz: die pädagogische Ergriffenheit und die Schulung im erziehungswissen¬
schaftlichen Denken. Und dennoch, so arg schlimm, wie es nach manchen Klagen und An¬
klagen scheint, kann es doch nicht um die Wirkung der Seminarpädagogik bestellt sein: wie
wären sonst das heiße Bemühen der Lehrer um ihre Fortbildung, der Idealismus und die
Opferfreudigkeit, die gerade heute im Werden einer neuen Pädagogik beim Veranstalten von
Kursen und Tagungen sich offenbaren, der starke und ehrliche Wille zur Wissenschaft erklärlich?
Darum, wie man die Seminare mit dankbarer Anerkennung dessen, was sie in ihrer Zeit ge¬
wiß erfüllt haben, zu Grabe tragen wird, soll man auch einem Lehrmittel, wie dem Heil-
mannschen Handbuche, gerecht zu werden versuchen. Dies um so mehr, als es im Rahmen
bindender gesetzlicher Vorschriften immer Fühlung zu halten suchte mit den Fortschritten der
Erziehungswissenschaft und den Bewegungen des pädagogischen Lebens. So wird die Geschichte
der Pädagogik heraufgeführt bis Gaudig und Kerschensteiner, so ist weiter versucht, in die alte
Schulpsychologie einer Herbartschen Richtung die Ergebnisse der neuen experimental-psycho¬
logischen Forschung mit allem vorsichtigen Bedachte einzuschmelzen. Die Unterrichts- und
Erziehungslehre freilich ist wenig von dem Geiste der großen pädagogischen Reformbewegung
berührt. Ich selbst will nicht verschweigen, daß ich dem Heilmannschen Werke in früheren
Jahren manche Anregung und tatsächliche Förderung für die eigene Ausbildung und für
meinen Unterricht in den pädagogischen Fächern verdanke, und solange nicht für die auf¬
kommende neue Lehrerbildung - sie wird hoffentlich auf die Hochschule verlegt — die not¬
wendig wissenschaftlicher gehaltene Literatur erstanden ist, werden am Ende noch die Bücher
von Heilmanns Art zuerst als Notbehelf einigen Dienst leisten können. Im ganzen aber: in
Ehrfurcht vor der alten Pädagogik hin zu einer neuen Erziehungswissenschaft und einem neuen
Lehrertum!
Leipzig. Otto Scheibner.
•
Höfler, Alois, Seelenlosigkeit und Beseelung unserer Schulen. Sonderausgabe aus
den Bayreuther Blättern. Leipzig 1918. Teubner. 52 S.
ln geistreichem Plauderton tritt der jüngst verstorbene Wiener Pädagogikprofessor für einen
neuhumanistischen Unterricht auch der klassischen Sprachen, vor allem des Griechischen ein,
will ein künstlerisches Griechisch oder gar keines. Der Unterricht, der die klassische Kultur
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Literaturbericht
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und Kunst nur als Gegenstand grammatischer Übungen betrachtet, tötet das Menschlich-Große,
das aus den Meisterwerken der griechischen Dichter und Denker spricht Wie der humanistische,
so ist auch der realistische Unterricht seelenlos. Die Naturkunde sollte die Kunde sein vom
Lebenden und Organischen, die Jugend müßte den Reichtum der Naturgestalten schauen und
lieben lernen, bevor sie zum Verständnis der Naturgesetze gebracht wird. Von diesen Gesetzen
müßte der Weg führen zur Besinnung auf unsere eigensten seelischen Gesetze selbst.
Graz. Otto Tumlirz.
Dr. Wilh. v. Wyss, Rektor der Höheren Töchterschule in Zürich, Soziale Erziehung.
Bestrebungen und Versuche in amerikanischen Schulen. Zürich 1922. Orell Füssli. 30 S.
In einer Zeit, in der wir Deutsche das Wort „Gemeinschaft“ tiefer als Je fühlen und ernster
als früher unsere Jugend zu sozialen Gesinnungen heranbilden wollen, wird man willig sein,
in diesen Richtungen auch vom Schulwesen des Auslandes zu lernen, und wird man darum
gern auch zu der vorliegenden Broschüre greifen, in der ein Schweizer Schulmann auf Grund
seiner persönlichen Beobachtungen in amerikanischen Schulen und an der Hand des einschlägigen
Schrifttums, namentlich des Werkes „Social education“ von Colin A. Scott, sehr anregend dar-
stellt, wie man in Amerika auf spätere soziale Brauchbarkeit der Schüler abzielt. Was freilich
in der kleinen Schrift, die sich mit hübschen Beispielen aus dem Schulleben durchsetzt, dar¬
geboten wird. Überrascht keinesfalls; einesteils gehen deutsche Erziehungsbestrebungen länger
schon den gleichen Weg, andernteils ist das, was wir aus fremdem Land in unsere deutsche
Schulkultur als wesenswidrig nicht empfangen möchten, aus Berichten deutscher Schulleute,
so Kerschensteiners, hinlänglich bekannt. Viele Anklänge an Scotts Versuche, die etwas
ausführlicher behandelt werden, finden sich besonders in deutschen Versuchsschulen, allen voran
in den Gemeinschaftsschulen. Denn was dort wie hier den leitenden Gedanken gibt, ist die
„Selbstorganisation der Schule“. Sch.
Schmid, Bastian. Vor neuen Aufgaben der Schulerziehung. Berlin und Leipzig.
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. (Heft 8 von „Das neue Deutschland in Erziehung
und Unterricht“). 51 S. !
In drei kurzen Kapiteln beleuchtet der Verfasser schonungslos die Gebrechen der alten
Schule, die Intellektualisierung der Jugend, die zu Gelehrsamkeit, nicht zu Bildung führte, den
Militarismus, den Klassenhocbmut der höheren Schulen, die Vermischung von Wissen und Glauben,
die Verflachung in Weltanschauungsfragen, ln weiteren drei Abschnitten legt der Autor dar,
wie er sich den innereren Neubau der Schule denkt, wie sich die Beziehungen zwischen Lehrer
und Schüler, Schule und Haus gestalten müssen, damit die Nation ihre wichtigste Aufgabe, die
Erziehung der Jugend, erfülle. Das Büchlein ist nicht allein wegen der feinen Bemerkungen
über die Lehrerpersönlichkeit, über die seelischen Bedürfnisse der Jugend, sondern vor allem
deshalb sehr lesenswert, weil ein berufener Vertreter der Naturwissenschaft gegen die materia¬
listische und monistische Weltanschauung energisch kämpft und die Schäden nacbweist, welche
die Jugend durch die Entgeistigung des Lebens erfahren hat.
Graz. Otto Tumlirz.
Ed. Clapar&de, Die Schule nach Maß. Erlenbach-Zürich 1921. Rotapfel-Verlag. 40 S.
Dr. Eduard Claparöde, Prof, an der Universität Genf, ist in Deutschland bekannt durch sein
aus dem Französischen übersetztes Werk „Kinderpsychologie und experimentelle Pädagogik* 4 .
(Leipzig 1911, Barth). Was er in dem vorliegenden Schriftchen bietet, will auf die Forderung
hinaus, daß die Schule sich der Eigenart der Schüler „angemessen“ gestalte. So bewegen
sich die Ausführungen im wesentlichen in der Darlegung, wie mannigfaltig die persönlichen
Unterschiede innerhalb einer Schule sind und welche organisatorischen Forderungen — mobile
Klassen, parallele Lehrgänge, freie Fach wähl — sich hieraus ergeben. Dem deutschen päda¬
gogischen Denken ist dies alles sehr geläufig. Tr.
Walter Fränzel, Volksstaät und höhere Schule. (Tatflugschriften. Nr. 32.) Jena 1919.
Diederichs. 31 S.
Mit flotten Strichen werden einige bildhafte Ansichten skizziert, die im neuen Deutschland
die kommende Schule einem Vorausschauenden zeigt. Modell steht die Wickersdorf er Schul¬
gemeinde — unbekümmert, ob die Gedanken, die sich in den Landerziehungsheimen dank be¬
sonderer Gunst der Umstände verwirklichen konnten, sich nun auch unter den ganz andersartigen
Bedingungen groß- und mittelslädtischer Schulkörper durchzusetzen vermögen. Nach grundsätzlichen
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Darlegungen über das neue Deutschland, den neuen Menschen, das neue Volk, wird insbesondere
das Verhältnis vom Lehrer zum Schüler, von der Schule zur Gegenwart und zum Publikum er¬
örtert. Leitgedanke ist, daß die Schale der Zukunft nicht eine lebensfremde, unpersönliche Unter-
richtsanstalt. sondern eine Stätte lebendigsten, auf die Gegenwart eingestellten Personenlebens
sei. Wer das Schrifttum zur inneren Reform unserer Bildung nur einigermaßen kennt, wird
bei Fränzel auf nicht viel Neues stoßen, kann aber an der frischen Art des Darstellens ein
Vergnügen finden.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Paul Cauer, Professor für Pädagogik an d. Universität Münster, Aufbau oder Zer¬
störung? Eine Kritik der „Einheitsschule“. Münster i. Westf. Schöningh. 1919. 48 S.
Cauer lehnt mit Gründen, die keinen neuen wesentlichen Einwand bedeuten, die strenge
Form der Einheitsschule ab. Doch verkennt er nicht Mängel des alten deutschen Bildungswesens
und bemüht sich zu zeigen, wie das Berechtigte an den Zielen der Einheitsschule auch auf an¬
derem Wege erreichbar sei. So tritt er u. a. für die Aufhebung der Vorschulen ein, will aus¬
gezeichnet begabten Kindern aus unbemittelten Familien eine besondere Fürsorge zugewendet
wissen, fordert reichlich Mittelschulen in organischer Verbindung mit der Volksschule, verlangt
viel größere Strenge bei Versetzungen und Prüfungen. Daß in der Beamtenlauf bahn mit dem
Anziennitätsprinzip gebrochen werden muß, daß man den Volksschullehrern die Wege zum Stu¬
dium auf das höhere Lereramt bahnt, daß sich in den Kreisen der Gebildeten eine unbefangene
Schätzung schlichter, auf den Erwerb gerichteter Arbeit verbreite — das sind nach Cauer
weitere Vorbedingungen für Beseitigung alter Übelstände.
In seinen Darlegungen, die uns in vielen Stücken nicht überzeugen, berührt Cauer
zwischendurch auch (S. 12) die Ermittelung der Hochbegabten durch experimentelle
Prüfungen. Er erkennt an ihnen Gutes an, erhebt aber das grundsätzliche Bedenken, daß
nur das Maß der intellektualen Begabung festgestellt werde, nicht aber auch Willenskraft,
Arbeitslust, geistiges Streben.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. Hanna Gräfin von Pestalozza, Der Streit um die Koedukation in den letzten
30 Jahren in Deutschland Pädagogische Forschungen und Fragen. Herausgegeben von
Prof. Dr. R. Stölzle. Langensalza 1922. Beyer & Söhne. 110 S.
Auf der Grundlage eines sehr fleißigen Studiums der ausgebreiteten einschlagenden Fach¬
literatur, die in einem wertvollen, freilich nicht lückenlosen bibliographischen Anhänge geordnet
angeführt wird, setzt sich die Verfasserin mit der heute nicht mehr wie noch vor einem Jahr¬
zehnt so leidenschaftlich umstrittenen Koedukation vom Standpunkte katholischer Christ¬
lichkeit auseinander. Die leitende Frage — anfangs verhüllt, zun; Schluß aber in aller Deut¬
lichkeit ausgesprochen — ist ihr letzthin: „Halten sich die Gegengründe der Koedukation unter
den Augen Jesu? u Und ihrer Weisheit letzter Schluß wird: „Es ist uns Menschen kein anderer
Weg als der konkrete Weg über unsere Individualität gegeben, und gerade durch Christus, der
doch eben ein ganzer Mann war, ist dieser Weg sanktioniert worden.“ Offenbar, daß bei solcher
religiös-kirchlichen Einstellung der Abhandlung — sie ist eine Dissertation — der wissenschaft¬
liche Zug der Untersuchung gefährdet sein mußte. Die tiefe Gläubigkeit, die oft schönen, ja
ergreifenden Ausdruck gewinnt, läßt die Doktorandin nicht zu einem unbedingten, rein gelehrten
Denken gelangen und führt weniger zu verstandesmäßigen Erkenntnissen als zu einem gefühls¬
getragenen Bekenntnis. Vielleicht aber, daß die Frage der Koedukation, so nüchtern sie als ein
Problem der Organisation erscheint, eben darum keine eindeutige Lösung trotz so langen Streitens,
und Untersuchens zu finden vermochte, weil sie sich weit mehr auf Werthaltungen und nicht
nur auf wissenschaftliche Einsichten stützt, als man es bislang eingesehen hat Jedenfalls
weiß die Verfasserin durch die Wärme ihres Empfindens für ihre Anschauung, daß die Koedu¬
kation wider die Natur des Frauentums und damit auch wider den Sinn einer nach höchster
Entfaltung ihrer Kulturkraft strebenden Menschheit sei, zu gewinnen.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. R. v. Rhoden, Haupt Vertreter des Schulgemeindegedankens. Sammlung päd¬
agogischer Studien. Herausgegeben von Prof. Dr. W. Rein. Heft 24. Langensalza 1922.
Beyer & Söhne. 59 S.
Die pädagogische Sehnsucht unserer Zeit kommt kaum tiefer ergriffen zum Ausdruck als
in der Auffassung, daß die Schule keine Anstalt, sondern eine Lebensstätte der Jugend sein
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sollte und daß darum sie, die allzusehr als „Instrument des Staates“ ein lebensfremder künst¬
licher Verband war, zu einer echten Gemeinschaft sich gestalte. Und so wurde unter den im
pädagogischen Denken umlaufenden Schlagwörtem auch „Schulgemeinde“ ein Reformruf.
Aber was darunter gemeint wird, ist nicht eindeutig gedacht. Ailerverschiedenstes führt, wie
so oft in den pädagogische* Erörterungen, den gleichen Namen. Seltsam, wie Sinn und Geist
dieser pädagogischen Vorschläge und Versuche wechselt: Ausgesprochener Utilitarismus und be¬
geisterter philosophischer Idealismus ist oft die treibende Kraft; moderner Realismus und mittel¬
alterliche Mystik, streng konfessionelle Religiosität und Haß auf allen überlieferten Bekenntnis-
glauben wohnen andermal in ihnen; demokratischer und aristokratischer Geist walten darin;
nationales und internationales Bewußtsein bekunden sich. Eine Überschau über die auseinander¬
gehenden Gedanken, die sich in ihrer Verwirklichung „Schulgemeinden“ nennen, ist darum ein
verdienstliches Unternehmen, das in den Schulkämpfen der Klärung dienen wird.
v. Rhoden setzt bei dem Sprachgebrauch Dörpfelds ein und stellt dar, wie bei ihm Schul¬
gemeinde die Grundlage der Schulverfassung ist. In englischen und französischen Reformschulen
(Reddie, Demolins) und in den deutschen Landerziehungsheimen von H. Lietz wird dann der
Ausdruck zum Namen der freien Erziehungsschule. Anders Wyneken: er begreift unter Schul¬
gemeinde eine „Kulturinsel“. Neuendorff wieder will sie im Rahmen der Staatsschule als eine
Arbeits- und Lebensgemeinschaft errichten. Ist sie dann weiterhin bei Fr. W. Foerster ein
Mittel der Schuldisziplin, so wird sie für Graf Pestalozza eine beseelte Gesellschaft.
Wie. nun das vieldeutige Wort diese veränderliche Bedeutung hinter sich hat, wird in der
kleinen Schrift kurz und bündig derart dargesteilt, daß klar der tragende Gedanke heraustritt und
manches Tatsächliche aus dem Erscheinungsbilde der praktischen Verwirklichung sichtbar wird.
Des abschließenden Urteils enthält sich der Verfasser. Wir stimmen ihm zu, wenn er meint,
daß die verschiedenartigen Schulgemeinden immer nur aus dem Boden, dem sie erwachsen sind,
rechtes Verständnis und gerechte Wertung erfahren können, daß sie in der verallgemeinernden
Übertragung auf andere Lebenskreise nicht die im Einzelfalle beobachtete gute Wirkung erhoffen
dürfen, daß sie wohl aber immer einige gesunde Gedanken zu der deutschen Schule beitragen,
an der wir als an einem Zukunftsbau zurzeit gestalten.
Leipzig. Otto Scheibne r.
Edmund Neuendorff, Die Schulgemeinde. Gedanken über ihr Wesen und Anregungen
zu ihrem Aufbau. Leipzig 1921. Teubner. 395 S.
Mit kurzer Formel bezeichnet, bietet dieses beachtenswerte Buch eine Problematik der
neuen Schule. Eine Reihe deutscher Schulmänner hat sich hier zu einem Sammelwerke ver¬
eint, in dem bedeutsamere Schulgedanken als Vorschläge, Versuche und Berichte aus Ver¬
wirklichungen vorgelegt werden. Ich nenne als besonders wertvoll daraus nur: Philosophische
Durchdringung der Unterrichts- und Erziehungsarbeit (Geh. Rat Dr. Paul Lorenz) — Der Trieb
zum Gestalten beim Aufsatz (Dr. Arnold Schmidt-Berlin) — Das dramatische Spiel in der Schule
(Studienrat Leo FußhÖller) — Einführung in das soziale und wirtschaftliche Leben (Direktor
Dr. Hermann Stodl) — Gesamtunterricht (Berthold Otto und Dr. Ed. Neuendorff). Es fehlt aber —
worauf die Zukunft der neuen Schule zu allererst gestellt ist — ihr Scbicksalsproblem: Der
Lehrer. Wenn die vielfach auseinanderstrebenden Ausführungen der teilweise bedeutenderen
Verfasser unter dem Namen Schulgemeinde zusammengefaßt werden — diesem so unerquick¬
lich in den allerverschiedensten Bedeutungen mißbrauchten Schlagworte. —, so soll damit an¬
gedeutet werden, daß der Herausgeber als Einstellung wünschte — sie ist nicht überall ein¬
genommen worden —: es möge die deutsche Schule den humanistischen und sozialen Zug aufs
deutlichste ausprägen.
Die zahlreichen und hochbedeutsamen psychologischen Probleme, die in der gegen¬
wärtigen Schulbewegung einbeschlossen liegen, sind in dem Werke ungebührlich vernachlässigt
worden. Es besteht darum auch kein Anlaß, sich an diesem Orte näher mit ihm zu befassen.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
W. Lottig, Unsere Schul jüngsten. Wie werden wir ihnen gerecht? Samlnlung: Das
Kind und seine Pflege. Heft 4. Hamburg 1920. Auer & Co. 16 S.
Den Schuleltern, die oft mit Kopfschütteln dem Umschwung in der Gestaltung des Anfangs¬
unterrichts verständnislos gegenüberstehen, gibt hier einer der Hamburger Schulreformer aus
dem Kreise der „Gemeinschaftsschule“ eine gewinnende Aufklärung. Es ist ganz meisterlich,
wie er gegen die alten Meinungen über den Beginn des Schulunterrichts die neuen Gedanken,
nach denen das Kind in natürlicher freier Tätigkeit, in freier Auswirkung seiner eingeborenen
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Literaturbericht
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Kräfte sich aus sich selbst heraus entwickeln soll, zu vertreten weiß. Schließlich ist das, was
er über das freie Malen, die freie Geste, das freie Plaudern sagt, auch von denen unter den
Lehrern gut und nützlich zu lesen, die der Bewegung nicht freundlich gesinnt sind. Womit
nicht gesagt sein soll, daß wir glattweg den Stil derer aus den Hamburger Gemeinschaftschulen
ganz und gar billigten. Sch.
Dr. Richard Seyfert, Unterrichtsminister a. D., Schulpraxis. Lehre vom Unterricht der
Volksschule. 4., umgearbeitete AufL Berlin und Leipzig 1921. Vereinigung wissenschaft¬
licher Verleger. 150 S.
Die gewagte Aufgabe, das Ganze der äußeren und inneren Volksschulpädagogik in einem
Göschenbändchen darzpstellen, ist von Seyfert mit so glücklicher Hand gemeistert worden, daß
wir im abschließenden Unterrichte des Seminars die früheren Auflagen gern dazu benutzt haben,
die angehenden Lehrerinnen noch einmal das weite Feld überschauen zu lassen. Das erneute
Erscheinen gab dem Verfasser Gelegenheit, in sein Buch die Tatsachen, Gedanken und Ausblicke
der jüngsten pädagogischen Bewegung einzufangen. So stützt sich gleich die einleitende Er¬
örterung über die Stellung der Volksschule auf die neue Reichsverfassung, und einer der letzten
Abschnitte wird dem Werkunterrichte gewidmet. Durchweg aber ist alles durchsetzt mit den
pädagogischen Errungenschaften der zukunftssicheren Unterrichtsauffassungen, die unter dem
Namen Arbeitsschule begriffen sind.
Die Schule ist endlich auf dem Wege, nicht länger mehr nur eine reine Schulrneister-
angelegenheit zu bleiben, sondern eine innerste Volkssache zu werden. Nur schade, mit welcher
krassen Unkenntnis zumeist von außen her in das schulmäßige Erziehungswerk hineingeredet
wird. Soll der Einfluß, der heute den Eltern und andern Kreisen auf die Gestaltung des Schul¬
lebens zugestanden ist, von segensreicher Wirkung sein — dann bedarf es der ernsthaften
Aufklärung, was eigentlich ein schulmäßiger Erziehungsunterricht ist und wie das bedingungs-
reiche Gebilde der Schule sich in der Fülle seiner ErscheinungsWirklichkeit darstellt. Seyferts
Buch kann hierbei die besten Handreichungen tun, um so mehr, als es immer das Wesentliche
herausarbeitet, sehr reichlich die weiterführende Literatur angibt und sich mit viel Anschau¬
lichem, wie Lehrplanbeispielen, kleinen Unterrichtsskizzen usf., durchsetzt.
Leipzig. Otto Scheibner.
Richard Kabisch. Wie lehren wir Religion? Versuch einer Methodik des evangelischen
Religionsunterrichts für alle Schulen auf psychologischer Grundlage. 4. verb. AufL, bearbeitet
von Prof. Dr. H. Tögel. Göttingen 1917. 335 S.
Im Rahmen dieser Zeitschrift verdient Kabischs Methodik des Religionsunterrichtes darum
einen würdigenden Hinweis, weil sie ernstlich den Versuch unternimmt, der religiösen Erziehung
der Schulkinder eine psychologische Unterlage zu geben. In den Erörterungen über die
Möglichkeit des Religionsunterrichts ist ein besonderer Abschnitt der „Religion des Kindes*
gewidmet. Er bespricht kurz die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Kinderforschung
anf religiösem Gebiete und untersucht darnach einzelne Erscheinungen und Bestimmtheiten im
ersten Werden des religiösen Bewußtseins; so wird über die kindliche Erfahrungsreligion, über
die religiöse Phantasie in der Kindheit, über kindliche Zweifel und anderes Bedeutsame, das auf
die Gestaltung des Religionsunterrichts einzuwirken hat, in wissenschaftlicher Erörterung gehan¬
delt. Dabei stützt sich Kabisch auf die wissenschaftlichen Forschungen der jüngsten Zeit, zieht
Beispiele aus der schönen Literatur heran und verwertet auch eigene Beobachtungen. Im ganzen
greift dieser kinderpsychologiscbe Teil nicht so weit aus, wie der entsprechende Abschnitt in
Richerts vortrefflichem „Handbuch für den Religionsunterricht erwachsener Schüler* (Leipzig 1911,
Quelle & Meyer), doch erscheint er durchaus tragfähig für die methodischen Gedanken, die Kabisch
weiterhin entwickelt. Es sind überdies auch sonst die Darstellungen des Buches, z. B. die Er¬
örterungen über die Lehrbarkeit der Religion, mit psychologischen Betrachtungen durchsetzt, so
daß im Gegensatz zu so vielen Schriften der besonderen Unterrichtslehre, die sich ganz unge¬
rechtfertigt mit Titelhinweisen auf die „neuere Psychologie* schmücken, das Werk von Kabisch
in vorbildlicher Weise psychologisches und fachwissenschaftliches Denken vermählt.
Zschopau. Paul Ficker.
Druck von J. B. Hirschfeld (A. Pries) in Leipzig.
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Inhaltsverzeichnis,
A. Abhandlungen.
Seite
Unserer Jagend. Von Oberstudiendirektor Professor Dr. H. Gaudig in Leipzig ... 1
Vom Ichbewofit8eln des Jugendlichen. Von Universitätsprofessor Dr. W. Stern in Hamburg 8
Wesen und Arten der Fehler. Von Oberstudiendirektor H. Weimer in Biebrich a. Rh. 17
Die optische Muskeltäuschung als Intelligenztest für anormale Kinder. Von H. Schüttler
in Frankfurt a. M..25
Eine experimentelle Auslese von Sprachbefähigten in der Volksschule. Von Lehrer
F. Schlotte in Leipzig.29
Subjektive optische Anschauungsbilder bei Jugendlichen. Von Privatdozent Dr. 0. Kroh
in Göttingen.40
Wesen und Ursachen der Homosexualität. Von Geheimrat Professor Dr. E. Kraepelin
in München.. 51
Der Aufbau des Hochschulstudiums der Pädagogik. Von Universitätsprofessor Dr. A. Fischer
in München.56, 137
Grundsätzliches über die Volkshochschulfrage. Von Universitätsprofessor Dr. F. E. 0.
Schultze in Frankfurt a. M.81
Anleitung zur Schüler-Personalbeschreibung. Von Dr. A. Huth, Assistent am Pädagog.-
psycholog. Institut in München.97
Zur Frage der psychologischen Schülerbeobachtung im Dienste der Berufsberatung. Von
Dr. 0. Bobertag, Leiter der Abteilung am Zentralinstitut für Erziehung und
Unterricht in Berlin.110
Zur Feststellung der Sprachbefähigung bei Volksschülern. Von Lehrer MarxLobsien
in Kiel . *.114
Zur Erkenntnis abwegiger und krankhafter Geisteszustände bei Schulneulingen. Von
Geh. Regierungsrat Medizinalrat Dr. med. W. Alter, Direktor der Lippeschen
Landesheil- und Pflegeanstalt in Lüdenhof.117
Der Formvariator. Ein Hilfsmittel zur Prüfung und Erziehung der dynamisch geometrischen
Rauinauffassung. Von Universitätsprofessor Dr. W. Stern in Hamburg ... 131
Das Psychologische Laboratorium der Hamburgischen Universität. Gesamtbericht über
seine Entwicklung und seine gegenwärtigen Arbeitsgebiete. Unter Mitwirkung
verschiedener Mitarbeiter erstattet von Universitätsprofessor Dr. W. Stern in
Hamburg . . *.161
Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungs¬
problem. Von Dr. M. Vaörting in Berlin-Treptow.197
Psychische Ursachen des Stotterns. Von H. Burkhardt in Löbau i.S.207
Schulreform und Bildungszweck. Von Studienrat Professor Dr. J. Kretzschmarin Leipzig 211
Pädagogische Typenlehre. Von Geh. Regierungsrat Prof. Dr. R. Lehmann in Breslau 241
Die Bedeutung des Ach’schen Begriffes der Determination für die Erziehungslehre. Von
Dr. A. Hillgrub er, Seminarprorektor in Angerburg.255
Der Bourdon-Test bei 12}ährigen Schülern. Von Dr. A. Michaelis in Göttingen . . . 258
Beobachtungen und Versuche an einem Kinde in der Entwicklungsperiode des reinen
Sprachverständnisses. Von Studienrat Dr. P. Schäfer in Leipzig.269
Zur Prüfung der rechnerischen Denkfähigkeit im Schulkindesalter von 9—12 Jahren.
Von Dr. I. Kaufman und Dr. Fr. Schmidt, Assistenten im heilpädagogischen
und psychischen Laboratorium in Budapest.289
Ist das Erziehungsziel „wissenschaftlich* erkennbar? Von Universitätsprofessor Dr.
A. Messer in Gießen.321
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VIII
Inhaltsverzeichnis
Seite
Neuere Anschauungen Aber das Wesen sexueller Anomalien und ihre Bedeutung im
Aulbau der Kultur. Von Universitätsprofessor Dr. M. Isserlin in München . 324
Die Gefährdung der Jugendbewegung durch Blühers Deutung des Wandervogelproblems.
Von Prof. Dr. H. Loewe in München.342
Wie denken und wünschen sich die Schüler ihre Lehrer? Von cand. G. Friedrich in
Frankfurt a. M. ........ .356
Betrachtungen über die Unterrichtsfrage vom Standpunkt der Philosophie des „Als-Ob“.
Von Seminarlehrer Dr. H. Fuchs in Waldau (Ostpr.).. . . . 369
Experiment und Lehrerurteil. Von Stadtschulrat H. Schüßler in Frankfurt a. M. . . 378
Aufmerksamkeit niederer und höherer Ordnung und ihre Beziehung zum Begabungs¬
problem. Von Dr. K. Piorkowski in Berlin, Leiter des Orga-Institutes . . . 380
Die Bedeutung des Personalismus für die Pädagogik. Von Prof. Dr. W. Döring in Lübeck 401
Persönlichkeit und Masse in der gegenwärtigen Kulturlage. Von Rektor G. Hirsch
in Guben. 409
Allgemeine Richtlinien zur erziehlichen Beeinflussung der von der homosexuellen In¬
fektion bedrohten Jugend. Von Prof. Dr. H. Loewe in München . . . . 421
Zwei Begabungsprüfungen. Von Studienrat A. Schwärig in Schneeberg.430
Die Bedeutung des Gedächtnisses für den Mathematik- und Reehenunterricht. Von
Studienrat G. Rose in Hagen ..442
Die Bedeutung der Farbe im Schwachsinnigenunterricht. Von M. Trümper-Böde-
mann in Chemnitz.448
Verzeichnis der Verfasser.
Seite
Alter, W.117
Bobertag, Otto ........ 110
Burkhardt. Heinz....... 207
Döring, Woldemar. 401
Fischer, Aloys.56, 137
Friedrich, Gerhard.356
Fuchs, Hans.369
Gaudig, Hugo. 1
Hillgruber, Andreas.255
Hirsch, Georg.409
Huth, Albert.97
Isserlin, M. 324
Kaufman, Irene.289
Kraepelin, Emil.51
Kretzschmar, Johannes.211
Kroh, Oswald .40
Lehmann, Rudolf.241
Seite
Lobsien, Marx.114
Loewe, Hans. 342, 421
Messer, August. . . 321
Michaelis, Adolf.258
Piorkowski, Kurt.380
Rose, Gustav.442
Schäfer, Paul. ... 269
Schlotte, Felix.29
Schmidt, Franz.. . 289
Schultze, F. E. Otto.81
Schüßler, Heinrich. . 25, 378
Schwärig, A.430
Stern, William.8, 131, 161
, Trümper-Bödemann, M.448
i Vaörting, Matthias.197
j Weimer, Hermann. 17
B. Kleine Beitrage und Mitteilungen.
Seite
Arbeitsgemeinschaften für praktische Psychologie in Westfalen und Lippe .... 310
Aufruf, von der Jugend aus der Alkoholgefahr zu begegnen ..227
Befähigung und Eignungsprüfungen für den Musikerberuf.307
Begabungsprüfung beim Schuleintritt.305
Erforschung der Sexualentwicklung des Kindes.226
Erste internationale Tagung für Sexualreform auf sexual wissenschaftlicher Grundlage 148
Fachstudium und Allgemeinbildung. 382
Fürsorgeerziehung in Belgien.309
Gesellschaft für Heilpädagogik.467
Hamburger Lehrgang zur pädagogischen Psychologie 312
Hamburgische Woche für Erziehung und Unterricht. 70
Hauptstelle für praktische Psychologie in Berlin-Spandau.151
Heilpädagogische Orientierung in der Lehrerbildung.466
Hygienische Erziehung in der Schule und Vorbildung der Lehramtskandidaten in Hygiene 383
Institut für Jugendkunde in Bremen. 229
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Inhaltsverzeichnis
IX
Seite
Institut ffir Jugendkunde in Magdeburg.311
Jahresarbeit 1921 des Leipziger Institutes für experimentelle Pädagogik und Psychologie 385
Jugendkunde in der Tschechoslowakei.453
Kieler Arbeitsgemeinschaft für experimentelle Pädagogik.458
Kinderaassagen in Sittlichkeitsprozessen.465
Kinderfahrten als Erziehungswerk. 144
Koinstruktion in psychologischer Beleuchtung.308
Kursus zur Einführung in die Jugendwohlfahrtspflege.388
Lehrfilm.310
Montessorimethode im Anschauungsunterricht.468
Schülerbogen. 68
Schulkinder-Fürsorge.465
Pädagogik und Philosophie. .144
Pädagogische Interessengemeinschaft Ostpreußen.465
Preisausschreiben der Kantgesellschaft.468
Psychologische Erforschung der Schulanfänger ..384
Seelische Berufseignung vom Standpunkte des Arztes. 65
Sonderausstellung „Die deutsche Schule“ in Magdeburg.231
Sonderklassen in Genf.309
Städtisches psychologisches Institut in Hannover.231
Stöhr, Dr. Adolph, Universitätsprofessor in Wien f. . 142
Studiengemeinschaft für wissenschaftliche Pädagogik .223
Umfrage über die Eignung zum Lehrerberuf.67
Untersuchung über Schülerbegabung .147
Vereinigung für Kinderkunde im Lehrerverein zu Frankfurt a. M.69
Versuchsschularbeit in Österreich .225
Verwendung der Schülerbefragung bei der Berufsberatung.228
Inhalt der Nachrichten.
Seite
Ach, Prof. Dr.470
Akademische Ferienkurse in Leipzig 470
Ärztliche Gesellschaft für parapsychische
Forschung.391
Ausbau des psychologischen Studiums an
den Hochschulen.313
Ausstellung japanischer Schulkinderzeich¬
nungen in Berlin.232
Baade, Dr. Walter, Privatdozent der Psycho¬
logie in Güttingen +.389
Barth, Stadtschulrat, Dr.-Ing. . . 232, 312
Barth, Prof. Dr. Paul +.469
Braun, Prof. Dr. Otto, in Basel + . . . 313
Cauer, Prof. Dr. Paul, in Münster + . . 72
Döring, Max, wissenschaftlicher Leiter im
psychologischen Institut des Leipziger
Lelirervereins.389
Einführende Kurse im Institut für prak¬
tische Psychologie in Dortmund . . 390
Ferienkurse in Jena.314
Finanzierung des Institutes für wissen¬
schaftliche Pädagogik in Münster . . 390
Forschungsstätte für experimentelle Päd¬
agogik in Prag.151
Gemeinnützig arbeitende Stelle für prak¬
tische Psychologie.470
Gesellschaft, für exp. Psychologie . . . 470
Giese, Dr. Fritz, Universitätsprofessor in
Halle.72
Seite
Hartmann, Prof. Dr. E.470
Heilpädagogischer Kongreß in München 232
Henning, Prof. Dr. Hans.232
Hochschulwoche in Frankfurt a. M. . . 233
Hoffmann, Studienrat Dr. Ernst . . . 312
Höfler, Dr. Alois, Universitätsprofessor
in Wienf.232
Institut für Jugendkunde in Magdeburg 233
Institut für Jugendkunde in Nürnberg * 313
Institut für Kulturforschung in Berlin . 233
Internationaler Kongreß für ethische Er¬
ziehung in Genf.151
Internationaler Kongreß für Psychotechnik
in Mailand.391
Itschner, Hermann +.469
Jaenscb, Prof. Dr. Erich.151
Jubiläumsstiftung für Erziehung und
Unterricht.232
Kahl, Prof. Dr. Wilhelm.72
Kant-Gesellschaft.314
Köhler, Prof. Dr. Wolfgang.151
Kroh, Dr. 0.470
Kursus über Jugendfürsorge in Frank¬
furt a. M.233
Kutzner, Prof. Dr. 0.470
Lehrgänge über Jugendfürsorge im Für¬
sorgeseminar an der Universität Frank¬
furt a. M.390
Lehrgang über Stottern.314
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X
Inhaltsverzeichnis
Seite
Marburger Psychologen-Kongreß (Ostern
1921). 391
Natorp, Prof. Dr. Paul.1B1
Orga-Institut, Untersuchungs- und For¬
schungsanstalt für Arbeitswissenschaft
und Psychotechnik in Dresden . . . 313
Ostermann, Geh. Rat Dr. Wilhelm, in
Berlin +.232
Otto, Oberstudiendirektor Dr.151
Pädagogische Gesellschaft in Mannheim 313
Pädagogisch-psychologisches Institut in
München ..314
Psychologisches Institut für das ameri¬
kanische Wirtschaftsleben.313
Psychotechiiisches Institut in Dresden . 313
Psychotechnischer Kursus in Dortmund . 314
Richter, Dr. Julius.470
Schmidt, Geh. Schulrat Dr.313
Schultze, Prof. Dr. med. et phil. . . . 469
Seite
Spende des Hessischen Lehrervereins für
das Psychologische Institut in Marburg 313
Staatliche höhere Versuchsschule in
Dresden.313
Stiftung eines Preises durch den Amster¬
damer Philosophen Prof. Kohnstamm 391
Tagung für angewandte Psychologie in
Berlin.151
Trüper, Johannes, Begründer und Leiter
des Erziehungsheims Sophienheim bei
Jena +.72
Verein für Moralpädagogik.313
Verworn, Prof. Dr. Max.469
Vortragsreihe über die psychischen Grund¬
lagen der Jugendpflege.233
Wagner, Studienrat Dr. J. ... 232, 313
29» Wanderversammlung des Deutschen
Gewerbeschulverbandes in Frank¬
furt a. M. . ..390
C. Literaturbericht.
Seite
Bartsch, Karl, Das psychologische Profil.475
Bäumer, Gertrud, und Lili Droescher, Von der Kindesseele .75
Bühl er, Dr. Charlotte, Das Seelenleben des Jugendlichen.395
Burhenne, Heinrich, Kinderherz.320
Cauer, Dr. P., Aufbau oder Zerstörung.478
Clapar&de, Prof. Dr. Ed., Die Schule nach Maß.477
Cohn, Jonas, Geist der Erziehung.158
Coppius, Marie, Pflanzen und Jäten in Kinderherzen ..237
Deutsch, Elise, Jugendlichen-Pädagogik.78
Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Hochschulsonderkursus für Jugendgerichts¬
arbeit . 239
Dickhof, Dr. phil. E., Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung des
Krtippelkindes.238
Drill, Dr. Robert, Die neue Jugend.239
Erismann, Dr. Th., Psychologie HI.155
Erler, 0., Bilder aus der Praxis der Arbeitsschule.79
Fehr, F., Stimmen aus dem Schacht! Bergmanns Urteile über Erziehung und Schule . 239
Finkenrath, Dr. K., Die Zensurfrage vom Standpunkte der Sexualpädagogik .... 238
Finkenrath, Dr. Kurt, Aufklärung, eine Bewertung ihrer bisherigen Form.238
Finkenrath, Dr. Kurt, Die Jugend zur Geschlechterfrage.76
Formiggini Santa-Maria, F., Cio che vivo e ciö che ö morto deila pedagogia di
Federico Fröbel. 319
Fränrel, Walter, Volksstaat und höhere Schule.477
Frenzel, Franz, Wesen und Einrichtung der Hilfsschule.237
Georgi, Walter, Briefe deutscher Ferienkinder aus Skandinavien. 75
Geys er, Dr. Josef, Abriß der Psychologie.317
Giese, Dr. Fritz, Psychologie und Psychotechnik.472
Girgensohn, Dr. K., Der seelische Aufbau des religiösen Bewußtseins.153
Gürtler, R., Triebgemäßer Erlebnisunterricht.237
Gut, Dr. med. Walter, Vom seelischen Gleichgewicht und seinen Störungen ..... 156
Hagemann, Dr. Georg, Psychologie, ein Leitfaden für akademische Vorlesungen, sowie
zum Selbstunterricht.236
Hartlaub, G. F., Der Genius im Kinde.75
Heilmann, Dr. Karl, Handbuch der Pädagogik.476
Heinitz, Wilhelm, Können wir sprechen, was wir singen?.76
Heydebrand, Dr. C. von, Gegen Experimentalpsychologie und -pädagogik.395
Höfler, Alois, Logik und Erkenntnistheorie.471
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Inhaltsverzeichnis
XI
Seite
Höfler, Alois, Seelenlosigkeit und Beseelung unserer Schulen.476
Holfmann, Dr. Jakob, Handbuch der Jugendkunde und Jugenderziehung.397
Hug-Hellmuth, Dr. H., Aus dem Seelenleben des Kindes.396
Kabisch, R., Wie lehren wir Religion?.480
Kawerau, S., Soziologische Pädagogik.157
Kerschensteiner, Georg, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung.400
Klages, Dr. Ludwig, Prinzipien der Charakterologie — Ausdrucksbewegung und Ge¬
staltungskraft — Handschrift und Charakter.157
Klatt, Dr. Fritz, Autoerotik und Gemeinschaftserotik in den ersten Stufen der Jugend . 397
Koffka,K., Psychologische Forschung, Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissen¬
schaften ..„.72
Köhler, Prof Dr. med. et phil. F., Friedrich Nietzsche.160
Kretzschmar, Dr. Ernst, Medizinische Psychologie.155
Külpe, Oswald, Vorlesungen über Psychologie.394
Lämmel, Dr. Rudolf, Intelligenzprüfung und psychologische Berufsberatung.399
Lay, Prof. Dr. W. A., Führer durch den Rechtschreibunterricht, gegründet auf psychologische
Versuche und verbunden mit einer Kritik des heimatkundlichen Unterrichts 319
Leipziger Lehrerverein, Die Arbeitsschule, Beiträge aus Theorie und Praxis ... 78
Link, Henry C., Eignungspsychologie.. 394
Lottig, W., Unsere Schuljüngsten. 479
Matthias, Dr. E., Bedeutung und Aufgaben der Leibesübungen im Dienste der Gesamt¬
erziehung . 476
Moses, Dr. Julius, Konstitution und Erlebnis in der Sexualpsychologie und -pathologie des
Kindesalters.397
Mosse, Karl, Über Suggestion und Suggestionstherapie im Kindeealter.475
Münsterberg, Hugo, Psychologie und Wissenschaftsleben.. 394
Neuendorff, Edm., Die Schulgemeinde. 479
Nie mann, Stadtschulrat F. J., und Rektor Waller Stein, Deutsches Kulturlesebuch: Hofer¬
bücherei .160
Noppel, Constantin, Jugendzeit. 320
Österreich, Paul, Strafanstalt oder Leben^schule.399
Peiper, Geheimrat Prof. Dr., Wandbilder zur Säuglingspflege.238
Pestalozza, Hanna Gräfin v., Der Streit um die Koedukation in den letzten 30 Jahren in
Deutschland.478
Prüfer, Johannes, Theorie und Praxis in der Erziehung . . *.76
Raatz, Wilhelm, Dein Sorgenkind.237
Rein, Prof. Dr. W., Zur Gestaltung des Lehrplans der Grundschule.159
Reinkemeyer, F., Förderung der Begabten... . 76
Rhoden, Dr. R. v, Hauptvertreter des Schulgemeindegedankens.478
Riehl, Alois, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart.153
Rorschach, Hermann, Psychodiagnostik, Methodik und Ergebnisse eines wahrnehmungs¬
diagnostischen Experimentes..' . . 74
Rosenkranz, C., Bevölkerungsfrage und Schule. 239
Roth, Sehproben nach Snellens Prinzip.475
Scheit, Prof. Dr. H., Unsittliches Benehmen von Schulknaben. Ein Beitrag zur Frage
der Koedukation. 239
Schmid, Bastian, Von den Aufgaben der Tierpsychologie.156
Schmid, Bastian, Vor neuen Aufgaben der Schulerziehung.477
Schneider, Dr. Martha, Psychologische Pädagogik.317
Schulz, Dr. Willi, Innerliche Schulreform. 240
Schnlze, Dr. Kurt, Gestaltwahrnehmung von drei und mehr Punkten auf dem Gebiete
des Hautsinnes. 474
Seyfert, Dr. R., Schulpraxis, Lehre vom Unterricht der Volksschule ....... 480
Sommer, Dr. phü. et med. Georg, Leib und Seele in ihrem Verhältnis zueinander . . 154
Sommer, Dr. phil. et med., Geistige Veranlagung und Vererbung.475
Spagnnn, Ilse, Sexuelle Erziehung der weiblichen Jugend durch die Schule .... 238
Stern, Dr. phil. et med. Erich, Die krankhaften Erscheinungen des Seelenlebens . . . 156
Stransky, Prof, Dr. med., und Dattner, Dr. med. et jur., Über Psychoanalyse . . . 472
Study, E., Denken und Darstellung, Logik und Werk, Dingliches und Menschliches in
Mathematik und Naturwissenschaften.237
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XII
Inhaltsverzeichnis
Seite
Tiling, Mgd. v., Psyche und Erziehung der weiblichen Jugend.159 •
Trumpp, Prof. Dr. J., Kleinkinderpflege . 258 : ■
Tumlirz, Dr. Otlo, Das Wesen der Frage.318,-
Varendonck, Dr. J., Über das vorbewußte phantasierende Denken.475 ■ ■
Wentscher, Else, Grundzüge der Ethik mit besonderer Berücksichtigung des pädagogischen
Problems.471 -
Wetekamp, W. t Selbstbetätigung und Schaffensfreude in Erziehung und Unterricht . . 249
Wyss, Dr. W. v., Soziale Erziehung. 477 ™
Zell, Th., Das Gemütsleben in der Tierwelt. 238 -
Ziegler, Prof. Heinrich Emst, Tierpsychologie.74
Selbstanzeigen.
Bühler, Dr. Charlotte, Das Seelenleben des Jugendlichen.235
Gaudig, Oberstudiendirektor Prof. Dr. H., Freie geistige Schularbeit in Theorie und Praxis 235
Hoff mann, Dr. Walter, Die Reifezeit, Probleme der Entwicklungspsychologie und Sozial¬
pädagogik .234
Honecker, Dr. M., Gegenstandslogik und Denklogik.471
Hy 11a, Die Bedeutung der Begabungsforschung für die Berufsberatung.318
Kretzschmar, Dr. Joh., Das Ende der philosophischen Pädagogik.155
Lindworsky, J., Der Wille, seine Erscheinung und seine Beherrschung nach den Er¬
gebnissen der experimentellen Forschung.. ..391
Lindworsky, J., Experimentelle Psychologie. 398 «
Lindworsky, J., Umrißskizze zu einer theoretischen Psychologie. 392 '
Lindworsky, J., Willensschule, Handbücherei der Erziehungswissenschaften Nr. 3 • . 392'
Müller-Freienfels, Dr. Richard, Bildungs- und Erziehungsideale in Vergangenheit, Gegen- ♦ -.
wart und Zukunft.315 e
Müller-Freienfels, Dr. Richard, Psychologie des deutschen Menschen und seiner Kultur 3lf>\
Müller-Freienfels, Dr. Richard, Philosophie der Individualität.471**
Reinkemeyer, F., Förderung der Begabten. . .8i8
Stern, Clara und William, Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes . 392
Stern, William, Psychologie der frühen Kindheit.398
Stern, Clara, Aus einer Kinderstube. (Bearbeitet von Toni Meyer). 392. \
Tumlirz, Dr. Otto, Einführung in die Jugendkunde.152 -
Weigl, Franz, Wesen und Gestaltung der Arbeitsschule.315
Weigl, Franz, Bildung durch Selbsttun.315
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